Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSUHaltung der Bundesregierung zur Erleichterung von Ein-schleusungen und illegalen Einreisen aufgrund von Kon-trolllücken an deutschen Flughäfen
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper,Ulrike Flach, Christoph Hartmann , weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPJahr der Technik zur Stärkung der Forschungslandschaftund des Innovationsklimas in Deutschland nutzen– Drucksache 15/2594 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitHaushaltsausschussZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Durchführung von Verord-nungen der Europäischen Gemeinschaft auf dem Ge-Redebiet der Gentechnik und zur Änderung der NeuartigeLebensmittel- und Lebensmittelzutaten-Verordnung– Drucksache 15/2520 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-MichaelGoldmann, Horst Friedrich , Dr. Max Stadler,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPNationale Küstenwache schaffen– Drucksache 15/2581 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungInnenausschusszung, den 4. März 2004.30 UhrZP 4 Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDPWahl der Mitglieder des Parlamentarischen Beirates fürnachhaltige Entwicklung– Drucksache 15/2586 –ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian Ruck,Dr. Friedbert Pflüger, Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSUEine neue Politik für Afrika südlich der Sahara – Afrikafordern und fördern– Drucksache 15/2574 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm,Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten UlrikeHöfken, Friedrich Ostendorff, Volker Beck , weitererAbgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNENNährwert- und gesundheitsbezogene Angaben auf Lebens-mitteln europaweit einheitlich regeln – für mehr Verbrau-cherschutz und fairen Wettbewerbtext– Drucksache 15/2579 –ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp,Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDPBeraterverträge auf den Prüfstand stellen – Transparenzbei Kosten- und Qualitätskontrolle sichern– Drucksache 15/2422 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
RechtsausschussHaushaltsausschussVon der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweiterforderlich, abgewichen werden.ren sollen die Tagesordnungspunkte 11 a Kranken- und Pflegeversicherungsbei- 22 – Investitionen in Verkehrsinfrastrukturswesen
Des Weite– Zusätzlicheträge – sowiesicherstellen – abgesetzt werden.
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Präsident Wolfgang ThierseAußerdem mache ich auf eine nachträgliche Überwei-sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Derin der 91. Sitzung des Deutschen Bundestages überwie-sene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschussfür Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zur Mitbera-tung überwiesen werden:
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der AbgeordnetenMarianne Tritz, Claudia Roth , VolkerBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENDen Stabilisierungsprozess in der Demokrati-schen Republik Kongo nachhaltig unterstüt-zen– Drucksache 15/2479 –überwiesen:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt 2auf:4 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungInnovationen und Zukunftstechnologien imMittelstand – Hightech-Masterplan– Drucksache 15/2551 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
FinanzausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
der FDPJahr der Technik zur Stärkung der For-schungslandschaft und des Innovationsklimasin Deutschland nutzen– Drucksache 15/2594 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-tarischen Staatssekretär Dietmar Staffelt das Wort.
– Immerhin.
Nach einer kurzen Phase der Verwirrung wird nun FrauBundesministerin Edelgard Bulmahn alles Notwendigezur Klärung beitragen.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Bundesministerinnen sind ja zu jeder Zeit einsetzbar.Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenHerren und Damen! Wissenschaft, Technik, Forschungund Entwicklung sind die Disziplinen, in denen deutscheUnternehmen ihre Medaillen gewinnen müssen. Nurdurch Vorsprünge bei der Innovation, der Entwicklungund der Anwendung von hochwertigen Produkten,Dienstleistungen und technischen Verfahren sichern wirunsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Nur soschaffen wir die Arbeitsplätze, die wir in unserem Landbrauchen, und erhalten damit die Grundlage für Wohl-stand, Teilhabe und Gerechtigkeit.
Deshalb ist es für unsere Zukunft entscheidend, dasswir in den genannten Disziplinen auch weiterhin schnellund gut genug sind. Die rund 200 000 kleinen und mit-telständischen Unternehmen in Deutschland, die jährlichneue Produkte, Dienstleistungen und Verfahren auf denMarkt bringen, spielen dabei eine Schlüsselrolle. Siesind im wahrsten Sinne des Wortes das Rückgrat unserertechnologischen Leistungsfähigkeit.
Ohne ihre Kompetenz und Innovationskraft hätten wirunsere aktuelle Position als zweitgrößter Technologie-exporteur der Welt nicht erreichen können.Richtig ist aber auch: Die Wachstumsschwäche dervergangenen drei Jahre hat auch im Innovationsverhal-ten der deutschen Wirtschaft Spuren hinterlassen. Be-troffen sind davon nicht nur Branchenriesen und GlobalPlayers, sondern gerade auch die rund 35 000 kleinenund mittleren Unternehmen, die regelmäßig in For-schung und Entwicklung investieren. Vor allem die Pro-bleme der Innovationsfinanzierung haben die Spiel-räume dafür in den vergangenen Jahren zunehmendbegrenzt, und das vor dem Hintergrund, dass wir geradein wichtigen Bereichen wie zum Beispiel der Biotechno-logie oder der Informations- und Kommunikationstech-nologie wirklich erheblich dazugewonnen haben, unserePosition erheblich verbessern konnten.
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Bundesministerin Edelgard BulmahnDamit das, was wir an Exzellenz, an Leistungsfähig-keit in der Forschung erreicht haben, auch zügig zuneuen Unternehmungsgründungen, zu neuen Produktenund zu Unternehmenserweiterungen führt, müssen wirdie Finanzknappheit stoppen, beenden und wieder um-kehren.
Genau da setzt der Hightech-Masterplan an. Hier set-zen wir den Hebel an, um Finanzierungshindernisse fürdie Gründung und das Wachstum innovativer Unterneh-men zu beseitigen. Das heißt im Klartext: Wir erschlie-ßen jungen Innovationsunternehmen neue Finanzquel-len. Gleichzeitig verbessern wir damit die Einbindungvon kleinen und mittleren Unternehmen in die For-schungs- und Innovationsnetzwerke und unterstützenden Transfer von Forschungsergebnissen durch die ge-zielte Förderung von technologieorientierten Aus- undNeugründungen.Mit dem Hightech-Masterplan setzt die Bundesregie-rung ihre Forschungs- und Innovationspolitik fort, dieseit Jahren an den besonderen Belangen von kleinerenund mittleren Unternehmen ausgerichtet ist. Die von unsnach 1998 auf den Weg gebrachten Maßnahmen zur För-derung junger Technologieunternehmen und innovativerGründungen haben sich bewährt und werden deshalbauch weitergeführt. Gleichzeitig starten wir neue Initiati-ven, haben wir neue Elemente geschaffen, die am aktuel-len Bedarf ausgerichtet sind.Einige wichtige Punkte möchte ich herausstellen. Wieich bereits gesagt habe, müssen Innovationen finanziertwerden; sonst werden sie nicht zu Innovationen. Wir ge-ben deshalb dem Wagniskapitalmarkt einen neuen Im-puls. Hierfür richten wir einen gemeinsamen Beteili-gungsdachfonds des ERP-Sondervermögens und desEuropäischen Investitionsfonds ein.Auch im Steuerrecht konnten wir Fortschritte erzielen.Ich bin sicher: Die Besteuerung des Carried Interest nachdem Halbeinkünfteverfahren sowie die sachgerechte Ab-grenzung von vermögensverwaltenden und gewerblichenFonds werden die Wettbewerbsfähigkeit gerade kleinerund mittelständischer innovativer Unternehmen deutlichverbessern.
Wissenschaft braucht Freiheit. In der Forschungspoli-tik schaffen wir deshalb Freiräume für exzellente Wis-senschaft. Gleichzeitig verbessern wir konkret und ge-zielt die Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeitvon Wirtschaft und Wissenschaft. Ein wichtiges Bei-spiel: Wir setzen den Aufbau professioneller Strukturenzur Patentverwertung von Forschungsergebnissen an denUniversitäten fort, damit das, was wir an Know-how, anwirklich guten Forschungsergebnissen an den Hoch-schulen erreicht haben, auch zügig, schnell und konse-quent der Verwertung und damit der Anwendung zuge-führt wird und damit in neue Produkte eingeht undArbeitsplätze schafft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kleine und mittlereUnternehmen sind in einem ganz besonderen Maße aufdie Kooperation mit Forschungseinrichtungen, mitHochschulen angewiesen; denn sie können in ihrem ei-genen Unternehmen nicht die große Zahl von Wissen-schaftlerinnen, von Forschern vorhalten, die notwendigsind, um wirklich Spitze zu sein, um im weltweitenWettbewerb auch mithalten zu können. Sie brauchen dieenge Zusammenarbeit, die Kooperation mit Forschungs-einrichtungen, mit Universitäten und Fachhochschulen.Deshalb gestalten wir die Forschungsförderung mittel-standsgerecht und binden kleine und mittlere Unterneh-men verstärkt in solche Netzwerke der Spitzenfor-schung ein. In den letzten Jahren haben wir die Zahl dergeförderten kleinen und mittleren Unternehmen um50 Prozent auf 1 700 Unternehmen erhöht. Dieses Er-gebnis kann sich durchaus sehen lassen.Wir brauchen Unternehmergeist, wir brauchen Unter-nehmer, die bereit sind, Risiken einzugehen und ihreChancen zu nutzen. Deshalb forcieren und unterstützenwir Ausgründungen innovativer Unternehmen aus deröffentlich geförderten Forschung. Mit der Fördermaß-nahme „Exist-Seed“ wurden in den ersten fünf „Exist“-Regionen bislang über 100 Unternehmensgründungenerfolgreich gefördert, wobei eine große Zahl von Ar-beitsplätzen entstanden ist. Darüber hinaus werden wirdieses Jahr für eine umfassende Bestandsaufnahme dervielfältigen Maßnahmen im Bereich der Bildung zurSelbstständigkeit nutzen.Unser Ziel ist klar: ein konsistentes Konzept zur Stär-kung der Gründungskultur in Deutschland, dessen Um-setzung in der Schule anfängt und das bis in die Hoch-schulen, in die berufliche Ausbildung und dieUnternehmen selbst hineinwirkt.
Innovationen sind ohne qualifiziertes Personal nichtmöglich. Innovation findet in Köpfen statt. Darum sindReformen in den Schulen, in der dualen Ausbildung undin den Hochschulen eine zentrale Grundlage auch füreine erfolgreiche Innovationspolitik. Wir werden des-halb unsere Reformanstrengungen fortsetzen: Schaffungvon Ganztagsschulen für eine bessere Bildung, Moderni-sierung und Verbesserung der Qualität der beruflichenBildung, Erhöhung der Studienanfängerzahlen. Wirhaben in diesem Jahr die höchsten Studienanfängerzah-len in den Ingenieurwissenschaften und den Naturwis-senschaften, die es in Deutschland jemals gab.
Ich habe die notwendigen Reformschritte genannt, diewir angehen mussten und müssen, damit wir endlichwieder das qualifizierte Personal, die qualifizierten Men-schen in unserem Land haben, auf denen wirklich allesruht.
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Bundesministerin Edelgard BulmahnDas Wichtigste ist mir aber, dass wir mit der vorlie-genden Initiative für kleine und mittlere Unternehmendie Kompetenzen – das, was wir an Initiativen gestartethaben – bündeln. Mein Ministerium und das Wirt-schaftsministerium führen ihre Programme zusammen,um sicherzustellen, dass wir wirklich konsistent undzielgerichtet kleine und mittlere innovative Unterneh-men fördern.Keine Frage: Wir können bei den im Hightech-Mas-terplan gebündelten Maßnahmen nicht stehen bleiben,sondern wir werden unsere Forschungspolitik für kleineund mittlere Unternehmen weiterhin ausbauen. Ich willnoch einige Ansatzpunkte dafür nennen, die mir wichtigsind.Wir brauchen einen fokussierten Förderansatz. Wirwerden daher unter Einbeziehung von Wissenschaft undWirtschaft mit einer vorausschauenden Innovationspoli-tik Forschungsfelder ermitteln, die eine große Chanceauf künftige Innovationen und das Potenzial zu Wachs-tumstreibern haben. Ich möchte ein Beispiel nennen: dieNanotechnologie. Die Automobilindustrie, die Medizin-technik und die pharmazeutische Industrie werden in ei-nem ganz starken Maße ihre wirtschaftliche Konkur-renzfähigkeit auch darauf gründen müssen, dass dieseneue Technologie in ihren Unternehmen Einzug hält.
Deshalb müssen wir die Forschungsförderung auf genaudiese Felder fokussieren.Eines ist klar: Wir müssen das Wissen in Hochschulenund Unternehmen noch gezielter für Innovationen nut-zen. Deshalb werden wir die Projektförderung stärkerauf eine solche Missionsorientierung ausrichten. Politik,Wissenschaft und Wirtschaft verständigen sich dabei aufein Ziel und einen Umsetzungszeitraum. Entscheidendist dabei, dass die Wissenschaft über den besten Weg zurErreichung dieses Ziels wirklich selbst entscheidet.Staatstechnologien wären der falsche Weg. Es geht viel-mehr darum, dass strategische Ziele miteinander – vonWissenschaft, Wirtschaft und Politik – vereinbart wer-den und dann Wissenschaft und Wirtschaft selbst überden besten Weg entscheiden, um diese Ziele zu errei-chen.Wir beobachten aktuell einen Rückzug der Unterneh-men aus der Grundlagenforschung. Das ist übrigens eineEntwicklung, die schon seit mehreren Jahrzehnten spür-bar sukzessive fortgeschritten ist. Weil das weltweit soist, ist es umso entscheidender, dass wir einen funktio-nierenden Wissens- und Technologietransfer aus derWissenschaft in die Wirtschaft erreichen; wir müssen ihnunterstützen und organisieren. Das Ziel ist, Anreizsys-teme zu entwickeln, damit kommerzialisierbare, alsoverwertbare Potenziale neuer Forschungsergebnisse er-kannt und genutzt werden. Dabei ist mir wichtig, nochmehr Transparenz in Bezug auf wissenschaftliche Ergeb-nisse zu erreichen.In Deutschland ist die Zusammenarbeit der Hoch-schulen mit der Wirtschaft noch immer sehr stark durchdie kurzfristig orientierte, zielgerichtete Auftragsfor-schung gekennzeichnet. Wir brauchen in unserem Landeine langfristige Partnerschaft, eine langfristige Koope-ration – sie ist in anderen Ländern stärker ausgeprägt –zwischen Hochschulen und Unternehmen. Das ist wich-tig, damit eine Basis des Vertrauens entsteht, damit nichtnur zufällig, sondern wirklich systematisch neue For-schungsergebnisse zu Innovationen führen. Deshalbversuchen wir, mit unseren Initiativen genau das zu er-reichen, nämlich eine neue Innovationskultur zu ent-wickeln und Innovationspartnerschaften zu etablieren.Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern bestehen inDeutschland zu wenige gemeinschaftlich finanzierteForschungseinrichtungen, die anteilig von Staat und Un-ternehmen getragen werden. Diese Forschungseinrich-tungen können Themen bearbeiten, die zwar eine lang-fristige und grundlagenorientierte Forschung erfordern,gleichwohl aber ein hohes wirtschaftliches Anwen-dungspotenzial besitzen. Ich will ausdrücklich sagen:Ich begrüße es außerordentlich, dass zwei große Unter-nehmen endlich auch in unserem Land Forschungsinsti-tute in Universitäten gründen.
Das eine Beispiel ist die TU Berlin, das andere Beispielist die Universität in Potsdam. Wir brauchen aber mehrsolcher Initiativen.Innovationen brauchen verlässliche Rahmenbedin-gungen, die Freiraum für Neues lassen. Die innova-tionsgerechte Gestaltung rechtlicher Rahmenbedin-gungen ist daher eine zentrale Aufgabe derInnovationspolitik, um sicherzustellen, dass Forschungs-ergebnisse wirklich genutzt und umgesetzt werden kön-nen. Als Beispiele für Gesetze, durch die Rahmenbedin-gungen beschrieben und festgelegt werden, nenne ichdas Telekommunikationsgesetz und das Gentechnikge-setz. Das Gleiche gilt für die Umsetzung der Biopatent-richtlinie. Dadurch werden die notwendigen Rahmenbe-dingungen geschaffen, die wir brauchen, damit sichInnovationen wirklich entfalten können und zu Markter-folgen werden.Unstrittig ist zudem: Zu viel Bürokratie lähmt Inno-vationen.
Wir werden die bürokratischen Hemmnisse im Bereichder Forschung, der Technologie und der Innovation da-her weiter abbauen. Ich sage Ihnen ausdrücklich: Wirmüssen das abbauen, was Sie über Jahrzehnte aufgebauthaben.
Diese Bundesregierung hat es erreicht, dass dieForschungsorganisationen Globalhaushalte aufstellen.Diese Bundesregierung hat es erreicht, dass die HGF, dieHelmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren,nicht mehr jährlich in mühsame Haushaltsverhandlun-
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Bundesministerin Edelgard Bulmahngen eintreten muss. Unter Ihrer Ägide musste hier alles– von der Renovierung der Kanalisation bis hin zu deneinzelnen Forschungsprojekten – ausgehandelt werden.
Ich habe den Forschungseinrichtungen die notwendigeFreiheit gegeben.Ich würde mich freuen, wenn wir darin übereinstimm-ten, dass wir weiterhin bürokratische Hemmnisse ab-bauen müssen.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schauerte?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Ja, selbstverständlich.
Frau Ministerin, zwischendurch will ich darauf hin-
weisen, dass Sie Ihre Redezeit schon deutlich überschrit-
ten haben. Sie erhalten jetzt aber die Chance, weiterzu-
sprechen. – Bitte schön, Herr Schauerte.
Frau Ministerin, Sie haben gerade die Erfolge sozial-demokratischer Innovationspolitik sehr nach vorne ge-spielt.
Können Sie mir beantworten, warum es zum Beispiel beiden Zahlen der Patentanmeldungen pro 100 000 Men-schen in bestimmten Regionen unseres Landes – sie sindbesonders relevant; ich könnte Ihnen viele nennen –krasse Unterschiede gibt?Auf 100 000 Bürger in Nordrhein-Westfalen kommen50 Patentanmeldungen, auf 100 000 Bürger in Baden-Württemberg kommen 112 Patentanmeldungen
und auf 100 000 Bürger in Bayern kommen116 Patentanmeldungen. Die Zahl der Patentanmeldun-gen in Nordrhein-Westfalen – lange Zeit sozialdemokra-tisch regiert –
sinkt, während die der Patentanmeldungen in Baden-Württemberg und Bayern steigt. Das nenne ich Innova-tionspolitik!
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Lieber Kollege, Ihr Beispiel zeigt eines sehr deutlich:Es ist gerade in der Forschungspolitik, im Übrigen aberauch in der Innovationspolitik, falsch, nur einen einzigenGesichtspunkt herauszupicken.
Ich gehe davon aus, dass auch Sie wissen, welche Unter-nehmen ihren Unternehmenssitz in den genannten Län-dern haben.
Ich gehe ferner davon aus, dass auch Sie wissen, wo diePatentverwertungseinrichtungen der Forschungsorgani-sationen ihren Sitz haben.
Das hat im Übrigen überhaupt nichts mit den Rahmenbe-dingungen zu tun.
– Ja, es hat damit zu tun, wer es bezahlt. – Die Mittel fürdie Forschungseinrichtungen zahlt in erster Linie derBund. Bei der FhG sind das zum Beispiel 90 Prozent.
Ich will ausdrücklich sagen, dass es wirklich falschist, wenn man so argumentiert und vorgeht wie Sie.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir in unseremLand – im Übrigen auch in diesem Bundestag – ein be-stimmtes Bewusstsein und eine bestimmte Einstellungbrauchen, um unser gesamtes Land nach vorne zu brin-gen.
Es gibt in allen Regionen insgesamt erheblichen Verbes-serungsbedarf, um die Zahl der Patentanmeldungennoch weiter zu erhöhen.Kurz gesagt: Wir brauchen in unserem Land – das giltauch für die Opposition – eine Kultur für Innovationen,die nicht kleinkariert agiert,
sondern die die Chancen sieht, die in Wissenschaft undForschung liegen.
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Bundesministerin Edelgard BulmahnWir brauchen Menschen, die bereit sind – das sage ichausdrücklich –, auch das Bekannte infrage zu stellen undden Herausforderungen unserer Zeit mit Mut und Fanta-sie zu begegnen.Vielen Dank.
Frau Ministerin, nicht Ditmar Staffelt, sondern Sie ha-
ben heute Geburtstag. Deswegen ein herzlicher Glück-
wunsch!
Nun erteile ich das Wort Kollegin Dagmar Wöhrl,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch vonmeiner Seite aus, Frau Ministerin, einen herzlichenGlückwunsch zu Ihrem Geburtstag. Herr Staffelt hat Ih-nen wahrscheinlich den Vortritt gelassen, weil Sie heuteGeburtstag haben. Nehmen wir das zumindest einmal an,Herr Staffelt.
Mit dem Hightech-Masterplan wird ein für unserLand wichtiges zentrales Thema angesprochen. Wir be-grüßen das ausdrücklich.
Unser Land braucht Innovation und Hightech-Produkte.Unser Land muss schneller, besser und kreativer werdenund bleiben. Dies gilt besonders vor dem Hintergrunddes Wettbewerbs mit unserer internationalen Konkur-renz. Der 1. Mai mit der EU-Osterweiterung und damitauch die Billiglohnländer stehen vor der Tür. Wir kön-nen, wollen und sollen auch nicht in Konkurrenz mit die-sen Billiglohnländern treten. Das wäre vollkommen ver-fehlt. Wir wissen: Wir brauchen einen funktionsfähigenNiedriglohnsektor. Die so genannte einfache Arbeitmuss zukünftig auch in Deutschland wieder möglichsein und darf nicht diskreditiert werden.Aber um unseren Wohlstand und unser soziales Netzin der Zukunft aufrechtzuerhalten und die Sozialhilfe,das Kindergeld und unsere Infrastruktur finanzieren zukönnen, müssen wir als Allererstes Produkte herstellen,die Spitze und besser als die aller anderen Länder sind.Das gilt für das Auto genauso wie für die Chemie, dieMedizin und die Forschung.
Wenn wir das Wort Innovation hören,
dann ist dies für uns nur ein Schlagwort. Wir sehen vorunseren Augen Hightech und wirtschaftliche Leistungs-fähigkeit. Aber dahinter steckt ein ganz großer sozialerProzess, nämlich Bildung, dicht gefolgt von der For-schung. Wenn wir auf diesen Zug Richtung Zukunft auf-springen wollen, dann brauchen wir Bildung, Forschungund Unternehmertum.
Nur so schaffen wir es, die Technologieführerschaftwieder zurückzugewinnen, die wie einmal gehabt haben.Wir wissen, wir stellen weiterhin Produkte her, die nochimmer weltweit Spitze sind und die zumindest konkur-renzfähig sind, aber leider mit abnehmender Tendenz.Der Trend unserer Wirtschaft ist alarmierend. Wir dürfendavor die Augen nicht verschließen. Das gilt besondersfür die Ausbildung in Technologiebereichen, wie Ma-schinenbau und Elektrotechnik. Hier haben sich dieZahlen in den letzten Jahrzehnten nahezu halbiert. Dasist alarmierend.
– Es wäre schön, wenn Sie zuhören würden. Ansonstenkönnen Sie sich zu einer Zwischenfrage melden.
– Herr Tauss, hören Sie zu! Sie sollten sich wirklich hin-ter die Ohren schreiben, dass unsere deutschen Unter-nehmen allein in forschungs- und entwicklungsintensi-ven Produktionsbereichen einen Anteil von einemDrittel am Welthandel verloren haben.Ich sage es Ihnen ganz offen: Ich begrüße es, FrauMinisterin, dass das Wirtschafts- und Arbeitsministe-rium zusammen mit dem Bildungsministerium ein ge-meinsames Papier auf den Tisch gelegt hat. Aber so gutdies auch ist, so fehlt mir hier der Glaube in Bezug aufdie Realisierung. Eherne Ziele sind zwar schön und gut,aber sie müssen auch umgesetzt werden. Wie oft habenwir aus dem Munde des Wirtschaftsministers von die-sem Pult aus immer wieder Versprechungen gehört, vondenen aber keine umgesetzt worden sind! Was nützentolle Worte, wenn anschließend die konkreten Taten feh-len? Wo ist denn der Masterplan Bürokratieabbau?Wo ist denn hier Bürokratie abgebaut worden? Wäh-rend Ihrer Regierungszeit ist doch immer mehr Bürokra-tie aufgebaut worden.
Das hat das Institut für Mittelstandsforschung schwarzauf weiß dargelegt. Im Jahreswirtschaftsbericht vomletzten Jahr haben Sie noch ganz toll getönt: Allianz derErneuerung. – Das war einer der „Erfolge“, der Ihnen imneuen Jahreswirtschaftsbericht nicht mehr ein Wort derErwähnung wert ist.
Was hat denn der Wirtschaftsminister alles versprochen?Er hat beispielsweise versprochen, dass die Handwerks-
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Dagmar Wöhrlordnung gemeinsam mit der Opposition und dem Hand-werk geändert werde. Anschließend hat er alleine einenCrashkurs gesteuert.
So schaut Ihre Politik aus.Wenn Sie im Hightech-Masterplan feststellen, der ge-samtwirtschaftliche Nutzen von Forschungs- und Ent-wicklungsprojekten in kleineren und mittleren Unterneh-men übersteige in der Regel den individuellen Ertrag,dann stimmt das. Das ist richtig. Aber ich frage mich,warum Sie dann so wichtige Programme wie zum Bei-spiel „Pro Inno“ bereits Ende Oktober eingestellt haben.Über 1 000 Anträge liegen auf Eis, nur weil Sie IhrenHaushalt nicht in den Griff kriegen und nicht wissen,wie man mit Finanzen umgeht. Sie verstoßen gegen denStabilitätspakt. Sie haben den Europäischen Gerichtshofschon dazu gebracht, ein Eilverfahren gegen Deutsch-land in Gang zu setzen.
Was noch viel schlimmer ist: Sie schreiben zwar, dassder Hightech-Masterplan im Mittelstand wirken soll.Aber es ist doch genau der Mittelstand, den Sie mit IhrerWirtschaftspolitik vergraulen. Unser Mittelstand brauchtkeine Glanzbroschüren, die Sie auflegen. Er braucht Zu-versicht, er braucht Hoffnung, er braucht Planungssi-cherheit und er braucht Rahmenbedingungen, an denener sich orientieren kann. Dann investiert er auch.
– Richtig, Herr Kollege Hinsken. – Wichtig sind Investi-tionen, damit man die Strukturen erhalten und die Basisfür eine gesamtwirtschaftlich positive Entwicklungschaffen kann.
Schauen Sie sich um! Wo ist denn das Investitionsfieberin unserem Land? Suchen Sie es doch einmal! Sie wer-den es nicht finden. Wir haben eine gedämpfte Stim-mung.
Der Sparkassen- und Giroverband stellt zu Rechtfest, Investitionen hingen sehr stark mit der Psychologiedes Wirtschaftens zusammen. Das ist richtig. Das wissenwir alle. Aber wenn man eine gedämpfte Stimmung hat,dann hat man auch keinen fruchtbaren Boden für Investi-tionen. Wie soll denn ein Unternehmer heute noch opti-mistisch sein, wenn wir in diesem Jahr eine durch-schnittliche Umsatzrentabilität von 3,3 Prozent – dasist der niedrigste Wert seit 1995 – haben und fast30 Prozent unserer Unternehmen überhaupt keine Ge-winne machen und der Rest größtenteils Verluste ver-bucht? Auch das ist der schlechteste Wert seit 1995 lautder Studie „Diagnose Mittelstand“ des Sparkassen- undGiroverbandes. Der Gewinn bzw. die Aussicht auf Ge-winn ist doch die Antriebskraft für wirtschaftliche Ent-wicklung und Innovationen. Was bringen Sie? –Zwangsabgaben, Neiddiskussion, Ausbildungsplatzab-gabe, Erhöhung der Erbschaftsteuer und Wiederbele-bung der Vermögensteuer.
Uns brechen die Arbeitsplätze weg. Das wissen Sie.Wir haben aber noch ein ganz anderes Problem. Unsbrechen nicht nur die Arbeitsplätze weg, sondern unsbrechen auch die Unternehmer weg. Wenn wir in unse-rem Land keine Unternehmer mehr haben und niemandmehr bereit ist, Unternehmer zu werden, dann werdenwir zukünftig niemanden mehr haben, der Arbeitsplätzeschafft. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass über45 000 Arbeitsplätze von deutschen Unternehmen jedesJahr im Ausland geschaffen werden und nicht bei uns,wo sie so dringend notwendig sind.Frau Ministerin, Sie glänzen mit unwahrscheinlichkreativen Vorschlägen:
„Deutschland sucht die Super-Uni“ – wunderbar! Fürdiesen Aktionismus ist bezeichnend, dass Sie es nochnicht einmal geschafft haben, bei Ihren eigenen Leutenoder bei den Grünen den Begriff „Elite-Universität“durchzusetzen. Der liebe Herr Cohn-Bendit ruft demKanzler zu: „Lieber Gerhard Schröder, das ist Schwach-sinn mit der Elite, schmink dir das ab.“ Wir sprechenhier von Innovation. Das zeigt doch, dass Ihr ganzerHightech-Masterplan nicht das Papier wert ist, auf demer steht.
Wir diskutieren über Spitzenprodukte.
Wir wollen doch die Eliten und die Besten der Besten inDeutschland ausbilden. Wir wollen, dass diejenigen, diegut ausgebildet sind, auch hier bleiben und nicht abwan-dern.Es gibt leider einen immensen Braindrain, eine hoheAbwanderung junger Leute mit guter Ausbildung insAusland, und wir wissen ganz genau: Wer weg ist,kommt selten wieder zurück. Das aber sind die Eliten,die den Hightechplan mit Leben erfüllen sollen und müs-sen. Wer soll das denn sonst machen? Es sind die Cleve-ren und die Mutigen, die Geschäftsideen umsetzen, Ar-beitsplätze schaffen, engagiert sind und unbequemeFragen stellen. Sie stellen Produktionsabläufe infrageund öffnen den Weg für neue Verfahren.Wir brauchen diese Eliten im nationalen Maßstab ge-nauso wie im internationalen Maßstab und wir müssen
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Dagmar Wöhrluns als Gesellschaft zu diesen Eliten bekennen. Dafürwerbe ich hier.
Bill Gates hat viele 100 Millionen US-Dollar ver-dient. Aber er hat auch viele Tausend Menschen in denUSA in Brot und Arbeit gebracht. Das muss hervorgeho-ben werden; denn das ist die Erfolgsgeschichte dieserMenschen: Sie schaffen Tausende von Arbeitsplätzen.Dies sollte man als positives Beispiel nehmen.Wie wir wissen, legt die Globalisierung unsereSchwächen offen. Darauf müssen wir reagieren. Wirmüssen aber nicht nur reagieren, sondern wir müssen dieGlobalisierung gestalten. Uns rennt die Zeit davon, weilSie das im Bildungsbereich nicht anpacken. Wir brau-chen aber Perspektiven für die Sozialversicherungen.
Notwendig ist ein Umsteuern in der Bildungspolitik.Wir wollen kein zweites PISA mit Ergebnissen auf demNiveau von Mexiko. Wir wissen, dass sich keine Investi-tion so stark rechnet wie die Investition in Bildung undAusbildung. Die durchschnittliche Rendite eines Hoch-schulstudiums liegt in Deutschland bei 9 Prozent, in denUSA übrigens bei 15 Prozent. Das ist eine bessere Ren-dite als bei allen anderen Anlageoptionen. – Vor diesemHintergrund muss man sich fragen, warum nur 32 Pro-zent der deutschen Abiturienten ein Hochschulstudiumin Angriff nehmen. Der internationale Durchschnitt liegtbei 48 Prozent; in Neuseeland sind es sogar 76 Prozent.
Sie haben schon viele Fehler gemacht. Das Einzige,was Sie in diesem Bereich vorhaben, ist aber einer Ihrergrößten Fehler. Eine Ausbildungsplatzabgabe
– Abgabe! – ist keine Hightechpolitik von morgen.
Sie ist vielmehr der Sozialismus von gestern, den Siewieder auf den Weg bringen. Das, Herr Müntefering– Sie sind ja hier –,
war wieder ein Sieg über den gesunden Menschenver-stand, wie das schon öfter der Fall war.Angesichts der neuesten Umfrage des DIHK, derzu-folge im Falle einer Ausbildungsplatzabgabe mindestensjedes sechste Unternehmen künftig nicht mehr in demRahmen ausbilden wird, wie es das bisher getan hat,wird deutlich, dass Sie nicht nur einen immensen Büro-kratismus aufbauen und die mittelständischen Unterneh-men mit immensen Kosten belasten, sondern dass Sieauch hinsichtlich der jungen Leute, die unsere Zukunftin diesem Lande darstellen, Schaden anrichten.
Kollegin Wöhrl, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Sie haben schon deutlich überzogen.
Bekanntlich haben Sie sich dieses Thema auf die
Fahne geschrieben. Ich wünsche Ihnen dabei Erfolg. Ich
wünsche vor allem dem Wirtschaftsminister einen gro-
ßen Erfolg und würde mich freuen, wenn er auch beim
Emissionshandel eine wirtschaftliche Lösung erreichen
würde. Wenn er das schafft, werde ich ihm höchstper-
sönlich in Demut eine handwerkliche Meisterleistung
meines Kollegen Hinsken überreichen. Richten Sie ihm
das bitte aus!
Danke schön.
Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn, Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch von mir und meiner Fraktion alles Gute und diebesten Wünsche zum Geburtstag, Frau Bulmahn!Frau Wöhrl, Sie haben ausgeführt, in der Innovations-debatte fehle es an Gestaltung. Ich muss aber, ehrlich ge-sagt, feststellen, dass Sie keinen einzigen Vorschlag un-terbreitet haben. Sie haben nichts anderes gesagt, alsdass die Stimmung schlecht sei, und damit dazu beige-tragen, dass die Stimmung schlecht bleibt. Das ist dasErgebnis Ihrer Rede.
In Ihrer zehnminütigen Rede haben Sie nichts Konstruk-tives und Gestaltendes zustande gebracht. Das hat michetwas erstaunt. Ich hätte Ihnen mehr zugetraut.
Warum wir in Deutschland Innovationen brauchen, istklar: weil wir nicht mit Billiglohnländern konkurrierenkönnen. Deswegen können wir nur mit neuen Produkten,Dienstleistungen und Produktionsverfahren, die andereLänder – zu welchen Löhnen auch immer – noch nichtam Weltmarkt anbieten können, Arbeitsplätze inDeutschland sichern. Vor diesem Hintergrund ist derheute vorliegende Masterplan ein richtiger Schritt mitzum Teil bekannten und zum Teil auch neuen Instrumen-ten. Seine Qualität besteht vor allem in der Bündelungder vielen Programme von Wirtschafts- und Arbeits-
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Fritz Kuhnministerium sowie Bildungsministerium. Aus diesemGrund begrüßt meine Fraktion diesen Masterplan.
Sehr geehrte Frau Bulmahn, ich möchte allerdingsauch etwas Kritisches sagen.
Der Masterplan stellt zwar ein gutes Zusammenspiel derverschiedenen möglichen Maßnahmen dar. Aber die ge-sellschaftliche Dimension, insbesondere die soziale unddie kulturelle, des Innovationsprozesses spricht er nichtan. Auch darüber müssen wir meines Erachtens reden.
Denn Innovationen betreffen im Kern immer die ge-samte gesellschaftliche Entwicklung. Die Gesellschaftmuss offen, neugierig und visionsfähig sein, um ver-nünftige und gute Innovationen auf den Weg zu bringen.Deswegen sind wir, Bündnis 90/Die Grünen, der Mei-nung, dass der Innovationsprozess eine klare soziale undökologische Richtung braucht, damit er die gesamte Ge-sellschaft ergreifen, durchschlagend wirken und neueArbeitsplätze schaffen kann.
Wir brauchen – auch darüber wollen wir diskutieren –Ziele, damit die Menschen wissen, worauf sich technolo-gische Prozesse ausrichten und was insgesamt in derTechnologieentwicklung zu geschehen hat. Die Politikkann keine Techniken vorschreiben. Dazu ist sie nicht inder Lage und das ist auch nicht ihre Aufgabe. Weranderer Meinung ist, der unterliegt einem großen Miss-verständnis. Aber sie kann die Zielrichtungen vielerpolitischer und gesellschaftlicher Prozesse vorgeben,aufgrund deren sich dann Techniken, Wissenschaft, For-schung und Intelligenz entwickeln können. Das ist derWeg, den wir vorschlagen und den wir nach unsererMeinung für eine gute Innovationsentwicklung brau-chen.Ich möchte drei Beispiele nennen, damit Sie verste-hen, was wir meinen. Erstes Beispiel: Das Themenfeldder ökologischen Modernisierung gibt eine Richtungvor, die für die Technologieentwicklung und Innovatio-nen wichtig ist. Wenn wir es zum politisch akzeptiertenZiel in diesem Hause machen, Wirtschaftswachstum mitbesserer Ressourcenproduktivität zu generieren, dasheißt mit weniger Energieverbrauch, insbesondere mitweniger Wasserverbrauch, und mit weniger Landschafts-verbrauch mehr Wirtschaftswachstum, dann setzen wireinen guten Innovationsprozess in Gang. Denn eines istklar, Herr Schauerte: Man kann mit solchen grünenIdeen der ökologischen Modernisierung schwarze Zah-len schreiben und neue Arbeitsplätze schaffen. Dagegensollten Sie sich nicht länger sperren.
Der Emissionshandel, insbesondere die Vergabe derZertifikate, ist vor diesem Hintergrund ebenfalls ein ent-scheidendes Instrument zur Förderung des technischenFortschritts in Deutschland. Es ist doch ganz klar: DasLand, das am schnellsten und am besten Klimaschutzbetreibt, hat Technologievorteile, weil es als erstes dieTechnologien einsetzt, die wir brauchen, wenn wir einenweltweiten Prozess der CO2-Vermeidung einleiten wol-len.
Zweites Beispiel, die Gesundheitspolitik: Die zwölfLeittechnologien der Fraunhofer-Gesellschaft – darüberhaben Sie vielleicht gelesen – sind vor allem deswegensehr intelligent, weil sie sich auf gesellschaftliche Zielebeziehen. Das Projekt, eine persönliche Pille, mit der dieMedikation auf das genetische Profil des jeweiligen Pa-tienten abgestimmt werden soll, mithilfe der Gentechnikund der Mikrobiologie zu entwickeln, ist vernünftig;denn so können Unverträglichkeiten ausgeschlossen unddie medikamentöse Fehlversorgung, insbesondere dieÜberversorgung, vermieden werden. Die Patientenver-sorgung wird also verbessert.Die Botschaft lautet: Wenn wir gesellschaftliche Zielezum Beispiel im gesundheitspolitischen Bereich definie-ren und den Technologieprozess entsprechend ausrich-ten, dann leiten wir eine positive Entwicklung ein. Wirdürfen also nicht einfach sagen: Techniker macht, wasihr könnt! Wir schauen nachher, ob wir daraus etwasVernünftiges machen können. – Gesellschaftliche undpolitische Ziele müssen also in den Vordergrund.
Drittes Beispiel, der Dienstleistungsbereich: Hiermitmüssen wir uns mehr auseinander setzen, als dies imRahmen des Masterplans geschehen ist. Da Deutschlandbekanntermaßen eine Schwäche bei den Dienstleistun-gen hat, müssen wir dafür sorgen, dass auch der Dienst-leistungsbereich in den Innovationsprozess einbezogenwird. Dies tun wir zu wenig, wenn wir nur auf die tech-nische Entwicklung schauen und nicht darauf achten,welche neuen und innovativen Dienstleistungen inDeutschland angeboten werden können. Zum Beispielbietet die „alternde Gesellschaft“ ein riesiges Feld fürneue Dienstleistungen. Der Gehirnschmalz aller Fraktio-nen dieses Hauses muss darauf verwendet werden, wieauf diesem Gebiet neue Arbeitsplätze geschaffen werdenkönnen.
Ich möchte auf Folgendes hinaus: Wir brauchen Ziel-setzungen gesellschaftlicher, sozialer und kulturellerArt, die dem Innovationsprozess vorgeschaltet sind; wirdürfen nicht allein über Techniken diskutieren. Frau Mi-nisterin Bulmahn, ich bin nicht für die Nanotechnik umihrer selbst willen. Ich bin für die Nanotechnik, weil ichsehe, welche positiven Auswirkungen sie zum Beispielim Bereich der Medizin und in anderen Bereichen hat.Das Gleiche gilt für die neuen Materialtechniken. Wirmüssen also über die Ziele reden. Die Politik muss Zielesetzen. Wenn das geschieht, dann kommt es zu einempositiven Technologieprozess.
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Fritz KuhnIch sage dies deswegen, weil die Innovationsdebattein Deutschland merkwürdig kalt ist. Ich finde, sie darfnicht so kalt bleiben. Es muss zu einer warmen Debattekommen, mit der Zielrichtung, dass die Gesellschaft ihreProbleme mit guten Techniken, mit guten Innovationenlösen kann. Nur wenn das geschieht, kommen wir einenSchritt weiter. Wir kommen aber nicht weiter, wenn wirallein über Technologien diskutieren.Damit wir uns richtig verstehen: Ich sage das nichtaus der Perspektive eines Technikskeptikers. Ich weißvielmehr aus der Geschichte, dass ein Technikprozessmit klaren gesellschaftlichen Zielen viel innovativer, vielexplosiver und viel radikaler vonstatten gehen kann.Übrigens, wir müssen endlich offen über unsere Pro-bleme reden. Wir in Deutschland tun uns zum Beispielextrem schwer damit, Subventionen abzubauen. Da dieLobbys der alten Techniken das politische System – mitentsprechendem Erfolg – bearbeiten, ist es so schwer,die Subventionen abzubauen. Aber eines ist völlig klar:Nur wer Subventionen radikal und schnell abbaut, ist inder Lage, einen wirklichen Innovationskurs zu steuern.Damit wir uns nicht gegenseitig Vorwürfe machen: Jederkann bei den Subventionen anfangen, für die er selbsteingetreten ist; jeder muss sich die Frage stellen, was erselbst dafür tut, dass diese Subventionen abgebaut wer-den.
Wir haben ein Gesundheitssystem – dafür sind Sieverantwortlich, Frau Wöhrl –, das den Wettbewerb nichtfördert und deswegen nicht innovativ sein kann.
Auch über solche Schwächen muss man reden, wennman hier – in diesem Sinne haben Sie sich ausgedrückt –gestalten will.
Wenn man sich hinter den Lobbys des alten Systemsversteckt – Frau Wöhrl, das haben Sie getan –,
dann gibt es kein Pro für Innovationen, für neue Techni-ken und für neue Entwicklungen. Sie selbst haben ge-sagt, Innovationen seien ein sozialer Prozess. Da hattenSie wirklich Recht. Aber wenn Sie das so sehen, dannmüssen Sie daraus auch die Konsequenzen ziehen.
Wir sind der Meinung, dass das, was die Regierung indiesem Masterplan vorsieht – mehr für Forschung undBildung zu tun –, gut ist. Übrigens, im Hinblick auf dieAusgaben des Bundes für Forschung und Bildung, aufGanztagsschulen und auf die Studienanfängerquotebrauchen wir uns in der Tat nicht zu verstecken, weilsich der damit verbundene Prozess seit 1998 kontinuier-lich verbessert. Sie haben in diesen Bereichen abgebaut,während wir zugelegt haben.
Frau Bulmahn, ich glaube tatsächlich, dass wir dieElitediskussion vom Kopf auf die Füße stellen müssen.Wir vom Bündnis 90/Die Grünen glauben nicht daran,das es zu exzellenten Hochschulen kommt, wenn manallein von oben auf die Universitäten einwirkt.
Die notwendige Entwicklung muss sich in der Breitevollziehen. Wenn das geschieht, kann man zusätzlich et-was Vernünftiges machen. Wir werden darüber im Detailreden. Eines aber muss man klarstellen: Die Richtungmuss die Verbesserung des Hochschulsystems in derBreite sein.
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat eine Arbeits-gruppe zum Thema Innovationsfinanzierung einge-richtet. Die Ergebnisse der Tätigkeit dieser Arbeits-gruppe sind erst vor wenigen Tagen veröffentlichtworden. Man hat fünf sehr interessante, neue Vorschlägegemacht. Damit es konkret und gestalterisch wird, FrauWöhrl, möchte ich drei davon kurz darstellen:
Erstens. Diese Arbeitsgruppe fordert, dass die Fach-programme des Wissenschaftsministeriums – es sindgute Programme; bisher verpufften die damit verbunde-nen Zuschüsse in vielen Fällen – auf rückholbare undnicht versicherbare Kredite, also auf Soft Loans, umge-stellt werden sollen. Das ist eine vernünftige Forderung,weil mit dem gleichen Geld für Innovationen viel mehrBetriebe erreicht werden können.Zweitens. Wir brauchen einen Spin-off-Fonds inDeutschland, wodurch öffentliches Geld, privates Geldund das Geld von Venture-Capital-Gesellschaften zu-sammenfinden können, damit mehr Existenzgründungenaus den Universitäten unterstützt werden können, damites zu mehr Existenzgründungen kommt, als es bisherdurch das EXIST-Programm der Fall ist.Drittens. Wir müssen zum Beispiel das FUTOUR-Programm, das nur im Osten durchgeführt wird, auf dieganze Bundesrepublik ausdehnen, weil es ein hervorra-gendes Technologieprogramm zur Förderung neuer Un-ternehmen und Techniken ist.Damit komme ich zum Schluss.
Wir unterstützen den Masterplan in seinen Maßnahmen,wie er vorgelegt worden ist. Wir vom Bündnis 90/DieGrünen werden sehr darauf achten, dass die Innovations-diskussion endlich eine stärkere politische und gesell-schaftliche Richtung bekommt. Das halten wir für not-wendig. Es ist sehr gut, dass Rot und Grün das Thema
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Fritz KuhnInnovation aufgegriffen haben, während die Union ge-schlafen hat
und sich seit Wochen und Monaten in einem unwürdigenProzess zur Findung eines neuen Bundespräsidenten ver-gnügt, anstatt sich um das Kerngeschäft in der Politikund um neue Arbeitsplätze zu kümmern.
Ich erteile Kollegin Cornelia Pieper, FDP-Fraktion,
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Auch ich möchte Ihnen, Frau Ministerin Bulmahn,im Namen der FDP-Fraktion erst einmal herzlicheGlückwünsche zu Ihrem heutigen Geburtstag ausspre-chen und bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, dassSie mit Ihrem Amt eine Schlüsselfunktion für die Zu-kunftsfähigkeit Deutschlands innehaben.
Seit dem Beginn des Industriezeitalters in Deutsch-land waren Wissenschaft, Forschung und Entwicklungder Motor für den wirtschaftlichen Aufstieg dieses Lan-des.
Sie schufen zugleich die Grundlage für eine wettbe-werbsfähige moderne Volkswirtschaft, die in der Weltihresgleichen suchte. Was Deutschland bis heute so ex-zellent getragen hat und was zugleich seinen weltweitguten Ruf begründet, ist sein wissenschaftliches undtechnologisches Fundament, auf dem seine technologi-sche Leistungsfähigkeit beruht.Aber dieses Fundament, meine Damen und Herrenvon der Regierungskoalition, hat Risse bekommen. Dasgibt sogar Ihr Koalitionspartner zu. Wenn schon HerrKuhn hier kritisiert, dass der Masterplan nicht ausrei-chend ist, wenn schon Ihr Koalitionspartner von diesemMasterplan nicht überzeugt ist, dann ziehen Sie ihn dochzurück und überarbeiten ihn!
Zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlandswerfen Sie einen Blick in den Bericht der DeutschenBundesbank! Darin sehen Sie, wie gravierend sich derSaldo Deutschlands seit der Regierungsübernahme vonRot-Grün
im Jahr 1998, Herr Tauss, verschlechtert hat.
Wir geben heute wesentlich mehr für den Kauf von Pa-tenten und Lizenzen, für Ergebnisse aus Forschung undEntwicklung, für EDV-Leistungen und Ingenieurleistun-gen aus, als wir Entsprechendes an das Ausland verkau-fen.
Betrug der Negativsaldo 1998 noch 2,5 Milliarden Euro,so betrug er im Jahr 2001 schon 7,5 Milliarden Euro.Das geht auf Ihr Konto, meine Damen und Herren vonder Regierungskoalition.
Einerseits forschen große global operierende Unterneh-men dort, wo sie die besten Rahmenbedingungen oderauch Absatzmärkte vorfinden. Andererseits forschen sieauch dort, wo sie die geringsten bürokratischen Hinder-nisse erwarten können. Bürokratie haben wir inDeutschland leider noch viel zu viel.Die jüngste Studie des Stifterverbandes für die Deut-sche Wissenschaft zeigt, dass die Aufwendungen derUnternehmen für Forschung und Entwicklung, die von1995 bis 2002 eigentlich kontinuierlich gestiegen sind,im Jahr 2003 das erste Mal sinken. Der Anteil der For-schungs- und Entwicklungsausgaben der Wirtschaftam Bruttoinlandsprodukt betrug 2002 noch 1,75 Prozent,ein Jahr später 1,73 Prozent.
Die Unternehmen sparen an der Forschung, Herr Tauss.So warnte der Stifterverband für die Deutsche Wissen-schaft zu Recht vor der nachlassenden Innovationsdyna-mik in unserem Land.Die Schwächung der technologischen Leistungsfähig-keit verringert die Wettbewerbsfähigkeit der deutschenWirtschaft. Nicht zuletzt durch den Zusammenbruch desNeuen Marktes, das Scheitern vieler Venture-Capital-Gesellschaften sind gerade junge Technologieunterneh-men – das wissen auch Sie – nicht mehr in ausreichen-dem Maß finanzierbar. Die hohe Zahl von Insolvenzenin Deutschland – über 90 000 – ist doch bezeichnendund alarmierend. Warum ist das so, meine Damen undHerren? Das hat natürlich auch etwas mit politischenRahmenbedingungen in diesem Land zu tun. Die stim-men einfach nicht. Wir haben zu hohe Steuern. Sie sindmit der Reform der Sozialsysteme in diesem Land im-mer noch nicht vorangekommen.
Trotz aller lautstarken Bekenntnisse haben Sie es,meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen,in Ihrer jetzt schon sechs Jahre währenden Regierungs-zeit nicht vermocht, einen wirklichen Strukturwandelhin zu einer wissensbasierten Wirtschaft und hin zu ei-nem Höchsttechnologiestandort einzuleiten. Um mit denklaren Worten der Autoren des Berichts „Zur Technolo-
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Cornelia Piepergischen Leistungsfähigkeit Deutschlands“ zu sprechen:Alle Ansätze verlaufen im Schneckentempo. Der Anteilder Gesamtausgaben von Bund und Ländern und derWirtschaft für Forschung und Entwicklung stieg zwarseit Mitte der 90er-Jahre auf jetzt 2,52 Prozent des Brut-toinlandsprodukts an,
liegt aber noch weit von der 3-Prozent-Zielmarke der EUentfernt, zu der sich die rot-grüne Bundesregierung 2002
– Herr Tauss, schreien hilft nicht, Sie müssen schon dieFakten zur Kenntnis nehmen – in Barcelona bekannt hat.Ich habe mir erlaubt, die Bundesregierung zu fragen,wie sie eigentlich dieses 3-Prozent-Ziel erreichen will.
Da habe ich von der Frau Ministerin Bulmahn zur Ant-wort bekommen: Die dafür erforderlichen Steigerungs-raten der F-und-E-Ausgaben ergeben sich aus den tat-sächlichen Steigerungsraten des BIP bis zum Jahre 2010.Eine belastbare Voraussage der erforderlichen jährlichenSteigerungsraten der staatlichen und privaten F-und-E-Ausgaben ist daher bis zu diesem Zeitpunkt nicht mög-lich. – Was heißt denn das, meine Damen und Herren?Sie haben gar nicht realistisch in Erwägung gezogenbzw. haushaltspolitisch nicht kalkuliert, was da auf Siezukommt, und haben dieses Ziel überhaupt nicht in diemittelfristige Finanzplanung eingestellt. Deswegen for-dern wir heute die Bundesregierung auf, das auch in dermittelfristigen Finanzplanung darzustellen. Daran kön-nen Sie beweisen, ob Sie es mit der Forschungsförde-rung ernst meinen oder nicht.
Über eines müssen wir uns im Klaren sein: Nur mas-sive Investitionen in Bildung, Wissenschaft, Forschungund Technologie sichern einen wirklichen Strukturwan-del und damit auch Einkommen und Beschäftigung.Deutschland steht vor der Nagelprobe. Vor dem Hinter-grund einer immer noch schwachen Konjunktur ist esgerade jetzt außerordentlich wichtig, einen deutlich stär-keren staatlichen Beitrag zu leisten. Diese Bundesregie-rung will uns immer noch glauben machen, dass dieAusgaben für Forschung und Entwicklung seit ihremRegierungsantritt enorm gewachsen sind.
Das ist einfach nicht wahr.
Die gesamten staatlichen F-und-E-Ausgaben in Deutsch-land
– Herr Tauss, ich rede jetzt von Ihrer Regierungsverant-wortung – sind von 2000 bis 2002 nur um 6 Prozent ge-stiegen; dagegen waren es in Schweden knapp 30 Pro-zent und in den USA 25 Prozent. Wenn Deutschlandseine technologische Zukunft nicht aufs Spiel setzenwill, sind Investitionen in die Forschung das Letzte, wasdem Rotstift zum Opfer fallen darf.
Das Budget des BMBF sinkt gegenüber dem Vorjahrum rund 103 Millionen Euro. Hinzu kommen die globa-len Minderausgaben in Höhe von 229 Millionen Euro.Da kann man doch nicht von einer Steigerung diesesHaushaltsansatzes sprechen.
Denken Sie bitte auch an die Forschungsbereiche in denanderen Bundesministerien: Allein im Wirtschaftsminis-terium sinkt der Forschungsetat um 4,7 Prozent. Da istalso keine Rede von Zukunftsinvestitionen.
Meine Damen und Herren, die Entwicklung im Os-ten unseres Landes bleibt weit hinter den Erwartungenzurück. Auch da setzen Sie keine Zeichen. Wahrschein-lich hat es damit zu tun, dass Herr Stolpe so sehr mit derMaut zu tun hat, dass er sich mit Problemen der neuenBundesländer nicht mehr beschäftigen kann. Es bestehtin der Tat eine enorme Innovationslücke in den neuenBundesländern. Gerade einmal 9 Prozent des gesamt-deutschen F-und-E-Personals arbeiten in den neuen Bun-desländern und nur 6 Prozent aller Aufwendungen fürForschung und Entwicklung entfallen auf die neuenBundesländer.
– Ja, danke für das Stichwort BiotechnologieregionSachsen-Anhalt, Herr Tauss. Auch das will ich an dieserStelle ganz deutlich sagen: Frau Ministerin Bulmahnpreist zu Recht den Biotechnologiestandort Deutsch-land, aber die Koalitionsfraktionen sprechen, was dieBiotechnologie anbelangt, mit gespaltener Zunge. Sach-sen-Anhalt ist ein Biotechnologiestandort. Ich nennehier nur das Leibniz-Institut für Pflanzengenetik undKulturpflanzenforschung in Gatersleben. Indem Sie indieser Regierung auf Druck Ihres Koalitionspartners ei-nen wichtigen gentechnischen Versuch gebremst haben,haben Sie einen Wachstumskern in einer ostdeutschenRegion infrage gestellt.
Das ist Ihre innovative Politik, die wir nicht mittragenkönnen.Es ist schon eigenartig, welchen Rückhalt FrauBulmahn in der Regierung hat.
Ich weiß nicht, ob es der Geist von Neuhardenberg war,der Bundeskanzler Schröder bei der Regierungsklausurim Sommer vergangenen Jahres veranlasste, mit seinenMinistern Bulmahn und Clement sowie der Fraktion das
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Cornelia PieperThema Forschungs- und Innovationspolitik für denStandort Deutschland zu diskutieren. Eines ist sicher:Der Kanzler gesteht ein, dass es an allen Ecken und En-den klemmt und Mitglieder der eigenen Regierung hiernicht an einem Strang ziehen. Gleich nach der Bundes-tagswahl zeigte sich bereits, dass wichtige Forschungs-und Entwicklungsbereiche wie zum Beispiel dieEnergieforschung nunmehr von drei Ministerien ver-waltet werden: Frau Bulmahn ist für die Zukunfts-energien zuständig, Herr Clement für die konventionel-len Energien und Herr Trittin für die erneuerbarenEnergien, und das mit unterschiedlicher Mittelausstat-tung. Alles wird überschattet von einem übereiltenAtomausstiegsszenario mit den bekannten schwerenKonsequenzen für die Forschung bezüglich der kern-technischen Sicherheit und für die Sicherheit der deut-schen Kernkraftwerke, die derzeit für immerhin 30 Pro-zent der deutschen Stromversorgung zuständig sind.Dazu gibt es im Moment auch keine Alternative. Wir je-denfalls stehen zu dem Energiemix. Aber wir sagen auchganz deutlich, dass gerade in der Energieforschung Prio-ritäten gesetzt werden müssen, damit neue Technologienentwickelt werden können.Meine Damen und Herren, Frau Bulmahn hat das Jahrder Technik ausgerufen.
Der Kanzler überholt sie und ruft das Jahr der Innovationaus.
– Jahrzehnt wäre umso besser; aber dann müssten Sieauch im Haushalt der zuständigen Ministerin glaubwür-dig entsprechende Zeichen setzen. – Ich frage mich:Stellt Bundeskanzler Schröder damit nicht die Kompe-tenz und Durchsetzungsfähigkeit seiner eigenen Ministe-rin infrage?
Hinzu kommt, dass Herr Müntefering und der Ex-Ge-neralsekretär Scholz, ohne sich mit der Ministerin rück-zukoppeln, ein Programm für fünf Eliteuniversitätenausgerufen haben. Einmal davon abgesehen, dass wir alsLiberale seit Jahrzehnten für die Förderung der geistigenElite in diesem Land werben, und zwar glaubwürdig,
muss diese Förderung frühzeitig beginnen, nämlich miteiner Begabtenförderung im Kindergarten, und bis zueiner differenzierten und individuellen Betreuung in derSchule und natürlich entsprechenden qualifizierten Stu-dienangeboten reichen. Aber wenn Eliteuniversitäten perBeschluss des Zentralkomitees dieser Bundesregierungverordnet werden, geht das voll an den Realitäten des in-ternationalen Wettbewerbs
um die besten Universitäten und die besten Köpfe vor-bei, meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion.
– Ich werde jetzt nicht ausführen, was Herr Tauss dazusagt, sehr verehrter Herr Kollege Dr. Gerhardt, aber ichsage Ihnen, was die Allianz der Wissenschaftsorganisa-tionen dazu meint: dass wir den Wettbewerb von Exzel-lenzzentren brauchen, in denen Hochschulen aufbestimmten Fachgebieten eng mit außeruniversitärenForschungseinrichtungen und Wirtschaftsunternehmenzusammenarbeiten. Deutschland wird nicht umhinkön-nen, insbesondere seine Hochschullandschaft breit zufördern und seine Leistungsspitzen zu erhöhen.
Sie wollen das Gegenteil, meine Damen und Herrenvon der Regierungskoalition.
Sie machen unglaubwürdig Politik: Sie streichen imHaushalt 2004 die Mittel für die Hochschulen in diesemLand und
kürzen die Mittel für den Hochschulbau auch in denLänderhaushalten, sodass nicht mehr investiert werdenkann,
und rufen zeitgleich ein Programm für fünf Eliteuniver-sitäten aus. Das geht meines Erachtens an den Realitätenvorbei.
Frau Kollegin, Sie haben Ihre Zeit deutlich überzo-
gen.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Erlauben Sie mir als Letztes ein Zitat
von Benjamin Franklin: Investition in Wissen bringt die
besten Zinsen. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren!
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Ulrich Kasparick, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte zu unserem Thema zurückkommen.
Unser Thema heute ist der Mittelstand. Ich hätte erwar-
tet, dass von der FDP zum Thema Mittelstand etwas
kommt. Aber wie wir eben alle verfolgen konnten, kam
nichts – nicht einmal ein Wort – zu diesem Thema.
Es geht um die Frage, was wir politisch tun können, um
dem Mittelstand zu helfen.
Es sind schon verschiedene Dinge angesprochen wor-
den, die auch das Bundesland betreffen, in dem ich die
Lage einigermaßen gut überschauen kann. Zum Stich-
wort Gentechnologie in Gatersleben sei mir ein Satz ge-
stattet: Zu dem Forum, zu dem die Landwirtschaftsmi-
nisterin und der Wirtschaftsminister eingeladen hatten,
sind noch nicht einmal Vertreter der Bauernverbände ge-
gangen. Was Sie da vorhaben, bedarf eines gründlichen
Dialogs.
Die FDP wirft uns in ihrem Antrag Technikfeindlich-
keit vor. Ich will Ihnen hier im Plenum die konkrete Si-
tuation in meinem Bundesland schildern. Wir haben am
Standort Magdeburg eines der größten Hightech-Unter-
nehmen im Bereich der modernen Energietechnologien.
Wir haben mit vielen Verbündeten versucht, auch die
Forschungsabteilung des Unternehmens an diesen
Standort zu holen. Dieser große Anbieter von modernen
Dienstleistungen im Energiebereich, der mittlerweile in
über 35 Länder dieser Welt exportiert – so erfolgreich ist
er –, lehnte dankend mit der Begründung ab, dass sie
nicht in ein Land gehen, in dem es eine so massive Kam-
pagne gegen Windenergie gibt. Was dort gemacht wird,
ist Technologiefeindlichkeit.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie – damit meine ich beson-
ders die Verantwortlichen im Wirtschaftsministerium
dieses Bundeslandes – den Standort auf diese Weise
systematisch beschädigen, dann werden Sie keinen Er-
folg haben.
Was wir nämlich in Ostdeutschland brauchen, sind High-
tech-Unternehmen, die sich um Zukunftsmärkte küm-
mern. Wenn die so aus dem Lande vertrieben werden,
wie es Ihr Wirtschaftsministerium tut, dann hilft das un-
serem Land nicht.
Kollege Kasparick, es haben sich gleich zwei Kolle-
gen zu einer Zwischenfrage gemeldet.
Das können wir dann erledigen, wenn ich vorgetragenhabe.Ich möchte nun etwas zu den konkreten Vorschlägenin dem vorliegenden Hightech-Masterplan sagen. Dereine oder andere von Ihnen weiß, dass ich wie viele un-serer Kollegen viel im Lande unterwegs bin und mit denInstituten und auch mit den Unternehmern rede. Ich habeden Hightech-Masterplan von den Praktikern in der Re-gion einmal checken lassen.Als Erstes möchte ich der Ministerin und unseremWirtschaftsminister ein großes Lob für die Zusammenar-beit beider Häuser aussprechen.
Dabei geht es um die Frage, was wir gemeinsam tunkönnen, um den Mittelstand voranzubringen. Das ist ge-rade für Ostdeutschland ein ganz wichtiger Punkt.Wir haben am vergangenen Wochenende mit den ost-deutschen Abgeordneten und mit Vertretern des für denAufbau Ost zuständigen Ministeriums in Zeuthen zu-sammengesessen. Wir wollen die Anstrengungen ver-stärken. Wir wollen, dass die Häuser enger kooperierenund sich stärker auf die Lösung der Probleme fokussie-ren. Wir müssen schauen, wie wir die Kompetenzen derHäuser bündeln können, um etwas für den Mittelstandzu tun.Die Praktiker sagen, dass es ein brauchbares Papierist. Die Praxistauglichkeit der Innovationsförderungfür kleine und mittelständische Unternehmen wurde er-heblich gesteigert. Im Übrigen sei mir die Bemerkunggestattet, dass wir das Programm „Pro Inno“, das in Ost-deutschland läuft, für die alten Bundesländer geöffnethaben. Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie man vomOsten lernen kann.
Es ist gut, dass das, was gut gelaufen ist und was sich be-währt hat, auch für die alten Bundesländer geöffnet wird.Für Ostdeutschland ist auch die Zusammenarbeit derUnternehmen mit den Fachhochschulen wichtig. Ichstimme der Feststellung in dem vorgelegten Papier aus-drücklich zu, dass das Potenzial für die Verbesserung derZusammenarbeit zwischen Fachhochschulen und KMUssehr groß ist. Nach meiner Erfahrung liegt es insbeson-dere an den fehlenden persönlichen Kontakten der klei-nen und mittelständischen Unternehmen, die in Ost-deutschland besonders klein sind, dass in diesemBereich zu wenig passiert. Wir haben hier Betriebsgrö-ßen von durchschnittlich fünf bis zehn Mitarbeitern. Damuss deutlich zugelegt werden.Ich fordere von dieser Stelle die Kammern ausdrück-lich dazu auf, sich an diesem Projekt zu beteiligen. Der
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Ulrich KasparickDialog zwischen den kleinen und mittelständischen Un-ternehmen und den Fachhochschulen insbesondere inOstdeutschland muss deutlich verstärkt werden. MeinEindruck bei den weit über 500 Besuchen, die ich in denletzten Jahren bei den ostdeutschen Instituten gemachthabe, ist, dass da eine ganz große Schwachstelle liegt.Diesen Dialog müssen wir fördern.
Was der Bund in Bezug auf staatliche Förderung tunkann, hat er in dem Papier dargelegt. Wir müssen aberbeachten, dass die Forschungsintensität insbesondere inden ostdeutschen Ländern noch sehr zu wünschen übriglässt. Ich habe mir sagen lassen, dass in dem Bundes-land, aus dem ich komme, nur 5 Prozent der KMUs anF und E beteiligt sind. Das heißt also: 95 Prozent derkleinen und mittelständischen Unternehmen beteiligensich nicht an der Forschung.Das alles kann man natürlich dem Bund in die Schuheschieben. Nur sage ich Ihnen ganz deutlich, dass diesauch eine zentrale Aufgabe eines Landeswirtschafts-ministeriums ist.
Meine Erfahrung ist: In meinem Bundesland gab es ei-nen Innovationsbeauftragten. Dann wurde die Stelle ab-geschafft.
Jetzt hat man den Minister zum Innovationsbeauftragtenernannt. Seither läuft gar nichts mehr.
Genau das ist die Schwierigkeit. Wir müssen deutlichbesser werden.Insbesondere muss die sachsen-anhaltinische Landes-regierung aufhören, bei den Hochschulen pauschal zukürzen. Es bringt das Land nicht einen Deut weiter,wenn man einfach sagt: Alle Hochschulen müssen10 Prozent weniger ausgeben.
Was soll denn das für ein Qualitätsgütesiegel sein?
30 Millionen Euro sollen die Hochschulen bzw. Univer-sitäten weniger ausgeben. Sie sollten einmal mit Vertre-tern von Hochschulen sprechen. Ich komme gerade wie-der von einer Besuchstour. Ich war beispielsweise beider Best Practice University in Wernigerode. Dort wurdemir gesagt, dass man seit über einem Jahr auf die Geneh-migung des Ministers für Berufungen warte. Fünf Perso-nen, die alle Stadien durchlaufen hatten und hättenanfangen können, sind von der Fachhochschule wegge-gangen, weil das Ministerium kein Okay gibt.Ich sage Ihnen deutlich: Da muss nachgebessert wer-den. Das, was der Bund im Hinblick auf eine bessereKooperation zwischen Wirtschaft und Forschung vor-legt, muss von den Länderministerien in Ostdeutschlandendlich nachgemacht werden. Denn das ist der richtigeWeg. Nur so geht es.
Kollege Kasparick, gestatten Sie jetzt eine Zwischen-
frage des Kollegen Bergner?
Ich bin fast am Ende. Dann kann er die Zwischen-frage stellen.
Ich will ein paar Punkte des Programms der Bundes-regierung hervorheben, die gut sind und über die wir bis-her noch nicht gesprochen haben. Sehr gut finde ich denVorschlag, Zuschüsse für die Anmeldung des erstenPatents an KMUs zu vergeben. Denn bei vielen KMUsstellt die Finanzierung des ersten Patents eine schwierigeHürde dar. Ich habe mir gerade sagen lassen: Bei europäi-schen Patenten reden wir über eine Größenordnung von35 000 Euro. Wenn es dazu Zuschüsse gibt, ist das einehilfreiche und sehr wichtige Sache.Sehr gut ist, dass die Beratung deutlich verbessertwird, dass KMUs die Möglichkeit haben sollen, per Te-lefon oder über Internetangebote sehr viel schneller anInformationen heranzukommen, die ihnen helfen kön-nen.Die Ungleichgewichtigkeit, die wir zwischen den ein-zelnen Bundesländern in Ostdeutschland haben, mussdeutlicher ausgeglichen werden. Ich will dazu eine Zahlnennen: Der Ausdifferenzierungsprozess der Länder inOstdeutschland ist mittlerweile so weit, dass von denForschungsmitteln für KMUs, die nach Ostdeutschlandfließen, allein das Bundesland Sachsen 43 Prozent er-hält. Das sagt etwas über die technologische Leistungs-fähigkeit der anderen Bundesländer aus. Deswegen sageich: Dies wird offensichtlich nicht dadurch bestimmt, obdas Land von der Union oder der SPD regiert wird, son-dern wird durch die handelnden Personen bestimmt.
Deswegen müssen die Landesregierungen zulegen. Eskann nicht sein, dass ein Bundesland 43 Prozent derF-und-E-Mittel erhält, während sich andere dadurch aus-zeichnen, dass sie erfolgreiche Unternehmen aus demLande vertreiben oder zumindest verhindern, dass sieihre Forschungsabteilung in das Land holen.Deshalb: Herzlichen Dank für den Vorschlag, der aufdem Tisch liegt! Wir müssen jetzt ganz genau schauen,dass die Anregungen in Bezug auf eine Verbesserung derZusammenarbeit auch im Alltag vollzogen werden. Das,was wir Abgeordneten in unseren Wahlkreisen beitragenkönnen, um den Dialog zwischen Wirtschaft und Wis-senschaft zu verbessern, wollen wir gerne tun.
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Ulrich KasparickInsgesamt bin ich der festen Überzeugung, dass diepolitische Linie in dem vorliegenden Papier richtig ist.Sie läuft darauf hinaus, dass die Ministerien besser koo-perieren und sich zusammentun, um besondere Schwer-punktprobleme beispielsweise bei der Forschungsbeteili-gung von KMUs anzugehen. Das ist genau der richtigeWeg; den unterstützen wir gern.
Gestatten Sie jetzt die Nachfrage?
Jetzt kann er gerne fragen.
Kollege Kasparick, Sie müssen schon am Pult stehen
bleiben. Die Nachfrage bezieht sich ja auf Ihre Rede.
Gerne.
Herr Kollege Kasparick, ich will in meiner Frage un-
sere gemeinsamen landsmannschaftlichen Erfahrungen
ansprechen. Sie haben im Hinblick auf unser gemeinsa-
mes Bundesland Sachsen-Anhalt zwei Behauptungen
aufgestellt, die mich zu einer Nachfrage provozieren.
Die erste Behauptung war, dass Sachsen-Anhalt innova-
tive Aktivitäten von Unternehmen vertreibt,
weil es die Akzeptanz der Windkraft einschränkt. Ist Ih-
nen bekannt, dass Sachsen-Anhalt inzwischen in
Deutschland in Bezug auf die Windkraftdichte eine Spit-
zenposition bei den küstenfernen Ländern erreicht hat
und dass Kommunalpolitiker Ihrer Partei angesichts die-
ser Dichte die Belastungsgrenze bereits als überschritten
betrachten,
sodass Sie in die Gruppe derjenigen, die angeblich die
Windkraft verteufeln, Ihre eigenen Kommunalpolitiker
einbeziehen müssen?
Haben Sie zweitens unter wirtschaftspolitischen
Gesichtspunkten berücksichtigt, dass die regionalen
Energieversorger gerade mit Blick auf die unrentablen
Windkraftstandorte die Landesregierung inzwischen hin-
sichtlich der Energiepreisentwicklung zu Recht warnen,
eine solche Politik fortzusetzen?
Mein zweiter Punkt.
Das wäre jetzt der dritte Punkt.
Mein dritter Punkt: Sie haben den Eindruck erweckt,
als ob in Sachsen-Anhalt die Mittel für die Hochschulen
pauschal um 10 Prozent gekürzt wurden. Ist Ihnen ent-
gangen, dass diese 10 Prozent zwar ein Ziel für die
Haushaltskonsolidierung sind, dass sie aber sehr wohl
mit Vorschlägen zur Strukturveränderung – diese sind,
zugegeben, politisch umstritten – unterlegt sind? Mit
diesen Vorschlägen wollte man vermeiden, der Hoch-
schullandschaft insgesamt Kürzungen abzupressen; das
haben Sie versucht zu unterstellen.
Ich fühle mich aufgrund unserer gemeinsamen lands-
mannschaftlichen Herkunft verpflichtet, Ihre etwas küh-
nen Thesen durch drei Fragen klarzustellen.
Ich möchte Ihre drei Fragen gern beantworten. Herr
Dr. Bergner, eines unterscheidet uns beide: Sie sprechen
über Planungsvorgänge, die den Kommunen und Land-
kreisen obliegen, nämlich die Entscheidung, wo Wind-
turbinen aufgestellt werden. Ich spreche über Technolo-
giepolitik. Das ist etwas anderes. Es geht um die Frage,
ob es uns gelingen wird, die Kernbetriebe hoch innovati-
ver Unternehmen in den neuen Bundesländern zu halten.
Wir müssen jeden Betrieb im Land halten und jedem Be-
trieb, der seinen Hauptsitz und seine großen Produkt-
ionskapazitäten in die neuen Länder legen will, helfen.
Davon ist die Frage zu unterscheiden, an welchen
Standorten man Windturbinen aufstellt. Es geht darum,
ob man ein Unternehmen unterstützt, das Forschungska-
pazitäten aufbauen will. Wir haben mit der Geschäfts-
führung von Enercon gesprochen und wissen, dass diese
dankend ablehnt. Sie hat ausgeführt, dass sie ihre For-
schungsabteilung nicht in ein Land verlegt, in dem eine
solche Kampagne gegen sie geführt wird. Das ist das
Problem.
Sie haben die Hochschulen angesprochen, hier gibt es
ein weiteres Problem. Sie wissen, dass ich sehr viele In-
stitute besuche und dabei mit den Professoren spreche.
Ich lade Sie herzlich zu diesen Gesprächen ein. Sie wer-
den aus allen Hochschulen des Landes Sachsen-Anhalt
hören, dass die pauschale Kürzung der Mittel um
10 Prozent durch die Landesregierung in keinerlei Hin-
sicht förderlich für eine inhaltlich bessere Aufstellung
der Forschungsregionen ist. Es hilft dem Land nicht,
wenn Sie die Forschungsmittel kürzen.
Wir brauchen auch im Land eine Zusammenarbeit zwi-
schen dem Wirtschafts- und dem Forschungsministe-
rium, wie es der Bund vormacht.
Ich erteile das Wort dem Kollegen HartmutSchauerte, CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8347
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Kasparick, nachdem Sie zusammen mit der PDSdas Land Sachsen-Anhalt in Grund und Boden gewirt-schaftet haben,
erteilen Sie hier in arroganter Weise Zensuren, wie ichdas selten von einem jungen Kollegen gehört habe.
Gucken Sie sich einmal an, was Sie zusammen mit IhrenFreunden in den letzten Jahren in Sachsen-Anhalt ka-puttgemacht haben.
Bereinigen Sie das, bevor Sie hier eine dicke Lippe ris-kieren!
Der Anfang dieser Debatte war höchst bezeichnend.Das Wirtschafts- und das Forschungsministerium wuss-ten nicht, wer von ihnen anfangen sollte. Auch darankann man sehen, dass die Zuständigkeit bei der Innovati-onspolitik nach wie vor absolut ungeordnet ist. Das istein Teil unseres Problems.
Hier weiß die Rechte nicht, was die Linke tut. Sie könnensich nicht einmal darüber verständigen, wer die Eröff-nungsrede hält. Das setzt sich in den Behörden und beiden Beamten sowie in der Mittelverwaltung fort. Deswe-gen kommt Deutschland nicht aus den Puschen und des-wegen kommen wir nicht dahin, wo wir hin müssen.
Das „Jahr der Innovationen“ ist von der SPD zu ei-nem Zeitpunkt ausgerufen worden, als sie erschöpft ge-sagt hat: Nun ist es mit den Reformen genug.
Man konnte aber nicht ganz ohne Reformen auskom-men, also hat man das „Jahr der Innovationen“ erfunden.Der Begriff ist sympathisch, er tut nicht weh, er hilft.Deswegen war ich neugierig, was Sie nun – es wurde am4. Februar beschlossen – zum „Jahr der Innovationen“schreiben werden. Ich habe das nüchtern durchgelesen.Dieser Hightech-Masterplan ist ein Sammelsurium al-ler Maßnahmen, die sich irgendwie unter die Überschrift„Technologie im Mittelstand“ einordnen lassen. Sie ha-ben die Bestände in der Bundesregierung durchforstetund aufgeschrieben, wer oder was entfernt oder nah mitdiesem Thema zu tun hat.Es ist unglaublich schwer, in diesem Plan einen neuenPunkt zu finden. Daher bin ich nicht überrascht, dassnoch niemand von Ihnen einen solchen vorgetragen hat.Sie haben auf keinen neuen Punkt Bezug genommen, aufkeinen einzigen.
Ich darf Ihnen einen Punkt nennen, den Sie vielleichtübersehen haben. Es gibt wirklich einen durchaus ver-nünftigen neuen Punkt, über den man sich gar nicht zustreiten braucht. Es wurde nämlich ab 2004 ein Dach-fonds für Beteiligungskapital des ERP-Sondervermö-gens und des Europäischen Investitionsfonds geschaffen.Das ist eine sinnvolle Maßnahme, für die auch wir wa-ren. Das wird aber die Welt nicht verändern. DieserFonds ist bei genauem Hinsehen das einzig Neue in die-sem Masterplan der Technologieförderung für den Mit-telstand in der Bundesrepublik Deutschland.Ich bewundere den Mut, mit dem Sie zur besten De-battenzeit eine Diskussion zu einem Thema veranstalten,zu dem Sie nichts Neues auf den Tisch legen.
Sie fabrizieren hier eine selbst organisierte Blamage.Was sollen wir denn den Mittelständlern draußen sa-gen? Sie wollen ja ganz viel mit Mittelständlern gespro-chen haben. Ich weiß nicht, mit welchen Sie gesprochenhaben. Wenn Sie mir einen konkreten Mittelständler zei-gen, der mit seinen 10, 15, 20 oder 100 Leuten überlegt,wie er Aufträge hereinholt, und nach Durchsicht diesesPapieres sagt, es helfe ihm, dann gebe ich Ihnen einenEuro extra.
Sie werden niemanden finden, der damit etwas anfangenkann.
Nun zu einem anderen Thema. Sehr geehrter HerrKollege Kuhn, sehr geehrte Herren und Damen der SPD,wir streiten uns sehr wahrscheinlich nur wegen der un-präzisen Bestimmung der Faktoren, über die wir redenwollen. Innovation im Mittelstand findet zu 90 Pro-zent, zu 95 Prozent bei mutigen, innovativen, kreativen,im Markt befindlichen Unternehmern und Mitarbeiternstatt, Gott sei Dank ohne politische Beteiligung.
Das ist der mit Abstand größte Block. Wenn der nichtläuft, dann können Sie, Herr Kuhn, auch mit einer nochso starken Erhöhung von Mitteln – die haben Sie nicht;aber selbst wenn Sie sie hätten, wäre es so – nicht gegendas Absterben der Innovationsbereitschaft bei 90,95 Prozent der Unternehmen in diesem Lande anfinan-zieren. Das wird nicht gelingen.Der Mittelstand-Masterplan, den Sie hier vorlegen,befasst sich äußerstenfalls mit den restlichen 10 oder5 Prozent – und für diese legen Sie wirklich nichtsNeues vor.
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Hartmut Schauerte– Herr Kuhn, das wissen auch Sie. Sie sind zu intelli-gent, um das nicht erkannt zu haben;
dieses eingeschränkte Kompliment möchte ich Ihnenschon machen.
Deswegen dürfen Sie bei diesem Thema keine Ruhe ge-ben, wenn Sie wirklich Innovation haben wollen.Ein nächster Punkt. Sie sagen, wir müssten Subven-tionen abbauen.
– Genau, reden Sie doch einmal mit Ihrem Koalitions-partner! – Der Mangel an Patentanmeldungen im LandNordrhein-Westfalen, auf den ich vorhin mit meinerZwischenfrage eingegangen bin, liegt darin begründet,dass wir seit 30 Jahren an die 150 Milliarden Euro fürKohle und nicht für Innovation und Erneuerung ausge-geben haben,
und Sie von der SPD ändern das nicht. Sie schieben dasweiter vor sich her. In der nordrhein-westfälischenStrukturpolitik sind Fachleute für Sterbehilfe tätig, diezur Geburtshilfe für Neues und Frisches völlig unfähigsind. Deswegen sind wir mit dem Standort, den Patent-anmeldungen und der Erneuerung nicht vorangekom-men.
Herr Kuhn, was für eine Politik betreiben Sie denn imMoment im Energiebereich? Sie ist doch unerträglichund unglaublich.
Sie haben den Unternehmen in Deutschland eine Ener-gieverteuerung zugemutet. Seit Ihrem Regierungsantrittwurden die Strompreise um 20, 30 Prozent erhöht – diegrößte Kostenexplosion bei Strom in der Geschichte derBundesrepublik. Das ist Ihre Innovationspolitik.
Wie sollen denn die Unternehmen Erträge erwirt-schaften, wenn die Löhne und die Lohnzusatzkostensteigen, die Bürokratie zunimmt und die Energiekostenpolitisch hochgetrieben werden? Woher soll die Innova-tionskraft für 90 Prozent der mittelständischen Wirt-schaft in Deutschland kommen? Da müssen Sie korrigie-ren.
– Das ist das zentrale Problem Ihrer Politik und IhrerWirtschaftsförderung: Sie nehmen die Wirklichkeitwahr, die Sie durch politisches Handeln glauben beein-flussen zu können. Damit gehen Sie über Land und sa-gen: Guckt einmal, wie toll wir das gemacht haben. – Sienehmen überhaupt nicht wahr, welche Schäden undWettbewerbsverzerrungen Sie damit organisiert haben.
Deswegen kommt Deutschland nicht auf Wachstums-kurs. Das ist, wie ich meine, eine ausgesprochen bla-mable Situation.Ich möchte noch auf einige konkrete Punkte einge-hen, die den Mittelstand wirklich interessieren. Für Inno-vationen brauchen wir wirtschaftliche, planerische undgedankliche Freiheit. Welche Bürokratieexpertisen ha-ben Sie erstellen lassen! Welche Vermehrung der Büro-kratie in diesem Land haben Sie verwirklicht! Welchebürokratischen Hindernisse und Hemmnisse haben Siezum Beispiel im Bereich der Grünen Gentechnik und inEnergiefragen immer wieder eingeführt!All das macht die Innovationsbereitschaft eher kaputt.Das können Sie mit staatlichen Programmen, die Siedarüber hinaus noch nicht einmal in ausreichendemMaße mit finanziellen Mitteln ausstatten können, weilSie die Wirtschaft nicht organisieren, nicht auffangen.Weil das Wirtschaftswachstum ausbleibt, werden Sieauch kein Geld für Innovationen haben. Von einer Ideewill ich ganz schweigen.Was ist also zu tun? Was brauchen wir wirklich? Wirmüssen für die genannten 90 Prozent der Unternehmendie entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen.
Dabei geht es auch um Steuern und Abgaben. Ich sageIhnen: Allein durch Ihre Debatte über die Erbschaft-steuer zerstören Sie in Deutschland mehr Innovationsbe-reitschaft, als all Ihre Finanzierungsprogramme herbei-führen könnten.
Bürokratieabbau, flexibles Arbeitsmarktrecht, Verbes-serung der Eigenkapitalquoten, Wettbewerb und Autono-mie, Senkung der Energiekosten und Abschaffung derGewerbesteuer – all das sind wichtige Aspekte, durch dieFreiräume für Innovationen in unternehmerischer Ver-antwortung gewonnen werden können. Darüber hinauskann es Korridore geben, bei denen wir Incentives set-zen, Anregungen geben und Beschleunigungen herbei-führen wollen und für die wir daher öffentliche Mittelbereitstellen. Dabei muss es sich aber um solche Techno-logien handeln, die uns wirklich etwas bringen und dienicht ideologisch besetzt sind.Die Windenergie ist die unglücklichste Innovation,die wir in Deutschland betreiben.
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Hartmut SchauerteDamit meine ich wohlgemerkt nicht den Bereich der al-ternativen Energien. Aber die Windenergie ist die un-glücklichste, am wenigsten berechenbare und am we-nigsten dauerhaft verantwortbare Innovation imEnergiebereich. Aber sie ist Ihr Lieblingskind. Das kannich nicht verstehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so kommenwir bei diesem Thema nicht weiter. Die Zahlen, die wiralle kennen, sind erschreckend. In Bezug auf den Gradan wirtschaftlicher Freiheit liegt Deutschland abgeschla-gen auf Platz 18. Auch beim Innovationstempo istDeutschland abgeschlagen und verliert sogar an Ge-schwindigkeit. Sehr wahrscheinlich hilft nichts anderes,als dass wir die Innovationen, wie Sie es formuliert ha-ben, in den Köpfen beginnen lassen. Ich gehe noch einenSchritt weiter und sage: Wir müssen sie nicht in, sondernan den Köpfen beginnen lassen. Wir brauchen eine an-dere Bundesregierung, Herr Kuhn.
