Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Ihnen
folgende Mitteilungen bekannt geben: Die Fraktion der
FDP hat mitgeteilt, dass der Kollege Jörg van Essen als
ordentliches Mitglied aus dem Vermittlungsausschuss
ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Dr. Guido
Westerwelle vorgeschlagen. Die Fraktion der SPD hat
mitgeteilt, dass die Kollegin Dr. Angelica Schwall-
Düren als stellvertretendes Mitglied aus dem Vermitt-
lungsausschuss ausscheidet. Nachfolger soll der Kollege
Franz Müntefering werden. Sind Sie damit einverstan-
den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind der Kol-
lege Dr. Guido Westerwelle als ordentliches Mitglied
und der Kollege Franz Müntefering als stellvertreten-
des Mitglied im Vermittlungsausschuss bestimmt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung
der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen
– Drucksache 15/2149 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktio
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur
der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von
zung
12. Dezember 2003
.00 Uhr
Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen
– Drucksache 15/2150 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin Ulla Schmidt.
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und
Soziale Sicherung:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Bewahren durch Ergänzen“, so lautete unser Motto bei
der Erarbeitung des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes, das wir
heute hier in erster Lesung beraten. Um die gesetzliche
Rentenversicherung als verlässliche Säule der Alterssi-
cherung für die Menschen bewahren zu können, muss
text
sie um zwei wichtige Faktoren ergänzt werden: um den
Nachhaltigkeitsfaktor und um eine verbesserte kapital-
gestützte Säule. Nur so kann der Grundsatz „Jung für
Alt“, der in Deutschland schon seit über 100 Jahren ver-
folgt wird, auch in Zukunft gelten.
Die demographische Entwicklung zwingt uns zu
handeln. Wir alle wissen, dass die gesetzliche Renten-
versicherung alleine den heute 20-, 30- oder 35-Jährigen
zukünftig kein ausreichendes Maß an finanzieller Si-
cherheit bieten wird. Die Menschen werden in 30 Jahren
im Schnitt drei oder mehr Jahre älter werden. Das ist er-
freulich, bedeutet aber, dass die Rentenversicherung,
wenn wir nicht handeln, für diesen längeren Zeitraum
muss. Hinzu kommt, dass es zu wenige
gszahlerinnen und Beitragszahler geben
Menschen in unserer Gesellschaft zu we-
ekommen. Aus diesen Gründen ist eine Er-
nen der SPD
NEN einge-
Neuordnung
Rente zahlen
junge Beitra
wird, weil die
nige Kinder b
gänzung notwendig.
7284 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
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(D)
Bundesministerin Ulla Schmidt
Folgt der Gesetzgeber unseren Vorschlägen, die wir
heute einbringen, dann werden wir mit dieser Reform
eine moderne, tragfähige und verlässliche Alterssiche-
rung aufbauen können.
Dazu gehört als ein ganz wesentlicher Punkt, dass wir in
diesem Jahrzehnt erreichen müssen, dass auch ältere
Menschen wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt
haben. Wir können es uns nicht erlauben, dass 50- oder
55-Jährige heute von der Erwerbstätigkeit ausgeschlos-
sen werden, weil man der Meinung ist, sie seien zu alt.
Hierzu wollen wir eine Initiative starten. Ich muss an
dieser Stelle aber deutlich sagen: Die Politik kann nur
die Rahmenbedingungen setzen; denn hier sind die Ta-
rifvertragsparteien gefragt. Es muss ein gemeinsames
Anliegen dieses Hauses sein, dieses Jahrzehnt dazu zu
nutzen, initiativ zu werden und über Qualifizierungs-
und Fortbildungsangebote sowie über neue Möglichkei-
ten im Beschäftigungsrecht dafür zu sorgen, dass jeder,
der es möchte, bis zum 65. Lebensjahr erwerbstätig sein
kann. Wir müssen das reale Renteneintrittsalter dem ge-
setzlichen annähern. Dazu machen wir mit diesem Ge-
setzentwurf Vorschläge. Unter Beachtung des notwendi-
gen Vertrauensschutzes ist das eine richtige Maßnahme;
denn wir brauchen Beitragszahlerinnen und Beitragszah-
ler, wenn wir die Ansprüche auch der älteren Generation
erfüllen und verlässliche Einkünfte sicherstellen wollen.
Wir müssen auch die Beschäftigungschancen von
Frauen erhöhen. Wir müssen dafür sorgen, dass die jun-
gen Menschen die Möglichkeit haben, sich für Beruf und
Familie zu entscheiden. Mangelnde Kinderbetreuung
darf kein Hindernis für eine solche Entscheidung sein.
Deswegen nutzt der Bund dieses Jahrzehnt dazu, aktiv
zu werden. Insgesamt werden wir bis 2007 rund
8,5 Milliarden Euro investieren, um die Betreuung der
Kinder unter drei Jahren und die Ganztagsschulen zu
fördern. Das ist der richtige Weg, um die Bildungschan-
cen für die Kinder zu erhöhen.
Seit PISA wissen wir, dass wir viel mehr Angebote ma-
chen müssen. Es ist aber auch deshalb der richtige Weg,
weil wir damit Chancen für Frauen schaffen, eine eigen-
ständige Alterssicherung aufzubauen. Frauen wollen
selbst in die Rentenversicherung einzahlen und die
Chance haben, über die betriebliche und die private
Säule für ein eigenes auskömmliches Einkommen im Al-
ter zu sorgen.
Im Jahre 2008 – so ist es in diesem Gesetzentwurf
festgelegt – werden wir als Bundesregierung dem Parla-
ment einen Bericht vorlegen
– wir! –, in dem wir darauf eingehen werden, wie sich
die Arbeitsmarktlage insbesondere für die älteren Men-
schen und die Frauen entwickelt hat. Damit wollen wir
eine Grundlage dafür schaffen, 2010 zu entscheiden, ob
langfristig, also bis 2035, ein höheres Renteneintrittsal-
ter nötig ist oder nicht. Wir werden in diesem Bericht
auch darauf eingehen, wie sich die entsprechenden Be-
dingungen verändert haben.
Wir sind der Meinung, dass es in einer Zeit, in der
über 50-Jährige keine Chance auf dem Arbeitsmarkt ha-
ben, nicht richtig ist, über ein höheres Renteneintrittsal-
ter zu reden. Erst wenn wir die entsprechenden Bedin-
gungen verbessert haben, können wir auch über diese
Maßnahme entscheiden. Das verstehen die Menschen –
vor allem die jüngere Generation. Da wir künftig die
Rente dann durchschnittlich drei Jahre länger zu zahlen
haben und wir weiterhin ein hohes Rentenniveau errei-
chen wollen, werden wir auch diese Frage beantworten
müssen. So viele Stellschrauben gibt es in der Renten-
versicherung nämlich nicht.
Meine Damen und Herren, die Alterssicherung der
Zukunft wird sich nicht mehr allein auf die umlagefinan-
zierte Rente als lebensstandardsichernde Säule stützen
können. Sie wird durch die betriebliche Rente – hier ha-
ben wir mit der betrieblichen Riester-Rente neue Mög-
lichkeiten geschaffen – und durch die private Säule
– hier sei zum Beispiel die private Riester-Rente ge-
nannt – ergänzt werden müssen. Deshalb werden wir die
Rahmenbedingungen für die kapitalgestützte Säule ver-
bessern.
Bei der Rentenversicherung im umlagefinanzierten
System werden wir den Nachhaltigkeitsfaktor ein-
führen. Denn eines ist klar: Wir wissen, dass die heute
30- bis 35-Jährigen allein mit der umlagefinanzierten
Rente ihren ursprünglichen Lebensstandard im Alter
nicht mehr absichern können, während dies großen Tei-
len der älteren Generation heute möglich ist. Deshalb
müssen wir dafür sorgen, dass die junge Generation
Spielräume erhält, um die zweite und vielleicht auch die
dritte Säule aufbauen zu können. Es gehört zur Regelung
einer verlässlichen Alterssicherung, dass wir uns auch
Gedanken darüber machen, wie die Beiträge in Zukunft
bezahlbar bleiben. Durch den Nachhaltigkeitsfaktor, den
wir einführen wollen, berücksichtigen wir bei der Ren-
tenanpassung, wie sich das Verhältnis von Beitragszah-
lern und Beitragszahlerinnen zu Rentenempfängern und
Rentenempfängerinnen verändert.
Dadurch wird in einer wirtschaftlich schwierigen Lage
die Rente langsam ansteigen. Weil sie langsam ansteigt,
können wir die Beiträge stabil halten und schaffen somit
die Voraussetzungen dafür, die Arbeitslosigkeit zu über-
winden und Beschäftigung zu schaffen. Wenn mehr Be-
schäftigung geschaffen wird, werden die Rentnerinnen
und Rentner auch stärker am wirtschaftlichen Wohlstand
teilhaben können. Das heißt, je besser uns die Beschäfti-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7285
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(D)
Bundesministerin Ulla Schmidt
gungsförderung und die Bekämpfung der Arbeitslosig-
keit gelingt, desto besser wird sich der Wohlstand der äl-
teren Generation entwickeln.