Mit dieser Bundesregierung ist in Deutschland keinInnovationsklima herzustellen. Bei der Wahl in Ham-burg haben nicht einmal 20 Prozent der Selbstständigennoch Vertrauen in Ihre Regierungskunst gehabt. Wo solldieses Vertrauen denn auch herkommen? Wir allerdingsgehen hier mit gutem Beispiel voran, Herr Kuhn.
Die CDU/CSU-Fraktion ist heute gut aufgestellt. UnserKandidatenvorschlag für das Amt des Bundespräsiden-ten ist hoch innovativ und tut Deutschland ausgespro-chen gut.
Daher gehen wir zufrieden in diesen Tag.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Hans-Josef Fell, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Ministerin, meinen herzlichen Glück-wunsch zum Geburtstag! – Herr Schauerte, Sie haben zuRecht die alten, Struktur erhaltenden Kohlesubventionenkritisiert. – Herr Schauerte, ich rede mit Ihnen.
Das sehen wir genauso. Dass Sie aber ausgerechnet dievolkswirtschaftlich wirklich geringen Kosten für For-schung und Entwicklung sowie für die Markteinführungerneuerbarer Energien ebenso kritisieren, zeigt auf, dassSie in Wirklichkeit mit Zukunftstechnologien nichts amHut haben, keinen Strukturwandel wollen und Innovatio-nen dort, wo sie tatsächlich erfolgreich sind, behindern.
Denn bereits bis heute wurden durch sie mit nur gerin-gen volkswirtschaftlichen Kosten mehr Arbeitsplätze ge-schaffen, als in der Kohlewirtschaft insgesamt zur Verfü-gung stehen.
– Wir kennen sie sehr genau und haben sie genau be-rechnet, anders als Sie mit Ihren Berechnungen. Wirkönnen sie in jedem Detail genau hinterfragen und wer-den dann sehen, dass sie nicht zutreffen.
Meine Damen und Herren, Innovationen, Zukunftstech-nologien und Dienstleistungen, vor allem im Mittel-stand, aber auch in der Industrie zu fördern ist ent-scheidend für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.Innovationen sind die Grundlage für neues unternehme-risches Handeln. Ihre Umsetzung in marktfähige Pro-dukte und in Dienstleistungen ist damit ein entscheiden-der Ansatz, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. NeueArbeitsplätze braucht das Land, nicht bloß die Um-schichtung bestehender Arbeitsplätze im Zuge der not-wendigen Reform der sozialen Sicherungssysteme.Die Bundesregierung hat mit dem „Jahr der Innova-tion“ einen wichtigen Anstoß dazu gegeben. Die Inno-vationsstrategie muss nun in den kommenden Monatenmit Inhalten gefüllt werden. Im vorliegenden Hightech-Masterplan werden wesentliche Zielvorstellungen vor-gestellt und erste Maßnahmen genannt. Aber – hierstimme ich Ihnen zu, Herr Schauerte – eine Vielzahlweiter gehender Maßnahmen wird nun folgen müssen,um diese Ziele auch erreichen zu können. Entscheidendwerden die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft sein.Wir müssen Anreize geben, damit die Wirtschaft und dieFinanzwelt in Forschung und Entwicklung investieren.Hier stehen die Steuern im Vordergrund. So wird leiderauch heute noch Risikokapital gegenüber anderen Anla-geformen steuerlich benachteiligt. Noch immer schnei-det Deutschland im europäischen Vergleich schlecht ab.Dies müssen wir ändern. Der Masterplan hatte hierursprünglich angesetzt, aber an dieser Stelle ist man zukurz gesprungen. Jetzt sind wir in den Regierungsfraktio-nen gefragt, das Innovationsjahr an dieser Stelle mit In-halt zu füllen. Nur dann wird es in breitem Maße zu gro-ßen und erfolgreichen Neugründungen kommen, nurdann können wir den Mittelständlern Innovationenschmackhaft machen. Darüber hinaus sind weitere be-gleitende Maßnahmen erforderlich. Hierzu gehören zumBeispiel Forschungskredite, die auch beim Mittelstand
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Hans-Josef Fellankommen, sowie ein Seed-Fonds zur Überwindung derFinanzknappheit bei der Gründung innovativer Unter-nehmen. Wir müssen unsere Schulen und Hochschulenbesser ausstatten, wenn wir viele kluge Köpfe mit kreati-ven Gedanken bekommen wollen. Auch für die Projekt-forschung benötigen wir mehr Mittel.Die Bildungsziele und das 3-Prozent-Ziel für For-schung und Entwicklung müssen in den Haushaltsbe-ratungen und in der mittelfristigen Finanzplanungwiedergefunden werden können, sonst läuft die Innovat-ionsoffensive ins Leere. Das heißt, wir müssen Prioritä-ten setzen und diese auch umsetzen. Das heißt auch, dasses wichtiger ist, Hochschulen zu sanieren als Autobah-nen zu bauen. Köpfe oder Beton – das, meine Damen undHerren, ist die Frage! Mit mehr Schulden für Autobahnenund Kürzungen bei Bildung und Forschung können wirdie Zukunft nicht gewinnen. Damit wir das allseits aner-kannte Ziel, 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes fürForschung aufzuwenden, erreichen können, sind alleinim Bundeshaushalt jedes Jahr durchschnittlich über600 Millionen Euro notwendig. Dieses Ziel ist hoch am-bitioniert: 2010 müssen Bund, Länder und Wirtschaftmehr als 22 Milliarden Euro zusätzlich für Forschungund Entwicklung ausgeben als heute. Es darf aber nichtnur um Geld gehen: Die Mittel müssen auch effizienterausgegeben werden. Bei technologischen Flops wie bei-spielsweise der Kernfusion müssen Konsequenzen gezo-gen werden: Weitere 50 Jahre Geldverschwendung ohnedie Perspektive neuer Arbeitsplätze dürfen wir uns nichterlauben.Es reicht nicht, nur quantitative Ziele zu setzen. Wirmüssen offensiv – darauf hat Fritz Kuhn zu Recht hinge-wiesen – eine Richtung vorgeben. Nur dann können wirdie Menschen mitnehmen. Nur dann wird die Innova-tionsoffensive auch dazu beitragen, gesellschaftlicheProbleme zu lösen. Die Zeitungen sind doch jeden Tagvoll davon: Klimawandel, alternde Gesellschaft, an-wachsende Verkehrslawinen, Krankheiten wie Alzhei-mer oder Krebs. Nichts liegt näher, als die Innovations-offensive zur Lösung genau solcher Problembereiche zunutzen. Schaffen wir uns Ziele und Leitbilder, dann wer-den die Menschen mitgerissen! Gute Ideen sind vielfachentwickelt, aber sie warten auf ihre Umsetzung. Als Bei-spiele, die bei entsprechenden Anstrengungen in dennächsten Jahrzehnten erreichbar sind, mögen genanntsein: der emissionsfreie Straßenverkehr. Japan entwi-ckelt im Moment emissionsfreie Automobile oder auchHybridautos. Die deutschen Automobilkonzerne begin-nen diese Entwicklung zu versäumen.Wir brauchen neue Dienstleistungen für diealternde Gesellschaft. Durch neue Ideen zur Betreuungvon Alten und Kranken können in hohem Maße die So-zialversicherungssysteme entlastet und gleichzeitig Ar-beitsplätze geschaffen werden. Dienstleistungen zur Prä-vention halten die Menschen gesund, senken dieGesundheitskosten und schaffen Arbeitsplätze. Wirbrauchen neue Medikamente gegen Alzheimer, eine zu-nehmende Bürde unserer alternden Gesellschaft.Wir brauchen Klimaschutztechnologien. HerrSchauerte, erneuerbare Energien und Energieeinspar-technologien schützen das Klima und helfen, die Ener-gieversorgungssicherheit aufrechtzuerhalten. Sie entzie-hen gleichzeitig Kriegen um Erdöl die Ursache undschaffen zudem viele neue Arbeitsplätze.
Die Querschnittstechnologien wie die Nanotechno-logie, die optischen Technologien, die Informationstech-nologie und die Kommunikationstechnologie sowie dieBiotechnologie spielen dabei eine wichtige Rolle. Sowird die Biotechnologie in Kombination mit nachwach-senden Rohstoffen dazu beitragen, die Biokraftstoffeund die Chemie umwelt- und klimafreundlicher zu ge-stalten.Entscheidend wird aber sein, wie sich Wissenschaftlerund die Wirtschaft in den Querschnittsfeldern an den ge-nannten Leitvisionen ausrichten. Es ist die Aufgabe derPolitik, über die Festlegung von Rahmenbedingungenund Forschungsschwerpunkten hierfür die richtigen Ak-zente zu setzen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinz
Riesenhuber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKollegen! „Innovationen und Zukunftstechnologien fürden Mittelstand“ – das ist etwas, bei dem wir uns imGrundsatz sehr einig sind. Der Mittelstand birgt die– wahrscheinlich einzige – Chance zur Schaffung vonArbeitsplätzen. Dabei können wir über Ich-AGs undÜberbrückungsgeld sprechen. All das ist sehr wichtig.Die Chance aber zur Schaffung von Arbeitsplätzen undzum Firmenwachstum liegt bei den 40 000 mittelstän-dischen forschenden Unternehmen, bei den jährlich2 000 bis 3 000 neu gegründeten technischen Unterneh-men. Es ist eine strategische Frage, wie man die Politikin diesem Bereich gestaltet.Wie ist die Lage? Sie ist nicht sehr beglückend. DieZahl der Unternehmensgründungen im Mittelstand indiesem Bereich ist derzeit – das zeigen die Zahlen –rückläufig. Die Forschungsaufwendungen im Mittel-stand sind rückläufig. In dieser schwierigen Situationhaben wir jedoch diese Bundesregierung. Das macht unsglücklich und dankbar.
Wenn alles ganz schief läuft, wird ein Masterplan aufge-stellt. Dann bedient man sich des eleganten Beraterjar-gons, mit dem man auch schon so wertvolle Dinge wieJUMP und den Jobfloater umschrieben hat.Jetzt haben wir also einen High-Tech-Masterplan.Die interessante Frage ist: Was leistet er eigentlich, um
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Dr. Heinz Riesenhuberdie Probleme zu überwinden, vor denen wir stehen?Wenn man die Probleme überwinden will, dann sollteman sie erst einmal analysieren. Ihre Berater würdensagen: Wir machen eine SWOT-Analyse – Strength,Weaknesses, Opportunities, Threats. Ich drücke michschon langsam in der gebildeten Sprache der gehobenenMinisterialbürokratie aus, die sich dank Ihrer Berater aufein erhebliches Niveau bewegt hat.
Ich beobachte das mit wachsender Bewunderung.
Wo liegen die Stärken, die Schwächen, die Chancenund die Bedrohungen? Es gibt eine ausgezeichnete Mög-lichkeit, hierauf eine Antwort zu erhalten. Uns steht derBericht zur technologischen Leistungsfähigkeit zurVerfügung, den uns Frau Bulmahn hier in einer schönenTradition – wir haben den Bericht damals aus gutenGründen erfunden – vorgelegt hat.Wenn wir in den Bericht hineinschauen und jetzt be-schreiben wollen, wo wir stehen, dann kommen wir zufolgendem Ergebnis: Seit Anfang der 90er-Jahre – sosteht es im Bericht – haben wir in keinem Bereich Vor-sprünge gegenüber den Konkurrenten gewonnen. In we-sentlichen Bereichen haben wir ständig verloren. Wirhaben bei den Forschungsausgaben, bei den Bildungs-ausgaben, bei den Ausgaben für I-und-K-Techniken, beider Sichtbarkeit von Forschung, beim Nachwuchs inden technologieorientierten Fächern verloren. FrauBulmahn, es ist prima, dass die Zahl der Studienanfängerin diesem Bereich – das haben Sie gesagt – anfängt, einbisschen zu wachsen. Dafür sind wir sehr dankbar.Aber Ihr Bericht und auch der Masterplan zeigen: Wirsind weiterhin unter dem Niveau der Konkurrenten. DieRelation liegt hier bei sieben zu zehn. Das heißt also:Wir befinden uns hier in einer verdammt kritischenLage.Wir haben gedacht, jetzt kommt der Masterplan, deruns rausreißt. –
Hartmut Schauerte hat das mit Verve und Sachverstandvorgetragen. –
Ich tue mich aber wirklich verdammt schwer damit, he-rauszufinden, wo er irgendetwas Neues aufzeigt. DenDachfonds des ERP-Sondervermögens und des EIF lo-ben wir hier seit einem Jahr immer wieder. Diese500 Millionen Euro sind wirklich prächtig. Ich kann diesnur wieder lobend erwähnen. Man kann aber nicht in al-len Debatten von einem einzigen Projekt leben. Es wäreschon ganz gut, manchmal etwas Neues zu bringen.Die Frage, woran das liegt, ist komplex. Es ist hiervoller Bewunderung festgestellt worden, wie schön dieMinisterien zusammenarbeiten. Freunde, das Problemliegt aber darin, dass die Ministerien die Zuständigkeitfür die Forschung überhaupt erst auseinander gerissenhaben. Seit dem Moment, ab dem die Forschung auf denUmwelt-, den Wirtschafts- und den Forschungsministeraufgeteilt worden ist, ist es eher ein Zufall, wenn hier et-was aus einem Guss entsteht.Die Beamten sind nach wie vor tüchtig. Sie erfindenprächtige Programme in großer Vielfalt. Es gibt lauterprächtige Programme: das JUNIOR-Projekt für Schüle-rinnen und Schüler, das Programm zur Frauenförderung– das ist wirklich eine gute Sache – und zur Existenz-gründungsberatung. All dies sind Referatsprogramme.Wunderbar! Den großen Hammerschlag aber, den Ur-knall, nach dem hier etwas Neues entsteht, eine neueWelt, in der Milliarden für die Innovation ausgegebenwerden und in der die Bundesregierung die Führung er-greift, sodass Deutschland wieder an die Spitze der wett-bewerblichen Länder kommt, höre ich leider nicht. Dasist das Problem.
Schlüsseln wir das im Einzelnen auf. Diese Zustän-digkeitstrennung verursacht natürlich Probleme ganz un-terschiedlicher Art. Heute können Sie nicht mehr zwi-schen der Grundlagenforschung und der angewandtenForschung trennen. So nah beieinander und so voll inte-griert war die Forschung noch nie. Die Bildungsministe-rin hat ihre Freude an BAföG, IGLU, PISA und sonsti-gen schönen Dingen. Der Wirtschaftsminister, lieberHerr Staffelt, muss mit Hartz I, Hartz II, Hartz III,Hartz IV sowie den Regelungen bezüglich der Alteigen-tümer und den Emissionsrechten kämpfen.
All das sind bedeutende Sachen. Ich kann aber nicht er-kennen, wo die Löwenpranke eines Ministers im Hin-blick auf die Forschung auf den Tisch haut und sie sicht-bar macht. Die Forschung hat hier kein Gesicht undkeine durchschlagende Kraft, weil die Organisations-form nicht stimmt. Das hat bis in die einzelnen Pro-gramme hinein ganz bittere Folgen.
Ich freue mich ja, wenn die Welt reicher wird. Wasaber könnten diese Fanfarenstöße sein? Frau Bulmahnhat hier gesagt, jetzt käme ein Programm zur Nanotech-nologie. Ich darf daran erinnern: Vor zwei Jahren habenwir in einer Debatte genau dies vorgeschlagen. DasRichtige kommt bei der Bundesregierung ja, aber es dau-ert immer furchtbar lang. Wir können nicht warten.
Es wäre einmal eine Innovation, bei dem, was richtigist, schneller zu sein. Wir haben eine Anfrage zur For-schungspolitik gestellt, um die Sache voranzubringen.Das ist nun schon neun Monate her. Das ist ungefähr dieZeit von der Zeugung bis zur Geburt eines Babys. Ob bei
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Dr. Heinz Riesenhuberder Antwort etwas herauskommt, was Hand und Fuß hat,ist noch völlig offen. So etwas dauert und dauert. Daskann eine herzbrechende Veranstaltung sein.
Herr Kuhn, einige Ihrer Vorstellungen fand ich imÜbrigen ein wenig gespenstisch. Es war so, als ob Sieglaubten, dass Sie die Zukunft mit Forschungsprogram-men vorhersagen oder gestalten können. Hier wäre mireine ein wenig größere Offenheit des Geistes schon lie-ber. Dies muss selbst bei einem tüchtigen grünen Politi-ker möglich sein.Sie sprachen aber auch von der Alternsforschung.Das ist ein gutes Thema. Ältere Leute erinnern sich da-ran, dass es einmal ein prächtiges Programm zur Al-ternsforschung gab, das man heute leider nicht mehr sodeutlich erkennen kann. Und bei der Pflegeforschunggeht es ja nicht nur um die Fürsorge. Sie haben Recht:Hier kommen neue, technikbasierte Dienstleistungenund neue Aufgaben auf uns zu. Es ist gut, dass diese Ideehier endlich einmal aufgekommen ist. Vielleicht kommtdann in zwei Jahren ja ein lichtvoller Vorschlag, überden wir alle sehr glücklich sind.Der große Hammerschlag – ich glaube, der KollegeFell hat es angesprochen – wäre natürlich das gewesen,was die Forschungsministerin vorgesehen hatte: Vor ei-nem Jahr ging sie davon aus, sie könnte den französi-schen „Plan Innovation“ abschreiben. Gut, in der Ver-gangenheit haben die Franzosen von uns abgeschrieben,aber alles ändert sich. Sie hat vorgeschlagen, junge For-schungsunternehmen acht Jahre lang von der Körper-schaftsteuer und anderen Unternehmenssteuern freizu-stellen. Auch Gewinne aus Stock Options solltenfreigestellt sein. Der Plan enthielt noch eine Reihe ande-rer Vergünstigungen für junge Unternehmen, die kon-zernunabhängig forschen. Davon ist leider nichts mehrübrig.
– Ich frage lieber den Herrn Eichel. Frau Bulmahn willes, Herr Clement weiß es und Herr Eichel steht danebenund mauert. Aber verantwortlich ist die Bundesregie-rung insgesamt und natürlich auch Sie, verehrter Kol-lege. Die Fraktion mit ihrer Innovations- und Prägekraftkönnte natürlich das Vernünftige tun, wenn sie es dennwollte. Dass nun bald Herr Müntefering der Vorgesetztevon Herrn Schröder wird, macht das Ganze nur nochüberzeugender.
Beim Thema Business Angels sind wir nicht weiter-gekommen. Ich werde eine ganze Reihe von Punktenwie die Fondsbesteuerung, die wir vor drei Wochen be-sprochen haben, nicht aufgreifen. Wir reden und tagensehr oft miteinander. Wir haben sehr viele wunderbareIdeen, die aber leider nicht umgesetzt werden. Es tagtund tagt und wird nicht heller.
Herr Staffelt schaut versonnen in die Innenfläche seinerHand, als ob er darin die Zukunft des Landes erkennenwürde. Sie sollen kraftvoll die Zügel ergreifen, HerrStaatssekretär, damit die Forschung ein Gesicht be-kommt, selbst wenn es Ihres ist.
Es ist von einigen Kollegen mit Stolz auf die finan-ziellen Leistungen der Bundesregierung hingewiesenworden. Diese sollte man sich einmal liebevoll an-schauen. Der Anteil des Staates am Forschungsbudgetder Nation ist ständig gesunken, und zwar von circa37 Prozent im Jahr 1995 auf circa 31 Prozent im Jahr2001. Aber die Programme sind ständig weitergelaufen.Schauen wir uns einmal das Budget des Wirtschafts-ministeriums an. Herr Staffelt, ich diktiere es Ihnen, da-mit Sie es gleich widerlegen können. Das werden wirmit Interesse verfolgen.Die Titelgruppe 05, Forschung, Entwicklung und In-novation im Mittelstandsbereich, ist ausweislich der Un-terlagen der Bundesregierung – man muss sich die Ist-zahlen, nicht die Sollzahlen anschauen – in denvergangenen vier Jahren prächtig gestiegen und liegt2003 um etwa 130 Millionen Euro höher als im Jahr2002. Wenn aber das BTU herausgerechnet wird, dannsteigt die Zahl in vier Haushaltsjahren von 2000 bis2003 von 387 Millionen auf nur 388 Millionen Euro.Das BTU ist Ihnen nämlich völlig aus dem Ruder gelau-fen, es frisst Ihnen die Gelder weg. Der ganze For-schungs- und Innovationshaushalt für den Mittelstandstagniert bei Ihnen.Sie stellen ein großes neues Konzept vor, das Sie nunumsetzen wollen. Das ist dringend notwendig und über-fällig. Sie müssen aber so vorgehen, dass für die Um-setzung Ihres Programms auch Platz ist. In Ihrem Mas-terplan hatten Sie angekündigt, mittelständischenForschungsunternehmen Gelder aus den Fachprogram-men zur Verfügung zu stellen. Wenn die Mittel für dasWirtschaftsministerium nicht erhöht werden und dieProjektmittel für das Forschungsministerium im letztenJahr um 4 Prozent und in diesem Jahr um 8 Prozent sin-ken, dann ist das ist nicht die Art von Ermutigung, vonSchwung und Unternehmergeist, die wir brauchen.In der Forschung werden Millionen abgeknapst. Fürdie Ganztagsschulen werden Milliarden ausgegeben.Dafür sind Sie nicht zuständig.
Auch die UMTS-Mittel sind aufgebraucht. Wenn Siehier einen Anstoß geben wollen, müssen Sie nun ganzhart Prioritäten setzen und das tun, was Ihnen Herr Fellgesagt hat: Bringen Sie den Finanzminister dazu, dass erdas Geld freigibt, das wir brauchen.
Herr Kuhn denkt genauso. Ich bin sicher, auch bei derSPD gibt es viele vernünftig denkende Leute.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8353
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Denken Sie bitte an Ihre Redezeit, Herr Riesenhuber.
Ich bitte um Nachsicht, Frau Präsidentin. Ich werde
mich sehr beherrschen.
Ihre Redezeit war schon reichlich bemessen.
Wir sehen dieses Programm durchaus nicht ohne
Sympathie. Es enthält wenig Falsches. Aber es fehlt das
Notwendige. So ist es bei der Bundesregierung häufi-
ger. Oft macht sie aber etwas wirklich Falsches. Was
hier – das ist das Problem – mit den fleißigen Händen
der Beamten vorne aufgebaut wird, wirft die Regierung
mit ihrem Hintern wieder um, wenn sie die Vermögen-
steuer und die Ausbildungsplatzabgabe bzw. die -um-
lage einführt. Gleiches gilt für die Drohung mit der
Erbschaftsteuer. Vorne bauen Sie fleißig auf und hinten
fällt alles zusammen, weil das Ganze nicht aus einem
Guss ist.
Deshalb haben wir eine Landschaft, in der es nicht vo-
rangeht.
Freunde, wir sind am Beginn der Fastenzeit. Der
Apostel sagt: „Metanoeite!“, „Denkt um!“
Dies ist eine gute Gelegenheit. Denken Sie um! Gehen
Sie weg von dem Glauben an die Machbarkeit dessen,
was in regierungsamtlichen Papieren steht! Gewähren
Sie den Freiraum, den wir immer wieder eingefordert
haben, damit die Leute Lust haben, etwas zu tun. Denn
ohne Lust geschieht auf der Welt nichts Vernünftiges.
Herr Kollege Riesenhuber, weil wir Ihnen alle so
gerne zuhören, bekommen Sie nicht nur Szenenapplaus,
sondern immer auch eine reichlich bemessene Redezeit.
Aber das nächste Mal etwas knapper, bitte.
Jetzt hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär
Ditmar Staffelt. Er kann jetzt die Zügel ergreifen.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es fällt mir nach dieser fulminanten Rede desKollegen Riesenhuber außerordentlich schwer,
hier noch Wichtiges beizutragen:Erstens. Ich habe die Vermutung, Herr Riesenhuber,dass Sie in Bezug auf die Sprachbildung der Beamtenim Forschungsministerium in Ihrer früheren Rolle alsBundesforschungsminister ganz erhebliche Vorleistun-gen erbracht haben. Nur mit dieser intellektuellen Bril-lanz ist so etwas vermittelbar. Deshalb schreibe ich dasin der Hauptsache Ihnen zu.Zweitens. Sie haben darüber gesprochen, wo wir anBoden verloren haben. Ich hatte einen Moment die Idee,Sie könnten sich wieder in die Zeiten Ihrer Regierungzurückversetzt haben. Wenn ich mich recht entsinne,hatte alleine Ihr Kollege Rüttgers in der Zeit zwischen1994 und 1998 in seinem Haushalt einen Verlust in Höhevon 400 Millionen Euro zu verzeichnen.
Das steht im Gegensatz zu dem, was wir gemacht haben.Auch das gehört zu einer redlichen Beschreibung der Si-tuation, in der wir uns befinden.
Ich muss ganz offen gestehen: Manches davon hätteich einem jungen Kollegen durchgehen lassen. Aber beider Erfahrung, die Sie mitbringen, und bei der Kenntnis,die Sie unbestritten haben, kann ich das bei Ihnen nichttun. Wir arbeiten uns im politischen Raum Punkt fürPunkt voran. Die politische Debatte ist nicht vernünftigund redlich, wenn Sie jeweils das, was wir im Paket be-schlossen haben – zum Teil übrigens gemeinsam be-schlossen haben –, außen vor lassen und am Ende immerwieder Einzelpunkte herauspicken und diese zum Anlassnehmen, alles, aber auch wirklich alles, schlechtzureden.Das ist doch kein redliches politisches Handeln!
– So ist das.Ich will in dem Zusammenhang noch einmal daraufhinweisen, dass wir in diesem Lande eine nachhaltigeSteuerreform realisiert haben. Das geschah im Vermitt-lungsausschuss und im Bundesrat am Ende mit Ihrer Zu-stimmung. Wir haben im Bereich der Sozialversiche-rungen wichtige Veränderungen und Einschnitte mitIhrer Zustimmung vorgenommen. Wir haben bei derHandwerksordnung, bei den Hartz-Gesetzen undbeim Bürokratieabbau ganz erhebliche Schritte nachvorn gemacht. Nicht umsonst gibt es im Lande die
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Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffeltgroßen Diskussionen. Das können Sie doch nicht einfachignorieren. Sie können doch nicht immer wieder auf daszurückkommen, über das wir schon hinweg sind. Dasglaubt Ihnen doch am Ende keiner, der die politische De-batte wirklich ernsthaft verfolgt.
Selbst die Verbände, die uns historisch durchgängignicht nahe stehen – wie der BDI –, kämpfen doch dafür,dass diese Regierung ihren Kurs beibehält, und begrüßendas, was wir bisher erreicht haben. Das kann doch nie-mand ignorieren.
Machen Sie es sich deshalb nicht so einfach, wie es ins-besondere Herr Schauerte getan hat!Die Initiative „Innovation und Zukunftstechnologienim Mittelstand – Hightech-Masterplan“ knüpft durchausan Defizite an.
Diese Defizite ergeben sich auch aus einem Tatbestand,der nicht verschwiegen werden darf, nämlich dass sichaufgrund der Erfahrungen in der New Economy das pri-vate Venture Capital wieder gänzlich zurückgezogenhat, sodass der Staat letztlich die Risiken auf sich neh-men muss, damit der Laden wieder läuft. Das ist dochdie pure Wahrheit.
Auch das ist ein Tatbestand, den wir nicht ignorierendürfen. Das hat etwas mit Rahmenbedingungen, aberauch mit Mentalitäten zu tun. Die Deutschen sind, wasRisikokapital betrifft, in aller Regel nicht so erfahrenund auch nicht so risikofreudig wie die Amerikaner, Bri-ten oder andere Nationen.
– Dazu äußere ich mich nicht, weil ich, wie Sie wissen,Westberliner bin. Deswegen halte ich mich aus derFrage, die Sie möglicherweise implizieren, gänzlich he-raus.In jedem Fall versuchen wir in dieser Phase, dieRückgänge im Bereich des privaten Venture Capital aus-zugleichen. Die Early-Stage-Investitionen der Brancheliegen mit rund 290 Millionen Euro im Jahr 2003 inzwi-schen wieder unter denen des Jahres 1998. Die Grün-dungsfinanzierungen sind fast gänzlich zum Erliegen ge-kommen. Das ist die Realität, der wir richtigerweisegegensteuern müssen. Das müsste eigentlich in vollemUmfang Ihre Unterstützung finden, meine Damen undHerren.
Bei den KMUs sind die Ausgaben im F-und-E-Be-reich 2001/2002 um rund 3 Prozent gesunken. Für 2003war der gleiche Level wie 2001 und 2002 zu verzeich-nen. Erinnern Sie sich auch in diesem Zusammenhangwieder an Ihre eigene Geschichte! Als es 1993 zu dergroßen Rezession kam, ist der gesamte Venture-Capital-Markt zusammengebrochen. Sie aber hatten staatlicher-seits keine Vorkehrungen getroffen. Der Markt musstezu einem späteren Zeitpunkt erst wieder angekurbeltwerden. Auch das ist ein Teil der historischen Wahrheit,mit der Sie sich auseinander setzen müssen.
Was wollen wir mit dem Hightech-Masterplan errei-chen? Wir verbessern damit erstens die Finanzierungs-bedingungen.
– Ja, natürlich, Herr Schauerte. – Das gilt insbesonderefür junge Technologieunternehmen.
Zweitens werden die Möglichkeiten des Mittelstandeszur Teilnahme an nationalen und internationalen Tech-nologienetzwerken deutlich verbessert.Drittens. Mit der Förderung der Innovationskompe-tenz bei kleinen und mittleren Unternehmen und demHandwerk stärken wir deren Wettbewerbsfähigkeit.Viertens. Im Bereich der Bildung schaffen wir mitden Reformen in der dualen Berufsausbildung und derVerlängerung der Greencard erste Voraussetzungen füreinen attraktiven Bildungsstandort und begegnen demFachkräftemangel.Das sind doch positive Ziele, die im Übrigen in denDiskussionen mit den Mittelständlern auch anerkanntwerden. Diese setzen sich übrigens, was die Finanzie-rungsthematik betrifft, in viel stärkerem Maße mit denBanken und ihrer Praxis in diesem Lande als etwa mitVorwürfen an die Bundesregierung auseinander.
Das ist das Thema, um das es auf jeder Versammlunggeht.Wir müssen uns letztlich – das wäre auch in Ihrem In-teresse – mit den Banken, Sparkassen und Volksbankendarüber auseinander setzen, auf welche Weise wir dabeihelfen können, die Kreditzuweisungen an Unternehmerzu verbessern und zu vereinfachen.
Um dieses Thema geht es. Deshalb sollten Sie mit dieserArt der Auseinandersetzung sehr vorsichtig sein.Wir haben bereits Ende letzten Jahres – darauf istschon hingewiesen worden – gemeinsam mit dem ERP-Sondervermögen und dem Europäischen Investitions-fonds einen Dachfonds für Beteiligungskapital ge-schaffen. Frau Wöhrl, Sie haben dem – Sie waren zu-sammen mit Frau Skarpelis-Sperk von unserer Fraktion
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Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffeltsozusagen an der Spitze der Bewegung – im ERP-Unter-ausschuss zugestimmt. Aber hier im Bundestag tun Sieso, als ob Sie mit alledem nichts zu tun hätten. Ist daspolitische Redlichkeit?
Deutschland ist natürlich auf eine weitere Verbesse-rung der Situation auf dem Beteiligungskapitalmarkt an-gewiesen. Hier werden wir unsererseits das Notwendigetun. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch aufeinen wichtigen Fakt hinweisen, der nicht außer Achtgelassen werden darf. Neben dem heute diskutiertenMasterplan gibt es die Fachprogramme sowohl des Mi-nisteriums für Bildung und Forschung als auch des Wirt-schafts- und Arbeitsministeriums. Alleine in diesem Be-reich haben wir von 1998 bis 2003 die Mittel für dieKMUs um 20 Prozent erhöht. Auch das gehört zurWahrheit der politischen Auseinandersetzung.
Summa summarum: Wir glauben, mit dem vorliegen-den Programm mehr Flexibilität zu schaffen sowie dieBedingungen der internationalen Kooperation für deut-sche mittelständische und innovative Unternehmen zuverbessern. Ich habe als Koordinator der Luft- undRaumfahrtindustrie viel mit kleinen und mittleren Unter-nehmen zu tun und weiß daher, wie wichtig eine kleineVenture-Capital-Unterstützung für diese ist, um Großeszu leisten und sich im Wettbewerb zu behaupten. Genaudas machen wir, indem wir die Mittel nicht nach demGießkannenprinzip, sondern sehr gezielt dort einsetzen,wo wir es mit Unternehmen zu tun haben, die erwar-tungsgemäß in der Lage sind, technologischen Fort-schritt zu erzielen und exzellente Spitzenleistungen zuerbringen. Das ist der Sinn unserer Politik.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Resonanz in derWirtschaft durchweg positiv sein wird; denn die Wirt-schaft weiß sehr wohl – sie ist in der Lage, mit dieserTatsache umzugehen –, dass die Möglichkeiten der öf-fentlichen Haushalte begrenzt sind. Viele Mittelständlerwollen auf Dauer auch gar keine Staatsknete, sondernnur eine unterstützende Starthilfe, um letztendlich Pro-dukte auf den Markt zu bringen, mit denen sie ihr Unter-nehmen stabilisieren und entwickeln sowie für dieVolkswirtschaft etwas leisten und Arbeitsplätze in die-sem Lande schaffen können.Vor diesem Hintergrund wäre mir eine konstruktivereDiskussion vonseiten der Opposition sehr viel lieber ge-wesen. Sie wäre auch der Vertretung der Interessen der-jenigen, über die wir hier reden, angemessener gewesen.
Sie sollten lernen, dass Ihre konfrontative Oppositions-politik unser Land in keiner Weise voranbringt.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Christoph
Bergner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Staatssekretär Staffelt, vielleicht können wir unsdarauf verständigen, dass eine Diskussion wie die heu-tige mit möglichst geringem propagandistischen Eiferund mit möglichst engem Bezug zur Realität geführtwerden sollte.
Um diesem Grundsatz zu folgen, möchte ich uns dieauthentische Studie des Stifterverbandes für die Deut-sche Wissenschaft, in der die aktuellen F-und-E-Auf-wendungen der Unternehmen in Deutschland analysiertworden sind, in Erinnerung rufen. Ohne auf die Zahleneinzugehen, möchte ich die Grundaussagen zitieren:… auch für 2004 rechnen die befragten Unterneh-men tendenziell mit einer weiteren Senkung ihrerFuE-Aufwendungen: …
Herr Staatssekretär, wie ich sehe, finden Sie die Un-terhaltung mit der Frau Ministerin interessanter. – Dasist die Realität, der wir uns stellen müssen, wenn wir dieDimension dieser Aufgabe wirklich erkennen wollen.Zu dieser Realität gehört auch, dass der Rückgang anF-und-E-Aufwendungen vorwiegend kleine und mittel-ständische Unternehmen betrifft.
Nun möchte ich den Generalsekretär des Stifterver-bandes zitieren:Wenn seitens der Politik kein ermutigendes Signalgesetzt wird, ist damit zu rechnen, dass in den kom-menden Jahren, 2003 und 2004, der Anteil der FuE-Aufwendungen am Bruttoinlandsprodukt wiedersinkt. … So können wir die EU-Zielmarke von 3 %nicht erreichen.Ich finde diese Nachricht – auch wenn sie den Staatsse-kretär nicht interessiert – alarmierend, und zwar auszwei Gründen:Wir wissen, dass wir das 3-Prozent-Ziel wahrschein-lich schon im Bereich der staatlich finanzierten F-und-E-Aufwendungen verfehlen werden. Wir stellen fest, dassnun auch noch im Bereich der privat finanzierten wirt-schaftlichen Aufwendungen
das Handtuch geworfen wird und dass sich dort ein Ab-bau vollzieht.
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Dr. Christoph Bergner– Sie können die Zahlen des Stifterverbandes nichtwiderlegen. Herr Kasparick, es bringt doch nichts, überRealitäten zu streiten.
Ich darf Ihnen in Erinnerung rufen, was „3 Prozent“bedeutet. Ich finde, das ist in der heutigen Diskussionnoch nicht richtig zum Ausdruck gekommen. Der Be-schluss, den die Staats- und Regierungschefs der Euro-päischen Union in Lissabon gefasst haben, besagt, dasses um 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Durch-schnitt der 2010 erweiterten Europäischen Union geht.
Das heißt nichts anderes, als dass ein Land wie Deutsch-land, das den Anspruch erhebt, ein Hochtechnologielandzu sein,
im Hinblick auf Länder wie die Slowakei, Litauen undGriechenland, die diesen Durchschnittswert aus ver-ständlichen Gründen nicht schaffen werden, dadurch ei-nen Ausgleich zu schaffen hat, dass es, was seine F-und-E-Aufwendungen angeht, deutlich über der 3-Prozent-Marke liegt. Wir sind also weit von dem entfernt, waswir uns im Rahmen der EU selbst zum Ziel gesetzt.Wir sollten dieses Thema deshalb ernster nehmen, alsSie es bisher getan haben. Ich will Ihnen eines sagen:Was ich bisher als so genannte Innovationsoffensive er-lebt habe, ist vor allen Dingen eine Propagandaoffensivegewesen.
Zu Jahresbeginn gab es einen Fanfarenstoß „Eliteuniver-sität“, verbunden mit einer Einladung ins Kanzleramt.Übrigens, zu dieser Zusammenkunft war kein Vertreterdes Mittelstandes eingeladen. Auch dies gehört – Siesprechen über Innovationen bei kleinen und mittelständi-schen Unternehmen – bei der Analyse auf die Tagesord-nung. Ich kann in all diesen Diskussionen nicht die Be-reitschaft erkennen, dicke Bretter zu bohren. Genaudiese Bereitschaft werden Sie allerdings brauchen.Ich habe bei der Analyse Ihrer internen Reformdis-kussion den Eindruck gewonnen – der KollegeSchauerte hat schon darauf hingewiesen –, dass Sie imMoment eine ganz andere Parole ausgeben. Diese Parolelautet – ich halte sie für höchst bedenklich –: Nachdemwir uns in der Vergangenheit und bis in die Gegenwartmit der Reform der sozialen Sicherungssysteme herum-schlagen mussten, kommt nun der fröhliche Teil derAgenda 2010, der es uns möglich macht, Geld zu vertei-len und Menschen zu beglücken.So einfach wird die Aufgabe, die vor Ihnen liegt,nicht sein. Die Forschungs- und Technologieförderungist genauso wie die Bewältigung der Probleme der sozia-len Sicherungssysteme eine sehr schwierige Aufgabe. Esgeht nämlich darum, verlorene Wettbewerbsfähigkeitund verlorene Rahmenbedingungen für mehr Wachstumwiederzuerlangen. Dies sollten Sie ernster nehmen.
– Sie machen es eben nicht, Herr Kasparick.
Ich schränke mich ein: Ich kann mich nur auf das bezie-hen, was Sie uns vorlegen.
Der Masterplan, den Sie uns mit der Drucksache 15/2551vorgelegt haben, ist gemessen an der Größe der Aufgabegeradezu lächerlich.
Das ist schon analysiert worden. Ich brauche daraufnicht mehr im Einzelnen einzugehen, weil es in den För-derprogrammen – der Dachfonds ist schon genannt wor-den – im Grunde genommen nichts oder fast nichtsNeues bringt. Es ist unzureichend, weil es bei den För-derprogrammen keine belastbaren Finanzierungsper-spektiven gibt. Ich stehe unter dem Eindruck eines Ge-sprächs, das ich neulich mit dem Technologieberater ei-ner Kammer geführt habe. Zur gegenwärtigen Situationhat er gesagt: Wir haben viele Programme, aber keinGeld, jedenfalls kein verfügbares. – Das ist die Situation,in die wir gekommen sind. Wir haben eine ausdifferen-zierte Förderkulisse, die sich dann, wenn man nach denMitteln fragt, die jetzt verfügbar sind, als Attrappe er-weist. Das halte ich für ausgesprochen gefährlich.
Es ist des Weiteren unzureichend, weil die Herausfor-derung, die wir in Deutschland haben, nämlich eine ge-spaltene Forschungs- und Entwicklungslandschaft in Ostund West, nicht mit adäquaten Mitteln berücksichtigtwird; im Gegenteil. Frau Ministerin Bulmahn, wenn esum die staatlich finanzierte Forschungsinfrastrukturgeht, leisten Sie sich Dinge – ich denke nur an Ihre Atta-cken gegen die Leibniz-Gesellschaft –, die gerade für dieneuen Bundesländer und für den Aufbau der For-schungslandschaft dort hinderlich sind.Frau Ministerin Bulmahn – ich verbinde dies mit ei-nem Glückwunsch zum Geburtstag –, wenn Sie sagen,zu viel Bürokratie hemme die Innovationen, so kann ichnur fragen: Wie verhält sich diese Aussage beispiels-weise zu Ihren Plänen einer Ausbildungsplatzabgabe?Haben Sie sich jemals überlegt, was es für ein innovati-ves Unternehmen, das sich die Frage stellt, ob es einenHochschulabsolventen einstellt, um ein bestimmtes In-novationsprojekt voranzubringen, bedeutet, wenn es miteiner Zwangsabgabe beauflagt wird, weil es die staatlichvorgegebene Ausbildungsplatzquote nicht erfüllt? Siebauen damit ein beträchtliches zusätzliches Hemmnis
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Dr. Christoph Bergnergerade für die kleinen und mittelständischen innovativenUnternehmen auf.
Herr Kuhn sagt, grüne Ideen führten zu schwarzenZahlen. Ich möchte Ihnen deshalb nur die Frage stellen– Frau Pieper hat schon gesagt, dass wir in unseremBundesland Biotechnologieambitionen haben –, wie Sieeinem innovativen Unternehmen mit einer geringen Ei-genkapitalbasis die Haftungsrisiken und Rechtshürdenzumuten können, die Sie im Bereich der Gentechnikjetzt aufzubauen im Begriff sind.
Dies ist meines Erachtens für Unternehmen, die geradein der grünen Gentechnik ihr Bewährungsfeld suchen,eine Belastung, die im Grunde genommen den Todes-stoß am Anfang der Entwicklung bedeutet. Ich halte dasfür höchst fatal.
An der Vorlage wird noch eines deutlich, das über denKontext der unmittelbaren Innovationspolitik für denMittelstand hinausgeht und das sich auf mein engeresFachgebiet, die Forschungspolitik, bezieht. Wir stellenfest, dass es bei all diesen Forschungsprogrammen, dievon zwei bis drei Häusern entworfen werden, an einerGrundphilosophie, an einem Grundwissenschaftsver-ständnis mangelt, sodass man nicht in der Lage ist, zuwirklich stimmigen Vorgehensweisen – ich rede nichtvon der technischen Abstimmung von Förderprogram-men, bei der tatsächlich Fortschritte erreicht wordensind – zu kommen. Ich sehe die Ursache darin, dass dieBundesregierung einer Herausforderung nicht gewach-sen ist, die da lautet: Welches Selbstverständnis anunseren Hochschulen und außeruniversitären For-schungseinrichtungen erfordert die moderne Wissensge-sellschaft?Frau Ministerin Bulmahn, was Sie mit dem Vorstoß„Deutschland sucht die Superuniversität“ gemacht ha-ben, belegt für mich in besonderer Weise, dass Sie dieAntwort auf diese wissenschaftspolitische Herausforde-rung in einer schlichten und oberflächlichen Kopie ame-rikanischer Verhältnisse suchen.
Davor kann ich nur warnen. Sie, Frau Bulmahn, werdenfür diese Nummer doch aus Ihren eigenen Reihen kriti-siert. Sie werden berechtigterweise von Ihrem Koaliti-onspartner und von den Landesministern mit SPD-Par-teibuch, die sich um Wissenschaft zu kümmern haben,kritisiert. Wir müssen hier nicht über die Sache reden,aber daraus klingt schon ein völlig irriges Wissen-schaftsverständnis. Natürlich brauchen wir Wettbewerbin der Wissenschaft.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Gerne.
Dadurch bekommen Sie, wie Sie sehen, auch noch
Redezeit. Sie müssen aber Ihre Rede mit der Beantwor-
tung beenden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber nur Redezeit, die sich auf die Frage bezieht. –
Lieber Kollege Bergner, Ihrer Kritik an den Plänen der
Forschungsministerin möchte ich Folgendes entgegen-
halten: Würden Sie freundlicherweise zur Kenntnis neh-
men – ich weiß nicht, ob Sie dabei waren –, dass, als
Frau Ministerin Bulmahn ihr Konzept vorgetragen hat,
sich Vertreter sowohl der Hochschulrektorenkonferenz
als auch der Wissenschaftsorganisationen am Ende ihrer
Rede deutlich zu Wort gemeldet und gesagt haben, das
sei ein guter Weg und sie seien sehr daran interessiert,
über diesen Weg mit der Ministerin in Verhandlungen
einzutreten und das voranzubringen?
Herr Kollege Tauss, ich habe zur Kenntnis zu neh-men, dass sich die Kultusministerkonferenz mit denStimmen der SPD-Wissenschaftsminister kritisch zu die-sem Projekt geäußert hat. Ich habe zur Kenntnis zu neh-men, dass sich die Wissenschaftsorganisationen kritischzu diesem Projekt geäußert haben.
Und ich habe zur Kenntnis zu nehmen, dass inzwischenjeder seriöse Wissenschaftler, mit dem ich darüber ge-sprochen habe, dies für eine absolute Lachnummer hält.
Herr Kollege Tauss, lassen Sie mich dies noch sagen:Der Wettbewerb in der Wissenschaft, den wir beidewollen
– Sie können den Stenografischen Bericht mit meinerRede gerne Herrn Gaehtgens schicken; ich habe damitkeine Probleme –
– lassen Sie mich erst einmal meine Ausführungen zuEnde bringen –, findet nicht zwischen Universitäten,
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Dr. Christoph Bergnersondern zwischen Wissenschaftlern, Fachgebieten undInstituten statt. Das ergibt sich auch aus den vorliegen-den seriösen Voten.
Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass der Nobelpreisan Wissenschaftler und nicht an Universitäten verliehenwird? Das ist doch wohl ein Beleg dafür, dass wir Quali-tät der Wissenschaft nicht an einer Körperschaft festma-chen können.
Können wir jetzt einmal so lange Ruhe bewahren, bis
die Antwort beendet ist?
Ist Ihnen bewusst, dass Ihr Kollege Zöllner bei dieser
Gelegenheit völlig zu Recht gesagt hat, der Wettbewerb
muss an Fachbereichen und Instituten ansetzen und nicht
an einzelnen Hochschulen?
Das eigentliche Problem, Herr Kollege Tauss, ist,
dass keine Maßnahmen Ihrer sonstigen Hochschulpolitik
die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Hochschu-
len einen wirklich ernsthaften Wettbewerb um die Bes-
ten durchführen können: weder das Verbot der Habilita-
tion noch das Oktroi der Juniorprofessur.
– Ich beantworte noch Ihre Frage.
Das geht jetzt aber doch über die Beantwortung der
Frage hinaus. Ich bitte Sie jetzt, zum Schluss zu kom-
men.
Ich versuche, die Diskussion dadurch zusammenzu-
fassen, dass ich sage: Die Hochschulpolitik leidet an der
Situation, dass die Ministerin ihre Vorschläge so wie ein
Zirkuszauberer die Kaninchen aus dem Hut zieht. Dies
reicht nicht aus. Wir müssen in der Lage sein, zu einem
wirklichen Grundverständnis von Wissenschaft unter
den Voraussetzungen der Wissensgesellschaft zu kom-
men. Dies traue ich dieser Ministerin nach all den Erfah-
rungen, die ich bisher gemacht habe, nicht zu.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Hoffmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
zunächst einmal ganz sachlich Herrn Dr. Bergner korri-
gieren, der gesagt hat, dass bei der Kanzlerrunde kein
Vertreter des Mittelstandes anwesend gewesen sei. Das
ist in der Tat nicht so. Es waren Vertreter des Mittelstan-
des anwesend und haben ihre Interessenlagen in das Ge-
spräch eingebracht.
– Herr Staatssekretär Staffelt hat mir das gerade bestä-
tigt.
Darf ich darauf hinweisen, dass wir eigentlich nicht
gewohnt sind, dass von der Regierungsbank aus in die
Debatte eingegriffen wird.
Aber es dürfen natürlich auch keine Fragen zur Regie-
rungsbank hinübergegeben werden.
Ich wollte diesen Punkt nur einmal klarstellen, denneine solche Aussage ist symptomatisch für die Diskus-sion insgesamt.Herr Schauerte hat am Anfang seines Beitrags – dawar er noch gut – ein paar Sätze gesagt, die ich sehrwohl unterstreiche. Er sagte, die Unternehmer würdenentscheiden und nicht vorrangig die staatliche Wirt-schaftspolitik. Ich glaube, es gibt niemand in diesemRaum, der dem widerspricht. Nur, Herr Schauerte, Siewissen genauso gut wie ich, dass Unternehmer nicht imluftleeren Raum entscheiden. Sie gründen ihre Entschei-dungen auf ein bestimmtes Fundament und treffen sie in-nerhalb bestimmter Rahmenbedingungen, die auch wirheute hier diskutieren. Ein Fundament ist allerdings äu-ßerst problematisch, Herr Schauerte; deswegen habe ichvorhin das Beispiel mit der Teilnahme an der Kanzler-runde gebracht. Wir haben in diesem Land eine Oppo-sition, die seit vielen Monaten und Jahren eine Negativ-stimmung erzeugt, die im Grunde keinerlei Motivationbeim Mittelstand aufkommen lässt und die ohnehinschwierige Ausgangssituation verschlimmert.Wenn ich einen Wunsch äußern darf: Kritisieren Siein der Sache klar und deutlich – das bemängele ichnicht –,
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Walter Hoffmann
aber versuchen Sie, die Stimmung des Mittelstandes ge-meinsam mit uns möglichst zu verbessern, und zwardurch konkrete Maßnahmen, die das Fundament für eineVerbesserung der realen wirtschaftlichen Situation le-gen.
Ich denke, das machen Sie nicht. Lassen Sie mich dasan einem konkreten Beispiel verdeutlichen. In vielenBeiträgen, auch in Ihrem, ist von der Bürokratiebelas-tung des Mittelstandes gesprochen worden. Das ist rich-tig. Kleine und mittlere Betriebe klagen über zu viel Bü-rokratie. Wenn wir ehrlich sind, hat sich die Lage imPrinzip nicht wesentlich gebessert. Aber es gehört eben-falls zur Wahrheit – wir können das im Jahreswirt-schaftsbericht auf Seite 47 ausführlich nachlesen –, dasssich keine Regierung dieses Themas so systematisch undstrukturiert angenommen hat wie diese Regierung.
Sie wissen alle, dass wir uns am Anfang des Jahres2003 im Bereich Bürokratieabbau fünf Schwerpunktevorgenommen haben. Wir haben eine Fülle von Einzel-maßnahmen aufgelistet, mit denen wir konkret etwas än-dern wollen. Insgesamt sind es 50 Projekte, weitere wer-den im Jahr 2004 folgen. Wir befinden uns im Momentin einer Phase, in der diese einzelnen Maßnahmen umge-setzt werden. Ich will Sie mit der Aufzählung nicht lang-weilen, Sie können sie auf Seite 47 nachlesen: Es gehtum die Vereinfachung und Reduzierung von statistischenBelastungen, um die Reform der Handwerksordnung,um die Verschlankung des Vergaberechts, um Änderun-gen in der Arbeitsstättenverordnung und viele andereDinge mehr. Wir gehen das Thema Bürokratieabbau sys-tematisch an. Das ist schwierig und problematisch ge-nug. Wir wissen auch nicht, ob wir letztlich erfolgreichsein werden; das ist nicht der Punkt. Aber das Ziel istklar, der Weg ist klar, die einzelnen Schritte sind klar,weitere Punkte folgen. Das wird sich auch für kleine undmittlere Unternehmen positiv auswirken.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen; derKollege Kuhn hat mir hier im wahrsten Sinne des Wortesaus dem Bauch gesprochen.
Immer dann, wenn wir konkret werden und versuchen,reale Erleichterungen für den Mittelstand hinzubekom-men, blockieren Sie. Mir fällt unsere Diskussion imHerbst letzten Jahres ein, als es um die Verbesserung derBedingungen für Existenzgründer ging, als wir über Än-derungen der Handwerksordnung, über die Befreiung derExistenzgründer von Kammerbeiträgen in den ersten vierJahren und über die Erleichterung bei befristeten Arbeits-verträgen diskutiert haben. Das waren keine leichten Dis-kussionen für uns. Da standen Sie ständig auf der Seitederjenigen, die konsequent blockierten und knallharteLobbyisten- und Interessenpolitik betrieben haben.
Gehen Sie also in sich und versuchen Sie, ein bisschenmehr Bescheidenheit zu praktizieren! Seien Sie an unse-rer Seite, wenn wir konkrete Vorschläge machen!Wir haben im Rahmen der Agenda 2010 eine Füllevon Maßnahmen auf den Weg gebracht, die die Belas-tungen des Mittelstandes in der Tat vermindern. Wir be-finden uns jetzt in der Phase der Umsetzung. Wir könnennicht schon nach knapp zweieinhalb Monaten eine Be-standsaufnahme machen. Wir werden sehen, wie sich dieeinzelnen Maßnahmen auswirken. Diese sollen – nichtnur, aber auch – ganz entscheidend die Belastungen desMittelstandes verringern und vor allen Dingen bürokrati-sche Hürden beseitigen.Wir haben die Steuern auf das niedrigste Niveau inder Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ge-senkt. Gerade für den Mittelstand ist die Anrechnung derGewerbesteuer auf die Einkommensteuer ein ganzwichtiger Punkt.
– Das ist ein Volumen von über 10 Milliarden Euro. –Darauf sind wir stolz. Wenn man die Mittelständler di-rekt darauf anspricht, sagen sie deutlich, wie wichtig dasist. Ich denke, das ist eine gute Sache.
An dieser Stelle fällt mir eine Diskussion aus demletzten Jahr kurz vor Beginn des Vermittlungsverfahrensein. Da ging es um die Frage der weiteren Behandlungder Gewerbesteuer und der Umwandlung der Gewerbe-steuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer. Rot-Grünhat die Position vertreten, dass wir eine verbreiterte Be-messungsgrundlage brauchen, damit die Kommunen fi-nanziell in die Lage versetzt werden, entsprechende In-vestitionen zu tätigen. Wir haben dieses Ziel im Rahmendes Vermittlungsverfahrens aber nicht erreicht. DieKommunen waren über dieses Ergebnis nicht erfreut,sondern unzufrieden. Sie sagen, dass es ihnen im Grundegenommen nichts bringt. Daher muss man feststellen,dass Ihre Blockadestrategie gerade bei der Gemeinde-wirtschaftsteuer eine Strategie gegen den Mittelstand ist;denn es ist der Mittelstand, der in erster Linie von kom-munalen Investitionen profitiert. Auch hier gilt: Als eskonkret wurde, standen Sie nicht an unserer Seite undhaben nicht mitgemacht. Denken Sie einmal darübernach! So kommen wir insgesamt nicht weiter.Wir haben im Rahmen der Agenda 2010 eine Reihevon strukturellen Reformen auf dem Arbeitsmarkt durch-geführt. Ich möchte an die Begrenzung der Bezugsdauerdes Arbeitslosengeldes erinnern. Wir haben beim Kündi-gungsschutz einige Punkte verändert, um gerade Exis-tenzgründern sowie kleinen und mittleren Betrieben dieMöglichkeit zu geben, auf unkomplizierte Weise Be-schäftigte einzustellen. Wir haben bei der Bundesagenturim Rahmen der Umstrukturierung den Schwerpunkt aufVermittlung gelegt. Wir haben das deswegen getan, weilkleine Betriebe in der Regel keine großen Personalabtei-lungen haben, um Personal zu rekrutieren. Sie sollen – ichhoffe, dass das gut funktioniert – auf die Dienstleistung
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Walter Hoffmann
der Bundesagentur zurückgreifen können. Das wird dieseBetriebe entlasten.Wir haben nach schwierigen Diskussionen – wir be-finden uns eigentlich noch mittendrin – durch die Ge-sundheitsreform und durch die Rentenreform dafür ge-sorgt, dass die Beiträge nicht weiter steigen. Wir sindoptimistisch, dass es uns kurz- und mittelfristig gelingt,dass ein Teil der Krankenkassen ihre Beiträge senkt.Alle diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass sich dieRahmenbedingungen für die kleinen und mittleren Be-triebe verbessert haben.Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern,dass wir in den letzten Monaten im Bereich der Mittel-standsbank eine Reihe von Förderinstrumenten verein-facht haben; denn wir konnten von den kleinen und mitt-leren Betrieben immer wieder hören – ich komme aufdas Thema Bürokratieabbau zurück –, das Verfahren seiinsgesamt zu aufwendig, es dauere zu lange und sei zukompliziert. Auch deshalb haben wir eine Mittelstands-bank und vereinfachte Förderinstrumente geschaffen,von denen ein Teil zum 1. April dieses Jahres in Krafttreten wird. Ich denke, das wird dem Mittelstand weiter-helfen.Die stärkere Ausrichtung der Forschungsförderungdes BMBF auf die kleinen und mittleren Betriebe ist hierschon erwähnt worden. Ich brauche das nicht zu wieder-holen.Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der imMoment von großer Bedeutung ist. Es geht um das Zu-wanderungsgesetz. Wir kommen jetzt in eine ganz ent-scheidende Phase. Im Hightech-Masterplan wird derSchwerpunkt darauf gelegt, Arbeitskräfte im Bereich derHochqualifizierten, aber auch im Niedriglohnbereichdauerhaft zu rekrutieren. Diese Arbeitskräfte sollen auchden Klein- und Mittelbetrieben zugute kommen.Ich fordere die Opposition auf, gerade in dieser kriti-schen Phase mit uns zu einer Einigung zu kommen.Denn wir brauchen diese Arbeitskräfte in unserem Landsowohl im Hochtechnologiebereich als auch im Niedri-glohnbereich kurz-, mittel- und langfristig. Denn es ist– aus welchen Gründen auch immer; darüber diskutierenwir jetzt nicht – im Moment nicht möglich, bestimmteArbeitsplätze in diesen Sektoren zu besetzen. Deswegenhaben wir ein Interesse an vernünftigen Regelungen imBereich der Zuwanderung, um den gerade bei Klein- undMittelbetrieben in diesen Sektoren bestehenden Arbeits-kräftebedarf zu decken.In diesem Sinne glaube ich, dass der Hightech-Mas-terplan ein Schritt nach vorne ist. Er soll den kleinenund mittleren Unternehmen höhere Investitionen in For-schung und Entwicklung sowie in innovative Produkteermöglichen. Er soll die Chance, sich gerade in High-tech-Bereichen selbstständig zu machen, vergrößern, dieZugänge zu den Ergebnissen öffentlicher Forschung er-leichtern und – ich sagte es bereits – genügend gut aus-gebildete Fachkräfte in unserem Land dazu motivieren,tätig zu werden.Diesen Plan muss man mit Fleisch füllen. Es ist klar:Das sind zum Teil Absichtserklärungen. Daran führtüberhaupt kein Weg vorbei. Es gibt, wie ich finde, drei,vier gute und neue Akzente in diesem Sektor. Sie solltensich dem nicht versagen. Es ist klar, dass Innovationenein Nährboden sind. Was heute in den Forschungs- undEntwicklungslabors erdacht und zu marktreifen Produk-ten geformt wird, ist die Keimzelle für Jobs von morgen.In diesem Sinne ist der Hightech-Masterplan einSchritt in die richtige Richtung. Wir sollten daran arbei-ten, ihn jetzt mit Fleisch zu füllen und konkret umzuset-zen.
Zu einer sachlichen Richtigstellung bezogen auf die
Rede des Vorredners – aber bitte wirklich nur darauf be-
zogen – erteile ich dem Abgeordneten Bergner das Wort.
Herr Kollege Hoffmann, Sie haben mir unter Bezug
auf einen Nebensatz, in dem ich erwähnt habe, dass kein
Mittelständler beim Innovationsgespräch im Bundes-
kanzleramt anwesend war, eine unredliche Behauptung
unterstellt, was nicht der Tatsache entspricht. Ich habe
zufällig die Teilnehmerliste des Innovationsgespräches
im Kanzleramt am 16. Januar 2004, die im Internet ver-
öffentlicht wurde, vorliegen. Im Sinne der Richtigstel-
lung würde ich diese Liste gern einfach einmal vorlesen
und Ihnen jeweils kurz die Frage stellen, ob Sie den je-
weiligen Betreffenden für einen Mittelständler halten.
Das geht jetzt wirklich zu weit.
Frau Präsidentin, dann muss ich aber Wert auf dieFeststellung legen, dass ich auf der amtlichen Liste desBundeskanzleramtes keinen einzigen Mittelständler ge-funden habe. Um den Zuruf von Herrn Staffelt von vor-hin aufzugreifen: Es war auch niemand aus Bielefeld an-wesend.Ich will nur sagen: Mir wurde eine unredliche Dar-stellung – es geht nur um einen Nebensatz – unterstellt.Ich muss diesen Vorwurf schärfstens zurückweisen.
Denn er ist – das sieht man, wenn man die offizielleListe des Bundeskanzleramtes nachliest – völlig unzu-treffend. Auf dieser Liste ist kein einziger Mittelständlerausgewiesen.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8361
(C)
Dr. Christoph Bergner
Von der SPD kommt noch ein weiterer Redebeitrag,
sodass sie dazu Stellung nehmen kann.
Jetzt hat erst die Abgeordnete Gesine Lötzsch das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der
PDS. – Hightech-Masterplan klingt bombastisch. Aber
dahinter steckt nicht etwas wirklich Neues. Nach leider
altem Muster werden in Ihrem Masterplan, Frau
Bulmahn, alle Maßnahmen aufgelistet, die sich irgend-
wie mit Technologie und Mittelstand in Verbindung
bringen lassen. Das ist kein Plan, sondern leider nur ein
Sammelsurium von Förderinstrumenten.
Ich habe mir übrigens alle Artikel, die seit dem Be-
schluss im Kabinett zu diesem Masterplan erschienen
sind, herausgesucht und sie gezählt: Es waren genau
zwei Stück. Offensichtlich interessieren sich weder die
Presse noch andere allzu sehr für Ihren Masterplan. Eine
Umfrage des „Handelsblatts“ unter Managern zeigt, dass
dieser Masterplan nicht als Priorität angesehen wird.
Was sind die Gründe dafür, dass sich die Begeisterung
in Grenzen hält? Nehmen wir zum Beispiel Ostdeutsch-
land. Hier gibt es ein überdurchschnittliches Wachstum
bei der Herstellung von Gütern der Spitzentechnologie.
Das ist erfreulich und sollte eigentlich gefördert werden.
Ein Grund für die erfolgreiche Zusammenarbeit von
wissenschaftlichen Einrichtungen sowie kleinen und
mittleren Unternehmen liegt in dieser außergewöhnlichen
Kooperation. Das sollte die Bundesregierung eigentlich
befördern. Doch was tut die Wissenschaftsministerin
Frau Bulmahn? Sie fordert lauthals die Auflösung der
Leibniz-Gemeinschaft. Doch gerade die Institute der
Leibniz-Gemeinschaft betreiben anwendungsorientierte
Wissenschaft und pflegen einen engen Kontakt zu for-
schungsintensiven Unternehmen.
Seit 1992 haben sich aus der Leibniz-Gemeinschaft
fast 80 Unternehmen ausgegründet, davon mehr als die
Hälfte in Ostdeutschland und Berlin. Frau Bulmahn
möchte diese Gesellschaft trotzdem auflösen.
– Das ist ein Skandal, Herr Dr. Bergner, da sind wir uns
völlig einig.
Ich befürchte, dass es auch Teil eines Masterplans
sein könnte, diese Institute der Leibniz-Gemeinschaft
zum x-ten Mal zu evaluieren, neu zu strukturieren und
letztendlich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
ler von ihrer Arbeit abzuhalten.
Wir von der PDS stellen uns einen Masterplan anders
vor. Für einen solchen Plan brauchen wir vor allen Din-
gen eine tragfähige Idee. Diese vermisse ich in dem vor-
gelegten Hightech-Masterplan. Was soll zum Beispiel
die vereinzelte Förderung von Schlüsseltechnologien?
Jedes Jahr ist eine andere Schlüsseltechnologie in Mode.
Alle freuen sich und strahlen, dass sie das neue Wort
aussprechen können. Aber haben nicht der Transrapid-
und der Maut-Skandal gezeigt, dass häufig nicht die
Schlüsseltechnologien das Problem sind, sondern deren
Einführung und Vernetzung? Wäre das nicht eine sinn-
volle Kernidee eines Masterplans?
Natürlich sprechen alle, die sich hier zur Wissen-
schaftspolitik äußern, häufig mit Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern, um sich über die Auswirkungen
der Politik der Bundesregierung zu informieren. Ich
kann ein Beispiel nennen. Wir haben letztens über die
Raumfahrtforschung gesprochen; daran will ich an-
knüpfen. Ich habe mich mit Menschen, die in der Raum-
fahrtforschung tätig sind, unterhalten, und mir wurde
von einem Professor gesagt, dass er sehr wohl industrie-
verwertbare Ergebnisse erzielt, dass aber bisher nur aus-
ländische Firmen Interesse an seinen Ergebnissen ge-
zeigt haben.
Was tut die Bundesregierung? Was tut das Wirt-
schaftsministerium? Was tut Herr Clement oder der Ko-
ordinator für die Raumfahrttechnik – er hat sich hier sel-
ber vorgestellt –, damit die Industrie auf Forscher und
Wissenschaft zugeht, um Ergebnisse der Forschung um-
zusetzen?
Es ist doch wirklich realitätsfremd, zu glauben, dass
jeder Wissenschaftler das Ziel hat, sich mit einer eigenen
Firma selbstständig zu machen. Das kann nicht unbe-
dingt das Ziel jeder wissenschaftlichen Grundlagenfor-
schung sein. Auch der Ostdeutsche Bankenverband be-
stätigt, dass es sich bei solchen Spin-off-Gründungen,
die sich erfolgreich am Markt etablieren können, in den
seltensten Fällen um Gründungen von jungen Hoch-
schulabsolventen handelt.
Zusammenfassend darf ich Ihnen sagen: Das, was Sie
vorgelegt haben, ist kein Hightech-Masterplan und es ist
auch nicht der große Wurf im Jahr der Innovationen. Es
ist wie so viele Ihrer Pläne und Reformen wieder einmal
nur Stückwerk. Es hat sich wieder einmal gezeigt: Ein
paar englische Brocken machen noch keinen guten Plan.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Carola Reimannvon der SPD.
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8362 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Mit dem Hightech-Masterplan hatdie Bundesregierung ein Maßnahmenpaket vorgelegt,um kleine und mittlere Unternehmen im Hochtechnolo-giesektor stärker als bisher zu fördern. Wir brauchenmehr Innovationen, auch mehr Basisinnovationen, die infundamentaler Art und Weise die Produktionsprozesseverändern, wie zum Beispiel im Bereich der Erfindungdes Computers oder der neuen Medien.Voraussetzung für solche Neuerungen sind Men-schen, die das Wagnis eingehen, neue Ideen zu realisie-ren. Deswegen brauchen wir ein innovatives Unterneh-mertum. Dass die Ausgaben für Forschung undEntwicklung im Mittelstand sinken – das wurde heuteMorgen immer wieder beklagt –, ist doch kein Argumentgegen einen Hightech-Masterplan, sondern das beste Ar-gument dafür.
Deutschland verfügt über gut ausgebildete Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler und Ingenieurinnenund Ingenieure. Wir haben ein breites Know-how. RedenSie doch nicht immer unsere Leute schlecht! HerrDr. Bergner, ich war entsetzt, als Sie sagten, keine ernst-haften Wissenschaftler hätten dem Wettbewerb derHochschulen in irgendeiner Weise etwas abgewinnenkönnen. Sie können doch nicht wirklich behaupten, dassdie Professoren Gruss, Gaehtgens, Einhäupl keine ernst-haften Wissenschaftler seien. Ich kann mir nicht vorstel-len, dass Sie das sagen wollten.
Wir haben ein enormes Know-how, dies muss künftigseinen Weg stärker in die Wirtschaft finden; auch ichsehe das so. Dazu brauchen wir eine intensivere Koope-ration zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Das gehtnatürlich am besten, wenn Wissenschaftler und Ingeni-eure den Weg in die Wirtschaft suchen und als Unterneh-mer neue Ideen umsetzen.Aber klar ist auch – darauf hat mein Vorredner hinge-wiesen –: Ohne Kapital bleiben die beste Idee und imÜbrigen auch das beste Patent schöne Theorie. Denn– Herr Schauerte ist leider nicht mehr da – ein Patent istnur der erste Schritt. Es geht aber nicht nur um Patente,sondern auch um Produkte.
In der letzten Zeit wird in diesem Bereich wenigerWagniskapital investiert; denn Erfolg in Forschung undEntwicklung ist nur schwer zu kalkulieren. Das wissenwir. Angewandte Forschung ist ein Experiment mit offe-nem Ausgang. Deshalb haben wir weniger Wagniskapi-tal für entwicklungsintensive Unternehmen. DitmarStaffelt hat auf die Finanzierung im Early-Stage-Bereichhingewiesen. Es werden keine neuen Venture-Capital-Fonds mehr aufgelegt. Gerade in den frühen, for-schungs- und entwicklungsintensiven Phasen steht denUnternehmen derzeit wenig Kapital zur Verfügung. Daswill der Hightech-Masterplan jetzt mit dem Dachfondsein Stück weit auffangen.Nach der Gründungsphase ist Kapital genauso not-wendig. Junge Hightech-Unternehmen werden durch dasBMBF in vielen Fällen sehr gut gefördert. Ein Stichwortist das Programm Biochance, das nach dem Hightech-Masterplan jetzt mit Biochance plus und Nanochance– es war angesprochen, was wir in der Nanotechnologiemachen – fortgesetzt wird. Aber nach der Gründungs-phase fehlt es oft an Kapital. Wer mit kleinen und mittel-ständischen Unternehmen spricht, der kennt das Pro-blem. Das Ganze wird gar nicht an die Bundesregierungadressiert, sondern an die Banken. Die Unternehmen tunsich schwer, Kredite zu bekommen. Das gilt umso mehrfür die forschungsintensiven Unternehmensgründungen.Wir brauchen in der deutschen Wirtschaft mehr inno-vatives Unternehmertum; denn Unternehmer müssen fürVisionen und für den Mut, Neues zu probieren, stehen.Die Kehrseite jedes Muts ist ein unternehmerisches Ri-siko. Wir brauchen mehr Risikofreude als in der Gegen-wart. Wir brauchen deshalb ein Klima der Bereitschaft,neue und unkonventionelle Ideen zu unterstützen. Auchdas gehört zu einer neuen Innovationskultur.
Meine Damen und Herren, die Politik ist gefordert,die finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen fürinnovative Unternehmen zu verbessern. Genau daraufzielt der Hightech-Masterplan ab. Der Dachfonds istschon vorgestellt worden; da will ich mich nicht wieder-holen. Auch Seed-Fonds sind dort angedacht.Lassen Sie mich noch ein paar Worte zur Kritik sagen.Da kommt immer die Aussage, ein Masterplan alleinenütze nichts; es müssten noch weiter gehende sozial- undsteuerpolitische Reformen her. Liebe Opposition, dieseArgumentation folgt dem Muster vom Fischer und seinerFrau. Jede von uns durchgeführte Reform wird mit demRuf nach noch mehr, noch weiter gehenden Reformen be-antwortet. Kernproblem dieses Kritikpunktes ist jedoch,dass hier wirtschaftspolitische Belange mit sozialpoliti-schen verwechselt werden. Wer aber sozialpolitische Be-lange als das Grundproblem einer technologieintensivenWirtschaft versteht, der hat den Kernbereich dieses Wirt-schaftszweiges nicht begriffen.
Die Bundesregierung setzt deshalb den Hebel an derrichtigen Stelle an: Das Kapitalanlageverhalten soll imSinne der Hightech-Unternehmen verbessert werden.All denen, die dennoch glauben, wirklich jedesThema zu einem allgemein politischen Schlachtfeld ma-chen zu müssen, wie wir es heute Morgen erlebt haben,will ich ein Beispiel aus meiner Heimatstadt Braun-schweig nennen. Da gibt es die KooperationsinitiativeMaschinenbau in der Region Braunschweig. Sie zeigt,wie man mit ganz unterschiedlichen Partnern erfolgreichInnovation organisieren kann. Was dabei herauskommt,
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8363
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Dr. Carola Reimannpasst gar nicht zu all den lieb gewonnenen Vorurteilenvon gewerkschaftlichen Betonköpfen und dirigistischenGenossen – Vorurteile, die gepflegt werden.Die Kooperationsinitiative Maschinenbau umfasst inBraunschweig zwölf Unternehmen und ist ein Resultataus dem Dialog zwischen Arbeitgeberverbänden und IGMetall. Was haben sie gemacht? – Ausgangspunkt derKooperation war ein neuartiger Tarifvertrag zur Arbeit-nehmerüberlassung. Dadurch können Fachkräfte zwi-schen den Kooperationspartnern ausgeliehen werden.Das alles ist bekannt. Mittlerweile arbeiten die Firmen-chefs und ihre Mitarbeiter in Arbeitsgruppen gemeinsammit der Technischen Universität vor Ort an der Entwick-lung von Möglichkeiten der Prozess- und Produktinno-vation, die dann allen Kooperationspartnern zugutekommen. Das ist die Vernetzung von Wirtschaft undForschung sowie von Wirtschaft und Hochschulen, diewir wollen.
Herr Schauerte hat den konkreten Bezug auf dieWirklichkeit angemahnt. Das ist ein solches konkretesBeispiel aus der Wirklichkeit, an dem man zeigen kann,was alles möglich ist, wenn man bereit ist, ausgetretenePfade zu verlassen. Diese Bereitschaft wollen wir mitdem Hightech-Masterplan stärker unterstützen, als das inder Vergangenheit geschehen ist.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke schön. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2551 und 15/2594 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie einverstanden? – Das scheint der Fall zu sein.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Peter Paziorek, Marie-Luise Dött, Dr. Klaus
W. Lippold , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Nationale Umsetzung des Emissionshandels
– Drucksachen 15/1282, 15/2390 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek,
der CDU/CSU
Nationalen Allokationsplan als Parlamentsge-
setz gestalten
– Drucksachen 15/1791, 15/2533 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Kelber
Marie-Luise Dött
Dr. Reinhard Loske
Birgit Homburger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Klaus Lippold.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehrfroh, dass wir uns in diesem Hause erneut dem ThemaKlimaschutz widmen; denn Klimaschutz ist eine zentraleProblematik. Unbeschadet des Sachverhalts, dass vonvielen Seiten Einwendungen erhoben werden, ob Klima-schutz wirklich notwendig sei, da das Problem nicht wis-senschaftlich begründet sei, vertrete ich nach wie vor dieAuffassung, dass wir – ebenso wie die überwiegendeMehrheit der Wissenschaftler – begründet sagen können:Klimavorsorge ist absolut notwendig.
Dafür brauchen wir neue Instrumente und sicherlichauch Zertifikate und den Zertifikatehandel.
Aber genauso dringend notwendig ist es, den Zertifika-tehandel unbürokratisch zu organisieren und ihn so zugestalten, dass die Bundesrepublik Deutschland nichtihre Wettbewerbsfähigkeit und damit auch Arbeitsplätzeverliert. Es kann nicht angehen, dass wir Regelungenschaffen, die dazu beitragen, die Beschäftigungssiche-rung in der Bundesrepublik Deutschland noch weiter zuerschweren.
Meine Damen und Herren, da ich sehe, wie die Be-handlung dieser Thematik erfolgt – dass wir auf der einenSeite über das Treibhausgasemissionsgesetz beraten,dass aber auf der anderen Seite der Nationale Allokati-onsplan, in dem die wesentlichen Inhalte für Treibhaus-gasemissionszertifizierungen geregelt werden, nochnicht vorliegt –, sage ich ganz deutlich: Das ist ein Skan-dal.
Herr Trittin, in der vorausgegangenen Anhörung istdeutlich geworden, dass die Methode, das eine Thema zubehandeln, ohne die Inhalte des anderen zu kennen, un-sinnig ist.
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8364 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004
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Dr. Klaus W. Lippold
Nun kennen wir Ihre Vorstellungen, Herr Trittin. Dennwir finden Ihre Papiere in der Straßenbahn und könnendeshalb auf sie Bezug nehmen.
Aber, Kollege Kuhn, das ersetzt nicht ihre sorgfältigeBehandlung und Beratung im Deutschen Bundestag.
Das, was sich hier abzeichnet, ist ein weiterer Skan-dal: dass Sie das TEHG und den Nationalen Allokations-plan in Brüssel behandeln lassen wollen, ohne dass dieZustimmung des deutschen Parlaments zum NationalenAllokationsplan vorliegt. Dies unter dem Aspekt desParlamentsvorbehalts in Brüssel behandeln zu lassen,ohne uns aber sagen zu können, wie die Behandlung die-ses Themas auf europäischer Ebene fortgesetzt wird, istskandalös, Herr Trittin.Das Ganze liegt daran – auch das muss man sehen –,dass Sie sich nicht rechtzeitig darum gekümmert haben,die Dinge so auf den Weg zu bringen, dass sie parallelzueinander beraten und behandelt werden können. Statt-dessen leisten Sie sich im Parlament die üblichen Klein-kriege – diesmal wiederum mit dem Bundeswirtschafts-minister –, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Ganzim Gegenteil: In der letzten Runde, aus der weißerRauch aufsteigen sollte, wurde deutlich, was bei Ihnenimmer wieder deutlich wird: erneut vertagt, keine Ent-scheidung. Noch kürzlich hat der Kanzler in altbewähr-ter Manier gesagt, er werde nicht eingreifen, er werdezusehen, Sie sollten sich einigen. Aber die Zeit ver-streicht, Sie lassen diese Zeit ohne Einigung verstrei-chen. Das kann es nicht sein!Dazu leisten Sie sich – aus meiner Sicht – weitereSkandale: Da gibt es in einer Gremiensitzung mit Wirt-schaftsvertretern zum einen den Vertreter des Umwelt-ministeriums und zum anderen den Vertreter des Wirt-schaftsministeriums, vom Rang her Staatssekretäre. Nunerfährt der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium erstwährend der Sitzung, dass Sie einen Nationalen Alloka-tionsplan vorgelegt haben, und verlässt aus Protest ge-gen Ihre Vorgehensweise die Sitzung. Es ist insgesamtein nicht adäquates Verhalten der Regierung, sich solcheStreitigkeiten in Gegenwart von Wirtschaftsvertretern zuliefern. So etwas haben Sie gefälligst vorher abzuklärenund nicht in Gremiensitzungen vorzutragen!
– Sie wissen doch: Sie liefern mehr als genug Stoff. Inder mir zur Verfügung stehenden Zeit kann ich gar nichtalle Ihre Schwächen ansprechen.Was wir im Zusammenhang mit dieser Gesetzgebungauch nicht wollen, ist, dass Sie unter dem Deckmanteldes Klimaschutzes Lenkungspolitik betreiben.
Hier ist ganz klar: Die Vorschriften, die Sie vorlegen,führen dazu, dass Kohlekraftwerke in Zukunft aus demProzess herausgeworfen werden; denn Sie zwingen siein ein Benchmarking hinein, das nicht auf diese abge-stellt ist. Ich kenne natürlich die hervorragenden Streiteraus Nordrhein-Westfalen, die alle gesagt haben: Daskann so nicht sein. – Ich bin einmal gespannt, was vondiesem Streit übrig bleibt. Es wird so sein wie immer,nämlich dass man für NRW zwar heldenhaft in dieSchlacht zieht, aber genauso heldenhaft unterliegt. Die-sen Prozess – das sage ich ganz deutlich – werden wirnicht nur jetzt beobachten, sondern das ganze Jahr über.Es kann nicht angehen, dass Lenkungspolitik gemachtwird zulasten des Energiemixes sowie von Beschäfti-gung und Beschäftigungssicherung.
Sie glauben, Sie könnten Ihre erfolglose Beschäftigungs-politik unter der Hand noch weiter verschärfen, indemSie über andere Instrumente dazu beitragen, dass nochweniger Arbeitsplätze geschaffen werden. Zumindestwir werden das nicht mitmachen.Wie ich die Situation in NRW kenne, wird sowohl Ihrdortiger Premier umfallen als auch Ihr dortiger Partei-vorsitzender Schartau, der noch einmal vollmundig an-gekündigt hat, das werde alles geändert werden, daswerde so nicht durchgehen. Ich bin einmal gespannt, wiesich diese Helden verhalten, wenn es zum Schwurkommt. Wir jedenfalls werden den Nordrhein-Westfalenganz deutlich sagen, wie sie sich verhalten haben – daslassen wir nicht unter den Teppich kehren, mit uns läuftdas nicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, für mich istwichtig, dass wir die europäische Einbindung beachten.Im Rahmen der europäischen Einbindung ist es für michgenauso wichtig, dass wir für unsere Unternehmen dieFlexibilität erhalten, die andere Länder – ich kann dasderen Anstrengungen entnehmen – ihren Unternehmenerhalten wollen. Das heißt, man muss einen Berech-nungsfaktor vorgeben, der den Unternehmen die Mög-lichkeit lässt, mit wachsender Wirtschaft weiter zuwachsen, und für Existenzgründungen Emissionsberech-tigungen vorhält, damit sie bezüglich des internationalenWettbewerbs nicht geschädigt werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fell?
Ja, gerne.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8365
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Herr Kollege Dr. Lippold, wir hatten gerade eine De-
batte über den Innovationsstandort Deutschland. Ihr
Kollege Schauerte hat die Kohlesubventionen ganz hef-
tig als innovationsfeindlich kritisiert. Sie haben gerade
die Kohle als wichtigen Standortfaktor bezeichnet. Ich
frage mich: Was ist denn eigentlich die Position Ihrer
Fraktion?
Das kann ich Ihnen ganz eindeutig sagen: Wir sind für
einen Mix. Innerhalb dieses Mixes sind wir dafür, dass
wir die Kohlesubventionen zurückfahren, aber nicht
vollständig outphasen, weil wir im Gegensatz zu Ihnen
– darauf komme ich noch – auch noch die Verbindung
zur Bergwerkstechnologie herstellen.
Wir wollen Ihre kleinkarierte deutsche Betrachtungs-
weise beseitigen. Was wir international, weltweit brau-
chen – stehen bleiben, Herr Fell! –, sind neue Kraft-
werkstechnologien, die wesentlich effizienter sind als
das, was wir derzeit haben. Das berücksichtigen Sie
nicht.
Das ist aber ein Kernpunkt; denn international können
Sie – das sagen Ihnen alle Experten – allein mit Wind-
kraft nichts machen. Das heißt, wir haben eine in sich
stimmige Position nicht nur unter Innovationsaspekten,
sondern auch unter dem Aspekt des internationalen Kli-
maschutzes.
Ich will Ihnen eines sagen: Wenn Sie die Lausitz
schlussendlich deindustrialisieren wollen, werden wir
deutlich machen, dass das nicht der Weg ist, den wir mit-
gehen.
Sie haben sich bislang dadurch ausgezeichnet, wesentlich
dazu beigetragen zu haben, dass die Konjunktur, das
Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland zurückge-
hen. Wir werden dafür sorgen, dass es in Zukunft wieder
zu einer Wachstumspolitik kommt. Wir werden uns jetzt
von Ihnen keine Rahmenbedingungen aufoktroyieren las-
sen, die eine solche Wachstumspolitik nicht mehr mög-
lich machen. Das kann es beim besten Willen nicht sein.
Herr Kollege, lassen Sie mich kurz etwas sagen. –
Herr Kollege Fell, es ist üblich, dass man stehen bleibt,
wenn man eine Antwort bekommt. Die Antwort war
jetzt zu Ende, wenn ich das richtig gesehen habe.
Es gibt einen weiteren Punkt, der mir aufgefallen ist.Sie haben offen gelassen, nach welchen Kriterien dieZuteilungsrechte bei einigen Töpfen gestaltet werdensollen. Vorsichtshalber haben Sie aber – wenn ich dasrichtig erkannt habe – vorgesehen: Wenn diese Töpfe– wir sehen die Problematik anders – nicht vollständigausgeschöpft werden, dann sollen Zuteilungsrechte anden Bundesfinanzminister zurückfallen. Das heißt, Siesehen bereits im Vorhinein vor, all diese Zuteilungs-rechte der Wirtschaft, die sie wirklich dringend braucht,zukommen zu lassen. Sie denken gar nicht daran, das zutun. Vielmehr wollen Sie in Ihren ohnehin hochdefizitä-ren Haushalt jetzt auf diese Art und Weise Finanzreser-ven hineinschmuggeln. Das kann es doch beim bestenWillen nicht sein. Herr Eichel soll seinen Haushalt gefäl-ligst in Ordnung bringen; er soll den Haushalt aber nichtauf diesem Wege – über die Kriterien, die Sie geschaffenhaben –, durch die Vermarktung von Zuteilungsrechten,mit finanzieren. Das kann es beim besten Willen nichtsein.