Ein weiterer wichtiger Punkt, über den wir heute ent-
scheiden werden, ist der Ausbau der zweiten und dritten
Säule. Wir haben mit der betrieblichen Säule dafür ge-
sorgt, dass die betriebliche Altersvorsorge eine Renais-
sance erlebt.
Im Moment bauen rund 57 Prozent aller sozialversiche-
rungspflichtig beschäftigten Frauen und Männer eine be-
triebliche Altersvorsorge auf. Flächendeckung in der ka-
pitalgestützten Säule ist am besten über die betriebliche
Altersvorsorge zu erreichen, weil den Arbeitnehmern
und Arbeitnehmerinnen über Tarifverträge hier sehr gute
Möglichkeiten geboten werden. Deshalb werden wir die
Bedingungen für den Ausbau der kapitalgestützten Säule
in der betrieblichen Altersvorsorge dadurch verbessern,
dass die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen beim Ar-
beitsplatzwechsel bessere Möglichkeiten haben, ihre
Ansprüche mitzunehmen.
Mit der Vereinfachung des Verfahrens und der Redu-
zierung der Kriterien für die Riester-Rente wollen wir
auch die private Säule stärken. Mit der nachgelagerten
Besteuerung werden wir dafür sorgen, dass die Renten-
beiträge in der aktiven Phase, während der Erwerbstätig-
keit, von Steuern freigestellt sind. Wir täten gut daran,
gemeinsam dafür zu sorgen und zu werben, dass die
Menschen die neuen finanziellen Spielräume für den
Aufbau der kapitalgestützten privaten Altersvorsorge
verwenden.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass wir im In-
teresse der Menschen in diesem Land – wir wollen Si-
cherheit für die junge Generation, aber auch Sicherheit
für die ältere Generation schaffen – im Verfahren und in
den Beratungen dieses Gesetzentwurfes zu gemeinsa-
men Lösungen kommen werden. Wir müssen zeigen,
dass wir als Parlament in der Lage sind, gemeinsam für
eine verlässliche Alterssicherung zu sorgen.
Insofern möchte ich noch einmal an die Seite der Op-
position appellieren. Mit Blick auf den Beitragssatz im
kommenden Jahr halte ich es nicht für ein großes Zei-
chen von Verantwortung, wenn wir im Vermittlungsaus-
schuss bzw. im Bundesrat nicht zu einer Zustimmung
darüber kommen können, dass man die Auszahlung der
Rente für Neurentner an das Ende eines Monats legt.
Im gemeinsamen Interesse der Stabilisierung der Ren-
tenversicherungsbeiträge bitte ich Sie, dieser Maßnahme
zuzustimmen. Den Menschen, die zum Ende des Monats
ihr Gehalt bekommen, tut es nicht weh, wenn sie auch
die Rente erst zum Ende des Monats bekommen.
Ich bitte Sie, diese Maßnahme mitzutragen. Das ist ein
Weg, der besser ist, als die Beitragssätze um 0,1 Prozent
anzuheben. Insofern stehen wir alle in der gemeinsamen
Verantwortung.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Storm,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Warum
führen wir heute diese Rentendebatte? Sie müsste ei-
gentlich überflüssig sein; denn vor zwei Jahren ist doch
die so genannte Jahrhundertreform von Walter Riester in
Kraft getreten, mit der angeblich alle Probleme bei der
Rente bis zum Jahre 2030 gelöst sein sollten. Auch Sie,
Frau Ministerin Schmidt, waren damals an dieser Re-
form maßgeblich beteiligt. Als Walter Riester im De-
zember 2000 im Ausland weilte, haben Sie persönlich
die jetzige Rentenformel für die SPD-Fraktion ausge-
handelt. Heute erleben wir nun das endgültige Einge-
ständnis, dass die Riester-Reform gescheitert ist, und
zwar gründlich.
Sie haben seit 1998 noch jedes Jahr in die Rentenfinan-
zen eingegriffen. Die Bilanz: Die Renten werden ge-
kürzt, die Rücklagen sind ausgeplündert und die Riester-
Rente hat sich als kraftloser Rohrkrepierer entpuppt. Das
ist die traurige Bilanz von fünf Jahren rot-grüner Renten-
politik.
Mit dieser rentenpolitischen Flickschusterei muss
Schluss sein. Wir brauchen eine langfristig tragfähige
Rentenreform, die solide und verlässlich ist.
Alterssicherung ist Vertrauenssache. Die Menschen
müssen sich auf die Rentenpolitik wieder verlassen kön-
nen. Deswegen sind für die Union fünf grundlegende
Anforderungen an eine Rentenreform zu stellen:
Erstens. Die Reform muss einen fairen Ausgleich
zwischen den Generationen schaffen.
Wir wissen, dass sich in den nächsten drei Jahrzehnten
das Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern in etwa
verdoppeln wird. Die finanziellen Lasten dieser Ent-
wicklung müssen fair auf Jung und Alt aufgeteilt wer-
den. Auf keinen Fall dürfen wir einseitig nur die Bei-
tragszahler belasten; denn dann würde sich die
verhängnisvolle Spirale aus steigenden Sozialabgaben
und wegbrechenden Arbeitsplätzen immer weiter in
Schwindel erregende Höhen schrauben. Wir dürfen aber
ebenso wenig die Lasten einseitig den Rentnern aufbür-
den, indem wir den Beitragssatz auf dem heutigen Ni-
veau einfrieren; denn dann wären Nullrunden und sogar
7286 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
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Andreas Storm
Rentenkürzungen die Regel und das Rentenniveau be-
fände sich im freien Fall. Deshalb darf in Zukunft keine
Generation die Lasten alleine tragen. Wir brauchen eine
neue Rentenformel, mit der die Finanzierungslasten der
Alterssicherung fair auf Rentner und Beitragszahler auf-
geteilt werden.
Frau Ministerin, eine solche Rentenformel hätten wir be-
reits seit fünf Jahren haben können, wenn Sie nach dem
Regierungswechsel 1998 nicht als Erstes den demogra-
phischen Faktor außer Kraft gesetzt hätten. Wir haben
fünf wertvolle Jahre verloren.
Nun sieht Ihr Gesetzentwurf einen so genannten Nach-
haltigkeitsfaktor vor. Wie der Faktor heißt – ob „Nachhal-
tigkeitsfaktor“ oder „demographischer Faktor“ –, ist zweit-
rangig. Es kommt nicht auf den Titel, sondern auf den
Inhalt an.
Herr Kollege Storm, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Abgeordneten Dreßen?
Ja, gerne, Kollege Dreßen.
Herr Storm, Sie haben gerade wieder erzählt, dass al-
les in Ordnung wäre, wenn wir den demographischen
Faktor nicht ausgesetzt hätten. Würden Sie mir dann
auch konzedieren, dass die Rentner ansonsten 3 Prozent
weniger Rente als heute bekommen würden? Würden
Sie auch dies der Öffentlichkeit mitteilen?
Nein, Kollege Dreßen, diese Zahl ist eindeutig falsch.
Wenn Sie den Faktor nicht ausgesetzt hätten, hätten wir
jetzt ein wesentlich geringeres Loch in der Rentenkasse.
Dass der demographische Faktor eine richtige Überle-
gung war, zeigt sich darin, dass sich der deutsche Bun-
deskanzler vor wenigen Wochen in diesem Haus dafür
entschuldigt hat, ihn 1998 gestrichen zu haben.
Wir brauchen in der Rentenformel einen nachvoll-
ziehbaren und verlässlichen Regelmechanismus. Genau
dies ist der heute von Ihnen vorgelegte Nachhaltigkeits-
faktor nicht. So hat der Präsident der Bundesversiche-
rungsanstalt für Angestellte, Dr. Rische, zu Beginn die-
ser Woche nachdrücklich festgestellt: Mit dem
Nachhaltigkeitsfaktor wird die Rentenformel „derart in-
transparent, dass sie der Öffentlichkeit kaum mehr zu
vermitteln sein dürfte“.
Das ist ein Totalverriss der rot-grünen Rentenformel,
wie er schlimmer nicht hätte kommen können.
Damit nicht genug. Der Nachhaltigkeitsfaktor verfolgt
einzig und allein das Ziel, im Jahr 2030 einen fixen Bei-
tragssatz zu erreichen. Die Höhe des Rentenniveaus wird
freigegeben. Die Politik erhält einen Freibrief, jedes Jahr
nach Belieben in die Rentenanpassung einzugreifen. Ich
zitiere erneut den Präsidenten der BfA: „Der Nachhaltig-
keitsfaktor führt somit zu einem nach unten offenen
Rentenniveau.“
Ich frage die Sozialpolitiker der SPD: Sie haben vor
zwei Jahren auf Druck der Gewerkschaften noch eine Si-
cherungsklausel durchgesetzt. Damals sollte sicherge-
stellt werden, dass das Rentenniveau niemals unter
67 Prozent sinkt. Diese Klausel wird jetzt ersatzlos ge-
strichen. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln.
Wie soll hier noch Verlässlichkeit in die Rentenpolitik
kommen?
Deswegen ist für die Union eine Rentenformel, die
zur Manipulation geradezu einlädt, nicht akzeptabel.
Deshalb wiederhole ich unsere Forderung: Wir brauchen
einen nachvollziehbaren und verlässlichen Regelmecha-
nismus für die Rentenanpassung. Dafür taugt der Nach-
haltigkeitsfaktor in der Form, in der Sie ihn bisher vor-
gelegt haben, noch nicht.
Unsere zweite essenzielle Anforderung an eine Renten-
reform lautet: Wir brauchen nicht nur zwischen Alt und
Jung, sondern auch innerhalb einer Generation eine faire
Lastenverteilung zugunsten derer, die Kinder erziehen.
Wir müssen die offene Flanke des Generationenvertrages
von 1957 schließen, indem die dritte Generation einbe-
zogen wird. Wir brauchen einen Dreigenerationenver-
trag zwischen Rentnern, heutigen Beitragszahlern und
den Beitragszahlern von morgen.
Deshalb führt für die Union kein Weg daran vorbei,
dass Familien bei der Rente gestärkt werden müssen,
und zwar in zweierlei Hinsicht. Kindererziehung muss
sich längerfristig bei der Rentenhöhe mehr als bisher
auszahlen. Frauen und Männer müssen gleichermaßen in
die Lage versetzt werden, eine vollständige eigene Ren-
tenbiografie aus Zeiten der Erwerbsarbeit und der Fami-
lienarbeit aufzubauen. Wir müssen aber gleichzeitig die
Familien auch bei den Beiträgen entlasten. Das Bundes-
verfassungsgericht hat in einem Urteil vor über zwei
Jahren den Anstoß dazu gegeben. Bei SPD und Grünen
ist davon leider nichts angekommen. In ihrem Gesetz-
entwurf ist kein Sterbenswörtchen zur Stärkung der fa-
milienpolitischen Elemente bei der Rente enthalten.
Damit komme ich zur dritten Anforderung. Rentenpoli-
tik ist Vertrauenssache. Wir brauchen mehr Verlässlichkeit.
Die Leute haben das rot-grüne Novemberfieber satt, bei
dem jedes Jahr am Jahresende entschieden wird, welcher
Eingriff in die Rentenfinanzen dieses Mal dran ist. Die
Rentenversicherung muss auch für konjunkturell
schlechte Zeiten, wie wir sie unter Rot-Grün nun schon
im dritten Jahr erleben, wetterfest gemacht werden. Des-
halb müssen die Rücklagen der Rentenkassen wieder
aufgefüllt werden. Wir brauchen mittel- bis langfristig
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7287
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(D)
Andreas Storm
einen Korridor von ein bis zwei Monatsausgaben bei der
Rente. Es ist nicht glaubwürdig, wenn Sie erst drei Jahre
lang die Rücklage plündern, das letzte Tafelsilber ver-
scherbeln und nun behaupten, Sie wollten die Rücklage
wieder auffüllen. Das nimmt Ihnen niemand mehr ab.
Der vierte Punkt. Wir brauchen eine Nachfolgeregelung
für die Riester-Rente. Es ist richtig, Frau Ministerin
Schmidt, dass neben die umlagefinanzierte Rente eine
kapitalgedeckte Förderrente treten muss. Sie haben sich
lange gesträubt und die Abschlusszahlen der Riester-
Verträge schöngeredet. Jetzt wollen Sie das Verfahren
vereinfachen und streichen sechs der elf Förderkriterien
der Riester-Rente. Das ist erfreulich, aber ich frage Sie
auch: Warum bringen Sie nicht den Mut auf und über-
nehmen die weiter gehenden Vorschläge der Herzog-
Kommission und der Rürup-Kommission? Ich denke an
die Anhebung der förderfähigen Höchstbeträge und die
Erweiterung des Kreises der Förderberechtigten auch auf
die Selbstständigen und die anderen, die bisher nicht för-
derberechtigt sind. Wir wissen aus dem Jahr 2002, dass
bis zu 2,7 Milliarden Euro Fördergelder nicht abgerufen
worden sind. Deswegen haben wir finanzielle Spiel-
räume, die genutzt werden müssen. Wir brauchen eine
deutliche Ausweitung dieser ergänzenden kapitalge-
deckten Vorsorge.
Fünftens. Wir brauchen eine Neuregelung der Renten-
besteuerung. Sie sprechen sich nun für den Übergang
zur nachgelagerten Besteuerung aus. Damit rennen Sie
vom Grundsatz her bei uns offene Türen ein. Es war ein
grundlegender Webfehler der riesterschen Rentenreform,
dass damals das Thema der Rentenbesteuerung ausge-
klammert worden ist. Denn Klarheit über das langfris-
tige Leistungsniveau bei der Rente hat man nur, wenn
man weiß, wie die steuerlichen Regelungen sind, wie die
ergänzende Vorsorge organisiert wird und wie das Ni-
veau bei der gesetzlichen Rente ist.
Die Riester-Reform ist gescheitert. Wir sollten alles
daran setzen, dass es bei der nächsten Rentenreform
nicht genauso passiert. Das Hauptkriterium muss sein,
dass eine grundlegende Rentenreform kurz- und lang-
fristig solide und verlässlich ist. Die Statik des Gesamt-
gebäudes einer reformierten Alterssicherung muss stim-
men. Schönwetterprognosen wie bei der Riester-Reform
vor zwei Jahren helfen nicht weiter. Deswegen werden
wir im Frühjahr 2004 keiner Reform zustimmen, bei der
klar ist, dass sie bereits im Herbst 2004 wieder nachge-
bessert werden muss.
Herzstück der Reform muss eine gerechte Lastenver-
teilung zwischen Jung und Alt sowie eine starke Famil-
ienkomponente sein. Aus Sicht der Union ist das unver-
zichtbar. Diesbezüglich ist die Koalition bislang jede
Antwort schuldig geblieben.
Wir sollten uns das gesamte erste Halbjahr 2004 Zeit
nehmen für eine umfassende Beratung innerhalb der par-
lamentarischen Gremien. Es gilt der Grundsatz: Sorgfalt
vor Schnelligkeit.
Die Reform – auch das ist klar – muss in einem nor-
malen parlamentarischen Verfahren behandelt werden.
Konsensrunden im Eilverfahren am Parlament vorbei
wird es mit der Union nicht geben.
Bevor ich der Kollegin Bender das Wort gebe, gratu-
liere ich unserer Ministerin für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, Renate Schmidt, recht herzlich zu
ihrem heutigen 60. Geburtstag. Herzlichen Glück-
wunsch!
Das Wort hat nun die Kollegin Birgitt Bender, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der
Reform der Alterssicherung geht es zum einen um
soziale Sicherheit im Alter; denn wir wollen Altersarmut
verhindern. Zum anderen geht es um Generationenge-
rechtigkeit. Das heißt, dass wir auch an die Beitragsbe-
lastung der jüngeren Generation denken und sie be-
grenzen müssen.
In der letzten Legislaturperiode hat Rot-Grün eine
Rentenreform gemacht, mit der sie erstmals dafür gesorgt
hat, dass die Menschen auch kapitalgedeckte Vorsorge
aufbauen können. Das ist übrigens ein Schritt, den die
Union ihrerseits nie fertig gebracht hat. Dieses innova-
tive Konzept haben Sie uns zu verdanken. Es ist schön,
dass Sie sich jetzt darauf beziehen, auch wenn Sie mei-
nen, es sei gescheitert.
Die Entwicklung der wirtschaftliche Lage und die Be-
völkerungsentwicklung sind anders verlaufen, als es die
Experten im Jahre 2001 prognostiziert haben.
Deswegen machen wir jetzt neue Reformschritte. Es
geht darum, in der gesetzlichen Rentenversicherung für
einen fairen Ausgleich zwischen den Generationen zu
sorgen. Daher muss einerseits an die Beitragshöhe und
andererseits an ein angemessenes Rentenniveau und eine
angemessene Rentensteigerung gedacht werden. Es geht
auf der anderen Seite um Erleichterungen bei der kapi-
talgedeckten Vorsorge, sowohl bei den Betriebsrenten
als auch bei der privaten Vorsorge. Zum Dritten sorgen
wir für Steuergerechtigkeit in der Alterssicherung, in-
dem wir erstmals zur so genannten nachgelagerten Be-
steuerung übergehen.
Wir werden die Rentenformel verändern. In der
gesetzlichen Rentenversicherung wird es einen Nachhal-
tigkeitsfaktor geben. Herr Kollege Storm, ich kann ver-
stehen, dass Sie Ihrem demographischen Faktor nach-
trauern. Wenn Sie aber genauer hinschauen, werden Sie
feststellen, dass der von uns vorgesehene Nachhaltig-
keitsfaktor Ihrem alten Demographiefaktor überlegen
ist, weil er das Verhältnis zwischen der Anzahl der Bei-
tragszahlenden und der Anzahl derjenigen, die Renten-
leistungen empfangen, ins Verhältnis setzt und auf diese
Weise für einen Ausgleich zwischen den Generationen
7288 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Birgitt Bender
sorgt. Anders, als Sie es dargestellt haben, macht diese
Rentenformel jährliche politische Eingriffe überflüssig,
weil diese Struktur auf einer vorhersehbaren Entwick-
lung basiert. Ich denke, Sie sollten sich dieser Struktur
annähern, statt sozusagen aus Prinzip auf die Vergangen-
heit zu verweisen.