Ich will auch ganz deutlich sagen, dass ich der Über-zeugung bin, dass wir eine schlanke, eine nicht überzo-gene Bürokratie brauchen. Ich bin der Meinung, dass wirin dieser Frage nicht an den Bundesländern vorbeige-hen können und sollten. Ich weiß, dass auch in der Re-gierung auf der Fachebene die Frage der Zuständigkeitder Länder durchaus umstritten ist und nicht in ihremSinne gesehen wird. Wenn Sie es aber dabei belassenwollen, dass Sie das Gesetz nur deshalb umstricken, umdie Mitwirkung der Bundesländer auszuschalten, danntreffen Sie auf unseren ganz entschiedenen Widerstand.Das Ganze – das kann ich Ihnen schon jetzt sagen – wirdder verfassungsrechtlichen Überprüfung zugeführt wer-den. Da sind Sie früher schon runtergefallen; das werdenSie auch diesmal.Ich sage Ihnen ganz klar: Die Lösungen gehen dort-hin, wo wir den Sachverstand haben, und zwar vor Ort.Ich könnte es nicht verstehen, wenn Sie x neue Stellen– ich weiß, Sie brauchen grüne Versorgungspositionen,weil diesbezüglich in den Bundesländern nicht mehr soviel zu machen ist – schaffen würden. Das ist nicht not-wendig; das Ganze kann man in die Länderbehörden in-tegrieren. Ich bin dafür, dass wir die Möglichkeit, das indie Länderbehörden zu integrieren, deutlich verankern.Ich will noch einmal unterstreichen, dass wir daraufhinarbeiten müssen, dass das Kioto-Protokoll verab-schiedet wird. Die Achse Paris–Moskau–Berlin, die Siegeschlossen haben, hat bislang noch nicht dazu geführt,dass die Russen den Vertrag ratifiziert haben. Ich meine,hier sind mehr Anstrengungen als bisher notwendig, da-mit sie ratifizieren.
Ich sage auch ganz deutlich: Wenn das Protokoll nichtratifiziert wird, müssen wir schauen, wie das Ganze indie Landschaft passt, damit unsere Wirtschaft im Ver-gleich zu anderen nicht unmäßig und zusätzlich belastet
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8366 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004
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Dr. Klaus W. Lippold
wird. Ich erwarte von Ihnen zumindest – dabei nehmeich nicht einmal die Position von Frau Palacio ein –, dassSie, auch ohne dass das Kioto-Protokoll ratifiziertwurde, einen Weg dafür ebnen, dass der Clean Develop-ment Mechanism und die Joint Implementation auch aufEU-Ebene realisiert werden, damit wir auf diese Art undWeise mehr Flexibilität schaffen. Auch hier sehe ichnoch keine Vorstöße von Ihnen. Sie behandeln das in derüblichen dilatorischen Art. Das können wir so nicht ak-zeptieren.Ich fasse zusammen: Zertifikate ja, aber schlank, un-bürokratisch und nicht zulasten der deutschen Wirtschaftin einer Form, durch die Arbeitsplätze und der Standortgefährdet werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister JürgenTrittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich be-grüße es außerordentlich, dass wir heute hier über denFortgang bei der Umsetzung des Emissionshandels spre-chen.Lieber Herr Kollege Lippold, Sie sind von dem ge-meinsamen Problembewusstsein und dem gemeinsamenWissen ausgegangen, dass wir, wenn wir die globale He-rausforderung des Klimawandels annehmen wollen, Kli-maschutz aktiv und – das betone ich ausdrücklich – überdas Jahr 2012 hinaus betreiben müssen. Ich hätte michgefreut, wenn Sie diesen Anfangsgedanken bis zumEnde durchgehalten hätten. Stattdessen haben Sie dilato-risch abgelehnt.
Nur eine Bemerkung am Anfang: Sie werfen demKollegen Fell die Deindustrialisierung der Lausitz vor.Ich will Sie nur darauf hinweisen, dass es zur Deindus-trialisierung der Lausitz zu der Zeit gekommen ist, alsder Kanzler Helmut Kohl hieß.
Das ist keine Ursachenbeschreibung. Nicht dass wir unsmissverstehen: Ich mache Herrn Kohl nicht dafür verant-wortlich. Ich rate Ihnen aber dringend, zu vermeiden,dem Kollegen Fell das anzulasten, was damals als Folgeder von uns allen begrüßten deutschen Einheit gesche-hen ist.Da Sie gerade den Kollegen Fell, einen der Fürspre-cher der erneuerbaren Energien, angesprochen haben:Denken Sie einmal einen Moment lang nach und überle-gen Sie sich, welche wenigen Industrien nach 1998 neuin die Lausitz gekommen sind.
Dazu gehört zum Beispiel die Vestas DeutschlandGmbH, die Windenergieanlagen produziert und durchdie 500 Arbeitsplätze entstanden sind. Sie wurde inSachsen nicht gewollt, sodass wir sie nach Lauchham-mer geholt haben. Erzählen Sie uns also nichts über In-dustrie- und Existenzgründungen in der Lausitz. Hierfürsind Sie der schlechteste Zeuge.
Sie haben einen weiteren Konsens angesprochen. Erlautet: Lasst uns beim Klimaschutz weniger auf das Ord-nungsrecht und mehr auf den Markt setzen. Das ist derKern des Emissionshandels. Der Emissionshandel ist einInstrument, um das, was die deutsche Industrie verspro-chen hat, nämlich gegenüber 1998 bis zum Jahre 201045 Millionen Tonnen CO2 einzusparen, aus zwei Grün-den einfacher und kostengünstiger zu erreichen:
Die Selbstverpflichtung bezog sich auf die Bundesrepu-blik Deutschland und sie beinhaltete keinen ökonomi-schen Mechanismus, durch den es dort zur Reduktionkommt, wo es am günstigsten ist.Der Emissionshandel führt dazu, dass die Tonne ver-miedenen CO2-Ausstoßes einen Preis bekommt. Dies hatzur Folge, dass es vor allem dort zu Emissionen kommenwird, wo es am kostengünstigsten ist. Herr Lippold, ichhätte mir angesichts des strukturkonservativen Geredeseinzelner Branchen gewünscht, dass dieser Ansatz – ichweiß, dass er von Ihnen lange Zeit mitverfolgt wurde –von Ihnen gemeinsam mit uns hier hochgehalten wordenwäre.Lassen Sie uns diesen Schritt gemeinsam gehen, weilin dem Emissionshandel eine gewaltige Chance für diedeutsche Wirtschaft steckt, die Klimaschutzziele günsti-ger und effizienter als mit den alten Instrumenten zu er-reichen.
Wenn wir darüber einen Konsens erreicht haben unddies nicht nur beharrlich als Belastung sehen, dann kön-nen wir uns nicht nur in Deutschland, sondern gemein-sam in Europa darüber verständigen: Wie setzen wir die-sen richtigen Gedanken möglichst einfach um? Das istder ganze Streit, wenn ich von Ihren anfangs gesagtenWorten ausgehe, dass Sie den Emissionshandel wollen.Es tut mir Leid, aber ich mag die Forderung nach ei-ner unbürokratischen Regelung aus den Reihen vonCDU/CSU und FDP nicht mehr hören.
Wir haben Folgendes gemacht: Jedes Unternehmen inDeutschland, das nach dem Bundes-Immissionsschutz-gesetz eine Berechtigung hat, hat automatisch die Ge-nehmigung, mit CO2-Emissionen zu handeln. Dieser ein-fache Grundgedanke ohne neue Genehmigungsverfahren
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8367
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Bundesminister Jürgen Trittinwird zurzeit von CDU/CSU und FDP im Bundesrat blo-ckiert. Sie haben die Industrie als Geisel genommen,weil Sie damit Mitbestimmungsrechte und – das gehtnoch weiter – die Abwicklung des Emissionshandels aufdie einzelnen Emissionsschutzbehörden der Länderübertragen wollen.
Bei diesem Abgrund von Bürokratie werden wir nichtmitmachen. Das sehen wir nicht ein. Wir wollen eineschlanke und einfache Umsetzung. Hören Sie angesichtssolcher Ideen auf, von Entbürokratisierung zu reden!
Kommen wir zur Zuteilung. Lieber Herr Lippold,wie sieht denn nach Ihrer Meinung die Menge der zuverteilenden Zertifikate aus, da Sie kritisiert haben, wirseien zu restriktiv? Wir haben an der Verabredung mitder Industrie festgehalten: Wir verteilen die Zertifikatekostenlos auf der Basis der Selbstverpflichtung der deut-schen Industrie.
– Nur noch eine gilt, die andere ist mit der KWK-Verein-barung aus dem Verkehr gezogen. – Nach dieser, unter-schrieben von Herrn Rogowski, Herrn Rauscher unddem Bundeskanzler, gilt eindeutig: Wir wollen bis zumJahre 2010 45 Millionen Tonnen CO2 einsparen, davon10 Millionen Tonnen – das muss man der Fairness hal-ber erwähnen – in den nicht emissionshandelsrelevantenBereichen, nämlich beim Verkehr und in den privatenHaushalten. Das haben wir an dieser Stelle eins zu einsumgesetzt.Von allen, die uns vorwerfen, wir hätten falsch ge-rechnet, erwarte ich den Nachweis, warum wir falsch ge-rechnet haben und wie man an dieser Stelle richtig rech-net;
denn die Grundrechenarten, sehr geehrter Herr Dr. Lippold,sollten auch Sie wenigstens beherrschen.
– Wenn Sie alle durcheinander rufen, habe ich Schwie-rigkeiten, Sie zu verstehen. Deswegen kann ich nichtdarauf eingehen, es tut mir Leid.
Kommen wir zu der Frage: Warum brauchen wir denEmissionshandel? Wir brauchen den Emissionshandel,weil sich abzeichnet, dass die Selbstverpflichtung nichterfüllt zu werden droht. Wir haben aufgrund der Isterhe-bung von 2 420 Anlagen festgestellt, dass ein Besorgniserregender Trend nicht in der Industrie und bei den pro-zessbedingten Emissionen, sondern bei den Emissionenzu beobachten ist, die energiebedingt in der Energiewirt-schaft auftreten. Bei dieser Entwicklung zeichnet sichab, dass die Emissionen steigen, anstatt zu sinken. Dasist eine der Herausforderungen, der wir uns, wie ichfinde, bei der Umsetzung des Emissionshandels gemein-sam stellen sollten. Wie bekommen wir diese Sache wie-der so auf die Spur, damit das, was die Industrie in derSelbstverpflichtung zugesagt hat, tatsächlich erreichtwird?Denn um eines kommen wir nicht herum: Bis zumJahre 2012 muss die Bundesrepublik Deutschland ihreEmissionen auf 846 Millionen Tonnen CO2 reduziert ha-ben. Alle, die heute mehr Vergünstigungen erwarten,sind auch verpflichtet, zu sagen, wem sie dann mehrEmissionsreduktionen auflasten wollen. Denn es gibt indiesem System keine kostenlosen Vergünstigungen. Das,was ich dem einen gebe, muss ich dem anderen nehmen.Meine letzte Bemerkung: Hören Sie auf, so zu tun, alswürde Deutschland einen Alleingang machen. Ich emp-fehle Ihnen, einfach einmal die Ausführungen der EU-Kommission zur Kenntnis zu nehmen. Danach ist esschlicht und ergreifend so, dass die großen Wettbewer-ber mit Deutschland das gemeinsam ambitioniert umset-zen. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Kom-mission mit Nachdruck erklärt hat, dass sieÜberallokationen nicht dulden wird, wie sie übrigens inÖsterreich stattgefunden haben, nämlich dass man mehrEmissionszertifikate verteilt, als überhaupt emittiertwird. Das ist das Gegenteil von Emissionshandel. Dennbei einem Überangebot – das müssten Sie als Ökonomwissen – besteht kein Anreiz, Emissionen zu reduzieren.Dann sind die Kostenvorteile des Emissionshandelsweg.Wir hätten viel mehr gemeinsam haben können, wennSie den Tenor zu Beginn Ihrer Rede, lieber Herr Lippold,beibehalten hätten. Dann hätten wir einen Konsens übermehr Markt im Klimaschutz statt mehr Ordnungsrecht.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir diskutieren heute zum wiederholten Mal in diesemHause über den Emissionshandel. Leider können wir dieentscheidenden Gesetzentwürfe nicht beraten, weil sichdie Bundesregierung nicht einigen kann.
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8368 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004
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Birgit HomburgerMit dem Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz liegt imAugenblick einzig und allein das formale Gerüst für denHandel als solchen auf dem Tisch. Die materiell relevan-ten Regelungen über die Zuteilung, also welche Anlagewelche Emissionsrechte erhält, sollen im Nationalen Al-lokationsplan verankert werden. Über diesen NationalenAllokationsplan streiten sich, obwohl er Ende diesesMonats nach Brüssel gemeldet werden muss, nach wievor die Herren Trittin und Clement.
Wir können das nicht im Deutschen Bundestag bera-ten. Das ist nicht in Ordnung.
Ich sage Ihnen, Herr Trittin: Das ist im Verfahren und imAblauf zum wiederholten Male eine Missachtung desParlaments und im Übrigen ein Armutszeugnis für dieKlimapolitik der Bundesregierung.
Die FDP steht zum Emissionshandel und Sie wissendas. Wir haben seit vielen Jahren den Emissionshandelgefordert, weil er enorme umweltpolitische und wirt-schaftspolitische Bedeutung hat und weil wir mit demInstrument des Emissionshandels das klimapolitischeZiel, das wir teilen, auf der einen Seite sicher erreichenkönnen, auf der anderen Seite aber Treibhausgasemissio-nen dort vermieden werden können, wo dies zu gerings-ten Kosten möglich ist. Ziel des Emissionshandels ist es,pro eingesetzten Euro so viel Treibhausgase wie möglichzu vermeiden, um Klimaschutz effizienter zu organisie-ren.
Da muss ich Ihnen sagen, Herr Minister Trittin: Esfehlt der Bundesregierung leider wie so oft die Gesamt-konzeption. Weder gibt es eine Abstimmung der unter-schiedlichen Instrumente, die wir derzeit in der Bundes-republik haben, noch gibt es eine Koordinierung mitdem internationalen Klimaschutz. Man könnte den Ein-druck gewinnen, dass die rot-grüne Bundesregierungvon dieser Emissionshandelsrichtlinie geradezu über-rascht wurde. Tatsächlich versuchen Sie, Herr Minister,diesen Eindruck zu erwecken. Sie wollen davon ablen-ken, dass Sie über Jahre hinweg die Vorbereitung desEmissionshandels in Deutschland, von dem wir langewissen, dass er kommen wird, verschlafen haben. Jetzttun Sie so, als ob der „Kaiser aus Brüssel“ diese Richtli-nie bringt und Sie sich ganz arg bemühen, sie so schnellwie möglich umzusetzen. Das sind Ihre eigenen Ver-säumnisse, Herr Trittin.
Die wesentlichen nationalen Grundlagen des Emis-sionshandels hätte die Bundesregierung bereits parallelzu den Beratungen auf europäischer Ebene erarbeitenund zwischen den Ressorts abstimmen können und müs-sen. Das hat sie versäumt. Sie haben jahrelang verneint,dass der Emissionshandel notwendig ist. Wenn ich Sieheute so reden höre, dann muss ich feststellen, dass eineunglaubliche Wandlung stattgefunden hat. Für eine ver-nünftige Umsetzung scheint sie allerdings immer nochnicht zu reichen.Da Sie um den Emissionshandel nicht mehr herum-kommen, wollen Sie jetzt damit Strukturpolitik betrei-ben. Sie versuchen den Emissionshandel indirekt zurDurchsetzung politisch motivierter Entscheidungen überden Einsatz von Energieträgern zu nutzen, indem fürNeuanlagen, die keine Altanlagen ersetzen, eine Mess-latte angelegt wird, die sich am Wirkungsgrad hocheffi-zienter Gas- und Dampfkraftwerke orientiert. So werdenselbst modernste Kohlekraftwerke unangemessen be-nachteiligt. Milliardeninvestitionen werden fragwürdig.Das hat mit Klimaschutz nichts mehr zu tun, HerrTrittin.
Ich will Ihnen deutlich sagen: Angesichts des Bedarfsan Ersatzinvestitionen in Kohlekraftwerke, insbeson-dere in Anlagen für Steinkohle – bei der Braunkohlestellt sich das anders dar –, von denen rund die Hälfte inder Bundesrepublik Deutschland älter als 30 Jahre ist,könnten wir, wenn die Mittel, die teilweise in anderenBereichen für den Klimaschutz ausgegeben werden, fürErsatzinvestitionen genutzt würden, deutlich mehr CO2-Emissionen einsparen, als es mit anderen Maßnahmender Fall ist. Mit Ihrem Vorgehen vergrößern Sie die Ver-unsicherung noch.
Wenn Sie über Klimaschutz reden, dann müssen Sieauch den Aspekt der Versorgungssicherheit dieses Lan-des im Blick haben. Deswegen brauchen wir einen Ener-giemix und deswegen ist Ihr Versuch, die Kohlekraft-werke – selbst hochmoderne Kohlekraftwerke, die imÜbrigen mit anderen Technologien gekoppelt und hin-sichtlich ihrer Effizienz gesteigert werden können – zubenachteiligen, ein großer Fehler. Er führt zu einer gro-ßen Verunsicherung, die uns noch schwer zu schaffenmachen wird.
Die von der Bundesregierung geplante Umsetzungdes Emissionshandels droht den Emissionshandel inMisskredit zu bringen, weil Sie die EU-Richtlinie unnö-tig bürokratisch und unnötig kostenintensiv umsetzen.Statt die Chancen, die der Emissionshandel bietet, ent-schlossen zu nutzen, bleibt der Entwurf des NationalenAllokationsplans nach wie vor dem ordnungsrechtlichenDenken verhaftet; denn die Emissionsrechte sollen deneinzelnen Anlagen zugeteilt werden.Zu einer modernen marktwirtschaftlichen Umweltpo-litik gehören mehr Engagement und Fantasie, HerrTrittin, als lediglich dem alten Ordnungsrecht einenneuen Hut aufzusetzen, auf dem Emissionshandel steht.So funktioniert das nicht.
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Birgit HomburgerIch will Ihnen das kurz begründen. Warum ist derEmissionshandel zu teuer und zu bürokratisch? Er ist inDeutschland schon deshalb zu teuer, weil es die Untätig-keit der Bundesregierung deutschen Unternehmen bis-lang nicht ermöglicht hat, günstige Emissionsgutschrif-ten aus Klimaschutzmaßnahmen mit und in anderenLändern zu erwerben. Diese Verknüpfung ist aber drin-gend notwendig.
Neben den Anstrengungen im Inland ist auch eine Ver-knüpfung mit den internationalen Instrumenten erforder-lich. Das haben Sie in Deutschland nicht ermöglicht. An-dere Länder sind schon weit vorangegangen. Deswegenfordern wir von Ihnen, dass dies auch in Deutschland zu-lässig wird.
Wir haben als FDP immer wieder darauf hingewie-sen, dass es unverzichtbar ist, die anderen klimapoliti-schen Instrumente – beispielsweise Ökosteuer, KWK-Gesetz und EEG – auf den Emissionshandel abzustim-men. Sie bleiben alle nebeneinander stehen. Sie haben inder Anhörung des Umweltausschusses im Prinzip dieLösung auf dem Silbertablett präsentiert bekommen, in-dem uns die Experten empfohlen haben, in einem Kli-maschutzartikelgesetz eine Regelung zu treffen, derzu-folge eine Anlage, die in den Emissionshandeleinbezogen wird und die die Klimaschutzziele erreicht,von anderen Regeln ausgenommen und somit auch vonder Ökosteuer befreit wird. Das aber wollen Sie nicht.Im Gegenteil: Ihr Staatssekretär hat gestern im Umwelt-ausschuss noch einmal betont, dass alle Instrumente bei-behalten würden. Das geht aber nicht an, weil es unnö-tige Kosten verursacht. Das werden wir nichtakzeptieren, Herr Trittin.
– Lieber Ernst Burgbacher, es lohnt sich nicht, sich darü-ber aufzuregen.
– Stimmt, es gibt auch Stilfragen in diesem Parlament.Darüber, dass es unterschiedliche Stile gibt, kann sichaber jeder sein eigenes Bild machen.Herr Trittin, ich möchte auf Ihre Aussage eingehen,dass Sie den Emissionshandel unbürokratisch über dasBundes-Immissionsschutzgesetz regeln wollen. Sie ha-ben sich dabei auf den Streit mit den Ländern bezogen.Das ist allerdings nicht der Punkt, über den Sie sich imAugenblick mit den Ländern streiten. Es geht vielmehrdarum, dass der Bund die Emissionsrechte zuteilen soll,dass die Länder aber für die Umsetzung zuständig seinsollen. Wenn es Klagen der betroffenen Unternehmengibt, weil sie mit Emissionsrechten nicht ausreichendausgestattet wurden, dann sollen die Länder die Beklag-ten sein. Das darf nicht sein. Die Länder wollen eine un-bürokratischere Regelung und wollen den Emissions-handel von vornherein an einer Börse abwickeln. Vordiesem Hintergrund frage ich mich, warum Sie in § 20des TEHG vorsehen, das beim Umweltbundesamt anzu-siedeln. Mir scheint es einfacher zu sein, den Emissions-handel von vornherein in private Hände zu geben und aneiner Börse abzuwickeln. Sonst muss eine neue Bundes-behörde mit circa 600 bis 1 000 Mitarbeitern errichtetwerden. Das wollen wir definitiv nicht, weil es die Sacheunnötig verkomplizieren würde.
Der Emissionshandel soll Anfang 2005 beginnen. Eswird also Zeit, dass die Bundesregierung ein vernünfti-ges Gesetzespaket vorlegt. Die Vorschläge der FDP lie-gen seit langem auf dem Tisch. Ich kann Ihnen nur nocheinmal unsere konstruktive Zusammenarbeit anbieten.Wir erwarten aber Lösungen, die uns sowohl beim Kli-maschutz als auch bei der Effizienz – es geht um gerin-gere Kosten – voranbringen. Das ist bisher nicht der Fall.Aber das wollen wir und daran werden wir arbeiten.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Kelber.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Eigentlich sollten alle Rednerinnen und Rednerin dieser Debatte über die Umsetzung von Klimaschutz-maßnahmen und Emissionshandel sprechen. Aber ichgehe jede Wette ein, dass wir bis zum Ende dieser De-batte das übliche Schauspiel der Opposition ertragenmüssen. Anstatt Vorschläge für notwendige Maßnahmenzum Klimaschutz zu machen, wird über Formalismen la-mentiert. Statt Beiträge zur Umsetzung des Emissions-handels zu liefern, werden die Redner der Oppositionabwechselnd und wahlweise über Zeitdruck oder eine zulangsame Umsetzung jammern, ohne sich dabei über dieeigenen Widersprüche zu wundern. Statt inhaltliche Vor-schläge zum Nationalen Allokationsplan zu machen,wird mit jeder Rede versucht, die Teilnehmer und dieÖffentlichkeit zu verunsichern. Dabei ist der Klima-schutz notwendiger denn je.Vor zehn Jahren haben wir noch darüber diskutiert, obman den Klimawandel verhindern kann. Heute spre-chen wir darüber, dass man nur noch mit größten An-strengungen die schlimmsten Auswirkungen des Klima-wandels abmildern kann. Sommer mit Hitze und Dürrewie der im letzten Jahr werden in wenigen Jahrzehnteneher der Normalfall sein als der Extremfall. Es gibt wei-tere düstere Szenarien des Klimawandels. Wir wissenheute, dass manche Eisschilde im Landesinneren durchdie Erwärmung instabiler geworden sind als angenom-men. Kommen diese ins Rutschen, kann der Meeresspie-gel sehr schnell ansteigen. Neue Untersuchungen zeigenaußerdem, dass der Salzgehalt des nördlichen Atlantiksdurch das Abschmelzen von Inlandeis und Gletschern
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Ulrich Kelberschneller sinkt als erwartet und dass ein Versiegen vonwichtigen Meeresströmungen wie des Golfstroms mög-lich ist. Die Klimaauswirkungen auf Europa wären ver-heerend.
Vor diesem Hintergrund muss die Debatte über denEmissionshandel vor allem auch eine Debatte über dieChancen für den Klimaschutz durch den Emissionshan-del sein.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Grill?
Ja.
Herr Kollege Kelber, Ihre dramatische Schilderung
der Folgen des Klimawandels steht in einem nicht uner-
heblichen Widerspruch zu der just veröffentlichten Stu-
die der Bundesforschungsministerin, in der der Klima-
wandel mit einem großen Fragezeichen versehen wird.
Welchem Teil der Bundesregierung soll man nun eigent-
lich glauben?
Herr Grill, Sie waren einmal in einer der Enquete-Kommissionen, die sich neben der Frage der Zukunft derEnergieversorgung auch mit diesem Thema beschäftigthat. Von daher sind Sie ein aufmerksamer Leser allermöglichen Studien. Sie wissen, wohin die breite Ent-wicklung in der Wissenschaft geht, was absolut – sowürden das die Juristen nennen – die Mehrheitsmeinungist. Sie kennen die neuen Studien aus Amerika, dieneuen Studien des IPCC, die alle eher in die Richtunggehen, dass sich die Situation verschärft. Wir glaubendeswegen, dass der Emissionshandel eine gute Chancebietet, die Klimaschutzverpflichtungen punktgenau zuerfüllen, dass er vor allem eine Chance für Unternehmenin Europa und in Deutschland darstellt, dies mit den kos-tengünstigsten Verfahren umzusetzen.Es wird in Deutschland oft gesagt, man wolle eineHarmonisierung des Umweltrechts. Es ist wichtig, fest-zustellen, dass der Emissionshandel eine Harmonisie-rung der Klimaschutzbemühungen in Europa bedeutet.Die scharfe Kritik der EU-Kommission an den Ländern,die zum Thema Emissionshandel bisher überhaupt nichtsvorgelegt haben oder deren Vorschläge ein deutlicherVerstoß gegen die Klimaschutzauflagen sind, gibt An-lass zur Hoffnung, dass eine Harmonisierung stattfindenwird.Die Fragen an uns sind jetzt: Wie setzen wir denEmissionshandel um? Wann sollen Regierung und Parla-ment entscheiden? Welche staatliche Ebene ist zustän-dig? Bis Ende dieses Monats müssen wir der EU-Kom-mission unsere Vorschläge zur Umsetzung deseuropäischen Emissionshandels in Deutschland übermit-teln. Eines ist klar: Bis dann kann die parlamentarischeBeratung nicht abgeschlossen werden. Deswegen wirddie Regierung ihre Vorschläge auch nur mit Parlaments-vorbehalt nach Brüssel geben können. Diesen Parla-mentsvorbehalt nehmen wir als Abgeordnete der Regie-rungskoalition ernst. Da können Sie uns beim Wortnehmen.
Jetzt gibt es von der Opposition Kritik daran, dassüber die zwei entscheidenden Gesetze zum Emissions-handel in Deutschland, also über das Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz und über ein Gesetz über denNationalen Allokationsplan, nicht zeitgleich diskutiertwerden kann. Zugegeben, eine zeitgleiche Diskussionwäre wünschenswert; aber auch die Opposition muss zu-gestehen, dass im Treibhausgas-Emissionshandelsge-setz zum Teil erst die rechtlichen Voraussetzungen ge-schaffen werden, um die Verordnungen und denNationalen Allokationsplan in dieser Form aufzustellen.Auch die Opposition muss Zugeständnisse an den euro-päischen Terminplan machen. Fast kein EU-Land wirdalle notwendigen Beschlüsse des nationalen Parlamentsbis zum 31. März umgesetzt haben. Und diese Länderhaben keinen Bundesrat, in dem die Opposition vor al-lem Blockade betreibt.Stichwort Bundesrat: Die dort eingenommene Rolleist wirklich nur noch durch die Kür des Kandidaten fürdie Bundespräsidentenwahl an Peinlichkeit zu überbie-ten. In den Ausschüssen des Bundestages verweigern Siezumindest nur die Beratung über die Gesetze und versu-chen, die entsprechenden Punkte von der Tagesordnungzu nehmen.
Im Bundesrat lehnen Sie aber die kostengünstigste Um-setzung, für die keine neuen Institutionen geschaffenwerden müssen, ab und Sie nehmen tatsächlich in Kauf,dass eventuell eine hohe Zahl zusätzlicher Prüfer einge-stellt werden muss. Die Kosten dafür müssen auf unsereUnternehmen umgelegt werden. Wie rechtfertigen Sieeigentlich den Wettbewerbsnachteil, den die Unterneh-men durch die Kosten der Zertifikate wegen der unnöti-gen Zahl von zusätzlichen Beschäftigten im Vergleichmit anderen Ländern erfahren? Dafür würden Sie ganzallein die Verantwortung tragen.
Am dreistesten ist aber der Versuch der Opposition,jedem am Emissionshandel Beteiligten alles Ge-wünschte zu versprechen. Man muss dazu nur einmal indie Medien schauen: Dort liest man von Forderungen derOpposition nach einem Sondertopf und nach noch einemSondertopf oder nach einer günstigen Ausstattung. LiebeKollegen von der Opposition, hat Ihnen noch nie jemandgesagt, dass diese Sondertöpfe dadurch gefüllt werdenmüssen, dass die Unternehmen zusätzliche Auflagen be-kommen, dass die Unternehmen diese Sonderwünschebezahlen müssen? Ist es in Ordnung, eine zusätzliche
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Ulrich KelberBelastung für die Unternehmen zu riskieren, nur um beiInteressenverbänden parteipolitisch glänzen zu können?Wollen Sie die andere Methode wählen, nämlich die frei-willige Zusage von Energiewirtschaft und Industrie zumKlimaschutz auf die privaten Haushalte und die Ver-kehrsteilnehmer abwälzen? Frau Dött, Sie haben heutedie Gelegenheit, das öffentlich zu bestätigen. Will FrauMerkel eine höhere Ökosteuer im Verkehr? Will HerrWesterwelle zusätzliche Belastungen und Auflagen fürImmobilienbesitzer, damit der BDI seine Klimaschutz-zusagen nicht einhalten muss?Eines ist klar: Die Gesamtmenge an Treibhausgas-emissionen im Jahr 2012 ist durch internationale Zusa-gen gedeckelt. Wer Branchen und InteressenverbändenZusagen macht – das tun Sie in aller Form öffentlich –,muss irgendwann auch öffentlich sagen, wer die zusätz-lichen Belastungen dafür tragen soll.
Diesen Mut zur Ehrlichkeit lässt die Opposition leidervollständig vermissen.Dabei liegen die Eckpunkte für den Emissionshandeldoch auf der Hand. Es gibt eine Selbstverpflichtung derdeutschen Wirtschaft. Diese muss eingehalten werden,nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der Emissionshan-del muss seine marktwirtschaftliche Funktion behaltenkönnen, damit die kostengünstigsten Wege gefunden undnicht versperrt werden. Deswegen sind mir manche For-derungen des BDI in dieser Frage völlig unverständlich.Vielleicht hat das damit zu tun, dass sich der BDI nachinternen Regieanweisungen dazu entschlossen hat, imEmissionshandel nur noch holzschnittartig – Zitat ausseinen eigenen Papieren – zu argumentieren.Der Emissionshandel muss vor allem einen Anreizsetzen – darin sind wir uns einig –, den veralteten deut-schen Kraftwerkspark zu modernisieren. Ich gebe daeinmal etwas zurück: In den 16 Jahren der Regierungvon CDU/CSU und FDP ist in Westdeutschland in kei-nem einzigen Braunkohlekraftwerk und praktisch auchin keinem einzigen Steinkohlekraftwerk der Effizienz-grad verbessert worden.
Auf Ihren möglichen Einwand, dass diese Kraftwerkedamals noch nicht so alt waren, sage ich: Das gilt eben-falls für die Kraftwerke aus den 50er-Jahren. Auch dieüber 40 Jahre alten Anlagen sind zu Zeiten Ihrer Regie-rung nicht angefasst worden.
Für diese Modernisierung braucht es Anreize ausdem Emissionshandel. Das wäre mit dem Prinzip „Jederbekommt so viel Emissionsrechte, wie er benötigt, egalwie ineffizient die Anlage ist“ nicht zu machen. Aber ei-nes ist auch klar: Wir werden für die Unternehmen In-vestitionssicherheit schaffen müssen. Dazu gehört natür-lich auch, dass wir sowohl für Neu- als auchErsatzanlagen sagen müssen, wie sie nach dem Jahr2012 behandelt werden. Man kann an der Stelle nichtnur eine Regelung bis zum Jahr 2012 schaffen.Der Emissionshandel wird zum wichtigen wirtschaft-lichen Faktor bei der Entscheidung über den Bau neuerKraftwerke werden. Aber er darf nicht der einzige Fak-tor sein. Deswegen ist mit uns ein Prinzip des Emis-sionshandels, das bestimmte Energieträger unabhängigvon der technologischen Notwendigkeit bevorzugt oderausschließt, nicht zu machen. Auch das muss für denEmissionshandel festgehalten werden.Wir wollen beim Klimaschutz weiter Spitze bleiben.Temperaturbereinigt haben wir 2003 – so die aktuellenSchätzungen von gestern – die Emissionen des Treib-hausgases CO2 in Deutschland um 0,6 Prozent senkenkönnen. Das ist weniger als gewünscht, aber ist weiter-hin ein deutlicher Kurs auf die Erfüllung des Klima-schutzziels 2010.Wenn es diesen Trend nach unten gibt, dann – dasmuss doch klar sein – muss auch in der ersten Periodedes Emissionshandels, also für den Durchschnitt derJahre 2005 bis 2007, eine weitere Senkung der Emissionvon Treibhausgasen erreicht werden.
Wir wollen keinen Stillstand beim Klimaschutz. Ichnenne Ihnen hier eine Zahl: Industrie und Energiewirt-schaft müssen im Durchschnitt der Jahre 2005 bis 2007unter die Grenze von 500 Millionen Tonnen CO2 proJahr kommen. Unabhängig davon brauchen wir natürlichauch weitere Anstrengungen in den Bereichen Verkehrund private Haushalte.Oft wird in der hitzigen Debatte über den Emissions-handel vergessen, dass wir unser Klimaschutzziel 2010schon fast erfüllt haben. 21 Prozent Emissionsminde-rung wollten wir bis 2010 schaffen. Über 19 ProzentEmissionsminderung sind bereits erreicht. Es geht alsonur noch um zwei Prozentpunkte. Das ist fast ein Luxus-problem, jedenfalls verglichen mit Ländern wie Italien,Spanien, Irland, Österreich oder Dänemark, in denenzum Teil eine Minderung um mehr als 20 Prozent not-wendig ist.Gleichzeitig entsteht dadurch in Europa ein riesigerMarkt für neue Technologien, für neue Dienstleistungen,den wir mit dem, was wir hier entwickelt haben, nutzenkönnen. Ein Denkanstoß für die, die immer glauben– ohne Prüfung, nur aus Vorurteilen heraus –, wir seiendie Einzigen, die beim Klimaschutz vorneweg gingen:Auch Großbritannien hat diesen Markt, nämlich denMarkt für Emissionsrechte, für Technologien, fürDienstleistungen, für sich erkannt. Großbritannien legtseinen nationalen Allokationsplan so aus, dass mit demEmissionshandel die Klimaschutzverpflichtungen sogarübererfüllt werden. Zu Recht verspricht man sich davonviele wirtschaftliche Vorteile. Einige Analysten der Ban-ken sehen gerade für die energie- und emissionsintensi-ven Unternehmen in Deutschland und in Großbritannien,gerade weil das die Länder sind, die im Klimaschutzvorneweg sind, große Wertentwicklungen. RWE ist in
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Ulrich KelberKenntnis der neuen Gesetze gerade auf „Strong Buy“ ge-setzt worden.Für uns heißt das: Klimaschutz ist nicht nur eine mo-ralische Verpflichtung, sondern auch eine riesige wirt-schaftliche Chance. Klimaschutz wird in Deutschland– das steht außer Zweifel – zum Klimaknüller werden.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Paziorek.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! AlsZwischenergebnis der heutigen Diskussion können wirfesthalten, dass der Bundesumweltminister wiederumnicht in der Lage gewesen ist, eine abgestimmte Positionder Bundesregierung zum Thema Emissionshandel demParlament vorzutragen und darzulegen, welchen Natio-nalen Allokationsplan Deutschland nach Brüssel meldenwill – und das wenige Tage vor Ablauf der Frist. Unswird dazu gesagt, das Kabinett, insbesondere der Wirt-schafts- und der Umweltminister, wird sich bis EndeMärz schon einigen. Man muss dazu in aller Deutlich-keit sagen: Es wird nach Brüssel ein Nationaler Alloka-tionsplan gemeldet, der nicht mit den Gremien des Deut-schen Bundestages abgestimmt ist. Das ist ein Faktum,und das können wir nicht hinnehmen.
Man kann den Emissionshandel in der Tat nur folgen-dermaßen beschreiben: Er ist ein wichtiges umweltpoli-tisches Instrument, das massiv in die wirtschaftlicheStruktur Deutschlands eingreift. Ein solches Instru-ment muss deshalb im deutschen Parlament beraten wer-den, bevor es nach Brüssel gemeldet wird.
Sie setzen sich damit doch auch dem Vorwurf aus,dass Sie Angst haben, dass noch rechtzeitig vor der Mel-dung nach Brüssel darüber diskutiert wird, was wirklichin dem Plan steht. Wovor haben Sie eigentlich Angst?Haben Sie vielleicht Angst, dass dann deutlich wird,dass es sich um eine Mogelpackung handelt, auf deraußen Umweltschutz steht, in der aber in Wirklichkeitder Wirtschaft ein Schraubstock angelegt wird? Genaudas könnten wir im Augenblick nicht gebrauchen. Umeinen solchen Vorwurf aus dem Weg zu räumen, solltenSie all das auf den Tisch legen, was inoffiziell bekanntist. Warum weigern Sie sich, eine offene Diskussion indiesem Hause zu führen?
Noch eines sage ich ganz deutlich: Methodisch kannein Emissionshandel – Herr Kelber, Sie haben das in Ih-rer Rede auch angesprochen – natürlich nur dann laufen,wenn gleichzeitig eine Strategie der Verknappung ver-folgt wird. Ohne eine Verknappung kann tatsächlich keinPreis gebildet werden.
Jetzt stellt sich doch als Erstes die Frage, von welchenZahlen überhaupt ausgegangen wird. Ich als Abgeordne-ter halte es schon für ein starkes Stück, dass wir in denletzten Tagen laufend in den Zeitungen Meldungen lesenkonnten, dass die Wirtschaft 501, 505 oder 508 Millio-nen Tonnen CO2 ausstoße, dass aber der Deutsche Bun-destag dazu keine Zahlen bekommt. Ich habe am Mitt-woch im Ausschuss die Frage gestellt, ob die Zahlenüberhaupt plausibel sind und gegengeschätzt wordensind. Wenn sich bei einer Prüfung herausstellen sollte,dass 508 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß nicht stim-men, ist auch Ihr Vorwurf, Herr Bundesumweltminister,dass die Wirtschaft ihre Selbstverpflichtung nicht einge-halten habe, gegenstandslos. Dieser Vorwurf ist letztlichnur berechtigt, wenn die Zahlen plausibel dargelegt wor-den sind.Ich habe am Mittwoch im Ausschuss auch die Fragegestellt: Wie kommen Sie zu dem Ergebnis – wir wissendas ja nur inoffiziell –, dass Deutschland circa 35 Millio-nen Tonnen prozessbedingte CO2-Emissionen angerech-net werden können? Ich kann genauso gut anhand vonGegenschätzungen belegen – wir haben uns schon miteinigen Leuten unterhalten –, dass die Zahlen so nichtstimmen und Deutschland eventuell sogar über 50 Mil-lionen Tonnen prozessbedingter CO2-Emissionen ange-rechnet werden müssen. Das bedeutet, all Ihre Reduk-tionszahlen stimmen nicht.
– Zum Inhaltlichen komme ich gleich noch, HerrKelber. – Ich möchte also der Öffentlichkeit sagen: Bisjetzt gibt es keine Prüfung, ob die Zahlen, die Sie schonvorab herausgegeben haben, plausibel sind und stimmen.Sie machen diese Zahlen aber zur Grundlage für eineMeldung nach Brüssel. Das halten wir für unverantwort-lich.
Dann sagen Sie, um das Beispiel einmal fortzuführen,wir setzten nur das um, was mit der Wirtschaft verein-bart wurde. Zunächst einmal haben Sie anderthalb Jahregewartet, bevor Sie diese Vereinbarung unterschriebenhaben. Hier stellt sich gleich eine methodische Frage:Soweit ich das richtig in Erinnerung habe, sind die in derSelbstverpflichtungserklärung der Wirtschaft enthal-tenen Fristen nicht identisch mit denen im Kioto-Proto-koll. In der Selbstverpflichtungserklärung der Wirtschaftstehen als Fristen die Jahre 2005 und 2010, nach demKioto-Protokoll beginnt die entscheidende Phase 2012.
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Dr. Peter PaziorekIch möchte gerne einmal wissen, wie die in der Selbst-verpflichtungserklärung enthaltenen Zahlen und IhreZahlen vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichenZeitschienen tatsächlich abgestimmt sind. Darüber mussman doch diskutieren können, Herr Kelber, ohne sichgleich den Vorwurf einzuhandeln, einer objektiven Dis-kussion zum Emissionshandel ausweichen zu wollen.Das ist nämlich nicht der Fall. Wir wollen aber die ver-träglichen, guten und richtigen Grundlagen eines Emis-sionshandels erfahren und keine Scheinzahlen, wie sieim Augenblick durch die interessierte Landschaft geis-tern. Das muss man einmal klar und deutlich sagen.Herr Minister, Frau Homburger hat gerade schon aufden tatsächlichen Hintergrund des Streits im Bundesrathingewiesen. Es war interessant, dass Sie sich fünf Mi-nuten lautstark mit der Rede von Dr. Lippold befasst ha-ben, aber an keiner Stelle gesagt haben, wo Sie inhaltlichwirklich stehen. Dann haben Sie sich inhaltlich positio-niert und gesagt, der Bundesrat wolle keine Vereinfa-chung der 34. Bundes-Immissionsschutzverordnung.
– Nein, das stimmt nicht. – Aus meiner Sicht war daswiederum eine typische Halbinformation für die Öffent-lichkeit, die suggeriert, nur Ihr Weg sei unbürokratischund einfach. Sie nennen nicht den wirklichen Streit-punkt; denn wenn Sie ihn nennen würden, könnten SieIhre Argumentationsschiene nicht weiter fahren.Ich sage Ihnen ganz deutlich: Es ist doch bekannt,dass der Bundesrat die Frage gestellt hat, ob Ihr TEHG-Entwurf wirklich richtig sei oder ob dort nicht Bestim-mungen aus der 34. Bundes-Immissionsschutzverord-nung aufgenommen werden sollten. Darüber kann mansich doch streiten. Das wäre vielleicht sogar eine sinn-volle Lösung, denn dann wäre dieses Verfahren Bestand-teil einer gesetzlichen Regelung. Was haben Sie ge-macht? Sie haben gesagt, darüber diskutieren wirüberhaupt nicht, fertig, aus. Wer so mit dem Bundesratumspringt, der darf sich nicht wundern, wenn der Bun-desrat als Verfassungsorgan sagt: Herr Trittin, das istkein ordentliches Auftreten vor dem Bundesrat. – Sietragen damit die Verantwortung dafür, dass keine Dis-kussion mit dem Bundesrat darüber zustande kommt,wie das Verfahren einfacher gestaltet werden kann. Siesagen immer nur: Wenn nicht anerkannt wird, dassmeine Zahlen stimmen, dann diskutiere ich mit der Öf-fentlichkeit und der Industrie nicht. Sie sagen: Entwederübernimmt der Bundesrat meine Vorschläge zu der Ab-wicklung des Verfahrens oder ich diskutiere mit demBundesrat nicht.Das ist eine Politik, die dem Klimaschutz auf Dauernur Schaden zufügen wird. Deshalb sagen wir: HörenSie auf mit dieser Betonhaltung und versuchen Sie, sau-bere Kompromisse anzustreben! Dann hätten Sie auch inSachen Emissionshandel eine bessere Position.
Dann wird gesagt, das Ganze werde wohl keine Aus-wirkungen auf die Wirtschaftsstruktur haben. Es istschon spannend, zu sehen, dass wir im Deutschen Bun-destag vor der Abgabe nach Brüssel nicht rechtzeitigdarüber diskutieren sollen, ob ein Benchmarking für denNeubau von Erdgaskraftwerken richtig ist. Die Ant-wort finden Sie in Nordrhein-Westfalen. Dort soll einesder modernsten Braunkohlekraftwerke der Welt ge-baut werden. Wenn sich das Benchmarking für Erdgas-kraftwerke durchsetzt, dann lohnt sich der Bau diesesBraunkohlekraftwerkes in Nordrhein-Westfalen nichtmehr.Dabei darf nicht übersehen werden, dass Sie damitauch die heimische Energieversorgung durcheinander-wirbeln. Man muss doch im Deutschen Bundestag ein-mal über die Frage diskutieren, ob es immer richtig ist,auf Erdgas zu setzen.
– Herr Loske, das Benchmarking für Erdgaskraftwerkewird die Position des Erdgases so stärken, dass die hei-mische Braunkohle aus Mitteldeutschland, Ostdeutsch-land und dem Rheinland nicht mehr konkurrenzfähig ist.Da muss man doch die Frage stellen, ob es richtig ist,über den Emissionshandel eine solche Strukturverände-rung herbeizuführen. Das muss auch im Deutschen Bun-destag diskutiert werden.
Die Antwort aus Nordrhein-Westfalen haben wirschon bekommen, Herr Kelber. Der Infrastrukturminis-ter, Herr Horstmann, hat ganz deutlich erklärt, das Kon-zept des Nationalen Allokationsplanes könne nicht ak-zeptiert werden, es sei auch eindeutig gegen diewirtschaftlichen Interessen Nordrhein-Westfalens ge-richtet. Es ist sehr interessant, dass Sie als Abgeordneteraus Nordrhein-Westfalen erklärt haben, im Zweifel inte-ressiere Sie das alles nicht, Sie verträten die Position desUmweltministers. Das wird vor allem mit Blick auf diein den nächsten Wochen anstehende politische Diskus-sion in Nordrhein-Westfalen interessant werden.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kelber?
Ja.
Die Zeit ist eigentlich abgelaufen.
Deshalb erlaube ich sie ja.
Ich bitte dann um eine kurze Antwort. – Bitte.
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Er muss ja gar keine Antwort geben, denn nach § 27
Abs. 2 der Geschäftsordnung ist auch eine Zwischenbe-
merkung erlaubt.
Sie haben gerade einen sehr unfairen Trick versucht,
indem Sie behauptet haben, dass der Ersatz eines Braun-
kohlekraftwerks bei einer Gas-Benchmark nicht mach-
bar wäre und ich das als Abgeordneter aus Nordrhein-
Westfalen unterstützen würde. Da auch Sie aus Nord-
rhein-Westfalen kommen und da Sie als Umweltpolitiker
vor Ihrer Rede hoffentlich wenigstens Entwürfe und
auch Stellungnahmen der SPD gelesen haben, müsste Ih-
nen bekannt sein, dass bei der Übertragung auf ein neues
Kohlekraftwerk die Menge von Zertifikaten mitgenom-
men werden kann, während das bei der Übertragung auf
ein Gaskraftwerk zeitlich begrenzt ist. Auch das sollten
Sie wenigstens sagen, um die Öffentlichkeit nicht be-
wusst in die Irre zu führen.
Herr Kelber, ich muss Ihnen dazu in aller Deutlichkeit
sagen, dass die Übertragungsregelungen nicht ausrei-
chend sind. Sie sind nach dem bisherigen Entwurf – die
SPD hat vielleicht noch etwas anderes vor –, den wir in
der Straßenbahn gefunden haben, nur bis 2012 gültig.
Das bedeutet im Klartext, dass all das, was nach 2012
passiert, eindeutig zulasten der heimischen Energiever-
sorgung geht. Herr Kelber, dieser Punkt muss öffentlich-
keitswirksam diskutiert werden, damit es nicht eine Ent-
scheidung gibt, die zulasten Nordrhein-Westfalens und
der neuen Bundesländer geht.
Zum Abschluss will ich deutlich sagen: Wir sind für
den Emissionshandel. Ich hoffe sehr, deutlich gemacht
zu haben, dass die Unionsfraktion dafür plädiert, dass
die Zahlen auf den Tisch kommen. Wir können nämlich
nur dann Klimaschutz und Wirtschaftspolitik zusam-
menführen, wenn wir eindeutig wissen, auf welcher Da-
tenbasis wir entscheiden. Wenn wir das nicht erreichen,
dann laufen wir in der Tat Gefahr, die Weichen falsch zu
stellen und damit zulasten Deutschlands eine negative
Entscheidung für unsere Wirtschaft zu treffen. Das wol-
len wir nicht. Deshalb, Herr Minister, haben wir die
große Bitte, dass das deutsche Parlament vor der Abgabe
Ihrer Stellungnahme beteiligt wird.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Loskevon Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-vor ich meine eigenen Argumente vortrage, will ich aufeinige Argumente meiner Vorredner eingehen.Erstens. Ein Argument, das von beiden Oppositions-fraktionen vorgetragen wurde, war, das Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz – das ist ein furchtbar langer Ti-tel – könne nicht behandelt werden, bevor der NationaleAllokationsplan verabschiedet sei. Ich glaube, dieses Ar-gument ist falsch. Denn der NAP verhält sich zumTEHG wie das Kioto-Protokoll zur Klimarahmenkon-vention. Das eine ist das Dachgesetz und das andere sinddie konkreten Durchführungsbestimmungen, in denendie Lastenverteilung definiert wird.
Das heißt, wir haben es einerseits mit der Struktur undandererseits mit der konkreten Zuteilung zu tun. Diesesvernünftige Vorgehen ist in gar keiner Weise kritikwür-dig.Zweitens. Den Vorwurf, es gebe mehr Bürokratie,müssen wir mit aller Entschiedenheit zurückweisen. ImGegenteil gilt: Was Sie vorschlagen, bedeutet mehr Bü-rokratie. Der Vorschlag des Umweltministeriums hin-sichtlich der Übertragungsregelung ist so einfach, dasser an Schlichtheit praktisch nicht mehr zu überbieten ist.Ihr Vorschlag – dazu gehören das doppelte Verfahren,das Sie uns über den Bundesrat aufdrücken wollen, abernicht durchbekommen werden, und inhaltlich die brenn-stoffspezifischen Benchmarks – würde viel mehr Büro-kratie nach sich ziehen. Es ist eindeutig, dass wir dasnicht mitmachen werden.
Drittens. Sie haben so getan, als würden unterschied-liche Zahlen im Raum kursieren.
Das ist nicht zutreffend.
Die Zahl von 508 Millionen Tonnen für das Jahr 1998 istseit langem in der Öffentlichkeit bekannt und ist zwi-schen BMWA und BMU unstrittig.
Insofern geht dieser Vorwurf ins Leere.Ich komme jetzt zu meinen Argumenten. Wenn mansich einmal die Diskussion der letzten Monate anschaut,dann erkennt man, dass das Klimathema aufgrundzweier Aspekte sehr stark im Mittelpunkt gestanden hat.Es geht zum einen um das Thema Sicherheit und zumanderen um das Thema Innovation. Vor wenigen Wo-chen ist ein Szenario bekannt geworden – es wurde inte-ressanterweise im Auftrag des Pentagons entwickelt –,das beschreibt, was ein abrupter Klimawechsel für dienationale Sicherheit der Vereinigten Staaten bedeutenwürde. Dieses Szenario basiert im Wesentlichen auf For-schungen in Deutschland, nämlich auf den Erkenntnis-sen des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung.Stefan Rahmsdorf bekam dafür den höchsten amerikani-schen Wissenschaftspreis.
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Dr. Reinhard LoskeDiesem Szenario kann man entnehmen: Wenn wir inSachen Klimapolitik so weitermachen wie bisher, dannwird es möglicherweise zu einem abrupten Klimawandelkommen, der uns sehr teuer zu stehen kommen könnte.Ich kritisiere – das ist mein Hauptkritikpunkt –, dass Siedie Kosten aufgrund unterlassenen Handelns überhauptnicht berücksichtigen.
Vor wenigen Wochen hat das Fraunhofer-Institutseine zwölf Leitinnovationen vorgestellt. Wenn man sieeinmal systematisch durchgeht, dann kann man ganzklar erkennen: Viele Innovationen, um die es geht, bezie-hen sich unmittelbar auf erneuerbare Energien, dezen-trale Systeme, Energieeffizienz und Energieeinsparung.Diese Innovationen können wir nur mobilisieren undlostreten, wenn wir die Rahmenbedingungen tatsächlichso setzen, dass sie förderlich sind. Wir sollten das ThemaKlimawandel also auch unter dem Aspekt Innovations-anreiz sehen. Diesem Ziel dient der Emissionshandel.Zur Rolle Europas. Die Europäische Union war im-mer der Vorreiter und der Hoffnungsträger in Sachen in-ternationaler Klimapolitik. Wir waren diejenigen, diedas Kioto-Protokoll zusammen mit der G 77 und Japandurchgesetzt haben. Was wir jetzt in Sachen Emissions-handel erleben, ist nichts anderes – Herr KollegePaziorek, vielleicht hören Sie einmal zu – als die Mani-festation des europäischen Willens, die Kioto-Ziele tat-sächlich zu erreichen.
Darum geht es.
Man kann nicht nach dem Motto verfahren: Wasch mirden Pelz, aber mach mich nicht nass!
Ich habe manchmal den Eindruck von Ihnen, dass Sieden Emissionshandel schlagen, in Wahrheit aber denKlimaschutz meinen, sich jedoch nicht trauen, das zu sa-gen.
Wenn man sich anschaut, wie es in den anderen Län-dern aussieht, dann muss man feststellen: Es gibt bereitsin vielen Ländern Nationale Allokationspläne. Die Bri-ten haben einen vorgelegt, der sehr ambitioniert ist undsehr weit geht, sogar über das Kioto-Ziel hinaus. DieFranzosen haben einen vorgelegt, der respektabel ist.Auch bei den Dänen sieht es, obwohl sie noch weit vonder Zielerreichung entfernt sind, ganz respektabel aus.Es gibt aber auch Nationale Allokationspläne – das mussman sagen; dazu gehört nach unserer Einschätzung derösterreichische –, die nicht notifizierungsfähig sind, weilsie sich nicht an den klaren Aussagen des Kioto-Proto-kolls orientieren. Es geht um ein Ziel und um die Errei-chung dieses Ziels. Man kann nicht erst die Emissionenanwachsen lassen und versprechen, dass man später viel-leicht reduziert. Es ist gut, dass die Kommission zuge-sagt hat, dass sie alle Nationalen Allokationspläne gleichstreng behandelt und diejenigen, die nicht schlüssig sind,zurückweist. Das ist ganz wichtig für uns.
Zum nächsten Punkt. Für uns ist ganz zentral und soviel Ehrlichkeit erwarten wir von Ihnen – Uli Kelber hates angesprochen –: Wenn Sie der Industrie mehr Emis-sionen zugestehen wollen und gleichzeitig sagen, dassSie das Kioto-Ziel erreichen wollen, dann müssen Sieauch sagen, wer mehr machen muss und wie das bezahltwerden soll. Denn eines geht nicht: Wir können nicht derIndustrie mehr Rechte zuweisen und gleichzeitig bei denprivaten Haushalten und beim Verkehr mehr Einspa-rungen verlangen, ohne Instrumente anzubieten. Inso-fern ist Ihre Politik überhaupt nicht stimmig.Zwischen 1990 und 1998 haben wir doch folgendeTendenz gehabt: Bei den privaten Haushalten und beimVerkehr stiegen die Emissionen an, bei der Industrie undbei der Energiewirtschaft sanken sie aufgrund des indus-triellen Zusammenbruchs in Ostdeutschland und auf-grund von Modernisierungsinvestitionen. Seit 1999 siehtdie Tendenz anders aus: Im Bereich der privaten Haus-halte und im Bereich des Verkehrs gehen die Emissionenvor allen Dingen aufgrund der Maßnahmen, die wir er-griffen haben, leicht – wenn auch zu langsam – zurückund im Bereich der Energiewirtschaft steigen sie wiederan. Das heißt, jetzt ist die Industrie an der Reihe. Dasmuss man im Sinne von Ausgewogenheit und Gerechtig-keit sehen.
Jetzt konkret zum Emissionshandel. Für uns sind fol-gende Punkte wichtig und ganz zentral:Erstens. Wir brauchen Ziele für beide Perioden, alsofür die Periode 2005 bis 2007 und für die Periode 2008bis 2012, damit wir Planungssicherheit haben. Eskommt in der Tat – das wurde von mehreren Rednern ge-sagt – auf die langen Linien an. Das ist entscheidend. Eskommt, wie Uli Kelber zu Recht sagt, darauf an, wasnach 2012 ist. Wir haben es ja häufig mit Investments zutun, die von der Kapitalbindungszeit her weit über 2012hinaus reichen. Deswegen setzen wir uns für lange Li-nien, für Klarheit auf der langen Linie, für Planungssi-cherheit ein. Das heißt, für die erste und die zweite Peri-ode brauchen wir ein Ziel.Zweitens zur Zielmarke. Für 2005/2007 muss das Ziellauten, deutlich unter 500 Millionen Tonnen CO2-Emissi-onen zu liegen. Das ist ganz klar. Wir erwarten, dass dieIndustrie im Jahr 2012 ihre Zusage einlöst, um 45 Millio-nen Tonnen unter dem Niveau von 1998 zu liegen. Dasist für uns sehr zentral.Zur Architektur. Wichtig ist für uns, dass wir einewirksame Übertragungsregelung haben, die wirklichAnreize für frühe Investitionen und Innovationenschafft. Vor allen Dingen ist auch wichtig – da stimmeich sowohl der Union als auch der FDP zu –, dass wir
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Dr. Reinhard Loskeeine Regelung brauchen, die handhabbar, einfach undunbürokratisch ist und die vor allen Dingen eine geringeMissbrauchsanfälligkeit aufweist. Wir müssen höllischaufpassen, dass keine Fehlanreize dahin gehend gesetztwerden, dass man anfängt, mit dem ganzen Instrumenta-rium zu spielen. Das heißt, Einfachheit und Transparenzsind ganz wichtig.Zum letzten Punkt, zum technischen Benchmark. Ichwill jetzt nicht in die Details gehen. Aber die Wahrheitgebietet es natürlich, auch zu sagen, dass eine Teilstrate-gie des Klimaschutzes die Substitution von kohlenstoff-reichen Energieträgern durch kohlenstoffarme oder koh-lenstofffreie Energieträger ist. Das ist der ganze Sinn desKlimaschutzes. Es wäre gelogen, wenn man sagenwürde, dass das kein Motiv sei. Aber bei der Übertra-gungsregelung – jetzt komme ich zu dem eigentlichenPunkt – gibt es überhaupt keinen technischen Bench-mark. Das heißt – um es einmal konkret zu sagen –, derProfiteur unserer Übertragungsregelung wären RWE undEon.Was die Early Action, also die frühe Reduzierung, be-trifft, sind gerade wir diejenigen, die sagen: Okay, wirerkennen an, was in den neuen Bundesländern geleistetworden ist.
Es geht um das, was in den neuen Bundesländern zwi-schen 1990 und 1998 geleistet worden ist. Das wollenwir ausdrücklich anerkennen.Ich komme zum Schluss. Für uns ist der Emissionshan-del kein Ziel. Der Emissionshandel ist ein Instrument, mitdem wir unserem Klimaschutzziel näher kommen wer-den. Ich darf vielleicht daran erinnern, dass wir alle ein-mal bis zum Jahr 2005 eine Reduktion von 25 Prozenterreichen wollten. Es kommt mir daher ein wenig selt-sam vor, wenn Sie hier von einer angeblichen Überbelas-tung reden.Zum Zweiten muss es Anreize für Investitionen undInnovationen geben. Dafür werden wir streiten. Das gehtauf der Grundlage des Entwurfs, der jetzt im Raum steht.Danke schön.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Dr. Peter Paziorek das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Lieber Reinhard Loske,
Sie haben mich gerade persönlich angesprochen. Ich
möchte die Gelegenheit zur Klarstellung nutzen, damit
der Eindruck, den Sie gewonnen und wiedergegeben ha-
ben, nicht als richtig und dauerhaft im Raum stehen bleibt.
Derjenige, der kritische Fragen stellt – wir haben das
in unseren Redebeiträgen gemacht – und hinterfragt, ob
das Zahlenwerk richtig und damit eine richtige Grund-
lage für die Ausgestaltung des Nationalen Allokations-
plans vorhanden ist, darf nicht zum Handlanger oder zu
jemandem, der die Instrumente der Wirtschaft vorbehalt-
los übernimmt, degradiert werden. Das geht nicht.
Es muss klar und deutlich gesagt werden, lieber
Reinhard Loske, dass zum Beispiel gewaltige technische
Probleme zu lösen sind. Wenn wir den jetzigen CO2-Ausstoß mit 100 Prozent definieren und uns zum Ziel
setzen, im Jahr 2008 oder 2012 92 Prozent zu erreichen,
dann verlangt das gewaltige technische Anstrengungen.
Von der Kalk- und Zementindustrie beispielsweise wis-
sen wir aber genau, dass sie technologisch nicht in der
Lage sind, zu weiteren Einsparungen zu kommen. Daher
stellt sich die Frage: Ist es ein sinnvoller Weg, bestimmte
Industriezweige in Deutschland zu belasten, die sich im
Augenblick technologisch nicht verbessern können?
Diese wären gezwungen, Kosten aufzuwenden, um Zer-
tifikate zu kaufen; damit würde sich die Produktion in
Deutschland verteuern. Das können Sie doch nicht wol-
len; denn das hätte zur Konsequenz, dass zum Beispiel
die Zementproduktion im Ausland günstiger wird. Wir
müssen doch berücksichtigen, dass wir Zement mit dem
Schiff von Australien nach Deutschland bringen können.
Das sind unsere konkreten Fragen. Wir wollen uns
doch nicht vom Emissionshandel absetzen, sondern wir
wollen die offenen Fragen in Ausschuss und Parlament
diskutieren. Derjenige, der das will, ist doch kein Gegner
des Emissionshandels oder gar Handlanger der Industrie,
sondern es handelt sich um jemanden, der bereit ist, über
offene Punkte zu diskutieren, damit wir Umwelt- und
Wirtschaftspolitik zusammenführen können.
Herzlichen Dank.
Zur Erwiderung erhält Herr Dr. Loske das Wort.
Herr Präsident! Lieber Kollege Paziorek, selbstver-ständlich stelle ich Ihre klimapolitische Integrität nichtinfrage. Wie käme ich dazu? Wir ziehen in vielerlei Hin-sicht an einem Strang. Zwei Ihrer Argumente halte ichjedoch nicht für stark, ehrlich gesagt halte ich sie fürfalsch und schwach.Sie haben die Zementindustrie angesprochen. Geradedie Prozessenergie wird komplett mit einem Erfüllungs-faktor eins ausgestattet.
– Doch, das ist der Fall. Das ist auch darauf zurückzu-führen, dass die Industrie anders als die Elektrizitätswirt-schaft tatsächlich auf einem moderaten Pfad nach untenist und deswegen mit der bedarfsgerechten Ausstattungin der ersten Verpflichtungsperiode auskommen wird.Daher ist das Argument, das Sie angeführt haben,schlicht und einfach unzutreffend.
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Dr. Reinhard Loske
– Ich habe es doch genannt: Prozessenergie.
Ihr zweites Argument bezog sich auf das Zwischen-ziel. Wir haben doch das „Endziel“ – ich benutze Gänse-füßchen, weil das Wort Endziel in der deutschen Sprachebelastet ist – oder, anders gesagt, das Abschlussziel2012. Sie sagten: Macht doch keine Zwischenfestlegun-gen, keine Etappenziele. Dazu möchte ich zweierlei fest-halten: Erstens. Wir haben das Etappenziel, das uns dieIndustrie zugesagt hat, und geben noch etwas dazu.Zweitens. Ich möchte Ihnen das Bild des Flusses vor Au-gen führen. Ein Fluss fließt grundsätzlich von oben nachunten. Er mäandriert zwar manchmal ein wenig, das sollund darf er auch, aber er fließt niemals zuerst bergaufund dann bergab. So wollen auch wir das ausgestalten,der Fluss soll von oben nach unten fließen. Dass er zwi-schenzeitlich ein wenig mäandriert, ist vollkommen klar.Es handelt sich schließlich nicht um ein Korsett oder umeinen Schraubstock, sondern um ein Flussbett und indiesem muss er sich bewegen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marie-Luise Dött von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ZumThema Emissionshandel schreibt die „FAZ“ in der letz-ten Woche: „Das Parlament … tappt noch im dunklen.“
Wie wahr! Denn auch die Beantwortung unserer GroßenAnfrage an die Bundesregierung war nicht wirklich er-hellend. Auf unsere detaillierten und sehr konkreten Fra-gen zur nationalen Ausgestaltung des Emissionshandelsgibt die Bundesregierung keine Auskünfte oder vertrös-tet uns auf einen späteren Zeitpunkt. Erst mit der Vorlagedes Nationalen Allokationsplanes soll zu den drängen-den Fragen der Umsetzung Stellung bezogen werden.Dabei hatte das Ministerium, als es unsere Große An-frage beantwortete, schon längst einen Entwurf des Natio-nalen Allokationsplanes in der Schublade liegen. Dennnur einen Tag später wurde den Wirtschaftsvertreternvom Bundesumweltministerium ein erster Entwurf über-reicht. Auch dem Parlament hätte zu diesem Zeitpunktunschwer Auskunft erteilt werden können.
Es ist nur eine Frage des Willens.
Herr Trittin, die unzureichende und späte Antwort aufunsere Anfrage reiht sich nahtlos in die Desinformations-politik ein, die Ihr Haus gegenüber dem Deutschen Bun-destag betreibt. Für mich ist es nicht nur eine Frage derRechtsstaatlichkeit, sondern auch eine Frage von Re-spekt gegenüber der Bevölkerung und gegenüber denVolksvertretern. Es ist eine Frage von Respekt, dem Par-lament die Möglichkeit und auch die Zeit zu geben, sichmit den Inhalten eines Gesetzentwurfes zu befassen, ins-besondere wenn es sich um ein Gesetz handelt, das denArbeitsmarkt und den Wirtschaftsstandort Deutschlandganz erheblich verändern kann. Beides wird uns im Falldes NAP-Gesetzes verwehrt.An dem übereilten Tempo, mit dem Sie das Gesetzdurch die parlamentarischen Gremien schleifen wollen,wird deutlich, wie wenig Ihnen an der Meinung und derEinschätzung des Bundestages liegt.
Durch Ihren unnötig straffen Zeitplan verwehren Sie denAbgeordneten eine dezidierte und fachliche Auseinan-dersetzung mit der Materie.Gleiches spielte sich diese Woche beim TEHG ab. Sie ha-ben erhebliche Änderungsanträge zu dem Gesetzentwurf an-gekündigt. Dem Vernehmen nach soll die administrativeStruktur des Handelssystems völlig neu gestaltet wer-den. Es soll eine Bundeszuständigkeit für die behördli-che Überwachung und Kontrolle etabliert werden. ZurAnberatung des Gesetzes am Mittwoch, also gestern,wurden dem federführenden Umweltausschuss die Än-derungen aber vorenthalten. Die Abgeordneten wurdennicht informiert.
Aber nicht nur durch das enge Zeitfenster, sondernauch durch das äußerst unübliche Gesetzgebungskon-strukt, das Sie für das NAP-Gesetz vorschlagen, miss-achten Sie die Rechte des Parlaments. Herr Trittin, ma-chen Sie uns doch nicht weis, dass der Bundestag beimNationalen Allokationsplan überhaupt noch mitredenkönnte. Wir Abgeordneten – damit spreche ich vor allemauch die Kollegen von der Regierungskoalition an – ha-ben doch gar keine wirkliche Einflussmöglichkeit mehr.
Jeder Änderungsentwurf des Parlaments bedeutetzwangsläufig eine Verzögerung des Zuteilungsverfah-rens im nationalen Bereich. Die Folge sind Wettbe-werbsverzerrungen zulasten unserer Unternehmen. Wermöchte denn das auf sich nehmen?Tatsache ist, dass die entscheidenden Weichenstellun-gen für den Emissionshandel in Deutschland mit derVorlage des Nationalen Allokationsplanes bei der EU-Kommission festgelegt werden. Die Spielräume des Par-laments werden auf null reduziert, wenn es seine Ent-scheidungen inhaltlich auf der Grundlage eines
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Marie-Luise DöttBeschlusses fassen muss, der durch die Vorlage bei derKommission schon bindend ist. Nicht das deutscheParlament entscheidet, wie der Emissionshandel inDeutschland aussehen wird, sondern das Umweltminis-terium in Absprache mit der EU-Kommission.Der Gesetzgeber wird somit faktisch an die Vorgabender Verwaltung gebunden. Das widerspricht dem Grund-satz der Gewaltenteilung und dem demokratischen Prin-zip. Die Sachverständigen haben in der Anhörung desUmweltausschusses sogar von einer Entmachtung desParlaments gesprochen.Dieser faktische Ausschluss des demokratisch ge-wählten Gesetzgebers wiegt umso schwerer, wenn mansich die Folgen, die der Nationale Allokationsplan habenkann, vor Augen führt. Mit der Zuteilung der Bewirt-schaftungsrechte können Sie, Herr Trittin, wesentlich inden Arbeitsmarkt und den WirtschaftsstandortDeutschland eingreifen. Es kann zu Wettbewerbsverzer-rungen und zu Arbeitsplatzverlusten kommen. Schon ge-genüber den anderen EU-Mitgliedstaaten können ein-schneidende Standortnachteile eintreten; denn andereeuropäische Länder haben erheblich geringere CO2-Min-derungslasten übernommen als Deutschland. Hinzukommt, dass Frankreich und die Niederlande die Be-lastungen für ihre Klientel so gering wie möglich haltenwollen. Dadurch haben die französischen und niederlän-dischen Unternehmen gegenüber den deutschen geld-werte Vorteile.Die teilnehmende Industrie, beispielsweise die Stahl-und Chemieindustrie, steht aber nicht nur im europäi-schen, sondern auch im weltweiten Wettbewerb. IhreProdukte konkurrieren mit Produkten aus China, aus denUSA und aus Russland. Diese Länder haben das Kioto-Protokoll nicht ratifiziert. Sie unterliegen also nicht demEmissionshandel und warten nur darauf, die deutschenHersteller über ihre Preise zu schlagen. Mit Ihrer Formdes Emissionshandels spielen Sie, Herr Trittin, diesenWettbewerbern genau in die Hände.
Wenn Sie die Industrie zwingen, über ihre Selbstver-pflichtung hinaus Zertifikate hinzuzukaufen, weil Siezum Beispiel die prozessbedingten Emissionen nicht an-erkennen – was prozessbedingt ist, ist ja noch gar nichtdefiniert –,
können unsere Unternehmen, was die Preise betrifft, in-ternational nicht mithalten. Das hat Folgen für denStandort Deutschland: eine Einschränkung der Produk-tion, eine massive Verlagerung der Produktionsstand-orte, Werksschließungen und damit zwangsläufig einher-gehend Arbeitsplatzverluste. Allein in der Stahlindustriesind in Deutschland 10 000 Arbeitsplätze durch denEmissionshandel bedroht. Diese Arbeitsplätze zu verlie-ren, das können wir uns schlichtweg nicht leisten. Den-ken Sie nur an die Arbeitsmarktzahlen, die heute veröf-fentlicht worden sind.
Angesichts der verheerenden Auswirkungen, die derEmissionshandel in Deutschland haben kann, ist eineBeschneidung der parlamentarischen Rechte bei der na-tionalen Gesetzgebung unverantwortlich.
So, wie Sie, Herr Trittin, es im TEHG beschreiben, siehtein sauberes Gesetzgebungsverfahren nicht aus. Ein sau-beres Gesetzgebungsverfahren hätte dem Parlamentseine Entscheidungsmacht belassen und es bereits vorder Vorlage des Allokationsplans auf europäischerEbene beteiligt. Das, was Sie, Herr Trittin, anstreben, istkein Gesetzgebungsverfahren, sondern eine Farce. Essteht auf verfassungsrechtlich wackeligen Füßen undmissachtet die Rechte des Parlaments. Die Rechte desParlaments zu missachten bedeutet in meinen Augen al-lerdings nichts anderes, als die Bevölkerung zu missach-ten, die dieses Parlament gewählt hat.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Trittin das Wort.
Herr Präsident! Liebe Frau Dött, da Sie so schwereGeschütze aufgefahren haben – Sie haben ja von einerbeabsichtigten Missachtung des Parlaments gespro-chen –, bitte ich Sie, Folgendes zur Kenntnis zu nehmen:Zur Umsetzung dieser Richtlinie, die wir aktiv betriebenhaben, hatten wir einen Monat und wenige Tage Zeit.Daher sind wir zurzeit im Verzug. Die eigentliche Frage,die sich jeder vor dem Hintergrund stellen muss, dasswir alle – auch Sie – dieses Instrument im Prinzip befür-worten, lautet: Hat die Bundesrepublik Deutschland ei-nen ökonomischen Vorteil oder einen ökonomischenNachteil, wenn wir diese Richtlinie nicht fristgemäß um-setzen, wenn also deutsche Unternehmen nicht ab dem1. Januar 2005 am Emissionshandel teilnehmen können?Diese Frage beantworte ich ganz ruhig und übrigensauch im Konsens mit der Industrie. Ich sage, dass wirdavon keinen Vor-, sondern einen Nachteil haben wer-den.Wenn deutsche Unternehmen aber ab dem 1. Januar2005 teilnehmen können, dann muss im Herbst, also am30. September, dieses Jahres mit der Zuteilung der Zer-tifikate begonnen werden; denn selbstverständlich mussdie Zuteilung rechtsfest geschehen. Wenn es aber zum30. September dieses Jahres zur Verteilung der Zertifi-kate kommen soll, dann muss schon heute klar sein, werüberhaupt – nicht, was die Menge, wohl aber, was denGrundsatz betrifft – die Berechtigung hat, an der Zutei-lung teilzunehmen.Ihrer Mehrheit im Bundesrat werfen wir vor, dass siedie einfache Feststellung, dass deutsche Unternehmenam Emissionshandel teilnehmen dürfen, blockiert, in-dem sie nicht entscheidet. Es wurde auch nicht etwa eineandere Entscheidung herbeigeführt, sondern man hatsich schlicht und einfach vertagt. Das nenne ich Miss-achtung der Interessen der deutschen Wirtschaft.
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Jürgen TrittinEine weitere Bemerkung. Wir haben Ihnen immer ge-sagt: Auch wir hätten uns ein anderes Verfahren ge-wünscht. Aber wegen des Zeitrasters der Richtlinie undder Umsetzung derselben bleibt kein anderer Weg, alszunächst einmal die Frage der Verteilregeln zu definie-ren. Dann werden wir – es gibt mehrere Äußerungenvon mir hier im Hause, die Sie alle nachlesen können –diesen Nationalen Allokationsplan quasi unter dem Vor-behalt der Ratifizierung durch das Parlament nach Brüs-sel melden. Ich sage Ihnen eines in aller Deutlichkeit:Wenn der Deutsche Bundestag zu dem Ergebnis kommt,dass er die eine oder andere Regel anders gestalten will– Sie werden nicht nur über die Menge, sondern auchüber die grundsätzlichen Regeln zu entscheiden haben –,und dass er dem einen oder anderen mehr zuteilen will,werden wir dieses in Brüssel nachnotifizieren.
Herr Kollege Trittin, die Zeit ist vorbei.
Den Vorwurf, wir würden das Parlament missachten,
muss ich aus diesem Grunde mit aller höflichen Ent-
schiedenheit zurückweisen.
Zur Erwiderung Frau Kollegin Dött.
Sehr geehrter Herr Minister Trittin, was ich besonders
bemängele, ist, dass Sie zwar immer von Transparenz
und von Schnelligkeit reden, dass aber diese Transpa-
renz einfach nicht da ist. Es kann doch nicht sein, dass
die beteiligten Unternehmen nur teilweise Unterlagen
haben, wir als Abgeordnete sogar überhaupt keine. Wir
sollten zum Beispiel gestern im Ausschuss über ein deut-
sches TEHG beraten, sogar abschließend beraten. Wir
haben uns für eine „Anberatung“ entschieden, weil über-
haupt nichts vorlag, wir somit über Luft debattieren soll-
ten. Daher müssen Sie uns doch bitte gestatten, dass wir
das anmerken, da wir uns als Volksvertreter nicht ernst
genommen fühlen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren!Lassen Sie mich zu dieser letzten Debatte noch das eineoder andere hinzufügen. Die Oppositionsparteien habensich jetzt im Wesentlichen auf die Frage konzentriert, obdas Parlament in geeigneter Form einbezogen wordenist. Auch ich habe selbstverständlich meine Besorgnisdarüber zum Ausdruck gebracht, dass das Parlamentdurch das außerordentlich enge Zeitraster eine zu ge-ringe Mitbeteiligungsmöglichkeit gehabt hat. Ich habe esaber peinlichst vermieden, hieraus einen Vorwurf an dieBundesregierung zu konstruieren, denn das Zeitrasterkommt aus Brüssel. Natürlich ist es von der Bundes-regierung mitbeschlossen worden; das ist völlig klar.Aber es drängt ja auch, dass wir mit dem Klimaschutzbis 2005 endlich anfangen.Natürlich hätten wir uns ein parlamentarisches Ver-fahren gewünscht und wir verlangen es weiterhin, beiwelchem eine öffentliche Anhörung über den Alloka-tionsplan stattfindet. Dieses kann aber doch nicht auf derBasis eines Referentenentwurfes eines Hauses gesche-hen. Ein solcher ist jedoch das Einzige, was gegenwärtigvorliegen könnte. Wir sind also aus praktischen Gründengar nicht in der Lage, all dieses vor dem 31. März abzu-wickeln.Ich habe den Parlamentsvorbehalt, auf den HerrKelber schon hingewiesen hat, dem Herrn Minister ge-genüber noch einmal deutlich gemacht. Er hat soebenbestätigt, dass er diesen außerordentlich ernst nimmt; da-für bin ich dankbar. Dankbar bin ich auch der CDU/CSU-Fraktion für ihre Große Anfrage, die uns die Mög-lichkeit gibt, jetzt, im März, noch einmal über die wich-tige Frage des Klimaschutzes miteinander zu sprechen.Der Ausgangspunkt dieser Debatte ist selbstverständ-lich der Klimaschutz selbst. Das haben viele Redner ge-sagt. Der Abgeordnete Loske hat schon auf die Penta-gon-Studie hingewiesen. Ich gestatte mir noch zuergänzen: Wir wissen seit 20 Jahren, dass die vom Men-schen verursachten Treibhausgasemissionen eine we-sentliche Klimaveränderung bewirken. Wir wissen über-dies, wenn auch erst seit kurzem, dass die polarenEismassen nicht automatisch mechanisch stabil sind. Dasind möglicherweise so genannte nicht lineare plötzlicheEreignisse zu befürchten, die dann natürlich einen Mee-resspiegelanstieg von 5, 10 oder 15 Metern bedeutenkönnen. Dann wäre Holland in Not, aber zusätzlich wä-ren es auch Ägypten, Bangladesch, Hamburg, Venedigund alle möglichen anderen Regionen. Diese Dimensionist letzten Endes wichtiger als die Frage, ob die Aktio-näre von 20 bis 30 Firmen glücklich sind. Das müssenwir uns einfach immer wieder vergegenwärtigen.
Die CO2-Reduzierung um 21 Prozent, die FrauDr. Merkel 1997 als damalige Umweltministerin inKioto als Verpflichtung Deutschlands zugesagt hat, ha-ben wir, wie schon gesagt wurde, bereits zum allergröß-ten Teil erreicht; es geht jetzt nur noch um 2 Prozent. Eswar die Basis der Selbstverpflichtung der deutschenIndustrie, mit diesem Kioto-Ziel konform zu gehen.Diese Selbstverpflichtung – das hat der Minister gesagt –war die Basis für die Empfehlung, die aus seinem Hausekommt, Emissionslizenzen auf der Basis der Emissionender Jahre 2000 bis 2002 kostenlos zuzuteilen. Wenn derBundesverband der Deutschen Industrie dieses Vorgehendes BMU als eine Art ökologischen Angriff auf dieWettbewerbsfähigkeit versteht, dann kann das nur aufVorurteilen gegenüber der Bundesregierung oder demgrünen Umweltminister beruhen.
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Dr. Ernst Ulrich von WeizsäckerIch habe eher das Gefühl, dass die Vorgabe des Bun-desumweltministers zu strukturkonservativ ist. Wenndas, was 2000 bis 2002 Realität war, sozusagen ge-schenkt und als Basis für den künftigen Handel genom-men wird, dann muss man sagen: Wir sind fast schon soschlimm wie die Österreicher. Nur, die Österreicher lie-fern etwas nach Brüssel, was dort gar nicht akzeptiertwerden kann und darf. Ich enthalte mich aber einer Kri-tik in Richtung Strukturkonservativismus gegenüberdem Minister, erstens weil ich die politische Gemenge-lage kenne und zweitens weil ich weiß, dass doch nocheine Strategie zustande kommen wird, bei der das Emit-tieren von CO2 einen Preis hat. Das ist auch zwingendnotwendig; denn ansonsten ist – wie vom Minister be-reits ausgeführt – gar kein Anreiz zu Effizienz da.Gewiss haben wir in den letzten Wochen eine Überra-schung erlebt, als wir erfuhren, dass die industriebezoge-nen CO2-Emissionen der letzten drei Jahre trotz Wirt-schaftsflaute ganz erheblich zugenommen haben. Wennman das im Einzelnen analysiert, dann stellt man aberfest, dass das in keiner Weise eine geeignete Begrün-dungsbasis für die Industrie ist, nun Besorgnis gegen-über ihren eigenen Selbstverpflichtungen zu haben; denndie Industrie im engeren Sinne hat ihre Emissionen wei-ter reduziert. Lediglich bei der Stromwirtschaft stellenwir einen erheblichen Anstieg der CO2-Emissionen fest.Dieser Anstieg basiert auf zwei Faktoren: Erstens fandeine Verschiebung in Richtung Braunkohle statt – wasnicht unbedingt notwendig ist – und zweitens hatDeutschland 8 Milliarden Kilowattstunden pro Jahr ex-portiert. Auch das ist nicht unbedingt ein Zeichen vonstrukturellem Fortschritt. Wir brauchen nicht unbedingtein Stromexportland zu sein.Lassen Sie mich etwas systematischer auf die Frageeingehen, was wir uns eigentlich industriepolitisch vor-nehmen müssen, um mit dem Thema Klimaschutz ange-messen umzugehen. Wir müssen – das wird auch vonDr. Paziorek und von anderen gesagt – Umwelt und In-dustrie, Umwelt und Wirtschaft zusammenbringen. Dasheißt, wir als Hightechland müssen sehen, dass wir dieAbkopplung des Wohlstands von CO2-Emissionen zu-stande bringen. Hightech heute bedeutet etwas ganzanderes als Hightech vor 40 Jahren. In den letzten40 Jahren hat zum Beispiel die Energieintensität der che-mischen Industrie in Deutschland um mehr als den Fak-tor vier abgenommen. Das wird noch weiter gehen. Wirbrauchen noch einmal einen Faktor vier für die Abkopp-lung des Wohlstands von den CO2-Emissionen. Dasmuss aber einmal in Gang gesetzt werden. Dafür brau-chen wir den entsprechenden Anreiz.
Natürlich hat der BDI und haben auch die Opposi-tionsparteien Recht mit der Aussage, dass die CO2-Min-derungsleistung nicht allein aus der Industrie kommenkann, sondern dass Haushalte und Verkehr mit beteiligtsein müssen.Ich bin der Opposition für die Frage dankbar, die sieim Rahmen ihrer Großen Anfrage an die Bundesregie-rung gestellt hat, ob nämlich diese Sektoren in das Emis-sionshandelssystem einbezogen werden können. Es warvöllig richtig, diese Frage zu stellen. Die Antwort derRegierung ist aber ebenfalls richtig. Sie sagt, man müssesich vorstellen, was es bedeuten würde, 37 MillionenHaushalte und 45 Millionen PKWs im Einzelnen zu er-fassen. Wenn das keine Bürokratie ist, dann möchte ichnicht wissen, was Bürokratie ist! Das heißt, wir müssenuns hierfür etwas ganz anderes ausdenken. Von HerrnKelber und anderen wurde dazu Entsprechendes gesagt.Sollte die Opposition vorschlagen, dies mit einer bruta-len Ökosteuer zu leisten, dann möchte ich gerne sehen,wie die Medien darauf reagieren.Wir kommen nicht darum herum, die Verminderungvon Treibhausgasemissionen bei gleichzeitigem Wohl-standszuwachs und technischem Fortschritt sehr ernst zunehmen. Es wäre vollkommen verfehlt, wenn wir dieseStrategie im Wesentlichen hasenfüßig und mit einemängstlichen Betrachten der Industriestruktur der Vergan-genheit angehen würden. Gehen wir sie stattdessen mitMut und mit Zutrauen hinsichtlich der Modernisierungs-fähigkeit der deutschen Wirtschaft an! Das wäre diesemThema und der heutigen Debatte angemessen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdiskutieren heute über ein Gesetz, durch das der Handelmit Emissionen, also der Handel mit Umweltverschmut-zungen ermöglicht werden soll. Wir reden über ein Mit-tel zum Zweck. Deshalb stellt die PDS im Bundestagauch den Zweck voran. Es geht darum, den CO2-Ausstoßweltweit und hierzulande deutlich zu reduzieren. Das istnotwendig, um eine Klimakatastrophe zu verhindern,und das eilt, damit es nicht tatsächlich zu spät ist. MeinVorredner hat ja schon einige Szenarien angesprochen.Die jüngste Warnstudie aus den USA wurde hier be-reits angeführt. Im Gegensatz zu den Grünen berufe ichmich allerdings nicht auf die CIA oder das Pentagon.Dazu fehlt mir nicht erst seit dem Irakkrieg der Glaubean den amerikanischen Geheimdienst.