Im Übrigen müssen wir auch noch Lasten aus der
Vergangenheit abbauen. Wir sind diejenigen, die jetzt
– mit angemessenen Übergangsfristen – die Frühver-
rentung zurückfahren. Hierbei handelt es sich um ein
Konzept von Norbert Blüm, mit dem er den Großbetrie-
ben ermöglicht hat, die Rationalisierungswellen über die
Sozialversicherungen zu finanzieren.
Damit wird jetzt Schluss gemacht. Es geht nicht an, dass
die Betriebe ständig ältere Leute entlassen und dies auch
noch durch die Beitragszahler finanzieren lassen. Sie
werden in Zukunft auch die Erfahrung der Älteren nut-
zen können und müssen. Dafür werden wir die entspre-
chenden Rahmenbedingungen schaffen.
Wir sollten auch die Frage des Renteneintrittsalters
berücksichtigen; das tun wir bei unserer Reform. Die
Regierung wird dazu im Jahre 2008 einen Bericht vorle-
gen. Angesichts der Tatsache, dass die Bevölkerung bei
einem immer besseren Gesundheitszustand immer älter
wird, spricht vieles dafür, dass das gesetzliche Renten-
eintrittsalter auf längere Sicht angehoben werden muss.
Wir werden, wie gesagt, die Grundlagen schaffen, um
nach 2008 über diese Frage zu entscheiden.
Was ist bisher von der Opposition zu hören? Im We-
sentlichen verweigert sie sich.
Herr Kollege Storm, Sie haben von einem parlamen-
tarischen Verfahren gesprochen. Wie sieht es denn damit
aus? Im Bundesrat wurde die Verschiebung der Renten-
auszahlungen auf das Monatsende abgelehnt. Das ist
wahrlich kein Riesenschritt. Sie werden niemandem er-
klären können, warum es unbedingt dabei bleiben soll,
dass Menschen, die in Rente gehen, gleichzeitig ihr Ge-
halt und die Rente ausgezahlt bekommen. Sie könnten
sich deshalb leicht zu diesem Schritt, der Einsparungen
in Höhe von einigen 100 Millionen Euro bringt, ent-
schließen. Was aber tun Sie? Sie blockieren. So stelle ich
mir eine konstruktive Oppositionsarbeit nicht vor.
Was haben Sie sonst anzubieten? Im Wesentlichen re-
den Sie immer über die Vergangenheit und halten der
Regierung allerlei Fehler vor. Dem ist entgegenzuhalten:
Der Verweis auf das angebliche Besserwissen in der Ver-
gangenheit ist noch kein politisches Konzept für die Ge-
genwart. Zu solch einem Konzept habe ich von Ihnen so
gut wie nichts gehört.
Sie haben die Hinterbliebenenversorgung und die
Kinderförderung bei der Rente angesprochen, Herr
Storm. Darüber können wir reden. Wir setzen zurzeit
Steuermittel in Höhe von 12 Milliarden Euro dafür ein,
Rentensteigerungen aufgrund von Kindererziehungs-
zeiten zu finanzieren. Das führt übrigens dazu, dass eine
Frau mit zwei oder drei Kindern, die wegen der Kinder-
erziehung zeitweise auf Erwerbstätigkeit verzichtet oder
Teilzeitarbeit leistet, später eine höhere Rente hat als
eine Frau, die durchgängig in Vollzeit erwerbstätig war.
Sie müssten erklären, warum Sie das nicht für ausrei-
chend halten und wie Sie eine weitere Förderung der Er-
ziehungszeiten finanzieren wollen. Aber darüber sind
Sie sich in der Union wohl selber noch nicht einig.
Hinsichtlich Ihrer Forderung, dass bei der Hinterblie-
benenversorgung die Kinder stärker berücksichtigt
werden sollen, können wir zusammenkommen. Was die
Überlegung angeht, die Hinterbliebenenversorgung zu-
rückzuführen und im Wesentlichen darauf zu konzen-
trieren, dass diejenigen Witwen- oder Witwerrente be-
kommen, die aufgrund von Kindererziehung keine
ausreichende Alterssicherung aufgebaut haben, sind wir
gesprächsbereit.
In diesem Zusammenhang ist es uns wichtig, die
Gleichstellung von Ehepaaren und eingetragenen gleich-
geschlechtlichen Partnerschaften zu erreichen. Denn es
gibt keinen Grund, nur bei den Pflichten eine Gleichstel-
lung zu schaffen und die Rechte davon auszunehmen.
Das wollen wir ändern.
Wir werden auch die Riester-Rente vereinfachen.
Bisher haben die Bürgerinnen und Bürger etwa 5 Mil-
lionen geförderte Altersvorsorgeverträge abgeschlossen.
Bei mehr als 30 Millionen Anspruchsberechtigten zeigt
das deutlich, dass die Riester-Rente einfacher und flexi-
bler werden muss, damit sie angenommen wird.
– Das haben Sie damals also schon alles gesagt. Wenn
Sie meinen, dass das so ist, dann machen Sie jetzt doch
einfach mit und stimmen zu. Das wäre doch wunderbar.
Mit dem Gesetz wird das Antragsverfahren einfacher.
Die Ein- und Auszahlungsbedingungen werden flexibler
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7289
(C)
(D)
Birgitt Bender
und die Produkte werden für die Verbraucher und Ver-
braucherinnen besser vergleichbar. Das sind wichtige
Elemente, die wir im parlamentarischen Verfahren noch
ausbauen wollen. Wir denken ebenfalls an mehr Flexibi-
lität in der Auszahlungsphase. Wichtig sind uns der Er-
halt und der Ausbau des Verbraucherschutzniveaus. Uns
liegt dabei besonders am Herzen, dass über die Berück-
sichtigung von ökologischen, ethischen und sozialen
Kriterien regelmäßig und vor Vertragsabschluss infor-
miert wird.
Nicht zuletzt werden wir die Besteuerung ändern.
Den Übergang zur nachgelagerten Besteuerung
schreibt uns das Bundesverfassungsgericht vor. Aber es
handelt sich – auch das möchte ich einmal sagen – um
eine langjährige Forderung der Grünen. Wir werden die
Altersvorsorgebeiträge von der Steuer freistellen und
erst die entsprechenden Altersbezüge besteuern. Das ist
systematisch richtig und bedeutet – das möchte ich ge-
rade angesichts der aktuellen Diskussion sagen – vor al-
lem ein Steuersenkungsprogramm zugunsten der Arbeit-
nehmer und Arbeitnehmerinnen. Die komplette
Freistellung der Rentenversicherungsbeiträge würde
20 Milliarden Euro im Jahr kosten. Das können die öf-
fentlichen Haushalte nicht in einem Schritt verkraften.
Deswegen werden wir für einen schrittweisen Übergang
sorgen, der aber schon zwischenzeitlich mit Entlastun-
gen im zweistelligen Milliardenbereich verbunden sein
wird. Die Entlastung wird bei etwa 6 bis 8 Milliar-
den Euro im Jahr liegen. Die Beitragszahler werden also
Schritt für Schritt weniger Beiträge versteuern und die
Rentner werden Schritt für Schritt einen höheren Anteil
ihrer Rente versteuern. Wir werden diesen Übergang so-
zialverträglich ausgestalten.
Was bedeutet das für die Rentner und Rentnerinnen?
Bisher zahlen die meisten Rentner gar keine Steuern.
Durch die Umstellung im Jahre 2005 werden zusätzlich
1,3 Millionen Rentner steuerlich belastet. Das bedeutet,
dass insgesamt nur jeder zehnte Rentner – es werden
meistens Männer sein –, der heute noch keine Steuern
zahlt, zukünftig an das Finanzamt zahlen wird. Es wird
sich in der Regel um Rentenempfänger handeln, die ne-
ben dem Rentenbezug noch andere Einkünfte haben. Vor
diesem Hintergrund sind wir der Meinung, dass der
Übergang sozialverträglich ist.
Es ist des Weiteren festzuhalten, dass im Jahr 2005
reine Renten bis zu 1 574 Euro im Monat steuerfrei blei-
ben. Das ist weit mehr als die Durchschnittsrente und
auch deutlich mehr als die Standardrente. Das heißt, die
Rentner werden nicht unangemessen belastet. Gleichzei-
tig werden die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
entlastet. Es entsteht damit mehr Spielraum für private
Vorsorge. Eigenverantwortung kann mit mehr Entschei-
dungsfreiheit gelebt werden. Dies ist das Rentenkonzept
der rot-grünen Koalition.
Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Bender, Sie müssen sich schon entschei-
den, warum Sie nur zwei Jahre nach der mit dem Namen
des Kollegen Riester verbundenen Reform der Alters-
vorsorge, die damals von Ihnen gerne als „Jahrhundert-
reform“ bezeichnet worden ist, einen neuen Versuch un-
ternehmen. Sie haben gesagt, die wirtschaftlichen Pro-
gnosen der Experten hätten nicht gestimmt. Ich kann
dazu nur sagen: Es ist alles so gekommen, wie die Ex-
perten das vorausgesagt haben.
In Ihrem Gesetzentwurf heißt es, dass die damaligen
„Grundannahmen im Lichte neuer wissenschaftlicher
Erkenntnisse teilweise revidiert werden müssen“. Ich
habe mich gefragt, was sich hinter dieser schamhaften
Floskel eigentlich verbirgt, welche neuen wissenschaftli-
chen Erkenntnisse das sein sollen. Sie hätten einfach
schreiben sollen: Wir haben uns geirrt.
Sie hätten schon damals auf die Warnungen der Oppo-
sition zum Beispiel vor der überbürokratischen Gestal-
tung der Riester-Rente hören sollen. Dann wären nicht
unnötig Zeit und Geld verloren worden.
Herr Dreßen, wenn Sie damals richtig gehandelt und
den demographischen Faktor nicht abgeschafft hätten,
dann würde die Rentenkasse heute um 3 Milliarden
Euro besser dastehen. Das wäre zwar nicht die Lösung
aller Probleme, aber auch keine zu vernachlässigende
Größe.
Richtig ist: Sie hatten damals nicht den Mut zur vol-
len Wahrheit und mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
kneifen Sie aus unserer Sicht heute erneut: Sie weichen
der Beantwortung der Frage nach einem notwendigen
Paradigmenwechsel, also nach einem neuen Grundan-
satz in der Altersvorsorge, weiterhin aus. Deswegen
muss man sagen: Die vorgeschlagenen Maßnahmen rei-
chen nicht aus, um die Altersvorsorge der Menschen in
unserem Lande sicherzustellen.
Hier geht es eben um mehr als nur um die gesetzliche
Rentenversicherung: Die Altersvorsorge muss gründ-
lich und zügig weiterentwickelt werden, damit sie auch
im Jahr 2030 trägt und damit eine flächendeckende Al-
tersarmut verhindert werden kann. Das gilt insbesondere
für den konsequenten Ausbau der privaten und der be-
trieblichen Altersvorsorge. Die hektische Betriebsam-
keit, mit der Sie, Frau Ministerin, an dem jetzt vorliegen-
den Gesetzentwurf praktisch bis zur letzten Minute
7290 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Dr. Heinrich L. Kolb
herumgebastelt haben, lässt im Übrigen weitere Zweifel
an der Ausgereiftheit dessen aufkommen, was Sie uns
hier vorlegen.
Bei einigen Punkten, die wir schon in den zurücklie-
genden Debatten und im Ausschuss kritisiert hatten, ha-
ben Sie sich im Vorfeld dieser Beratungen in die rich-
tige Richtung bewegt: Das gilt für den Vertrauensschutz
bei der Frühverrentung, der in seiner ursprünglichen
Ausgestaltung rechtsstaatlichen Prinzipien nicht genügt
hätte; das gilt für die Unisextarife, die, wie nun feststeht,
doch nicht kommen werden, obwohl Sie, Frau Ministe-
rin, zuvor regelrecht einen Popanz aufgebaut haben; das
gilt auch für die – mittlerweile fallen gelassene – Wie-
derankopplung der Hinterbliebenen- oder Invaliditäts-
rente an die Riester-Rente.
Sie haben einsehen müssen – der Bundeskanzler per-
sönlich hat es eingeräumt –, dass die Abschaffung des
demographischen Faktors kurz nach der Wahl 1998 ein
Fehler war. Aus heutiger Sicht war das – ich habe es
schon gesagt – ein Fehler, der uns teuer zu stehen
kommt. Aber wir begrüßen vor diesem Hintergrund die
Einführung des von der Rürup-Kommission empfohle-
nen Nachhaltigkeitsfaktors, der die Begrenzung des
Beitragssatzes auf maximal 22 Prozent im Jahre 2030 si-
cherstellen soll. Eigentlich ist das eine Wiedereinfüh-
rung. Da aber nicht sein kann, was nicht sein darf,
kommt die demographiebezogene Dämpfung des Ren-
tenanstiegs jetzt in einem neuen Gewand daher; das soll
uns recht sein. Wie auch immer: Hauptsache, es wird
eine Wirkung erzielt. Sie knüpfen jetzt an das an, was
dank unserer Politik schon 1998 Gesetz war.
Man muss aber auch sehen: Mit dem Nachhaltigkeits-
faktor wird das Beitragssatzziel von 22 Prozent im
Jahre 2030 zur bestimmenden Größe des in der gesetzli-
chen Rentenversicherung noch erreichbaren Versor-
gungsniveaus gemacht. Das könnte die FDP mittragen,
wenn den Bürgern die faktische Reduzierung der gesetz-
lichen Rente auf eine beitragsfinanzierte Grundsiche-
rung offensiv und unmissverständlich nahe gebracht und
ihnen darüber hinaus ein klarer Weg aufgezeigt würde,
wie der Lebensstandard durch eine weitere, die gesetz-
liche Rente ergänzende Altersvorsorge zukünftig gesi-
chert werden kann und soll.
Bei der Begründung der im Alterseinkünftegesetz
vorgesehenen Streichung des bisherigen leistungsorien-
tierten Sicherungszieles – § 154 Abs. 3 SGB VI – ver-
stecken Sie sich leider hinter Berechnungsproblemen.
Diese Probleme gibt es zwar; aber lassen Sie uns ge-
meinsam die Dinge so benennen, wie sie nun einmal
sind: Der Beitrag der gesetzlichen Rente zur Gesamtal-
tersvorsorge wird zukünftig geringer sein, als wir es in
der Vergangenheit gewohnt waren. So einfach ist das.
Zur Wahrheit gehört auch, dass die Menschen in un-
serem Lande mit dem Aufbau einer privaten oder be-
trieblichen kapitalgedeckten Altersvorsorge, flankiert
von einer deutlich erweiterten staatlichen Förderung,
schnellstmöglich beginnen sollen. Das muss uns auch
zusätzliches Geld wert sein.
Deswegen schlagen wir vor, Herr Kollege Dreßen, dieje-
nigen Mittel aus dem Bundeshaushalt zur Förderung der
privaten kapitalgedeckten Alterssicherung, die bisher
nicht abgeflossen sind, dafür einzusetzen, die Riester-
Rente durch das Vorziehen der nächsten Förderstufen
noch attraktiver zu machen.
Wir werden mit Ihnen im Ausschuss auch über die
Schwankungsreserve sprechen. Die von Ihnen im Ge-
setzentwurf vorgesehene Anhebung des oberen Zielwer-
tes für die Schwankungsreserve auf anderthalb Monats-
ausgaben genügt nicht. Hierbei geht es um immerhin
rund 24 Millionen Euro. Wenn Sie es ernst meinen, dann
müssen Sie auch sagen, wie Sie Ihr Ziel erreichen wol-
len. Ansonsten liegt die Vermutung nahe, dass es sich
um eine reine Absichtserklärung handelt.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Bei der Al-
tersversorgung im Allgemeinen und bei der gesetzlichen
Rente im Speziellen handelt es sich um Vertrauensthe-
men. Da kann man nicht nach dem Prinzip von Trial and
Error – Versuch und Irrtum – so lange herumprobieren,
bis es irgendwann passt; vielmehr muss das, was wir in
den nächsten Monaten leisten, ein wirklich großer Wurf
werden, da bei der Altersvorsorge sonst ein dauerhafter
Vertrauensschaden einzutreten droht.
Herr Kollege Kolb, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin; der letzte
Satz.
Sie werden bei der Arbeit an dem vorliegenden Ge-
setzentwurf dringend auf die Mithilfe der Opposition an-
gewiesen sein. Wir sind zur Mithilfe gern bereit. Sie
werden sich allerdings ein Stück weit auch auf unsere
Vorschläge einlassen müssen.
Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Lotz, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Bevor ich auf den vorliegenden Gesetzentwurf zu
sprechen komme, will ich an die letzte rentenpolitische
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7291
(C)
(D)
Erika Lotz
Debatte erinnern. Meine Vorredner und Vorrednerinnen
haben schon angesprochen, dass die Gesetze, die wir
eingebracht hatten und die verhindern sollten, dass der
Beitragssatz aufgrund konjunktureller Entwicklungen
steigt, von Ihnen im Bundesrat blockiert worden sind.
Sie sind an der Blockade von CDU/CSU gescheitert. Ich
muss noch einmal feststellen, dass die Blockadepolitik
kein verantwortungsvolles Handeln ist.
Sie sind meiner Meinung nach auch nicht glaubwür-
dig. Sie fordern in der Öffentlichkeit die Entlastung der
Wirtschaft, nehmen aber in Kauf, dass der Beitragssatz
zur Rentenversicherung steigt; Sie haben sich nämlich
dem Vorschlag verweigert, Neurentnern die Rente erst
am Monatsende zu zahlen. So kann keine Stabilisierung
erreicht werden. Damit ist Ihr Handeln unglaubwürdig.