Überhaupt sind die USA in Sachen Klima- und Umwelt-schutz das Gegenteil von guten Ratgebern. Sie taugennicht einmal als Beispiel.Es gibt aber genug andere Zeugnisse und Zeugen. Ei-ner davon ist sogar CDU-Mitglied. Ich meine KlausTöpfer. Der UNO-Umweltchef drängt: „Niemand zwei-felt, dass ein Klimawandel stattfindet“. Er spricht von ei-ner „ökologischen Aggression der Reichen gegen dieArmen“ und er fasst richtig zusammen: „Klimapolitik istFriedenspolitik“. Liebe Kolleginnen und Kollegen vonder CDU/CSU, schon deshalb verdient er Respekt, wasich beileibe nicht zu allen Kandidaten sagen kann, die
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Petra PauSie in den letzten Tagen in der Debatte über das Amt desBundespräsidenten genannt haben.
Der europäische Handel mit Emissionsrechten sollnun im Januar 2005 beginnen. Deshalb debattieren wir jaauch über die deutschen Regeln. Das Ziel ist klar: Ver-glichen mit dem Jahr 1998 soll der CO2-Ausstoß bis2010 um 45 Millionen Tonnen reduziert werden. So lau-tete jedenfalls die Selbstverpflichtung der deutschenIndustrie. Ich finde, es darf kein Zurück dahinter geben.Auch das Grundprinzip des Emissionshandels istübersichtlich: Wer das Klima weniger belastet, als ihmzugestanden wird, kann mit seinen Anteilsscheinen han-deln und so noch ein Plus erwirtschaften. Wer das Klimaaber über Gebühr belastet, der muss zusätzliche Anteils-scheine kaufen; er zahlt drauf.Das ist also ein Versuch, der Umweltverschmutzungmit marktwirtschaftlichen Mitteln beizukommen. Er istauch unter den Linken nicht unumstritten; denn dasKlima ist nun einmal ein Allgemeingut und keine Han-delsware. Noch erstaunlicher ist allerdings, dass sichausgerechnet die Wirtschaft weigert, in diesem Bereichmarktwirtschaftlich zu agieren; denn von ihr kommenderzeit die übelsten Widerstände gegen ein Emissions-handelsgesetz. Es wird um jede Tonne CO2-Ausstoßgeschachert, die nicht abgebaut werden muss. Die Wirt-schaft versucht, mit Extratricks Extraprofite zu ergau-nern, als ginge es nicht um eine alle betreffende, eineglobale Herausforderung.Dabei bilden sich ganz „ungewöhnliche Koalitionen“,wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 25. Fe-bruar schrieb: Auf der einen Seite protestieren die Ge-werkschaften im Verein mit den Wirtschaftsverbändenund Bundeswirtschaftsminister Clement. Auf der ande-ren Seite agieren Umweltverbände und Klimaschützermit Umweltminister Trittin. – Das macht es nicht leich-ter. Es zeigt aber auch: Im ökologischen „Friedens-kampf“, wie Klaus Töpfer meint, geht der Riss mittendurch Rot-Grün.Hinzu kommt: In den letzten Jahren hat der CO2-Aus-stoß durch die deutsche Wirtschaft nicht ab-, sondern zu-genommen, und zwar trotz der Rezession in den zurück-liegenden drei Jahren. Ich möchte noch an etwas andereserinnern. Die deutsche Wirtschaft hält sich zugute, seit1990 die Umwelt bereits drastisch entlastet zu haben.Das stimmt. Das liegt aber fast ausschließlich daran,dass CO2-Schleudern im Osten stillgelegt wurden undobendrein Konkurrenz aus den neuen Bundesländern ab-gewickelt wurde.Die eigentliche Klimaschutzleistung steht uns alsonoch bevor. Vor diesem Hintergrund geschehen aller-dings seltsame Dinge. Da garantiert WirtschaftsministerClement der CO2-trächtigen Kohleindustrie West aufJahre hinaus milliardenschwere Subventionen. Zugleichattackiert dieser Minister die Förderung erneuerbarerEnergien. Das ist keine Innovation. Das ist Klientelpoli-tik auf Kosten von allen.
Abschließend: Der Emissionshandel ist kein Wunder-mittel. Er kann bestenfalls Teil in einem Mix verschiede-ner Instrumente sein. Vornan steht alles, was den Ener-gieverbrauch tatsächlich senkt. Hinzu kommt: SolareEnergien müssen Vorrang vor fossilen und atomarenEnergien haben. Natürlich dürfen Klimakiller nicht nochvergoldet werden. Vielmehr müssen sie dringend redu-ziert werden.Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Franz Obermeier von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es istwichtig, dass wir heute eine Debatte über den Emis-sionshandel und die entsprechenden Gesetze sowie dieFragen des Nationalen Allokationsplans führen. Wir sol-len die Gelegenheit nutzen, die Bundesregierung nocheinmal eindringlich darauf hinzuweisen, dass die Ge-setze, die wir umzusetzen haben, enorm wichtig sind.Ich möchte betonen, dass wir als CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion sowohl zu den Zielen des Klimawandels alsauch zu dem marktwirtschaftlichen Instrument des Zerti-fikatehandels stehen. Wenn wir allerdings das Gesetzge-bungsverfahren betrachten, beschleichen uns große Sor-gen, weil wir Angst haben, dass die Bundesregierungdiese Gesetze in der gleichen Art wie beispielsweise diePfandpflicht oder die ganze Geschichte mit der Mautvollzieht. Diese Angst steckt in uns. Deswegen möchtenwir auf das Angebot, Herr Bundesumweltminister, gernzurückkommen, Ihnen bei der Abfassung der notwendi-gen Gesetze zu helfen. Aber so, wie die Dinge stehen,bleibt uns kaum Raum und Zeit, diese Themen im Ein-vernehmen vorzubereiten und dem Parlament vorzule-gen.Der Emissionshandel soll ab Januar 2005 beginnen.Er wird einen ganz entscheidenden Einfluss auf diedeutsche Volkswirtschaft haben. Ich habe die großeSorge, dass dieses Element seitens der Bundesregierungnicht gesehen wird.Herr Bundesumweltminister, Sie haben uns vor eini-ger Zeit erklärt, dass der Zertifikatehandel für die deut-sche Volkswirtschaft kostenneutral sein wird. Heute warIhre Aussage schon wesentlich differenzierter. Nach al-lem, was wir von der betroffenen Wirtschaft hören, wirdes mit der Kostenneutralität nicht mehr so weit her sein.Ich habe konkrete Fälle in meinem Wahlkreis. Beispiels-weise hat ein relativ kleines Steinkohlekraftwerk ausge-rechnet, dass ihm durch die Maßstäbe 2000 bis 2002 beieinem angenommenen Preis von 10 Euro ein Kosten-nachteil von 3 Millionen Euro entsteht. Das ist genau der
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Franz ObermeierBetrag, den das Energieversorgungsunternehmen andiesem Standort in den letzten Jahren an Personalkosteneingespart hat. Da ist von Kostenneutralität keine Redemehr.Jetzt stellt sich die Frage, wie man derartige Elementeminimieren oder ganz ausschalten kann. Das scheint mireinigermaßen schwierig zu sein. Tatsache ist, dass nachdem Mengengerüst bei den CO2-Emissionen die Bun-desrepublik Deutschland die Reduktionsverpflichtungenauch erfüllen würde, wenn wir jetzt keinen Zertifika-tehandel einführen würden. Das bedeutet, dass wir ab2005 eigentlich recht behutsam an den Zertifikatehandelherangehen könnten,
ohne dass wir unsere zugesagten Reduktionsverpflich-tungen verletzen würden.Was will ich damit sagen? Ich will damit sagen, dassdie Situation für meine Begriffe schon schwierig ist.Denn die für Energie zuständige Kommissarin der Euro-päischen Kommission sagte dieser Tage, dass man sehrwohl Überlegungen anstellen muss, wenn das Kioto-Protokoll keine völkerrechtliche Verbindlichkeit er-langt, der Zertifikatehandel auf Europa beschränkt bleibtund zu erwarten ist, dass die Zertifikate einen höherenPreis haben werden. Die Kommissarin de Palacio sprichtvon einem so genannten Plan B. Mich würde schon inte-ressieren, was das bedeutet. Heißt das, dass sich dieEuropäische Union von dem Ziel, die Gesamtmenge um8 Prozent zu reduzieren, verabschiedet?
– Das ist eine Äußerung aus den jüngsten Tagen voneiner für meine Begriffe wichtigen Kommissarin. Dasstellt uns vor das Problem, dass wir für die deutscheWirtschaft Wettbewerbsverzerrungen in Kauf nehmenmüssen. Ich bitte Sie, Herr Bundesumweltminister, daszu verhindern.Lassen Sie mich noch einen Punkt anschneiden, dermir wichtig erscheint. Es zeigt sich jetzt bei der Debatteüber die Energiepolitik und die Energiewirtschaft, dasses von größtem Nachteil ist, dass die Bundesregierungfünf Jahre lang kein Energiekonzept vorgelegt hat.
Herr Kollege Obermeier, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Kelber?
Ich kann es ihm nicht abschlagen.
Bitte schön, Herr Kelber.
Vielen Dank, Herr Kollege. Ich möchte Sie fragen, ob
Ihnen die Studie der Dresdner Kleinwort Wasserstein be-
kannt ist. Sie haben gerade von Wettbewerbsverzerrun-
gen gesprochen und vorhin das Beispiel eines Kraft-
werks erwähnt, das vermutlich zu Eon gehört, da Sie von
Ihrem Wahlkreis gesprochen haben.
Schon auf der ersten Seite dieser Studie vom
2. Februar 2004 heißt es sinngemäß: Im Hinblick auf
den Nationalen Allokationsplan in Deutschland schätzt
man dessen Auswirkungen so ein, dass der Gewinn
von Eon um 15 Prozent gegenüber der bisher
allgemein erwarteten Entwicklung ansteigen wird.
Herr Kollege Kelber, ich kenne diese Studie. Im Un-terschied zu Ihnen bin ich aber nicht so studiengläubig.Denn ich habe schon viele Erfahrungen damit, was Wis-senschaftler in Studien festgelegt und was Analysten ge-sagt haben.Schauen Sie sich an, was sich in unserem Land ab-spielt! Ich würde Ihnen – Sie sind ja, wie Sie selber sa-gen, auch Wissenschaftler – dringend raten, sich mit denobjektiven Zahlen der vergangenen Jahre auseinander zusetzen und die weitere Entwicklung einigermaßen abzu-schätzen.Ich komme auf das Energiekonzept zurück. Wirbrauchen in der Bundesrepublik Deutschland dringendein Energiekonzept, um denen Planungssicherheit zubieten, die investieren wollen. Ich drücke mich deswe-gen so vorsichtig aus, weil das nicht nur die Energiever-sorgungsunternehmen betrifft, sondern auch diejenigen,die im Bereich der erneuerbaren Energien investieren.Auch sie müssen wissen, wie die Energiepolitik in derBundesrepublik Deutschland mittel- und langfristig aus-sehen wird.Lassen Sie mich noch etwas zu Ihrer Aussage anmer-ken, Herr Trittin, dass die Länder eine entsprechendeRegelung blockieren. Ich habe nicht an den Beratungenim Bundesrat und in den zuständigen Ausschüssen teil-genommen. Aber aus dem, was mir aus den Ministerienzugeleitet wird, schließe ich, dass ausschließlich Sie undIhre Mitarbeiter an dem Desaster schuld sind. Ich habedeswegen die große Sorge, dass Sie das wichtige Anlie-gen des Zertifikatehandels genauso vergurken wie diePfandpflicht im Bereich der Mehrwegregelungen unddass Sie Ihr Vorhaben gegenüber den Ländern mit der-selben Arroganz umsetzen, statt mit ihnen auf einenKonsens hinzuarbeiten.Lassen Sie mich noch etwas zu Ihren Ausführungensagen, Herr Kelber. Es stimmt nicht, dass seit den 80er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland keine Kraft-werke mit erheblich höheren Effizienzgraden gebautworden sind. Vor meiner Haustür wurden in dem Zeit-raum, von dem Sie gesprochen haben, vier Kohlekraft-blöcke abgebrochen und ein neuer, moderner und größe-rer Kohlekraftblock errichtet. Später kam noch einegroße Kraft-Wärme-Kopplungsanlage für einen großenWärmeverbraucher hinzu. Es gab in diesem Zeitraum
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Franz Obermeieralso durchaus zielorientierte Investitionen, die uns vor-angebracht haben.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir brauchen eine
vernünftige Basis für die Diskussion der Gesetze und wir
brauchen in der Bundesrepublik Deutschland ein Ener-
giekonzept, um das Thema vernünftig beurteilen zu kön-
nen. Zu beidem ist die Bundesregierung nicht in der
Lage. Deswegen sehen wir der zukünftigen Entwicklung
in der Energiewirtschaft mit großer Sorge entgegen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Wilfried Schreck von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der hei-ßen Luft, die einige der Kollegen aus der Opposition ab-gelassen haben, hätten wir schon einen schwunghaftenHandel beginnen können.Aber im Ernst: Es wurde über die Theorie des Klima-schutzes und über Formalismen bei der Gesetzgebungdiskutiert. Ich denke, auf den wesentlichen Aspekt desparlamentarischen Vorbehalts ist mein Kollege vonWeizsäcker ausführlich eingegangen. Es ist sicherlich al-len klar geworden, dass wir diese Debatte in aller Kürzefortsetzen werden, dass wir also noch ausreichend Gele-genheit haben, uns hierüber auszutauschen.Der Hintergrund der heutigen Debatte ist offenkundigdie völlig abwegige Annahme der Union, dass die Bun-desregierung mit der Einführung des Emissionshandelsfinstere Absichten zulasten des WirtschaftsstandortesDeutschland im Schilde führt. Darauf kann man wohlnur kommen, wenn man glaubt, dass man aus den nochfehlenden rund 2 Prozent Emissionsminderung bis zumJahr 2012 der deutschen Wirtschaft im Allgemeinen undder deutschen Industrie im Besonderen einen Strick dre-hen kann. Daran hat jedoch wirklich niemand ein Inte-resse und ich bezweifle auch, dass das überhaupt mög-lich wäre; denn bis 2012 ist die Erreichung des Kioto-Ziels von 21 Prozent Teil des gewöhnlichen Geschäfts-ablaufs, also das, was wir bei normaler Entwicklung vonWachstum und Effizienz erwarten können.Bis 2012 brauchten wir – an dieser Stelle haben dieKritiker Recht – in Deutschland überhaupt keinen Emis-sionshandel. Aber gerade in dieser Feststellung liegt derspringende Punkt. Wir brauchen den Emissionshandelals ein kosteneffizientes Klimaschutzinstrument für dieZeit nach 2012.
Das bedeutet: Wir brauchen möglichst zügig Klarheitdarüber, wohin die Reise geht, und zwar national, aberauch international; denn es ist die internationale Di-mension des Klimaschutzes, die das internationale In-strument des Emissionshandels so interessant macht. DieAuswirkungen des Emissionshandels auf die deutscheWirtschaft sind also in meinen Augen bis 2012 relativmoderat.Wichtig und entscheidend ist, möglichst noch in die-ser Legislaturperiode eine Verständigung über die langeLinie des Klimaschutzes – der Kollege Loske hat daraufschon hingewiesen – zu erzielen,
und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch und ge-rade innerhalb Europas, in der EU, die zukünftig nichtmehr 15, sondern 25 gleichberechtigte Mitglieder habenwird. Das wird sicherlich nicht einfach sein. Dennoch istdas von ganz grundlegender Bedeutung; denn damitschaffen wir genau das, was die Wirtschaft, insbesonderedie Industrie, und die Verbraucher nicht ohne Grund vonuns einfordern: Klarheit über die längerfristigen Rah-menbedingungen für Investitionen in den Energiesek-tor. Allerdings sollte uns dabei auch bewusst sein, dassPolitik in einem liberalisierten Wettbewerbsmarkt nurrelative Planungssicherheit für überschaubare Zeiträumeschaffen kann. Alles andere wäre übrigens Planwirt-schaft und zudem eine etwas merkwürdige Vollkaskoan-spruchshaltung, mit der unternehmerisches Risiko mög-lichst vollständig bei der Politik abgeladen werden soll.
Sinnvoll kann es jedoch sein – zumindest für die Peri-ode, die von der EU-Richtlinie abgedeckt ist, also bis2012 –, eine klare Zielfestsetzung vorzunehmen. Damitwäre schon ein gutes Stück Berechenbarkeit geschaffen.Wir werden bei den anstehenden Beratungen über denEmissionshandel darauf achten, dass ausreichende An-reize für Investitionen, für Modernisierung und fürWertschöpfung in Deutschland gesetzt werden. Es kanndabei weder um Strukturbrüche noch um die Zementie-rung des Status quo gehen. Das bedeutet auch, dass kli-mapolitische Vorleistungen anerkannt werden müssenund dass Effizienz zum Beispiel bei der Modernisierungund dem Neubau von Kraftwerken belohnt und nicht ab-gestraft wird.
Wer eine hoch effiziente Stromproduktion betreibt, mussbesser ausgestattet werden als derjenige, der das „gol-dene Ende“ abgeschriebener Kraftwerke hat. Es wäreenergie- und volkswirtschaftlich unsinnig, wenn die Be-treiber neuer Anlagen Zertifikate zukaufen müssten.Neue Anlagen stehen in erster Linie in Ostdeutsch-land, aber nicht ausschließlich. Allerdings ist die bishe-rige Reduktionsleistung bei den Klimagasen von rund19 Prozent, derer wir uns im europäischen Vergleich ge-meinsam rühmen, fast vollständig im Osten erbrachtworden, und zwar zum einen durch die schmerzliche De-industrialisierung – übrigens, Herr Dr. Lippold, nicht nurin der Lausitz – und zum anderen durch die Modernisie-rung der Energiewirtschaft. Die modernsten Braunkohle-
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Wilfried Schreckkraftwerke der Welt kann man bei Anwendung techni-schen und kaufmännischen Sachverstands nicht schonwieder verbessern. Die Branche ist nach vielen schwieri-gen Jahren endlich stabil und ein wichtiger Wirtschafts-faktor.Wer ernsthaft an einer Belebung des Ostens interes-siert ist, kann den Zugpferden nicht neue Lasten aufbür-den. Wer in den 90er-Jahren seine Anlage nach demStand der Technik erneuert hat, muss bis 2012 von Zu-käufen freigestellt werden. Dies gilt gleichermaßen fürOst und West. Aber auch für die Industriezweige, dieProzessenergie benötigen, wird eine angemessene Rege-lung gefunden werden müssen, damit es zu keinen Ver-werfungen kommt und damit Wirtschaftswachstum nichtbestraft wird. Wenn wir den Emissionshandel unter denLeitgedanken der Effizienz und des Anreizes von Inves-titionen stellen, dann wird es uns gelingen, auch durchdieses moderne und neue Instrument einen Beitrag zurModernisierung unserer Wirtschaft und zur Aktivie-rung von Innovationen, also zur Gestaltung des Struktur-wandels zu leisten.
Auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,sind herzlich eingeladen, daran mitzuwirken.Danke.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitauf Drucksache 15/2533 zu dem Antrag der Fraktion derCDU/CSU mit dem Titel „Nationalen Allokationsplanals Parlamentsgesetz gestalten“. Der Ausschuss emp-fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1791 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Ent-haltung der FDP-Fraktion und der fraktionslosenAbgeordneten Petra Pau angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 k sowiedie Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Siche-rung der nachhaltigen Finanzierungsgrund-lagen der gesetzlichen Rentenversicherung
– Drucksachen 15/2562, 15/2591 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurNeuordnung der einkommensteuerrechtlichenBehandlung von Altersvorsorgeaufwendungen
– Drucksachen 15/2563, 15/2592 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-gelung des Rechts der Erneuerbaren Energienim Strombereich– Drucksachen 15/2539, 15/2593 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Uniond) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über denHandel mit Berechtigungen zur Emission von
– Drucksache 15/2540 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unione) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurVereinfachung der Wahl der Arbeitnehmer-vertreter in den Aufsichtsrat– Drucksache 15/2542 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeitf) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-führung einer Repräsentativstatistik über dieBevölkerung und den Arbeitsmarkt sowie die
– Drucksache 15/2543 –
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsÜberweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeitg) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der inRom am 17. November 1997 angenommenenFassung des Internationalen Pflanzenschutz-übereinkommens– Drucksache 15/2544 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheith) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 19. August 2002 zwischenden Vertragsstaaten des Übereinkommens zurGründung einer Europäischen Weltraumorga-nisation und der Europäischen Weltraum-organisation über den Schutz und denAustausch geheimhaltungsbedürftiger Infor-mationen– Drucksache 15/2545 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungi) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung des Beschlusses des Rates
vom 2. Oktober 2003 zur Änderung vonArt. 40 Abs. 1 und 7 des Übereinkommens zurDurchführung des Schengener Übereinkom-mens vom 14. Juni 1985 betreffend denschrittweisen Abbau der Kontrollen an den ge-meinsamen Grenzen– Drucksache 15/2546 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Innenausschussj) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-tokoll Nr. 13 vom 3. Mai 2002 zur Konventionzum Schutz der Menschenrechte und Grund-freiheiten über die vollständige Abschaffungder Todesstrafe– Drucksache 15/2549 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfek) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzunghier: TA-Projekt: Biometrische Identifikations-systeme – Sachstandsbericht– Drucksache 14/10005 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZP 3a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-führung von Verordnungen der EuropäischenGemeinschaft auf dem Gebiet der Gentechnikund zur Änderung der Neuartige Lebensmit-tel- und Lebensmittelzutaten-Verordnung– Drucksache 15/2520 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Horst Friedrich ,Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPNationale Küstenwache schaffen– Drucksache 15/2581 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/2540 sollzusätzlich an den Finanzausschuss überwiesen werden.Zu dem Gesetzentwurf auf Drucksache 15/2520 liegt in-zwischen auf Drucksache 15/2597 die Gegenäußerungder Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundes-rates vor, die – wie der Gesetzentwurf – überwiesenwerden soll. Die Vorlage auf Drucksache 15/2581 sollzusätzlich an den Rechtsausschuss, an den Finanzaus-schuss, an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernäh-rung und Landwirtschaft und an den Ausschuss für dieAngelegenheiten der Europäischen Union überwiesenwerden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 f auf.Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 24 a:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsFinanzierung der Beseitigung von Rüstungsalt-lasten in der Bundesrepublik Deutschland
– Drucksache 15/1888 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-ausschusses
– Drucksache 15/2434 –Berichterstattung:Abgeordnete Steffen KampeterWalter SchölerAnja HajdukDr. Günter RexrodtDer Haushaltsausschuss empfiehlt auf Drucksache15/2434, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte dieje-nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegendie Stimmen der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damitentfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-tung.Tagesordnungspunkt 24 b:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Investitionszula-gengesetzes 2005
– Drucksache 15/2249 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 15/2605 –Berichterstattung:Abgeordnete Stephan HilsbergManfred Kolbebb)Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 15/2606 –Berichterstattung:Abgeordnete Steffen KampeterWalter SchölerAntje HermenauDr. Günter RexrodtDer Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 15/2605, den Gesetzent-wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-nommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt 24 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 95 zu Petitionen– Drucksache 15/2473 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 95 ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 24 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 96 zu Petitionen– Drucksache 15/2474 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 96 ist ebenfalls ein-stimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 24 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 97 zu Petitionen– Drucksache 15/2475 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 97 ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 24 f:f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 98 zu Petitionen– Drucksache 15/2476 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 98 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, derCDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN und der FDPWahl der Mitglieder des ParlamentarischenBeirates für nachhaltige Entwicklung– Drucksache 15/2586 –Wer stimmt für den Wahlvorschlag auf Drucksache15/2586? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerWahlvorschlag ist einstimmig angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowieZusatzpunkt 5 auf:
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms6 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENAfrika auf dem Weg zu Eigenverantwortungund Selbstbestimmung unterstützen– Drucksache 15/2478 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Büttner , Reinhold Hemker, KarinKortmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten ThiloHoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENUnterstützung von Landreformen zur Be-kämpfung der Armut und der Hungerkrise imsüdlichen Afrika– Drucksachen 15/1307, 15/1843 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans Büttner
Anke Eymer
Marianne TritzHarald LeibrechtZP 5 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger,Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUEine neue Politik für Afrika südlich derSahara – Afrika fordern und fördern– Drucksache 15/2574 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. – Wir sollten noch einenMoment warten, bis der Personalwechsel stattgefundenhat.
Ich bitte Sie, sich zügig zu setzen, damit wir die Bera-tungen fortsetzen können.Als erste Rednerin hat die BundesministerinHeidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Indiesem Jahr feiern wir den zehnten Jahrestag des Endesder Apartheid in Südafrika. Es ist den Menschen in Süd-afrika gelungen, dieses menschenverachtende System zuüberwinden und eine offene demokratische Gesellschaftzu schaffen. Südafrika nimmt heute eine wichtige Anker-funktion auf diesem Kontinent wahr. Wir danken an die-ser Stelle Nelson Mandela für seine historische Leistung.
Das weit verbreitete einseitige Bild von Afrika als ei-nem Krisenkontinent ist falsch. Beispiele wie Südafrikaoder auch andere Länder zeigen, dass Afrika kein verlo-rener Kontinent, sondern ein Zukunftskontinent ist. Wirdürfen die positiven Signale nicht übersehen; denn siesind Ausdruck einer Erneuerung in Afrika selbst.Mit der so genannten NEPAD-Initiative, der NeuenPartnerschaft für Afrikas Entwicklung, haben sich dieafrikanischen Regierungen zu ihrer Eigenverantwortungund zur Bekämpfung von Korruption bekannt. Sie unter-ziehen sich einem unabhängigen Mechanismus der ge-genseitigen Überprüfung. Das ist ausgesprochen hilf-reich und ebenso positiv wie der Plan zur Einrichtungeines afrikanischen Menschenrechtsgerichtshofs.
Die Bundesregierung und wir als Entwicklungsminis-terium unterstützen die Initiative zur Schaffung eigenerFriedenstruppen ebenso wie die NEPAD-Initiative, da-mit die Konflikte auf diesem Kontinent auch von Afrika-nern selbst gelöst werden können. In diesem Zusammen-hang unterstützen wir den Aufbau von afrikanischenFriedenstruppen in den afrikanischen Regionen undvon Peacekeeping Centern, in denen Menschen ausge-bildet werden, die sich zum Beispiel als Menschen-rechtsbeobachter beteiligen können. Auch das ist einsehr positives Zeichen.
Im Moment fehlen in manchen afrikanischen Ländernnoch rechtliche und makroökonomische Voraussetzun-gen für das notwendige Engagement der Privatwirt-schaft. Auch deshalb ist es entscheidend, dass wir in un-serer Entwicklungszusammenarbeit einen Schwerpunktauf die Förderung von guter Regierungsführung legen.Wo ein funktionsfähiges Justizsystem existiert, wächstdie Rechtssicherheit im Land – für die Menschen, aberauch für Investitionen. Diese Initiativen unterstützen wir.Im Rahmen unserer Entwicklungspartnerschaften mitder Wirtschaft fördern wir in Afrika südlich der Sahararund 300 solcher Initiativen für Investitionen. Das ist eingutes Zeichen für das Vertrauen in die afrikanischenLänder.
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8388 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004
(C)
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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-ZeulPositiv sind die Entwicklung und die Umsetzung vonnationalen Armutsbekämpfungsstrategien.Dass dieser Prozess zurzeit 31 afrikanische Länderunter Beteiligung der Zivilgesellschaften, zumal derFrauen, umfasst, ist Ausdruck der Eigenverantwortungdieser Partnerländer. Das sind positive Zeichen ausAfrika. Dieser Zukunftskontinent ist und bleibt eindeuti-ger Schwerpunkt unserer bilateralen Entwicklungszu-sammenarbeit.
2002 sind über 30 Prozent der gesamten Mittel unsereröffentlichen Entwicklungszusammenarbeit nach Afrikageflossen.Wir unterstützen die neue Dynamik, die sich gebildethat. Das hat Bundeskanzler Schröder bei seiner Afrika-reise klar und deutlich signalisiert. Das ist auch dieKernbotschaft des Antrages der Fraktionen der SPD undder Grünen, der Ihnen heute vorliegt. Beim Millen-niumsgipfel im Jahr 2000 in New York hat sich die inter-nationale Gemeinschaft ehrgeizige Ziele der Armutsbe-kämpfung gesetzt. Das setzt zwei Dinge voraus: zum ei-nen, dass sich in den Entwicklungsländern dieRegierungen selbst auf Armutsbekämpfung konzentrie-ren, zum anderen aber auch, dass sie unterstützt werden.Bei allen Schwierigkeiten im Einzelnen hat die Ver-kopplung von Armutsbekämpfung und Entschul-dung bis jetzt schon hervorragende Ergebnisse gebracht.Allein für die afrikanischen Staaten wird sich die Schul-denlast um 42,5 Milliarden US-Dollar verringern; imGegenzug werden Investitionen zur Bekämpfung vonArmut erwartet.Ich will Ihnen am Beispiel Tansania aufzeigen, dasssich das direkt auf das Leben der Menschen auswirkt.Tansania hat von einem multilateralen Schuldenerlass inHöhe von 3 Milliarden US-Dollar profitiert. Dadurchwurde die Abschaffung der Grundschulgebührenmöglich. Die Anzahl der Schülerinnen und Schüler inden Grundschulen hat sich von 800 000 vor dem Schul-denerlass auf 1,6 Millionen heute verdoppelt. Das be-deutet mehr Hoffnung, mehr Chancen und mehr Per-spektiven für 1,6 Millionen Kinder. Das Gleiche gilt– wiederum bezogen auf mein Beispiel Tansania – fürden Zugang der Menschen zu sauberem Trinkwasser.Im Rahmen dieser Verkopplung haben wir es geschafft,den Anteil der Bevölkerung, die Zugang zu sauberemTrinkwasser hat, von 38 Prozent auf 68 Prozent im Jahr2001 zu steigern; und es geht immer weiter voran. Auchdamit engagieren wir uns im Kampf gegen Tod, Krank-heit und Armut. Das ist zugleich ein hervorragender Er-folg der Entwicklungszusammenarbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben den hoff-nungsvollen Nachrichten aus Afrika wollen und dürfenwir nicht die Länder vergessen, die von Konflikten er-schüttert werden oder wo die Staatswesen zerfallen. Dasgilt ganz besonders für Simbabwe, wo Präsident Mugabedas Land zugrunde richtet und den Menschen ihre Zu-kunft nimmt.Die Demokratische Republik Kongo ist ein Land,das von einem afrikanischen Weltkrieg verwüstet wurde,in dem ungefähr 3 Millionen Menschen gestorben sind.In diesem Konflikt wurden auch systematisch die Verge-waltigung von Frauen als so genannte Waffe benutzt.Hierbei handelt es sich um die widerwärtigste Men-schenrechtsverletzung, die es gibt. Sie müssen wir mitallen Mitteln bekämpfen. Wir unterstützen mit einer Ini-tiative der GTZ die betroffenen und traumatisiertenFrauen in dieser Region und versuchen, ihnen zu helfen.
Ich habe dem kongolesischen Präsidenten Kabila, alser zu Besuch in der Bundesrepublik war, signalisiert,dass wir zur Unterstützung bereit sind, aber auch klar ge-macht, dass sich die an der Übergangsregierung Betei-ligten ihrer Verantwortung für die Zukunft der gesamtenkongolesischen Bevölkerung bewusst sein müssen undden Friedensprozess engagiert voranbringen müssen.Ich habe zugesagt, dass wir die Vorbereitung der ers-ten demokratischen Wahlen seit 40 Jahren dort unterstüt-zen werden. Von diesen Wahlen hängt der Erfolg für dasZusammenwachsen dieses Landes stark ab. Unsere Un-terstützung gilt auch der Wiedereingliederung von180 000 Ex-Kombattanten.Das ist ein wichtiger Beitrag zum Versuch einer Ver-söhnung und zur Konfliktprävention. Vor allen Dingenwollen wir dazu beitragen, den unzähligen Kindersolda-ten wieder eine Perspektive und eine Chance im zivilenLeben zu ermöglichen, so schwierig das für sie auchwerden mag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss zweiAnmerkungen. Zunächst zum Thema Aids. Wir kennendie schrecklichen Nachrichten, aber es gibt auch Fort-schritte, die ich jetzt ansprechen will. Durch die Verein-barungen im Vorfeld der Konferenz von Cancun wurdees möglich, die Kosten für die Generika zur Behandlungvon aidsinfizierten Menschen um rund 98 Prozent zuverringern. Ich habe auf einer Reise nach Benin feststel-len können, dass diese verbilligten Medikamente inzwi-schen auch eingesetzt werden. Das hat große Vorteile;denn die Menschen lassen sich eher testen, wenn sie wis-sen, dass die Möglichkeit zur Behandlung besteht, undwenn sie sich testen lassen, schützen sie sich auch eher.Zur Erinnerung: In Afrika leben 12 Millionen Aids-waisen. Das sind so viele, wie in unserem Land Kinderleben. Wir haben die Verpflichtung, tätig zu werden undzu helfen. Das ist ein Schwerpunkt unserer Entwick-lungszusammenarbeit und das zieht sich durch alle Be-reiche unserer politischen Arbeit.
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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-ZeulZweite Anmerkung. Durch den Abbau von Handels-hemmnissen und Subventionen vor allem im Agrarbe-reich können wir dazu beitragen, dass gerechtere Han-delsbeziehungen zwischen den Industrieländern und denEntwicklungsländern hergestellt werden, sodass die Ent-wicklungsländer an den Chancen durch die Globalisie-rung teilhaben können. Lassen Sie mich, auch aus denErfahrungen von meiner Reise nach Benin, eines zumThema Baumwolle sagen. Es ist ein Skandal, dass inden USA 25 000 große Baumwollfarmer mit 3,7 Milliar-den US-Dollar und in der Europäischen Union, in Grie-chenland und Spanien, kleine Baumwollfarmer mit rund700 Millionen Euro subventioniert werden, während inden westafrikanischen Ländern 15 Millionen Menschenausschließlich von der Produktion von Baumwolle ab-hängig sind. Wenn ihnen die Industrieländer auf derartunfaire Weise Konkurrenz machen, dann ist das einSkandal. Das widerspricht allen Prinzipien der interna-tionalen Gemeinschaft.
Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Herrn Kollegen Löning?
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Ja, klar. – Ich weiß aber, was Sie sagen wollen; ich
wollte darauf zum Schluss zu sprechen kommen. Thema
EU?
Sie wissen ja, dass wir Ihre Einschätzung zum Thema
Baumwolle teilen. Ich wollte Sie fragen, was die Bun-
desregierung in der EU unternommen hat, um in diesem
Bereich Fortschritte zu erzielen.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Herr Kollege Löning, ich bedanke mich für die Frage.
Wir haben das nicht abgesprochen, aber ich wollte auf
dieses Thema wirklich zum Schluss eingehen.
Die Europäische Union hat den westafrikanischen
Ländern eine Partnerschaftsinitiative unterbreitet. Teile
dieser Initiative sind gut und werden von uns unterstützt.
Sie liegen jetzt zur Beratung vor. Sie umfassen eine Un-
terstützung der Diversifizierung im Bereich des Baum-
wollsektors, wodurch vor allen Dingen verarbeitete Pro-
dukte aus den westafrikanischen Ländern nach Europa
exportiert werden können. Das ist eine wichtige Voraus-
setzung.
Zweitens hat die Europäische Kommission eine Ent-
kopplung zwischen dem Produkt Baumwolle und den
entsprechenden Subventionen vorgeschlagen. Die Ent-
kopplung von 60 Prozent reicht uns aber nicht aus. Wir
setzen uns für eine Entkopplung von 75 Prozent ein und
versuchen mit möglichst vielen Bündnispartnern zu er-
reichen, dass die Entkopplung in diesem Maße voran-
kommt.
Ich will nicht verhehlen, dass eigentlich 100 Prozent not-
wendig wären. Aber es gibt Länder, denen im Grunde
schon die 60 Prozent zu viel sind.
Sie sehen also, dass wir etwas voranbringen. Ohne
diese Initiative hätte es die Initiative der EU-Kommis-
sion nicht gegeben.
Ich bedanke mich noch einmal für diese Zwischen-
frage, Herr Löning.
Zum Schluss möchte ich daran erinnern – das ist mir
bei meiner Reise nach Benin wieder bewusst
geworden –, dass ungefähr die Hälfte der Menschen, die
in Afrika südlich der Sahara leben, unter 15 Jahren sind.
Die Frage, ob diese Kinder und Jugendlichen Chancen
auf eine gute Zukunft haben, können wir mit beeinflus-
sen. Die Frage, was wir zur Entwicklung beitragen, wird
mit darüber entscheiden, ob unsere Welt in Zukunft
friedlicher wird oder ob sie von mehr Gewalt geprägt
sein wird. Wir haben es in der Hand. In diesem Sinne
sage ich: Lassen Sie es uns gemeinsam anpacken!
Danke sehr.
Das Wort hat jetzt der Kollege Arnold Vaatz von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Ministerin, es ist ausdrücklich zu begrü-ßen, dass der Bundeskanzler im Januar 2004 Afrika alsFeld der deutschen Außen- und Entwicklungspolitikendlich entdeckt hat. Es ist aber bedauerlich, dass erdazu mehr als eine Legislaturperiode gebraucht hat.Ich finde es ein ausgesprochen wichtiges Zeichen,Frau Wieczorek-Zeul, dass Sie vor kurzem für einigeTage nach Benin geflogen sind und sich dort für dieBaumwollfarmer stark gemacht haben. Die EU-Proble-matik wurde gerade schon angesprochen. Die Antwort,die Sie auf die Zwischenfrage des Kollegen gegeben ha-ben, lässt nur den Schluss zu, dass Sie in diesem Bereichfür die Beseitigung von Problemen kämpfen, die Sievorher selbst verursacht haben.
Denn Sie haben erst im Jahre 2002 die entsprechen-den EU-Subventionen für Griechenland und Spanien fürweitere Jahre fortgeschrieben.
Das haben Sie im Zusammenwirken mit unseren franzö-sischen Freunden getan. Wenn die Gastgeber in Benin
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Arnold VaatzSie vielleicht aus Höflichkeit nicht daran erinnert haben,dann möchten wir es jetzt tun.
Ich halte es auch für sehr wichtig, Frau Wieczorek-Zeul, dass Sie einmal die Erfolge der deutschen Ent-wicklungshilfepolitik vorgetragen haben; denn es ist ins-besondere für die Menschen vor Ort außerordentlich mo-tivierend, einmal das Echo des Deutschen Bundestagesund ein Lob für ihre Arbeit von dieser Stelle aus zu hö-ren.
Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Es ist auch für die Le-gitimierung der Finanzierung zukünftiger Entwicklungs-hilfe aus dem Bundeshaushalt ausgesprochen wichtig, zuzeigen, dass es Erfolge gibt und dass die Mittel, die wirfür diesen Zweck ausgeben werden, auch tatsächlichpositive Wirkungen zeitigen.Frau Ministerin, allerdings ist das alles noch nichtdas, was wir unter einem schlüssigen Gesamtkonzeptverstehen. In diesem schlüssigen Gesamtkonzept müssteberücksichtigt werden, dass sich die Lage der Entwick-lungsländer differenziert darstellt. Das Lager der Län-der mit Entwicklungsrückständen ist vielfältiger gewor-den, da mittlerweile sehr unterschiedliche Problemeauftreten. Deshalb sind unterschiedliche Strategien not-wendig. Es muss außerdem zu einer Zusammenführungder Außenpolitik mit anderen Politikfeldern kommen.Ferner bedarf es einer Konzentration der Mittel auf dieKernpunkte der Entwicklungszusammenarbeit. Dazuhätte ich heute von Ihnen Aussagen in Bezug auf Afrikaerwartet. Aber das, was Sie vorgetragen haben, Frau Mi-nisterin, ist mir, ehrlich gesagt, etwas zu wenig.
Ich möchte an einem Beispiel meine Vorstellungendeutlich machen. Sie wissen, dass vor kurzem der WTO-Gipfel in Cancun gescheitert ist. Das bedeutet aber na-türlich nicht, dass die offenen Fragen, mit denen sichdieser Gipfel befasst hat, weniger dringlich und wenigerlösungsbedürftig sind. Sie müssen natürlich gelöst wer-den.Deutschland hat ganz besonders in Afrika eine hoheAutorität, und zwar unabhängig davon, welche Partei inDeutschland die Regierung stellt. Den Menschen inAfrika ist natürlich noch gegenwärtig, was vor ungefährzehn Jahren die Koordinierungsleistung unseres damali-gen Umweltministers Klaus Töpfer in Rio zuwege ge-bracht hat. Eine solche Energie für die Probleme, die inCancun zu lösen gewesen wären, aufzuwenden und einesolche Koordinierungsleistung zu erbringen erwartetman von einem der stärksten Länder Europas und derWelt. Dies ist bis jetzt ausgeblieben.
Man erwartet von der deutschen Regierung ein klaresund deutliches Engagement und vor allen Dingen auchdie Fähigkeit, zu koordinieren und Probleme zu lösen.Das ist bis jetzt, wenn Sie das einmal mit dem eben zi-tierten Beispiel vergleichen, ausgeblieben. Das solltenSie wissen.Einen weiteren Punkt möchte ich nennen. In der letz-ten Plenarwoche, glaube ich, haben wir einen interessan-ten Beitrag des Kollegen Büttner gehört; darauf möchteich eingehen. Er hat uns darauf hingewiesen, wie langewir in Deutschland gebraucht haben, die Emanzipationder Frau durchzusetzen. Es sei eine Überheblichkeit, zumeinen, dass sie in den afrikanischen Staaten in zwei,drei Jahren durchsetzbar sei. Da habe ich Sie sicher rich-tig zitiert. Herr Kollege Büttner, ich teile diese Einschät-zung. Ich halte dieses Argument aber für sehr gefährlich,wenn man es über diesen Sachverhalt hinaus anwendet.Ich will Ihnen erklären, warum.
– Natürlich hat er das nicht so gesagt. Aber ich will dieGrenzen dieses Arguments einmal beleuchten.
Auch in Europa ist es erst seit kurzem gelungen, ganzandere Verhaltensweisen abzulegen. Wie Sie wissen, istdie jüngste europäische Geschichte auch durch Diktatur,systematische Kriegsverbrechen, Massenmord und Ähn-liches gekennzeichnet. Genau an dieser Stelle ist es nichtarrogant von uns, bei solchen Erscheinungen sofortigenEinhalt zu fordern, sondern es ist eine dringende Ver-pflichtung gegenüber den Opfern, eine unverzüglicheEinstellung zu fordern und nicht auf Geduld, Abwartenund auf eine kulturelle Entwicklung zu setzen.
Das ist die Aufgabe, die wir haben. Das geschieht, ver-ehrter Herr Büttner, meines Erachtens nicht mit ausrei-chendem Nachdruck.Wir sind überhaupt bei der sprachlichen Identifikationder Probleme Afrikas nicht genügend stringent. Ich willIhnen ein Beispiel nennen: Sie kennen vielleicht dasBuch von Bartholomäus Grill: „Ach, Afrika“.
In dem Buch „Ach, Afrika“ unterscheidet BartholomäusGrill zwischen exogenen und endogenen Ursachen derProbleme in Afrika. Wir in Deutschland bzw. in ganzWesteuropa sind viel zu stark darauf fixiert, die exoge-nen Probleme und Einwirkungen, die zu Notständen inAfrika geführt haben – dazu gehören der Kolonialismusund die Globalisierung; beides hat fraglos Wirkungen –,politisch zu behandeln. Wir müssen aber allmählich we-sentlich deutlicher auf die endogenen Fragen zu spre-chen kommen. Eine solche Herangehensweise, wie Siesie in der letzten Sitzungswoche vorgetragen haben, hin-
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Arnold Vaatzdert uns daran natürlich erheblich – und dies schon beider Identifikation der Sachverhalte. Diese Einstellungmüssen wir meines Erachtens ablegen, wenn wir wirk-lich zu den Kernpunkten vorstoßen wollen, bei denenHilfe nötig und erforderlich ist.Ich möchte noch eine Bemerkung zu Simbabwe ma-chen; das ist eben auch von der Frau Ministerin ange-sprochen worden. Ich finde es richtig und gut, dass derBundeskanzler dieses Problem in Südafrika angespro-chen hat. Ich finde es weniger gut, dass er die Möglich-keit nicht genutzt hat, in Südafrika selbst mit Vertreternder simbabwischen Opposition zu sprechen. Das wäreein Signal gewesen, das diese Menschen, die einen fürunsere Verhältnisse nahezu nicht nachvollziehbaren Mutaufbringen, weiter ermutigt hätte, ihre gegenwärtigeHaltung durchzuhalten und sich von dem System nichtunterkriegen zu lassen. Das ist leider ausgeblieben.
Ich bin froh, dass es ein großes Thema beim Gesprächzwischen dem Bundeskanzler und dem südafrikanischenPräsidenten Mbeki war. Im Nachhinein ist jedoch zukonstatieren: Mbeki hat seine Politik gegenüber Sim-babwe bis jetzt trotz der Einwirkung von BundeskanzlerSchröder nicht geändert.
Es sind keinerlei Anzeichen dafür zu erkennen. Die In-formationen, die uns darüber vorliegen, stammen ausGesprächen mit Oppositionellen aus Südafrika und ausSimbabwe. Erst gestern haben wir ein derartiges Ge-spräch geführt, darin wurde genau dieser Sachverhalt inaller Deutlichkeit festgestellt.Ich erwarte von der Bundesrepublik Deutschland,dass sie ihre Autorität in die Waagschale wirft und dafürsorgt, dass in Südafrika verstanden wird, dass die deut-sche Politik daran interessiert ist, die Katastrophe inSimbabwe zu beenden, bevor es notwendig wird, dortmit Friedenstruppen einzugreifen.
Ich erwarte ferner, dass die Bundesrepublik Deutschlandder Republik Südafrika erklärt, dass das große Ansehen,das durch Nelson Mandela und die Entwicklung in Süd-afrika nach dem Ende der Apartheid erworben wurde,auf dem Spielt steht, wenn sich Südafrika als Schutz-macht von Herrn Mugabe erweisen sollte. Dies ist leiderausgeblieben.
– Ich kann Ihnen das Zitat von Herrn Mbeki gern vortra-gen, wenn Sie mir nicht glauben.Herr Mbeki ist der Einzige gewesen, der mit harschenWorten kritisiert hat, dass die Mitgliedschaft Simbabwesim Commonwealth of Nations – das ist aus meiner Sichtvöllig berechtigt – für weitere Zeit suspendiert wordenist. Diese Kritik hat er in Worte gefasst, die meines Er-achtens nicht tolerierbar sind.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Dr. Uschi Eid.
Dr
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vorfast drei Wochen haben sich in der ruandischen Haupt-stadt Kigali elf afrikanische Staats- und Regierungschefsgetroffen, um den Startschuss für einen bisher einmali-gen Prozess gegenseitiger Bewertung zu geben. Vorfünf Jahren wäre es noch völlig undenkbar gewesen,dass afrikanische Politiker einwilligen, ihre Kollegeneinzuladen und ihre Politik gegenseitig zu überprüfen.16 Politiker haben sich hierzu bislang verpflichtet.Die gegenseitige Beurteilung soll Aufschluss überFortschritte und Hemmnisse auf dem Weg hin zu Demo-kratie und Wohlstand geben. Sie soll Schwächen, aberauch Stärken der eigenen Politik identifizieren und somitden anderen, den Nachbarn, die Möglichkeit geben, da-raus zu lernen. Ghana, Kenia, Mauritius und Ruanda– Ruanda ist ein Land, das vor fast zehn Jahren einenganz furchtbaren Völkermord erlebte – werden noch indiesem Jahr diesen Prozess durchlaufen.Die so genannte neue Partnerschaft für Afrikas Ent-wicklung, NEPAD, also die Reformagenda afrikanischerPolitiker, hat dieses neue Denken ausgelöst. NEPAD istaus Sicht der Bundesregierung eine wegweisende Strate-gie für die Entwicklung Afrikas und genau deswegen un-terstützen wir sie.
Viele meinen, dass wir, wenn wir diese Strategie eu-phorisch unterstützen, die zahlreichen Probleme auf die-sem Kontinent leugnen. Das ist nicht der Fall. In vielenTeilen Afrikas müssen wir das Auseinanderbrechen vonStaaten beklagen, häufig begleitet durch gewalttätigeKonflikte oder Bürgerkriege. Wir kennen die verheeren-den Auswirkungen von Aids und die Defizite im Bil-dungs- und Gesundheitswesen. Klientelismus und Kor-ruption verhindern produktives Wachstum.Doch gerade weil es diese Probleme gibt, müssen wirdiejenigen in Afrika unterstützen, die genau diese Mi-sere beenden wollen. Herr Vaatz, ich halte nichts davon,
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Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eiddass wir die Verantwortung übernehmen; vielmehr gehtes darum, die Reformer in Afrika zu stärken. Deshalbhilft die Bundesrepublik Deutschland, den beeindru-ckenden Reformwillen in Afrika zu unterstützen.Den gibt es trotz Simbabwe. Natürlich gibt es Sim-babwe, aber Simbabwe steht nicht stellvertretend für dengesamten Kontinent.NEPAD und die Neugründung der AfrikanischenUnion sind Ausdruck dieses neuen Denkens. Die Refor-mer übernehmen Eigenverantwortung für ihre Fehler.Sie unternehmen eigenverantwortliche Schritte zu not-wendigen Problemlösungen. Südafrikas und GhanasRolle in der Vermittlung von Friedensprozessen könnenwir doch nicht übersehen.Afrika zeigt ein neu erwachtes Selbstbewusstsein alsKontinent, der etwas zu bieten hat. Afrika ist reich anRohstoffen. Ohne dessen kulturellen Einfluss sind un-sere moderne Musik, unsere Malerei und unsere Museenüberhaupt nicht denkbar.Afrika will nicht mehr der internationale Sozialhilfe-fall sein. Afrika will ein starker, attraktiver Wirtschafts-standort werden. Angesichts der Probleme Afrikas hörtsich das traumwandlerisch an. Doch die Bundesregie-rung nimmt die afrikanischen Reformer ernst. Wir habendie Bedeutung dieser politischen Dynamik früh erkanntund sie konsequent umgesetzt.Der Bundeskanzler hat zusammen mit den anderenG-8-Staats- und -Regierungschefs bereits 2001 in GenuaNEPAD Unterstützung zugesagt. Herr Vaatz, ich bitteSie: Nehmen Sie zur Kenntnis, dass der Bundeskanzlernicht erst im Januar 2004 Afrika entdeckt hat. Er hat spä-testens auf dem G-8-Gipfel in Genua mit den afrikani-schen Staatschefs über ihre neue Reformstrategie disku-tiert, sie für gut befunden und Unterstützung zugesagt.
2002 wurde in Kananaskis der G-8-Afrika-Aktionsplanverabschiedet. Er legt die konkrete Unterstützung derafrikanischen Reformschritte systematisch fest. Der Ak-tionsplan wurde in einem intensiven Dialog zwischenden G-8-Afrika-Beauftragten und den NEPAD-Vertre-tern ausgearbeitet. Ich war im Laufe eines Jahres neun-mal mit afrikanischen Kollegen zusammen, um diesenPlan auszuarbeiten.Dieser Plan setzt inhaltliche Prioritäten, die für die Ent-wicklung Afrikas zentral sind. Es geht um die Förderungvon afrikanischen Eigenanstrengungen bei Konfliktver-hütung und -bewältigung, von verantwortungsvoller, ent-wicklungsorientierter Innenpolitik, von wirtschafts- undinvestitionsfreundlichen staatlichen Rahmenbedingun-gen, von Handel und Wirtschaftswachstum, von Bildungund Kampf gegen Aids, des Wassersektors und der Land-wirtschaft und um Entschuldung. Dies sind Prioritäten,die die Agenda von NEPAD widerspiegeln.Der G-8-Afrika-Aktionsplan bildet einen wichtigenOrientierungsrahmen für die Afrikapolitik der Bundesre-gierung. Deshalb haben wir begonnen, unsere Unterstüt-zung für Afrika entsprechend neu zu gewichten. DasAuswärtige Amt hat für die fünf Regionen Afrikas Stra-tegien entworfen, die nicht nur die Probleme, sondernauch die deutschen Interessen und die Ziele sowie dieUmsetzungsmöglichkeiten analysieren. Der KollegeVolmer hat dies in der letzten Legislaturperiode feder-führend eingeleitet.Das BMZ hat seinerseits mit einem Positionspapierzur Entwicklungszusammenarbeit mit Subsahara-Afrikaauf die von mir skizzierte neue politische Dynamik inAfrika reagiert. Auch die Ministerin hat also sofort aufdiese Dynamik in Afrika reagiert.Der Bundeskanzler hat den politischen Aufbruch aufdem afrikanischen Kontinent mit seiner jüngsten Afrika-reise sichtbar unterstützt. Davor taten dies der Außenmi-nister und die Entwicklungsministerin. Ich bin dankbar,dass Bundespräsident Rau in zwei Wochen noch einmalnach Afrika reist und eines der aktivsten NEPAD-Länder, nämlich Nigeria, besucht und damit PräsidentObasanjo den Rücken stärkt. Er hat es in seinem eigenenLand wahrlich nicht einfach.
Deswegen ist dies ein wichtiges Signal, mit dem wir ihnals einen wichtigen Reformer auf dem afrikanischenKontinent stärken können.All das ist nicht nur im Interesse Afrikas – das mussuns klar sein –, sondern auch in unserem Eigeninteresse.Denn die Entwicklung Afrikas ist für Europa und fürDeutschland wichtig. Wenn auf unserem Nachbarkonti-nent Aids nicht eingedämmt wird, wenn Konflikte nichtgemindert werden und Fundamentalismus und Terroris-mus aufeinander treffen, dann schlägt dies auch aufEuropa zurück.
Wenn wir die Mobilisierung des Entwicklungspoten-zials in Afrika zur Wohlstandsmehrung und für demo-kratische Stabilisierung unterstützen können, gewinnenwir alle: durch mehr internationale Stabilität und Si-cherheit, aber auch durch wachsende wirtschaftlicheChancen. Deshalb ist es wichtig, dass sich Deutschlandseinem europäischen Nachbarkontinent zuwendet, vondem uns bei Gibraltar nur 14 Kilometer trennen.Wie setzt die Bundesregierung den G-8-Afrika-Ak-tionsplan um? Lassen Sie mich das anhand nur wenigerBeispiele aufzeigen. Wie stärken wir Frieden und Si-cherheit? Diese Frage wird im ersten Kapitel desNEPAD-Dokuments und des G-8-Afrika-Aktionsplansbehandelt. Denn in Afrika heißt es zu Recht: Ohne Frie-den keine Entwicklung. Was tun wir also? Auf dem G-8-Gipfel, der im Juni letzten Jahres in Evian stattfand,wurde ein gemeinsam mit den afrikanischen Partnern er-arbeiteter Plan zur Förderung der Fähigkeiten Afrikaszur Durchführung von Friedensmissionen verabschie-det. Wir alle wissen: Konflikte können letztlich nur vonden betroffenen Gesellschaften selbst bewältigt werden.Daher hat sich Deutschland maßgeblich für die gemein-same Afrika-G-8-Friedensinitiative eingesetzt. Ihr Ziel
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Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eidist es, die afrikanischen Staaten bis zum Jahr 2010 zu be-fähigen, selbst effektive Friedenseinsätze durchzufüh-ren.An dieser Stelle möchte ich eines ausdrücklich be-tonen: Trotz dieser gemeinsamen Anstrengungen zurStärkung eigener Friedensmissionen Afrikas wäre eseine Illusion, zu glauben, dass bis dahin und möglicher-weise auch darüber hinaus in akuten Konflikten wie un-längst im Kongo oder in Liberia keine Interventionen derinternationalen Gemeinschaft mehr notwendig wären.Die Unterstützung der Bundeswehr, zum Beispiel durchden Artemis-Einsatz im Kongo, ist ein deutliches Zei-chen dafür, dass wir – wie es Bundesverteidigungsminis-ter Struck am letzten Wochenende meiner ganz persönli-chen Meinung nach richtigerweise gefordert hat – unsereVerantwortung gegenüber Afrika auch in Extremsitua-tionen wahrnehmen.Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, sageich: Konfliktprävention und ziviles Konfliktmanagementsind für uns das A und O. Im Rahmen der G-8-Afrikapo-litik besteht Deutschlands Beitrag insbesondere in derStärkung der zivilen Komponente. Dies tun wir bereits,zum Beispiel mit der Förderung des Kofi-Annan-Frie-densausbildungszentrums in Ghana. Dieses Ausbil-dungszentrum, das aus Mitteln des Auswärtigen Amteserbaut wurde, hat der Bundeskanzler kürzlich auf seinerAfrikareise eröffnet. Die Entwicklung entsprechenderLehrpläne für die Ausbildung ziviler Friedensfachkräfteund die Durchführung der Kurse werden aus Mitteln desBMZ finanziert. Die Beraterleistung vor Ort stellt dasVerteidigungsministerium. Das ist ein wahrhaft gutesBeispiel für kohärente, präventive Friedenspolitik.
Unsere Initiative „Wasser teilen – Konflikte in Afrikavermeiden“ bildet eine weitere friedenspolitische Säule.Wasser ist für die Entwicklungschancen jedes Landesvon zentraler Bedeutung. Deshalb ist die Frage der Ver-teilungsgerechtigkeit eine Frage von Frieden und Sicher-heit, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, wo59 Flüsse von mehr als einem Staat genutzt werden. Un-sere Maßnahmen zielen auf die friedliche, grenzüber-schreitende Nutzung des Wassers im Einzugsgebiet dergroßen afrikanischen Flüsse. Die aktuellen Auseinander-setzungen um den Nil zeigen, wie drängend diesesThema ist.Vertrauensbildende Maßnahmen zwischen Nachbar-ländern unterstützen wir auch mit der Kongobecken-Waldinitiative. Ihr Anliegen ist es, eine gemeinsame,nachhaltige Forstpolitik der sechs Kongobeckenländerzu entwickeln, um damit das größte Tropenwaldgebiet inZentralafrika zu retten, und zwar jenseits der Frage, wiedas Verhältnis zwischen den jeweiligen Nachbarländernist.Aus Zeitgründen ist es mir nicht möglich, noch mehrüber die Umsetzung des Aktionsplanes zu berichten.Aber ich glaube, die Ministerin hat sehr eindrucksvolldargestellt, was in diesem Bereich alles getan wird. HerrPräsident, es war mir wichtig, die Umrisse der Afrikapo-litik der Bundesregierung aufzuzeigen, um klar zu ma-chen, dass es sich hierbei nicht um eine Entwicklungs-hilfekooperation mit Afrika handelt, Herr Vaatz.
Das Konzept der Afrikapolitik der Bundesregierung be-steht in einem Zusammenspiel von Außen-, Sicherheits-,Entwicklungs-, Umwelt- und Außenwirtschaftspolitik.
Sie ist eine der wichtigsten Säulen im Rahmen der G-8-Afrikapolitik. Sie ist nicht nur bilateral, sondern sogarinternational abgestimmt und stellt einen wesentlichenBestandteil der Afrikapolitik der wichtigsten Industrie-nationen dieser Erde dar.Zum Schluss: Wir haben beim G-8-Gipfel im nächs-ten Jahr wieder Afrika auf der Tagesordnung. Vielleichtwäre dies ein guter Anlass, Herr Präsident, dem HohenHause über die weitere Umsetzung des G-8-Afrika-Ak-tionsplanes wieder Bericht zu erstatten. Den ersten Be-richt, den der Bundeskanzler hat drucken lassen, darf ichIhnen überreichen.
Vielen Dank.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ulrich
Heinrich, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!Als Freund Afrikas begrüße ich außerordentlich, dassmit dieser Debatte das politische und das öffentliche In-teresse wieder auf diesen ach so geschundenen Konti-nent gelenkt wird. Wir beobachten mit großer Aufmerk-samkeit und fördern mit Kräften, was die Afrikanerselber tun, bei der Afrikanischen Union, bei der NEPAD,im Peer-Review-Prozess. Wir sind der Meinung: NurAfrika kann sich selbst helfen. Wir können dabei zwarmithelfen, aber Afrika muss seine eigenen Positionen al-lein finden. Nur so kann es Erfolg haben.
Wir haben eine Bilanz der Afrikapolitik der Bundes-regierung zu ziehen, auch bezüglich des hohen finan-ziellen Aufwandes. Wir müssen schauen: Was ist ange-kommen, wie haben wir gearbeitet und wo müssen wirumsteuern? Bei dieser Bilanz müssen wir zunächst ein-mal die Situation in Afrika selber beurteilen. Hier kom-men wir – trotz allem eigenen Bemühen, das ich geradeunterstrichen habe – zu dem Resümee, dass Subsahara-Afrika – bis auf wenige Ausnahmen – aus ausgesprochenschwachen Staaten besteht. Die Schwäche der Staatenführt zum Staatszerfall, wie wir ihn zum Beispiel in So-malia zu beklagen haben. Die Schwäche der Staaten führtnatürlich ferner dazu, dass die Armut nicht erfolgreich
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Ulrich Heinrichbekämpft werden kann. Alle Maßnahmen führen zunichts, wenn der Staat selber nicht stark genug ist, dieentsprechenden Strukturen mit aufrechtzuerhalten undmit zu begleiten; das gehört unmittelbar zusammen.
Wir müssen feststellen: Konflikte größeren Ausmaßesin Afrika sind nach wie vor an der Tagesordnung. Rundzwölf Kriege werden derzeit auf diesem Kontinent ge-führt, die kleineren Konflikte habe ich dabei überhauptnicht mitgezählt. Es sind zu nennen: Westafrika, dieGroße-Seen-Regionen, das Horn. All diese Regionensind ausgesprochen instabil, was dazu führt, dass sichWachstum und Wohlstand nicht entwickeln können unddass die Armut nicht bekämpft werden kann. Ein weite-rer großer Bereich, der in unserer Politik behandelt wer-den muss, ist HIV/Aids, diese große Geißel der Mensch-heit. Von weltweit 34 Millionen HIV-Infizierten leben24 Millionen in Afrika. Diese Zahl ist sehr deutlich.Wie haben wir die derzeitige Politik der Regierung zubewerten? Vor dem Hintergrund der von mir genanntenHerausforderungen müssen wir sagen: Die Bundesregie-rung reagiert sehr unzureichend auf sie. Für die Bundes-regierung stehen Projektorientierung und starre Budget-richtlinien nach wie vor im Vordergrund. Eine großeZahl von Projekten wird häufig – leider Gottes – ohneBeachtung des Prinzips der Nachhaltigkeit betrieben.Wir müssen nach wie vor feststellen, dass die Bekämp-fung von HIV/Aids nicht ausreichend gefördert wird.Die Koordination der deutschen Durchführungsorgani-sationen vor Ort ist mangelhaft. Auch die Koordinationder Geberstaaten ist mangelhaft.Wir stellen fest: Bei einer fehlenden Gesamtstrategiemüssen die immer knapper werdenden Mittel, die wirauch in diesem Fall zu registrieren haben, effektiver ein-gesetzt werden.
Wie sieht der liberale Weg aus? Wir dürfen nichtmehr den Entwicklungen hinterherlaufen, sondernmüssen selber die Richtung bestimmen. Unser Haupt-augenmerk in der Entwicklungspolitik muss auf einfunktionierendes Staatswesen gerichtet sein. GoodGovernance und die Herstellung oder Förderung staatli-cher Leistungsfähigkeit und staatlicher Institutionendurch Regierungsberatung müssen hier im Vordergrundstehen. Dazu gehören die Reformen des Sicherheits-sektors. Die Rechtssicherheit muss hergestellt werden.Wir brauchen unabhängige Gerichte und eine Verbesse-rung des Steuersystems, Rechnungshöfe müssen einge-richtet werden. Wir brauchen Korruptionsbekämpfung,die Unterstützung von Sektorvorhaben und Basketfinan-zierung.
Wir müssen dazu beitragen, dass den Staaten, dieselbst nicht in der Lage sind, Konflikte gewaltfrei auszu-tragen, die Befähigung dazu gegeben wird. Einige Posi-tionen sind hier bereits positiv angemerkt worden. DasKofi-Annan-Center ist hierzu ein wichtiger Beitrag,reicht aber bei weitem nicht aus. NachhaltigeEntwicklung – das möchte ich hier noch einmal ganzdeutlich machen – ist nur mit einigermaßen stabilenStaaten zu erreichen. Wir brauchen für jeden Staat einenMasterplan, der uns in die Lage versetzt, Schwerpunkterichtig zu setzen, um unsere Hilfe dann auch strategischrichtig einsetzen zu können.Wir brauchen eine klare Koordinierung der Geber,inklusive der EU; die Geber müssen in den Dialog mitden Regierungen der afrikanischen Staaten eingebundenwerden. Da gibt es derzeit ein riesiges Defizit.
Bei der Koordinationsarbeit ist es auch von großemNachteil, dass die Bundesregierung mit zwei Häusernvertreten ist. Wir setzen uns deshalb nachdrücklich dafürein, dass das Ministerium für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung und das Auswärtige Amt zu-sammengelegt werden.
Auf meinen Reisen erlebe ich immer wieder, dassdeutsche Entwicklungspolitik vor Ort nicht verstandenwird;
denn die Menschen wissen nicht, an wen sie sich zuwenden haben, weil ihnen ein ganzer Strauß von Ange-boten überreicht wird. Das sind Aussagen von Mitglie-dern der Organisationen vor Ort.Ich sage zum Schluss noch einmal ganz deutlich: WirLiberale stehen auch dem Gedanken einer Entkopplungvon unternehmerischen Interessen und Durchführungs-auftrag bei GTZ und KfW nahe. Hier müssen wir einenSchritt weiterkommen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten.
Wir halten auch sehr viel von einer Lösung, die das
bestehende Monopol auflöst und die Konkurrenz mit an-
deren Wettbewerbern aufnehmen muss.
Lassen Sie mich zusammenfassend zum Schluss
sagen – –
Nein, Herr Kollege.
Lassen Sie mich den letzten Satz noch sagen. – Wirwollen, dass wir neben der finanziellen und der techni-schen Zusammenarbeit auch eine politische Zusam-menarbeit, eine PZ, mit einer eigenständigen Budgetie-rung bekommen, sodass wir stärker zur Stabilisierungvon Staaten beitragen können. In diesem Sinne hoffe ich,
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Ulrich Heinrichdass die Afrikapolitik in Zukunft auf einem besserenWeg ist.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Hans Büttner, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Inder Tat, diese Afrikadebatte stößt auf großes öffentlichesInteresse, vor allem auch unserer afrikanischen Freundeund Kollegen. Ich darf hier die Vertreter der Botschaftenherzlich begrüßen, die dieser Debatte folgen.
Herr Vaatz und Herr Heinrich, gestatten Sie mir zweikurze Einwände auf Ihre Hinweise. Sicherlich ist es rich-tig, dass man nicht alles nur aus der Geschichte erklärenund erläutern darf. Nur, ohne Kenntnis der Geschichte,ohne Wahrnehmung dessen, was einmal war, kommtman sehr schnell ins Schleudern oder lässt sich dazu ver-leiten, Forderungen aufzustellen, die wieder sehr starkan das erinnern, was europäische und selbst deutscheKolonialgeschichte ausgemacht hat.
Ich will Ihnen durch zwei Zitate einen Rückblick aufdie Entwicklung Afrikas – auch auf die positiven Ent-wicklungen – geben.Der Direktor der Deutschen Afrikagesellschaft, derfür das Kolonialamt für Afrika zuständig war, hat 1906,nachdem das Deutsche Reich durch seine sehr men-schenunwürdige Kolonialpolitik sehr große Defizite er-wirtschaftet hatte, erklärt, man brauche ein Umdenken:„Hat man früher mit Zerstörungsmitteln kolonialisiert,so kann man heute mit Erhaltungsmitteln kolonialisie-ren. Dazu gehören der Missionar, der Arzt, die Eisen-bahn und die Maschine, also die fortgeschrittenentheoretischen und angewandten Erkenntnisse der Wis-senschaft auf allen Gebieten. Dadurch kann man mehraus den Ländern herausholen, als wenn man sie unter-drückt.“ Das hat übrigens auch Cäsar schon einmal ge-sagt. So viel dazu.Genau diese Aussage hat auch Harold Macmillan ge-macht, als er die englischen Kolonien 1960 und 1964 indie Unabhängigkeit entlassen hat. Er hat immer erklärt:Wenn wir sie in die Unabhängigkeit entlassen, sie abernach wie vor an uns binden, dann werden wir genausoviele Profite haben wie vorher. Das war damals die Phi-losophie in Bezug auf die Unabhängigkeit, die im Ost-West-Konflikt noch verstärkt worden ist. Herr Vaatz, ichhabe darauf hingewiesen, weil diese Erkenntnis für dieneue afrikanische Elite Auslöser dafür war, zu erkennen– das galt zuerst für Thabo Mbeki und sein Konzept der„African Renaissance“ –, dass man sich auf seine eige-nen Fähigkeiten und Stärken zurückbesinnen und dafürsorgen muss, dass Afrika in seinem Handeln und mit sei-ner Wirtschaft nicht länger als einzige Entwicklungsre-gion ausschließlich von den früheren Kolonialmächtenabhängig ist.
Heute finden immer noch 80 Prozent des Handels derafrikanischen Länder mit den ehemaligen Koloniallän-dern statt. Nur 20 Prozent verbleiben dem innerafrikani-schen Handel. Es gibt keine Region auf der Welt, in deres ein solches Ungleichgewicht gibt, das zu der entspre-chenden Vernachlässigung und Erschwerung der Ent-wicklung führt. Das hat dazu geführt, dass es in Afrikaauch in den Jahren nach der Unabhängigkeit zu keinerleiWirtschaftswachstum gekommen ist, während die Be-völkerung gleichzeitig enorm zugenommen hat. Das wardie Ursache für die Verarmung. Es ist die Absicht des„African Renaissance“-Konzepts und der NEPAD-Ini-tiative, dies umzukehren und dort eine Infrastruktur zuschaffen, die den innerafrikanischen Handel stärkt.Seit einigen Jahren wird das Ziel, dies in einer koope-rativen, technischen und sicherheitspolitischen Zusam-menarbeit innerhalb Afrikas umzusetzen, von den Re-gierungen und ihren Parlamenten, die sich zunehmend insehr positiver Weise beteiligen, vorangetrieben. Manmuss mit Straßen und Schienen innerhalb des südli-chen und westlichen Afrikas dafür sorgen, dass unterein-ander Handel getrieben werden kann. Wenn man vonSüdafrika oder Äthiopien nach Nigeria fliegen will, danndarf man nicht erst über London oder Johannesburg flie-gen müssen. Es ist erkannt worden, dass diese Ziele undAufgaben, die Voraussetzung für eine Entwicklung inAfrika sind, angegangen werden müssen.Ich freue mich, dass die Bundesregierung mit ihrerPolitik auf diese neue Zielsetzung konsequent und soforteingegangen ist. Sie ist von ihrer ursprünglichen Aus-sage abgekommen, nach der der alte Weg, in den einzel-nen Ländern zu helfen, weiterhin beschritten werdensoll. Das war gut, es ist humanistisch und richtig. Dasmusste man tun. Sie hat aber erkannt, dass man hier ko-operieren und koordinieren muss, und sie hat das schonkurz nach der Regierungsübernahme mit Blickrichtungauf die G 8 und die EU in Angriff genommen.Wir alle wissen, dass das nicht von heute auf morgengeht. Seit 20, 30 Jahren reden wir über eine Änderungdes Länderfinanzausgleichs und eine Änderung der Ko-operation der Länder untereinander. Auch das geht na-türlich nicht von heute auf morgen. Das gilt auch fürMaßnahmen innerhalb der EU. Wir beklagen uns ja häu-fig darüber, wie schwerfällig der Apparat ist.In unserer nationalen Entwicklungspolitik konzen-trieren wir uns inzwischen auf die Entwicklung, dieArmutsbekämpfung, die Wasserversorgung. In derEU-Entwicklungspolitik müssen wir uns auf die Schaf-fung von Infrastruktur, nämlich auf den Bau von Stra-ßen, auf den Verkehr usw. konzentrieren. Dies sind Vo-raussetzungen für die Zusammenarbeit in diesem Be-reich. Es ist völlig klar, dass man hier immer noch besser
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Hans Büttner
werden kann. Wichtig ist aber, dass es sofort und nichterst fünf oder zehn Jahre später in Gang gekommen ist.Daneben haben wir die Initiativen der Afrikanerunterstützt, bei denen es um die Herstellung von Sicher-heit geht.Ich habe es in böser Erinnerung – das schmerzt michheute noch –: 1992 hat mein Kollege Werner Schuster,der leider viel zu früh gestorben ist, in Bonn einen An-trag eingebracht, nachdem er aus Ruanda und Burundizurückgekommen war.Er hat erklärt: Wenn wir nicht bereit sind, die Afrika-ner, die eine Friedenstruppe nach Ruanda und Burundischicken wollten, um einen Völkermord zu verhindern,mit 20 Millionen DM zu unterstützen – dies war die For-derung des Antrags –, dann wird es dort einen Völker-mord geben. Dieser Antrag wurde damals mit der Mehr-heit der Regierungsfraktionen abgelehnt. Zwei Jahrespäter kam es zum Völkermord. Wir haben viele Millio-nen an Hilfsmitteln zahlen müssen, aber das wäre nochdas Geringste gewesen. Wir haben jedoch Millionen antoten Kindern und Erwachsenen erleben müssen.Diese Regierung hat jetzt frühzeitig die Initiative er-griffen, um nicht nur in Ghana, sondern auch in den dreiafrikanischen Regionalzentren, die in Kenia und auch imBereich der SADC entstehen, eine eigenständige Frie-denstruppe aufzubauen. Dies hat sich jedoch ein wenigverzögert, weil wir nicht damit einverstanden waren,dass hier Mugabe die Verantwortung trägt.Diese Initiative hat dazu geführt, dass sich diese Re-gierung darauf eingestellt hat, mithilfe der NEPAD-Initiative stabile Strukturen innerhalb Afrikas zu schaf-fen. Ich freue mich, dass sich sowohl die GTZ als auchandere Stiftungen verstärkt darauf konzentrieren, Ver-waltungen aufzubauen, die durchgängig dafür sorgen,dass dort Recht, Gesetz und Entwicklung überhaupt zumTragen kommen. Wie kann man denn meinen, mankönnte etwas in einem Land wie dem Kongo erreichen –ich habe das letzte Mal darauf hingewiesen –, das sogroß wie ganz Westeuropa ist, aber nur zwei oder dreiStraßenverbindungen besitzt? Wie kann man 50 Millio-nen Menschen erreichen, wenn es keine Straßen, keinenVerkehr und keinen Zugang zueinander gibt?
– Auch die Polizei, die dort aufgebaut werden muss,muss erreichbar sein. Sie muss außerdem bezahlt wer-den. Das ist der Punkt. Auch dabei helfen wir. Deswegenwurde zugesagt, dass wir beim Aufbau einer Polizeiauch im Kongo helfen werden.
– Doch.Ich will noch einen anderen Punkt erwähnen. Unsliegt noch ein zweiter Antrag zur Beratung vor. LiebeKolleginnen, liebe Kollegen, auch das gehört dazu: Wirerklären vollmundig, mit Überzeugung und wahrschein-lich aus vollem Herzen und mit gutem Gewissen, dasswir die Selbstbestimmung und die Verantwortung derStaaten respektieren. Wenn man ein bisschen auf dieEntwicklung der Länder zurückschaut, dann wird jedochso manches deutlich. Ich empfehle jedem, dieses Buchüber deutsche Kolonialgeschichte, das ich in der Handhalte, zu lesen. Mir geht es nicht darum, in uns allenSchuldgefühle zu wecken, aber wir müssen erkennen,wie stark wir durch eine falsche Propaganda geprägtsind, die in den 20er- und 30er-Jahren eine Mystifizie-rung nach sich zog.Wir haben wie alle anderen Kolonialmächte dazu bei-getragen, dass die Bevölkerung Afrikas patriarchalisiert,unterdrückt und vor allem ihres Lebensraumes beraubtworden ist, indem zahlreiche Menschen vertrieben undriesige Farmen aufgebaut wurden, die weder ökologischnoch ökonomisch sinnvoll waren, aber zu großer Unge-rechtigkeit geführt haben. Wenn deswegen in einigendieser Staaten – dazu zähle ich Südafrika, Simbabweund Namibia, aber auch Äthiopien – von den Regierun-gen das Thema Landreform auf die Tagesordnung ge-setzt worden ist – dieses Thema ist nicht neu –, dann istdas wichtig und richtig. Wenn diese Landreform legalabläuft, dann müssen wir sie massiv unterstützen undnicht wieder infrage stellen.
Jetzt geht es darum, alles dafür zu tun, dieses drän-gende Problem nicht beiseite zu schieben und dadurchzu diffamieren, dass vielleicht in dem einen oder ande-ren Fall landlose Menschen unruhig werden, wennnichts passiert. Ich nenne als Beispiele Namibia undSüdafrika. Ich finde es wirklich nicht gut, dass es in derheutigen Zeit immer noch mächtige Farmbesitzer gibt,die nichts dabei finden, ihre Farmarbeiter, die seit15 oder 20 Jahren auf der Farm tätig sind, von ihremGrund und Boden zu verjagen, weil sie ihre Viehbetriebein Gameparks umwandeln.Ich finde es erst recht nicht gut, dass es heute nochpassiert, dass eine Familie, deren Vater, der 15 Jahre aufder Farm gearbeitet hat, gestorben ist, auf die Straße ge-setzt wird und das Land verlassen muss. Darüber solltenwir uns massiv aufregen. Dann könnten wir Unruhenverhindern. Das würde auch verhindern, dass Regierun-gen solche Notlagen ausnützen und gegen Recht und Ge-setz verstoßen, um an der Macht zu bleiben.Ein letzter Satz dazu: Die Menschen in Afrika sindaufgrund ihrer Fähigkeiten und Erfahrungen sehr wohlin der Lage, mehr zu leisten und sich selbst zu helfen,wenn wir sie lassen und sie dabei unterstützen. Ichglaube, dass noch viele Vorurteile in den Köpfen derersind, die in Afrika tätig sind. Es wird gesagt, die Afrika-ner seien nicht so fleißig und wollten nicht arbeiten.Diese Einstellung ist in vielen Jahren aufgebaut worden.Ich will mit einem Zitat des deutschen Bauherrn der Ei-senbahn zwischen Daressalam und Moshi von 1906schließen:Ohne die zweifellos vorhandene natürliche Bega-bung der Schwarzen und ohne ihren guten Willenund ihre gute Anpassungsgabe, vor allem für tech-nische Dinge, wäre es nicht zu schaffen gewesen.
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Hans Büttner
Das gilt auch heute noch.Die Bundesregierung hat sich mit ihrer Politik aufdiese neue Initiative der Afrikaner voll eingestellt.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss
kommen.
Das ist in den Anträgen festgehalten. Die CDU/CSU
hat das mit ihrem Antrag eigentlich bestätigt. Sie hat nur
versucht, irgendetwas herauszufinden und uns zu top-
pen. Das ist mein Schlusssatz.
Herr Kollege, Ihr Schlusssatz hätte vor zwei Minuten
sein müssen.
Sie haben in Ihrem Antrag nur ausgesagt, es müsste
noch mehr geschehen. Ich sage euch: Ich finde das etwas
verwegen. Wer uns einen solchen Schuldenberg hinter-
lassen hat, der sollte insbesondere angesichts dessen,
was wir bereits machen, nicht noch mehr verlangen und
etwas stiller sein.
Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Conny Mayer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Ich freue mich sehr, dass wir heute im DeutschenBundestag die Gelegenheit zu einer Afrikadebatte ha-ben. Nur durch Diskussionen wie diese gelingt es uns,das Bewusstsein für die Chancen und die Herausforde-rungen des Kontinentes zu wecken.Ich hatte in der vergangenen Woche die Gelegenheit,das bevölkerungsreichste Land Afrikas zu besuchen. Ichwar in Nigeria. Nigeria ist mit rund 130 Millionen Ein-wohnern das geostrategisch wichtigste Land in West-afrika und in Zentralafrika. Ein Land, das mit großemÖlreichtum gesegnet ist und dessen Landschaft durcheine unglaubliche Vielfalt beeindruckt. Die wirtschaftli-che Metropole Lagos mit geschätzten 13 Millionen Ein-wohnern ist die größte Stadt in Subsahara-Afrika.Das Land ist ein wichtiger Erdöllieferant und nichtnur das. Es war bis vor wenigen Jahren auch Schwer-punktland deutscher Wirtschaftsinvestitionen in West-und Zentralafrika. Doch spielt Deutschland in Nigeria sogut wie keine Rolle mehr, weder politisch noch wirt-schaftlich. Nigeria ist ein Beispiel, das uns zeigt, dasswir es verpasst haben, unsere Interessen zu definierenund diesem strategisch wichtigen Land unsere Partner-schaft anzubieten. Dieses Beispiel zeigt uns auch: DasSchicksal Afrikas südlich der Sahara sollte uns nicht nuraus ethisch-moralischen Gründen am Herzen liegen.Afrikas Zukunft hat auch und gerade für unsere urei-gensten Interessen Bedeutung. Das mag in vielen Ohrenerstaunlich klingen. Ich will dies an fünf Punkten deut-lich machen.Erstens. Wir müssen intensiver als bisher gegenZonen der Instabilität und Ordnungslosigkeit inAfrika vorgehen.Diese stellen eine sicherheitspolitische Gefahr dar. Siesind Rückzugsraum sowie eine Rekrutierungs- und Fi-nanzierungsquelle für Terrorismus und internationaleKriminalität.Zweitens. Wir müssen unseren Beitrag zur Stabilisie-rung in Afrika leisten. Denn dort entspringen länder- undkontinentübergreifende Migrations- und Flüchtlings-ströme, die bis nach Europa und damit auch bis nachDeutschland reichen.Drittens. Wir müssen eine sich selbst tragende wirt-schaftliche Entwicklung der afrikanischen Völker undinsbesondere den Aufbau eines soliden Mittelstands inafrikanischen Staaten fördern. Nur so können wir gleich-wertige Wirtschaftspartner und zukünftige Absatz-märkte für unsere exportorientierte Wirtschaft finden.Viertens. Wir müssen gleichzeitig unserer WirtschaftHilfestellung bei der Wahrnehmung unserer Außenwirt-schaftsinteressen – vor allem im südlichen Afrika – auchin Richtung einer vernünftigen und fairen Nutzung afri-kanischer Rohstoffressourcen leisten.
Fünftens, der letzte Punkt. Wir müssen durch denSchutz der Ökosysteme und der Artenvielfalt die Viel-falt der Schöpfung bewahren. Die eigenen Interessenzu benennen und zu verfolgen hat nichts mit Nationalis-mus oder Neokolonialismus zu tun. Aber nur so machenwir unsere Afrikapolitik für unsere afrikanischen Partnerkalkulierbar und für unsere Bürgerinnen und Bürgerplausibel.
Sicherlich darf man sich keinen Illusionen hingeben.Die schwierige afrikanische Realität macht es uns nichteinfach, unsere Interessen zu verfolgen. Wir haben aberin unserem ureigenen Interesse keine Alternative. ImÜbrigen gibt es im heutigen Afrika – wie wir in unseremAntrag zu Beginn deutlich hervorgehoben haben – nichtnur Schatten, sondern auch Licht. Ich erinnere in diesemZusammenhang an die bereits erwähnte viel verspre-chende NEPAD-Initiative und an den politischen undwirtschaftlichen Aufbruch in Südafrika, Ghana und jetztauch in Kenia.Ein zentraler Punkt der Diskussion über Afrika ist dieBekämpfung von HIV/Aids. Sie haben dieses sehr wich-tige Thema bereits angesprochen, Frau Ministerin. Ichbin der Überzeugung, dass wir entgegen Ihren anderslautenden Bekenntnissen immer noch weit davon ent-fernt sind, die Seuche auf dem afrikanischen Kontinent
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Conny Mayer
zu bekämpfen. In dem, was wir leisten können, bleibenwir hinter Staaten wie Frankreich und Italien zurück.
Ich will einen weiteren Punkt ergänzen, der zwarschon angesprochen wurde, den ich aber für einen zen-tralen Punkt halte, wenn es um die Entwicklung des afri-kanischen Kontinents geht. Unsere Außen- und Ent-wicklungspolitik ist immer noch zu schwerfällig. Siemüsste flexibler werden und schneller auf sich verän-dernde Situationen reagieren, sei es bei der Vergabe vonEntwicklungsgeldern oder bei der Verhängung vonSanktionen. Trotz gegenteiliger wortreicher Bekundun-gen hat es die Bundesregierung – das möchte ich alsmaßgeblichen Kritikpunkt anführen – bisher versäumt,auf internationaler Ebene eine längst überfällige Initia-tive zur Straffung der Geberkoordinierung zu ergrei-fen.Der Kollege Hans Büttner hat angesprochen, dasseine Koordination der Länder notwendig ist. Notwendigist aber vor allem die Koordinierung in den einzelnenafrikanischen Ländern.