Ich will noch etwas zu dem sagen, was Herr Storm
zum demographischen Faktor ausgeführt hat. Es ist rich-
tig: Der Bundeskanzler hat gesagt, es sei ein Fehler ge-
wesen, den demographischen Faktor zurückzunehmen.
Der Bundeskanzler hat aber nicht gesagt, dass der demo-
graphische Faktor zur Bewältigung der Situation ausge-
reicht hätte. Da liegt der Unterschied zu dem, was wir
mit dem Nachhaltigkeitsfaktor auf den Weg bringen
werden.
Der Nachhaltigkeitsfaktor berücksichtigt die Lebens-
erwartung, aber auch die Zahl der Rentnerinnen und
Rentner sowie die Zahl der Beitragszahler. Die Zahl der
Beitragszahler hatten Sie in Ihrem Kalkül überhaupt
nicht drin.
Von daher würde der demographische Faktor heute über-
haupt nicht ausreichen. Erzählen Sie also nicht immer
solche Märchen!
Herr Storm, Sie waren Mitglied der Herzog-Kommis-
sion. Was hat denn die Herzog-Kommission gefordert?
Die Herzog-Kommission hat doch im Grunde auch einen
Nachhaltigkeitsfaktor gefordert, allerdings ohne Begren-
zung nach unten. Was Sie hier aufführen, ist, gelinde ge-
sagt, ebenfalls nicht glaubwürdig.
Man könnte auch etwas ganz anderes dazu sagen. Es ist
doch Verlogenheit, was hier zum Ausdruck kommt.
Dann noch etwas zu dem anderen Teil Ihrer Forderun-
gen, nämlich Kindererziehungszeiten und Familienas-
pekte bei der Rente stärker zu berücksichtigen. Da will
ich Sie an Folgendes erinnern: Wir haben heute in der
Rente neben Kindererziehungszeiten auch Kinderbe-
rücksichtigungszeiten, die Aufwertung niedriger Ren-
tenanwartschaften bei schlecht bezahlter Erwerbstätig-
keit während der Kinderberücksichtigungszeit. Wir
haben Kinderzuschläge zur Hinterbliebenenrente einge-
führt. Der VDR hat ausgerechnet, dass sich allein aus
den drei Kindererziehungsjahren, der Aufwertung von
Pflichtbeiträgen während der Kinderberücksichtigungs-
zeit und dem Kinderzuschlag zur Witwenrente für das
erste Kind nach heutigen Werten ein zusätzlicher Ren-
tenanspruch von 192 Euro pro Monat ergibt. Das ent-
spricht einem Beitragswert von 41 800 Euro.
Die Eltern schon in der aktiven Phase von Beiträgen
zu entlasten ist ganz bestimmt nicht die Aufgabe der
Rentenversicherung. Damit würden nur kinderlose Ren-
tenversicherte belastet; kinderlose Beamte, Richter,
Selbstständige und auch wir Abgeordneten blieben ver-
schont. Solange Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, sich im Vermittlungsausschuss verweigern,
aber auch nicht das nötige Geld aus dem Hut zaubern,
können wir Eltern nicht aus Steuermitteln entlasten.
Es ist wichtig, denke ich, gemeinsam dafür zu sorgen,
dass es zu einer Akzeptanz der Rentenversicherung
kommt, und keine Horrorszenarien an die Wand zu ma-
len. Deshalb werden wir mit dem Nachhaltigkeitsfaktor
auch eine so genannte Sicherungsklausel einführen. Es
wird nämlich nicht so sein, dass die Anwendung des
Nachhaltigkeitsfaktors bei niedriger Lohnentwicklung
und einer rückläufigen Zahl der Erwerbstätigen oder bei
anderen ungünstigen Faktoren zu einem Minus bei der
Rente führen wird. Wir sorgen mit einer Bestimmung in
§ 68 dafür – ich denke, das ist ganz wichtig –, dass es
durch Anwendung des Nachhaltigkeitsfaktors zu keiner
Kürzung der Renten kommen kann.
Lassen Sie mich auch noch etwas zur Diskussion um
die Anhebung der Altersgrenzen sagen. Die Diskussion
um die Anhebung des Renteneintrittsalters findet ja
nicht erst seit Bekanntwerden der Vorschläge der Rürup-
bzw. der Herzog-Kommission statt, sondern sie ist schon
länger virulent. Sie alle wissen, der Anteil der Personen
im erwerbsfähigen Alter an der Bevölkerung wird gerin-
ger. Es muss deshalb in erster Linie darum gehen, das
Potenzial der erwerbsfähigen Personen besser auszu-
schöpfen. Die Erhöhung der Frauenerwerbsquote auf ein
Niveau, wie es bereits heute in den skandinavischen
Ländern vorherrscht, ist notwendig; das wird aber mei-
ner Meinung nach alleine nicht ausreichen.
Vor dem Hintergrund der jetzigen Arbeitsmarktsitua-
tion insbesondere für ältere Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer macht es auch keinen Sinn, über eine Anhe-
bung des allgemeinen Renteneintrittsalters zu diskutieren.
7292 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Erika Lotz
Das würde niemand verstehen. Wir wissen ja auch nicht,
ab wann sich die Arbeitsmarktsituation für Ältere bes-
sert. Wir haben zwar die Rahmenbedingungen für die
Erwerbsarbeit von älteren Arbeitnehmern verbessert,
aber die Unternehmen müssen dies jetzt annehmen. Da
dies ein gemeinsames Anliegen von uns ist, müssen wir
dies auch gemeinsam den Unternehmen nachdrücklich
nahe bringen.
Wir sind uns, wie ich denke, ebenso einig, dass die
Möglichkeiten, vorzeitig in Rente zu gehen, abgebaut
werden müssen. Indem wir das frühestmögliche Eintritts-
alter aufgrund von Arbeitslosigkeit oder im Rahmen von
Altersteilzeit schrittweise von 60 auf 63 Lebensjahre an-
heben, erschweren wir den Betrieben, über Vorruhe-
standsregelungen die Zahl der älteren Arbeitnehmer
ganz einfach abzubauen und die Belegschaften zulasten
der Rentenversicherungskassen zu verjüngen. Das kann
nämlich nicht so weitergehen.
Da man diesen Übergang nicht abrupt gestalten kann,
haben wir vernünftige Vertrauensschutzregelungen
vorgesehen. Der ursprüngliche Referentenentwurf hatte
in diesem Bereich ja für einige Unruhe gesorgt.
– Ach, Herr Kolb, sagen Sie doch so etwas nicht.
Denken Sie einmal zurück, wie häufig Sie zu Ihrer Zeit
rein in die Kartoffeln und raus aus den Kartoffeln mit
blitzartigen Neuregelungen gegangen sind!
Wir werden jetzt die Möglichkeit schaffen, damit die
Leute disponieren können, dass diejenigen aus den Ge-
burtsjahrgängen 1951 oder früher, die bis zum Jahres-
ende zu Verträgen mit ihren Arbeitgebern kommen, zu
den alten Bedingungen mit den entsprechenden Abschlä-
gen ausscheiden können.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
Vor uns liegen Beratungen. Ich hoffe, dass wir ge-
meinsam zu einer guten Regelung für die Rente sowie
für die Rentnerinnen und Rentner kommen.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller,
CDU/CSU-Fraktion.
Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Lotz, sie werden verstehen,
dass ich Ihren Vorwurf der Blockade nicht im Raum ste-
hen lassen kann. Wenn im Bereich der Rentensystematik
jemand blockiert hat, dann war es Rot-Grün.
Wir hatten mit Mehrheit im Deutschen Bundestag ein
Rentenreformgesetz beschlossen. Sie haben dieses Ge-
setz damals zwei Jahre lang mit Ihrer Mehrheit im Bun-
desrat verhindert und anschließend haben Sie dieses Re-
formgesetz aufgehoben.
Wenn Sie nur einmal kurz in die entsprechenden Proto-
kolle sehen, dann werden Sie feststellen, wer blockiert
hat.
Rente ist in großem Maße Vertrauenssache. Es ist nun
leider eine Tatsache, dass dieses Vertrauen besonders
durch Rot-Grün in den letzten zwei Jahren mehr als er-
schüttert wurde. Das lag auch daran, dass man mit Zah-
len nicht ehrlich umgegangen ist und den Bürgern vor
Wahlen nicht die tatsächlichen finanziellen Verhältnisse
dargelegt hat.
Heute legen Sie einen Gesetzentwurf vor, in dem
von nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der Renten-
versicherung die Rede ist. Die Überschrift des Gesetz-
entwurfes suggeriert, dass dieses Gesetz, wie es jetzt
vorgelegt wird, nachhaltig sei. Nach der gängigen Defi-
nition dieses inflationär gebrauchten Begriffes der
Nachhaltigkeit muss das Gesetz nicht nur den Bedürf-
nissen der heutigen Generation entsprechen, sondern es
darf auch die Möglichkeiten künftiger Generationen
nicht schmälern.
Ich habe Zweifel, ob Ihr Gesetzentwurf dem gerecht
wird. Ich möchte dies an einigen Aspekten darstellen.