Auch der jüngste Aktionsplan des Entwicklungsministe-riums für eine bessere Koordinierung hat, wie viele an-dere Aktionspläne, noch keinen nennenswerten undmessbaren Erfolg gebracht.Wir als Unionsfraktion fordern deshalb die Bundesre-gierung mit unserem Antrag auf, eine neue Zeit einzu-läuten und in der deutschen Afrikapolitik den Weg nachvorn einzuschlagen. Deutschland braucht mehr Realis-mus, eine klare Interessendefinition, eine klare Strategieund das nötige Engagement für den Umgang mit demsich wandelnden afrikanischen Kontinent. Die Reise desBundeskanzlers war ein wichtiger Schritt und auch derAußenminister hat Afrika besucht. Aber Afrika brauchtstärker als bisher politische Beachtung auf allerhöchsterEbene der Bundesregierung.Lassen Sie mich mit einem afrikanischen Sprichwort,mit einem Appell enden, der sich an die Bundesregie-rung und alle hier im Hause Vertretenen richtet: „Vielekleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleineSchritte tun, können das Gesicht der Welt verändern.“Wir, die Unionsfraktion, wollen gemeinsam mit derBundesregierung und unseren afrikanischen PartnernSchritt für Schritt, aber mit großem Nachdruck undEngagement den Weg in eine bessere Zukunft Afrikasgehen.Ich danke Ihnen.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg.Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg
:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In dieser Debatte haben Redner von allen Frak-tionen viele verdienstvolle Gedanken vorgetragen, auchwenn sie letztendlich, Herr Kollege Büttner, vielleichtetwas pauschal ausgefallen sind. Zudem ist die Idee derKrisenprävention angesichts der Notwendigkeit zurNeugestaltung im Wachstum begriffen. Ein Wachs-tums- und Gestaltungsprozess erfordert jedoch auchdie Kraft zur Koordinierung. Frau Staatssekretärin Eid,ich kann vieles erkennen, aber keine Koordinierung derin diesem Fall relevanten Politikfelder. Eine Koordinie-rung der Außenpolitik, der Sicherheitspolitik, der Vertei-digungspolitik und der Entwicklungspolitik ist insbeson-dere in der Afrikapolitik nicht erkennbar.
– Herr Kollege Büttner, die fehlende Koordinierungs-leistung ist kein Verdienst, sondern eine der eklatantes-ten Schwächen der Bundesregierung.
Rufen Sie sich doch einmal die letzten Wochen in Er-innerung. Der Bundeskanzler ist – Gott sei Dank – mitdem gebotenen Ernst nach Afrika gereist. Er hat bei-spielsweise mit Kenia eine Zusammenarbeit im Bereichder Polizei und der Geheimdienste vereinbart. Er hat inGhana ein Trainingszentrum für afrikanische Sicher-heitstruppen eingeweiht. Aber im selben Atemzug wirdunsere diplomatische, kulturelle und sicherheitspoliti-sche Präsenz auf dem afrikanischen Kontinent sukzes-sive verringert. Angesichts dessen kann in meinen Au-gen von Koordinierung keine Rede sein.Frau Staatsministerin Müller hat in einem militäri-schen Kontext – offenbar ebenfalls „großartig“ abge-stimmt – ihre Vorstellungen über den Sudan kundgetan.Die Reaktionen sind hinlänglich bekannt. VergangeneWoche hören wir Minister Struck etwas von Bundes-wehreinsätzen in Afrika murmeln. Wie passt das alleszusammen? Ich sehe keine Koordinierung und Abstim-mung in der Afrikapolitik. Eine kohärente, schlüssigeund letztlich einander bedingende Verknüpfung der un-terschiedlichen Politikfelder ist schlichtweg nicht er-kennbar, Herr Büttner.
Das Auswärtige Amt mit seinen teilweise hervorra-gend funktionierenden Botschaften und Ihr Ministerium,Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, mit der GTZ und ande-ren Organisationen der Entwicklungshilfe arbeiten nichtnur in Einzelfällen gegeneinander statt miteinander.Wenn es selbst an Orten außerhalb Afrikas, auf die ge-rade der Fokus der Öffentlichkeit gerichtet ist, wie etwaKunduz, zwischen den Vertretern der verschiedenen Mi-nisterien – milde gesagt – knirscht, dann wagt man garnicht, sich die Zusammenarbeit in Afrika, auf einem weit
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Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenbergweniger beachteten Kontinent, auszumalen. Einen sol-chen „Luxus“ können wir uns gerade in Zeiten knappsterRessourcen schlicht nicht leisten.Stichwort Ressourcen: Es ist auch im sicherheitspoli-tischen Kontext bemerkenswert, wie weit Zielsetzungund Realität auseinander klaffen, wenn man die vorhan-denen Ressourcen sieht. Vielleicht wäre es in diesem Zu-sammenhang – ich sage das auch im Hinblick auf IhreAnträge – hilfreich, die Ziele weniger romantisierenddenn realitätsnah zu formulieren.
Das erfordert aber den Mut – dieser ist in unserem Landnur sehr marginal ausgeprägt –, die eigenen Interessen zudefinieren und angesichts der knappen Mittel Prioritätenzu setzen. Beiden Ansprüchen werden die Anträge vonRot-Grün nicht gerecht. Angesichts der Formulierungenmuss man feststellen, dass sie – ohne jegliche Interes-sennennung – einem mittlerweile überholten Verständnisvon Werteorientierung und Entwicklungszusammenar-beit verpflichtet sind. Aber der von mir angesprocheneKontext fehlt. Auch hier ist ein Koordinierungsdefizit zuerkennen.Der Kollege Heinrich hat darauf schon hingewiesen.Erstaunlicherweise taucht nicht einmal der Begriff einereuropäischen Sicherheitsstrategie auf, auch nicht die vonvielen als Teufelswerk apostrophierte nationale Sicher-heitsstrategie der Vereinigten Staaten.Überall wird ein klarer Bezug zu Afrika gesucht,nicht nur dort, wo es um Präemption geht. Die Wortesind sehr viel weiter gefasst. Nichts davon steht in die-sem Antrag. Es handelt sich auch hier – gerade im inter-nationalen Kontext – um eine Koordinierungsaufgabe,die zum Ziel hat, eine Verbindung zu diesen Strategienherzustellen.
Es geht nicht zuletzt darum, die Außenpolitik sowiedie Afrikapolitik auf europäischer Ebene und auf derGrundlage – wenn man so will – interkontinentaler Not-gemeinschaften erkennbar in unserem Sinne zu beein-flussen. Sie sollten nicht in einem neokolonialen Sinne,sondern in unserem Sinne – möglicherweise stimmenwir darin überein – beeinflusst werden.Herr Kollege Büttner, anderenfalls drohen wir zumSpielball der Ambitionen anderer zu werden. Es gibthierfür ein sehr aktuelles Beispiel: die britisch-französi-sche Initiative zu „superschnellen Eingreiftruppen“, zuso genannten Battle Groups, mit denen eine klare Afri-kaperspektive verbunden ist. Es handelt sich hierbei umeine britisch-französische Initiative. Irgendwann sindwir auf diesen Zug noch hechelnd aufgesprungen. Es istkeine deutsche Initiative. Ich möchte einmal wissen, wiedie Koordinierung in diesem Fall aussah und wie sichhier die Suche im europäischen Kontext als solche dar-gestellt hat.Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf einenganz anderen Koordinierungsfaktor eingehen. Es stelltsich die Frage, wie sich etwa diese Politik mit der Suchenach einem Parlamentsbeteiligungsgesetz in Einklangbringen lässt. Auch das ist eine Koordinierungsaufgabe.Wir laufen möglicherweise Gefahr, die Bundeswehr inihrem jetzigen Zustand, aber auch unsere Bevölkerungdurch solche derart übereilten Ideen – die Initiative ist ansich begrüßenswert, weil sie europäisch gedacht ist unddie Briten einbindet –, durch ein schnelles Aufspringenzu überfordern.
– Herr Büttner! – Bevor Sie über Eingreiftruppen inAfrika offensiv nachdenken oder ein überholtes Ent-wicklungskonzept beweihräuchern, sollten Sie und dieBundesregierung erst einmal Gedanken über ein großes,abgestimmtes außen-, entwicklungs- und verteidigungs-politisches Konzept entwickeln, das schlüssig und kohä-rent ist. Sie sollten eben nicht nur Schlaglichter setzen,sondern sich auch einmal innerhalb der Ministerien ab-stimmen, damit auch von außerhalb das Gefühl erlangtwerden kann, hier werde Politik aus einer Hand betrie-ben.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/2478 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Tagesordnungspunkt 6 b: Wir kommen zur Be-schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses aufDrucksache 15/1843 zu dem Antrag der Fraktionen derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel„Unterstützung von Landreformen zur Bekämpfung derArmut und der Hungerkrise im südlichen Afrika“. DerAusschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1307anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen dieStimmen der Opposition angenommen.Zusatzpunkt 5: Interfraktionell wird die Überweisungder Vorlage auf Drucksache 15/2574 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen,Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten undder Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
– Drucksache 15/814 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Verbesserung der Rechte von Verletzten imStrafverfahren
– Drucksache 15/2536 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier,Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der Abgeordneten JerzyMontag, Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter undder Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurVerbesserung der Rechte von Verletzten im Straf-verfahren
– Drucksache 15/1976 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 15/2609 –Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Schmidt
Joachim StünkerSiegfried Kauder
Irmingard Schewe-GerigkJörg van Essenb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen,Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDPOpferrechte stärken und verbessern– Drucksachen 15/936, 15/2609 –Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Schmidt
Joachim StünkerSiegfried Kauder
Irmingard Schewe-GerigkJörg van EssenZum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt einÄnderungsantrag der Fraktion der FDP vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin für Justiz, Brigitte Zypries.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren Abgeordneten! Immer wieder ist der Vorwurf er-hoben worden, die Justiz kümmere sich nur um die Täterund lasse die Opfer allein. Dieser Vorwurf trifft heute inunserer gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mehr sosehr wie vor 20 Jahren zu. In den letzten Jahren hat inder Strafverfolgung, in der Justiz, in der Politik und inder Gesellschaft insgesamt insoweit ein Bewusstseins-wandel eingesetzt. Das hat tatsächliche Verbesserungenzur Folge. Wir haben zum Beispiel Zeugenbetreuungs-stellen in den Gerichten eingerichtet und haben auchschon auf dem Gesetzwege zahlreiche Verbesserungenfür die Opfer erreicht. Aber wir sind der Auffassung,dass die Stellung des Opfers noch weiter verbessert wer-den kann, wohlgemerkt ohne die Stellung des Beschul-digten im Strafverfahren zu beeinträchtigen. Dies ist unswichtig. Die Strafprozessordnung gibt dem Beschuldig-ten Rechte, die rechtsstaatlich eingehalten werden müs-sen. Dabei muss es auch bleiben. Gleichwohl werden wirmit dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf die Positionder Opfer im Strafverfahren noch einmal entscheidendverbessern und stärken. Wir setzen damit auch eine derVereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag um.Das Opferrechtsreformgesetz der Regierungskoali-tion verfolgt vier große Ziele:Erstens wollen wir die Belastungen für das Opferdurch das Strafverfahren so gering wie möglich halten.Wir wollen erreichen, dass mehrfache Vernehmungennur dann stattfinden, wenn sie unabdingbar sind. Wirwollen die Gelegenheit geben, statt beim Amtsgerichtgleich beim Landgericht anzuklagen, um den Opferzeu-gen eine zweite Tatsacheninstanz zu ersparen, wennRechtsmittel eingelegt werden und das Verfahren in dienächsthöhere Instanz geht. Bei landgerichtlichen Urtei-len gibt es nur noch den Weg zum Bundesgerichtshof.Dort geht es aber lediglich um die Frage, ob ein Rechts-fehler vorliegt. Dort werden die Zeuginnen und Zeugennicht nochmals vernommen.Aber auch in den Fällen, die ihren Ausgang vor demAmtsgericht nehmen, wollen wir zu einer Reduzierungder Zahl der Vernehmungen in der Berufungsinstanzvor dem Landgericht beitragen. Dazu sollen die Verneh-mungen vor dem Amtsgericht nicht nur wie bisher in ih-rem wesentlichen Ergebnis schriftlich protokolliert wer-den, sondern sie sollen insgesamt auf Tonträgeraufgezeichnet werden können, die dann gegebenenfallsabgespielt werden können. Die nächsthöhere Instanzmuss dann nicht noch einmal die Zeugen vorladen undbefragen, sondern kann sich die Aufnahmen anhören.Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang ist,dass wir die Zulassung der Videovernehmung von Zeu-gen erleichtern wollen. Öfter als bisher soll es möglichsein, dem Opfer die Begegnung mit dem Beschuldigtenim Verhandlungssaal oder die Aussage im Angesicht derÖffentlichkeit zu ersparen. Das ist insbesondere dannwichtig, wenn Kinder Verbrechensopfer sind. In solchenFällen sollte man diese Konfrontation im Gerichtssaalvermeiden. Festzuhalten ist also: Es gibt erweiterteMöglichkeiten der Videovernehmung.
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Bundesministerin Brigitte ZypriesDas zweite Ziel, das wir bei unserem Gesetzentwurfin den Vordergrund stellen, ist die Stärkung der Rechtedes Opfers im Verfahren. Insoweit gibt es noch ganz er-hebliche Defizite. Wir werden jetzt die Möglichkeitschaffen, dass weiteren Nebenklageberechtigten kosten-los ein Rechtsanwalt als Opferanwalt beigeordnetwird, der ihnen im Strafverfahren beisteht. Auch die An-gehörigen des durch eine Straftat Getöteten könnenkünftig einen solchen Opferanwalt in Anspruch nehmen;ansonsten gibt es den Opferanwalt schon.Zur Nebenklage sollen künftig auch die Frauen be-rechtigt sein, die als Prostituierte ausgebeutet oder Opfervon Zuhälterei wurden. Wir hoffen, dass dadurch eineweitere Verbesserung für Opfer im Umfeld von Men-schenhandel erreicht wird.Ein weiterer Schritt besteht darin, dass wir Vertrau-enspersonen die Möglichkeit geben, bei der Verneh-mung anwesend zu sein. Es geht um Vertrauenspersonenvon Verletzten, die als Zeugen vernommen werden. DieZeugen sollen die Möglichkeit haben, jemanden mitzu-nehmen, dem sie wirklich vertrauen. Das soll auch mög-lich sein, wenn eine Videovernehmung stattfindet. Manmuss dann nicht allein dasitzen, sondern kann jemandenbei sich haben, dem man vertraut.Das dritte Ziel, das wir mit unserem Gesetzentwurfverfolgen, ist die Verbesserung der Durchsetzung vonSchadensersatzansprüchen der Geschädigten. Zu die-sem Zweck wollen wir das so genannte Adhäsionsver-fahren ausbauen. Dem Verletzten wird der zusätzlicheGang vor das Zivilgericht erspart, indem das Strafgerichtbeispielsweise über den Anspruch auf Schmerzensgeldgleich mitentscheidet. Zugleich werden die Ressourcender Justiz so effizienter genutzt. Bisher ist es in der Pra-xis die Regel, dass die Gerichte von der Möglichkeit Ge-brauch machen, von einer Entscheidung über diesenErsatzanspruch des Verletzten abzusehen. Eine Entschei-dung über den tatsächlichen Anspruch ist hingegen im-mer noch die Ausnahme. Dieses Verhältnis wollen wirmit der gesetzlichen Änderung umkehren, indem wir dieVoraussetzungen einschränken, unter denen das Gerichtvon der Entscheidung absehen kann. Ist das Opfer zumBeispiel durch eine Schlägerei erheblich verletzt wor-den, wird die Zuerkennung des geltend gemachten Scha-densersatzes im Strafprozess künftig die Regel sein. DasGericht kann von einer solchen Entscheidung nur abse-hen, wenn sonst erhebliche Verfahrensverzögerungdroht. Im Fall des Schmerzensgeldes ist das Opferinte-resse vom Gericht ganz besonders zu berücksichtigen.Der vierte Aspekt, meine Damen und Herren, ist dieInformation der Verletzten, der Opfer, über ihre Rechteund den Ablauf des Strafverfahrens. Diese gibt es heutekaum; die wollen wir deutlich verbessern. Künftig wirdder Verletzte Mitteilung über die Einstellung des Verfah-rens, über die Entscheidung der Eröffnung des Haupt-verfahrens, über den Sachstand der Anklage und auchüber freiheitsentziehende Maßnahmen erhalten, insbe-sondere darüber, wann die freiheitsentziehenden Maß-nahmen beendet werden. Hintergrund dieser Regelungist, dass wir die Opfer vor unbeabsichtigtem, unvorberei-tetem Zusammentreffen mit ihren Peinigern schützenwollen. Das gilt natürlich insbesondere für die Opfer vonSexual- oder Gewaltstraftaten; solchen, die körperlicheGewalt erfahren haben, wollen wir also ersparen, unvor-bereitet dem Täter auf der Straße zu begegnen. Deshalbgibt es, wie gesagt, Informationen über die Dauer derHaft, über die Dauer der Unterbringung, aber auch überVollzugslockerungen und Hafturlaub.Meine Damen und Herren, wenn man auch mancheEinzelregelungen dieses Gesetzentwurfs unterschiedlichbetrachten kann, so hat dieser Gesetzentwurf doch vonden Opferschutzverbänden und auch in der Sachverstän-digenanhörung des Rechtsausschusses dieses Hauses imDezember letzten Jahres sehr viel Zustimmung erfahren.Ich bin froh darüber – auch darüber, dass wir uns trotzaller Differenzen im Detail im Grundsatz in diesemHause darin einig sind, für die Rechte der Opfer mehr zutun.
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Frau Bundesjustizministerin! MeineKolleginnen und Kollegen! Die Botschaft, die von derMinisterin verbreitet wurde, wird bei Opfern ankom-men: Wir kümmern uns um die Rechte der Opfer vonStraftaten, aber die Interessen der Beschuldigten dürfennicht tangiert werden. Zudem werden wir am 22. diesesMonats ja auch den Tag des Kriminalitätsopfers bege-hen. So sieht auch der Grundansatz dieses Gesetzes, dasdie Regierung „Opferrechtsreformgesetz“ nennt, aus:Man reibt sich nicht an konkurrierenden Rechten, manüberlegt nicht, wo man Opferrechten mehr Gewicht ver-leihen und maßvoll Rechte Beschuldigter eingrenzenkann; doch das geht. Dieser Entwurf hat mit einer Re-form wenig zu tun. Er korrigiert im Randbereich. Selbstdort, wo eine Kollision mit Rechten Beschuldigter nichtzu erwarten ist, hat man zu wenig getan. Wird etwa einBeschuldigtenrecht eingegrenzt, wenn künftig in einerAnklageschrift der Wohnort eines misshandelten Kindesnicht mehr genannt würde? Diese Forderung des WeißenRinges wurde nicht berücksichtigt.Es handelt sich hierbei, meine Damen und Herren, umein Flickwerk, das man niemals als großen Wurf be-zeichnen wird. Wenn es nur zu wenig wäre, was in die-sem Opferrechtsreformgesetz steht, könnten wir von derOpposition zustimmen; und es steht viel zu wenig drin.Aber teilweise geht davon auch eine falsche Botschaftaus. Da wird propagiert, man könne jetzt besser Scha-denersatz- und Schmerzensgeldansprüche für Opferin Strafverfahren durchsetzen. Dabei ist die Regierungschon am Rechtsmittelproblem gescheitert und sie ist zu-rückgerudert, weil sie das nicht in den Griff bekommenhat. Das Grundübel bei den Opferrechten bleibt beste-hen: Wird ein Opferrecht verletzt, kann das Opfer diesenVerstoß in aller Regel nicht mit einem Rechtsmittel rü-gen. Deswegen wird die Botschaft, die Richter sollten
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Siegfried Kauder
stärker als bisher das Adhäsionsverfahren zulassen, nichtverfangen, weil das Opfer sich gegen einen ablehnendenBeschluss nicht zur Wehr setzen kann.
– Herr Ströbele, ich kann Ihnen das gern einmal schrift-lich erklären, dann werden auch Sie es verstehen.Was den Opferanwalt auf Staatskosten anbelangt,hat man die Korrektur eines Redaktionsversehens imletzten Gesetz vorgenommen, aber keine Reform für dieZukunft geschaffen. Warum den Opferanwalt auf Staats-kosten nur für Hinterbliebene von Opfern einer Straftatund nicht auch bei Geiselnahme, bei Raub mit Todes-folge und bei Körperverletzung mit Todesfolge? Manbleibt immer wieder auf halber Strecke stehen.Das ist nicht die Botschaft, die Opfer brauchen. Opfermüssen sich in ihrer schwierigen Situation der Unterstüt-zung des Staates gewiss sein können. Das ist nicht derFall. Opfer müssen sich auch darauf verlassen können,dass ihre persönlichen Daten sicher sind, denn sie habenja Angst, dass der Beschuldigte ihnen auflauert oder sieweiter belästigt. Genau das versuchten wir im Entwurfder CDU/CSU-Bundestagsfraktion sicherzustellen. DieVideoprotokolle von der Vernehmung eines kleinenKindes, das weinend von der Tat berichtet, sollen nichtdem Verteidiger zur Verfügung gestellt werden, der sieauch dem Mandanten zeigen muss. Wir waren der Auf-fassung – die sich im Übrigen mit der Meinung des Bun-desdatenschutzbeauftragten deckt –, dass dieses als Be-weismittel nur bei der Staatsanwaltschaft und sonstnirgends eingesehen werden darf.
In diesen zwei gravierenden Punkten unterscheidenwir uns vom Opferrechtsreformgesetz. Deswegen wer-den wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen können.
Aber, meine Damen und Herren, die Frau Bundesjus-tizministerin hat am 13. November 2003 in einem Inter-view gegenüber dem Weißen Ring erklärt, man werdesich auch Gedanken darüber machen, die Nebenklageim Jugendstrafverfahren zuzulassen. Damit kommeich auf den Änderungsantrag der FDP zu sprechen. Seitvier Monaten denkt man darüber nach. Man muss nurzwei Vorschriften im Jugendgerichtsgesetz ändern. DerKollege van Essen, ich und andere wissen, dass man nurin § 80 JGG den Abs. 3 und, wenn man das Adhäsions-verfahren will, in § 109 JGG den Verweis auf § 81 JGGstreichen müsste und schon hätte man – nur mit der Än-derung dieser zwei Vorschriften – ein hervorragendesReformwerk. Wenn man das nach vier Monaten Nach-denkens nicht meistert, liegt das meiner Meinung nachnicht daran, dass man nicht zu einem Ergebnis kommenkann, sondern daran, dass man sich mit gewissen Be-denkenträgern bezüglich des Opferrechts, die ich hier inden Reihen der Koalitionsfraktion ausmachen kann,nicht anlegen will.
Deswegen werden wir den gewünschten Erfolg im Be-reich des Opferschutzes auch weiterhin nicht erzielen,solange die Regierungskoalition so zusammengesetzt ist,wie sie es zurzeit ist.Frau Justizministerin, wir werden Ihnen unsere Unter-stützung weiterhin nicht versagen. Soweit es sich umsachlich vernünftige Ansätze handelt, werden wir sie imInteresse der Opfer mittragen können und auch mittra-gen. Aber das, was hier als großer Wurf angeboten wird,ist für Opfer eine Enttäuschung. Das wird man diesenam 22. März, dem Tag des Kriminalitätsopfers, so auchsagen müssen – schade.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kauder, für eine Ablehnung unseres Antrages wa-ren Ihre Argumente eigentlich relativ schwach. Ich sehedas anders. Rot-Grün setzt nämlich mit dem heutigenEntwurf eines Opferrechtsreformgesetzes den konse-quenten Schutz im gesamten Strafprozessverfahren fort.Von der Verbesserung der verfahrensrechtlichen Stellungvon Zeugen und Zeuginnen im Strafverfahren profitierenbesonders Kinder und Frauen als Opfer sexualisierterund auch häuslicher Gewalt.Wegen der oft lebenslangen Traumatisierung ist esnotwendig, dass das gesamte Ermittlungs- und Strafver-fahren so zu gestalten ist, dass es nicht noch zu zusätzli-chen Verletzungen kommt. Für viele Opfer, besondersfür Kinder, stellt die nochmalige Konfrontation mit demTäter im Ermittlungsverfahren oder als Zeuge vor Ge-richt eine unzumutbare Belastung dar. Daher soll eineVernehmung der kindlichen Opfer – die Ministerin hates gerade vorgestellt – aus dem Nebenraum per Video-standleitung ermöglicht werden. Bis zu diesem Punktsind wir uns im Hause alle einig.Allerdings wollen wir, dass der oder die Vorsitzendeim Gerichtssaal verbleibt und das Kind außerhalb desGerichtssaals, unterstützt durch eine Vertrauensperson,vernommen wird. Wir ziehen dieses Modell dem Main-zer Modell vor, das Sie, meine Damen und Herren vonder Union, in Ihrem Gesetzentwurf präferieren. Dabeiwird der Vorsitzende mit dem Kind allein in einem ande-ren Raum sein und die Vernehmung per Video in denGerichtssaal übertragen. Bei beiden Methoden ist eineBelastung des kindlichen Opfers niemals ganz auszu-schließen. Frau Kollegin Noll, wir haben gestern sehr in-tensiv darüber diskutiert: Nicht nur eine Kamera, son-dern unter Umständen auch das Zusammensein mit
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Irmingard Schewe-Gerigkeinem Richter in einem separaten Raum kann das Kindverunsichern.Wir sind ebenso wie die Mehrheit der Sachverständi-gen der Meinung, dass das von uns gewählte Verfahrengeeigneter ist; denn für die Unmittelbarkeit der Haupt-verhandlung ist es besser, wenn der Richter oder dieRichterin im Saal bleibt, auch um die Reaktion des An-geklagten zu erleben.In diesem Zusammenhang ist es natürlich besonderswichtig, dass das Kopieren und die Herausgabe vonVideobändern über die Vernehmung von Kindern anden Angeklagten nicht erfolgen. Dieses Material darfnur den zur Akteneinsicht Berechtigten überlassen wer-den. Das verhindert, dass solche Bänder in Umlauf gera-ten können. Ich muss Ihnen sagen: Ich habe keinenZweifel daran, dass sich die Verteidiger an diese Vor-schrift halten. Ein technischer Kopierschutz, wie er auchvom Datenschutzbeauftragten gefordert wurde, wäredennoch sinnvoll. Ich glaube, wir sind technisch inzwi-schen auch so weit.Um besonders schutzbedürftige Zeuginnen und Zeu-gen wie zum Beispiel Opfer von Sexualverbrechen künf-tig vor Belastungen durch mehrfache Vernehmungenzum gleichen Gegenstand zu bewahren, muss die Klagekünftig nicht erst beim Amtsgericht erhoben werden,sondern sie kann gleich beim Landgericht eingereichtwerden.Wir stärken mit diesem Gesetzentwurf konsequent dieRechte aller Opfer. Ich sage: aller Opfer. Prostituierte,die durch Zuhälter ausgebeutet wurden, können sichjetzt dem Strafverfahren gegen einen solchen als Neben-klägerin anschließen. Sie schlechter zu behandeln alsalle anderen Opfer kann durch nichts legitimiert werden.In diesem Zusammenhang muss ich doch einmal dieKolleginnen und Kollegen von der Union fragen, wie siees eigentlich begründen, dass sie dem Staatsanwalt unddem Verteidiger bezogen auf die Zeugen jegliches Fra-gerecht in allen Fällen des sexuellen Missbrauchs, derVergewaltigung, des Menschenhandels, ja sogar derKörperverletzung abschneiden wollen, dass sie dabeiaber eine Gruppe ausnehmen wollen, nämlich Prostitu-ierte, die Opfer von Zuhältern geworden sind. ErklärenSie doch einmal der Öffentlichkeit, warum Sie Zuhälternein höheres Maß an Verteidigung zuerkennen wollen alsanderen Angeklagten!
Eine körperliche Untersuchung kann das Schamge-fühl von Menschen verletzten. Darum sollen Frauen undMänner – nicht nur die Frauen, wie es der Unionsent-wurf vorsieht – auch das Recht haben, von einer Persongleichen Geschlechts untersucht zu werden. Aber dasOpfer muss auch selbst entscheiden können. Ich meinezum Beispiel Fälle von Jungen, die sexualisierte Gewaltdurch Männer erlebt haben und die vielleicht nicht voneinem Mann untersucht werden möchten. Das ist Opfer-schutz, der sich an den Realitäten orientiert.Nur wer informiert ist, kann seine Rechte wahrneh-men und sich schützen. Künftig werden die Verletztennicht nur über ihre Rechte, sondern auch über den Ab-lauf des Strafverfahrens, über Verfahrenseinstellung,Haft, Vollzugslockerung und Entlassung des Täters in-formiert, und das nicht nur auf Antrag, wie Sie von derUnion das wollen. Denn gerade Opfer von Gewaltver-brechen wollen wissen, ob und wann sich ihr Peinigerauf freiem Fuß befindet. Sie können sich leicht die Situa-tion einer vergewaltigten Frau vorstellen, die sich sicherfühlt, weil der Täter angeblich in Haft ist, ihn aber plötz-lich in der Nähe ihrer Wohnung trifft. Solche Situationenwollen wir den Opfern ersparen.Ich komme zu einem weiteren wichtigen Bereich,dem Ausgleich des Schadens. Momentan – auch das hatdie Ministerin vorgetragen – werden in der Regel diemeisten Schadenersatzansprüche in einem weiteren, zi-vilrechtlichen Verfahren entschieden. Wir wollen es er-möglichen, gleich im Strafverfahren auch den Ersatz fürden aus der Straftat entstandenen Schaden feststellen zulassen. Dieses Adhäsionsverfahren kann eine zusätzlicheKlage vor einem Zivilgericht ersparen.In der Anhörung wurden die Details zwar kontroversdiskutiert. Was aber nicht geht, meine Damen und Her-ren von der Union, ist, dass Sie die Strafgerichte bei be-stimmten Straftaten zwingen wollen, die Adhäsiondurchzuführen, selbst dann, wenn das Gericht nach Prü-fung eine Adhäsion für ungeeignet hält. Das geht nicht.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage desKollegen Kauder?
Nein. Ich weiß, dass Herr Kauder gestern sehr aus-führlich im Rechtsausschuss diskutiert hat. Herr Kauder,ich habe Sie schon gelobt. Sie sind ein hervorragenderJurist. Ich möchte mich jetzt gerne mit der FDP beschäf-tigen.
Ich komme zum Schluss. Vor zwei Tagen hat uns einÄnderungsantrag der FDP erreicht, in dem gefordertwird, sowohl die Nebenklage als auch das Adhäsions-verfahren in das Jugendgerichtsgesetz aufzunehmen.Bei meiner Fraktion gibt es da eine gewisse Offenheit.Allerdings müssen wir die Bedenken der 2. Jugendstraf-rechtsreform-Kommission ernst nehmen. Sie hat sehrgrundsätzliche Bedenken gegen diese Ausweitung undsagt, man könne dies nicht mit dem normalen Verfahrenbei Erwachsenen vergleichen. Darum sage ich: LassenSie uns eine sachgerechte Lösung im Rahmen einer Ge-samtreform des Jugendstrafrechts und der Strafprozess-ordnung suchen! Ich bin sicher, dass wir damit auf einenguten Weg kommen, die Opfer zu stärken.
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Irmingard Schewe-GerigkIch finde es sehr schade für dieses Haus, dass wir esbei diesem gemeinsamen Ziel, bei dem wir nicht weitauseinander sind, nicht geschafft haben, einen gemeinsa-men Antrag zu formulieren.
Für die Sache wäre dies wirklich ein guter Dienst gewe-sen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Bedauern, das die Kollegin Schewe-Gerigk ausge-sprochen hat, nämlich dass wir nicht zu einem gemeinsa-men Antrag gekommen sind, teile ich. Ich darf vielleichtder SPD-Fraktion den freundlichen Hinweis geben, ein-fach einen anderen Berichterstatter wie zum Beispiel denKollegen Manzewski für diesen Vorgang zu benennen.Ihm gelingt es offensichtlich immer wieder, ein Klimazu schaffen, das ein vernünftiges Rechtsgespräch ermög-licht und dazu führt, sich auf eine gemeinsame Vorlagezu einigen.
Es ist nämlich richtig, was die Kollegin Schewe-Gerigkfestgestellt hat: In weiten Teilen dieses Hauses gibt esÜbereinstimmung darin, dass es Verbesserungen für denOpferschutz geben muss. Deshalb ist es heute ein guterTag.Die Ministerin hat vorhin zu Recht darauf hingewie-sen, dass inzwischen Gott sei Dank anders diskutiertwird, dass das Opfer stärker wahrgenommen wird. Alsein Zeichen dafür, dass es diese stärkere Wahrnehmunggibt, sehe ich es an, dass einer der Landesjustizministerheute hier auf der Bundesratsbank sitzt und an dieser De-batte teilnimmt; denn die Länder sind in diesem Zusam-menhang in besonderer Weise gefordert. Ich freue michdarüber, dass er dieses Interesse durch seine Anwesen-heit bekundet.Neben all den Dingen, die wir rechtlich regeln, sindes zum Teil auch organisatorische Maßnahmen, die dazuführen, dass sich die Zeugen und Opfer vor Gericht bes-ser behandelt sehen. Ich habe bei den verschiedenen De-batten, die wir in diesem Zusammenhang geführt haben,auf ein Beispiel aus Baden-Württemberg hingewiesen,wo wir eine von der FDP gestellte Justizministerin ha-ben. Dieses Beispiel ist aus meiner Sicht besonders dafürgeeignet, den Opferschutz voranzubringen. Dort werdennämlich Referendare während ihrer Ausbildung bei Ge-richt gebeten, Opfer und Zeugen zu betreuen. Sie lernenauf diese Weise die Situation der Opfer kennen und estritt nicht das ein, was häufig in der Juristenausbildungstattfindet, nämlich dass man ausschließlich täterorien-tiert denkt: Als Staatsanwalt ermittelt man gegen den Tä-ter, als Verteidiger verteidigt man einen Täter und alsRichter hat man über die Schuld eines Täters zu ent-scheiden. Ich denke, dass neben all den gesetzgeberi-schen Maßnahmen auch solche organisatorischen Vor-gänge dazu dienen können, den Opferschutz zuverstärken.Wir als FDP werden das Opferrechtsreformgesetz derKoalition heute unterstützen. Es gibt dafür zwei wesent-liche Gründe. Ein Aspekt ist hier schon angesprochenworden. Das ist die Frage: Wie ist die Vernehmung ei-ner Person, die außerhalb des Gerichtssaals zu verneh-men ist, durchzuführen? Wir halten das Modell, das dieKoalition vorschlägt und das anders ist als das so ge-nannte Mainzer Modell, bei dem der Vorsitzende hinaus-geht und sich mit der zu vernehmenden Person in einenanderen Raum begibt, für das bessere.
Es ist schon gesagt worden: Die Umsetzung des Mo-dells der Koalition führt dazu, dass alle am VerfahrenBeteiligten, Richter, Staatsanwalt und Verteidiger, dasgleiche Bild und den gleichen Eindruck haben. Ich bin14 Jahre Staatsanwalt und Oberstaatsanwalt gewesen.Daher weiß ich, dass es außerordentlich wichtig ist,beispielsweise die Reaktion des Angeklagten – FrauSchewe-Gerigk hat das angesprochen – auf bestimmteÄußerungen zu beobachten. Deshalb muss diese Mög-lichkeit bestehen.
Das ist für uns ein ganz wichtiger Grund, dem Gesetz-entwurf der Koalition zuzustimmen.Der zweite Grund ist das Adhäsionsverfahren, dasdie bisherige Debatte bestimmt hat. Ich brauche dahernicht ausführlich darauf eingehen; aber eines will ich sa-gen: Ich weiß nicht, den wievielten Versuch wir heuteunternehmen, das Adhäsionsverfahren zu stärken. Esgibt gute Gründe, es zu stärken. Das führt nämlich dazu,dass diejenigen, die Opfer geworden sind, nicht zweiverschiedenen Verfahren – zunächst das Strafverfahrenund dann, beispielsweise wegen des Schadensersatzes,das zivilrechtliche Verfahren – hinter sich bringen müs-sen. Das Adhäsionsverfahren trägt ganz wesentlich dazubei, die Belastungen von Opfern einer Straftat zu redu-zieren.Im Gegensatz zum Ausland, wo dieses Verfahrenohne jegliche Probleme seit vielen Jahrzehnten funktio-niert, ist es in Deutschland offensichtlich nicht wirklicheinführbar.
Dieses Mal muss es gelingen.
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Jörg van Essen– Herr Ströbele, ich bin leider auch skeptisch. Wir dürfenaber nicht nachlassen. Es muss auch in Deutschlandselbstverständlich sein, dass in Strafverfahren über Scha-densersatzansprüche eines Opfers von Straftaten mitent-schieden wird, damit danach alles klar ist.
Zum Schluss möchte ich die Frage der Nebenklageund des Opferanwalts im Jugendstrafverfahren an-sprechen. Wir möchten das einführen. Der Erziehungs-gedanke, der das Jugendstrafrecht zu Recht beherrscht,wird nach unserer Auffassung nicht beschädigt, wennman sich mit dem Opfer intensiver befassen muss, weildas Opfer an der Verhandlung teilnehmen und Rechtewahrnehmen kann oder weil das Opfer anwaltlich bera-ten ist. Das führt dazu, dass dem Jugendlichen die Aus-wirkungen seiner Tat viel deutlicher werden.
Damit wird aus unserer Sicht der Erziehungsgedanke ge-stärkt.Frau Schewe-Gerigk hat gesagt, dass wir unseren Än-derungsantrag erst in diesen Tagen eingebracht haben.Das haben wir tatsächlich getan; aber es sind alte, be-kannte Vorschläge des Weißen Rings, die wir uns zu Ei-gen gemacht haben.
Ich freue mich, dass die gestrige Debatte im Rechts-ausschuss gezeigt hat: Wir alle wollen in die Prüfungdieser Frage eintreten. Mit unserem Änderungsantraghaben wir, die FDP, einen ganz wichtigen Anstoß gege-ben. Ich freue mich auf diese Debatte. Ich hoffe, dass wirzu einem gemeinsamen Ergebnis kommen. Auch im Ju-gendverfahren müssen die Rechte von Opfern gestärktwerden. Das ist unser Ziel.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Mit dem Opferrechtsreform-gesetz in der Fassung des Regierungsentwurfs verab-schieden wir heute eine Verbesserung der Rechte derVerletzten im Strafverfahren, die alle hier im HohenHause wollen. Wenn in den zurückliegenden Wochenund Monaten auch unterschiedliche Reformansätze Ge-genstand der Ausschussberatungen waren, so ist die in al-len Ansätzen zum Ausdruck gekommene rechtspolitischePhilosophie doch gleich gewesen. Wir alle wollen – dasist es wert zu unterstreichen – die Stellung des Opfers ei-ner Straftat im gesamten Strafverfahren, also vom Be-ginn der Ermittlungen bis zum Vollzug und darüber hi-naus, stärken. Die Frau Ministerin hat die einzelnenPunkte dargestellt. Von daher muss ich darauf nicht imEinzelnen eingehen.Weil wir das gemeinsam wollen, sollten wir das auchvon dieser Stelle aus öffentlich bekunden und nicht zer-reden, Herr Kollege Kauder. Für mich ist bei der Diskus-sion über diese Frage kein Platz für vordergründige, po-pulistische politische Polemik. Dieses Thema eignet sichnicht für den politischen Tageskampf. Herr KollegeKauder, ich will trotzdem auf einiges, was Sie angespro-chen haben, kurz eingehen.Es ist nicht so, dass wir nicht in der Lage seien – dashaben Sie der Ministerin vorgeworfen –, die Rechte desBeschuldigten zu beschneiden. Bei allem Bemühen umOpferschutz geht es darum – das muss man sich ins Ge-dächtnis rufen –, dass es verschiedene Stadien des Ver-fahrens gibt. In diesen verschiedenen Stadien des Ver-fahrens ist oft gar nicht klar, ob derjenige, den wir fürden Täter halten, der Beschuldigte, der Angeschuldigte,der Angeklagte, auch der Täter ist und ob das Opferauch das Opfer ist. Das stellt sich erst im Laufe des Ver-fahrens heraus. Das ist nicht immer so. Aber in vielenFällen muss man darauf Rücksicht nehmen. Von daherist es wichtig, das fein und exakt zu ziselieren.Herr Kollege Kauder, das Ergebnis kann nicht soholzschnittartig und einseitig sein, wie Sie als Vertreterdes Weißen Ringes es hier immer wieder vortragen. Wirmüssen dabei schon die Gesamtschau im Auge behalten.
Ich spreche Ihnen Ihr Engagement nicht ab. Aber wirmüssen immer wieder auf das Strafverfahren im Ganzenhinweisen.Zweitens haben Sie gefragt, warum es nicht möglichsei, die Anschrift von geschädigten Zeugen in der An-klageschrift wegzulassen. Meines Wissens kann man dasaus Schutzgründen schon heute tun: § 200 in Verbindungmit § 68 der Strafprozessordnung.
In meiner jugendrichterlichen Praxis ist das so gehand-habt worden. Im Übrigen ist das in der Praxis überhauptkein Problem, Herr Kollege Kauder.Drittens. – Nun ist Herr Kollege van Essen dabei,weitere Komplimente auszuteilen, und ist zur Bundes-ratsbank enteilt. – Herr Kollege van Essen, es ist sicher-lich sehr vernünftig und lobenswert, dass Sie dem Ent-wurf der Regierung jetzt zustimmen möchten. Zu demÄnderungsantrag, den Sie eingebracht haben und überden wir noch abzustimmen haben: Wir werden uns sehrgründlich mit dieser Frage beschäftigen und auseinandersetzen. Aber Änderungen im JGG, im Jugendgerichtsge-setz, sollte man sich sehr gründlich überlegen. Mansollte nicht, wie Herr Kollege Kauder darzustellen
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Joachim Stünkerversucht hat, meinen, man könne das mit einem Feder-strich machen. Wir werden das sehr gründlich überlegen.
– Sie haben 16 Jahre gebraucht, Herr Kauder.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege vanEssen hat auf einen wichtigen Punkt hingewiesen, wes-halb es mir immer sehr wichtig ist, die Gemeinsamkeitenzu betonen. Frau Noll, Sie werden uns vielleicht gleichwieder vorwerfen, alles nicht richtig zu machen. Ichwerde das dann ertragen. Aber die Gemeinsamkeit istmir sehr wichtig, weil von hier aus nach draußen, in diePraxis hinein, die Botschaft ausgehen muss: Der Gesetz-geber will das.Die Verbesserungen, die auch Sie wollen – teilweisegehen sie Ihnen nicht weit genug –, in der Praxis durch-zusetzen wird noch schwierig werden, insbesondere dieVerwirklichung von Schadensersatzansprüchen bereitsim Strafprozess. Für 90 Prozent der Strafprozesse, die je-den Wochentag von Flensburg bis zum BayerischenWald stattfinden, nehmen wir einen Paradigmenwechselvor: Wir sagen den Gerichten, dass sie, wenn der Antraggestellt wird, Schadensersatzansprüche in der Regel imStrafprozess ausurteilen müssen. Das wird für viele neusein. Die Praxis sieht ganz anders aus. Herr van Essenhat zu Recht darauf hingewiesen, dass in der Vergangen-heit oft versucht worden ist, das durchzusetzen; es hataber nicht funktioniert.Darum ist es mir sehr wichtig, dass von dieser De-batte die Botschaft ausgeht: Wir wollen alle gemeinsam,dass zukünftig den Opfern, den Geschädigten einerStraftat, die Möglichkeit gegeben wird, im Regelfall be-reits im Strafprozess Schadensersatz- und Schmerzens-geldansprüche durchzusetzen. Was dem deutschen Straf-prozess in der Tat bisher fremd gewesen ist, soll dieRegel werden. Daher wäre es für mich wünschenswert,dass wir das nicht im politischen Tageskampf zerreden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Regierungs-koalition sind der Meinung, dass das Opferrechtsreform-gesetz ein weiterer Meilenstein auf dem Weg der rot-grünen Reformen in der Rechtspolitik seit 1998 ist.Wir haben uns im Jahre 1998 sehr ehrgeizige Ziele ge-setzt. Wir haben uns in der 14. Legislaturperiode im We-sentlichen mit dem Zivilprozessrecht im Bereich der or-dentlichen Gerichtsbarkeit beschäftigt, um eineStrukturreform auf den Weg zu bringen, die zu Entlas-tungseffekten führt. Wir haben damals gesagt: Die Re-form des Strafprozesses wird der 15. Legislaturperiodevorbehalten sein.Wir haben Ihnen im Jahre 2001 unser Eckpunktepa-pier vorgelegt. Auch darin sind die Aspekte, die wirheute mit dem Gesetzentwurf zur Verbesserung der Op-ferrechte verabschieden, enthalten.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf dieStrukturreformen hinweisen. Im Jahr 1998 haben wiruns entschieden, die Reformmodelle der 90er-Jahre, dieimmer nur zu höheren Belastungen statt zu höheren Ent-lastungen geführt haben, nicht weiter zu verfolgen. Da-mals sind wir, insbesondere im Bereich des Zivilprozess-rechts, schwer bekämpft worden. Heute stellen wir fest,dass sich die ZPO-Reform zunehmend durchsetzt.
– Herr Kollege Röttgen, erst heute habe ich mit Freudegelesen, dass mittlerweile auch CDU-Landesministerdem Modell der Dreistufigkeit, das wir damals vehementvertreten haben, sehr viel abgewinnen können und diesesModell sogar in öffentlichen Reden propagieren. Ge-wisse Reformen brauchen nun einmal einige Zeit, bis siesich durchsetzen. Ich denke, auch hier sind wir auf ei-nem guten Weg.In der nächsten Woche werden wir mit dem Justizmo-dernisierungsgesetz den zweiten Schritt unseres Modellszur Reform des Strafprozessrechts tun. Auch in ihm sindnoch einige Vorschriften zum Opferschutz enthalten, diein diesem Zusammenhang von Bedeutung sind. Als drit-ten Schritt haben der Kollege Montag und ich am 13. Fe-bruar dieses Jahres der Öffentlichkeit einen Diskussions-entwurf für eine weitere Reform des Strafprozessrechtsvorgestellt.Diese drei Schritte gehören für uns zusammen undbilden eine Einheit, die wir im Jahre 2001 mit unseremEckpunktepapier auf den Weg gebracht haben. Dahersind wir sehr zufrieden, dass wir diesen Gesetzentwurfheute und den zweiten Schritt unseres Reformmodells inder nächsten Woche verabschieden können. Am Wo-chenende können wir dann auf dem Stafverteidigertagund im Verlaufe der nächsten Wochen und Monate bishin zum Deutschen Juristentag im September dieses Jah-res über eine weitere grundlegende Reform des Strafpro-zessrechts diskutieren.Wenn wir diese, vielleicht auch mit ein wenig Ge-meinsamkeit, durchsetzen können, haben wir in zwei Le-gislaturperioden – ich hoffe, wir werden das schaffen –für die ordentliche Gerichtsbarkeit als Ergebnis sehr vielerreicht, was Sie in 16 Jahren nicht einmal im Ansatz aufden Weg gebracht haben.Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Michaela Noll, CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Stünker, auch wenn Sie mir gerade nichtzuhören, muss ich Ihnen sagen: Sie scheinen mich schonsehr gut zu kennen. Ich verspreche Ihnen: Ich werde Ihre
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Michaela NollErwartungen nicht enttäuschen. Denn wir sind nicht nurhier, um Nettigkeiten auszutauschen, sondern auch, umüber die Defizite Ihres Entwurfs zu diskutieren.
Um es auf den Punkt zu bringen: Vor circa einem Jahrhabe ich Sie im Interesse eines bestmöglichen Opfer-schutzes hier an dieser Stelle um die Unterstützung unse-res Gesetzentwurfs gebeten. Mit Ihrer Zustimmung hät-ten Sie dem Land und den Opfern einen wirklich gutenDienst erwiesen, auf den die Opfer lange genug gewartethaben.Aber lassen wir doch einmal Revue passieren, wie dieZeit danach verlaufen ist. Erst einmal hat sich ein halbesJahr lang überhaupt nichts getan. Das war für die Opferverlorene Zeit. Dann haben Sie Ihren Gesetzentwurf zurOpferrechtsreform vorgelegt. Warum Sie bei diesem Ge-setzentwurf allerdings von einer großen Reform spre-chen, bleibt mir bis heute ein Rätsel. Was ist denn mitden Opferrechten in Jugendstrafverfahren? Was ist mitder Forderung des Weißen Rings und der Empfehlungdes 64. Deutschen Juristentages, im Verfahren gegen Ju-gendliche die Nebenklage zuzulassen?
Kollege van Essen, das haben Sie eben bereits angespro-chen. Ich denke, konstruktive Vorschläge lagen vor.Aber sehen wir uns doch einmal die Gegenäußerungder Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesra-tes an. Sie zeigt, dass hier Nachbesserungsbedarf be-steht. Dort heißt es zu § 58 a Abs. 2 Satz 2 StPO: „DieBundesregierung wird den Vorschlag prüfen.“ Worumging es hier? Es ging um die Herausgabe der Kopien derVideoaufzeichnungen an den Verteidiger. Mein KollegeKauder hat das eben schon angesprochen. Nur unserEntwurf macht deutlich, dass die Aufzeichnungen be-sonderen Schutz verdienen. Denn wir wollen nicht, dassKopien von Aufzeichnungen herausgegeben werden.Mit dieser Ansicht stehen wir, wie Sie sehen, nicht ganzallein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle – das giltauch für Sie, Herr Stünker – haben den Vermerk desBundesbeauftragten für den Datenschutz hoffentlich ge-lesen. Darin steht, dass unsere Fassung vorzugswürdigerscheint, weil sie die Interessen der Betroffenen besserschützt.Ich denke, deutlicher kann man es nicht sagen.
Sie sehen, meine Damen und Herren: Opferschutzwollen ist die eine Seite, ihn aber konsequent umsetzendie andere. Letzteres ist Ihnen in dem Entwurf aber nurdort gelungen, wo Sie unsere Vorstellungen übernom-men haben. Dass Sie einiges übernommen haben, sehrgeehrte Frau Ministerin, haben Sie ja netterweise schonbei der Regierungsbefragung eingeräumt.Schlimmer ist jedoch, was im Regierungsentwurffehlt. Da spreche ich Sie an, Frau Kollegin Schewe-Gerigk: Es geht um die Kinder. Sie wissen, es gab ges-tern bei uns im Familienausschuss eine heftige Diskus-sion. Ich bin nach wie vor eine Verfechterin des Main-zer Modells. Danach haben kindliche Opfer dieMöglichkeit, in einem separaten Raum unmittelbar vomVorsitzenden vernommen zu werden. Versetzen Sie sicheinmal in die Situation eines kindlichen Vergewalti-gungsopfers! Glauben Sie denn nicht, dass es für dasOpfer verletzend und demütigend ist, in eine Kamera zusprechen? Das können nicht alle Kinder. Ich habe Ihnendoch schon letztes Mal erklärt: 94 Prozent der Täterstammen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld derKinder.
Deswegen möchte ich eine möglichst vertrauensvolleund schonende Vernehmungsatmosphäre schaffen; dasist weniger belastend für die Kinder. Sie können sichersein, dass eine persönliche Ansprache zu mehr Opfer-schutz führt.
Darauf zielte unser Gesetzentwurf ab.
Ich kann Ihnen nur klipp und klar sagen, auch wennSie sich ein wenig echauffieren, Herr Kollege Ströbeleund Frau Kollegin Schewe-Gerigk: Wir hatten die Ex-pertenanhörung. Da hatten Sie Gelegenheit, mit den Ex-perten zu reden. Sie waren nicht da – ich war da! Ichmöchte Sie gerne daran erinnern, was die Oberstaatsan-wältin wortwörtlich gesagt hat und was jeder nachlesenkann:Angesichts der Ablehnung der Simultanverneh-mung durch die Praxis sollte die Umsetzung des sogenannten Mainzer Modells angedacht werden.Gleich lautende Zustimmung kam von ProfessorRössner, den Sie eingeladen hatten. Die gleiche Mei-nung vertraten auch der Deutsche Juristentag, der WeißeRing und der Bundesrat.Es ist beschämend, an dieser Stelle sagen zu müssen:Kinder, die in Österreich Opfer eines Sexualverbrechenswerden, sind besser gestellt; denn dort werden sie regel-mäßig durch einen kinderpsychologisch befähigtenSachverständigen vernommen, der sich gemeinsam mitder Vertrauensperson und dem Kind in einem gesonder-ten Raum befindet, während sich der Richter im Sit-zungssaal aufhält. Das nenne ich Kindeswohl; davonsind wir weit entfernt! In Österreich wird genau das prak-tiziert, was Professor Rössner in seiner Stellungnahme„perspektivisch“ für den deutschen Strafprozess vorge-schlagen hat. Ich empfehle die Lektüre! Bei uns wird im-mer gesagt: Es scheitert an schwierigen rechtlichen und
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Michaela Nollpraktischen Fragen. Da sind die Österreicher anschei-nend weiter!Ihre Verweigerungshaltung geht erneut zulasten derSchwächsten in der Gesellschaft. Frau Ministerin, ichdenke, gerade diese Opfer brauchen den Schutz derRechtsordnung. Das sage ich Ihnen als Abgeordnete, alsFrau und als Mutter.Sie müssen sich auch Untätigkeit vorwerfen lassen,denn ich kann mich daran erinnern: Am 12. Februar die-ses Jahres haben Sie, Frau Ministerin, hier im DeutschenBundestag angekündigt, demnächst eine gesetzliche Re-gelung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung zupräsentieren.
Bis heute liegt nichts vor. Das heißt, wir laufen Gefahr,dass drei hochgefährliche Kinderschänder ab 1. Septem-ber dieses Jahres auf freien Fuß gesetzt werden müssen.Für mich ist das heute kein guter Tag für den Opfer-schutz.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Daniela Raab, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Opferschutz ist ein Ziel – wir haben es indieser Debatte oft genug gehört –, das wir unbestritten –Gott sei Dank ist das so – gemeinsam verfolgen. Es istein Thema – auch das haben wir jetzt bemerkt –, dasEmotionen weckt, nicht nur bei uns, wenn wir darüberdiskutieren, sondern insbesondere bei den Betroffenenund in der Bevölkerung. Jeder sieht ein, dass es nichtsein kann, dass die Interessen des Opfers in einem Pro-zess weniger gewahrt werden als die des Täters. Keinermöchte, dass das Opfer im Prozess nochmals traumati-siert wird. Man bemüht sich, weiteres Leiden zu verhin-dern und einen gerechten Prozess zu führen, der in eingleichermaßen gerechtes Urteil münden soll. Das sollteman meinen, aber bis jetzt kann man sich nicht immerdarauf verlassen.Auch das ist schon gesagt worden: Eine Reform istnicht immer eine Reform, oder besser: Nicht überall, wo„Reform“ draufsteht, ist auch „Reform“ drin, besondersnicht, wenn sie von Ihnen kommt – aber diese Erfahrunghaben wir ja schon öfter gemacht. „Reform“ bedeutet füruns den Abbau unnötiger Bürokratie und eine noch akti-vere Beteiligung des Opfers am Strafprozess, als diesbisher möglich ist.In den letzten Debatten und auch heute von meinenVorrednern ist bereits einiges an Fakten ausgeführt wor-den. Ich möchte das nicht unnötig wiederholen. Es istvon allen Seiten aufgezeigt worden, wie viel sich in denletzten Jahren für die Opfer schon zum Besseren verän-dert hat und welche Fortschritte im Opferschutz gemachtwurden.Eines möchte ich ganz gerne wiederholen: Opfer-schutz war immer ein Thema der Union und der FDP.1994 wurde das erste Opferschutzgesetz verabschiedetund noch 1998 gab es die Regelungen zum Zeugen-schutz. Und dann kamen Sie!
Die Entstehungsgeschichte des heutigen Gesetzentwur-fes geht immerhin schon auf das Jahr 1999 zurück, erverfiel aufgrund Ihrer nachhaltigen, konsequenten Untä-tigkeit der Diskontinuität.
Das Ganze wurde nur dadurch durchbrochen, dass derBundesrat die Initiative ergriffen hat, der wir uns alsUnion dankbar angeschlossen haben. Erst, als das bereitslief, haben Sie sich mit einem eigenen Entwurf auf denWeg gemacht. Man möchte fast sagen: Respekt, das gingja richtig schnell.Dennoch darf ich sagen, dass es gut ist, dass wir unszumindest darin einig sind, dass Opferschutz ein Themaist, das wir nicht aus den Augen verlieren dürfen.
Umso bedauernswerter ist es – auch das sage ich ganzklar –, dass wir uns nicht auf einen gemeinsamen Ent-wurf einigen konnten.Auch die Expertenanhörung im Dezember hat deut-lich gemacht, dass sich viel verbessert hat, dass es abernötig ist, weitere rechtliche Voraussetzungen zu schaf-fen, um die Opferrechte zu stärken. Ich möchte kurz– auch wenn dazu heute schon etwas gesagt worden ist –einige der von uns geforderten Maßnahmen nennen, diezur Stärkung der Opferrechte beitragen sollen.Ich nenne zunächst die Erweiterung der Nebenklageund die Bereitstellung eines Opferanwalts für Hinterblie-bene. Dies sind Bedingungen, die definitiv schon längsthätten durchgesetzt werden müssen und die jetzt wiedernur rudimentär durchgesetzt werden.Auch muss es einen verbesserten Informationsflusszwischen Opfern und Behörden über Opferrechte undden Stand des Verfahrens geben. Soweit sind wir nun.Das begrüßen wir sehr; denn das Opfer muss in die Lageversetzt werden, seine Rechte in vollem Maße wahrzu-nehmen. Dazu gehört nun einmal als erste Vorausset-zung eine umfassende Information und Aufklärung.Eine Erleichterung für die Opfer, aber auch für dieGerichte ist das geforderte Adhäsionsverfahren. DessenAusgestaltung gefällt uns trotz Ihres Nachbesserungs-vorschlages aus dieser Woche immer noch nicht. MeinKollege Kauder hat dazu in gewohnt präziser Weiseschon Stellung genommen.
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Daniela RaabEs sollte – dieser Punkt liegt uns wirklich sehr amHerzen – dem Verteidiger des Angeklagten nicht gestat-tet sein, Bild- und Tonaufzeichnungen einer Verneh-mung des Opfers aus dem Gericht mitzunehmen, ohnedass das Opfer dem vorher zugestimmt hat; denn manmuss bedenken, dass das Opfer bei dieser Vernehmungmöglicherweise noch stark unter dem Eindruck der Tatsteht und dass Bilder des Opfers in einer solchen dochsehr intimen Situation, in der das Opfer verletzbar ist,unter besonderem Schutz stehen müssen. Dies ist geradedeshalb nötig, weil es noch keinen sicheren Kopier-schutz für Videos gibt. Auch das ist bereits erwähnt wor-den: Der Bundesbeauftragte für Datenschutz hat dasauch bestätigt.Sie sehen, wir waren verhandlungsbereit. Ihr Entwurfgeht uns leider an diesen wichtigen Stellen definitivnicht weit genug. Der Opferschutz müsste wesentlichkonsequenter weitergeführt werden. Die Chance dazubesteht nach wie vor. Dennoch können wir Ihrem Ent-wurf heute leider nicht zustimmen.Vielen Dank.
Die Kollegin Petra Pau hat ihre Rede zu diesem Tages-
ordnungspunkt zu Protokoll gegeben.1) Deshalb schließe
ich die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen zum Tagesord-
nungspunkt 7 a. Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU zur Stärkung der Rechte der
Opfer im Strafprozess auf Drucksache 15/814. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 15/2609, den Gesetz-
entwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stim-
men der CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unse-
rer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Noch Tagesordnungspunkt 7 a. Abstimmung über den
von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf
zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafver-
fahren auf Drucksache 15/2536. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 15/2609, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungs-
antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2615 vor,
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU
gegen die Stimmen der FDP abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
1) Anlage 2
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit mit demselben Stimmverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem
von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung
der Rechte von Verletzten im Strafverfahren, Drucksache
15/2609. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei-
ner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf auf Druck-
sache 15/1976 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 b. Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses auf Drucksache 15/2609 zu dem An-
trag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Opferrechte
stärken und verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung, den Antrag
auf Drucksache 15/936 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalition gegen die Stimmen der FDP bei Ent-
haltung der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
– Drucksache 15/2494 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin für Justiz, Brigitte Zypries.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! In dem Ziel der Sache, um die es hier geht, sindsich Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung einig.Wir alle wollen die Rechte psychisch kranker oder be-hinderter Menschen erhalten und gegebenenfalls weiterstärken. Mit dem Betreuungsrecht, über das wir hierreden, unterstützen wir psychisch kranke oder behin-derte Menschen dabei, ein selbstbestimmtes Leben zuführen – so gut es eben geht.
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Bundesministerin Brigitte ZypriesIm Zuge der jetzt vom Bundesrat aufgekommenenInitiativen zur Veränderung des Betreuungsrechts wurdeteilweise die Behauptung aufgestellt, dass das Betreu-ungsrecht ein schlechtes Gesetz sei und dass es erhebli-che Missstände gebe. Diese Aussage würde ich gernezurückweisen und ihr widersprechen. Ich meine nicht,dass das geltende Betreuungsrecht ein schlechtes Gesetzist.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Zahl derBetreuten in den letzten Jahren sehr stark gestiegen ist.Das zeigt auf der einen Seite, dass es ein gutes Gesetzist, weil es angewandt wird. Auf der anderen Seite führtdies aber auch dazu, dass die Haushalte der Bundeslän-der stärker belastet werden. Von daher habe ich vollstesVerständnis dafür, dass die Länder hier Veränderungenvornehmen wollen und dieses Gesetz, wie man auf Neu-deutsch sagt, evaluieren wollen.Ich glaube, die stetig steigenden Betreuungskostenkann man unter anderem auf zwei Gründe zurückführen.Zum einen stehen die amtlich bestellten Betreuer nichtnur für die ihnen obliegenden Aufgaben, also für dierechtliche Betreuung, zur Verfügung, sondern sie neh-men darüber hinaus zahlreiche andere Aufgaben wahr,die eigentlich nicht zur rechtlichen Betreuung gehören.Diese rechnen sie aber gleichwohl ab. Das kann man un-ter mitmenschlichen Gesichtspunkten gut verstehen.Allerdings habe ich aber, wie gesagt, Verständnis fürdas Interesse der Länder, die die Berufsbetreuung auf dieerforderliche rechtliche Betreuung zurückführen wol-len. Das, was im Sinne der Menschen darüber hinaus ge-leistet werden muss, muss in anderer Form sichergestelltwerden. Ich glaube, das schulden wir denjenigen, die fürihre Betreuungskosten selbst aufkommen müssen, ge-nauso wie denjenigen, die ihre Betreuungskosten durchdie Staatskasse erstattet bekommen.Der zweite Gesichtspunkt ist, dass das jetzt geltendeBetreuungsrecht einen erheblichen bürokratischen Auf-wand vorsieht; denn jede Tätigkeit eines Betreuers musseinzeln dokumentiert und abgerechnet werden. Das er-scheint schon auf den ersten Blick nicht sonderlich ver-nünftig. Von daher glaube ich schon, dass die unnötigeBürokratie ruhig zurückgeführt werden kann, wennman den Grundprinzipien des Betreuungsrechts treubleibt, also dem Wohl und dem Erhalt größtmöglicherSelbstbestimmung der Betroffenen.Einen wesentlichen Ansatz im Gesetzentwurf desBundesrates halte ich für richtig, nämlich die Stärkungder Vorsorgevollmacht, ein Thema, dem sich das Bun-desministerium der Justiz schon längere Zeit widmet.Wir werben schon immer dafür, dass diese Vorsorgevoll-macht stärker in Anspruch genommen wird.
Wir haben ein einheitliches Muster entwickelt, das vonmöglichst allen benutzt werden sollte, damit der Wirr-warr mit verschiedenen Mustervollmachten aufhört.Das gilt auch für die vorgesehene Entbürokratisierungund Verfahrensvereinfachung im Betreuungswesen. Ichhabe es schon angesprochen: Es macht eindeutig Sinn,zu einer Pauschalierung der Vergütung und des Auf-wendungsersatzes für Berufsbetreuer zu kommen. Dasist von einer Arbeitsgruppe sorgfältig berechnet worden.Ich verspreche mir davon, dass durch den Wegfall vonaufwendigen Abrechnungen für die Betreuer und mühsa-mer Überprüfung für die in der Justizverwaltung dafürZuständigen auf beiden Seiten Kapazitäten frei werden,die für Sinnvolleres genutzt werden können.
Nun ist es nicht überraschend, dass sich insbesonderedie betroffenen Berufsbetreuer und Betreuungsvereinesehr dagegen wehren, von der Spitzabrechnung hin zueiner Pauschalierung zu kommen. Ich möchte ihnen un-gern unterstellen, dass sie dies nur aus Besitzstandsden-ken heraus tun und sich weigern, sachgerechten Verän-derungen zuzustimmen. Wir sollten uns in denBeratungen im Ausschuss sehr sorgfältig anschauen,welches die Kritikpunkte der Berufsbetreuer und Vereinesind, um darauf gegebenenfalls eingehen zu können.
Mir ist schon aufgefallen, dass nicht alle Beanstandun-gen von der Hand zu weisen sind.Ein anderer Punkt, bei dem ich mit dem Gesetzent-wurf der Länder Probleme habe, betrifft die Einführungeiner gesetzlichen Vertretungsmacht für Ehegatten undLebenspartner im Bereich der Vermögensvorsorge.
Das ist ein schwieriges Thema, dem wir uns in der Dis-kussion stellen müssen. Es ist sicherlich schon in dersozialen Wirklichkeit problematisch, generell eine Voll-macht für Ehepartner einzuführen, um dann festzustel-len, dass nur 13 Prozent der Betreuten verheiratet sind.Ich glaube, der Anlass und das Ergebnis der Regelungsind auch aus verfassungsrechtlichen Gründen proble-matisch. Diese gesetzliche Vertretungsmacht in Vermö-gensangelegenheiten widerspricht zudem dem Grund-prinzip der selbstständigen Vermögensverwaltung. Manmuss sich auch die Frage stellen: Warum haben sichEhepartner nicht während ihrer Ehe gegenseitig eineVollmacht über ihre Konten erteilt? Wenn sie es nichtgewollt haben, dann muss man dies auch zu einem Zeit-punkt respektieren, zu dem sie darüber nicht mehrselbstständig entscheiden können.
All das müssen wir uns sorgfältig ansehen. Wie ge-sagt, in dem Grundansatz der Länder, die Kosten zu sen-ken, unnötige Bürokratie zu vermeiden und Vereinfa-chungen zu suchen, sind wir uns einig. Wir müssen abersehen, dass wir alles im Rahmen der erforderlichenrechtsstaatlichen und persönlichkeitswahrenden Grund-sätze regeln.
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Bundesministerin Brigitte ZypriesDazu gehört im Übrigen auch, dass die vorgeschla-gene zwangsweise Zuführung zur ambulanten ärztli-chen Heilbehandlung aufgrund richterlicher Genehmi-gung für meine Begriffe besser gestrichen werden sollte.
Die Bundesregierung hat hier ganz erhebliche verfas-sungsrechtliche Bedenken. Wir sollten sehen, dass wirzu einer anderen Regelung kommen. Es gibt hier hinrei-chend andere Möglichkeiten, um zu sachgerechten Ent-scheidungen zu kommen.Zusammenfassend: Die Bundesregierung wird dievorgeschlagenen Verfahrensvereinfachungen und Entbü-rokratisierungen mittragen, soweit dies das Betreuungs-recht wirklich stärkt und die Rechte der betroffenenMenschen wahrt.
Das Wort hat die Kollegin Ute Granold, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir befassen uns heute in erster Lesung mit der Än-derung des Betreuungsrechtes, das 1992 als eine der be-deutendsten und tiefgreifendsten Reformen desdeutschen Zivilrechts gepriesen wurde. Ich stimme Ih-nen, Frau Ministerin, zu: Es ist ein gutes Gesetz und wirsind heute aufgerufen, das, was ansteht, zu ändern, undzwar aufgrund der Veränderungen in der Alterspyramideetc. Ziel der Reform damals war es, die Rechte der Be-troffenen zu stärken und eine bis dahin beklagte Verwal-tung der Menschen durch eine persönliche Betreuung zuersetzen. Dieser Weg war richtig.Vom Betreuungsrecht betroffen sind Erwachsene, dasheißt Menschen, die wegen ihrer psychischen Krankheitoder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behin-derung ihre rechtlichen Interessen – nur darum geht es –nicht selbst vertreten können und dabei auf die Hilfe an-derer Menschen angewiesen sind. Vom Gericht bestellteBetreuer gewähren den notwendigen Schutz und die er-forderliche Fürsorge, sind aber zugleich auch darum be-müht, ein größtmögliches Maß an Selbstbestimmungdieser Menschen zu erhalten.Mitte der 90er-Jahre führte eine erste Reformdiskus-sion im Betreuungsrecht zu einer Präzisierung der Ver-gütungsregelung und einer Änderung einzelner Verfah-rensvorschriften. Das Weitere und Wesentliche jedoch,die Notwendigkeit umfassender struktureller Verände-rungen, führte danach schließlich zur Einsetzung einerBund-Länder-Arbeitsgruppe. Vor dem Hintergrund, dassdie Betreuungsfallzahlen von 1992 – seien es damalsnun 250 000 oder 450 000 gewesen – auf über 1 Millionim Jahre 2002 gestiegen und die Kosten im Betreuungs-recht im gleichen Zeitraum nahezu explodiert sind, ist eserforderlich, die Zahl der Betreuungsfälle durch Förde-rung der Eigeninitiative zu reduzieren, Bürokratie abzu-bauen und die ehrenamtliche Betreuung als unverzicht-bares Element zu stärken.In dem Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeits-gruppe aus dem vergangenen Jahr wurden Vorschlägeunterbreitet, über die wir nun zu beraten haben: Stärkungder Vorsorgevollmacht, Einführung einer gesetzlichenVertretungsmacht, Pauschalierung der Vergütung und di-verse Änderungen im Verfahrensrecht. Seitdem dieseVorschläge bekannt sind, gibt es eine sehr intensive Dis-kussion nicht nur in den Fachkreisen – teilweise kontro-vers geführt –, sondern auch in der Bevölkerung. Dieszeigt die große Betroffenheit und die gesellschaftspoliti-sche Dimension dieses Themas. Nicht nur die immergrößer werdende Zahl unserer älteren Mitbürger, son-dern auch die Jungen, grundsätzlich jeder kann betroffensein und sollte sich daher informieren und entsprechendeVorsorge treffen.Der jetzt zur Beratung anstehende Gesetzentwurf desBundesrates setzt die Empfehlungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe um. Dies bedarf jedoch einer genauenÜberprüfung. Entsprechend dem Ziel, die Zahl der Be-treuungsfälle zu reduzieren und die Eingriffe in dasSelbstbestimmungsrecht der Betroffenen auf das Not-wendige zu beschränken, ist die Stärkung der Vorsorge-vollmacht – Frau Ministerin, hier stimmen wir überein –unbestritten der richtige Weg.Um auch eine breite Akzeptanz in der Bevölkerungsicherzustellen, muss statt der zum Teil geforderten no-tariellen Beurkundung der Vorsorgevollmacht eine Be-glaubigung der Unterschrift bzw. des Handzeichens ge-nügen. Einigkeit besteht auch dahin gehend, dass dieEinrichtung eines zentralen Registrierungssystems fürVorsorgevollmachten unabdingbar ist. Die Bundesnotar-kammer verfügt bereits über ein ausgereiftes System.Dort sind bislang mehr als 70 000 Vorsorgevollmachtenregistriert. Die hierfür erforderliche gesetzliche Grund-lage könnte längst geschaffen sein, wenn die Koalitionnicht in den vergangenen Wochen erheblich blockierthätte. Das ist bedauerlich und ich hoffe, dass das kurz-fristig nachgeholt wird.Sehr umstritten und daher genau zu prüfen ist dieFrage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang einegesetzliche Vertretungsmacht im Bereich der Vermö-gensfürsorge für Ehegatten bzw. Lebenspartner der Be-troffenen eingeführt werden soll. Wir verkennen nichtdie Gefahr eines Missbrauchs und einer möglichenÜberforderung der Angehörigen, auch bei zum Teil nichtimmer klaren Familienverhältnissen. Die weiteren Bera-tungen werden zeigen, ob es Kompromisse etwa dahingehend gibt, den möglichen Gefahren eines Missbrauchsdurch Haftungsregelungen im Innenverhältnis vorzubeu-gen. Es besteht daneben auch die Gefahr, dass durch einegesetzliche Vertretungsmacht die Vorsorgevollmacht ge-schwächt wird, anstatt dass sie gestärkt wird, was das er-klärte Ziel des Gesetzgebers ist. Wir wollen und müsseneindeutig die Eigeninitiative fördern.
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Ute GranoldGegen eine gesetzliche Vertretungsmacht im Be-reich der Gesundheitsfürsorge gibt es sicherlich keineBedenken und es gibt in dieser Hinsicht sicherlich auchkeine unterschiedlichen Meinungen. Denn anders als imBereich der Vermögensfürsorge herrscht hierüber in derBevölkerung Einigkeit. Die meisten Menschen gehendavon aus, dass sie im Krankheitsfall ohnehin zur Ab-gabe einer Willenserklärung für ihre nächsten Angehöri-gen berechtigt sind.Äußerst bedenklich – darin teile ich die Meinung derMinisterin – ist die vom Bundesrat geplante zwangsweiseZuführung zur ambulanten ärztlichen Heilbehand-lung. Diese Regelung ist mit der Zielrichtung des Betreu-ungsrechts schwerlich vereinbar. Dabei würden erstmaligdie Interessen des Betreuten gegenüber dem Aspekt desSchutzes der Allgemeinheit in den Hintergrund treten.Ungeachtet dessen würde damit ein Grundrechtseingrifferfolgen, der verfassungsrechtlich außerordentlich be-denklich und unter medizinischen Gesichtspunkten nachunserer Meinung nicht erforderlich ist.
Der zentrale und gleichzeitig umstrittenste Teil derReform betrifft die gestaffelte, fallbezogene Pauschalie-rung der Vergütung von Berufs- und Vereinsbetreuern.Die ehrenamtliche Aufwandsentschädigung bleibt hier-von unberührt. Niemand wird angesichts der dramati-schen Kostenexplosion – ich nenne als Beispiel Nor-drhein-Westfalen, wo innerhalb von zehn Jahren dieKosten um das Achtzigfache von 2,5 Millionen DM auf104 Millionen Euro gestiegen sind – bestreiten wollen,dass eine grundlegende Reform der Vergütungsstrukturerforderlich ist. Zielsetzung müssen hierbei Effizienzund Transparenz sein, selbstverständlich bei gleichzeitigbestmöglicher Betreuungsleistung.Frau Ministerin, ich stimme auch darin mit Ihnen über-ein, dass über die Bedenken, die hinsichtlich der Pauscha-lierung aus der Fachwelt vorgetragen wurden – ob es umdie Gleichbehandlung von bemittelten und nicht bemit-telten Betreuten oder um die Differenzierung zwischenleichten und schweren Betreuungsfällen geht –, einge-hend diskutiert werden muss. Diese Bedenken solltenwir nicht ohne weiteres vom Tisch fegen.Im Großen und Ganzen ist der vorliegende Gesetzent-wurf eine gute Beratungsgrundlage, um das erklärte Ziel– ich denke, von uns allen – der Stärkung der Eigenini-tiative, insbesondere der Vorsorgevollmacht, zu errei-chen. Was wir bisher von Regierungsseite gehört haben,verspricht eine konstruktive Diskussion. Wir sind ge-spannt und warten auf die Beratungen.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nachdem meine beiden Vorrednerinnen das 1992 neugefasste Betreuungsrecht so gelobt haben, möchte ichnicht hintanstehen, festzustellen, dass dieses Betreu-ungsrecht im Vergleich zu der früheren Rechtslage einerheblicher Fortschritt war. Das aus grundrechtlicherSicht mehr als problematische Rechtsinstrument der Ent-mündigung bzw. der Gebrechlichkeitspflegschaft wurdedurch ein zeitgemäßes Rechtsinstrument ersetzt, das dieSelbstbestimmung und den Rehabilitationsgedanken inden Vordergrund gestellt hat.Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen, dass sichdiese Neuregelungen des Betreuungsrechts im Grund-satz bewährt haben und dass das Betreuungswesen inDeutschland funktioniert. Die Berufsbetreuer und dieBetreuungsvereine leisten hervorragende Arbeit. Die eh-renamtliche Betreuung hat sich in den vergangenenzwölf Jahren ebenfalls bewährt.Wir können aber vor dem Anstieg der Kosten fürBetreuungen insgesamt nicht die Augen verschließen.Ich möchte an dieser Stelle nicht darauf eingehen, ob essich um eine explosionsartige Kostenentwicklung – wiebei dem extremen Zahlenbeispiel aus Nordrhein-Westfa-len – gehandelt hat oder ob der Anstieg der Fälle von450 000 auf 1 Million nicht vielmehr Ausdruck eines rea-len gesellschaftlichen Bedarfs ist, der vorher nicht zumTragen gekommen ist. Gleichwohl wird die demographi-sche und gesellschaftliche Entwicklung dazu führen,dass die Anzahl der Betreuungen in den kommendenJahren in einem Maße ansteigen wird, dass sie mit denderzeit vorhandenen Ressourcen kaum noch zu bewälti-gen ist.Wir wissen, dass wir den weiteren Anstieg der Zahlder Betreuungsfälle nicht aufhalten können. Die demo-graphische Entwicklung, die Zunahme der Zahl von älte-ren Menschen und Menschen, die an Demenzerkrankun-gen leiden, und die Zunahme der Zahl psychisch krankerMenschen bestimmen einen Trend, den wir vonseitender Politik nicht stoppen können. Daher steht das Be-treuungsrecht vor ähnlichen Herausforderungen wie dieEingliederungshilfe der Sozialhilfe oder die Pflegeversi-cherung.Hier wird deutlich, dass das Betreuungsrecht nichtvon Reformen in den Sozialsystemen ausgenommenwerden kann. Deswegen ist es wichtig, in der Sozialpoli-tik auch die Erfordernisse des Betreuungsrechts zu be-rücksichtigen und entsprechende Lösungsansätze zu ent-wickeln; denn das unkoordinierte Nebeneinander vonKostenträgern – so beteiligen sich die Sozialressortsder Länder an der Finanzierung der Betreuungsvereine;die Vergütung der Berufsbetreuer erfolgt aber über dieLandesjustizverwaltungen; die Kommunen finanzierenvielfach die von den Berufsbetreuern beantragtenLeistungen – führte bisher nicht zu Ansätzen, die geeig-net sind, den Kostenanstieg im Betreuungswesen zielge-richtet und abgestimmt anzugehen sowie grundsätzlichdem Subsidiaritätsprinzip und dem Erforderlichkeits-prinzip Vorschub zu leisten.Es geht schließlich darum, Betreuung zu vermeiden.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8413
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Markus KurthDer Begriff der Betreuung hat vielfach eine sehr positi-ven Konnotation. Ich möchte vor allem den Zuhörerin-nen und Zuhörern auf der Tribüne deutlich sagen, dass essich bei der rechtlichen Betreuung, also bei der Erledi-gung von Rechtsgeschäften für andere Personen, um ei-nen ganz erheblichen Grundrechtseingriff handelt, denwir so gering wie möglich halten sollten.
Ich möchte in der verbleibenden Zeit aus Sicht derBundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen einigewesentliche Punkte des Betreuungsrechts nennen undunsere Position dazu darstellen. In vielen Punkten be-grüße ich sehr, was die Justizministerin ausgeführt hat.Auch wir sind der Auffassung, dass die Stärkung derVorsorgevollmacht ein ganz entscheidendes Instru-ment sein wird, um sowohl dem Grundsatz der Selbstbe-stimmung Geltung zu verschaffen als auch dem Ziel derKosteneinsparung ein ganzes Stück näher zu kommen.Allerdings sind wir der Auffassung, dass dafür eine sehrstarke Beratungsinfrastruktur erst noch geschaffen wer-den muss, damit die betroffenen Personen auch wissen,welche Rechte sie übertragen, wenn sie zu Betreuungs-fällen werden.Frau Zypries, es hat mich sehr gefreut, dass Sie kriti-sche Anmerkungen zur gesetzlichen Vertretungsmachtvon Ehepartnern gemacht haben; denn auch wir habengroße Bedenken, wenn über das Vermögen von Ehepart-nern oder – auch das ist nicht zu vergessen – über dieEinweisung in ein Pflegeheim entschieden werden soll.Ich möchte in diesem Zusammenhang auch betonen,dass für uns, Bündnis 90/Die Grünen, ein Festhalten amRichtervorbehalt bei der Anordnung der Betreuung dieeinzige Möglichkeit ist, der Bedeutung dieses Grund-rechtseingriffs gerecht zu werden; denn der Gesetzent-wurf sieht vor, zahlreiche derzeit von Richtern wahrge-nommene Aufgaben im Betreuungsbereich auf dieRechtspfleger zu übertragen. Nach unserer Auffassunghandelt es sich aber bei der Bestellung eines Betreuersum einen zu starken Grundrechtseingriff, als dass manihn ungeprüft den Rechtspflegern überlassen sollte.Hierüber muss man sicherlich noch einmal diskutieren.Mich hat es ebenfalls sehr gefreut, dass Sie bei derPauschalierung von Vergütung und Aufwendungser-satz für Berufsbetreuer Nachdenklichkeit gezeigt haben;denn in der Tat lassen sich nicht alle Einwände vomTisch wischen, auch wenn es Fälle gegeben hat, in denenim Rahmen der Spitzabrechnung Missbrauch betriebenwurde. So haben zum Beispiel einzelne Berufsbetreuerund Berufsbetreuerinnen innerhalb von 24 Stunden36 Stunden abgerechnet. Aber das ist sicherlich nicht derRegelfall. Wir müssen sehen, dass wir im Rahmen einespauschalen Vergütungssystems den unterschiedlichenAufwendungen – vielleicht reichen zwei oder drei Pau-schalen – gerecht werden und es den Berufsbetreuerin-nen und Berufsbetreuern ermöglichen, ihren Aufgabenexakt nachzukommen.Ich glaube, wenn die konstruktive Atmosphäre, diegeherrscht hat, als die Kolleginnen und Kollegen undinsbesondere Sie, Frau Zypries, ihre Reden gehalten ha-ben, Bestand hat, dann werden wir zu einer vernünftigenund guten Überarbeitung des Betreuungsrechts kommen.Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DasGrundgesetz gibt uns den Maßstab, mit dem dieser Ge-setzentwurf zu messen ist. In Art. 1 Abs. 1 des Grundge-setzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantast-bar.“ Darauf fußt auch die Reform von 1992, derenZielsetzung jetzt weiter verfolgt und verbessert werdensoll. Ich habe mich natürlich gefreut, hier die allgemeineAnerkennung der Reform von 1992 zu vernehmen. Diedamalige Reform war ein Ergebnis der Arbeit der FDP-Justizminister Engelhard und Kinkel. Der damalige Be-richterstatter war der Kollege Funke, der auch heute beiuns ist.
Für die FDP-Fraktion ist unverzichtbar, dass der freieWille eines jeden Menschen auch im Alter oder bei chro-nischer Krankheit absoluten Vorrang genießt und alsAusdruck seiner Würde und seines Selbstbestimmungs-rechts erhalten bleibt. Deshalb begrüßen wir ausdrück-lich die Betonung der Vorsorgevollmacht als frei zuwählendes Regelungsinstrument der Bürger und Bürge-rinnen. Die Vorsorgevollmacht sollte als Alternative zurBetreuung besonders gefördert werden.
Gerade in Anbetracht dieses Instruments lehnt es dieFDP-Fraktion aber ab, die gesetzliche Vertretungs-macht für Ehegatten und nahe Angehörige einzuführen.Hierdurch würden Ehegatten mit einer Aufgabenstellungbetraut, die sonst nur zwischen Eltern und Kindern be-steht. Wer aber weiß, wie schwierig familiäre Beziehun-gen sein können, muss der freiwilligen Bevollmächti-gung oder der Betreuung durch Fachkräfte den Vorzuggeben.
Bei der Beurteilung freiheitsentziehender Maßnah-men im Rahmen einer Betreuung kann die Effizienznicht das Hauptmerkmal sein. Daher lehnt die FDP-Fraktion auch die zwangsweise Zuführung zur ambu-lanten Heilbehandlung mit dem vorgeschlagenen§ 1906 a BGB ab. Hier liegt ein unverhältnismäßigerEingriff in Freiheitsrechte vor, der nach meiner Auffas-sung einer Überprüfung durch das Bundesverfassungs-gericht nicht standhalten würde.