Durch die beabsichtigte Modifizierung der Rentenan-
passungsformel wollen Sie die Rentendynamik an der
beitragspflichtigen Gehaltssumme ausrichten. Das Ver-
hältnis von Rentnern und versicherungspflichtig Be-
schäftigten soll rentendämpfend wirken. Das alles sind
drastische Maßnahmen, die Sie den Rentnern aufbür-
den. Dabei hätte – das können Sie nicht abstreiten – der
demographische Faktor seine Wirkung entfalten kön-
nen, sodass das Problem heute nicht in diesem Umfang
bestehen würde. Jetzt muss Versäumtes umso schmerz-
licher nachgeholt werden.
Eine Rentendrosselung bei gleichzeitiger Deckelung
des Beitragssatzes bei zum Beispiel 22 Prozent wirft et-
liche Fragen und Probleme auf, die in Ihrem Gesetzent-
wurf leider nicht gelöst werden.
Erstens. Ein Beitragssatz von 22 Prozent mutet der
kommenden Generation von Beitragszahlern zunächst
einmal mehr zu, als wir, die wir heute in das Rentensys-
tem einzahlen, bereit sind zu zahlen. Ist das nachhaltig?
Zweitens. Eine Rentendrosselung, die aus mehreren
Faktoren resultiert – angefangen bei der Entwicklung des
Arbeitsmarktes bis zur Entwicklung der Lebenserwartung
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7293
(C)
Wolfgang Zöller
und des Altersvorsorgefaktors –, birgt das große Risiko
eines freien Falls des Rentenniveaus. Ist das nachhaltig?
Drittens. Ihr Nachhaltigkeitsfaktor wird die Rentne-
rinnen und Rentner für jede Form schlechter Arbeits-
markt- oder Wirtschaftspolitik faktisch in Mithaftung
nehmen. Ist das nachhaltig?
Viertens. Durch das sinkende Rentenniveau entsteht
eine gewisse Verunsicherung und umso weniger wird die
private Altersvorsorge in Anspruch genommen. Wer
schon heute von einem Beitragssatz in Höhe von
22 Prozent spricht, muss natürlich auch berücksichtigen,
dass sich viele junge Menschen die Frage stellen: Wie
kann ich meine zusätzliche Alterssicherung bei diesen
hohen Beitragssätzen überhaupt finanzieren?
Meines Erachtens ist den Menschen nicht gedient,
wenn es nur in der Überschrift des Gesetzes eine nach-
haltige Sicherung gibt. Wir müssen mehr Aufrichtigkeit
beweisen. Ich bin froh, dass die Ministerin heute endlich
einmal zugegeben hat, dass die gesetzliche Rente künftig
nicht mehr den Lebensstandard sichern kann. Entspre-
chende Äußerungen von uns sind immer als unsozial ab-
gestempelt worden.
Ein Problem müssen wir alle gemeinsam sehen: Eine
Rente, die einen Beitragssatz von über 20 Prozent hat
und die bei über 40 Jahren Beitragsleistung eine Renten-
höhe zur Folge hat, die sich nicht signifikant von der So-
zialhilfe unterscheidet, wird dazu führen, dass die Men-
schen die Legitimationsfrage unseres Rentensystems in
den Vordergrund stellen. Deshalb ist dieses Problem mit
schönen Überschriften nicht zu lösen.
Wir haben völlig außer Acht gelassen, dass die demo-
graphische Zeitbombe erst noch zündet. Wir tun so, als
sei das demographische Problem schon jetzt das Pro-
blem Nummer eins. Aber dies wird es, wie alle Wissen-
schaftler sagen, erst in einigen Jahren sein. Deshalb ver-
wundert es, dass in Ihrem Reformvorschlag nicht auf
Familienkomponenten eingegangen wird.
Angesichts einer Umfrage in der letzten Woche, wo-
nach sich 79 Prozent der kinderlosen jungen Leute Kin-
der wünschen, muss man sich die Frage stellen, warum
dieser Kinderwunsch nicht umgesetzt wird. Es kann
wohl mit den Rahmenbedingungen in unserem Land
nicht so richtig stimmen.
Wir müssen das Spannungsfeld „Kind-Kosten-Lohnaus-
fall“ entschärfen.
Aber wir können nicht bei der Verbesserung der Rah-
menbedingungen stehen bleiben. Die Familie muss ein
Maßstab für gerechte Sozialreformen sein. Wer die fami-
lienpolitische Dimension der Rentenreform übersieht,
greift massiv in die Familienplanung ein. Denn er er-
weckt die falsche Vorstellung, dass Kinder zur Finanzie-
rung der eigenen Alterssicherung eigentlich gar nicht
notwendig sind. Weiterhin wird die Doppelbelastung,
die durch gleichzeitige Investitionen in Kinder und Al-
terssicherungssysteme entsteht, in Kauf genommen.
Diese Zusammenhänge haben schon längst dazu ge-
führt, dass unsere Gesellschaft gespalten wurde, dass Fa-
milien und Frauen zu den Verlierern dieses Systems wur-
den. Eine moderne Rentenpolitik muss deshalb auch
hierauf eine Antwort geben und die bestehenden Be-
nachteiligungen ausgleichen.
Unseres Erachtens muss deshalb die gesamte Sozial-
politik mehr als bisher dem Umstand Rechnung tragen,
dass Kinderlose weit größere Möglichkeiten zu Konsum
und zusätzlicher Vorsorge haben als vergleichbare Ein-
kommensbezieher mit Kindern. Eine Rentenreform, die
diesem unbestreitbaren Faktum mit keinem Wort Tribut
zollt, verdient eigentlich nicht das Urteil „nachhaltig“.
Wer wieder Vertrauen in dieses System, in die Rente
aufbauen will, muss der Nachhaltigkeit mehr Gewicht
verleihen. Wir sind bereit, daran mitzuarbeiten.
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Dr. Barbara Hendricks.
D
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Deutschland braucht ein zukunftsfähiges Alterssi-
cherungssystem. Dazu gehört eine nachhaltige Regelung
zur steuerlichen Behandlung der Altersvorsorge und der
Alterseinkünfte. Hierzu dient der vorliegende Koalitions-
entwurf eines Alterseinkünftegesetzes, der dem Regie-
rungsentwurf entspricht.
Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung sind
zwar seit jeher steuerpflichtig – auch wenn viele Men-
schen das nicht immer so wahrgenommen haben –, aber
sie werden nur teilweise, und zwar mit dem so genann-
ten Ertragsanteil, zur Einkommensteuer herangezogen.
Demgegenüber müssen Beamten- und Werkspensionen
in voller Höhe versteuert werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil
vom März des vergangenen Jahres entschieden, dass
diese unterschiedliche steuerliche Behandlung nicht mit
dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes vereinbar ist,
und hat daher den Gesetzgeber verpflichtet, spätestens
mit Wirkung zum 1. Januar 2005 eine verfassungskon-
forme Neuregelung zu treffen. Dem dient der vorlie-
gende Gesetzentwurf.
Die Bundesregierung hat daraufhin eine Sachverstän-
digenkommission eingesetzt, deren Vorschläge in dem
Entwurf eines Alterseinkünftegesetzes aufgegangen sind,
worüber wir heute in erster Lesung beraten. Im Ergebnis
soll eine systematisch schlüssige und folgerichtige
7294 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Al-
tersbezügen erreicht werden. Das wird auf jeden Fall ge-
samtwirtschaftlich vorteilhaft sein. Es ist gewiss auch so-
zial tragfähig. Das Besteuerungssystem soll dadurch
auch transparenter und einfacher werden. Es entspricht
übrigens vom Prinzip her den Vorschlägen, die Ihr stell-
vertretender Fraktionsvorsitzender Friedrich Merz zu
diesem Themenkreis gemacht hat.
Schwerpunkt des Gesetzentwurfs ist der schrittweise
Übergang zur nachgelagerten Besteuerung von Alters-
einkünften mit dem Kernelement des steuerlichen Ab-
zugs von Altersvorsorgebeiträgen bei den aktiv Erwerbs-
tätigen. Für die im Erwerbsleben stehenden Bürgerinnen
und Bürger bietet die Überleitung auf das nachgelagerte
Verfahren die Chance, das Altersvorsorgeniveau länger-
fristig noch zu verbessern.
Durch die schrittweise ansteigende steuerliche Be-
rücksichtigung von Altersvorsorgeaufwendungen – also
durch positive Berücksichtigung – erweitert sich der
Spielraum für die Zukunftsvorsorge. Da die Steuersätze
in der aktiven Lebensphase typischerweise höher als im
Alter sind, führt der Übergang auf das nachgelagerte
Verfahren unter dem Strich zu einer Entlastung für die
Steuerzahler.
Es besteht aber auch für die Rentner keinerlei Grund
zu Befürchtungen. Die große Masse der Rentner muss
auch in Zukunft keine Steuern auf die Rente zahlen.