Einem erfahrenen Betreuer ist es möglich, auch ohneZwangsmaßnahmen einen Betreuten zu einer notwendi-gen medizinischen Behandlung zu bewegen, und nur im
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Sibylle LaurischkFalle der Eigen- oder Fremdgefährdung sind Zwangs-maßnahmen bei Unterbringung zulässig. In Deutschlandbesteht die Freiheit zur Krankheit. Auch deshalb benöti-gen wir die rechtliche Basis, um höher qualifizierte Be-treuer in diesem jungen Berufsfeld zu halten. Die ange-strebten Qualitätssicherungen werden Gegenstand derAusschussberatungen sein.Dies gilt auch für die Pauschalierung der Betreuer-vergütung. Hierbei muss der Spagat zwischen einer aus-kömmlichen Bezahlung für die geleisteten Dienste undden steigenden Kosten für die Länderkassen bewältigtwerden. Eine Pauschalierung unter Überprüfung der Ab-rechnungen durch die Gerichte scheint mir ein gangbarerWeg zu sein. Die von den Ländern vorgeschlagene Er-mittlung des Bedarfs dürfte dem leeren Staatssäckel zusehr verpflichtet sein. Ich halte eine laufende Evaluationsowohl bezüglich des nötigen Zeitaufwands als auch derjeweiligen Vergütungssätze für sinnvoll.Die FDP-Fraktion ist der Auffassung, dass die Be-treuer ihr Einkommen nicht über eine unverantwortlichhohe Zahl von Betreuungen erzielen sollten. Diese Mas-senbetreuungen hat man mit der Novelle von 1992 zuRecht beseitigt. Eines muss allerdings klar sein: Einequalifizierte Betreuung ist nicht zum Nulltarif zu haben.Bei der Konzentration auf die Berufsbetreuer darfman aber nicht die Mehrzahl von ehrenamtlichen Be-treuern vergessen, die die manchmal mit schweren Ent-scheidungen verbundenen Aufgaben wahrnehmen undAngehörigen oder auch fremden Menschen die notwen-dige Unterstützung in der Bewältigung ihres Alltags ge-ben.Aus meinen eigenen Erfahrungen als anwaltliche Be-treuerin von psychisch Kranken kann ich sagen, dass fürdie Betroffenen gerade das Gefühl, vom Betreuer ernstgenommen zu werden, wichtig ist, damit sich die Betreu-ten nicht als Menschen zweiter Klasse fühlen und damitman ihre Würde schützt.Vielleicht bietet dieser fiskalisch motivierte Gesetz-entwurf die Möglichkeit, über gesellschaftspolitischeFragestellungen grundsätzlich zu diskutieren. Ich haltees auch für sinnvoll, dass die Registrierung sozusagen ineinem Wurf mitbehandelt wird. So viel zu Ihrem Ein-wand, Frau Kollegin Granold.Abschließend möchte ich Sie alle dazu aufrufen, dieKernfrage der Lebensgestaltung von Alten und psy-chisch Kranken gerade in Zeiten leerer Kassen sehr ernstzu nehmen.Ich danke Ihnen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Bätzing,
SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Spätestens seit dem Vorliegen des Ab-schlussberichts der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zumBetreuungsrecht wird über die zu erwartenden Gesetzes-änderungen nicht nur in Fachkreisen ausführlich disku-tiert. Heute beschäftigt sich auch der Deutsche Bundes-tag in erster Lesung mit dem Bundesratsentwurf eineszweiten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes. Es ist er-freulich, wenn eine Gesetzesinitiative mit so viel Inte-resse verfolgt wird. Ich möchte an dieser Stelle allen Be-teiligten danken, die auch schon bisher so aktiv undengagiert mit uns darüber diskutiert und uns auf Erfah-rungen und Bedenken hingewiesen haben.Ich möchte Ihnen versichern, dass wir uns die Zeit füreine ausführliche Auseinandersetzung nehmen und unsmit Anregungen, Wünschen und auch Bedürfnissen derBetroffenen intensiv beschäftigen werden.
Ende April wird es eine öffentliche Anhörung imRechtsausschuss geben. Erst danach geht der Gesetzent-wurf in die abschließende Beratung. Wir werden uns we-der zeitlich drängen noch inhaltlich einschränken lassen.Wir haben es schon mehrfach von den Vorrednern ge-hört: Uns ist vor zwölf Jahren mit dem Betreuungsgesetzwirklich eine Jahrhundertreform gelungen.
Damit hat unter anderem ein neues Vokabular Einzug inunsere Gesellschaft gefunden. An die Stelle von Ent-mündigung traten Selbstbestimmung und Mitsprache.Der Betreuer ersetzte den Vormund. Der Mensch standim Mittelpunkt. Der Dank und die Anerkennung hierfürsind allen Müttern und allen Vätern dieses Gesetzes ge-sichert.Aber gerade weil das Betreuungsrecht eine Kehrt-wende im BGB darstellt, ist es erforderlich, es an dieständig stattfindenden Veränderungen anzupassen, umfür bestehende und zukünftige Herausforderungen ge-wappnet zu sein. Zum Beispiel wird aktuell 1 MillionMenschen von Betreuern unterstützt. Diesen rasantenAnstieg hat niemand erwartet. Mit Blick auf die Zukunftund die demographische Entwicklung bei uns begrüßenwir daher die Ansätze im Bundesratsentwurf, die dasZiel verfolgen, Verfahren zu entbürokratisieren und Be-treuung, wo möglich, zu vermeiden. Aber der Menschmuss dabei weiter im Mittelpunkt stehen.
Deshalb gilt: So viel Selbstbestimmung wie möglich undso wenig Betreuung wie nötig; denn jede Betreuungstellt einen gravierenden Eingriff in das Selbstbestim-mungsrecht des Menschen dar.Von daher unterstützen wir die im Gesetzentwurfvorgesehene Stärkung der Vorsorgevollmacht, dieebenfalls Betreuung vermeiden hilft. Wir müssen dieVorsorgevollmacht in der Gesellschaft noch bekanntermachen – auch das ist schon angesprochen worden – und
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Sabine Bätzingden interessierten Bürgerinnen und Bürgern verlässlicheund verständliche Informationen dazu verschaffen.
Eine Mustervorsorgevollmacht ist dabei sicherlich sehrhilfreich.Jedoch werden in zahlreichen Fällen auch weiterhinBetreuungen erforderlich sein. So ist zum Beispiel – dasmag einige überraschen – auch für einen Ehepartnergrundsätzlich ein Betreuer zu bestellen. Deshalb möchtedie Länderkammer eine gesetzliche Vertretungsmachtfür Ehegatten im BGB verankern, die sich auf die Ver-tretungsbefugnis in der Vermögenssorge, den Woh-nungs- und Heimangelegenheiten sowie der Gesund-heitssorge erstreckt.Ich halte lediglich die Vertretungsmacht in der Ge-sundheitssorge für diskutabel. Denn in der Bevölkerungwird ohnehin davon ausgegangen, dass die Ehepartnerzur Abgabe solcher Erklärungen berechtigt sind. Aller-dings werden wir noch über Einzelheiten diskutierenmüssen, damit wir uns mit der gesetzlichen Vertretungs-macht nicht ein Ei der unkontrollierten Fremdbestim-mung ins Nest legen.Anders als bei der Gesundheitssorge stehen wir dergesetzlichen Vertretungsmacht in der Vermögenssorgeund auch in den Wohnungs- und Heimangelegenheiteneher skeptisch gegenüber. Bei der Vermögenssorge be-steht ja bereits heute die Möglichkeit – die Ministerinhat es erwähnt –, durch eine Kontovollmacht dem Ehe-gatten vollen Zugriff auf sein Konto zu gewähren. DieRealität zeigt aber, dass Ehepartner selten davon Ge-brauch machen, da sie entweder ein gemeinsames Kontohaben oder es schlicht und ergreifend nicht wollen. Einegesetzliche Regelung würde einen Eingriff in die selbst-ständige Vermögensverwaltung darstellen, die in diesemRahmen nicht erforderlich ist.Auch eine gesetzliche Vertretungsregelung im Be-reich der Heim- und Wohnungsangelegenheiten ent-spricht kaum der Überzeugung der Bevölkerung.Wir würden damit dem betreuenden Ehegatten die ge-setzliche Befugnis zur Aufenthaltsbestimmung in dieHand geben.In diesen letztgenannten Regelungen können wir we-der betreuungsvermeidende noch mit dem Selbstbestim-mungsrecht der Betroffenen in Einklang zu bringendeRegelungen erkennen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch dieZwangsmedikation lehnen wir aus den vorhin schon er-wähnten Gründen ab. Damit würden das Wohl des Men-schen und auch die unverzichtbare vertrauensvolleEbene zwischen Betreuer und Betreuten verletzt und zer-stört.Festgelegt sind wir dagegen noch nicht in der Diskus-sion um die geplante Vergütungspauschalierung. ImGrundsatz wird sich wahrscheinlich niemand dieser Pau-schalierung verschließen, aber in zahlreichen Gesprä-chen und Veranstaltungen zum Thema sind unter ande-rem auch nachvollziehbare Kritik und Bedenkenvorgetragen worden, die sich gegen die Höhe und dieDifferenzierung richten. Wir werden über diese Pauscha-lierung sicherlich noch reden müssen, damit sie sachge-recht und angemessen festgelegt wird. Ansonsten be-steht nämlich die Gefahr, dass die Betreuungskostennicht gesenkt, sondern verlagert werden.Da ich in einem Flächenwahlkreis wohne, liegt mirauch die besondere Berücksichtigung der ländlichen Re-gionen bei der Aufwandsentschädigung am Herzen. Hiergibt es Unterschiede, denen man gerecht werden mussund über die wir reden müssen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, es wird si-cherlich noch Bewegung in die Diskussion über den Ge-setzentwurf kommen. Das zeigt ja auch unsere heutigeDebatte. In der gesamten parlamentarischen Auseinan-dersetzung und bei aller Notwendigkeit einer zweitenÄnderung des Betreuungsrechts werden wir unseren Fo-kus aber weiterhin auf ein funktionierendes Gesamtsys-tem richten und die einzelnen Vorschläge auf ihre Zieler-reichung und Folgewirkung überprüfen müssen. Ich binmir aber sicher, dass wir in Abstimmung mit allen Betei-ligten und unter Berücksichtigung der Ergebnisse ausder Anhörung zu einer vernünftigen Lösung kommenwerden, die nicht an den Grundstrukturen des Gesamt-systems rüttelt und dem Grundsatz unserer Jahrhundert-reform treu bleibt: Im Mittelpunkt steht der Mensch.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Markus Grübel, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Kosten der rechtlichen Betreuung – nur um dierechtliche Betreuung geht es heute, nicht um die tatsäch-liche Hilfe und Pflege – sind für die Länder in den letz-ten Jahren explosionsartig gestiegen. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Lösung der anstehenden Probleme hateine fast unlösbare Aufgabe übertragen bekommen: Siesoll die Kosten senken, gleichzeitig aber die Anliegendes Betreuungsrechts, nämlich das Wohl der Betroffe-nen, nicht aus dem Auge verlieren. Die Ergebnisse die-ser Arbeitsgruppe sind in den vorliegenden Gesetzent-wurf eingeflossen. Wie stark der Schuh die Länderdrückt, zeigt sich schon allein daran, dass die LänderNordrhein-Westfalen, Bayern und Sachsen hier gemein-same Sache gemacht haben, also ein SPD-, ein CSU-und ein CDU-geführtes Bundesland.Bei allem Verständnis für die finanziellen Problememüssen wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren aberdie Auswirkungen auf die Betroffenen, die hilfsbedürfti-gen Menschen, im Auge behalten. Viele Menschen den-ken, wenn sie selbst ihre Angelegenheiten nicht mehr re-geln können, können ihre Angehörigen sie vertreten. Esentspricht aber auch dem Willen der Menschen, selbst zubestimmen, wer für sie handelt. Jeder, der zuverlässige
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Markus GrübelAngehörige oder andere Vertrauenspersonen hat, solltefrühzeitig eine Vorsorgevollmacht erteilen. Denn wenneine Vorsorgevollmacht besteht, ist die Anordnung einerBetreuung entweder nicht mehr nötig oder gar nichtmehr möglich. Nach meiner Meinung ist die Vorsorge-vollmacht genauso wichtig wie ein Testament oder eineLebensversicherung. Das Ziel des Gesetzentwurfs, dieVorsorgevollmacht zu stärken – da scheinen wir uns alleeinig zu sein –, ist daher uneingeschränkt zu unterstüt-zen.
Neben der Stärkung und besseren Verbreitung derVorsorgevollmacht will das Betreuungsrechtsänderungs-gesetz die Rechte der Ehegatten und Familien stärken.
Unser Grundgesetz stellt ja Ehe und Familie unter denbesonderen Schutz des Staates. Es entspricht sicherlichauch dem Ideal von Ehe und Familie, dass Ehegatten,Kinder oder Eltern eine Vertretungsbefugnis für Notfällehaben. Zudem entspricht es in der Regel auch den allge-meinen Vorstellungen. In meiner beruflichen Beratungs-praxis waren viele Ehegatten verwundert, dass sie sichgegenseitig im Notfall nicht vertreten können.Es ist aber leider auch nicht zu leugnen, dass dieWirklichkeit nicht immer dem Ideal von Ehe und Fami-lie entspricht. Das Gesetz erkennt das Problem undschreibt, dass von den Eheleuten schriftlich zu versi-chern ist – ich zitiere –, b) nicht getrennt zu leben,…d) dass der verhinderte Ehegatte einen der Vertre-tung entgegenstehenden Willen nicht geäußert hat…Bei Eheleuten unterscheidet der Gesetzentwurf zwi-schen dem Bereich der Vermögenssorge und der Ge-sundheit. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellung-nahme die Vertretung von Eheleuten im Bereich derVermögenssorge abgelehnt. Sie bezweifelt – wir habenes vorhin gehört –, dass damit die Zahl der Betreuungenverringert werden kann, und sieht auch die Gefahr desMissbrauchs.Interessant ist, Frau Ministerin Zypries und FrauBätzing, dass die Missbrauchsgefahr im Bereich der Ver-mögenssorge gesehen wird, aber nicht im Bereich derGesundheit. Missbrauch ist also wohl eher zu befürch-ten, wenn es ums Geld geht; das sagt auch die schriftli-che Stellungnahme der Bundesregierung. Wenn es umLeben und Tod geht, scheint die Missbrauchsgefahrnicht so groß zu sein.
Im weiteren Gesetzgebungsverfahren wird zu klärensein, ob Ehe und Familie durch eine gesetzliche Vertre-tungsmacht gestärkt werden können oder ob die von derBundesregierung vorgetragenen Bedenken überwiegen.Würde die Vorsorgevollmacht weitere Verbreitung fin-den und die gesetzliche Vertretungsmacht greifen, würdedies insbesondere die Vormundschaftsgerichte massiventlasten und die Betroffenen hätten nichts mit dem Ge-richt zu tun. Die Anordnung einer Betreuung greift mas-siv in das Leben eines Betroffenen und seiner Angehöri-gen ein. Dies zu vermeiden ist aller Mühe wert. Wiegesagt, wir werden im weiteren Gesetzgebungsverfahrendas Für und Wider abzustimmen haben. Dies gilt auchfür die vorgesehene Pauschalierung der Vergütung derBetreuer.Zum Schluss möchte ich noch ein Thema ansprechen,das im vorliegenden Gesetzentwurf gar nicht enthaltenist, bei dem aber dringender Handlungsbedarf besteht. Inder Öffentlichkeit, aber auch unter Juristen und Ärztengibt es eine große Unsicherheit im Zusammenhang mitFragen, die am Ende des Lebens stehen. Diese Unsicher-heit ist durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofsvom 17. März 2003 noch gewachsen. Die Enquete-Kommission „Recht und Ethik“ in der modernen Medi-zin“ befasst sich zurzeit intensiv mit Fragen von Sterbe-begleitung, Sterbehilfe und Patientenverfügung, aberauch mit Hospiz und Palliativmedizin. Der Gesetzge-ber sollte klarstellen, ob und unter welchen Bedingungendie Einwilligung eines Vorsorgebevollmächtigten, einesBetreuers oder eines gesetzlichen Vertreters im Sinnedes Gesetzentwurfs für medizinische Entscheidungenam Lebensende, zum Beispiel die Beendigung von me-dizinischen Maßnahmen – zu denken wäre etwa an dieBeendigung der Ernährung durch PEG-Sonde –, einervormundschaftsgerichtlichen Genehmigung bedarf, ins-besondere bei Vorhandensein einer Patientenverfügungund Vorsorgevollmacht.Bei der Diskussion stehen auf der einen Seite diejeni-gen, die zum Schutz des Lebens einen möglichst weitge-henden Kontrollvorbehalt wünschen. Auf der anderenSeite stehen diejenigen, die auf die Überlastung der Vor-mundschaftsgerichte hinweisen, das Selbstbestim-mungsrecht des Patienten gefährdet sehen und eineangemessene Überprüfung durch die Vormundschaftsge-richte in jedem Einzelfall als schlechterdings unmöglicherachten.Die Vorsorgevollmacht für den Gesundheitsbereichund die Fragen rund um die Patientenverfügung hängensehr eng zusammen. Wer die Vorsorgevollmacht stärkenwill, muss auch die Fragen rund um die Patientenverfü-gung klären. Dazu sollte im Gesetzgebungsverfahrenauch eine Stellungnahme der Enquete-Kommission ein-geholt werden. Die wichtigen Fragen im Zusammenhangmit der Sterbehilfe und der Patientenverfügung müssenvom Gesetzgeber und dürfen nicht von Gerichten undschon gar nicht von demokratisch nicht legitimiertenGremien geklärt werden. Das Gesetzgebungsverfahrenbietet die Chance, § 1904 BGB neu zu formulieren.Wie eingangs bereits gesagt, gibt es im laufenden Ge-setzgebungsverfahren noch viel abzuwägen und zu klä-ren. Im Mittelpunkt unserer Überlegungen stehen dieWürde des Betroffenen, das Selbstbestimmungsrecht,möglichst wenig unnötige Verfahren und ein sparsamer
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Markus GrübelUmgang mit Steuermitteln. Insgesamt ist der Gesetzent-wurf zu begrüßen. Er zielt in die richtige Richtung.Danke schön.
Für den Bundesrat erhält jetzt der Herr Justizministerdes Landes Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Gerhards,das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachden Vorreden kann ich es in vielen Punkten sehr kurzmachen, weil ich festgestellt habe, dass wir uns inwesentlichen, zentralen Punkten einig sind. Die Bundes-justizministerin und auch die Abgeordneten, die gespro-chen haben, haben dankenswerterweise darauf hinge-wiesen, dass es uns nicht darum geht, die Grundstrukturdes Betreuungsrechts zu ändern. Ganz im Gegenteil, daswar ein Jahrhundertwerk. Es geht uns nur darum, an denStellen, an denen das gut Gemeinte nicht mit dem Gutenidentisch ist, Korrekturen anzubringen.Das kann man in zwei Punkten zusammenfassen: DasGesetz ist an manchen Stellen zu aufwendig geraten – esatmet noch den Geist der 80er- und 90er-Jahre – und esist zu teuer in der Umsetzung, und zwar ohne dass dieseKosten erforderlich wären.Ich muss nicht alle Punkte wiederholen, weil vielesvon dem, was in meinem Redemanuskript steht, schongesagt worden ist. Ich will nur auf einige wesentlichePunkte eingehen, die von Ihnen schon angesprochenwurden und die den Gang der weiteren Beratung sicher-lich noch bestimmen werden.Die Zahl der Betreuungsfälle ist zum einen wegender demographischen Entwicklung übermäßig gestiegen.Das ist gar keine Frage. Zum anderen hat aber das Ge-setz dafür gesorgt, dass den Familien die Flucht aus derVerantwortung erleichtert wird. Wir haben nämlich invielen Fällen das Prinzip der Erforderlichkeit nicht soausgestaltet, dass an der Spitze der Überlegung die Fragesteht, ob überhaupt eine Betreuung vom Gericht ange-ordnet werden muss, ob andere Personen in Betrachtkommen und ob es Möglichkeiten gibt, die wir als Ge-setzgeber nachjustieren sollten, durch die die Familienund auch die Betroffenen selbst zu dem Zeitpunkt, zudem sie das noch leisten können, in die Pflicht genom-men werden.Der zentrale Punkt an dieser Stelle – Sie haben ihnbereits angesprochen – ist die Stärkung der Vorsorge-vollmacht. Dazu muss ich nichts sagen; alles Wichtigeist dazu schon ausgeführt worden. Ich bin sehr dankbar,dass wir uns da einig sind. Ich bin insbesondere für dasMuster dankbar, das das Bundesjustizministerium vorge-schlagen hat und auf das sich die Länder inzwischen ver-ständigt haben; denn es ist völlig richtig, in der Republikmit einer Mustervollmacht und nicht mit verschiedenenzu arbeiten.Dass wir ein zentrales Register brauchen, ist auchschon gesagt worden. Da muss ich nichts weiter ausfüh-ren.An zweiter Stelle sieht der Entwurf aber eine Entlas-tung aller Beteiligten – also nicht nur der Gerichte undder öffentlichen Finanzen, sondern gerade auch derBetroffenen – dadurch vor, indem wir neben der Vorsor-gevollmacht für bestimmte Fälle die gesetzliche Vertre-tungsmacht einführen. Dies ist richtig – dazu habenmehrere Redner schon einiges gesagt –, weil es einemweit verbreiteten Bedürfnis der Betroffenen und ihrerFamilien entgegenkommt, zumindest bestimmte Fälleder Betreuung in der Familie zu regeln. Man kann davonausgehen, dass in den Krankheitsfällen, in denen bei-spielsweise operiert werden muss oder in denen ärztlicheEntscheidungen abgesichert werden müssen, die Ehegat-ten füreinander eintreten. Das ist ja auch ein Hauptgrunddafür, weshalb die Leute heiraten. Das darf man nichtunterschätzen. Ich glaube, in diesem Punkt sind wir unseinig.Sie haben an der Stelle noch einen anderen Punkt ange-sprochen, der in der Tat heikler ist, weil es dafür – daraufhaben Sie hingewiesen – keine so breite Zustimmung inder Bevölkerung gibt. Es geht um die Vermögensvor-sorge. Dieser Begriff führt allerdings zu Missverständ-nissen. Es geht eben nicht um das Vermögen der Betrof-fenen. Es geht um bestimmte, exklusiv aufgeführteLeistungen. Es geht beispielsweise um den Zugriff aufdas laufende Konto bis zu einem Betrag von maximal3 000 Euro. Das ist für manchen in der Tat sehr viel.Aber es handelt sich nicht um das Vermögen, das dieMenschen besitzen. Es geht also nicht um das Häuschenund auch nicht um das Aktienpaket, sondern nur um lau-fende Einnahmen.Es geht ferner um das Stellen von Anträgen auf So-zialleistungen und um die Entgegennahme der Bewilli-gung von Leistungen bei der Renten- und der Kranken-versicherung. Es geht gegebenenfalls auch um dieMöglichkeit, für die Steuererklärung, wenn sie unproble-matisch ist, eine Unterschrift abzugeben, ohne dass dafürein Betreuer bestellt werden muss. Es geht in der Tatauch um die Frage, ob ein Mietverhältnis aufgelöst wer-den kann, wenn ein Heimvertrag abgeschlossen wird.Ich räume ein, dass bei dem letzten Punkt die Abwägungbesonders schwierig sein kann und dass man sie unterUmständen auch anders treffen kann, als sie der Gesetz-entwurf vorgibt.Ich sage ausdrücklich: Wir sollten an dieser Stellenicht immer von Missbrauch ausgehen. Wir neigen alsJuristen dazu, immer den pathologischen Fall im Augezu haben und nicht die Vielzahl der Fälle, in denen dasganz normal funktioniert. Es ist ganz wichtig, dass wiran der Stelle nicht mit der Missbrauchsfrage und mitdem Bedenken überziehen und deswegen eine Regelungzu klein halten, die sich im Prinzip, so glaube ich, alssehr vernünftig darstellt.Ein weiterer Punkt, auf den ich eingehen will, ist dieFrage der Vergütung. Ich meine, dass das geltendeRecht an manchen Stellen zum Missbrauch animiert;denn es werden die Falschen prämiert. Derjenige, der
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Minister Wolfgang Gerhards
langsam arbeitet und der jede Minute aufschreibt, wirdgegenüber dem, der sehr viel schneller in der Lage ist,eine Entscheidung zu treffen, bevorzugt, weil er amEnde mehr Geld für seine Leistung bekommt. Das kannnicht richtig sein. Die Vergütung muss pauschaliert wer-den. Ich habe auch noch keine generelle Kritik an demAnsatz der Pauschalierung gehört.Ich höre an der Stelle immer die Frage – sie ist ausden Beratungen bekannt –, ob wir mit dem jetzt vorge-schlagenen Pauschalsystem wirklich alle Fälle umfas-send abdecken. Es gibt den Einwand, dass es Betreuergibt, die sich auf die besonders schwierigen Fälle kon-zentrieren, bei denen der Aufwand größer ist. Erstensglaube ich nicht, dass das der Wahrheit entspricht, weildie meisten einen Mix von Fällen haben. Manche ma-chen es sich vielleicht auch zu leicht. Zweitens denkeich, dass die Gerichte sehr wohl in der Lage sind, dafürzu sorgen, dass bei den zu treffenden Betreuungsent-scheidungen darauf geachtet wird, dass die Betreuergleichermaßen bedient werden. Das heißt, es wird daraufgeachtet, dass nicht einer nur die leichten Fälle und einanderer nur die schweren Fälle bekommt. Es muss füreinen Mix gesorgt werden, sodass sich für jeden Be-treuer ein ausgewogenes Verhältnis an Fällen ergibt.Wenn man die heutige Praxis zugrunde legt, dannkann man davon ausgehen, dass 40 bis 50 Fälle von ei-nem Berufsbetreuer bearbeitet werden können. Ohne dieAufwandsentschädigung verdient er damit 40 000 bis50 000 Euro im Jahr. Das ist angemessen; aber mehrmuss es auch nicht sein.Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen will, ist in die-sem Zusammenhang, was der Betreuer eigentlich leistenmuss. Da sind wir an einer sehr sensiblen Stelle. Da gehtes um den Abgleich mit dem, was die Familie, anderesoziale Institutionen, aber auch der gesunde Mensch tunmüssten. Ich habe eine Menge an Beispielen gehört, wasBerufsbetreuer alles im Zusammenhang mit Vermögens-paketen zu leisten haben. Dafür würde sich der Gesundeeinen Anwalt oder einen Steuerberater nehmen. Dasmuss der Berufsbetreuer nicht leisten. Da soll er einenAuftrag erteilen und dann ist er aus dem Schneider.Mehr muss er nicht tun.Sie haben den Vorschlag zu § 1906 a BGB angespro-chen, mit dem Zwangsbehandlungen ermöglicht werdensollen. An dieser Stelle bin ich ganz bei Ihnen. Das warTeil eines Kompromisses, den die Länder geschlossenhaben. Ich persönlich und auch die Landesregierung vonNordrhein-Westfalen sind sehr damit einverstanden, dassan dieser Stelle wieder klar gezogen wird, dass der Be-treuer ausschließlich im Interesse des Betreuten arbeitetund nicht in die Pflicht genommen wird für eine Situa-tion, in der er auf zwei Schultern tragen müsste. Daskann das Vertrauensverhältnis in vielen Fällen stören.Ich akzeptiere an dieser Stelle einen Änderungsbedarf.Ein Letztes – denn meine Redezeit ist gleich abgelau-fen –
Richtig!
– will ich ansprechen. Es gibt eine Reihe von Dingen
außerhalb dessen, was die Justiz betreiben muss. Da geht
es um die Frage, ob die Vergütung für die Betreuungs-
vereine richtig gestaltet ist. Das ist eine Länderangele-
genheit außerhalb der Justiz. Es geht auch um die Frage,
ob die Betreuungsbehörden wie bisher nicht ihre Pflicht
wahrnehmen müssen oder sich ihrer Aufgabe entledigen
können, wie sie das in der Vergangenheit getan haben,
weil die rechtlichen Betreuer in vielen Fällen soziale Be-
treuung geleistet haben.
Das gehört nicht in diesen Gesetzentwurf. Es gehört
aber zu der Diskussion, die die Sozialminister bereits
führen, wobei sie gebeten haben, dass sich eine gemein-
same Bund-Länder-Arbeitsgruppe, bestehend aus den
Justizverwaltungen einerseits und den Sozialverwaltun-
gen andererseits, mit diesen Fragen befasst. Ich bin zu-
versichtlich, dass man das am Ende wieder in einer
Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit den verschiedenen Res-
sorts angemessen besprechen kann. Das ist aber ein
Thema, das unabhängig von dem jetzigen Gesetzentwurf
zu betreiben ist und diesen Gesetzentwurf nicht blockie-
ren darf.
Ich danke Ihnen für die Bereitschaft, das Thema ge-
meinsam so sachgerecht anzugehen, wie es die heutige
Diskussion gezeigt hat.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Als letzter Redner in dieser ersten Lesung würdeich gerne etwas dazu sagen, was nach meiner Auffas-sung den Charakter und die Qualität dieses Themas aus-macht. Ich bin der Überzeugung, dass das Thema, überdas wir heute debattieren, nicht nur ein juristischesFachthema ist und auch nicht nur fiskalisch betrachtetwerden kann. Es geht hier vielmehr der Sache nach umeinen zentralen und wichtigen Bereich der Gesellschafts-politik.
Das kommt zwar in der Rechtspolitik ebenso häufig wieunbemerkt vor; aber es ist ein ganz zentraler Bereich un-serer gesellschaftlichen Wirklichkeit.Es geht um die Menschen – das ist schon gesagtworden –, die, weil sie krank sind, psychisch krank oderseelisch, geistig oder körperlich behindert sind, ihre ei-genen Angelegenheiten nicht mehr erledigen können,also um Menschen, die Hilfe brauchen. Es geht um dieOrganisation und um die staatliche Verantwortung, denMenschen, die ihr Leben nicht allein gestalten können,zu helfen.
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Dr. Norbert RöttgenEs befindet sich mehr als 1 Million Mitmenschen indieser Situation. Diese Zahl macht deutlich, dass uns indem Phänomen bzw. Problem der Betreuung und Hilfeauch Trends, die unsere Gesellschaft prägen, begegnen.Es ist die Überalterung, die Veränderung des Altersauf-baus in unserer Gesellschaft. Altersdemenz ist eine we-sentliche Ursache für Betreuungsbedürftigkeit. DerTrend wird immer stärker werden. Wir werden immermehr Hilfsbedürftige haben. Darin drückt sich die Auf-lösung der Familie, familiärer Stabilität, der Nächsten-liebe im Familienverband und auch des sozialen Zu-sammenhalts überhaupt aus. Ich will die Gesellschaftüberhaupt nicht schlechtreden. Aber dies sind Trends,die damit enden, dass Menschen ihr Leben nicht mehrselber gestalten können.Das ist das Thema, über das wir heute reden, das si-cherlich auch juristische Fachfragen nach sich zieht undhohe fiskalische Relevanz hat. Aber für unsere Fraktionmöchte ich betonen, dass sich dieses Thema auch in derpolitischen Debatte darin nicht erschöpfen darf.
Es geht – ich meine, es ist kein unangemessenes Pathos,dies zu sagen – um konkrete Humanität in unserer Ge-sellschaft. Wie gehen wir mit diesen Menschen, mit die-sem Personenkreis um? Wie teuer sind sie uns?Ich möchte ebenso betonen, dass ich Effizienz nichtals Gegensatz zu Humanität sehe. Das wäre falsch. Effi-zienz ist angesichts der Realität knapper staatlicher Res-sourcen ein Gebot von Humanität. Wir müssen die Res-sourcen effizient einsetzen, um helfen zu können.Damit komme ich zur ersten konkreten Schlussfolge-rung, die meine Fraktion zieht. Wir schließen uns derEinschätzung aller anderen an: Es besteht Reformbe-darf. Es ist ein Bedarf vorhanden, die Effizienz des bis-herigen Systems, des bisherigen Rechts zu verbessern.Das ist geboten.Neben der prinzipiellen Anerkennung des Reformbe-darfs möchte ich – nicht erschöpfend; da wir in der ers-ten Lesung sind, ist mein Beitrag kurz – eine inhaltlicheLeitlinie unserer Fraktion betonen: Das ist das Prinzipder Subsidiarität, ein ebenso altes, aus der christlichenSozialethik stammendes wie heute aktuelles gesell-schaftsethisches Gestaltungsprinzip. Was heißt Subsidia-rität in der Betreuung? Es heißt im ursprünglichen Sinn:Wir müssen die Betreuung so organisieren, dass die Ge-sellschaft, die kleine Einheit, Vorrang gegenüber demStaat hat, weil sie die nähere, die familiärere und diemenschlichere Zuwendung zum Hilfsbedürftigen gegen-über staatlichen Hilfeleistungen bedeutet.Darum ist es richtig, dass die Vorsorgevollmacht alsprivate Gestaltungsmöglichkeit gestärkt wird. DieserEntwurf sieht das auch vor. Ich möchte nur ergänzen,dass es nicht damit getan ist, möglichst viele Bürgerdazu zu bringen, eine Vorsorgevollmacht zu unterschrei-ben, sondern wir müssen, wenn das Institut in der Wirk-lichkeit greifen soll, auch dafür sorgen, dass die Hilfe imFall der Betreuungsbedürftigkeit tatsächlich gewährtwerden kann. Wenn der Betreuungsfall eintritt, mussalso Hilfe geleistet werden, muss Rat gegeben werden.Wenn Subsidiarität gilt, dann hat ehrenamtliche Be-treuung Vorrang. Die Mehrzahl der über 1 Million be-treuungsbedürftigen Menschen – das muss gesagt wer-den – wird ehrenamtlich betreut. Das ist etwas Positives.Die große Mehrzahl findet eine familiäre oder ehrenamt-liche Betreuung. Dafür müssen wir dankbar sein.
Wir müssen auch dankbar sein, weil dadurch die staatli-chen Ressourcen geschont werden. Der pauschale Auf-wendungsersatz für ehrenamtliche Betreuer beträgt312 Euro im Jahr. Er ist steuerpflichtig! Wenn ein Be-rufsbetreuer eingesetzt werden muss, weil kein Ehren-amtlicher da ist, kostet das Tausende von Euro. Darumplädiere ich dafür, dass wir im eigenen staatlichen Inte-resse noch mehr darüber nachdenken, wie man mehr Eh-renamtliche finden kann. Wir müssen das Ehrenamt indiesem Bereich attraktiv machen.Neben allen steuersystematischen Diskussionen, diegeführt werden, finde ich – das ist meine persönlicheMeinung – es falsch und schließe mich damit dem Vo-tum der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürger-schaftlichen Engagements“ an, dass diese 312 Euro be-steuert werden. Das darf doch nicht wahr sein! Dasmüssen wir korrigieren.
Ich komme zum Ende. Ich wollte auf den Leitsatz derSubsidiarität und den damit zusammenhängenden Dis-kussionsbedarf hinweisen. Es wird Fachfragen geben, obwir bei der Vertretungsmacht, bei der Pauschalierungoder bei der Zwangsmedikation zu viel Schematismushaben. Wir müssen ein Einlasstor für individuelle Rege-lungen schaffen. Darüber werden wir debattieren. Un-sere Fraktion wird das schon in der nächsten Woche imRahmen einer breit angelegten Anhörung tun. Ichglaube, wir werden zu einem guten Ergebnis kommenund uns der gesellschaftspolitischen Relevanz des The-mas bewusst sein.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 15/2494 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das scheint nicht derFall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 6auf:
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer9a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft
zu dem Antrag der Abgeordneten Julia Klöckner,Uda Carmen Freia Heller, Ursula Heinen, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUKennzeichnung allergener Stoffe in Lebens-mitteln vernünftig regeln– Drucksachen 15/1227, 15/1597 –Berichterstattung:Abgeordnete Gabriele Hiller-OhmJulia KlöcknerHans-Michael Goldmannb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft
– zu dem Antrag der Abgeordneten GabrieleHiller-Ohm, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten UlrikeHöfken, Volker Beck , Cornelia Behm,weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENLebensmittelüberwachung effizienter gestal-ten– zu dem Antrag der Abgeordneten UrsulaHeinen, Peter H. Carstensen ,Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUWirksamere und breitere Lebensmittelüber-wachung und -kontrolle in Deutschland– zu dem Antrag der Abgeordneten UrsulaHeinen, Julia Klöckner, Uda Carmen FreiaHeller, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUVerbraucher aufklären und schützen – Inno-vation und Vielfalt in der Produktentwick-lung und Werbung für Lebensmittel erhal-ten– Drucksachen 15/2339, 15/2386, 15/1789, 15/2595 –Berichterstattung:Abgeordnete Gabriele Hiller-OhmUrsula HeinenUlrike HöfkenHans-Michael GoldmannZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten GabrieleHiller-Ohm, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken,Friedrich Ostendorff, Volker Beck , weite-rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNENNährwert- und gesundheitsbezogene Angabenauf Lebensmitteln europaweit einheitlich re-geln – für mehr Verbraucherschutz und fairenWettbewerb– Drucksache 15/2579 –Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-sprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-spruch gibt es nicht. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Bun-desregierung der Parlamentarische Staatssekretär GeraldThalheim.Dr
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die rot-grüne Bundesregie-rung hat 1998, wie wir uns alle noch gut erinnern kön-nen, ein schweres Erbe angetreten.
Das betraf insbesondere die immense Staatsverschul-dung, die natürlich inbesondere mit den Problemen beider Wiedervereinigung in Zusammenhang steht. Profes-sor Sinn ist kürzlich in der Öffentlichkeit mit der Aus-sage zitiert worden, die Wiedervereinigung sei auf wirt-schaftlichem Gebiet gescheitert – was natürlich Folgenfür die Staatsverschuldung hatte.
Meine Damen und Herren, die Defizite gab es nichtnur auf solch spektakulärem Gebiet wie dem der Staats-verschuldung, sondern auch in dem Bereich, über denwir heute diskutieren, nämlich bei der Lebensmittelsi-cherheit und dem Verbraucherschutz. Uns allen ist dieBSE-Krise noch recht gut in Erinnerung, die die Ver-säumnisse offenkundig gemacht hat.Worin lagen die Versäumnisse? Sie lagen ganz ein-deutig in der politischen Schwerpunktsetzung. The-men wie Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutzwar einfach zu wenig Beachtung geschenkt worden. Inden wenigen Monaten seit dem Regierungswechsel warauch die rot-grüne Bundesregierung nicht in der Lage, inallen Ecken aufzuräumen.
So haben die Versäumnisse bei Verbraucherschutz undLebensmittelsicherheit eine solche Dimension angenom-men. Bei BSE gab es ein regelrechtes Denkverbot inDeutschland. Die Folgen mussten wir alle tragen, insbe-sondere die Bäuerinnen und Bauern.Es bleibt aber festzuhalten, dass es nicht nur an politi-scher Schwerpunktsetzung mangelte, sondern auch einInstitutionsversagen in diesem Bereich vorlag. Das hatdas Gutachten der damaligen Präsidentin des Bundes-rechnungshofes, Frau von Wedel, ans Tageslicht geför-dert. Nach Vorliegen dieses Gutachtens hat die Bundes-
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Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheimregierung die Probleme mit Nachdruck in Angriffgenommen.
Es wurde eine ganze Reihe von Gesetzen und Rege-lungen zur Problematik der Lebensmittelsicherheit unddes Verbraucherschutzes deutlich verschärft. Das Minis-terium wurde neu strukturiert. Dem Verbraucherschutzwurde nicht nur im Namen des Ministeriums, sondernauch in der Rangfolge Priorität eingeräumt.Es folgten Entscheidungen im nachgeordneten Be-reich. Es wurde die Empfehlung aufgegriffen, zwischenRisikobewertung und Risikomanagement zu trennen.Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens-mittelsicherheit und das Bundesinstitut für Risikobewer-tung wurden geschaffen. Es kam zur Zusammenführungder Bundesforschungseinrichtungen und zur Gründungder Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebens-mittel.Meine Damen und Herren, wir alle wissen: Es reichtnicht aus, Gesetze und Vorschriften zu verschärfen; diesemüssen auch kontrolliert werden.
Insofern liegen unsere Bewertungen – auch wenn es aufden ersten Blick anders erscheinen mag – nicht weit aus-einander. Ich denke, wir sind uns einig, dass die für dieÜberwachung zuständigen Länder in Zukunft mehr tunund effizienter arbeiten müssen.Die Bundesregierung hat auch an dieser Stelle dieSchlussfolgerungen aus dem Von-Wedel-Gutachten ge-zogen. Dort wurde explizit ausgeführt, dass es insbeson-dere in der Koordinierung und in der Zusammenarbeitin diesem Bereich Defizite gibt. Die Bundesregierunghat am 17. Dezember des vergangenen Jahres den Ent-wurf der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift überGrundsätze zur Durchführung der amtlichen Überwa-chung lebensmittelrechtlicher und weinrechtlicher Vor-schriften beschlossen. Um die Umsetzung dieser Allge-meinen Verwaltungsvorschrift geht es in der heutigenDebatte. Es geht nicht nur darum, darüber zu reden, son-dern auch darum, durch entschlossenes Handeln in derZukunft Verbesserungen zu erreichen.
– Lieber Peter Harry, wenn du mir zugehört hättest, hät-test du festgestellt, dass meine Ausführungen insbeson-dere das Verwaltungshandeln in den Ländern betrafen.Gerade die Diskussionen über die Allgemeine Ver-waltungsvorschrift haben deutlich gemacht, dass dieBereitschaft der Länder, hier im notwendigen Ausmaßmitzuziehen, bisher nicht gegeben war. Ich denke, wennwir gemeinsam die entsprechenden Signale setzen, wer-den wir auch in diesem Punkt vorankommen. Es geht da-rum, Doppelarbeit zu vermeiden, Reibungsverluste abzu-bauen und auch hier wirtschaftlich effizient vorzugehen.Die Kritik der Länder richtet sich vor allen Dingen dage-gen, dass für eine Verbesserung der Arbeit in diesem Be-reich in erheblichem Umfang – es wird mit Finanzmittelnin einer Größenordnung von über 100 Millionen Euro ge-rechnet – zusätzliche Investitionsmittel, zum Beispiel fürLaboreinrichtungen, aber auch für das Verwaltungshan-deln, notwendig sind.Das kann man allerdings auch anders sehen und denBlick darauf richten, dass die Bereiche Lebensmittelsi-cherheit und Verbraucherschutz um genau diesen Betragunterfinanziert sind; denn wir sind uns ja einig, dass hierVerbesserungen notwendig sind. Jetzt geht es darum,durch effizientes Handeln – hier sind auch die Länderangesprochen – zu einer Regelung zu kommen, die denverschiedenen Risikogruppen Rechnung trägt. Es mussdort, wo die größten Risiken bestehen, auch am genaues-ten hingeschaut werden, während dort, wo die Risikengeringer sind, auch größere zeitliche Abstände zwischenden Kontrollen toleriert werden können.Wir sind der Meinung, dass hier jeder an seiner Stelle– die Bundesregierung an ihrem Platz und die Länder inihrer Verantwortung – aktiv werden muss. Eingangshabe ich ausgeführt, was alles vonseiten des Bundes un-ternommen wurde, wohlgemerkt: trotz der Haushalts-schwierigkeiten – sie sind in Bund und Ländern sicherähnlich groß –, in denen wir uns befinden. Ich kann nuran Sie appellieren, gemeinsam mit den Ländern zu ver-suchen, hier eine Grundlage zu finden, um vor Ort dieKontrollen durchführen zu lassen, die wir den Verbrau-cherinnen und Verbrauchern in Deutschland schuldigsind, um in diesem sensiblen Bereich den notwendigenFortschritt zu erreichen.
Meine Damen und Herren, nur wenn wir das tun, kön-nen wir den anderen Mitgliedsländern der EuropäischenUnion glaubhaft gegenübertreten. Häufig höre ich dieAussage, dass wir und nicht die anderen Länder diehöchsten Standards hätten.
Das können wir aber nur dann glaubhaft vertreten, wennwir es durch unser Handeln im eigenen Land deutlichmachen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Heinen.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Unsere heutige verbraucherpolitische Debatte steht ganzim Zeichen der Lebensmittelsicherheit, der Werbung undvieler anderer Themen, die damit zu tun haben. HerrStaatssekretär Thalheim, das Thema Lebensmittelüber-wachung spielte auch gestern im Ausschuss eine großeRolle. Daher wäre es nicht schlecht gewesen, wenn Siegestern dabei gewesen wären. Denn dort haben wir sehrumfangreiche Berichte erhalten: sowohl von den Le-bensmittelkontrolleuren zu ihrer tatsächlichen Situationund den Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen ha-ben,
als auch von den Vertretern der betroffenen Bundeslän-der Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.Die Probleme der Lebensmittelüberwachung, dieSie vorhin angesprochen haben, sind uns bekannt. Esgeht um mangelnde technische und personelle Ausstat-tungen, gleichzeitig ständig zunehmende Aufgaben – zuerinnern ist hier an die Gentechnikkennzeichnung – undMängel bei der Zusammenarbeit von Betrieben, Landes-behörden und Bundesbehörden. Im Ausschuss haben wirgestern gehört, dass Lebensmittelkontrolleure sogar ihreFortbildung selbst bezahlen müssen, weil die Länder da-für kein Geld zur Verfügung stellen. Ein Bundesland istsogar so weit gegangen, die Fortbildung zu untersagen.All dies sind Zustände – ich denke, darüber besteht imgesamten Hause Einigkeit –, die wir nicht hinnehmendürfen. Daher ist es in der Tat zu begrüßen, dass dieBundesregierung, dass Staatssekretär Thalheim die All-gemeine Verwaltungsvorschrift vorgelegt hat; denn nureinheitliche Verfahren können ein wirklich gleichmä-ßig hohes Niveau der Lebensmittelüberwachung sicher-stellen. Wir müssen dafür sorgen, dass ein Sich-Ausei-nanderentwickeln der einzelnen Bundesländer verhin-dert wird.
So weit, so gut im Grundsatz. In den Beratungen wer-den wir natürlich darauf achten müssen, dass die Rege-lungen nicht zu starr geraten: Den Ländern müssen– auch das ist Prinzip und Wesen unseres Föderalismus –gewisse Spielräume erhalten bleiben, es muss den Be-sonderheiten von Verwaltungsstrukturen Rechnung ge-tragen werden; auch dies haben wir gestern am Beispielvon NRW und Baden-Württemberg gehört. Ganz beson-ders wichtig ist: Wir dürfen die Kosten durch neue Ver-fahren, neue Gesetze und neue Verordnungen nicht ein-seitig den Ländern aufbürden.
Wenn wir zulasten der Länder etwas beschließen, müs-sen wir dafür geradestehen. Wenn Peter HarryCarstensen nächstes Jahr Ministerpräsident in Schles-wig-Holstein wird,
müssen wir natürlich ein großes Interesse daran haben,dass er seine Aufgaben in Schleswig-Holstein – da gibt esrichtig etwas aufzuräumen, Staatssekretär Thalheim! –auch wahrnehmen kann.Was die Allgemeine Verwaltungsvorschrift angeht,sind wir uns im Prinzip einig. Weniger Einigkeit bestehtbezüglich Ihrer Stellungnahme zum Verordnungsvor-schlag der EU-Kommission zur Regelung von nährwert-und gesundheitsbezogenen Angaben auf Lebensmit-teln. Lange haben wir überhaupt nichts gehört. Seitensder Bundesregierung kam lediglich von MinisterinKünast auf der „Anuga“ eine Äußerung, die Sympathienfür den Richtlinienentwurf erkennen lässt. Gestern nunhaben die Koalitionsfraktionen quasi aus dem Hut einenAntrag gezaubert, mit dem sie ihre Positionierung festle-gen.
Ich möchte darauf hinweisen: Es waren die CDU/CSUund die FDP, die bereits im letzten Jahr mit Entschlie-ßungsanträgen Stellungnahmen zu dem Verordnungsent-wurf der Europäischen Kommission abgegeben haben,während Sie leider geschwiegen haben, wie auch schonvor Wochen in der Anhörung im Ausschuss. Jetzt legenSie ein Papier vor, das mehr als schwammig ist.
Ich möchte etwas aus diesem Papier zitieren, was eigent-lich das I-Tüpfelchen der Schwammigkeit und des un-klaren Formulierens ist. Da heißt es, Sie wollen kein„völliges Verbot“ impliziter gesundheitsbezogener An-gaben, was auch immer das heißen mag. Ich bin ge-spannt darauf, wie Sie gleich erklären, was „kein völli-ges Verbot“ sein soll! Was ist denn ein „teilweisesVerbot“? Oder ist es eine „teilweise Erlaubnis“? – Ichglaube, dass Sie da noch erheblich nachbessern müssen.Ich möchte ein paar konkrete Beispiele nennen, beidenen sich etwas ändern wird. Sie zeigen auch, wieschwierig es mitunter sein wird, mit diesem Verord-nungsentwurf klar zu kommen. „Milch macht müdeMänner munter“ – mehr will ich nicht zur konkretenWerbung sagen. Es geht hier aber auch um allgemeineFormulierungen: Ein Bonbon sei wohltuend für Rachenund Hals, ein Getränk entschlacke den Körper, ein Jo-ghurt fördere eine gesunde Darmflora. Das sind Werbe-aussagen, die in Zukunft nicht mehr so einfach getroffenwerden können.Wir lehnen diesen Vorschlag nicht grundsätzlich ab,sind aber der Meinung, dass er in der Art und Weise, wieer formuliert ist, viel zu kompliziert ist. Im EuropäischenParlament sind zu diesem Verordnungsentwurf mehr als400 Änderungsanträge
eingegangen; da weiß man schon ziemlich genau, wasman von ihm zu halten hat: Kompetenzüberschreitung,Dirigismus, mangelnde Flexibilität, Bürokratiemonster,Hemmung der Innovationskraft sind die Worte, mit de-nen dieser Vorschlag in Verbindung gebracht wird.
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Ursula HeinenWo bleibt die Eigenverantwortung der Verbraucherfür ihre Lebens- und Essgewohnheiten? Wo bleibt Raumfür regionale und nationale Unterschiede? – Gerade inder Europäischen Union haben sich Ess- und Trinkge-wohnheiten über Jahrhunderte hinweg ganz unterschied-lich herausgebildet. Man muss sich nur einmal die Ess-und Trinkgewohnheiten in Deutschland und in Frank-reich anschauen. Wir können uns schon denken, dass esmit den Nahrungsmitteln in beiden Ländern entspre-chend unterschiedlich aussieht.
Die Kommission will jetzt ein Verfahren einführen,nach dem sie genehmigt, was gesund ist und was nicht.Sie will es letztlich politisch entscheiden. Eigentlich solldie Grundlage für die Bewertung dieser gesundheitsbe-zogenen Angaben von der europäischen Lebensmittelbe-hörde kommen. Das ist gut und richtig so; das könnenwir unterstützen. Warum aber anschließend die Kommis-sion noch einmal darüber beschließt
und politisch entscheidet, was gut ist und was nicht gutist, können wir nicht nachvollziehen. Wir meinen, dasssich die Bundesregierung entsprechend einsetzen muss,damit diese Formulierungen aus dem Verordnungsent-wurf herausfallen.
Ich fasse zusammen – meine Kollegin Julia Klöcknerwird darauf noch genauer eingehen –: Der Verordnungs-entwurf spricht den Verbrauchern ab, selbstständig zuurteilen; er entmündigt die Verbraucher. Das entsprichtnatürlich wieder dem, was die Bundesregierung will: Siewill dem Verbraucher sagen, was er zu tun und zu lassenhat, und ihn nicht mehr eigenständig sein lassen.
Ein solcher Vorschlag darf nicht Wirklichkeit werden.Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Höfken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Da-
men und Herren! Liebe Frau Präsidentin! Das passt ja
gut: Wir führen eine Debatte zur Verbraucheraufklärung
und haben das Kant-Jahr. Aufklärung ist ein wichtiger
Teil von Kants Aussage. Er sagt:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus sei-
ner selbst verschuldeten Unmündigkeit.
Ein Wahlspruch der Aufklärung ist:
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu be-
dienen!
Wenden wir Kants Aufklärungsbegriff auf die rot-
grüne Verbraucherpolitik an, so müssten wir sagen, dass
der Weg von der Unmündigkeit zur Mündigkeit über
Aufklärung, Transparenz und Information führt; denn
die Märkte bieten in der Regel nicht per se die notwen-
dige Transparenz und Information an. Je transparenter
der Markt ist, je besser die Verbraucher informiert sind,
desto mündiger und desto freier, liebe Kollegen von der
FDP, können sie auf dem Markt agieren. Deswegen stär-
ken wir mit unserer Politik die Autonomie und die Frei-
heit des Verbrauchers und damit den fairen Wettbewerb.
Das ist sowohl für die Verbraucher als Marktteilnehmer
als auch für die Unternehmen gut.
Unser Hauptziel bleibt deshalb, alle Schritte in Rich-
tung der verbesserten Information zu gehen. Dazu zählt
auch das Verbraucherinformationsgesetz. Wir glau-
ben, dass wir damit zu einer positiven Entwicklung kom-
men können. Die ersten Weichenstellungen sind ja schon
mit dem bereits verabschiedeten Geräte- und Produktsi-
cherheitsgesetz gemacht. Es ist jetzt die besondere Auf-
gabe der Bundesländer, aber auch der Unternehmen, den
von Kant geforderten Mut, sich des eigenen Verstandes
zu bedienen, aufzubringen und die Diskussion um das
Verbraucherinformationsgesetz gemeinsam mit der Bun-
desregierung weiter voranzubringen.
Das bündnisgrüne Verbraucherbild unterscheidet sich
– das hat man heute wieder gehört – ganz entscheidend
von dem der Opposition.
Wir haben das ganz aktuell bei der Diskussion um die
Werbebeschränkungen für gesundheitsbezogene Anga-
ben bei Lebensmitteln und übrigens auch bei der Diskus-
sion um das Gentechnikgesetz erlebt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Carstensen?
Ja.
Frau Kollegin Höfken, wie bewerten Sie eigentlich in
diesem Zusammenhang die Aussage der Präsidentin der
Verbraucherverbände, die einmal gesagt hat: Wir haben
es bei den Verbrauchern mit einem Analphabetismus in
der Küche zu tun?
Frau Müller hat in dem Zusammenhang wahrschein-lich auf etwas ganz anderes abgezielt. Ich kenne den Zu-sammenhang, in dem das Zitat steht, nicht,
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Ulrike Höfkenaber es bezieht sich natürlich auf das mangelnde Wissenum die Qualität von Nahrungsmitteln und um den Um-gang mit Nahrungsmitteln. Das kritisieren wir übrigensalle gemeinsam und bemühen uns fraktionsübergreifend,gerade auf dem Bildungswege jungen Menschen wiedermehr Wissen und mehr Information zu vermitteln. DieBundesregierung und das BMVEL, Frau Künast an derSpitze, führen große Kampagnen durch, um dieses De-fizit zu beheben.
Es gibt übrigens auch eine Kampagne der Landfrauen,die wir unterstützen.Das bündnisgrüne Verbraucherbild unterscheidet sichvon dem der Opposition gerade im Bereich der eben er-wähnten Werbebeschränkung bei gesundheitsbezogenenAngaben, aber auch bei der Gentechnik. Die Union be-schwört nämlich nur den mündigen Verbraucher, aber sie– und noch weniger die FDP – schafft ihm keine adäqua-ten Rahmenbedingungen.
Dabei zitiert sie den Europäischen Gerichtshof übrigensauch noch falsch. In mehreren Entscheidungen hat ernämlich entgegen den Aussagen der Opposition denDurchschnittsverbraucher, also den mit durchschnittli-cher Sorgfalt handelnden, angemessen sachkundigenund verständigen Verbraucher, zum Maßstab gemacht.Ich finde, das entspricht dem kantischen Vernunftprin-zip.Dass der mündige Bürger und die Entscheidungsfrei-heit bei CDU/CSU und FDP nur Makulatur sind, wirdgerade in deren Stellungnahmen zum Gentechnikgesetzüberdeutlich.
Alle regelnden Maßnahmen werden mit der Zielsetzungabgelehnt, die Kontamination des gesamten Landes mitder Gentechnik durch produziertes Chaos und in Kaufgenommene Auskreuzung gezielt herbeizuführen.
Ich finde, das ist eine Art der Freiheitsberaubung. Daslassen wir der CDU/CSU und der FDP nicht durchge-hen.Aus dem gleichen Grund unterstützen wir gleichzeitigden Vorschlag der EU-Kommission bezüglich der nähr-wert- und gesundheitsbezogenen Angaben. Mit IhrenAussagen zu der von der EU-Kommission vorgeschlage-nen Verordnung machen Sie schlichtweg die Pferdescheu. Frau Heinen, bei den entsprechenden Paragra-phen handelt es sich um Verbote mit Erlaubnisvorbe-halt. Darum ist die Formulierung in unserem Antrag ab-solut korrekt. Um es ganz klar zu sagen: Weder wird diedeutsche Werbewirtschaft an kreativen Aussagen gehin-dert noch geht die Wirtschaft aus sonstigen Gründen un-ter. Milch darf auch weiterhin müde Männer munter ma-chen.
Bei manch gesundheitsbezogener Werbung wirdder Missbrauch beschränkt. Ich habe einmal ein Produktder Firma Coca Cola mitgebracht. Es könnte aber durch-aus auch etwas anderes sein. Solche Getränke gibt es janicht nur von diesem Unternehmen. Dieses Produkt wirdals gesunder Trinkspaß beworben und entsprechend aus-gezeichnet. Was verbirgt sich hinter diesem gesundenTrinkgenuss? Er besteht nur aus 12 Prozent Apfelsaft– aus Apfelsaftkonzentrat – und ansonsten aus massigWasser, Zucker, Traubenzucker, Zitronensäure, Aroma-stoffen, Säureregulatoren, Antioxydantien, Farbstoffenund – jetzt kommt die Krönung – sieben zugesetztenVitaminen.Man kann sich massiv über Sinn bzw. Unsinn solcherzugesetzten künstlichen Vitamine streiten. Überdosie-rungen machen durchaus eher krank als gesund. Ich sageganz klar: Diese Art der Werbung ist – um beim Themazu bleiben – nicht aufklärerisch, sondern schlicht und er-greifend entmündigend. Besser ist es nämlich, fünfmalam Tag gesundes Obst und einen vernünftigen Saft zusich zu nehmen.Deswegen muss der Wahrheitsgehalt der Werbeaussa-gen zum Gesundheitsnutzen im Lebensmittelbereichstärker sichergestellt werden. Es ist richtig, wie die EU-Kommission und die Bundesregierung vorschlagen, dasssolche Aussagen künftig nur auf der Grundlage eineswissenschaftlichen Nachweises erlaubt werden dürfen.Wir sagen, das soll so unbürokratisch wie irgend mög-lich geschehen. Nährwertprofile sind eine hilfreicheReferenzgröße für die ernährungsphysiologische Quali-tät von Lebensmitteln. Damit wird dann auch der Unsinnbeendet, dass vitaminisierte Bonbons – natürlich starkzuckerhaltig – als gesund beworben werden dürfen.Auch das ist nämlich irreführend. Insofern sind wir mitunserem Antrag auf einem guten und richtigen Weg.Bei der Aufklärung gibt es besonders schutzbedürf-tige Gruppen. Gerade der Anspruch von Mündigkeit be-inhaltet, dass besonders schutzbedürftige Gruppen – alsoKinder und Jugendliche – auch wirklich geschützt wer-den. Deswegen müssen wir die Jugendlichen vor der Al-kohol- und Tabakwerbung schützen. Darum ist es sehrzu begrüßen, dass die rot-grüne Koalition mit ihrer Ge-setzesinitiative den hier alarmierend ansteigenden Kon-sumzahlen entgegentritt: In dieser Vorschrift sind Rege-lungen bezüglich einer Sondersteuer auf Alcopops, einesEtikettenhinweises für das bestehende Abgabeverbot anMinderjährige, des Verbots der Abgabe kostenloser Zi-garetten und der Mindestpackungsgröße von 17 Stückenthalten. Für die Jugendlichen ist der Preis nämlicheine sehr relevante Entscheidungsgröße.
Zur Entscheidungsfreiheit gehört auch, dass die Ver-braucher darauf vertrauen können, dass Qualität und Hy-giene gesichert sind. Gerald Thalheim hat die Verbesse-
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Ulrike Höfkenrungen im Bereich der Lebensmittelkontrolle schonausgeführt. Anlass war die BSE-Krise. Das BMVEL hatauf Bundesebene die institutionelle und strukturelle Neu-organisation durchgeführt. Hier gibt es weitere Ansätzezur besseren Koordinierung. Insbesondere bedarf es ei-nes bundeseinheitlichen Überwachungsplans. Effi-zienz und Sicherheit unter Einschluss einer sachgerech-ten Risikobewertung, zum Beispiel bei Lebensmittelim-porten, müssen gesteigert werden.Wir als Fraktion begrüßen die von der Bundesregie-rung vorgelegte Allgemeine Verwaltungsvorschrift mitden Nachkennzeichnungen AVV Rahmen-Überwa-chung. Ich denke, diese können wir gemeinsam mit derOpposition begrüßen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael
Goldmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Um es gleich vorweg zu sagen: Die FDP sieht viele
Dinge völlig anders.
Unsere heimischen Lebensmittel sind viel besser, als sie
von Ihnen hier beschrieben worden sind. Herr Thalheim,
dies ist nicht nur heute so, sondern das war auch schon
früher der Fall. Deutsche Lebensmittel haben internatio-
nal einen sehr guten Ruf. Die Arbeitsplätze in der deut-
schen Lebensmittelwirtschaft sind Hightech-Arbeits-
plätze und es kommen Superprodukte auf den Markt.
Die immer älter werdende Bevölkerung, die sowohl
geistig als auch körperlich mobiler als früher ist, belegt
das. Ich denke hier an meine bald 90-jährige Mutter.
Nach dem, was Sie gesagt haben, müsste sie sich früher
mit den Lebensmitteln vergiftet haben. Das ist alles
Quatsch. Die Wahrheit ist: Deutsche Lebensmittel sind
gut. Nur an der einen oder anderen Stelle besteht Verbes-
serungsbedarf.
Liebe Frau Höfken, Sie waren doch bei der Anhörung
dabei. Für Sie muss sie doch eine Ohrfeige gewesen
sein. In Baden-Württemberg sind im Rahmen der Le-
bensmittelüberwachung nur 0,3 Prozent der Proben als
gesundheitsschädlich beanstandet worden. In diesem
Bereich gibt es keine Defizite. Vor dem Hintergrund der
Fülle an Proben, die vorgenommen werden, sind das her-
vorragende Ergebnisse.
Ein anderes Thema sind Rückstände aus Pflanzen-
schutzmitteln. Sie machen sich im Moment mit Unter-
stützung anderer auf den Weg, verdeckte Ermittler bzw.
Agrarspione einzuführen.
Auch in diesem Bereich gibt es keine Probleme. Diese
sind von Ihnen herbeigeredet und entsprechen überhaupt
nicht der Realität in unserer Gesellschaft.
Sie aber brauchen diese Argumente, um Ihre rot-
grüne Ernährungspolitik auf den Weg zu bringen. Sie be-
ruht auf Entmündigung und Irreführung der Menschen.
Ich finde es schlimm, was Sie gemacht haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höfken?
Nein, heute einmal nicht.
Wissen Sie, Frau Höfken, ich habe nicht besonders vielNeigung, mich mit diesen Dingen auseinander zu setzen.
– Frau Höfken, lassen Sie mich es ganz ruhig sagen: DasGanze wurde gestern im Ausschuss viel besser vorgetra-gen, als Sie es heute hier gemacht haben. Ich finde esschlimm, wie Sie hier bestimmte Teile unserer Gesell-schaft und unserer Wirtschaft im Grunde genommen zer-stören und aus unserem Land verdrängen. Sie tragendazu bei, dass hier eine Fülle von Arbeitsplätzen undQualität verloren gehen.
Für mich ist das mit einer verantwortungsvollen Sozial-politik einfach nicht in Einklang zu bringen.
Ich weiß, dass Sie BSE als Thema brauchen. Auchden Pseudobegriff der Agrarwende benötigen Sie, umden Schein zu wahren und das zu rechtfertigen, was Siehier machen. Das entspricht jedoch schlicht und ergrei-fend nicht der Wirklichkeit. Sehen Sie sich die Zahlen indiesem Bereich doch einmal an. Nehmen Sie einfacheinmal zur Kenntnis, dass es in unserer Gesellschaft keinBSE-Problem gibt und dass nichts so sicher wie unsereLebensmittel ist. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie hiereinen Popanz aufgebaut haben. Andere europäische Län-der untersuchen Tiere ab 90 Monaten auf BSE, Sie aberhaben eine Untersuchung ab 24 Monaten angeordnetund tragen damit zu zusätzlichen Kosten bei, wodurchwesentliche Marktanteile verloren gehen.Sie zitieren Kant. Das ist genau der Punkt. Sie setzenüberhaupt nicht darauf, den Verbraucher zu informieren,
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Hans-Michael Goldmannsondern Sie setzen ganz bewusst darauf, bei dem Ver-braucher ein Bild zu erzeugen, das ihn total verunsichertund das dazu beiträgt, dass er zum Teil meint, es sei allesganz schlimm bei uns. Ich halte es für einen Skandal,was Sie hier betreiben.Ich will Ihnen ehrlich sagen: Sie wollen eine Politik,die auf Bevormundung abzielt, und dabei werden Sie zumeiner großen Überraschung auch noch von den Sozial-demokraten unterstützt.Vorhin haben Sie die Alcopops angesprochen. Versu-chen Sie es doch einmal mit Aufklärung und Kampa-gnen, die vielleicht ein bisschen intelligenter angelegtsind als das, was in den letzten Tagen von Ihnen veröf-fentlicht worden ist. Dabei ging es um Erdbeeren undjunge Menschen. Ich persönlich halte es für furchtbarschlimm, was da auf den Weg gebracht worden ist. Ichbin froh darüber, dass es mittlerweile aus dem Internetverschwunden ist. Zocken Sie nicht an jeder Stelle ab!Belegen Sie die Dinge nicht mit zusätzlichen Kosten,sondern setzen Sie auf den mündigen Bürger, der sich in-formieren kann!Der Kollege Carstensen hat es vorhin völlig zu Rechtangesprochen: Wir tun gerade so, als ob wir in einemLand leben würden – –Frau Höfken, offenbar sind Sie nicht an meinen Aus-führungen interessiert. Sie wollten eine Frage stellen,aber Sie wollen gar keine Antwort haben. Ich rede malruhig und gelassen weiter.
Nein, leider nicht, weil die Zeit abgelaufen ist.
Ich habe es gesehen, Frau Präsidentin. Ich danke Ih-
nen für die Information.
Lassen Sie mich noch einen Satz zu nährwert- und ge-
sundheitsbezogenen Angaben auf Lebensmitteln sagen.
Schlusssatz.
– Herr Kollege, Sie verausgaben sich mit Ihrer
Schreierei. Unter Verbraucherschutzgesichtspunkten
muss ich Sie bitten, sich zu schonen.
Wir werden in diesem Bereich Erfolge erzielen, wenn
wir gemeinsam vorgehen. Ihre rot-grüne Politik ist nicht
geeignet, Verbraucher wirklich zu informieren, sondern
sie ist eine Bevormundung, die wir in keiner Weise ak-
zeptieren.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gabriele Hiller-
Ohm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LieberHerr Kollege Goldmann, Sie haben sich heute hier einenOrden für Doppelzüngigkeit verdient.
Sie haben heute hier gesagt, es gebe kein BSE-Problem,im Ausschuss aber haben Sie uns stundenlang mit die-sem Thema terrorisiert. Es ist wirklich unglaublich, wasSie sich heute geleistet haben.
Zum Thema. Seit mehreren Monaten hält uns einevon der EU-Kommission angeschobene Initiative zurStärkung von Verbraucherinteressen regelrecht inAtem. Es geht um den Vorschlag der Kommission füreine Verordnung des Europäischen Parlamentes und desRates über nährwert- und gesundheitsbezogene Angabenbei Lebensmitteln. Was will die geplante Verordnung?
Längst nicht alle Lebensmittel halten, was sie verspre-chen. Damit soll jetzt Schluss sein. Wenn ein Produktmit nährwert- und gesundheitsbezogenen Angabenwirbt, müssen diese auch stimmen. Das fordert die Kom-mission in dem Verordnungsvorschlag. Begriffe wie„fettfrei“, „halbfett“, „salzarm“ oder „zuckerreduziert“sollen zukünftig europaweit einheitlich definiert und an-gewendet werden.
Lebensmittel mit einem ungünstigen Nährwertprofil,also mit zu viel Salz, Zucker oder Fett,
dürfen nicht mehr mit Angaben werben, die das Produktals gesund und wertvoll erscheinen lassen.Für gesundheitsbezogene Angaben wie zum Beispiel„stärkt die Knochen“ muss ein Wirkungsnachweis er-bracht werden.
Durch diese Regelungen sollen Verbraucherinteressenund der Wettbewerb in Europa gestärkt werden. Die Ini-tiative aus Brüssel wird durchweg im Grundsatz begrüßt.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8427
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Gabriele Hiller-OhmWarum aber dann diese Aufregung? Die Lebensmittelin-dustrie fürchtet Mehrkosten durch aufwendige Nach-weisverfahren, die Werbewirtschaft Einschränkungen ih-rer Freiheit, die Politik Auswüchse an Bürokratie.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Silberhorn?
Nein.
Von Herrn Carstensen auch nicht?
Ich möchte gern meine Ausführungen zu Ende brin-gen, Herr Carstensen.
Auch meine Fraktion hat Zweifel, dass der Verord-nungsvorschlag der Weisheit letzter Schluss ist. Trotz-dem unterstützen wir die Initiative, weil sie in die rich-tige Richtung geht. Verbraucherinnen und Verbrauchermüssen sich gerade bei lebensnotwendigen Produktenfür Essen und Trinken auf deren Güte verlassen können.
Hinzu kommt, dass immer mehr Bürgerinnen undBürger diese Produktinformationen einfordern. DerTrend hin zu gesunder Ernährung muss durch verlässli-che, verständliche und genaue Informationen unterstütztwerden. Das ist sehr wichtig; denn unsere Gesellschaftwird nicht nur älter, sondern auch immer schwerer. Be-reits unsere Kinder haben die schlimmen Folgen von Be-wegungsmangel und Fehlernährung gepaart mit geneti-schen Veranlagungen im wahrsten Sinne des Wortes zutragen. „Deutschland steht vor einem Fettdesaster“, resü-mierte kürzlich ein bekanntes deutsches Magazin.Schon in wenigen Jahren drohen uns amerikanischeVerhältnisse. 64 Prozent der US-Bürger sind überge-wichtig. Bei uns sind es 60 Prozent. Fast jeder dritteAmerikaner ist fettsüchtig.
Doch nicht nur Bewegungsmangel, Gene und Fehlernäh-rung spielen eine Rolle. Übergewicht und Fettsucht ha-ben auch soziale Ursachen.
In den USA sind Kinder aus unteren Schichten deutlichstärker betroffen als Kinder aus dem Mittelstand. Diesgilt auch für Deutschland. Eine Gesundheitsstudie desBerliner Senats ergab, dass 2001 rund 16 Prozent allerSchulanfängerinnen und Schulanfänger aus sozialschwächeren Familien übergewichtig waren. Bei Kin-dern aus Familien mit hohem Sozialstatus dagegen wares gerade einmal die Hälfte.
Dieses Verhältnis sollte uns zu denken geben.Übergewicht ist für die betroffenen Menschen zum einen,ein psychisches Problem. Dicke Kinder werden ausge-grenzt, gehänselt und finden nur schwer ihren Platz in derGemeinschaft. Übergewicht ist zum anderen aber auchein knallhartes gesundheitliches Problem. Es führt zu ei-nem deutlich erhöhten Risiko von Herzinfarkt undSchlaganfall, Diabetes, Bluthochdruck und Arthrose, undzwar immer häufiger auch schon bei unseren Kindern.
Wenn es uns nicht gelingt, die Übergewichtsproblematikin den Griff zu bekommen,
ist mit enormen Belastungen unseres Gesundheitssys-tems zu rechnen.Was können wir tun? Lachen hilft hier nicht weiter,Frau Heinen.
Die Verordnung allein wird keine Veränderung der Er-nährungsgewohnheiten bringen. Sie kann aber einenwichtigen Beitrag leisten. Deshalb unterstützen wir dieInitiative aus Brüssel.Uns ist es sehr wichtig, dass vor allem Kinder und Ju-gendliche vor irreführenden Werbeversprechungenund Verführung zu ungesunder Ernährungsweise ge-schützt werden.Wir fordern deshalb in unserem Antrag ein generellesVerbot von nährwert- und gesundheitsbezogenen Werbe-aussagen auf Lebensmitteln, die sich hauptsächlich anKinder richten.
Kinder und Jugendliche sind für die Lebensmittelindus-trie und Werbebranche als Konsumenten überaus inte-ressant. Im vergangenen Jahr verfügten die Sechs- bis19-Jährigen über eine Kaufkraft von 20 Milliarden Euro.Das entspricht 1 800 Euro pro Kind und Jahr.
Wir müssen etwas tun, damit die Kids nicht dazu ver-führt werden, dieses Geld für Pommes, Hamburger,Chips und Schokoriegel auf den Kopf zu hauen.Auch die CDU/CSU hat sich intensiv mit dem Ver-ordnungsvorschlag befasst
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Gabriele Hiller-Ohmund schon im Oktober, lange vor der Anhörung, einenAntrag eingebracht.
Wir stimmen mit einigen Ihrer Positionen überein.Auch wir wollen keine überzogenen Beschränkungen derLebensmittelindustrie oder ein Anwachsen der Bürokra-tie. Auch wir halten eine Überarbeitung der Positivlistefür notwendig und sind gegen ein grundsätzliches Verbotvon unbestimmten Angaben wie „verbessert das Wohl-befinden“.Wenn wir die Anträge der Koalitionsfraktionen mit de-nen der CDU/CSU abgleichen, erkennen wir viele Ge-meinsamkeiten. Gerade deshalb, Frau Kollegin Klöckner,war ich sehr überrascht, als ich heute Morgen in der„Berliner Zeitung“ Ihre heftigen Attacken gegen unserenAntrag gelesen habe.
Es hat mich umso mehr gewundert, als Ihnen unser An-trag zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal vorlag.
Denn wenig später forderte ihn Ihr Mitarbeiter von mei-nem Büro an.
Das ist schon ein sehr merkwürdiger politischer Stil.Kommen wir nun zu den Unterschieden zwischen denAnträgen. Unser Antrag ist sehr viel klarer und weitrei-chender besonders in Bezug auf Kinderlebensmittel.Deshalb haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder CDU/CSU, eigentlich nur eine einzige Konsequenz:Stimmen Sie unserem Antrag zu!Zum Schluss möchte ich auch noch den Antrag derKolleginnen und Kollegen der FDP würdigen.
Frau Kollegin, ich glaube, dass das nicht mehr mög-
lich ist, weil Ihre Redezeit schon zu Ende ist. Ich gestehe
Ihnen noch einen Satz zu, aber nicht mehr.
Sie von der FDP haben Ihren Antrag schon im Okto-
ber 2003 formuliert, also lange bevor alle Argumente auf
dem Tisch lagen. Wenn einem nur die Argumente der
Lebensmittelindustrie und der Werbebranche wichtig
sind, mag das ja auch schlüssig sein. Wieder einmal ist
sehr deutlich geworden: Ihre Lobbyisten sind die Vertre-
ter der Wirtschaft.
Unsere Lobbyisten sind dagegen die Millionen Verbrau-
cherinnen und Verbraucher in Deutschland und in ganz
Europa. Für die tun wir etwas. Und das ist auch richtig
so.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Julia Klöckner.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Europa ist wunderbar vielfältig. Die vielen Ge-sichter der Europäischen Union tragen zu einem span-nenden und befruchtenden Miteinander bei. Doch dasSchönheitsideal wie das Bild eines mündigen Verbrau-chers oder die Freiheit des Wettbewerbs scheint jetzt derBürokratie und der Fremdbestimmung gewichen zu sein.Liebe Frau Hiller-Ohm, wenn Sie anmahnen, dass manerst zu denken und Anträge zu formulieren beginnensolle, wenn eine Anhörung stattgefunden hat, dann mussich Ihnen sagen, dass das ein falscher Ansatz ist, denman bei Ihnen leider sehr oft sieht. Der Verordnungsent-wurf lag schon lange vor. Wir haben uns frühzeitig darü-ber Gedanken gemacht, wie man Einfluss nehmen kann;denn sich erst dann zu beklagen, wenn etwas verabschie-det ist, ist für uns keine Möglichkeit.
Alles, worüber wir diskutieren, ist kein Scherz. Auchder Kommission ist nicht zum Scherzen zumute. Daszeigen zum Beispiel der Diskurs – ich muss leider etwasSchleichwerbung machen, da es sonst nicht anschaulichgenug ist – zum Thema „Haribo macht Kinder froh“ unddie Analyse, ob sich diese Werbebotschaft auf eine psy-chische Funktion bezieht. Das macht schnell deutlich,wo die Probleme der EU-Kommission liegen, nämlich inden Krümeln, ganz nach dem Motto: Der liebe Gott er-halte mir doch meine Vorschriften, damit ich nicht be-deutungslos werde. Wenn das die einzige Sorge derKommission ist!
Das, was uns im Verordnungsentwurf präsentiert wird,ist für die Union und insbesondere für mich persönlich ei-gentlich eine Neudefinition der Lebensfremdheit. Pro-klamiert werden vom Kommissariat Byrne ein höheresVerbraucherschutzniveau, Rechtssicherheit, freier Wa-renverkehr, gleiche Wettbewerbsbedingungen und dieFörderung der Innovationsfähigkeit. Das hört sich zwargut an – Sie sind leider darauf hereingefallen –, aber inder Verordnung steht etwas ganz anderes. Um das Ganzezu entlarven, braucht man nicht viel. Das Produkt„Nimm 2“ zum Beispiel – ich muss leider wieder einen
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Julia KlöcknerProduktnamen nennen – gilt nach Herrn Byrne als einschlechtes Produkt; denn in ihm steckt viel Zucker. Nunsind diesen Süßigkeiten noch Vitamine beigegeben, dieden Zuckergehalt zwar nicht verringern, die aber immer-hin erwähnenswert sind, nicht aber für Herrn Byrne;denn die Angabe der Vitamine wäre irreführend, würdevom Zuckergehalt ablenken und vor allen Dingen einegesunde Ernährung verhindern. Wer glaubt denn bitteschön, dass eine Mutter wegen der Vitamine in diesenBonbons ihrem Kind statt eines Apfels kiloweise „Nimm2“ in die Hand drücken und gegebenenfalls noch auf dasKochen des Mittagessens verzichten würde? Tut sie diestatsächlich, dann liegt das Problem nicht in der Produkt-zusammensetzung. Vielmehr stellt sich dann die Fragenach der Verantwortung der Elternschaft und der Erzie-hung. Auch dieser Frage können wir uns gerne stellen.Aber den Verbraucher zu entmündigen und ihm womög-lich Tag für Tag ein Carepaket zur Verfügung zu stellengeht entschieden zu weit.
Klarheit und Wahrheit sind wichtig.
Die Angaben auf den Verpackungen müssen verständ-lich und nachvollziehbar sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Carstensen, der heute sehr viel nachzufragen hat?
Sehr gerne.
Frau Präsidentin, ich glaube, das Folgende wird auch
Sie erfreuen. Es war von Verständlichkeit die Rede. Im
Anhang zu dieser Verordnung steht in Bezug auf den Be-
griff „leicht“:
Die Angabe, ein Produkt sei „leicht“, sowie jegli-
che Angabe, die für den Verbraucher voraussicht-
lich dieselbe Bedeutung hat, muss dieselben Bedin-
gungen erfüllen wie die Angabe „reduziert“; die
Angabe muss außerdem einhergehen mit einem
Hinweis auf die Eigenschaften, die das Lebensmit-
tel „leicht“ machen.
Frau Kollegin – eigentlich hätte ich diese Frage gern
Frau Hiller-Ohm gestellt –, können Sie mir einmal erklä-
ren, was das bedeutet?
Ich kann das nicht erklären; deshalb würde ich allesso belassen, wie es ist. Ich werde krank, wenn ich so et-was lesen muss.
Lieber Kollege Carstensen, liebe Kolleginnen undKollegen, die EU-Kommission übernimmt jetzt die Kon-trolle und diktiert sogar, dass „Mars macht mobil“,„Merziger macht herziger“ oder „Gutes kann so gesundsein“ den Verbraucher eindeutig intellektuell überfor-dern. Das ist die symbolische Verdichtung intellektuellerEU-Ratlosigkeit. Mehr ist das nicht.Zurück zu den leeren Versprechungen. Rechtssicherheitwird uns verheißen; doch unbestimmte Rechtsbegriffesind letztlich das Ergebnis. Der vorliegende Entwurfwird zu einer schier endlosen Bemühung der europäi-schen Gerichte führen, die – Herr Carstensen hat daraufhingewiesen – Sachbegriffe wie „suggeriert“, „irrefüh-rend“, „generell“ oder „alarmierend“ letztlich zu klärenhätten. Das ist die Persiflage einer Rechtssicherheit.
Nächster Punkt – Sie haben es eben angesprochen –:freier Warenverkehr unter gleichen Wettbewerbsbe-dingungen. Wer kann uns denn erklären, welche ge-sundheitliche Bedrohung für den Franzosen von derdeutschen Aufmachung einer Packung Süßigkeiten aus-geht? Wann wurden Sie das letzte Mal von einem portu-giesischen Werbeslogan zum übermäßigen Verzehr vonSchokoriegeln animiert?Die Beschränkung des Warenverkehrs ist in diesemFall doch eher auf die sprachlichen Barrieren zurückzu-führen. Keine Frage, dass man da zu einer Harmonisie-rung finden muss. Aber Regelungen wie die, die im An-hang zu finden sind, führen zu Bürokratie und vor allenDingen zur Entmündigung des Bürgers.
Damit kommen wir zum größten Hammer. Die EU-Kom-mission sagt: Die Innovationsfähigkeit wird gefördert.Das hört sich an sich zwar sehr gut an. Aber bitte helfenSie mir; denn ich scheine ein grundlegend falsches Ver-ständnis vom Begriff der Innovation zu haben. Innova-tion à la Byrne heißt: Wir müssen uns mehr anstrengen,neue Werbebotschaften zu kreieren; denn diejenigen, diees jetzt gibt, werden verboten. Wenn das Innovation ist!Das ist eher eine ABM.
Die einen oder anderen denken: Ja, Moment; hierfürsieht der Entwurf doch ein fein abgestuftes Ausnahmever-fahren vor. Die Kommission möchte Nährwertprofileund Lebensmittelkategorien festlegen. Das Schlimmeist, dass all dies am Parlament vorbeigeht, da es imfreien Ermessen der Kommission disponiert werden soll.Übrigens führt diese Profilerstellung zur Stigmatisie-rung von Nahrungsmitteln und zur Unterteilung in guteund schlechte Nahrungsmittel. Es sollte Ihnen doch klarsein, dass es hierbei um Lebens- und Ernährungsweisengeht, dass es letztlich der Mix macht und nicht ein Zu-viel an Gutem oder ein Zuviel an Schlechtem.Zum Schluss möchte ich darauf eingehen, wohin esführt, wenn die EU-Kommission alle Regelungen,
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Julia Klöcknergerade im Gesundheitsbereich, an sich ziehen möchte.Was den Weinbereich angeht, hat das zur Folge, dassman auf den Etiketten keine Gesundheitsangaben mehrmachen darf. Das war vielleicht weder Herrn Byrnenoch Ihnen klar. Ich behaupte das, auch wenn ich nichtbestreite, dass Mitglieder Ihrer Fraktion in Weinfragenkompetent sind. Auf den Etiketten dürfte zum Beispielnicht mehr „Für Diabetiker geeignet“ stehen. Jetzt sagenSie mir bitte einmal, wovor Sie den Verbraucher dennschützen möchten! Vor Genuss oder wovor?
– Erlaubnismöglichkeiten? Herrn Byrne war das so nichtklar; er hat mir schriftlich geantwortet. – Wir solltennicht damit anfangen, diesen Weg zu beschreiten. Ichkann nur sagen: Bitte nachdenken, bevor eine Verord-nung erlassen wird!
Frau Kollegin, das war eigentlich ein schöner
Schlusssatz.
Ich habe einen noch schöneren Schlusssatz.
Also, bitte.
Lassen Sie uns lieber an einem Entwurf arbeiten, der
letztlich quadratisch, praktisch und gut ist.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas
Silberhorn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich möchte den „Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates über nährwert-
und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel“
der EU-Kommission herausgreifen. Bevor wir über die
Sinnhaftigkeit der einzelnen Regelungen debattieren,
müssen wir uns die vorrangige Frage stellen, ob die Eu-
ropäische Union in diesem Bereich überhaupt tätig wer-
den darf. Diese Problemstellung wird uns künftig noch
häufiger beschäftigen, weil der Entwurf des europäi-
schen Verfassungsvertrages vorsieht, dass die nationalen
Parlamente die Subsidiaritätskontrolle leisten. Das ist
auch der Grund dafür, dass ich als Mitglied des Europa-
ausschusses in dieser Debatte heute rede.
– Wir denken vernetzt. – Wir müssen uns also die Frage
stellen, ob die Europäische Union hier überhaupt tätig
werden darf.
In der Sache besteht die zentrale Zielsetzung des Ver-
ordnungsvorschlags darin, die Verbraucher vor Irrefüh-
rung und vor Täuschung zu schützen. Bekanntermaßen
hat die Europäische Union im Verbraucherschutz aber
nur eine ergänzende Kompetenz. Ein umfassendes Zu-
lassungsregime für alle gesundheits- und nährwertbezo-
genen Angaben über Lebensmittel, wie es hier vorge-
stellt wird, ein Zulassungsregime, das an die Stelle der
nationalen Politik treten soll, fällt schlichtweg nicht
mehr in die Kompetenz der Europäischen Union.
Auch der Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes
reicht da nicht. Auch wenn wir Fehlernährung bekämp-
fen müssen – da stimme ich Ihnen zu –: Eine Harmoni-
sierung in diesem Bereich ist auf europäischer Ebene so-
gar ausdrücklich untersagt. Das heißt, der einzige Weg,
auf dem die Europäische Union hier überhaupt zu einer
Harmonisierung kommt, ist die Rechtsangleichung im
Binnenmarkt, auf die sich die Kommission formaliter
auch beruft. Rechtsangleichung kann es aber nur dort ge-
ben, wo der Handel im Binnenmarkt beeinträchtigt wird.
Dazu ist selbst der Kommission bislang noch nichts ein-
gefallen.
So wie die vorgeschlagene Verordnung im Detail aus-
schaut, fördert sie nicht den freien Warenverkehr, son-
dern behindert ihn. Man muss sich das einmal in der Pra-
xis vorstellen. Jede nährwert- und gesundheitsbezogene
Angabe, Frau Höfken, soll künftig grundsätzlich verbo-
ten werden.
Selbst wahre Angaben sind danach grundsätzlich unzu-
lässig.
– Sie haben von einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt
gesprochen. Das funktioniert so, dass im Grundsatz alles
verboten ist und nur ausnahmsweise Angaben erlaubt
werden können,
wenn sie in einer Positivliste vermerkt sind oder wenn
sie ein europaweites Zulassungsverfahren in jedem Ein-
zelfall und in allen Amtssprachen der Europäischen
Union durchlaufen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Höfken?
Bitte schön.
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Ich möchte Sie nur fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass
die Verordnung gesundheitsbezogene Aussagen nicht
verbietet, sondern, im Gegenteil, die Möglichkeit, ge-
sundheitsbezogene Aussagen zu machen, noch ausweitet,
und zwar dahin, dass es auch Angaben im Hinblick auf
krankheitsreduzierende Wirkung und eine entsprechende
Bewerbung geben darf, dass sich das Ganze aber im Ge-
gensatz zu heute auf einer wissenschaftlichen, allgemein-
gültigen und anerkannten Grundlage bewegen soll.
Frau Kollegin Höfken, heute ist der Rechtszustand
wie folgt: Krankheitsbezogene Werbung ist verboten;
gesundheitsbezogene Werbung ist grundsätzlich erlaubt
und nur im Falle der Irreführung oder Täuschung der
Verbraucher verboten. Das ist übrigens bereits europa-
rechtlich geregelt, und zwar in der Etikettierungsrichtli-
nie. In Deutschland ist sie im Gesetz über Lebensmittel
und Bedarfsgegenstände umgesetzt.
Was die Kommission jetzt will, ist das komplette Ge-
genteil. Es werden nicht grundsätzlich Angaben erlaubt
und im Einzelfall verboten, sondern umgekehrt: Im
Grundsatz wird alles verboten und ausnahmsweise wird
etwas erlaubt. Das ist Inhalt des Begriffs „Verbot mit Er-
laubnisvorbehalt“, den Sie vorhin selbst verwendet ha-
ben. Das zeichnet sich dadurch aus, dass grundsätzlich
verboten wird. Der Begriff „grundsätzlich“ impliziert,
Frau Kollegin Höfken, dass es Ausnahmen gibt. Aber
die Ausnahmen beschränken sich in diesem Fall darauf,
dass entweder eine Angabe in einer Positivliste aus-
drücklich vermerkt ist oder aber im Einzelfall ein euro-
paweites Zulassungsverfahren durchlaufen wird,
und zwar für jede einzelne nährwert- und gesundheitsbe-
zogene Angabe und in allen Amtssprachen der Europäi-
schen Union. Bisher sind es elf Sprachen. Ab dem
1. Mai werden es noch ein paar mehr sein.
Das heißt im Klartext: Ohne die Zustimmung der zu-
ständigen EU-Gremien geht künftig nichts mehr. Selbst
der Landwirt, der Obst auf dem lokalen Marktplatz ver-
kauft
und seine Ware mit der Bezeichnung „Obst ist gesund“
bewerben will, braucht dafür künftig die ausdrückliche
Genehmigung der Europäischen Union
und muss dazu ein Zulassungsverfahren anstrengen, das
Monate dauern
und vor allem viel Geld kosten wird.
Dieser bürokratische Wahnsinn wird natürlich vor al-
lem die kleinen und mittleren Betriebe massiv belasten.
Gerade in Deutschland – das wissen wir – ist die Ernäh-
rungswirtschaft überwiegend mittelständisch geprägt.
Die Regulierungswut der Kommission begünstigt dage-
gen multinationale Konzerne, während die Kleinen in
der Flut von Vorschriften versinken und so aus dem
Markt gedrängt werden.
Das wird das Ergebnis rot-grüner Verbraucherschutzpo-
litik sein. Das werden wir nicht mittragen.
Es kommt noch schlimmer: Bei Lebensmitteln, die
ein ungünstiges Nährwertprofil aufweisen, sollen
nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben nahezu
vollständig verboten werden. Wenn das Realität wird,
wird es Hustenbonbons bald nicht mehr geben. Bonbons
mit einem hohen Zuckergehalt haben eben ein ungünsti-
ges Nährwertprofil und dürfen dann nicht mehr Husten-
bonbons heißen. Wohlgemerkt: Ein Wort, das längst in
den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen und so-
gar im Duden verzeichnet ist, darf dann für eine Packung
Hustenbonbons nicht mehr verwendet werden. Ja glaubt
denn im Ernst jemand, dass man Verbraucher davor
schützen muss?
Der Europäische Gerichtshof hat das Leitbild des
verständigen Verbrauchers entwickelt; das ist schon
angesprochen worden. Der Vorschlag der Kommission
steht dazu in diametralem Gegensatz. Diese Lust am
Verbieten, dieser Eifer zur Bevormundung – das sind die
Auswüchse einer überbordenden Bürokratie in Brüssel,
die die Freiheit des Binnenmarktes in ihr Gegenteil ver-
kehrt und den Verbraucher für dumm verkauft.
Meine Damen und Herren, vor den Europawahlen
am 13. Juni werden wir alle wieder den mündigen Bür-
ger beschwören und erklären, dass wir ein bürgernahes
Europa wollen. Im Konkreten praktiziert die Europäi-
sche Kommission das glatte Gegenteil und schießt damit
wieder einmal weit übers Ziel hinaus. Ich habe immerhin
eine gewisse Hoffnung, dass diese völlig überzogene
Harmonisierung auf ein erträgliches Maß zurückge-
drängt wird, entweder durch den Europäischen Gerichts-
hof oder durch die Welthandelsorganisation; denn beide
bleiben dem freien Handel verpflichtet. Es ist aber jetzt
Aufgabe des Ministerrates und damit der Bundesregie-
rung, uns vor diesem Europa der Bürokraten zu bewah-
ren. Wir wollen ein Europa der Bürger, das wieder blü-
hen kann. Bürgernähe statt Bürokratie darf kein
Textbaustein im Wahlkampf sein, sondern muss auch im
Einzelfall konkret verwirklicht werden.
Herzlichen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache.
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8432 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004
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Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerWir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaft auf Drucksache 15/1597 zu dem Antrag derFraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Kennzeichnungallergener Stoffe in Lebensmitteln vernünftig regeln“.Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache15/1227 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung des Ausschusses? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOpposition angenommen worden.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbrau-cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksa-che 15/2595: Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seinerBeschlussempfehlung die Annahme des Antrags derFraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünenauf Drucksache 15/2339 mit dem Titel „Lebensmittel-überwachung effizienter gestalten“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegendie Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommenworden.Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnungdes Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache15/2386 mit dem Titel „Wirksamere und breitere Le-bensmittelüberwachung und -kontrolle in Deutschland“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDPangenommen worden.Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft unter Nr. 3 seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1789 mitdem Titel „Verbraucher aufklären und schützen – Inno-vation und Vielfalt in der Produktentwicklung und Wer-bung für Lebensmittel erhalten“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Gibt es Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der ge-samten Opposition angenommen worden.Zusatzpunkt 6: Abstimmung über den Antrag derFraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünenauf Drucksache 15/2579 mit dem Titel „Nährwert- undgesundheitsbezogene Angaben auf Lebensmitteln euro-paweit einheitlich regeln – für mehr Verbraucherschutzund fairen Wettbewerb“. Wer stimmt für diesen Antrag? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mitdem gleichen Stimmenverhältnis angenommen worden:SPD und Bündnis 90/Die Grünen dafür, Gegenstimmenvon CDU/CSU und FDP.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu demAntrag der Abgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller, Ulrike Mehl, Petra Bierwirth, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Undine Kurth ,Volker Beck , Winfried Hermann, weitererAbgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENNaturschutz geht alle an – Akzeptanz und In-tegration des Naturschutzes in andere Politik-felder weiter stärken– Drucksachen 15/1318, 15/2053 –Berichterstattung:Abgeordnete Gabriele Lösekrug-MöllerCajus CaesarUndine Kurth
Angelika BrunkhorstNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstdie Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichglaube, nur in diesem Haus ist der Weg vom Hustenbon-bon zum Naturschutz kurz. Eine Verbindung ist ansons-ten eigentlich nur herzustellen, wenn sich Hustenbon-bonpapier in der Natur findet. Es ist immer ein bisschenschwierig, den Bogen zu einem neuen Thema zu schla-gen. Zum Glück wird uns das nicht immer abverlangt;ich glaube, das wäre eine große Hürde für alle Redner,die bei einem neuen Tagesordnungspunkt den Anfangmachen müssen.45 Minuten Reden über Naturschutz im Spezial-Bio-top Bundestag, da werden viele Naturschützer sagen:Lasst uns lieber Kröten sammeln, Trockenmauern undFischtreppen bauen und in der Landwirtschaft naturnahackern! Dennoch, eine Dreiviertelstunde zu einer eini-germaßen guten Zeit über diesen hervorragenden Antrag– so will ich ihn bewerten – zu sprechen dient dem Na-turschutz in Deutschland außerordentlich. Das wirdschon klar durch die zentrale Botschaft dieses Antrages:„Naturschutz geht alle an – Akzeptanz und Integrationdes Naturschutzes in andere Politikfelder weiter stär-ken“.Zu Recht stellen wir fest: Rot-Grün hat für den Natur-schutz in Deutschland viel erreicht.
Dafür bekamen wir soeben Lob von kompetenter Stelle,das ich hier gern weitergebe. Dieses Lob kam von KurtKretschmann. Einige werden ihn kennen: Er ist der Va-ter des schwarz-gelben Schildes mit der Waldohreule alsZeichen für Schutzgebiete, das wir übernommen habenund das uns, wenn wir es sehen, signalisiert: Wir sindder Natur im Fast-Urzustand näher als sonst wo, ganzbesonders als hier. Der Vater dieser Waldohreule, dergestern 90 Jahre alt wurde, äußerte große Anerkennung
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Gabriele Lösekrug-Möllerhinsichtlich der Naturschutzerfolge der vergangenenJahre.Gewissermaßen im Vorgriff auf die erwartbare Argu-mentation vonseiten der Opposition – wir kennen solcheArgumente aus dem Ausschuss: Die Fortschritte im Na-turschutz lagen samt und sonders vor 1998, danach kamnichts Erwähnenswertes mehr –
muss ich anmerken – der Beifall kam zu früh, werteKollegen –: Sollten diese Argumente heute erneut vorge-bracht werden, ist wichtig zu wissen, dass sie falschsind.
Richtig dagegen ist: Wir haben mit dem Bundesnatur-schutzgesetz eine Grundlage für solide Naturschutzpoli-tik geschaffen. Auf dieser Grundlage arbeiten wir nunweiter. Da gilt es, Gutes nachdrücklich zu verteidigen.Den ersten Verteidigungsfall hatten wir bereits im Um-weltausschuss, nämlich das Ansinnen der Abschaffungdes Verbandsklagerechts. Wir haben es abgewehrt. Ichdanke noch einmal insbesondere der FDP, die mit unsvotiert hat. Ich denke, es ist der richtige Weg, an dieserStelle Herr zu bleiben; denn dann sind und bleiben wireuropatauglich. Alles andere wäre ein Sonderweg, denwir uns aus guten Gründen nicht leisten wollen.Der Schutz öffentlicher Güter – dazu gehört Natur –ist nur möglich, wenn der Staat sich zu dieser Verant-wortung bekennt. So ist es auch mit dem Naturschutz. Erist nicht Kür, sondern Pflicht. Er erfordert klare gesetzli-che Vorgaben und darüber hinaus staatliches Handeln.Obwohl wir bereits viel erreicht haben, zum Beispieleine Verdoppelung der ausgewiesenen Naturschutzflä-chen, gibt es viel zu tun.Bleiben wir beim Beispiel Naturschutzflächen. Er-folge sind erzielt, aber dennoch bleiben offene Posten.So viel Ehrlichkeit muss sein, das zuzugeben. Ich nenneals Stichwort: Grünes Band. Wir haben ehrgeizig begon-nen und wir sind, Herr Kollege Göppel, noch lange nichtda, wo wir eigentlich hinwollten. Es gibt noch viel zutun. Ich nenne als weiteres Stichwort: Schutzgebietsys-tem Natura 2000. Wir haben noch lange nicht die Zielli-nie erreicht. Hier bewegen wir uns – die Experten unteruns haben das erkannt – nicht mehr nur auf Naturschutz-flächen, sondern im Zuständigkeitsdickicht zwischenBund und Ländern.Vielleicht ist es ein frommer Wunsch von mir. Aberich erhoffe mir als ein Ergebnis der großen Föderalis-musdebatte, dass es an dieser Stelle Klarheit für den Na-turschutz und – das sage ich unumwunden – Klarheit zu-gunsten der Bundesebene geben wird. Denn schaue ichals Niedersächsin auf Naturschutz- und Umweltpolitik inmeinem Heimatland, dann wird mir angst und bange.
Als Beispiel nenne ich die Ersatzgeldlösung in derNovelle zum Naturschutzgesetz. Wir werden hier nichtdarüber streiten. Aber diese Politik ist für mich Anlass,Sorge zu haben, wenn solche Zuständigkeiten immerweiter an die Länder abgegeben werden. Das ist meinePosition. Ich befinde mich dabei in guter Gesellschaftmit sehr vielen Umweltschutzverbänden.
Wie gesagt, der Schutz des öffentlichen Gutes Naturist beim Bund besser aufgehoben.
Im vergangenen Jahr haben wir an dieser Stelle dasSondergutachten des Sachverständigenrates für Umwelt-fragen „Für eine Stärkung und Neuorientierung des Na-turschutzes“ diskutiert. Die Empfehlung in diesem Gut-achten ist, eine nationale Naturschutzstrategie zuentwickeln. Wir greifen sie mit unserem Antrag auf undbinden sie in unseren Prozess zur nachhaltigen Entwick-lung ein. Das ist der richtige Weg. So ist es auch ein Teil-stück dieses Weges, wenn wir fordern, die Integration desNaturschutzes in andere Politikfelder weiter zu stärken.Am Beispiel Artenvielfalt wird dies besonders deut-lich. Wir haben uns verpflichtet, den Verlust an biologi-scher Vielfalt bis zum Jahr 2010 zu stoppen. Dies ist einehrgeiziges Ziel – nicht nur für uns, sondern für dieganze Welt. Das hat die Vertragsstaatenkonferenz zurKonvention über die biologische Vielfalt in Kuala Lum-pur gerade gezeigt. Dennoch ist dieser Weg, so sehe ichdas, alternativlos.Arten- und Naturschutz muss auch bei uns besonderePriorität genießen. Die Frage ist berechtigt: Wie wollenwir das erfolgreich umsetzen? Ein Weg, den dieser An-trag aufzeigt, ist die Integration in andere Politikfelder.Das ist allerdings mehr als ein schlichtes juristischesUmsetzen. Es heißt nämlich, die Sinnhaftigkeit diesesZiels zu kommunizieren. Das müssen wir uns auf dieFahnen schreiben und darin müssen wir besser werden.Das ist die klare Aussage des Gutachtens und das istauch eine zentrale Forderung unseres Antrages.Das geht Hand in Hand mit der zweiten großen For-derung, die wir in diesem Antrag formulieren. Sie lautet:Akzeptanz erhöhen. Es ist sicherlich so, dass wir bei unsanfangen können, aber an dieser Stelle noch lange nichtaufhören dürfen.Ich begrüße es sehr, dass das Bundesumweltministe-rium – so habe ich gelesen – mehr tun will, um beste-hende Image-, Wahrnehmungs- und Überzeugungsdefi-zite des Naturschutzes im öffentlichen Bewusstseinabzubauen. Ich halte das für dringend geboten. Wir erle-ben bei jeder Debatte vor Ort genau diese Schwierigkei-ten. Wir, die wir die Naturschutzpolitik vertreten, müs-sen an vorderster Stelle stehen und dafür sorgen, dass dieBedeutung dieses Politikbereiches allen klar wird. An-sonsten wird dieser Bereich schnell aus dem Bewusst-sein verschwinden.
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Gabriele Lösekrug-MöllerAkzeptanz erhöhen wir aber auch dadurch, dass wirKonfliktlösungsstrategien in Sachen Naturschutz voran-bringen. Das gilt für alle Politikbereiche: für Verkehrund Landwirtschaft, für Sport und Tourismus, für Gen-technik usw. Wir haben in den letzten Monaten wirklichgute Erfolge erzielt. Für den Bereich des Tourismus ha-ben wir darüber an dieser Stelle debattiert. Für die Land-wirtschaft hören wir das ebenfalls immer wieder. AuchSport und Naturschutz passen inzwischen besser zusam-men, als man sich das vor Jahren vorstellen konnte.An einem aktuellen Beispiel möchte ich jedoch eineNaturschutzkonfliktlage – ich meine: eine vermeintliche –erläutern. Wir diskutieren gerade im Rahmen des EEGdie kleine Wasserkraft. Ich sage für die, die sich nichtso genau damit auskennen, dass das Anlagen sind, diebis zu 500 Kilowatt Leistung erzeugen. Man muss aller-dings sagen, dass viele kleine Wasserkraftanlagen häufigdeutlich weniger leisten.In diesem Zusammenhang gibt es eine große Debatte,die man so beschreiben kann: Es tritt Klimaschutz gegenNaturschutz an. Dabei sind doch Klimaschützer und Na-turschützer von Natur aus Zwillinge. Aber so ist das,wenn sich zwei – so will ich einmal sagen – entwickeln:Es kommt zu Abgrenzungsfragen. So ist das auch hier.Was können wir daraus schließen? Beide sind erwachsengeworden, beide sind selbstbewusst. Es geht darum, eineLösung zu finden.Ich bin fest davon überzeugt, dass es gelingen wird,dem berechtigten Anliegen der Verbesserung der Förde-rung der kleinen Wasserkraft in Deutschland und demNaturschutz zu entsprechen und ihn zu wahren.
Ich bin sogar davon überzeugt, dass sich die Akzeptanzder Nutzung der erneuerbaren Energien verbessert, wennwir dem nötigen Respekt vor der Natur Raum geben –und dies auch im EEG.
Akzeptanz für Naturschutz erhöhen, das gilt für unsParlamentarier. Das gilt auch in Bezug auf die Anerken-nung aller Verbände und Vereinigungen, die aktiv Natur-schutz betreiben. Dazu können auch wir beitragen, in-dem wir Lösungen finden, sollte es einmal keine Zivismehr für das Krötensammeln oder nicht mehr genügendFÖJler für die Streuobstwiesen oder das Vogelzählen ge-ben. Da kommen noch große politische Fragen auf unszu, bei denen wir beweisen können, wie wir es mit demNaturschutz halten.Fazit: Bisher viel erreicht und noch viel zu tun! – Beiden Kröten entschuldige ich mich ausdrücklich, dass ichsie zweimal für meine Argumentation missbraucht habe.Vielen Dank.
Das wird den Kröten gefallen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Cajus Julius
Caesar.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Der Naturschutz spielt für die politische Ausrich-tung der Union eine sehr maßgebliche Rolle. Wir wollendie Lebensgrundlagen für den Menschen selbst, aberauch für eine Vielzahl von Arten sichern. Wir wollen un-seren Kindern eine intakte Umwelt übergeben.Die Union hatte zu ihren Regierungszeiten maßgebli-che Erfolge zu verzeichnen.
Wir haben international insbesondere unter den Minis-tern Töpfer und Merkel Maßgebliches vorangebracht.Ihre Minister sollten sich bemühen, Gleiches zu tun. Daswäre die richtige Art und Weise, den Naturschutz inter-national voranzubringen. Stattdessen kürzen Sie die Gel-der für die Erhaltung des Tropenwaldes. Jeden Tag ge-hen Tausende von Hektar verloren und Sie schreibenhier den einzelnen Waldbesitzern vor, welches Pflänz-chen sie an welcher Stelle setzen sollen. Das ist Bürokra-tie. Das ist kein praktischer Naturschutz.
SPD und Grüne werden ihren eigenen Anforderungenin keinster Weise gerecht. Das haben Sie bei der Novel-lierung des Bundesnaturschutzgesetzes gezeigt. Das zeigenSie wieder bei den im Zusammenhang mit der Novellie-rung des Bundeswaldgesetzes und des Bundesjagdgesetzesangedachten Formulierungen. Sie setzen auf mehr Staat,auf mehr Reglementierung. Wir setzen auf den prakti-schen Naturschutz vor Ort. Doppelzuständigkeiten, diedadurch verursacht werden, wollen wir vermeiden.Wenn Sie neben den Fachgesetzen, neben dem Natur-schutzgesetz, dem Bundeswaldgesetz und anderen Ge-setzen, in Rahmengesetzen wahllos herausgegriffene Re-gelungen, die auf die gute fachliche Praxis Bezugnehmen, auf den Weg bringen, entstehen Doppelzustän-digkeiten und mehr Bürokratie. Gleichzeitig wird dieFörderung durch die EU, die dies als Standard ansieht,gefährdet. Das kann nicht unser Bestreben sein.Wir als Union setzen auf die praktische Umweltpoli-tik. Wir wollen ein Miteinander von Ökologie, Ökono-mie und sozialer Komponente. Wir haben dazu eineReihe von Initiativen und Ideen eingebracht. Wir wollenden Vorrang für den Vertragsnaturschutz und damit einMiteinander mit den vor Ort lebenden, arbeitenden undwirtschaftenden Menschen. Wir wollen dem ländlichenRaum eine Chance geben.Wir haben einen Antrag gestellt, der vorsieht, dass3 Millionen Euro für den Vertragsnaturschutz ausgege-ben werden sollen. Das ist praktischer Naturschutz. Sie
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Cajus Caesarhaben diesen Antrag abgelehnt. Das ist ein Votum gegenden praktischen Naturschutz. Die Union will Koopera-tion statt Konfrontation. Sie sind dagegen.Die Union hat ganz konkrete Vorstellungen. Wir wol-len den Naturschutz beispielsweise durch Patenschaftenvoranbringen. Sie greifen diese Vorschläge von uns nichtauf. Sie haben das Grüne Band angesprochen. Sie ha-ben die Möglichkeiten, die sich hier geboten haben,nicht genutzt. Auf einer Länge von fast 1 400 Kilome-tern gibt es hervorragende Möglichkeiten, Naturschutz-flächen zum Biotopverbund zu vereinen. Der Bund Na-turschutz Bayern hat Daten erhoben und ausgewertet.Diese zeigen, dass schon jetzt 15 Prozent der Flächengefährdet sind, weil Sie die rechtliche Sicherstellungnicht regeln. Das kritisiert die Union. Hier müssen Siedringend etwas tun. Wenn Sie diese Steilvorlage nichtnutzen, dann können Sie im Bereich des Naturschutzesnie als erfolgreiches Team vom Platz gehen.Beim Naturschutz gilt auch hinsichtlich der Auswei-sung von Großschutzgebieten: Naturschutz muss mitwirtschaftlicher Entwicklung, etwa mit Tourismus undSport, verbunden werden. Eben wurde diese Verbindungangesprochen. Bei der Novellierung des Bundesnatur-schutzgesetzes war ein Konsens in diesem Bereich nurmöglich, weil von der Union Vorschläge und Anträgevorgelegt wurden. So wurde eine Beweislastumkehrbeim Sport und beim Tourismus vermieden.Sie müssen die Kräfte bündeln, die Menschen mitneh-men. Dann werden Sie erfolgreich sein. Die Menschenmüssen Vertrauen zu dem haben, was die Regierungsagt. Vertrauen kann man aber nur haben, wenn Verspre-chungen gehalten werden. Bei der Ausweisung vonFFH-Gebieten hat Ihr Staatssekretär Berninger erklärt,dass es auch Entschädigungszahlungen für den Waldgebe. Wo sind diese Entschädigungszahlungen? Ich sehesie nicht.
Sie hätten das umsetzen und EU-weit durchsetzen müs-sen. Das haben Sie aber nicht getan. Sie brechen das Ver-trauen der Menschen und der vor Ort Wirtschaftenden.Das ist nicht die Politik der Union.
Wir wollen das Eigentumsrecht achten. Wir wollennicht, dass Naturschutzpolitik zulasten des ländlichenRaumes und der dort arbeitenden und lebenden Men-schen gemacht wird. Das ist nicht die Politik der Union.Wir wollen weniger Staat; wir wollen praktische Um-weltpolitik. Wir wollen auch, dass die Arbeit derjenigen,die etwas mehr für den Naturschutz und Umweltschutztun als andere, anerkannt und finanziell gefördert wird.Deshalb ist es nicht sinnvoll, wenn Sie die Mittel fürProjekte der Heimatvereine kürzen. Das ist nicht die Po-litik der Union. Wir brauchen das Ehrenamt; denn nurwenn das Ehrenamt, die Institutionen, die Verbände unddie dort tätigen Personengruppen gefördert werden, istes möglich, im Natur- und Umweltschutz voranzukom-men.Auch im Bereich des Hochwasserschutzes wollenSie Regelungen treffen, die zwar dem Hochwasserschutzdienen, bei denen Sie aber die Betroffenen vor Ort wie-der einmal nicht mitnehmen. Immerhin handelt es sichum 900 000 Hektar landwirtschaftlicher Flächen. Dassind 7,5 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen mit ei-ner Wertschöpfung von 2,3 Milliarden Euro insgesamt.Man kann die vor Ort wirtschaftenden Land- und Forst-wirte nicht dafür bestrafen, dass in der Vergangenheitkommunale Planungsfehler gemacht wurden.Sie müssen dafür sorgen, dass Überflutungsmulden ge-schaffen werden, damit der Wasserabfluss langsamer er-folgt. Sie dürfen die Eigentümer nicht durch hoheitliche,durch staatliche, durch gesetzgeberische Maßnahmen inihren Eigentumsrechten beschneiden. Das ist nicht diePolitik des Miteinanders. Sie setzen auf Konfrontationstatt Kooperation. Das ist nicht die Politik der Union.Es ist auch ein Unding, dass die Waldbesitzer in eini-gen Gebieten mit Abgaben an die Wasser- und Boden-verbände in Höhe von rund 15 Euro pro Jahr und Hektarbelastet werden. Diejenigen, die dafür sorgen, dass sau-beres Wasser langsam abfließt und im Wald gespeichertwird, sollen über Gebühr bezahlen. Das kann keine Poli-tik des Miteinanders im Sinne unserer Umwelt sein.Sie haben die Mittel für den BHU, den Zusammen-schluss der Heimatvereine, in den letzten drei bis vierJahren auf einen Bruchteil gekürzt. Das kann doch nichtwahr sein. Wir brauchen das Ehrenamt und nicht alleinden Staat.SPD und Grüne setzen auf den Verwaltungshaushalt.Der Anteil des Verwaltungshaushaltes ist in den letztenJahren deutlich angestiegen und steigt weiter. Die Inves-titionen im Bereich des Umwelt- und Naturschutzes ge-hen zurück.Wenn jetzt beispielsweise die Heimatvereine Anträgezu Projekten stellen, dann sagen Sie zwar, diese Projektewürden gefördert. Aber tatsächlich werden die Anträgedes BHU mit fadenscheinigen Begründungen abgelehnt.Das kann nicht die Umweltpolitik sein, die wir brauchen,die uns nach vorne bringt.
Bei der Novellierung des EEG – auch das wurde ebenangesprochen – fördern Sie die Windenergie auch innicht so windintensiven Lagen mit über 2 Milliarden Europro Jahr – bald mehr als bei der Steinkohle – und stellendie Biomasse hintenan: Leider wollen Sie hier den För-derungszeitraum verkürzen. Die nachwachsenden Roh-stoffe hätten wirklich eine Chance verdient, in unseremLand vorangebracht zu werden. Das ist keine Politik imSinne des Waldes, der Biomasse, der Chancen für nach-wachsende Rohstoffe.Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Ziel derUnion ist es, die Umwelt und die Biotope zu erhalten, siezu schützen, sie wiederherzustellen, sie weiterzuentwi-ckeln und sie zu vernetzen. Dabei kommt es für uns we-sentlich auf vertrauensvolle Zusammenarbeit an. Es istwichtig, dabei die ordnungsgemäße Land- und Forst-wirtschaft, den Tourismus und den Sport, die Vereine
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Cajus Caesarund Institutionen sowie die Menschen, die in den ländli-chen Regionen aktiv sind und arbeiten, mit einzubezie-hen. Auf dieses Miteinander kommt es maßgeblich an.Wir als Union wollen die Ressourcenschonung unddie Artenvielfalt. Wir alle müssen Nachhaltigkeit voran-stellen. Zentrale Aufgabe hat zu sein, zukünftigen Gene-rationen eine intakte Umwelt zu übergeben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Undine Kurth.
Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Gäste auf den Tribünen! Auch ich möchte
meinen Beitrag mit Kurt Kretschmann und seiner wun-
derbaren schwarzen Waldohreule beginnen. Er hat sie
1950 – in einer Zeit, als es vermeintlich Wichtigeres als
Naturschutz gab – erfunden und unters Volk gebracht –
ein Symbol, das heute jeder kennt.
Dabei galt damals die Eule als Totenvogel. Er hat dem
aber die Eule als Symbol der Weisheit entgegengesetzt.
Auch unsere jetzige Debatte steht unter dieser Zwei-
deutigkeit der Eule. Wir müssen die Frage beantworten,
ob wir mit Weisheit und großer Voraussicht mit unserer
Natur umgehen, sie bewahren, sie schützen und sie in ih-
rer Schönheit, aber auch in ihrer Nützlichkeit für die
nächsten Generationen erhalten wollen oder ob wir den
nahen Tod einer kranken Natur einfach hinnehmen, ihn
beklagen, aber meinen, wir könnten ihn nicht abwenden.
Zur Beantwortung dieser Frage, wofür wir uns ent-
scheiden wollen, ist ein Blick zurück wichtig. Denn die
Naturschutzpolitik hat in den letzten Jahren wirklich
viele Erfolge gebracht. Das ist eben schon gesagt wor-
den.
Begonnen wurde mit den BVVG-Flächen in Ost-
deutschland, die für den Naturschutz gesichert wurden.
Herr Caesar, wenn Sie hier beklagen, dass das Grüne
Band noch nicht so weit ist, wie wir es haben wollten,
dann reden Sie doch bitte einmal mit den Landesregie-
rungen Ihrer politischen Couleur, die ganz maßgeblichen
Anteil daran haben, dass wir nicht dort sind, wohin wir
wollen!
Es tut dem Naturschutz nicht gut, mit billiger Polemik zu
argumentieren. Wenn wir, wie Sie sagen, dort gemein-
sam weiterkommen wollen, dann sollten wir ehrlich mit-
einander umgehen.
Der Stiftungszweck der Deutschen Bundesstiftung
Umwelt wurde zugunsten des Naturschutzes geändert.
Jetzt trägt die größte europäische Umweltstiftung ihren
Teil dazu bei, dass der Naturschutz in Deutschland ganz
erheblich vorangebracht werden kann. Mit dem Bundes-
naturschutzgesetz haben wir eine nachdrückliche Stär-
kung und Modernisierung des Naturschutzes erreicht. Es
ist zum Beispiel wichtig, dass in den nächsten Jahren
zehn Prozent der Fläche unseres Landes in einen Biotop-
verbund gegeben werden sollen. Wenn wir bedenken,
wie stark die Rückdrängung wild lebender Pflanzen und
Tiere durch unsere Zivilisation voranschreitet, ist das
eine Entscheidung, die ungeheuer wichtig ist.
Wenn man sich die entsprechenden Zahlen ansieht,
stellt man fest: 69 Prozent der Biotope in Deutschland
sind gefährdet, 15 Prozent von Vernichtung bedroht. Das
sind Zahlen, die Angst machen. Deshalb ist es notwen-
dig, dass wir diesen Biotopverbund in die Tat umsetzen
und dass ihn das Bundesamt für Naturschutz koordiniert.
Es muss tätig werden, damit der Biotopverbund auch
überregional funktioniert und sich auch in internationale
Netze integriert.
Im neuen Naturschutzgesetz haben wir vor zwei Jah-
ren die Ausweisung von Nationalparks erleichtert.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen
Schirmbeck?
Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Ja, bitte.
Frau Kollegin, 10 Prozent der Fläche unseres Landessollen für den Naturschutz zur Verfügung gestellt wer-den. Wollen Sie das durch ordnungsrechtliche Maßnah-men oder durch Vertragsnaturschutz erreichen?Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Ein Biotopverbund ist weder nur über den Vertragsna-turschutz noch nur ordnungsrechtlich zu organisieren.Ich bin ganz verblüfft, dass mich jemand in einer sol-chen Debatte in dieser Art und Weise über einen Biotop-verbund befragt.
– Ich müsste Ihnen ja grundsätzlich erklären, was einBiotop und ein Biotopverbund sind. Dafür reicht die Zeitnicht aus. Das müssten wir anschließend tun. Dann kannich Ihnen das erklären.
Im Ergebnis gibt es erfreulicherweise seit Beginn die-ses Jahres zwei neue Nationalparks in Deutschland: denNationalpark Kellerwald-Edersee in Hessen und den Na-tionalpark Eifel in NRW.Ich kann auch noch etwas zum Meeresnaturschutz sa-gen. Im Ergebnis seiner Bemühungen um den Meeresna-
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Undine Kurth
turschutz hat das Bundesministerium für Umwelt zehnSchutzgebiete in der Nord- und der Ostsee vorgeschla-gen. Damit sind wir führend in Europa.Jetzt möchte ich auf einen Punkt kommen, der auchschon angesprochen worden ist: dass wir uns in unseremAntrag sehr deutlich für die Beibehaltung des 2002 ein-geführten Verbandsklagerechtes aussprechen. Dies tunwir aus gutem Grund. Schließlich sind, wie wir alle wis-sen, Naturschutzverbände die besten Anwälte der Natur.Deshalb appelliere ich sehr an meine Kolleginnen undKollegen von der Opposition, dieses Recht weder zu dis-kreditieren noch auszuhöhlen. Denn das zeugt wirklichnicht von Weisheit, sondern von einem grundfalschenVerständnis von Bürgerbeteiligung und Bürgerrechten.
Alle Erfahrungen zeigen nämlich, dass sich Verzögerun-gen bei Planungen nur dann ergeben, wenn man gelten-des Recht nicht einhält. Wenn man die Belange des Na-turschutzes rechtzeitig berücksichtigt, muss man diesesKlagerecht in keiner Weise fürchten.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der heute zur Ver-abschiedung anstehende Antrag belegt, dass wir es nichtbei unseren Erfolgen belassen wollen und dürfen, son-dern dass wir die Naturschutzpolitik des Bundes konti-nuierlich entwickeln wollen.
Dabei ist die Formulierung „Naturschutzpolitik des Bun-des“ wichtig; denn wir alle wissen, dass der Naturschutzaufgrund unseres föderalen Systems eine wesentlichebzw. die Hauptaufgabe der Länder ist. Die Punkte unse-res Antrages belegen aber, wie wichtig auch der bundes-gesetzliche Rahmen ist. In unserem Antrag fordern wireine nationale Naturschutzstrategie, die sich in die natio-nale Nachhaltigkeitsstrategie einfügen soll.Es muss endlich gelingen, in allen Ressorts das Ver-ständnis eines nachhaltigen Naturschutzes zu vertiefen.Es kann doch wohl nicht angehen, dass man jedes Mal,wenn das Wort „Nachhaltigkeit“ fällt, der Meinung ist,dass das jeweilige Thema in den Zuständigkeitsbereichdes BMU fällt, das sich damit beschäftigen sollte. Natur-schutz ist eine Querschnittsaufgabe, die in allen Ressortsmit gedacht und mit bearbeitet werden muss. Auch hoffeich, dass, wenn Naturschutzargumente angeführt wer-den, irgendwann niemand mehr sagt, dies sei ein Ein-bringen sachfremder Kriterien in Politikfelder bzw. poli-tische Entscheidungen, wie man es heute nochmanchmal hört. Der neue Parlamentarische Beirat fürNachhaltigkeit wird hierzu sicherlich seinen Beitrag leis-ten.
Unser Antrag spiegelt wider, dass moderne Natur-schutzpolitik mehr als den reinen Arten- und Gebiets-schutz umfasst, obwohl dieser selbstverständlich einesehr wichtige Stütze des Naturschutzes ist. Wir braucheneine umfassende Integration des Naturschutzes in allePolitikbereiche. Naturschutzpolitik muss sich in fast alleaktuellen politischen Debatten einmischen. Es ist bereitsgesagt worden, dass unter anderen hier sowohl die Ver-kehrs- und Energiepolitik als auch die Ausgestaltung derAgrarpolitik gemeint sind. All dies sind wichtige Felder,auf denen Naturschutz eine Rolle spielen muss. Ichglaube auch, dass man die Bildungspolitik nicht verges-sen darf; auch da gehört er hin. Unser Antrag setzt in ge-nau diesem integrativen Sinne wichtige, richtige undnotwendige Akzente für die Politik des Bundes.Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, angesichts derweltweiten Zerstörung von Natur und der damit verbun-denen Probleme wissen wir, dass nationale, ja nicht ein-mal europäische Anstrengungen allein ausreichen; auchdarauf weist unser Antrag hin. Auf maßgebliche deut-sche Initiative hin wurden im Februar in Kuala Lumpurauf der 7. Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkom-mens der Vereinten Nationen über die biologische Viel-falt sehr ehrgeizige Arbeitsprogramme zur Einrichtungeines weltweiten Netzes von Schutzgebieten beschlos-sen. Es soll erreicht werden, dass dieses weltweite Netzvon Schutzgebieten zu Land bis 2010 und auf dem Meerbis 2012 errichtet werden kann. Ich glaube, dass uns im-mer wieder bewusst werden muss, wie dringend dieseAufgabe ist.Mit unserem Antrag „Naturschutz geht alle an“ wol-len wir den Naturschutz einen großen Schritt voranbrin-gen. Ich hoffe, dass sich die Opposition und auch dieLänder dem anschließen können. Vielleicht hilft Ihnen,meine liebe Kollegen von der Opposition, ein Wort vonRichard von Weizsäcker, diesem Antrag doch noch zu-zustimmen:Das grundlegende Ziel ist es, die Schöpfung zu be-wahren. Nur wenn wir die Natur um ihrer selbstwillen schützen, wird sie uns Menschen erlauben zuleben.Es reicht eben nicht, darüber zu reden, wie wichtig Na-turschutz ist. Vielmehr müssen wir den Naturschutz beiZielkonflikten mit anderen Politikbereichen wirklichernsthaft verteidigen und durchsetzen.Zum Schluss meiner Rede möchte ich die Gelegen-heit nutzen, von dieser Stelle aus all den Verbänden undInitiativen herzlich für ihr unglaubliches Engagement zudanken, mit dem sie Naturschutzarbeit in vielen Berei-chen überhaupt erst möglich machen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete AngelikaBrunkhorst.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Keine Angst – ich werde das Buch nicht in voller Gänzevorlesen. Ich will Ihnen nur einen Tipp geben.Der uns vorliegende Antrag fordert Akzeptanz unddie verstärkte Integration von Naturschutz in alle Politik-felder. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitions-fraktionen, wir sind doch schon auf dem besten Wege,wir sind doch schon gut dabei. Ich sehe die Lage viel po-sitiver, als Sie sie hier jetzt skizziert haben. Nicht nurSie, sondern auch die FDP will die Natur erhalten, willsie schützen. Auch wir glauben natürlich, dass eine in-takte Natur für die Lebensqualität wichtig ist. Die wollenwir sichern, auch für die kommenden Generationen.
Deshalb können wir den Empfehlungen des Sachver-ständigenrates für Umweltfragen in seinem Sondergut-achten zum Naturschutz vollständig folgen, ebenso demTAB-Bericht zu dem Thema „Tourismus in Großschutz-gebieten“.Allerdings wird der Naturschutz von den Bürgern imAlltag oft als Bevormundung und als Eingriff in ihreNutzung und ihre Eigentumsrechte empfunden; dasmuss man hier auch einmal ganz klar sagen.
Wir Liberale setzen in dieser Frage auf mehr Eigenver-antwortung und auf Kooperation mit den Bürgern undmit der Wirtschaft.
Die Liberalen sehen den Menschen als Partner im Natur-schutz. Hier möchte ich voller Stolz sagen: Unser Um-weltminister, der FDP-Umweltminister in Niedersach-sen, hat das Motto ausgegeben: Naturschutz mit denMenschen. Ich denke, das ist eine gute Losung. Damitsind wir zufrieden.
Wir wollen nicht, dass Naturschutzpolitik den Menschenaus der Natur verdrängt, sondern wir wollen ihn einbin-den. Der Mensch ist Naturnutzer und greift seit jeher inNaturräume ein; die Natur ist teilweise die Existenz-grundlage in der Land- und Forstwirtschaft. Hier müssenChancen gewahrt bleiben, zu wirtschaften und etwas zuerwirtschaften. Deswegen haben Kooperation und Ver-tragsnaturschutz für uns absoluten Vorrang gegenüberjeglicher anderen staatlichen Einflussnahme unter demDeckmäntelchen der ökologischen Ausrichtung. Das se-hen wir sehr kritisch.
Nicht akzeptabel ist dabei insbesondere Ihre Vorstellungeiner naturnahen Waldbewirtschaftung. Da droht unsdann unter Umständen das Pendant zur Ökolandwirt-schaft. Das halten wir nicht für ein Erfolgsmodell.
Das heißt aber nicht, dass wir nicht dafür sind, einzelneWaldabschnitte oder Wälder ökologisch umzugestalten,um neue Lebensräume für bestimmte Arten zu schaffenund die Artenvielfalt zu stärken. Wir haben auch aufLandesebene eine Reihe von Projekten mithilfe von EU-Mitteln unterstützt.Natur ist als Wohn- und Erholungsraum auch sozi-ales Umfeld. Unter den verschiedenen Nutzern – Be-wohnern, Wanderern, Jägern, Sportlern, Erholungssu-chenden – gibt es viele engagierte Bürger, die sichangesprochen fühlen, die den Argumenten von Natur-und Artenschutz durchaus ein offenes Ohr und eine of-fene Haltung entgegenbringen und sich auch in die Er-haltung und Pflege der Natur mit einbinden lassen. Esgibt sehr viele Beispiele für engagierte Projekte. Indivi-duelles Engagement von Bürgern hat zum Beispielauch dazu geführt, dass die Wiedereingliederung ver-schiedener Tierarten – des Lachses, des Uhus und auchdes Luchses im Harz – erfolgreich war. Das muss manhier einmal erwähnen.
Ihr Antrag greift dankenswerterweise mögliche natur-schutzrelevante Fehlentwicklungen, die das EEG mitsich bringen kann, auf. Ich möchte hier auf Gesetzeslü-cken hinweisen. Laut UVPG, also dem Gesetz über dieUmweltverträglichkeitsprüfung, müssen Windparkserst ab drei Mühlen auf ihre Umweltverträglichkeit ge-prüft werden. Investorengruppen machen in der Praxiseinen Umweg, indem jede Person einfach nur zwei Müh-len anmeldet. Damit umgeht man das UVPG. Das istnicht hinnehmbar.
Auch die Flächeninstallationen von Photovoltaikan-lagen sind unter Naturschutz- und Landschaftsaspektenkritisch zu betrachten.
So berichtet der „Spiegel“ in seiner Ausgabe von dieserWoche über die ersten Auswüchse: die Verkleidung vonWeinbergen mit Photovoltaikanlagen. Angesichts dieserökologischen Konsequenzen frage ich mich: Ist dies derrichtige Weg?
Ich möchte Sie jetzt zu einem Gedankensprung einla-den, der nicht direkt mit diesem Antrag zu tun hat. Daaber dieses dicke Buch hier liegt und mir die Akzeptanzder Umweltpolitik und damit des Naturschutzes so amHerzen liegt, möchte ich trotzdem darauf eingehen. DieUmweltpolitik trägt die Verantwortung dafür, Umwelt-und Naturschutz transparent darzustellen. Ich denke, dieBürger haben auch ein Anrecht darauf, die Umweltpoli-tik als Ganzes begreifen zu können. Deswegen möchteich noch darauf hinweisen: Wir haben 30 Umweltge-
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Angelika Brunkhorstsetze. Wir haben 38 Verordnungen. Ich möchte daranerinnern, dass wir, die FDP, in der letzten Legislatur-periode darauf gedrängt haben, endlich ein Umweltge-setzbuch auf den Weg zu bringen.
Frau Kollegin, Sie wollen dieses Oeuvre hoffentlich
nicht zur Verlesung bringen.
Ich möchte daran erinnern. Dies ist der Entwurf von
1997; die Arbeit ist also schon fast getan. Die Koaliti-
onsparteien haben versprochen, die verfassungsrechtli-
chen Rahmenbedingungen zu modifizieren. Ich frage
Sie: Wann sind Sie soweit?
Danke.
Vielleicht geben Sie das jetzt durch die Reihen; denn
jeder, der damit beschäftigt ist, scheidet als Zwischenru-
fer aus, was den weiteren Verlauf der Debatte vielleicht
befördert.
Nun erteile ich der Kollegin Gabriele Groneberg für
die SPD-Fraktion das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Ich möchte mich bei meinen Ausführun-gen auf die Punkte unseres Antrages beziehen, die sichmit städtebaulichen und verkehrspolitischen Aspektenbeschäftigen.Wenn wir über nationale Strategien zum Naturschutzund über ein umfassendes Konzept reden, dann ist dieFlächeninanspruchnahme von zentralem Interesse. Inder von der Bundesregierung im April 2002 beschlosse-nen Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie – wir haben sie„Perspektiven für Deutschland“ genannt – haben wir unsein Leitbild für eine nachhaltige Entwicklung gegebenund die grundsätzlichen Ziele und Aufgaben für Politikund Gesellschaft definiert.Tatsächlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sichin den letzten 40 Jahren die Siedlungs- und Verkehrsflä-che in Deutschland fast verdoppelt. Das heißt für uns:Wir müssen mit unseren vorhandenen Flächen sparsamumgehen.
Im Rahmen der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategieist deshalb unter anderem vorgesehen, die Inanspruch-nahme neuer Flächen für den Siedlungs- und Verkehrs-bereich von zurzeit circa 117 Hektar pro Tag bis zumJahre 2020 auf maximal 30 Hektar pro Tag abzusenken.Ich denke, dass ist sicherlich ein ehrgeiziges und gutesZiel.
Der Idealfall wäre, die tatsächliche neue Inanspruch-nahme von Flächen langfristig durch die erneute Nut-zung bereits vorhandener Flächen zu ersetzen.
Die komplexe Materie und die Vielzahl der betroffenenAkteure und ihrer verschiedenen, zum Teil vollkommengegensätzlichen Interessen bei diesem Vorhaben erfor-dern jedoch eine vernünftige Abstimmung bei der Um-setzung. Darum soll und muss dieses Ziel in mehrerenSchritten erreicht werden.Die mit der Flächeninanspruchnahme einhergehendeVersiegelung hat viele negative Folgen. Herr Caesar hatja bereits auf das vermehrte Auftreten von Hochwasser-ereignissen hingewiesen. Ich denke, wir brauchen unsauch überhaupt nicht darüber zu streiten, dass es hier ei-nen politischen Handlungsbedarf zur Eindämmung desFlächenverbrauchs gibt. Das ist allgemein anerkannt. Ineinem so dicht besiedelten Land wie Deutschland ist eswirklich zwingend notwendig, die unterschiedlichen An-forderungen, die wir an die Flächennutzung stellen – ichdenke dabei zum Beispiel ans Bauen und Wohnen, andie Erholung und den Verkehr, an die Erzeugung von Le-bensmitteln, an nachwachsende Rohstoffe, an die wirt-schaftliche und öffentliche Nutzung und eben auch andie Zwecke des Naturschutzes –, so in Einklang zu brin-gen, dass die nachhaltige Nutzung unseres Lebensrau-mes erhalten und gestärkt werden kann. Das ist keinkleines Problem.Weitgehender Konsens in den prinzipiellen Vorstel-lungen zur Erreichung unseres Zieles besteht – das ha-ben wir heute mehrfach gehört – bei der Erhöhung derEffizienz der Flächennutzung, der Verbesserung des re-gionalen Flächenmanagements, der Mobilisierung vor-handener Flächenreserven, der Sanierung und Nutzungvon Brachflächen – hier ist bestimmt noch einiges zutun –, der Umlenkung von Investitionen im Wohnbaube-reich vom Neubau in den Bestand – wir haben versucht,das in den vergangenen Monaten mit der Lenkung durchdie Eigenheimzulage zu organisieren – und der Verbes-serung der Lebensbedingungen in der Stadt. Spätestensbei der Aufgabe, die allgemein geforderte Trendumkehrbeim Flächenverbrauch zu erreichen, wird es mit der Ei-nigung ein wenig schwerer bzw. ist Schluss mit der Ei-nigkeit. Die Nutzungskonflikte bei den knapper werden-den Flächen können zurzeit wirklich nur schwer gelöstwerden.Gerade im Parlament werden wir uns in diesem Jahrnoch intensiv mit diesem Thema beschäftigen. Seit kur-zem liegen uns die beschriebenen Gutachten vor. VomBüro für Technikfolgenabschätzung haben wir diesbe-züglich noch einiges zu erwarten. Insofern gehe ich da-von aus, dass wir uns hier an dieser Stelle noch kontro-vers mit diesem Thema auseinander setzen werden. Abernicht nur wir hier im Bundestag sind bei der Auseinan-dersetzung mit diesem Thema gefordert. Ich begrüße es,dass die Bundesregierung dazu einen breit angelegten
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Gabriele GronebergDialog zur Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrate-gie organisiert hat.Alle Bürgerinnen und Bürger sowie alle gesellschaft-lichen Gruppen in Deutschland sind aufgerufen, sich mitden Anregungen und Vorschlägen, die dort gemachtwerden, zu beschäftigen, selbst auch Anregungen undVorschläge einzubringen und sich an diesem Dialog zubeteiligen. Frau Brunkhorst, ich gehe davon aus, dasswir es durch diesen Dialog schaffen werden, eine breiteBeteiligung in der Bevölkerung zu erreichen und da-durch natürlich auch die Akzeptanz der Maßnahmen we-sentlich zu erhöhen. Die zu entwickelnden Konzepte zurVerminderung der Flächeninanspruchnahme können nurim Konsens mit den Betroffenen und den Beteiligtendurchgesetzt werden. Ich muss ganz ehrlich sagen: Einesolch umfassende Möglichkeit zum Dialog hätte ich mirbereits in den Jahren vor 1998 gewünscht. Ich denke,dann wären wir heute schon weiter.
In der generellen Zielsetzung sind wir uns nun wirk-lich einig: Wir alle möchten nämlich, dass unsere Enkelund Urenkel noch einen Naturraum zum Leben und na-türlich auch zum Wirtschaften vorfinden werden. Dafürkann man nun wirklich nicht genug Vorsorge treffen.Ich möchte noch ein kurzes Wort zu unserer Forde-rung im Antrag an die Bundesregierung sagen. Wir bit-ten die Bundesregierung, sich weiterhin dafür einzuset-zen, dass das im Bundesnaturschutzgesetz eingeführteVerbandsklagerecht keine abweichenden landesrechtli-chen Regelungen erfährt. Ich halte es für wichtig, dasswir auch diesen Punkt kurz ansprechen.
Im letzten Jahr haben wir uns mit einem Antrag desBundesrates befasst, mit dem die Absicht verfolgtwurde, das gemäß dem Bundesnaturschutzgesetz aner-kannten Vereinen eingeräumte Verbandsklagerecht ein-zuschränken. Die Bundesländer sollten die Befugnis er-halten, vom Bundesgesetz abweichende Regelungen zutreffen. Begründet wurde dieses Erfordernis mit dem zü-gigen Aufbau der notwendigen Verkehrsinfrastruktur inden neuen Ländern. Ich möchte hier deutlich machen,dass wir diese Regelung ablehnen. Nach den bisher ge-machten Erfahrungen ist das Verbandsklagerecht, dasden Vereinen eingeräumt wurde, nicht ausgenutzt wor-den. Es ist auch nicht zu erwarten, dass es ausgenutztwerden wird.
– Man kann auch sagen, dass es nicht missbraucht wird.Im Übrigen wird die vorzunehmende Umsetzung derEU-Richtlinie zur Öffentlichkeitsbeteiligung ohnehinspätestens ab April 2005 eine entsprechende Regelungzur Verbandsklage im nationalen Recht erfordern. Diesewerden wir auch umsetzen. Insofern wäre zu dem Zeit-punkt die durch die Bundesländer angestrebte Lösungmit dem Europarecht schlicht und einfach nicht mehrvereinbar. Die im Naturschutzgesetz vorgenommene Re-gelung sollte man als Chance begreifen, sich vorher imKonsens zu einigen. Die Klage eröffnet nur die Möglich-keit, im Anschluss an die Beteiligung weitere Schritte zuunternehmen. – Wie ich sehe, muss ich zum Ende kom-men. Ich werde gleich aufhören. – Letztendlich sollendie Verbände und Vereine Klagen vermeiden und durchfrühzeitige Zusammenarbeit mit den Verwaltungsbehör-den eine vernünftige Lösung erreichen.Liebe Kolleginnen und Kollegen – –
Nein, Sie können jetzt nicht noch einmal zu einem
Schlusschor ansetzen, weil Ihre Redezeit schon abgelau-
fen ist.
Herr Präsident, ich wollte dem Kollegen Schirmbeck
nur den guten Rat geben: Falls er noch Aufklärungsbe-
darf hat, soll er die Internetseite der Bundesregierung zur
Nachhaltigkeitsstrategie und Umweltnutzung aufrufen.
Dort kann er sich umfassend informieren.
Herzlichen Dank.
Frau Kollegin, ich überlege gerade, was Sie mit Ihrer
übrigen Redezeit gemacht hätten, wenn Sie mit dieser
Empfehlung begonnen hätten.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Josef Göppel für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Am Ende dieser Debatte frage ich mich: WelcheSchlussfolgerungen ziehen wir nun? Zunächst ist mirdas ehrliche Bemühen der Antragsteller aufgefallen, imNaturschutz weiterzukommen. Das möchte ich aus-drücklich anerkennen. Die Frage ist nur: Wie und aufwelchen Wegen kommen wir wirklich weiter, um diesenmomentanen Durchhänger im Naturschutz zu überwin-den?Jede Zeit braucht ihre besondere Herangehensweiseund Argumente, damit die Menschen zuhören. Dazumuss ich als ersten Punkt sagen: Wir müssen jetzt dieInteressen der Menschen, die wir erreichen wollen,stärker berücksichtigen, egal ob es Kanuten, Kletterer,Waldbesitzer oder Kommunalpolitiker sind. Als einer,der selber im Naturschutz aktiv ist, weiß ich: Wenn wirdie Menschen bei den für sie wichtigen Anliegen nichtauf dem richtigen Ohr erreichen, kommen wir nicht wei-
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Josef Göppelter. Es mag gut gemeint sein, wenn jemand eine wert-volle Fläche schützen will. Man muss aber erlebt haben,wie Menschen denken, die von einem Stück Land lebenmüssen. Deren Sichtweise stärker einzubeziehen, halteich für besonders wichtig.
Der zweite Punkt ist, dass wir Sonderbelastungenverlässlich und dauerhaft honorieren. In diesem Zusam-menhang greife ich die FFH-Prämie auf, die mein Kol-lege Caesar schon angesprochen hat. Diese FFH-Prämieist wichtig, wenn wir das europäische Schutzgebietsnetzohne ständige Proteste durchsetzen wollen.Der dritte Punkt ist die Kooperation verschiedenerNutzer mit den Schützern. Ich denke zum Beispiel andie deutschen Landschaftspflegeverbände, deren We-senskern die Drittelparität zwischen Landwirten, Natur-schützern und Kommunalpolitikern ist. Die Erfahrungenzeigen, dass mit solchen Konstruktionen Vertrauenwächst und Gräben überwunden werden können.Der nächste Punkt, der mir bei meiner Vorrednerin,Frau Kollegin Groneberg, aufgefallen ist, ist der Flä-chenverbrauch. Auch ich bin der Meinung, dass derFlächenverbrauch eingedämmt werden muss. Nur wer-den wir das ohne die Kommunalpolitiker nicht schaffen.
Wie machen wir das also? Ich habe die Erfahrung ge-macht, dass Selbstverpflichtungen oder Appelle nichtreichen.
Wir brauchen ein finanzielles Instrumentarium, daseine Steuerungswirkung entfaltet. Das muss jedoch mitden Beteiligten entwickelt werden. Ich bin selber Kom-munalpolitiker und weiß, dass man diese Dinge belas-tungsneutral und aufkommensneutral im Rahmen derGrundsteuer und der Grunderwerbsteuer regeln kann.Das sind die Wege, auf denen wir gehen können.Wie gewinnt man zum Beispiel Regionalpolitiker? Eswird immer deutlicher, dass intakte Landschaften einwichtiger Standortfaktor sind. Mir fällt ein, dass kürz-lich bei einer Umfrage in meiner bayerischen Heimat dieFrage gestellt wurde: „Was gefällt Ihnen an Bayern ambesten?“ Es wurden zwölf Antwortmöglichkeiten ange-boten. Etwas überraschend ist vielleicht, dass mit gro-ßem Abstand am häufigsten die Landschaft genanntwurde.
– Das habe ich auch nicht gesagt, lieber Kollege.
Ich wollte deutlich machen, dass es ein Bewusstsein derMenschen über den Wert der Landschaft gibt. Gerade füruns, die Konservativen, ist das ein Bestandteil der Hei-mat. Schöpfungsschutz und Heimatschutz – dahinter ste-hen letztlich ethische Gründe.Die Frage, wie wir zu den gemeinsamen Zielen kom-men, entscheidet sich an den Wegen dorthin. Ich möchteIhnen ausdrücklich sagen: Es gibt bei uns die Bereit-schaft zu einer gemeinsamen Naturschutzstrategie. Siemüssen nur mehr mit uns über die gemeinsamen Wegereden. Dann werden wir auch zu einem gemeinsamenAntrag kommen. Dass wir in dieser Frage weiterkom-men müssen, um unser Land attraktiv zu erhalten undden Naturschutz mit der Möglichkeit, von solchen Flä-chen zu leben, zu verknüpfen, ist der entscheidendePunkt. Wenn diese Debatte auch der Koalition dazu ei-nen Anstoß gegeben hat, dann hat sie ihren Nutzen ge-habt.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 15/2053 zu dem Antrag der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Ti-
tel „Naturschutz geht alle an – Akzeptanz und Integra-
tion des Naturschutzes in andere Politikfelder weiter
stärken“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/1318 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehr-
heit des Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 b auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dieter Thomae, Birgit Homburger, Detlef
Parr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Abschaffung der Praxisgebühren
– Drucksache 15/2351 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. – Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieVerunsicherung der Bevölkerung ist seit In-Kraft-Tre-ten des Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes im-mens hoch. Ein nicht abreißen wollender Protest in Formvon E-Mails, Briefen und Anrufen, wie ich ihn in13 Jahren Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestagnoch nicht erlebt habe, und die Beteiligung an Telefon-aktionen zum Thema Gesundheitsreform machen dieseVerunsicherung deutlich.
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Dr. Heinrich L. KolbUnmutsfaktor Nummer 1 – das ist wirklich ernst, HerrKollege Kirschner – ist die Praxisgebühr. Insbesonderedie Menschen, die alt und durch ihre Krankheit ohnehingehandicapt sind, fühlen sich mit dieser neuen Regelungüberfordert.
Weil die Erhebung der Praxisgebühr in der jetzigenForm der falsche Weg ist, muss sie aus unserer Sicht ab-geschafft werden.
Damit es keine Missverständnisse gibt, liebe Kollegin-nen und Kollegen, will ich deutlich machen: Die FDP istnach wie vor der Auffassung, dass eine Beteiligung anden Heilungskosten über den Versicherungsbeitrag hi-naus als steuerndes Element sinnvoll und notwendig ist.Die Menschen brauchen einen Anreiz, darüber nachzu-denken, wie hoch die Ausgaben sind, die sich aufgrundder Behandlung einer Krankheit ergeben. Sie brauchen ei-nen Anreiz, mit ihrem Arzt darüber zu reden, welcheMaßnahmen tatsächlich notwendig sind, um den Hei-lungsprozess zu fördern. An einer stärkeren Eigenverant-wortung des Einzelnen führt kein Weg vorbei. Das ist klar.
Wir begrüßen auch ausdrücklich, dass dies mittlerweileselbst SPD und Grüne eingesehen haben. Es hat langegenug gedauert, Herr Kollege Kirschner und Frau Kolle-gin Lotz. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern – solange gehöre ich diesem Haus schon an –, in denen dieFDP hier für diese Selbstverständlichkeit verteufelt wor-den ist.Das Problem ist nur, dass – wie in anderen Bereichenauch – das System sozusagen erst vor die Wand gefahrenwerden muss, bevor Rot-Grün zu den notwendigen Ver-änderungen bereit ist. Hätte man nicht im Wahlkampf1998 unrealistische Ankündigungen gemacht und frühermit der Reform des Gesundheitswesens begonnen, dannkönnten wir heute damit schon wesentlich weiter sein.
Die Freude darüber, dass Sie und auch die Regie-rungskoalition jetzt für erweiterte Zuzahlungen sind,wird aus unserer Sicht durch die Art und Weise der Um-setzung getrübt. Man hätte eine einfache Regelung inForm der Erstellung einer Rechnung finden können, wiewir das auch aus anderen Wirtschaftszweigen kennen.Der Patient hätte die Rechnung bei seiner Krankenversi-cherung eingereicht und dann den Rechnungsbetrag ab-züglich der vorgesehenen Zuzahlung erstattet bekom-men. Das wäre in unseren Augen eine vernünftige,unbürokratische Art und Weise des Umgangs mit dieserProblematik gewesen.
Aber der bürokratische Aufwand, der jetzt in denPraxen entsteht, ist unglaublich.
Die Ärzte, die sich eigentlich um ihre Patienten küm-mern sollen, müssen erst ihre Praxis umorganisieren, da-mit die 10 Euro eingezogen werden können.
Sofern die Patienten das Geld nicht dabeihaben, müssendie Ärzte es schriftlich einfordern. Die KassenärztlichenVereinigungen müssen mahnen, wenn das Geld nicht ge-zahlt wird. Das entspricht nicht dem, was wir uns unterQualitätsverbesserungen im deutschen Gesundheitswe-sen vorstellen.
Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Ausnah-men, die, wenn nicht inkonsistent, so doch für das medi-zinische Personal in den Praxen – das sind schließlichdiejenigen, die vor Ort mit dieser Regelung umgehenmüssen – zumindest sehr schwer zu durchschauen sind.Die Regelung ist und bleibt bürokratisch. Deshalb musssie, wie gesagt, aus unserer Sicht abgeschafft werden.
Ich will noch eines deutlich machen: Mit unseremAntrag wollen wir auch eine Rückkehr zur Wiederein-führung der früheren Härtefallregelung erreichen,
nach der Menschen, die von Sozialhilfe leben, von derZuzahlung befreit waren. Wir müssen leider feststellen,dass in der Praxis erhebliche Probleme auftreten. Wiewill man beispielsweise von einem demenzkrankenHeimbewohner die Zuzahlungen einfordern? Wir wissendoch alle, dass das am Ende beim Betreuungspersonalhängen bleibt, das die Zeit auch besser nutzen könnte alsfür den Umgang mit der Zuzahlung.
Alles in allem gilt in diesem Fall: Gut ist das Gegen-teil von gut gemeint. Wir begrüßen es, dass Sie sich einStück in Richtung Mitbeteiligung bewegen. Aber wir,die Liberalen, kennen einen wesentlich einfacheren, un-bürokratischeren Weg zur Handhabung der Eigenbeteili-gung:
Transparenz und Kostenerstattung.
Das sind die Schlagworte, die wir in die Diskussion ein-führen wollen. Deswegen bitten wir Sie, unserem Antragzuzustimmen, um das auf den Weg zu bringen.
Das Wort hat die Kollegin Erika Lotz, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihr
Antrag, lieber Herr Kolb, erinnert mich an eine frühere
Fernsehsendung. Sie trug den Titel „Nepper, Schlepper,
Bauernfänger“. Sie versuchen sich heute als Bauernfän-
ger.
In Ihrem Antrag geht es Ihnen angeblich um den Ab-
bau von Bürokratie und eine höhere Akzeptanz der Zu-
zahlungen. In der letzten Woche musste ich meinen
Hausarzt aufsuchen und als AOK-Versicherte habe ich
einfach 10 Euro mitgebracht. Ich muss Ihnen sagen: Es
war ganz unproblematisch, die 10 Euro zu zahlen. Von
einem höheren bürokratischen Aufwand war in dieser
Praxis nichts zu spüren.
Sie haben die Katze dann doch aus dem Sack gelas-
sen. In Wahrheit geht es Ihnen um die Einführung des
Kostenerstattungsprinzips. Sie glauben noch immer,
dass in der Kostenerstattung das Heil der gesetzlichen
Krankenversicherung liegt. Diesen Irrglauben kann und
will ich Ihnen gar nicht nehmen. Aber die Patientinnen
und Patienten sollen wissen, dass das Kostenerstattungs-
prinzip für sie ganz und gar nicht günstig ist. Wir halten
deshalb am Sachleistungsprinzip fest.
Es ist und bleibt Ihr gutes Recht, Herr Kolb, im Deut-
schen Bundestag Anträge zu stellen,
auch solche, die auf falschen Annahmen und Schlussfol-
gerungen beruhen. Anträge aber in der Absicht zu stel-
len, der Öffentlichkeit etwas vorzuspiegeln und sie zu
täuschen, ist unredlich, wie Sie selbst wissen. Einen An-
trag auf Einführung des Kostenerstattungsprinzips in der
ambulanten Versorgung hinter einem Antrag auf Ab-
schaffung der Praxisgebühr zu verbergen mag für Sie ein
gerissener Schachzug sein. Aber ich sehe darin eine Ver-
knüpfung von Kostenerstattungsideologie und hem-
mungslosem Populismus.
Es gab Zeiten, in denen die FDP nicht die Lufthoheit
über den Stammtischen suchte. Aber das scheint längst
vorbei zu sein.
Damals wäre jedenfalls niemand auf den Gedanken ge-
kommen, der sich heute vielen unwillkürlich aufdrängt,
das Kürzel FDP mit „Fraktion der Populisten“ zu über-
setzen.
Zur Sache selbst: Jedes neue Verfahren braucht Zeit,
um sich einzuspielen. Natürlich gab und gibt es bei der
Einziehung der Praxisgebühr sowohl auf der Arzt- als
auch auf der Patientenseite Kinderkrankheiten. Aber
diese werden bald ausgestanden sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, verab-
schieden Sie sich von der „Fraktion der Populisten“ und
beginnen Sie, konstruktiv zu denken und zu arbeiten.
Zur Verdeutlichung dessen, was ich unter konstruktiver
Arbeit verstehe, lassen Sie mich kurz auf unser Ziel der
Qualitätsverbesserung im Gesundheitswesen einge-
hen. Wir haben uns seit jeher für eine Steigerung der rea-
len Versorgungsqualität unseres Gesundheitssystems
eingesetzt. Seit der Regierungsübernahme haben wir
nachweislich an der Erreichung dieses Ziels gearbeitet.
Wir haben einen roten Faden der Qualitätssicherung in
unserem Gesundheitssystem gespannt. Wir haben die
Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung ins Leben ge-
rufen und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit
im Gesundheitswesen aus der Taufe gehoben. Die neue
Arbeitsgemeinschaft für Aufgaben der Datentransparenz
wird dafür sorgen, dass eine flächendeckende Versor-
gungsforschung in Deutschland versicherungs- und ein-
richtungsübergreifend eingeführt werden kann.
Arbeiten Sie konstruktiv mit und kehren Sie zurück
zu einer realen Politik!
Danke schön.
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Zöller, CDU/
CSU-Fraktion.
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn wir heute über den Antrag der FDP be-raten, dann sollten wir fairerweise die Gründe für dieEinführung der Praxisgebühr nochmals kurz anspre-chen:Erstens. Die Praxisgebühr soll auch ein Instrumentzur Verhaltenssteuerung sein.
Aufgrund der weit über 500 Millionen Arztkontakte, diedie Patienten in Deutschland pro Jahr veranlassen, soll-ten die Menschen zu einem verantwortungsvolleren Um-gang mit medizinischen Versorgungsleistungen moti-viert werden. Es ist heute unbestritten, dass zahlreiche
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Wolfgang ZöllerArztbesuche medizinisch nicht unbedingt erforderlichsind.
Die hohe Zahl der Arztkontakte erschwert letztlich einebessere Versorgung von tatsächlich behandlungsbedürf-tigen Kranken.Zweitens. Darüber hinaus zielt die Praxisgebühr aufeine Ausgabenverminderung der Krankenkassen.Die Praxisgebühr ist nämlich keine Einnahme der Kran-kenkassen, sondern Teil der ärztlichen Vergütung. DerArzt erhält sein Honorar teilweise als Vorauszahlung di-rekt vom Patienten.Drittens. Die Praxisgebühr ist schließlich auch imVergleich zu anderen denkbaren Reformmaßnahmen dasmildere Mittel.Angesichts der enormen Finanzierungskrise der ge-setzlichen Krankenversicherung – höchste Beitragssätze,höchster Schuldenstand – bestand ein dringender Re-formbedarf, der von niemandem bestritten wurde. Diekatastrophale Situation auf dem deutschen Arbeitsmarktverbot ein Drehen an der Beitragsschraube. Die Lohnne-benkosten waren zwingend zu senken. Also musste zwi-schen Leistungsausgrenzung und verhaltenssteuernderEigenbeteiligung entschieden werden. Letztere ist ohneZweifel der sozial verträglichere Weg.Nachdem den Politikern Anfang des Jahres wegen derPraxisgebühr der Wind ins Gesicht blies, gab es plötzlichStreit um die Vaterschaft der Praxisgebühr. Der SPD-Kollege Schösser sagte: Diese Gebühr wollten wir nie;das war die CDU. Hingegen sagte der Bundeskanzler beider Vorstellung der Agenda 2010 bereits im März 2003:Gerade weil Eigenverantwortung gestärkt werdenmuss, sollten wir … – Instrumente wie differen-zierte Praxisgebühren und Selbstbehalte nutzen.
Auch die von der Regierung eingesetzte Rürup-Kom-mission wollte die Einführung einer Praxisgebühr.Selbst die FDP hatte vor ihrem Ausstieg aus den Kon-sensgesprächen unter Anerkennung der oben genanntenGründe ihr Ja zur Praxisgebühr gegeben.
Das hat sie bei der Festlegung der Eckpunkte erklärt.
Jetzt, wo der Druck auf die Politik gestiegen ist, wo esdarauf ankommt, auch zu unpopulären Maßnahmen zustehen, verlässt einige der Mut. Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion: Wir stehen zu der Praxisgebühr.
Sicher: Es gab zahlreiche Vollzugsmängel und An-laufschwierigkeiten bei der Umsetzung dieses Geset-zes. Sicher: Die teilweise systematisch geschürten Wi-derstände gegen die Praxisgebühr haben zu einerenormen Verunsicherung in der Bevölkerung und in derÄrzteschaft geführt. Denken wir nur an die in den Me-dien genannten Extrembeispiele! Dort wurde die Fragegestellt, ob ein Arzt nach einem schweren Verkehrsun-fall erst an den Geldbeutel eines Verletzten gehen muss,um 10 Euro herauszuholen, bevor er ihn behandeln darf.Solche Szenarien waren zu weit hergeholt und haben nurzur Verunsicherung, aber nicht zur Versachlichung bei-getragen.
Ich bin sehr froh, dass die Kassen für die schwierigenFallgestaltungen bei Heimbewohnern und bei Taschen-geldempfängern mittlerweile sogar ganz unbürokrati-sche Lösungen angeboten haben. Das hat zwar lange ge-dauert; aber man hat es erfreulicherweise getan.Herr Dr. Kolb, ihr Beispiel von vorhin, bezog sich aufdas, was beim Arzt passiert ist. Auch ich musste im ers-ten Quartal dieses Jahres zum Arzt.
Siehe da: Der Arzt hat einfach einen Vermerk gemacht.Auf diesem Vermerk stand: Der Patient hat seine10 Euro bezahlt. – Fertig! Das war die ganze bürokrati-sche Arbeit. Ich hatte mit meinem Arzt in diesem Fallalso keine Probleme.Allerdings – auch das muss unumwunden gesagtwerden –: Handwerkliche Vollzugsprobleme begründenkeine Mithaftung der Union; aber sie begründen auchnicht die Behauptung, die Praxisgebühr sei prinzipielldas falsche Instrument.
Das Gegenteil ist nämlich der Fall: Die ersten Untersu-chungen zeigen, dass die Menschen eine größere Sensi-bilität für den Umgang mit medizinischen Dienstleistun-gen entwickeln; sie bemühen sich auch um einenrationelleren Umgang mit medizinischen Versorgungs-leistungen. Mittlerweile gibt es sogar zahlreiche Bürger,die offen zugeben, dass sie durch das Diskutieren überein Vor und ein Zurück in Bezug auf diese Gebühr eherverunsichert als aufgeklärt wurden.Verunsicherungen werden auch durch Widersprücheim FDP-Antrag verursacht:Erstens. Ihr Antrag zielt auf die Rücknahme einer fi-nanziellen Belastung in Höhe von 10 Euro pro Quartal;das entspricht 3,33 Euro pro Monat.Für den Einzelnen wäre das eine verhältnismäßig ge-ringe Entlastung. Sie hätte aber im Gesamtsystem einegroße Auswirkung. Dies zu fordern ist nicht überzeu-gend. Dann hätten Sie in Ihrem Antrag zumindest eineGegenfinanzierung aufzeigen müssen.
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Zweitens. Nachdem geklärt ist, dass die Praxisgebührein Teil des ärztlichen Honorars ist, hat sich der Wi-derstand vieler Ärzte verringert. Als es vorher hieß, siemüssten 10 Euro für die Krankenkassen einziehen, wa-ren die Ärzte verständlicherweise nicht begeistert.Drittens. Der Antrag zielt letztendlich auf die Einfüh-rung des Prinzips der Kostenerstattung.
– Da sind wir uns einig. – Die Kostenerstattung fordertvom Arzt aber ebenfalls diesen bürokratischen Auf-wand, und zwar etwas mehr als bei der Praxisgebühr.Nehmen wir nur einmal den Fall einer ärztlichen Bera-tung, für die ein Betrag von unter 10 Euro anfällt! Auchdieser Betrag muss vom Versicherten bezahlt werden.Dann muss sich der Versicherte das von der Kranken-kasse erstatten lassen
oder er lässt es sich erst geben und zahlt dann den Be-trag. Beim Arzt zu bezahlen bleibt dem Patienten nichterspart. Wer Ja zur Kostenerstattung sagt, kann logi-scherweise nicht Nein zur Praxisgebühr sagen, weil daseigentlich vergleichbare Schritte sind.
Viertens. Sie haben die Forderung erhoben – da warich eigentlich etwas enttäuscht, Herr Dr. Kolb –, Sozial-hilfeempfänger von den Zuzahlungen zu befreien.
Das steht in diametralem Gegensatz zu der Aussage, diewir hier im Bundestag gemeinsam getroffen haben, näm-lich dass Sozialhilfeempfänger in der gesetzlichen Kran-kenversicherung nicht besser gestellt werden dürfen alsLeute, die ein niedriges Einkommen haben. Wir habengemeinsam gewollt, dass Sozialhilfeempfänger genausobehandelt werden.
Fünftens. Zu der geforderten Wiedereinführung derHärtefallregelung ist zu sagen, dass diese Regelungauch nicht frei von Widersprüchen war. Sie war ur-sprünglich als Ausnahmeregelung konzipiert. Im letztenJahr stellte man fest, dass 51 Prozent der deutschen Be-völkerung unter diese Ausnahmeregelung fallen. Wir ha-ben gesagt: Es kann nicht sein, dass 51 Prozent der Deut-schen ein so niedriges Einkommen haben, dass sie vonden Zuzahlungen befreit sind. Es kann nicht angehen,dass jemand durch eine formale Härtefallregelung vonden Zuzahlungen befreit wird; vielmehr muss er nachseiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einen Kosten-beitrag leisten. – Das ist meines Erachtens eine bessereLösung als die, die wir vorher hatten.
Lassen Sie mich wie folgt zusammenfassen:Erstens. Wir brauchen jetzt keine neue Gesundheits-debatte, sondern wir brauchen endlich mehr Planungssi-cherheit und Ruhe für alle an unserem Gesundheitssys-tem Beteiligten.
Die Reform braucht eine faire Chance, ihre Wirkung zuzeigen.Zweitens. Rot-Grün muss alles daransetzen, die Irrita-tionen der Bevölkerung durch mangelhaften Gesetzes-vollzug zu vermeiden. Das gilt für die Liste der nichtverschreibungspflichtigen Medikamente, die noch kom-men soll,
und für die Regelung bezüglich der Zusatzversicherungim Bereich des Zahnersatzes. Für beides drängt bereitsheute die Zeit.Drittens. Wir brauchen hier keine populistischen An-träge, die durch ihre Widersprüche zu mehr Verunsiche-rung führen, aber nicht zur Lösung der Probleme beitra-gen. Die Reform des Gesundheitswesens brauchtUnterstützung. Ich sage: Das Gesetz ist wesentlich bes-ser als sein Ruf.
Nun hat die Kollegin Petra Selg, Bündnis 90/Die Grü-
nen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Dieser Antrag der FDP erhebt drei Forderungen:
Wiedereinführung der alten Härtefallregelung bei Zu-zahlungen, Abschaffung der Praxisgebühr und Einfüh-rung des Kostenerstattungsprinzips.
Zunächst zur Härtefallregelung. Lieber Herr Kolb,wie Sie vielleicht wissen, war die Härtefallregelung imursprünglichen rot-grünen Gesetzentwurf nicht vorgese-hen. In den parteiübergreifenden Konsensverhandlungenwar eine Forderung der Union, die bisherige Härtefallre-gelung aufzugeben, und Rot-Grün hat zugestimmt.Ich frage Sie jetzt aber: Wenn Ihnen dieser Punkt sowichtig war, warum sind Sie dann damals aus den Ver-handlungen ausgestiegen? Die beiden, die damals mit-verhandelt haben, sind heute Abend ja nicht einmal da.Ist denen Ihr Antrag peinlich?
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Petra Selg– Auch das kann sein. – Sie haben jedenfalls in den Ver-handlungen nicht für eine Härtefallregelung gekämpft –keinen Pieps habe ich da vernommen; jetzt aber machenSie hier so ein Gedöns –, sondern sich aus der Verant-wortung gestohlen. Heute aber zeigen Sie mit erhobe-nem Zeigefinger auf diejenigen, die sich jetzt dieser Ver-antwortung stellen.
Das ist nicht nur ärmlich, lieber Herr Kolb, das ist er-bärmlich.
Ich weiß ja, dass verantwortungsvolles Handeln nichtunbedingt in das Konzept einer Spaßpartei – oder wassind Sie jetzt? – passt. Aber dass Sie es so weit treiben,mein lieber Herr Kolb,
hätte ich nun doch nicht gedacht. Ich hatte gedacht, dieFDP wäre doch zu einer etwas ernsthafteren Politik nochfähig.Im Übrigen sind wir auf dem besten Weg, hinsichtlichder Zuzahlungen von Sozialhilfeempfängern umfang-reiche Vereinbarungen herbeizuführen. Das zuständigeMinisterium, die Krankenkassen und die kommunalenSpitzenverbände haben mittlerweile Lösungen für diebestehenden Probleme erarbeitet. Ein entsprechendesRundschreiben wird es demnächst geben. Wie sich dasGanze entwickelt, werden wir abwarten müssen. Jetztaber, nachdem dieses Gesetz gerade zweieinhalb Monatein Kraft ist, wieder irgendwelche Änderungen vorzuneh-men, würde nur weitere Ausnahmeregelungen nötig ma-chen. Ich frage Sie da ehrlich: Welchen Gedanken ver-folgen Sie dabei und wie soll dieses Konzept ernsthaftfunktionieren?
– Vermutlich.Die zweite Forderung der FDP lautet: Abschaffungder Praxisgebühr. In der Einführungsphase zu Beginngab es zugegebenermaßen an der einen oder anderenStelle Probleme.
Das lag aber zu einem guten Teil daran, dass die Selbst-verwaltung die notwendigen Regelungen noch nicht im-plementiert hatte.
Mittlerweile ist das geschehen. Der Umgang mit der Pra-xisgebühr funktioniert in der Zwischenzeit.
Außerdem wissen Sie genauso gut wie wir, dass es durchdie Einführung dieser Praxisgebühr zu einem enormenEntlastungseffekt für die solidarische Krankenversiche-rung in Höhe von mehreren Milliarden Euro kommt,nämlich ganz genau 4,3 Milliarden Euro.
Wie Sie nun im Falle der Abschaffung der Praxisgebührdieses dann entstehende Finanzierungsloch stopfen wol-len, das sagen Sie in Ihrem Antrag, wahrscheinlich ausgutem Grund, nicht. Oder wollen Sie das Loch gar nichtschließen und stattdessen höhere Beitragssätze?
Auch dazu steht in Ihrem Antrag kein Wort. Ich kannhierzu wiederum nur sagen: viel Populismus, wenigSubstanz.Nun zur Kostenerstattung. Diejenigen, die nach wievor am lautesten über die Praxisgebühr klagen, sind ko-mischerweise nicht die Patienten, die die Gebühr bezah-len müssen, sondern die Ärzte. Bei manchen hört es sichan, als ob sie die Sozialhilfeempfänger von morgen wä-ren.
– Ich weiß es nicht, ich bekomme sie nicht.Ganz klar wird das bei Ihrer Forderung nach der Ein-führung der Kostenerstattung. Wir haben den Patientenmit der Gesundheitsreform die Möglichkeit gegeben, auffreiwilliger Basis Kostenerstattung zu wählen. Denn dieKostenerstattung hat auch Nachteile. Deshalb waren undsind wir der Meinung, dass es alleine dem Patientenüberlassen bleiben muss, ob er die Kostenerstattungwählt. Kostenerstattung bedeutet nämlich, dass die Pa-tienten beim Arzt erst einmal alles aus eigener Taschebezahlen müssen.
– Natürlich. – Danach müssen sie dann die Rechnung beiihrer Kasse einreichen, um sich die Kosten erstatten zulassen. Auch das ist bürokratischer Aufwand, nur habenden dann die Patienten und nicht mehr die Arztpraxen.Wenn die Patienten freiwillig die Kostenerstattungwählen, ist das meiner Ansicht nach völlig in Ordnung.Dazu kommt, dass die Kostenerstattung nach allen bis-herigen Erfahrungen die Patienten viel teurer kommt alseine wie auch immer geartete Praxisgebühr. Das liegt da-ran, dass die Patienten bei der Kostenerstattung erhebli-che Eigenanteile zuschießen müssten. Ich kann Ihnen einBeispiel nennen: Erst vor einigen Wochen wurde be-kannt, dass in zahlreichen Fällen Kieferorthopäden ihrePatienten mehr oder weniger gemobbt haben, sich beider Abrechnung für die Kostenerstattung zu entscheiden.Faktisch nutzt eine ganze Reihe von schwarzen Schafen
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Petra Selgin der Ärzteschaft die neue Wahlmöglichkeit der Patien-ten, um Druck auf die Patienten auszuüben.
Warum ist das so? Das wissen Sie: Die Ärzte könnennämlich höhere Gebührensätze verlangen. Das Problemdabei ist – ich rate Ihnen, das einmal im „DeutschenÄrzteblatt“ nachzulesen –, dass es auch bei den Ärzteneinige schwarze Schafe gibt.
Um das noch einmal ganz klar zu betonen: Wenn sichein entsprechend informierter Patient freiwillig dafürentscheidet, mehr zu bezahlen, dann finde ich das inOrdnung. Von einer Verpflichtung der Patienten, höhereKosten zu übernehmen, halte ich gar nichts.Diese Beispiele zeigen deutlich, was die Kostenerstat-tung für die Patienten in der Praxis bedeuten würde:mehr Aufwand, mehr Kosten. Die Gewinner wären al-lein die Ärzte. Herr Kolb, das ist mir von Ihrer Partei be-kannt: Lobbyismus pur. Sie ziehen Gartenzäune um dieLobbygruppen und kämpfen für sie. Die Patienten hättennur Nachteile mit den Forderungen Ihres Antrags gegen-über all diesen Dingen, die wir hier beschlossen haben.Ich sage Ihnen bei aller Freundschaft:
Das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist schlicht undergreifend nicht umsetzbar. Ich rate Ihnen wirklich, inZukunft nicht mehr solche Anträge einzubringen. Siesorgen nämlich mit solchen Dingen für Unmut in der Be-völkerung und tragen eigentlich nichts zur Aufklärung inder Bevölkerung bei.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.Ich bin von Folgendem überzeugt: Wenn diese Regie-rung bis 2006 überleben will, dann muss sie die Praxis-gebühr zurückziehen. Ich gehe auch mit Frau MinisterinSchmidt jede Wette ein, dass entweder die Praxisgebührzum Jahresende fällt oder sie als Ministerin bei dernächsten Kabinettsumbildung zu Fall kommt.
Die Praxisgebühr ist für die Menschen der spürbare,immer wieder sichtbare Beleg für die unsoziale Politikdieser Bundesregierung. Mindestens einmal im Quartaldenken die Bürgerinnen und Bürger an diese Regierung:Immer wenn sie den 10-Euro-Schein aus der Tasche zie-hen, werden sie daran erinnert, dass ihnen nur geholfenwird, wenn sie vorher bezahlt haben, dass Hilfe immerdie Zahlung von Geld voraussetzt. Dieser kausaleZusammenhang – erst Geld, dann Hilfe – trägt zur Auf-lösung unserer noch solidarischen Gesellschaft bei.Meine Damen und Herren von Rot-Grün, bis zur Bun-destagswahl sind es noch elf Quartale. Die Bürgerinnenund Bürger haben also noch elfmal die Gelegenheit,beim Bezahlen ihrer Praxisgebühr an die rot-grüne Re-gierung zu denken.
Herr Müntefering könnte die besten Agenturen desLandes beauftragen, um das soziale Image der SPD auf-zubessern, aber die Praxisgebühr wird immer mit derSPD verbunden bleiben und Ihnen noch viele Wahlnie-derlagen bescheren. In Hamburg hat Ihnen das die„Bild“-Zeitung bei der Auswertung der Wahl gleich insStammbuch geschrieben.Die PDS fordert die Rücknahme der Praxisgebühr.Wir haben bei vielen Veranstaltungen und auf der StraßeUnterschriften gegen die Praxisgebühr gesammelt. FrauMinisterin Schmidt hat schon viele Postkarten gegendiese Gebühr erhalten. Ich biete auch den Kollegen hierim Saal an, sich ganz unkompliziert diesem Protest an-zuschließen. Entsprechende Karten sind bei mir erhält-lich. Sie müssen sie nur ausfüllen.
– Ja, das Kleingedruckte sollten Sie von der FDP lesen.Das ist völlig klar.Um gar keine Missverständnisse aufkommen zu las-sen und um die Zwischenrufer zu beruhigen, sei gesagt:Die Forderung: „Weg mit der Praxisgebühr!“ teilen wirmit der FDP. Unser gesundheitspolitischer Ansatz unter-scheidet sich natürlich, wie Sie sich vorstellen können,grundlegend.
Das Festhalten an der Praxisgebühr ist eine falscheStrategie. Der Kollege Zöller hat darauf verwiesen, dasssich nun alle streiten, wer die Praxisgebühr erfunden hat.Die SPD – das wissen wir alle – wollte nur eine Praxis-gebühr beim Hausarzt.
Sie haben sich aber bei den Verhandlungen die Praxisge-bühr bei jedem Arzt von der CDU in Ihre Gesundheitsre-form hineinschreiben lassen.
Das ist ein Kuckucksei; das müssen Sie nun selbst aus-brüten.
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Dr. Gesine LötzschVielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Klaus Kirschner, SPD-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Dr. Kolb, in der Überschrift des Antrags
der FDP heißt es lapidar: „Abschaffung der Praxisge-
bühren“. Sie sollten aber deutlich hinzufügen, was wei-
ter unten im Text steht: Erhöhung der Zuzahlungen
durch Einführung der Kostenerstattung. Ihr Antrag ist
deshalb eine Mogelpackung und nichts anderes.
Sie setzen auf das Kurzzeitgedächtnis der Bürgerin-
nen und Bürger; denn wo Sie an Koalitionsregierungen
beteiligt sind – ob in Baden-Württemberg, Rheinland-
Pfalz, Sachsen-Anhalt und bis zum vergangenen
Sonntag in Hamburg – haben Sie diesem Gesetz zuge-
stimmt. Auch das sollten Sie hier einmal deutlich ma-
chen.
Ich will ganz klar sagen: Das GKV-Modernisie-
rungsgesetz ist kein sozialdemokratisches Gesetz.
Zuerst war eine Verständigung mit dem Koalitionspart-
ner, den Grünen, notwendig und dann mit der CDU/
CSU, die – wie Sie wissen – auf alle medizinischen Leis-
tungen eine 10-prozentige Gebühr erheben wollte.
Um die Gesundheitsreform über die parlamentari-
schen Hürden zu bringen und sie nicht den unkalkulier-
baren Mühlen des Vermittlungsausschusses zu überlas-
sen – das ist dort wie auf hoher See und vor Gericht; in
diesen Fällen befindet man sich in Gottes Hand –, wurde
von allen Beteiligten – das ist klar – Kompromissbereit-
schaft abverlangt. Herr Dr. Kolb, Ihre Kollegen von der
FDP waren dazu nicht bereit und haben den Verhand-
lungstisch verlassen.
Sie wollten im Grunde genommen mehr Privatisie-
rung und damit noch höhere Zuzahlungen. Es ist deshalb
unredlich, wenn Sie sich jetzt als Anwälte der Patienten
aufspielen.
In der Begründung Ihres Antrags heißt es – das muss
man sich einmal vor Augen halten –:
Um Akzeptanz in der Bevölkerung für die notwen-
dige Eigenbeteiligung zu schaffen, bedarf es des-
halb einer sozial ausgewogenen transparenten, ein-
fachen und unbürokratischen Lösung im Rahmen
der Kostenerstattung.
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen las-
sen. Wie soll das denn unbürokratisch erfolgen? Die
Verwaltungskosten in der privaten Krankenversiche-
rung, bei denen das Kostenerstattungsprinzip gilt, sind
mehr als doppelt so hoch wie die in der gesetzlichen
Krankenversicherung.
Herr Kollege Dr. Kolb, freiwillig Versicherte in der
GKV, die bereits bisher die Möglichkeit hatten, Kosten-
erstattung zu wählen, zahlen mehr. Ich will dies an ei-
nem Beispiel verdeutlichen. Ein Patient bekommt von
seiner gesetzlichen Krankenversicherung gemäß Ab-
rechnung EBM für eine Behandlung beim Arzt 70 Euro
erstattet. Der Arzt kann aber vom Patienten nach der Ge-
bührenordnung für Ärzte 100 Euro verlangen. Die Diffe-
renz von 30 Euro trägt der Patient. Das ist das Prinzip
der Kostenerstattung. Zusätzlich zieht die Kasse noch
7 bis 8 Prozent für Verwaltungskosten und fehlende
Wirtschaftlichkeitsprüfungen ab. Das sind noch einmal
5 Euro für den Versicherten. Das macht zusammen
35 Euro. Das ist mehr als das Dreifache der Praxisge-
bühr, die Sie jetzt abschaffen wollen. Da wollen Sie noch
behaupten, das sei einfacher und unbürokratischer?
– Herr Präsident, ein Kollege will eine Zwischenfrage
stellen. Bitte schön.
Offenkundig gibt es ein informelles Einvernehmen
zwischen dem Redner und dem präsumtiven Fragestel-
ler. Dem will ich nicht im Wege stehen. Bitte schön.
Herr Kollege, da Sie uns hier die bürokratischen Las-
ten der Kostenerstattung erläutern, möchte ich Sie fra-
gen: Können Sie uns auch erläutern, wie hoch die Ver-
waltungskosten für das Sachleistungsprinzip in der
gesetzlichen Krankenversicherung sind?
Verehrter Herr Kollege, ich habe gerade versucht, eszu erläutern. Die gesetzlichen Krankenkassen haben imSchnitt Verwaltungskosten in Höhe von ungefähr5 Prozent. In der privaten Krankenversicherung liegensie bei ungefähr 11 Prozent.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8449
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Klaus KirschnerIst das klar? – Der PKV-Zahlenbericht weist das nach.Das ist eine unverdächtige Quelle. Ich bin gerne bereit,Ihnen die entsprechenden Unterlagen zur Verfügung zustellen.Damit das klar ist: Für die SPD ging und geht es da-rum, die Praxisgebühr als Steuerungsinstrument einzu-setzen. Die jetzige Regelung kann von den Patienten da-durch beeinflusst werden – auch dies muss deutlichgesagt werden –, dass sie sich gegenüber ihrer Kasseverpflichten, zuerst den Hausarzt aufzusuchen – jedeKrankenkasse muss ihren Versicherten ein Hausarztpro-gramm anbieten –, oder dass sie sich in ein strukturiertesBehandlungsprogramm einschreiben. Ich nenne dieStichworte Diabetes, Brustkrebs, Herz-Kreislauf- oderAsthma- und Lungenerkrankungen. Diese Programmesind bereits vorhanden oder im Werden.Es liegt im Ermessen der Kassen – auch das habenwir in diesem Gesetz der Selbstverwaltung zugebilligt –,die Zuzahlungen und Praxisgebühren zu reduzieren oderganz zu streichen. Durch diese so genannten Disease-Management-Programme und die hausarztzentrierte Ver-sorgung werden die Kosten gesenkt und wird gleichzei-tig die Qualität der Behandlung verbessert. Das, HerrKollege Dr. Kolb und verehrte Kolleginnen und Kolle-gen von der FDP, ist der Unterschied zu Ihrer Forderungnach Kostenerstattung. Dass Qualitätsverbesserungendringend notwendig sind, hat der Präsident der Deut-schen Krebsgesellschaft, Professor Höffken, wie Sie alledieser Tage in Interviews lesen konnten, verdeutlicht. Im„Spiegel“ vom 22. Februar 2004 sagte er auf die Fragenach der Versorgungsqualität bei deutschen Krebspatien-ten:Im europäischen Vergleich ist Deutschland bei sehrvielen bösartigen Erkrankungen nur nochMittelmaß – und wir drohen noch weiter abzustür-zen.Ich sage dies deshalb, weil ich denke, dort gilt es an-zusetzen und nicht bei der Kostenerstattung. Denn dievon Ihnen geforderte Kostenerstattung ändert an demzentralen Problem unserer Gesundheitsversorgungnichts.
Die Qualität wird durch Kostenerstattung um keinenDeut besser; aber die Patienten zahlen mehr zu.Sie bekommen für Ihren Antrag nur so lange Beifall,bis die Patienten die Rechnung in der Hand halten unddann in Euro und Cent spüren, was für ein Kuckuckseiihnen die FDP ins Nest zu legen versucht. Ihr Vorsitzen-der, Kollege Westerwelle, will hier offensichtlich Ver-sprechungen an die Leistungserbringer einlösen. Ich willdaran erinnern, dass er dem Ärzteverband Hartmann-bund im Oktober 2001 gesagt hat – das ist im „Spiegel“vom 22. Juli 2002 nachzulesen –: „Ich will Ihnen zeigen,dass wir auf Sie hören.“
Das ist offensichtlich die Handlungsmaxime. Möglicher-weise haben Sie auch auf den Bundesärztekammerpräsi-denten Professor Hoppe gehört, der die Praxisgebühr ab-lehnt, weil sie angeblich das Arzt-Patienten-Verhältnisbelaste.
– Sagen Sie nicht so schnell Ja! – Die Igel-Leistungen,die individuellen Gesundheitsleistungen, belasten offen-sichtlich das Arzt-Patienten-Verhältnis nicht, bei denendie Patienten dann noch mehr bezahlen. Bevor Sie Ja sa-gen, wäre ich ein bisschen zurückhaltend, Herr KollegeDr. Kolb. Derselbe Professor Hoppe hat am 4. Juli2003 – das ist noch gar nicht so lange her – der „BerlinerZeitung“ erklärt: „Ich plädiere für eine generelle Gebührbei Arztbesuchen.“Was hier gemacht wird, ist Standespolitik nach derMethode: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nichtnass! Ich rate Ihnen: Sie sollten nicht darauf hereinfal-len. Meine Damen und Herren von der FDP, Hörigkeitgegenüber den Leistungserbringern im Gesundheitswe-sen zahlt sich auch für Sie nicht aus.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/2351 an den Ausschuss für Gesundheitund Soziale Sicherung vorgeschlagen. Ich nehme an,dass Sie damit einverstanden sind. – Das ist der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die Errichtung des Bundesamtes für Be-völkerungsschutz und Katastrophenhilfe– Drucksache 15/2286 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 15/2608 –Berichterstattung:Abgeordnete Gerold ReichenbachBeatrix PhilippSilke Stokar von NeufornGisela PiltzNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auchfür diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. –Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Parlamentarischen Staatssekretär FritzRudolf Körper.
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8450 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004
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Fr
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir kön-
nen heute das Gesetz über die Errichtung des Bundes-
amtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
verabschieden. Mit dieser Neustrukturierung des Zivil-
schutzauftrages des Bundes ziehen wir nicht nur eine or-
ganisatorische Konsequenz aus der mit den Ländern auf
der Innenministerkonferenz im Juni 2002 verabredeten
„Neuen Strategie zum Schutz der Bevölkerung in
Deutschland“. Wir setzen zugleich auch politisch, so
meinen wir, ein deutliches Zeichen für die neue Wertig-
keit des Zivil- und Katastrophenschutzes. Der zivile Be-
völkerungsschutz wird mit der neuen Behörde nun auch
organisatorisch als wesentliches Element im nationalen
Sicherheitssystem herausgestellt und gewürdigt.
Wir haben bewusst und ausdrücklich die Form eines
Errichtungsgesetzes gewählt, um die politische Bedeu-
tung des neuen Amtes und der von ihm wahrgenomme-
nen Aufgaben herauszustreichen. Die Länder haben auf
der Innenministerkonferenz im Dezember 2002 die Ab-
sicht des Bundes – das soll hier festgehalten werden –,
ein solches Amt einzurichten ausdrücklich begrüßt.
Das neue Amt versteht sich als Dienstleistungszen-
trum des Bundes für die Behörden aller Verwaltungsebe-
nen sowie für die im Bevölkerungsschutz mitwirkenden
Organisationen und Institutionen. Leitprinzipien des
neuen Bundesamtes sind insbesondere: Unterstützung
bei der Vorsorgeplanung, besseres Informations- und
Koordinationsmanagement, insbesondere eine effiziente
Bund-Länder-Zusammenarbeit bei so genannten groß-
flächigen Gefahrenlagen, optimale Warnung der Be-
völkerung, Stärkung der Selbsthilfefähigkeit der Be-
völkerung, intensiver Wissenstransfer, Ausbildung,
Fortbildung, Krisenmanagementtraining sowie die um-
fassende Abbildung und Bewertung der Lage im Einzel-
fall.
Das neue Bundesamt ist keine bloße Wiederauflage
des früheren Bundesamtes für Zivilschutz. Anders als je-
nes ist es nicht auf den so genannten V-Fall fokussiert.
Es wird vielmehr alle Bereiche der zivilen Sicherheits-
vorsorge fachübergreifend berücksichtigen und zu ei-
nem wirksamen Schutzsystem für die Bevölkerung und
ihre Lebensgrundlagen verknüpfen.
Es ist damit nicht nur Fachbehörde des Bundesinnen-
ministeriums, sondern berät und unterstützt kompetent
auch die anderen Bundes- und Landesbehörden bei der
Erfüllung ihrer Aufgaben. Die Bezeichnung „Bevölke-
rungsschutz“ soll diesen übergreifenden Ansatz verdeut-
lichen. Der weitere Namensbestandteil „Katastrophen-
hilfe“ verweist ebenfalls auf eine neue Akzentsetzung,
nämlich auf das Angebot des Bundes zur Unterstützung
des Krisenmanagements der Länder bei großflächigen
Gefahrenlagen. Der Bund wird hierfür verstärkt Infor-
mations- und Koordinationsfunktionen vorhalten. Da-
rum hat die Innenministerkonferenz insbesondere im
Lichte des Sommerhochwassers 2002 gebeten.
In diesem Zusammenhang möchte ich eines unmiss-
verständlich klarstellen und damit auch einer gelegent-
lich geäußerten Befürchtung eindeutig entgegentreten:
Mit der Errichtung des neuen Bundesamtes maßt sich
der Bund keine neuen Zuständigkeiten an. Umverteilun-
gen von Zuständigkeiten im Zivil- und Katastrophen-
schutz zwischen Bund und Ländern sind mit dem neuen
Bundesamt weder vorgesehen noch verbunden. Das neue
Bundesamt soll und will den Ländern Koordinations-
und Informationshilfe leisten. Die operativen Kompe-
tenzen und Verantwortlichkeiten der Länder bleiben da-
von unberührt.
Das neue Bundesamt ist zugleich aber auch Ausdruck
der neuen gemeinsamen Verantwortung des Bundes und
der Länder für großflächige Gefahrenlagen, wie sie der
Philosophie der neuen Strategie entspricht. Gemeinsame
Verantwortung besteht also im Sinne eines partnerschaft-
lichen Zusammenwirkens über föderale Grenzen hin-
weg.
Wesentliche Einrichtungen des neuen Bundesamtes
sind Ausfluss dieser neuen Kooperation. Ich nenne nur
– die Gemeinsamkeit kommt schon im Namen zum Aus-
druck – das Gemeinsame Lage- und Meldezentrum des
Bundes und der Länder. Das GLMZ soll vor allem – dies
ist eine der wichtigsten Erfahrungen, die wir bei dem
Management der Hochwasserkatastrophe im Sommer
2002 gemacht haben – das Ressourcenmanagement, ins-
besondere das Management von Engpassressourcen, von
Bund und Ländern bei großflächigen Gefahrenlagen un-
terstützen.
Das ist nur ein Beispiel für den Weg, den wir gewählt
und beschritten haben. Wir streiten nicht um Kompeten-
zen oder um die Frage, wie eine Auslegung der Verfas-
sung anzugehen ist, sondern arbeiten pragmatisch ge-
meinsam im Sinne eines effektiven und effizienten
Helfens. Ich bitte um Ihre Unterstützung.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Beatrix Philipp, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Herr Staatssekretär, dass ich mit Ihnen – wenn auch
nur in Teilen; darauf komme ich gleich noch zu spre-
chen – einer Meinung sein würde, hätte ich mir vor eini-
ger Zeit noch nicht träumen lassen.
Wir werden gleich merken, wer lernfähig ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Esreicht nicht – das wissen wir alle –, das Türschild zu än-dern; es muss auch jemand Neues einziehen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8451
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Beatrix PhilippMan muss schon genau hinsehen. Ich habe bei IhrerRede genau hingehört. Ich komme darauf gleich im Ein-zelnen zu sprechen. Damit Sie sich beruhigen: Wir stim-men dem Gesetzentwurf zu, betrachten ihn allerdingsnur als einen ersten Schritt.Herr Staatssekretär, es ist ein Skandal – ich habe dasgestern im Ausschuss deutlich gesagt – und hilft derGlaubwürdigkeit dieser Bundesregierung überhauptnicht, wenn Sie schon bei den ersten Schritten, nämlichbei der Auswahl des Vizepräsidenten, die Fachkompe-tenz nicht an die oberste Stelle der Prioritätenliste set-zen. Die vorgesehene Besetzung der Stelle des Vizeprä-sidenten des neuen Bundesamtes halten wir vor allemaus fachlichen Gründen für falsch. Unserer Auffassungnach widerspricht es dem Sinn und dem Zweck des Ge-setzes, wenn schon in der Anfangsphase bei der Beset-zung der Spitze des Amtes nicht nach eindeutig fachli-chen Kriterien verfahren wird.Noch weniger ist zu akzeptieren, dass die Koalitionfür diesen Vizepräsidenten – und nur für ihn – auch nocheine gesetzliche Ausnahme bezüglich der Besoldungmachen will.
Es heißt in dem Änderungsantrag:Das Amt steht nur für den ersten Amtsinhaber zurVerfügung.Unter „Hinweis“ heißt es weiter:Die Regelung stellt sicher, dass das Amt nach demAusscheiden des ersten Amtsinhabers nicht mehrverliehen werden kann.Das ist eigentlich nicht in Ordnung
und dient nicht der vom Staatssekretär geäußerten Ziel-setzung dieses Verfahrens.
Insofern beziehen sich meine zustimmenden Äußerun-gen ausschließlich auf die inhaltlichen Anliegen des Ge-setzes. Den Änderungsantrag haben wir schon gesternim Ausschuss abgelehnt.Herr Staatssekretär, wie gesagt, ist es leider sehr sel-ten, dass wir als Opposition einem Gesetzentwurf derBundesregierung zustimmen. Es ist auch sehr selten,dass der Bundesrat keine Einwendungen erheben muss.Für den vorliegenden Gesetzentwurf trifft beides zu. Erwird – wenn auch nur in Teilen – einer alten Forderungder Union Rechnung tragen.Ich habe schon öfter gesagt: Zivil- und Katastro-phenschutz eignen sich nicht für parteipolitische Ausei-nandersetzungen.
Leider wurde durch die Geschehnisse der letzten Jahreauf schmerzhafte Weise ins Bewusstsein der Bevölke-rung gehoben, dass mehr getan werden muss. Dabeispielt überhaupt keine Rolle, ob es sich um Naturkata-strophen oder um unmittelbar von Terroristen herbeige-führte Katastrophen wie etwa in New York handelt.Unsere eben erwähnte Zustimmung beruht allerdingsauch darauf, dass es, wie auch Sie ausgeführt haben, einegemeinsame Rahmenkonzeption gibt, die die Innenmi-nisterkonferenz im Juni 2002 beschlossen hat. Die vor-gesehene Bündelung von Fachkompetenz unter einemDach ist die richtige Konsequenz in Bezug auf die aktu-elle Lage und nach den Erkenntnissen der Vergangen-heit.Nun wurde die Regierungskoalition in Sachen Behör-denumbildung, -verlegung und -umstrukturierung inletzter Zeit nicht nur gelobt, sondern auch heftig kriti-siert, und zwar zu Recht. Ich denke nur an das Bundes-kriminalamt. Aber dieser Fall liegt anders. Insofern un-terscheidet sich unsere Auffassung von derjenigen derFDP.Erstens. Der Kern des neuen Amtes, die Zentral-stelle, ist bereits an Ort und Stelle.Zweitens. Es kommt eine eigene – jedenfalls ist unsdas so zugesagt worden –, unabhängige, praxisbezogeneund konzentrierte Führung hinzu. Das Personal wird fürweitere konkrete Aufgaben aufgestockt werden; auchdas ist uns zugesagt worden. Überdies soll mit dem Bun-desverwaltungsamt eine Verwaltungseinheit gebildetwerden, sodass Synergieeffekte – so heißt das, glaubeich – genutzt werden und nicht zu viel Manpower fürVerwaltungstätigkeit erforderlich sein wird.Drittens. Die eigenständige Führungsebene wird dieAufgabe haben, das Thema Zivil- und Katastrophen-schutz weiter voran- und auf den neuesten Stand zu brin-gen. Deswegen können wir dieser Vorlage zustimmen.Der Bevölkerungsschutz muss einen eigenen Kopf be-kommen; denn bei der Manöverkritik nach der Flutkata-strophe ist deutlich geworden – ich darf Herrn vonKirchbach zitieren –:Einen Mangel an Hilfskräften hat es nicht gegeben.Es fehlte aber an einer vorausschauenden Planungund dem sachgerechten Einsatz dieser Kräfte auf al-len Ebenen.Erforderlich sei „eine adäquate Führung auf höhererEbene“ und „eine verantwortungsvolle Koordination derZusammenarbeit mit anderen Ländern“.Deswegen glaube ich, damit werden jetzt die Voraus-setzungen geschaffen, um einem solchen Anspruch bzw.vielleicht nachträglich festgestellten Verbesserungsmög-lichkeiten Rechnung zu tragen. Auch empfehle ich dieLektüre des Briefes des Deutschen Feuerwehrverbandes,den wir wohl alle gestern bekommen haben. Es reicht si-cherlich nicht aus, den Mund nur zu spitzen. Wir müssenauch pfeifen. Das meine ich in Bezug auf die Ausstat-tung der Feuerwehr. Hier besteht Handlungsbedarf.
– Wie bitte? Nicht reden, sondern handeln. Das habe ichschon öfter gesagt.
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8452 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004
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Beatrix PhilippViertens. Bei der Zentralstelle Zivilschutz des Bun-desverwaltungsamtes, dem Vorläufer des neuen Amtes,ist als Erstreaktion auf die eben beschriebenen Defiziterichtigerweise das Gemeinsame Melde- und Lagezen-trum geschaffen worden. Das ist ein guter Anfang. Auchdas wurde hier schon mehrfach festgestellt. Aber es mussein gemeinsames Einsatzzentrum des Bundes und derLänder hinzukommen, um schnell auf aktuelle Erforder-nisse und Erkenntnisse reagieren zu können oder um imZweifelsfall auch schon im Vorhinein einzuüben, was insolchen möglicherweise bevorstehenden Katastrophen-fällen passiert. Ein solches Einsatzzentrum muss alleKräfte des Bundes unter sich bündeln: THW, Bundes-grenzschutz, Bundeswehr, die Dienste der Länder unddie Kräfte der zahlreichen nicht staatlichen Hilfsorgani-sationen. Ich denke, auch das ist eine ganz wichtige Vor-aussetzung, um diese Truppe schlagkräftig zu machen.Diese Aufgabenerweiterung haben wir schon mehr-fach gefordert. Wenn man es mit dem Zivil- und Kata-strophenschutz ernst meint, wird es auch eine Ausgaben-erweiterung geben müssen. Nur das Schild, das draußenhängt, zu verändern, reicht nicht aus. Wir geben dieHoffnung nicht auf und bitten die Bundesregierung, diedazu notwendigen Abstimmungen mit den Ländern inAngriff zu nehmen. Nun wissen wir alle, die wir hier sit-zen, dass die Länder sehr darauf achten, dass sich, wasihre Kompetenzen angeht, nicht allzu viel verändert.Aber auch hier geben wir die Hoffnung nicht auf. Es gibtfraktionsübergreifende Bestrebungen, hier zu neuen Re-gelungen zu kommen. Das wäre sicherlich ein Punkt,den man in die gemeinsamen Überlegungen einfließenlassen kann.Auch Innenminister Schily scheint in diese Richtungzu denken. Denn wenn ich ihn richtig verstanden habe,hat er in seiner Rede zur Eröffnung des 7. EuropäischenPolizeikongresses erklärt: Die neue Strategie soll zwarkeine neuen Zuständigkeiten schaffen. Aber die Bürge-rinnen und Bürger erwarten im Notfall kein Kompetenz-gerangel,
sondern wirkungsvolle Hilfe.Meine Damen und Herren, dafür brauchen wir hiereine neue Konstruktion. Ohne eine gemeinsame Einsatz-zentrale, der für Großschadensereignisse klare Kompe-tenzen zugewiesen werden, wird es immer wieder Kom-petenzgerangel und Koordinierungsprobleme geben.Darauf ist auch gestern im Ausschuss mehrfach hinge-wiesen worden.Fünftens. Wir brauchen eine Anpassung der Geset-zeslage. Auch darüber ist hier im Haus schon mehrfachgesprochen worden. Wenn das neue Bundesamt wirklichein Erfolg werden soll, dann brauchen wir zum Schutzder Menschen eine Reform, die ausnahmsweise einewerden könnte, die die Bevölkerung als nachvollziehbarund zielführend erkennt. Eben haben wir über eine Re-form gesprochen, bei der das nicht unbedingt der Fall ist.
Daher lehne ich mich an den Bericht des Innenminis-ters zur Errichtung des neuen Amtes an. Das bedeutet inBezug auf die Namensgebung, dass es auch eine neueAkzentsetzung geben muss. Ich kann nur immer wiederan die Bundesregierung appellieren, das, was dort zu le-sen ist, auch in die Tat umzusetzen. In Bezug auf dieneue Strategie bin ich so optimistisch, weil die Innenmi-nisterkonferenz – wenn ich das gleich hinzufügen darf:unter Punkt 8 – eine Revision der einschlägigen Normenvorgeschlagen hat. Die Grundsätze des Föderalismusmüssen dabei selbstverständlich eingehalten werden.Auf die Dauer wird ein adäquates und rechtzeitigesMitwirken der Bundeswehr erforderlich sein. Daherfordern die Innenminister der Union zu Recht eine Än-derung des Grundgesetzes in den Bereichen der Amtshil-fevoraussetzungen des Bundes sowie der Erfassung vonGefahren aus der Luft und von Gefahren von See her.Darüber ist hier ebenfalls schon gesprochen worden.
Auch hier bin ich guten Mutes, dass wir eine gemein-same Lösung finden werden. Denn ich glaube, dass einegemeinsame Lösung auch eine sachgerechte Lösungwäre. Im Bereich der Gefahrenprävention brauchen wirklare Zuständigkeiten und klare Aufgabenverteilungen.Deswegen können wir uns nicht darum herummogeln.Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass die Bundes-wehr ein integraler Bestandteil der erweiterten Katastro-phenhilfe ist. Insofern ist, wie gesagt, unschwer zuerkennen, dass das neue Bundesamt für Bevölkerungs-schutz dringend in Angriff genommen werden muss. ImSchwerpunktepapier im Einzelplan 06, Herr Staatssekre-tär, wird von der neuen Wertigkeit des zivilen Bevölke-rungsschutzes gesprochen. Es wird Aufgabe der Bundes-regierung sein, diesem Anspruch gerecht zu werden. Siekönnen sich darauf verlassen, dass die Union bei diesemwichtigen Thema immer wieder nachhaken wird, bis alleHausaufgaben gemacht und alle Versprechungen einge-löst worden sind. Wir werden unseren Beitrag zu einemeffektiveren Schutz der Menschen in Deutschland leis-ten.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Silke Stokar, Bünd-nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! WerteFrau Kollegin Philipps!
– Philipps, genau, und Stokar mit langem „o“: Das krie-gen wir alles noch hin!
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8453
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Silke Stokar von NeufornEs wird Sie sicherlich nicht verwundern, dass ich un-serem sehr verehrten Herrn Staatssekretär Körper in al-len Punkten zustimme. Ich habe auch im Innenausschussbereits gesagt, dass ich es sehr begrüße, dass zumindestwir uns in der Frage des Bevölkerungsschutzes und derKatastrophenhilfe parteiübergreifend einig sind. In demZusammenhang, dass wir einen einmütigen Beschlussder Innenministerkonferenz umsetzen und es kein einzi-ges Bundesland gibt, das Kritik vorgebracht hat, ver-stehe ich allerdings nicht, dass sich einzig und allein dieFDP-Bundestagsfraktion sich dem inhaltlich nicht an-schließen kann. Was immer Sie hier an Begründungenanführen mögen –
ich habe manchmal das Gefühl, es geht Ihnen um Oppo-sition um der Opposition willen: Wenn alle dafür sind,muss auch jemand dagegen sein!Ich denke, dass es nicht notwendig ist, hier an die rot-grüne Bundesregierung zu appellieren. Wenn Sie denProzess richtig mitverfolgt haben, ist Ihnen nicht verbor-gen geblieben, dass wir in diesem Bereich wesentlichmehr gemacht haben, als nur Türschilder auszuwechseln.Ich möchte ein paar Punkte benennen, wo wir neueAufgaben übernommen haben und Serviceleistungen fürdie Länder und für die Kommunen anbieten. Das Deut-sche Notfallvorsorge-Informationssystem, das be-rühmte DENIS, ist bereits in Betrieb und wird weiterausgebaut. In diesem Zusammenhang ist es, denke ich,wichtig, einmal zu sagen: Es reicht nicht, wenn die Bun-desregierung und der Bund in diesem Bereich ihre Auf-gaben erfüllen und die Eckpunkte der neuen Strategieumzusetzen. Es ist ganz besonders wichtig – ich weiß,wie schwer sich einige Kommunen und Länder da tun –,dass jetzt die nötigen Informationen von unten bereitge-stellt werden. Für das Informationssystem müssen wirnatürlich wissen, über welche Ressourcen wir in einemgroßen Unglücksfall im Lande verfügen. Dafür brauchenwir vernünftige Informationen aus den Kommunen. DieKommunen tun sich schwer. Ich weiß aus der RegionHannover, wie lange es gedauert hat, ein regionales Zen-trum aufzubauen. Auch wenn die Zielrichtung richtig ist– es wird noch eine Weile dauern, bis wir hier ein ge-meinsames Bund-Länder-Lagezentrum haben.Ich möchte auf zwei Aspekte noch besonders hinwei-sen. Ein neuer Punkt, der oft unterschätzt wird, den ichaber für besonders erwähnenswert und lobenswert halte,ist der Ausbau der Akademie für Krisenmanagement,Notfallplanung und Zivilschutz. In den anderen euro-päischen Ländern gibt es eine erweiterte Katastrophen-forschung bereits. Es ist ganz wichtig, dass wir über dieAkademie den internationalen wissenschaftlichen Aus-tausch verbessern. Wir haben bereits länderübergrei-fende Übungen gemacht; das reicht aber nicht. Solchegemeinsamen Übungen sehen in den Medien immerschön aus; es ist aber wichtig, dass diese Übungen imNachhinein gemeinsam ausgewertet werden. Genausowichtig ist in diesem Bereich, dass eine wissenschaftlichfundierte Risikoanalyse gemacht wird.All dies wird nur funktionieren, wenn wir gemeinsamdaran arbeiten, die bürgerschaftliche Selbsthilfe tat-sächlich auszubauen. Es reicht nicht – ich habe das inmeiner ersten Rede hier auch zum Ausdruck gebracht –,zu sagen: Selbstverständlich danken wir allen Menschenund sprechen ein Lob für alle Menschen aus, die in die-sem Bereich ehrenamtlich tätig sind. Ich denke, wir allemüssen noch mehr Überlegungen und Konzepte einbrin-gen, nicht nur auf Bundesebene, sondern auch auf Län-der- und kommunaler Ebene, damit wir wirklich zu einerStärkung des Ehrenamtes kommen; denn diese wichti-gen Aufgaben können wir in Zukunft nur dann bewälti-gen, wenn wir trotz einer älter werdenden Gesellschaftgenug Menschen finden, die sich in diesen Bereichenweiter ehrenamtlich engagieren.Letzter Punkt. Meine Damen und Herren, zur bürger-schaftlichen Selbsthilfe gehört, die Erste-Hilfe-Ausbil-dung schon in den Kindergärten zu beginnen, wie eslängst in anderen Ländern üblich ist, sie aber auch in denSchulen auszuweiten, damit man von klein auf lernt, zusagen: Es ist richtig, zu helfen, und ich bin kompetentund kann helfen.Danke schön.
Ich erteile das Wort der Kollegin Gisela Piltz, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Der Bundesinnenminister hat offensichtlich ein neuesBetätigungsfeld für seine Beamten gefunden: das Um-zugskistenpacken.
Aus unterschiedlichen Gründen müssen der BND, dasBKA und jetzt auch noch das Bundesamt für Bevölke-rungsschutz umziehen; denn es gibt den Wunsch, dassdas Amt dahin zieht, wo jetzt ein anderes ist. Da, wo esist, kann es – nach bisherigen Aussagen – eigentlichkaum bleiben.Die FDP lehnt diesen Gesetzentwurf nicht etwa des-halb ab, weil wir die Bedeutung des Bevölkerungsschut-zes gering schätzen würden oder die Gefahr von terroris-tischen Anschlägen herunterspielen wollten.
Gerade weil wir dieses Thema besonders ernst nehmenund uns energisch für den effektiven Schutz der Bevöl-kerung in Großgefahrenlagen einsetzen, sind wir gegendas Bundesamt in dieser Form.
Die Hoffnung der CDU/CSU, die Sie, Frau KolleginPhilipp, hier geäußert haben, reicht der FDP nicht aus.
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8454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004
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Gisela PiltzZu unseren Gründen. Die Behörde, um die es hiergeht – ob als eigenes Bundesamt oder eingebettet in dasBundesverwaltungsamt – wird überhaupt nicht operativtätig und hat auch keine diesbezüglichen Kompetenzen.Die Organisation der Hilfskräfte bei der Oderflut wäredeshalb genauso wenig ihre Aufgabe, wie es die Einsatz-leitung bei einem terroristischen Anschlag wäre. DasBundesamt für Bevölkerungsschutz soll ausschließlichdie Zusammenarbeit von Bund und Ländern in besonde-ren Gefahrenlagen vorbereiten. Es fungiert also als rei-ner Planungsstab.Ohne die Wichtigkeit dieser Aufgabe in Abrede zustellen: Bis heute hat uns niemand überzeugend darstel-len können, warum für diese Aufgaben ein neues Amtunbedingt notwendig ist.
Wenn ich das so sagen darf: Ich habe noch kein einzigesMal erlebt, dass mit einem Amt irgendetwas besser ge-worden wäre in Deutschland.
Für diese Aufgaben braucht man intelligente Planerund kompetente Katastrophenschützer, die zweifellosvorhanden sind. Auf welche Weise sie aber in die Ver-waltungsstruktur eingegliedert sind, ist für das Ergebnisnur sekundär. Ein politisches Signal allein reicht aus un-serer Sicht nicht aus, die Erfüllung der Aufgaben in die-sem Bereich zu verbessern. Vieles von dem, was Sie ge-sagt haben, teilen wir; aber dafür brauchen Sie wirklichkein Amt.Ich darf Sie weiter daran erinnern, dass Sie erst 2001das bisherige Bundesamt – zugegeben mit anderer Ziel-richtung – mit der Begründung Synergie- und Rationali-sierungseffekte aufgelöst haben. Mit der gleichen Be-gründung schaffen Sie jetzt ein neues Amt. DiesenZickzackkurs muss mir einmal jemand erklären.Am meisten habe ich mich aber über den Änderungs-antrag der Koalition gewundert. Die zusätzlichen1,7 Millionen Euro wurden ohnehin nur für die Lei-tungsebene in den Haushalt eingestellt. Das hat eine An-frage von uns bereits im Dezember ergeben. Jetzt besit-zen Sie sogar noch die Dreistigkeit – so muss ich es ausmeiner Sicht nennen –, dort einen besonders besoldetenVizeposten einzurichten. Das ist ein Deckmantel fürPersonalschacher und dient nicht dem Schutz der Bevöl-kerung.
Deshalb sind wir auch dagegen.Noch schlimmer ist: Auch die Sacharbeit wird durchdie Umzugsgerüchte behindert. Das sieht man schließ-lich auch am BKA. So teuer wie beim BKA wird derUmzug nicht werden, aber immerhin: Er wird die Mitar-beiter von der Arbeit abhalten.
Besser wäre es, weitere Mittel in die Ausstattung zu ste-cken – das ist hier bereits gesagt worden –, nämlich zumBeispiel in den BOS-Digitalfunk, der beim Zivil- undKatastrophenschutz dringend gebraucht wird.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Weil wir alsFDP der Meinung sind, man sollte die Wirksamkeit desKatastrophenschutzes und nicht dessen Organisationverstärken, stimmen wir diesem Gesetzentwurf nicht zu.Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Gerold Reichenbach, SPD-Fraktion.
Ich habe nur fünf Minuten.Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen undKollegen! In der letzten Woche hat die Münchner Rück-versicherung gemeldet, es würden sich heute weltweitdreimal so viele Naturkatastrophen wie in den 60er-Jahren ereignen. Im Jahre 2003 betrugen die wirtschaft-lichen Schäden übrigens 60 Milliarden Dollar. DieseEntwicklung hat sich auch in unserem Land bemerkbargemacht. Die Flutkatastrophen an der Elbe, der Oder undder Donau sind noch gut in Erinnerung. Ich erinnere da-ran: Das THW war allein in den letzten fünf Jahren drei-mal hintereinander im größten Einsatz seiner Ge-schichte.Schließlich sind auch noch die Terroranschläge vom11. September 2001 zu erwähnen. Sie haben uns die Ver-wundbarkeit westlicher hochkomplexer Gesellschaften,die es übrigens auch schon davor gegeben hat, schlag-artig vor Augen geführt. Dadurch wurde sie aber nocheinmal sehr deutlich. Das hat zu einem Umdenkungspro-zess geführt, den Fachleute – das wurde bereits ange-sprochen – übrigens schon in den 90er-Jahren ange-mahnt hatten. Die Zivilgesellschaft wird nicht mehrdurch die Auseinandersetzung zwischen Blöcken, son-dern sie wird von neuen Gefahren bedroht.Es ist unsere Pflicht als Parlamentarier, die Bundesre-gierung darin zu unterstützen, auf diese neuen Heraus-forderungen zu reagieren und geeignete Antworten zufinden. Frau Philipp, Sie haben es angesprochen: Dierot-grüne Regierung hat reagiert. Nach fünfeinhalbJahren können wir sagen, dass die Bedeutung des Bevöl-kerungsschutzes gegenüber den 90er-Jahren erheblichaufgewertet wurde, und zwar auch schon vor dem11. September 2001.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8455
(C)
(D)
Gerold Reichenbach
Die Haushaltsmittel wurden kontinuierlich erhöht,nachdem sie Anfang der 90er-Jahre drastisch zurückge-fahren worden waren. Die intensiven Gespräche mit denBundesländern – das haben Sie angesprochen –, die nachunserer Verfassung für den Katastrophenschutz zustän-dig sind, führten 2002 schließlich zu der Rahmenkon-zeption „Neue Strategien zum Schutz der Bevölkerungin Deutschland“. Der Bund arbeitet die Verpflichtungenaus dieser Vereinbarung konsequent ab. Das wurde übri-gens im Bericht der Innenministerkonferenz im letztenJahr durch die Innenminister aller Länder eindrucksvollbestätigt. Der nächste Schritt ist das Bundesamt für Bevölke-rungsschutz und Katastrophenhilfe, kurz – weil esauch dafür einer Abkürzung bedarf –: BBK, über dessenErrichtung wir heute abschließend beraten. Das Amt sollInformations-, Management- und Koordinationsaufga-ben bündeln.Frau Piltz, hier widerspreche ich Ihnen ausdrücklich:Es gibt auf der Ebene der UNO ein Beispiel dafür, dassdies funktioniert. Auch das UNDAC hat in bestimmtenBereichen keine eigenen Kompetenzen, es ist aberdurchaus in der Lage – wie zum Beispiel vor kurzem beider Katastrophe in Bam –, eine operative Koordinierungzu leisten, weil es genau das tut, was auch wir hier ma-chen wollen, es übernimmt nämlich Informations-, Ko-ordinations- und Managementaufgaben. Dies tut es auchdadurch, dass sich diejenigen, die daran beteiligt sind,entsprechend einbringen.Damit wird das Bundesamt für Bevölkerungs- undKatastrophenschutz quasi die vierte Säule in unserer na-tionalen Sicherheitsarchitektur. Weil das ein Unterschiedist, muss es noch einmal deutlich gesagt werden: Es istkeine Wiederauflage des alten Bundesamtes für Zivil-schutz; denn dies hatte damals rein auf die Verteidigungim V-Fall, also auf den Zivilschutz bezogene Aufgaben.Das BBK ist vielmehr die Antwort auf Bedrohungsla-gen, die nicht mehr die klassische Unterscheidung zwi-schen Zivilverteidigung und Katastrophenschutz zulas-sen. Es ist die Antwort auf Großschadenslagen undNaturkatastrophen, die sich nicht an Bundesländergren-zen halten, die dem Katastrophenschutz zu Eigen sind.Es ist außerdem die Antwort auf die föderale Strukturunseres Katastrophenschutzes, der wesentlich von den1,8 Millionen ehrenamtlichen Helferinnen und Helferngetragen wird.Die Fehleranalysen – das ist angesprochen worden –im Nachgang zur Elbeflut – das war aber nicht nur dortder Fall – haben deutlich gemacht: Die Hauptdefizite be-trafen die Information über die Schadenslage und dieRessourcen sowie die Koordination der zur Verfügungstehenden Mittel. Ein immer wieder in den Medien ge-zeigtes Bild – auch das ist angesprochen worden – warenauf der einen Seite Fahrzeugparks von Feuerwehr, THWund Rotem Kreuz mit Helfern in Wartestellung. Auf deranderen Seite bestand ein Mangel an Hilfen, Fahrzeugenund Einsatzkräften an anderer Stelle. Die Hauptaufgabedes BBK wird darin bestehen, effizient Informationssys-teme aufzubauen und vorzuhalten, die Kooperation undVerzahnung der Länder und des Bundes sowie derHilfsorganisationen zu optimieren, eine abgestimmteAusbildung und eine einheitliche Führungsstruktur aus-zubauen. Das Mittel, die AKNZ, die Akademie für Kri-senmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz, istschon genannt worden.Last, but not least gilt es, vor dem Hintergrund derneuen Herausforderungen Krisenpläne für die medizini-sche Notfallsorge gemeinsam mit den Ländern aufzu-bauen und entsprechende Strukturen zu schaffen. Glei-ches gilt für den Bereich der Verwundbarkeitlebensnotwendiger Infrastrukturen.
Das BBK benötigt hierzu nicht unbedingt neue zusätzli-che Kompetenzen. Die Erfahrung zeigt, dass im akutenFall Zuständigkeiten und Kompetenzen nicht die ent-scheidende Rolle spielen, wohl aber eine vernünftigeKoordinierung im Vorfeld und die rechtzeitige Bereit-stellung von Informationen, Ressourcen und Koordina-tion.Das Amt hat eine wichtige Vorreiterfunktion für dieLänder. Das BBK konzentriert bereits aufgebaute neueStrukturen, fördert Synergieeffekte und ist Impulsgeberfür den Aufbau moderner Strukturen im Bevölkerungs-schutz. Dazu kann das BBK in hervorragender Weise bei-tragen und Anregungen geben. Ich freue mich daher, dassdas Gesetz zur Errichtung des Bundesamtes die Zustim-mung aller – wenn man von der FDP einmal absieht – we-sentlicher Mitglieder im Hause findet.
Herr Kollege, bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.
Dies ist ein guter Beginn für die neue Bundesbehörde.
Sie signalisiert die notwendige Unterstützung für den
Ausbau der Sicherheitssysteme in unserem Lande.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Er-richtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz undKatastrophenhilfe auf Drucksache 15/2286. Der Innen-ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 15/2608, den Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
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8456 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004
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Vizepräsident Dr. Norbert LammertWer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-ter Beratung gegen die Stimmen der FDP angenommen.
Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich der Stimmeenthalten? – Der Gesetzentwurf ist mit der gleichenMehrheit angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungWaldzustandsbericht 2003– Ergebnisse des forstlichen Umweltmonito-rings –– Drucksache 15/2210 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Tourismusb) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
der Fraktion der CDU/CSUZukunft der Forstwirtschaft– Drucksachen 15/1640, 15/2398 –c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. ChristelHappach-Kasan, Hans-Michael Goldmann,Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPRahmenbedingungen für Waldbesitzer undmittelständische Holzwirtschaft verbessern –Eigentumsrechte stärken– Drucksachen 15/941, 15/2060 –Berichterstattung:Abgeordnete Gabriele Hiller-OhmGeorg SchirmbeckCornelia BehmDr. Christel Happach-KasanNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höreich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Derjüngste Waldzustandsbericht bestätigt unsere Befürch-tungen: Den Wäldern geht es nach einer Phase der Stabi-lisierung wieder schlechter. Die deutsche Eiche ist be-sonders betroffen. Noch im Jahre 2002 konnten wir eineErholung gerade bei der Eiche verzeichnen. Im letztenJahr ging es dann wieder bergab. Insgesamt weisen nurnoch 31 Prozent aller Baumarten keine sichtbaren Schä-den auf. Doch Vorsicht: Wer gesund aussieht, muss nichtzwangsläufig gesund sein. Es kann sogar noch schlim-mer sein. Der Zustand unserer Wälder ist besorgniserre-gend.Woran liegt das Schwächeln der Wälder? Die Ursachefür den Abwärtstrend hängt nicht wie in der Wirtschaftmit mangelndem Wachstum zusammen. Ganz im Gegen-teil: Unsere Bäume wachsen zu schnell. Das liegt an denVerkehrs- und Industrieabgasen und dem Stickstoffüber-schuss aus der Landwirtschaft. Das unnatürlich schnelleWachstum schadet unseren Wäldern, macht die Bäumekrank und schwächt ihre Abwehrkraft und Stabilität.Im letzten Jahr gaben jedoch hohe Temperaturen unddie damit verbundene lang anhaltende Trockenheit denAusschlag. Die Wälder wurden durch die Trockenheitzusätzlich gestresst und anfällig für Schädlingsbefall.Der Borkenkäfer hat im letzten Jahr voll zugeschlagen.Es gab eine Massenvermehrung. In Thüringen konntedie stärkste Borkenkäferplage seit 50 Jahren verzeichnetwerden. Die gesamte Wald- und Forstwirtschaft leidetunter der Schädlingsplage. Die befallenen Bäume müs-sen sehr schnell aus den Wäldern herausgeholt werden.Das führt zu einem Überangebot und drückt die Holz-preise.
Es ist schon interessant: Besonders betroffen sindFichtenreihenbestände. Ich komme aus Schleswig-Hol-stein. Bei uns gibt es standortgerechte Mischwälder undseit langem naturnahe Waldbewirtschaftung und keineBorkenkäferplage.
Auch in diesem Jahr ist mit einer Besserung desWaldzustandes kaum zu rechnen, besonders dann nicht,wenn es wieder heiß und trocken wird.
Ein verregneter Frühling wäre also gut. Die leeren Was-serspeicher der Wälder könnten sich wieder füllen undeine erneute gefährliche Ausbreitung der Borkenkäfermit den niedlichen Namen Kupferstecher und Buchdru-cker könnte in Grenzen gehalten werden.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8457
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Happach-Kasan?
Ich möchte gerne meine Ausführungen am Stück zu
Ende bringen.
Das ist Ihre Entscheidung.
Sie haben nachher Gelegenheit zu antworten, FrauHappach-Kasan.
– Sie brauchen immer etwas länger für Ihre Ausführun-gen. Das ist mir schon klar.
Wenn wir schon das Klima nicht so schnell ändernkönnen, müssen wir zumindest unsere Wälder wider-standsfähiger machen.
Wir müssen das Konzept der naturnahen Waldbewirt-schaftung konsequent umsetzen. Wir müssen unsereWälder umbauen, weg von standortuntypischen Reihen-beständen und hin zu Mischwäldern. Natürlich dürfenwir auch nicht in unseren Anstrengungen nachlassen, derglobalen Klimaerwärmung entgegenzuwirken. Mirkommt das oft wie ein Kampf gegen Windmühlen vor.Wir alle wissen: Kohlendioxid ist die Hauptursache fürden zunehmenden Treibhauseffekt. Die daraus resultie-renden Wetterextreme wie Stürme, Dürre und Unwetterbedrohen das Ökosystem Wald.Auch die Wirtschaft hat inzwischen die verheerendenFolgen zu hoher CO2-Ausstöße erkannt. Die deutscheIndustrie hat sich deshalb freiwillig verpflichtet, dieSchadstoffe zu reduzieren. Das sollte uns freuen. Dochsind die Schadstoffmengen gesunken? Nein, meine Da-men und Herren, genau das Gegenteil ist passiert.Der CO2-Ausstoß ist um 15 Millionen Tonnen ge-stiegen. Daran können wir sehen, was die Selbstver-pflichtungen der Wirtschaft wert sind. Das erinnert michübrigens schmerzlich an die Ausbildungsplatzsituationin Deutschland.
Achtung! Sogar die Industrienation USA ist in Sorge umdas Klima.
Bisher hat sie sich nicht gerade viele Gedanken über denKlimaschutz gemacht. Jetzt fordern immer mehr Stim-men ein radikales Umlenken in der Klimapolitik. Dochdie Industrie bläst den Dreck nach wie vor in die Luft.Wetterextreme nehmen zu und unsere Wälder sterbenweiter.
Was können wir tun? Wenn es schon nicht mit derfreiwilligen Selbstverpflichtung der Industrie klappt– was uns allen das Liebste wäre, liebe Kolleginnen undKollegen von der FDP – dann müssen wir die politi-schen Rahmenbedingungen ändern. Wir machen daszum Beispiel mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz.Mit dem Gesetz schaffen wir Anreize, umweltschonen-dere Energieträger einzusetzen.
Holz spielt dabei eine wichtige Rolle. Holz ist gleichin doppelter Hinsicht ein zukunftsträchtiger Energieroh-stoff. Erstens bindet der Wald CO2. Zweitens ist Holz einnachwachsender Rohstoff. Er kann also fossile Energie-träger wie Kohle ersetzen.
Bei der Wärmegewinnung aus Biomasse ist Holz bereitsHauptträger. Bei Strom aus erneuerbaren Energien wirdAltholz immer wichtiger.Wie sehen die Anreize in der EEG-Novelle aus? DerKabinettsbeschluss zur EEG-Novelle vom 17. Dezember2003 sieht unter anderem eine verstärkte Förderung derBiomasse einschließlich Holz vor. Das ist sehr sinnvoll,da der energetische Nutzungsgrad gerade bei naturbelas-senem Holz zum Teil über 90 Prozent beträgt. Eine wei-tere Verbesserung der Förderung für den Einsatz vonWaldholz muss geprüft werden.Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein wichtigespolitisches Steuerungselement. Ein weiteres ist dasTreibhausgas-Emissionshandelsgesetz. Dieses Themawurde bereits heute im Bundestag debattiert. Es ging da-bei um die nationale Umsetzung des Emissionshandels.Der Wald spielt in dem Gesamtkomplex eine wichtigeRolle. Denn der Wald ist eine natürliche CO2-Senke.Ein erster Schritt zur Einbeziehung des Waldes in denEmissionshandel ist im Dezember 2003 erfolgt. DasKioto-Protokoll ermöglicht den Industrieländern, in derersten Phase von 2008 bis 2012 ihre Treibhausgasemis-sionen mit Senkungsmaßnahmen oder durch Aufforstun-gen in Drittweltländern zu reduzieren. Das ist ein Bei-trag zum Klimaschutz. Es kann aber auch ein Beitragzum Schutz der Urwälder sein.Wie sieht es heute dort aus? Wenige Menschen berei-chern sich auf Kosten der Weltbevölkerung und der Um-welt durch die brutale Zerstörung der letzten Urwälder.Selbst vor Schutzgebieten wird nicht Halt gemacht. So-gar Ökosiegel werden missbraucht, um die Herkunft desillegal geschlagenen Holzes zu verschleiern.
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Gabriele Hiller-OhmUrwälder sind die grünen Lungen auf unserem Plane-ten. Zerstören wir sie, nehmen wir uns die Luft zum At-men. Deshalb müssen wir diesen Raubbau endlich stop-pen.
Die Einbeziehung finanziell interessanter Aufforstun-gen in den Emissionshandel kann hierbei eine wirkungs-volle Maßnahme sein.Vor wenigen Tagen ist in Kuala Lumpur in Malaysiadie 7. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention über diebiologische Vielfalt zu Ende gegangen. Umweltschutz-verbände haben erneut auf die anhaltende weltweite Zer-störung der Wälder hingewiesen. Das erfreuliche Ergeb-nis der Konferenz war, dass bis 2010 ein internationalesNetzwerk von geschützten Gebieten zu Land und bis2012 ein solches für die Ozeane geschaffen werden soll.Ich hoffe, es wird gelingen, dieses ehrgeizige Projekt zuverwirklichen.Schutzgebiete sind wichtig. Wir brauchen aber auchdringend wirksame Kontrollen und Sanktionen gegen il-legalen Raubbau. Dies könnte mit einem von Green-peace angeregten Urwaldschutzgesetz erreicht werden.
Wir sollten diesen Vorschlag – am besten interfraktio-nell – prüfen und eine Lösung erarbeiten.Wie geht es in Deutschland mit unseren Wäldern wei-ter? Die Novellierung des Bundeswaldgesetzes wurdevorbereitet. Was geschieht daraufhin? Ein riesiger Streitentbrennt in unserem Land. Bevor der erste Referenten-entwurf auf dem Tisch liegt, initiieren private Waldbesit-zerverbände ein Bündnis gegen die Novellierung desBundeswaldgesetzes, die es noch gar nicht gibt. Das istein bisher wohl einmaliges und leider auch falsches Vor-gehen.Bislang überwog trotz unterschiedlicher Interessenla-gen die Bereitschaft zum Konsens. Diese gute Art derStreitkultur sollten wir nicht aufgeben. Denn eines ist si-cher: Niemand hat ein Interesse daran, unsere Wälderund die damit verbundenen 800 000 Arbeitsplätze zu ge-fährden. Wir werden deshalb bei der Novellierung desBundeswaldgesetzes sehr genau darauf achten müssen,dass der zurzeit schwächelnden Forst- und Waldwirt-schaft auch weiterhin Fördermöglichkeiten in angemes-senem Umfang offen stehen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Caesar?
Ich bin sofort am Ende, Herr Kollege Caesar. Dann
können Sie sich zu Wort melden.
Die Bundesregierung wird in Kürze ein Eckpunkte-
papier zum Bundeswaldgesetz vorlegen. Wir sollten die
kommenden Monate für konstruktive Gespräche nutzen.
Das kann zur Klimaverbesserung nicht nur in diesem
Hause, sondern in der ganzen Welt, insbesondere in
Deutschland, beitragen.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Georg Schirmbeck, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauHiller-Ohm, ich staune, was man alles in einer Debatte,in der es eigentlich um den deutschen Wald gehen soll,dem Hohen Haus mitteilen kann.
In der Tat reden wir über Sturmschäden sowie überdas Waldsterben durch den sauren Regen und durch Bor-kenkäferbefall. Wenn die entsprechenden Bilder durchdie Medien gehen, dann sind wir alle sehr betroffen undes herrscht großes Jammern und Klagen in der Öffent-lichkeit. Wir reagieren darauf mit runden Tischen undGutachten und versuchen so, Schäden zu begrenzen.Doch was tun wir eigentlich wirklich für den Bewuchsauf einem Drittel der Erdoberfläche in Deutschland? Wirtun genau das, was auch Sie gerade gemacht haben: Wirklagen besonders über den Raubbau in den Wäldern derEntwicklungsländer – Sie haben vorhin Malaysia alsBeispiel genannt – und glauben, dass das konstruktiv fürunseren Wald ist.Im Endeffekt führen Ihre Politik und vor allen DingenIhre Rhetorik dazu, dass die Deutschen glauben: Wer inDeutschland einen Baum fällt, der zerstört Leben. Werim Wald wirtschaftet, schadet dem Wald. Wer ordnungs-gemäß Forstwirtschaft auf höchstem wissenschaftlichenNiveau betreibt, der schadet der Natur, insbesonderedem Wald, und damit den Menschen in Deutschland.Das genaue Gegenteil ist der Fall.
Im deutschen Wald – nur darum geht es hier – wirdnachhaltig gewirtschaftet. Dort wird der Generationen-vertrag, den wir auch in anderen Bereichen der Gesell-schaft und der Wirtschaft brauchen, schon immer vor-bildlich vorgelebt. Eigentlich sollten wir dafür dankbarund darüber einig sein. Aber das, was Sie eben ausge-führt haben, zeigt uns, dass das offensichtlich nicht derFall ist.
Wir sollten uns trotzdem in einem Punkt einig sein:Egal welche gesetzlichen Regelungen wir beschließen,ohne die konstruktive Zusammenarbeit mit den Waldbe-sitzern verändern wir in Deutschland gar nichts undschaden wir nur unserem Wald.
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Georg Schirmbeck
Sie müssen auch die Situation der Waldbesitzer berück-sichtigen, und zwar nicht nur der privaten. Schließlichsollten Sie sich auch über den Wald Gedanken machen,der öffentliches Eigentum ist.
Die von circa 1,5 Millionen privaten Waldbesitzernsowie vom Kommunal- und Staatswald praktiziertenachhaltige Forstwirtschaft hat dazu geführt, dass inDeutschland erheblich mehr Holz wächst, als geerntetwird, dass die Waldfläche wächst. Das sollten Sie deut-lich machen; das sind die Fakten. Die Probleme, die un-sere Wälder haben, sind jedenfalls von den Waldbesit-zern nicht verursacht worden. Unsere Wälder werdendurch den sauren Regen geschädigt. Den sauren Regenverursachen – das haben Sie richtig ausgeführt – nichtdie Förster, die Waldarbeiter oder die Waldbesitzer. Inden 80er- und 90er-Jahren war das Waldsterben durchden sauren Regen in aller Munde. Wenn die entsprechen-den Fotos und Bilder in den Zeitungen und im Fernsehenaber nicht mehr zu sehen sind, dann geht offensichtlichauch das politische Bewusstsein für die notwendigenMaßnahmen verloren.Die Großfeuerungsanlagenverordnung und die Ein-führung des Katalysators waren sicherlich zwei wesent-liche Maßnahmen, um die Luftschadstoffe zu verringern.Ich gestehe Ihnen gerne zu, dass weitere Maßnahmen indiesem Zusammenhang erforderlich sind. Die Länderund die Kommunen förderten zur damaligen Zeit dieKompensationswaldkalkung mit 100 Prozent. Die vonIhnen zu verantwortende Wirtschaftspolitik hat zu einerkatastrophalen Finanzlage unserer Kommunen geführt,sodass sie nicht mehr in der Lage sind, die Waldkalkungmitzufinanzieren. Deshalb fanden 2003 und finden 2004kaum noch Waldkalkungen statt.
– Herr Schmidt, das sind Fakten, an denen Sie sich ori-entieren müssen. Die Daten sind so zweifelsfrei, dass Siedas gar nicht kritisieren können.
Jetzt empfiehlt die Bundesregierung – das kann manin der Antwort der Bundesregierung auf unsere GroßeAnfrage nachlesen – den Waldbesitzern eine Mitfinan-zierung der Waldkalkung, um ihr ernsthaftes Interessenachzuweisen – so wörtlich.
Wollen Sie die Leute auf den Arm nehmen? Wer ist ei-gentlich Verursacher? Wer ist Täter? Wer ist Opfer?
Was benötigen unsere Forstbetriebe?
Die Wirtschaftspolitik, die Sie zu verantworten haben,führt zu einer Enteignung der Waldbesitzer. Dafür tragenSie die politische Verantwortung.
Unsere Waldbesitzer, unsere Forstbetriebe brauchenmehr Einnahmen. Dafür zu sorgen wäre eine wirksameMaßnahme. Wir brauchen einen besseren Holzmarkt inBezug auf Quantität und Qualität. Auch wir braucheneine Beschaffungsrichtlinie, auf deren Grundlage dieHolznutzung der öffentlichen Hand beispielhaft entwi-ckelt wird. Das führt zu einer Verbesserung der wirt-schaftlichen Lage unserer Forstbetriebe. Das führt zurStärkung einer nachhaltigen Forstwirtschaft. Das stärktunsere Wälder in jeder Beziehung. Deshalb wäre einekonkret formulierte Holzcharta, mit konkreten Pro-grammen unterlegt, eine wesentliche forstwirtschaftlicheMaßnahme.
Die Bundesregierung hat dies lange Zeit angekündigt.
Passiert ist bisher nichts. Unsere Wälder leiden unterKlimaschwankungen. Frau Hiller-Ohm, Sie haben daszu Recht ausgeführt. Im letzten Sommer litten unsereWälder unter der Trockenheit. Eine Hilfestellung desBundes wegen Trockenschäden wurde nicht für nötiggehalten. Jetzt befürchten alle Fachleute, dass es in die-sem Frühjahr zu einer großen Borkenkäferkalamitätkommt. Kaufverträge für Fichtenstammholz kann manschon seit einigen Monaten nur noch bis Ende April ab-schließen. Eine ökologische und ökonomische Katastro-phe ist zu befürchten.Welche konkreten Maßnahmen ergreift die Bundesre-gierung? Muss die Katastrophe erst Realität werden?Müssen die Borkenkäfer erst als Elefanten über denBildschirm laufen, ehe die Bundesregierung wirklichkonkret reagiert?
Sie reden doch immer von Nachhaltigkeit. Nachhaltighandeln heißt vorausschauend handeln, Herr Parlamen-tarischer Geschäftsführer Schmidt. ForstwirtschaftlicheMaßnahmen werden in allen Bundesländern gefördert.In vielen Fällen fließen dabei europäische Mittel. DasAntragsverfahren, das Bewilligungsverfahren und die
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8460 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004
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Georg SchirmbeckVerwendungskontrolle sind so bürokratisch, dass mitdiesen Programmen fast mehr Bürokraten als Waldarbei-ter beschäftigt werden. Das Ehrenamt in den Forstbe-triebsgemeinschaften ist schon lange völlig überfordertund hat resigniert.Was macht der Bund, um diese Missstände zu beseiti-gen? Es geht nicht um mehr öffentliche Mittel, sondernum einen effizienten Einsatz der Mittel und um zumut-bare Rahmenbedingungen für Förster, Waldarbeiter undWaldbesitzer. Wir bezweifeln, dass solche Entlastungendurch ein neues Waldgesetz erreicht werden können.
Die Anhebung der Sozialpflichtigkeit des Eigentumsführt nach einem Gutachten der Bundesforschungsan-stalt für Forst- und Holzwirtschaft dazu, dass pro Hektarzusätzlich 230 Euro Kosten entstehen. Dies ist nichts an-deres als ein Anschlag auf 70 000 Arbeitsplätze in derForstwirtschaft. Es kommt zu mehr gesetzlichen Rege-lungen und zu weniger tatsächlicher Hilfe für einenschwierigen Wirtschaftszweig.Über eine Entlastung der Forstbetriebe von derVerkehrssicherungspflicht – aber nicht nur im Wald,sondern auch an öffentlichen Straßen – muss man sicher-lich nachdenken. Sie müssen sich auch Gedanken darü-ber machen, wer das bezahlt.
Mehr Totholz im Wald bedeutet für viele Standorte mehrWaldbrandgefahr. Wer haftet dafür? Wer trägt die Kos-ten?
Wir sind uns mit den Verbänden der Forstwirtschafteinig, dass sich auch die Forstwirtschaft neu aufstellenmuss. Schlagkräftige forstwirtschaftliche Zusammen-schlüsse sind sicherlich das Gebot der Stunde. Aufgabedes Bundes und der Länder müsste es sein, eine tatkräf-tige Hilfestellung und Förderung zu gewähren. Aberwenn Sie unseren Wirtschaftswald flächendeckend zueinem Naturschutzwald entwickeln wollen, dann ma-chen Sie nichts anderes, als die Eigentümer – sie habenden Wirtschaftswald über Generationen entwickelt – zuenteignen.Die öffentlichen und die privaten Waldbesitzer habenein Zertifizierungssystem entwickelt und finanziert,nach dem mittlerweile über 60 Prozent unserer Waldflä-che zertifiziert sind. Wir halten dies für eine beispiel-hafte Aktion. Doch was macht die Bundesregierung? Sieunterstützt mit erheblichen Haushaltsmitteln einseitigein konkurrierendes Zertifizierungssystem, nach dembisher nur weniger als 5 Prozent der Waldfläche zertifi-ziert wurde. Dazu kommt, dass dieses Zertifizierungs-system eigentlich zum Schutz der Tropenwälder entwi-ckelt worden ist. Mittlerweile sind aber auch großePlantagenmonokulturen in Chile und in Südafrika zerti-fiziert, und zwar ohne die Beteiligung der gesellschaftli-chen Gruppen.
Hat der Bund in diesem Fall nicht wenigstens einePflicht zur Neutralität? Oder geht es hier gar nicht umMaßnahmen zum Schutz unserer Wälder, sondern umKlientelwirtschaft und um die Zerstörung der gewachse-nen Eigentumsstrukturen unserer Forstwirtschaft?
Wer etwas Positives für unsere Wälder tun will, mussdabei ökonomische, ökologische und soziale Gesicht-punkte berücksichtigen.
Wer einen dieser Bausteine vernachlässigt, schadet auchden beiden anderen Bausteinen.Die Kunst, Fragen zu beantworten, ohne konkret zuwerden, hilft dem deutschen Wald nicht weiter. Konkret:Streichen Sie § 29 Abs. 2 Wasserhaushaltsgesetz undentlasten Sie den Waldbesitz von Beiträgen zu den Was-ser- und Bodenverbänden! Sorgen Sie durch geeignetesteuerliche oder andere gesetzliche Maßnahmen
für Rahmenbedingungen zur wirtschaftlichen, energeti-schen Nutzung unserer Holzreserven! Unterstützen Sieden Wettbewerb der Zertifizierungssysteme! Sorgen Siedafür, dass die Kompensationskalkung zukünftig wiedermöglich wird! Sorgen Sie für eine Entbürokratisierungder forstlichen Förderprogramme! Erarbeiten Sie mit derForstwirtschaft die oft versprochene Holzcharta! HolenSie kurzfristig den Sachverstand aus Wissenschaft, Wirt-schaft und Verwaltung an einen Tisch und ergreifen Siedie möglichen und notwendigen Maßnahmen, damit inden nächsten Wochen die Borkenkäferkalamität nicht zueiner ökonomischen und ökologischen Katastrophe inunseren Wäldern führt! Oder müssen wir immer erst dieKatastrophenbilder aus unseren Wäldern in den Mediensehen, ehe sachgerecht gehandelt wird?Wir brauchen keine neuen Gesetze und Verordnun-gen, wir brauchen noch nicht einmal mehr Geld, sondernwir brauchen eine ideologiefreie und unbürokratischeZusammenarbeit der staatlichen Ebenen mit der Forst-wirtschaft.
Dann können wir uns auf die Zukunft mit unserem Waldfreuen.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8461
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Georg Schirmbeck
Für die Bundesregierung erhält nun der Parlamentari-
sche Staatssekretär Matthias Berninger das Wort.
Ma
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einiges,was der Kollege Schirmbeck gesagt hat, ist schon hoch-interessant und bemerkenswert und wird von mir aus-drücklich unterstützt.
Wenn er zum Beispiel sagt, dass weitere Maßnahmenetwa zur Luftreinhaltung oder zum Klimaschutz notwen-dig sind, um dem Wald in Deutschland zu helfen, dannkann ich das nur nachdrücklich unterstützen. Das Pro-blem, Herr Kollege Schirmbeck, ist nur: Das passt nichtzu dem, was Ihre Bundestagsfraktion mehrheitlich be-schließt.
Sowohl die Anträge, die Sie zum Thema der Förde-rung der erneuerbaren Energien einbringen – Sie sind jamehrheitlich dagegen –, als auch Ihre ablehnende Hal-tung gegen den Emissionshandel und andere Maßnah-men konsequenter Umweltpolitik machen deutlich, dassSie im Interesse der Waldbesitzer etwas fordern, was inder Unionsfraktion ganz offenkundig nicht mehrheitsfä-hig ist. Trotzdem ist es richtig, dass auch Sie in dieserDebatte darauf hinweisen, dass wir Fortschritte in derUmweltpolitik brauchen, wenn wir dem Wald helfenwollen.Ein Beispiel aus Ihrem Heimatland Niedersachsen:Der zu hohe Viehbesatz in bestimmten Regionen ist ei-ner der Hauptgründe für das Waldsterben in diesen Regi-onen, weil die Ammoniakemissionen in dem Bereichdem Wald heute mehr schaden als zum Beispiel das, wasaus den Auspuffen der Automobile herauskommt. Wenndie Bundesregierung dafür eintritt, den Viehbesatz zuverringern und dafür Sorge zu tragen, dass möglichstnicht mehr als zwei Großvieheinheiten pro Hektar vor-handen sind, sind die Ersten, die dagegen das Wort erhe-ben, in aller Regel die Vertreterinnen und Vertreter derUnionsfraktion und der FDP-Fraktion.
Im Interesse des Waldes sollte man die Bundesregierungbei der Agrarwende deutlicher unterstützen, als das inder Vergangenheit der Fall war.Es ist gesagt worden, die Bundesregierung sehe etwadas Problem des Borkenkäfers nicht. Ich finde das inso-fern unredlich, Herr Kollege Schirmbeck, als ich micherinnere, dass Sie bei Veranstaltungen waren, auf denenich geredet habe und bei denen zwei Drittel meiner Rededas Problem betrafen, dass die Folgen der Trockenheitdes letzten Jahres im Waldbereich wahrscheinlich erstim Jahr 2004 voll zum Tragen kommen und dass einesder ganz großen Probleme der Borkenkäfer sein wird.Ich habe auch ausgeführt, dass die Bundesregierung sehrwohl daran arbeitet und schon jetzt versucht, in Zusam-menarbeit mit den Ländern Gegenmaßnahmen zu ergrei-fen.Bei dem, was Sie sagen, gefällt mir nicht, dass Sie dieVerantwortung der Länder, die Verantwortung der staat-lichen Ebenen, die überwiegend unionsgeführt sind, ein-fach außen vor lassen.
Ich will Ihnen ein Beispiel sagen. Mein HeimatlandHessen – ich könnte auch Bayern nennen – hat eine Re-form der Forstverwaltung beschlossen, an deren Endedie Waldarbeiter vor die Tür gesetzt werden. Man kannes auch so sagen: Der Borkenkäfer kommt und die Wald-arbeiter müssen gehen. Dann kann das, was Sie fordern,nämlich dass man schnell handelt, wenn die Borken-käferplage eintritt, im Bundesland Hessen schon deshalbnicht stattfinden, weil die Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter durch die Politik Roland Kochs vor die Tür ge-setzt werden.
Das muss man dann, wie ich finde, hier auch selbstkri-tisch sagen. Es ist schon darauf hingewiesen worden,dass die Reformen in der Forstverwaltung in Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen ebenso Themasind wie in anderen Bundesländern.Zweites Beispiel: die Belastung der Waldbesitzermit Beiträgen zu den Wasser- und Bodenverbänden. EinBeispielland, das immer genannt wird, ist Brandenburg.Wer regiert da bitte mit? Meines Wissens tragen dortnicht die die Bundesregierung stellenden Parteien die al-leinige Verantwortung, sondern die CDU ist dort derkleine Koalitionspartner. Vor dem Hintergrund solltenSie sich einmal an Ihre Kolleginnen und Kollegen inBrandenburg wenden, statt nach dem Bund zu rufen, da-mit er von oben herab Gesetze ändert. Es ist nämlichnicht in jedem Bundesland so, dass die Waldbesitzer da-durch belastet werden.Ich sage Ihnen, weil der Waldzustandsbericht ja heuteThema ist: Wir hatten letztes Jahr ein schlimmes Jahr fürden Wald. Wir werden im Jahre 2004 meiner Einschät-zung nach hinsichtlich des Waldschadens das größteProblem haben, seitdem wir Daten erheben. Insofern istes richtig, dass die Bundesregierung die Waldpolitik indiesem Jahr auf die Tagesordnung setzen wird. Die Bun-desministerin Künast wird noch in diesem Frühjahr ent-sprechende Vorschläge zur Reform des Wald- und desJagdgesetzes vorlegen.
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Parl. Staatssekretär Matthias BerningerEs ist interessant, dass das Thema Jagd in Ihrer Redekeine Rolle gespielt hat, obwohl wir doch alle miteinan-der wissen, dass der zu hohe Wildbesatz in vielen Teilender Bundesrepublik Deutschland einer der Hauptgründedafür ist, dass ein gesunder natürlicher Wald gar nichtentstehen kann. Die Naturverjüngung des Waldes wirdnämlich durch den Wildverbiss unmöglich gemacht.Deswegen müssen sich diejenigen, die sich wie Sie fürden Wald stark machen, auch für eine Novellierung desJagdgesetzes einsetzen, die dem Wald nützt.Ich kann Ihnen versichern, dass sowohl die Reformdes Bundeswaldgesetzes als auch die Reform des Bun-desjagdgesetzes entbürokratisierende Elemente habenwerden. Wir werden eine Reihe von Paragraphen ersatz-los streichen. Ich möchte auch darauf hinweisen, dassdie Bundesregierung die Charta für Holz in diesemFrühjahr voranbringen wird. Rund um die Holzwirt-schaft sind annähernd 1 Million Menschen beschäftigt.Das ist ein Beschäftigungspotenzial im ländlichenRaum, das die Bundesregierung mit sehr konkretenMaßnahmen auch weiter fördern will.
Es besteht hier die Kooperation mit der Wirtschaft undder Wissenschaft, die Sie fordern. Auf diesem Gebietwird längst zusammengearbeitet; das wissen Sie. Ichgehe davon aus, dass wir eine Reihe von interessantenund ganz konkreten Vorschlägen haben werden, über diewir dann diskutieren können.Meine Einschätzung ist: Wem der Wald am Herzenliegt, der sollte angesichts veränderter Situationen bereitsein, Gesetze, die zum Teil seit 1975 nicht mehr geändertwurden, zu ändern und den Wald fit zu machen, damit erden Klimaveränderungen widersteht. Er sollte auch füreine naturnahe Waldbewirtschaftung eintreten und nichtalle Formen der Waldbewirtschaftung gleichsam loben;denn es gibt Waldbesitzer, die sehr verantwortungsvollvorgehen, und andere, die das nicht tun. Die Monokultu-ren der Letzteren sehen wir dann regelmäßig im Fernse-hen, denn diese sind am anfälligsten für Befall durchBorkenkäfer und für Sturmereignisse. Den Wald natur-nah zu machen wird der zentrale Punkt der neuen Wald-politik der Bundesregierung sein. Mehr dazu, wie ge-sagt, in diesem Frühjahr durch die BundesministerinKünast.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Christel Happach-Kasan,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieSie noch ausharren! Dem Wald geht es schlecht, denWaldbesitzern geht es finanziell schlecht – beides hängtmiteinander zusammen. Der Waldzustandsbericht be-schreibt die Situation unserer Wälder realistisch; darausfolgt: Ihr Zustand ist schlecht. Dazu haben der trockeneSommer und die Borkenkäferkalamität im vergangenenJahr erheblich beigetragen. Das gilt, Kollegin Hiller-Ohm, auch für Schleswig-Holstein.
Gerade der Leiter Ihres Forstamtes, Herr Fähser, hat sichmassiv bei mir darüber beklagt, dass die Forstverwal-tung im Land Schleswig-Holstein, das als erstes Flä-chenland für seine Wälder das FSC-Zertifikat erhaltenhatte, auch als erster schleswig-holsteinischer Betriebden Einsatz von Insektiziden in seinen Wäldern bean-tragt hat. So viel zu Ihrer Glaubwürdigkeit.
Wir wissen alle, dass wir in diesem Jahr weitere Folge-schäden zu erwarten haben. Wir sind alle sehr gespannt,Herr Staatssekretär Berninger, welche Gegenmaßnah-men Sie in die Wege leiten werden.Ungelöst bleibt weiterhin das Problem der belastetenWaldböden, das sich durch Schadstoffeinträge der letz-ten Jahrzehnte ergeben hat. Die Versauerung ist besorg-niserregend, weil sie das Absterben von Bäumen be-schleunigt und Einträge von Schwermetallen insGrundwasser verursacht. Noch immer übertreffen anvielen Standorten die Schadstoffeinträge das natürlichePufferungsvermögen von Waldböden. Bei der Eiche, umnur ein Beispiel zu nennen, hat der vorige Sommer fürein Ende der Erholungsphase der letzten Jahre gesorgt.Was tut die Bundesregierung in dieser für den Wald be-drohlichen Situation? Sie ruht sich auf ihrer angeblichguten Klimaschutzpolitik aus.
Ich möchte deutlich sagen: Die FDP-Fraktion hat sichals Erste für den CO2-Emmissionshandel eingesetzt. Wirstimmen gegen Ihr Gesetz, weil wir der Meinung sind,dass der Nationale Allokationsplan dazugehört. Das Ge-setz darf nicht alleine stehen; beides gehört zusammen.
Das Umweltbundesamt hat errechnet, dass Deutsch-land bei der CO2-neutralen Stromerzeugung in der EUden viertletzten Platz belegt. Es berechnete für das ver-gangene Jahr 667 Gramm CO2-Äquivalent je Kilowatt-stunde in Deutschland gegenüber einem Durchschnittvon 429 Gramm in der EU. Das ist ein Armutszeugnis.Der Waldzustandsbericht bezeichnet Waldkalkungenals „zentrale Vorsorgemaßnahme“. Im Bericht heißt eswörtlich:Ziel ist es, weitere Säureeinträge aus der Luft abzu-puffern und damit nachteilige Veränderungen derWaldböden zu verhindern.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 94. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. März 2004 8463
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Dr. Christel Happach-KasanAngesichts sinkender Holzpreise ist die Forderungder Bundesregierung, dass die Waldbesitzer die Be-kämpfung dieser von der Gesellschaft verursachtenSchäden mitfinanzieren sollen, unrealistisch. Erinnernwir uns doch einmal daran, welche Haftungsvorstellun-gen die Bundesregierung bei der Grünen Gentechnikdurchzusetzen versucht. Was macht sie mit den Waldbe-sitzern? Das ist ungeheuerlich.Der Bericht macht auch deutlich, dass es keinerlei Be-darf für eine Novellierung des Bundeswaldgesetzes gibt.Luftverschmutzung und Klimaschwankungen machenProbleme, nicht das Gesetz.
Diese Probleme können mit hoheitlichen Maßnahmennicht beseitigt werden.In der Beantwortung der Großen Anfrage bekräftigtdie Bundesregierung ihre einseitige Bevorzugung derFSC-Zertifizierung. Dies ist eine Morgengabe gegenübereiner Auswahl von Umweltverbänden.Da der PEFC inzwischen mit Ausnahme von Schles-wig-Holstein in allen Bundesländern präsent ist und weitmehr als die Hälfte der Waldfläche in DeutschlandPEFC-zertifiziert ist – bei FSC sind es nur 4 Prozent –,bedeutet dies gleichzeitig einen Affront gegen die Men-schen in unserem Land, die sich mit den Wäldern in ih-ren Heimatregionen identifizieren.
Frau Kollegin, denken Sie an die Zeit.
Ich denke an die Zeit. – Die im Koalitionsvertrag an-
gekündigte Charta für Holz lässt ebenfalls weiter auf
sich warten. Herr Staatssekretär Berninger, Sie machen
Hoffnung. Das ist doch noch etwas wert.
Es ist bezeichnend und fachlich völlig verfehlt, dass
die Bundesregierung keinen Vertreter des Forstwirt-
schaftsrats in den Rat für nachhaltige Entwicklung beru-
fen hat. Die FDP fordert die Bundesregierung auf, auf
eine Novellierung des Bundeswaldgesetzes zu verzich-
ten, in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie dem nach-
wachsenden Rohstoff Holz Priorität einzuräumen – –
– Reden Sie nicht immerzu dazwischen, sondern hören
Sie auch einmal zu, wenn jemand etwas zu sagen hat.
Das sind Sie offensichtlich nicht gewohnt.
– Frau Hiller-Ohm, Sie hatten zwölf Minuten Zeit, zu sa-
gen, was Sie zu sagen haben. Sie haben sie nicht genutzt,
weil Sie nichts zu sagen hatten. Das ist entsetzlich.
– Ja, ich bin gelernte Lehrerin.
Ich möchte Sie bitten, nicht nur an die Redezeit zu
denken, sondern auch zum Ende Ihrer Rede zu kommen.
Ich beende meinen Satz. – Die FDP fordert die Bun-
desregierung auf, in der nationalen Nachhaltigkeitsstra-
tegie dem nachwachsenden Rohstoff Holz Priorität ein-
zuräumen und Vorbild bei der Verwertung von Holz aus
heimischen Wäldern zu sein.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/2210 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann istdas so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungs-punkt 13 c: Beschlussempfehlung des Ausschusses fürVerbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft aufDrucksache 15/2060 zu dem Antrag der FDP-Fraktionmit dem Titel „Rahmenbedingungen für Waldbesitzerund mittelständische Holzwirtschaft verbessern – Eigen-tumsrechte stärken“ Der Ausschuss empfiehlt, den An-trag auf Drucksache 15/941 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlungangenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzunghier: Monitoring – „Gesundheitliche und ökolo-gische Aspekte bei mobiler Telekommuni-kation und Sendeanlagen – wissenschaftli-cher Diskurs, regulatorische Erfordernisseund öffentliche Debatte“– Drucksache 15/1403 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienDie Kolleginnen und Kollegen Renate Jäger, HolgerHaibach, Axel E. Fischer , Dr. AntjeVogel-Sperl und Michael Kauch haben ihre Reden zuProtokoll gegeben.1)1) Anlage 3
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Vizepräsident Dr. Norbert LammertIch vermute, dass die anwesenden Kolleginnen undKollegen damit einverstanden sind, auch ohne Kenntnisder vorgesehenen Reden über den Überweisungsvor-schlag abzustimmen. Sind Sie mit dem in der Tagesord-nung aufgeführten Überweisungsvorschlag einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zurÄnderung des Außenwirtschaftsgesetzes
und der Außenwirtschaftsverordnung
– Drucksache 15/2537 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
InnenausschussVerteidigungsausschussAuch hierzu war eine halbstündige Aussprache vorge-sehen, die wir nicht benötigen, weil die Kollegenweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Begleit-regelungen zur Einführung des digitalen Kon-trollgeräts zur Kontrolle der Lenk- und
– Drucksache 15/2538 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOAuch hierzu war eine halbstündige Aussprache vorge-sehen. Im Interesse der Ausweitung von Ruhezeiten ha-ben die Kollegen Uwe Beckmeyer, Volkmar Vogel,Klaus Hofbauer, Peter Hettlich und Horst Friedrich
sowie die Parlamentarische Staatssekretärin
Angelika Mertens ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)Christian Müller , Christian Schmidt (Fürth),Erich Fritz und Alexander Bonde sowie die KolleginGudrun Kopp und der Parlamentarische StaatssekretärDitmar Staffelt ihre Reden zu Protokoll geben.1)
– Das mag bedauerlich sein, ist aber durch die schlichteNichtanwesenheit der meisten der genannten Rednerkaum zu verhindern.
Auch hier wird Überweisung des Gesetzentwurfes aufDrucksache 15/2537 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-1) Anlage 4Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-fes auf Drucksache 15/2538 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – AnderweitigeVorschläge sehe ich nicht. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 5. März 2004, 9 Uhr,ein.Ich wünsche Ihnen allen noch einen schönen Abend.Die Sitzung ist geschlossen.