Insgesamt gibt es 14,2 Millionen Steuerpflichtige mit
Rentenbezügen. Die Zahl von 14,2 Millionen ergibt
sich, weil Rentnerehepaare als ein Steuerpflichtiger ge-
zählt werden; es gibt in der Bundesrepublik, wie Sie
wissen, circa 19 Millionen Rentner. Drei Viertel der
steuerpflichtigen Rentenbezieher werden auch nach
neuem Recht nicht steuerbelastet. Rund 3,3 Millionen
steuerpflichtige Rentenempfänger – das sind 23 Prozent
aller derzeitigen Rentenempfänger – werden nach dem
neuen Steuerrecht steuerbelastet sein. Nach geltendem
Recht sind bereits 2 Millionen Rentner steuerbelastet.
Es stimmt, was Frau Kollegin Bender eben gesagt hat:
1,3 Millionen Rentner werden zusätzlich steuerbelastet
sein.
Nach dem Gesetzentwurf werden die Rentenbezüge
bei den Alleinstehenden unter den so genannten Be-
standsrentnern – das sind diejenigen, die schon heute
Rentenbezieher sind – und den so genannten Neufällen
des Jahres 2005 bis zu einer Höhe von rund 18 900 Euro
pro Jahr – das sind 1 575 Euro pro Monat – weiterhin
steuerlich nicht belastet, wenn neben der Rente keine an-
deren Einkünfte vorliegen. Dies bezieht sich auf Allein-
stehende; für Verheiratete gelten natürlich entsprechend
höhere Beträge.
Bei alleinstehenden Beamtenpensionären beginnt die
Steuerbelastung übrigens bei jährlichen Versorgungsbe-
zügen von rund 12 900 Euro. Es gibt also zu Beginn im-
mer noch eine Ungleichbehandlung von Rentnern und
Pensionären. Erst nach einem sehr langen Übergang
wird es zu einer Gleichbehandlung kommen, wie sie das
Bundesverfassungsgericht uns vorgeschrieben hat.
Durchschnittsrenten bleiben auch künftig steuerunbe-
lastet. Das gilt auch dann, wenn eine normale Betriebs-
rente hinzukommt.
Eine steuerliche Mehrbelastung wird überwiegend
nur in den Fällen entstehen, in denen neben der Rente
noch andere nennenswerte Einkünfte aus Werkspensio-
nen, aus Vermietung und Verpachtung, aus Kapitalver-
mögen oder von noch erwerbstätigen Ehepartnern hinzu-
kommen. In diesen Fällen ist die Rente übrigens oft als
Nebeneinkommen anzusehen.
Die bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten zuguns-
ten der Rentenempfänger sind aus verfassungsrechtli-
cher Sicht durch den vorgelegten Gesetzentwurf ausge-
schöpft. Deshalb ist der Übergang so langfristig
angelegt. Es bleibt – ich sagte es eben schon – bei einer
Ungleichbehandlung, die erst langfristig aufgehoben
wird. Eine weiter gehende und länger fortgesetzte Privi-
legierung von Rentenempfängern gegenüber den noch
aktiv Erwerbstätigen wäre verfassungsrechtlich kaum
noch vertretbar.
Ich möchte Ihnen nun kurz die wichtigsten Elemente
des Gesetzentwurfes darstellen.
Erstens: schrittweiser Übergang zur nachgelagerten
Besteuerung von Leibrenten. Die Altersvorsorgebeiträge
in der aktiven Zeit werden also steuerentlastet und die
darauf beruhenden Renten in der nicht mehr aktiven Zeit
werden besteuert.
Und zweitens: beschränkte Abziehbarkeit der Beiträge
zur Leibrentenversicherung. Sie wird folgendermaßen
ausgestaltet sein: Beiträge zu Leibrentenversicherungen
sind als Sonderausgaben beschränkt abziehbar. Dafür
müssen die erworbenen Anwartschaften nicht beleihbar,
nicht vererbbar, nicht veräußerbar, nicht übertragbar und
nicht kapitalisierbar sein. Diese Regelung haben nicht
wir erfunden, sondern sie gilt schon für die gesetzliche
Rentenversicherung und die berufsständischen Versor-
gungen, so wie sie heute ausgestaltet sind, und für neu
zu entwickelnde private kapitalgedeckte Leibrentenver-
sicherungen.
Beim Sonderausgabenabzug gilt für alle Steuerpflich-
tigen ein einheitlicher Höchstbetrag, der im Jahre 2025,
in der Endstufe, 20 000 Euro beträgt. Das ermöglicht
eine angemessene steuerlich geförderte Altersvorsorge
auch außerhalb der gesetzlichen Pflichtversicherungs-
systeme.
Die geleisteten Altersvorsorgebeiträge, also die Ar-
beitnehmer- und die Arbeitgeberbeiträge, werden ab
dem Jahr 2005, beginnend mit einem Prozentsatz von
60 Prozent, jährlich um 2 Punkte ansteigend, abziehbar
sein. Zur Vermeidung von Schlechterstellungen bleibt
der Abzug von Vorsorgeaufwendungen nach bisherigem
Recht jedenfalls für einen Übergangszeitraum gewähr-
leistet. Er wird durch eine automatische Günstigerprü-
fung im Besteuerungsverfahren sichergestellt werden.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7295
(C)
(D)
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
Im Jahr 2025 werden Altersvorsorgebeiträge in vollem
Umfang, also dann zu 100 Prozent, von der Steuer ab-
ziehbar sein.
Leibrenten, die auf abziehbaren Altersvorsorgebeiträ-
gen beruhen, werden ab dem Jahre 2005 einheitlich
– auch bei Selbstständigen – zu 50 Prozent der Besteue-
rung unterliegen. Dies gilt für alle Bestandsrenten und
die in diesem Jahr erstmals gezahlten Renten. Der steu-
erbare Anteil der Rente wird für jeden neu hinzukom-
menden Rentnerjahrgang bis zum Jahr 2040 in Schritten
angehoben. Erst bei Personen, die im Jahre 2040 in
Rente gehen, wird die Rente zu 100 Prozent besteuert.
Der steuerbare Anteil der Rente wird für jeden neu
hinzukommenden Rentnerjahrgang bis zum Jahre 2020
in Schritten von 2 Prozent auf 80 Prozent und anschlie-
ßend in Schritten von 1 Prozent bis zum Jahre 2040 auf
100 Prozent angehoben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist nicht die
Gelegenheit, auf alle Einzelheiten des Gesetzentwurfes
einzugehen. Dazu wird es sicherlich in den Ausschüssen
vertiefte Gelegenheit geben. Die Bürgerinnen und Bür-
ger können sich jedenfalls darauf verlassen: Das Gesetz
führt zu deutlichen Mindereinnahmen für den Gesamt-
haushalt. Anders ausgedrückt: Es verbleibt Geld bei den
Bürgerinnen und Bürgern.
Das Gesetz entspricht den Anforderungen des Bun-
desverfassungsgerichts. Es sorgt für Gleichbehandlung
von Rentnern und Pensionären und es sorgt für Gleich-
behandlung der Aktiven und der nicht mehr Aktiven.
Ganz wichtig ist: Die aktiv Beschäftigten erhalten mehr
Spielraum zu weiterer privater Vorsorge.
Ich hoffe, wir können dieses Gesetz in diesem Hause
mit großem Einvernehmen verabschieden, weil es der
steuerpolitischen Linie von uns allen entspricht. Ich
denke, dies wird möglich sein. Ich glaube, dass es sich
sehr gut in eine gesamte Nachhaltigkeitsstrategie ein-
passt. Die Hauptaufgabe, die vor uns liegt, ist es, die Ak-
tiven in den Stand zu versetzen, auch selbst für ihren Le-
bensabend vorzusorgen und gleichzeitig auch für ihre
Familien zu sorgen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Professor Andreas
Pinkwart, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem Übergang zur nachgelagerten Besteue-
rung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezü-
gen wird zum einen die steuerliche Gleichbehandlung
der unterschiedlichen Altersvorsorgewege angestrebt.
Ob dies mit dem vorliegenden Entwurf in hinreichendem
Maße gelingt, wird sich in den weiteren Beratungen,
auch in der Anhörung des Finanzausschusses, noch er-
weisen müssen.
Ich möchte jedenfalls bereits hier Zweifel anmelden, ob
die vorgesehene Gleichbehandlung von Alterseinkünften
aus unselbstständiger Tätigkeit mit jenen aus selbst-
ständiger Tätigkeit tatsächlich der geeignete Weg ist.
Es ist ja fraglich, ob es fair ist, wenn Ungleiches gleich
besteuert wird. Wir jedenfalls halten schon einmal fest,
dass es gelingen muss, dass keine verfassungsrechtli-
chen Bedenken an diesem Entwurf angemeldet werden
können, weil es zu einer Doppelbesteuerung kommen
könnte.
Zum anderen wird mit dem Übergang zur nachgela-
gerten Besteuerung eine Weichenstellung zur langfristi-
gen Stabilisierung der Anzahl der Steuerzahler bei der
direkten Besteuerung erreicht, selbst wenn das Aufkom-
mensniveau dadurch abgesenkt werden könnte. Aber es
ist natürlich wichtig, dass sich möglichst viele Bürgerin-
nen und Bürger an dieser Besteuerung beteiligen. Denn
dann haben alle Wählerinnen und Wähler auch ein Inte-
resse daran, dass es zu einer insgesamt erträglichen Be-
steuerung kommt,
und damit wird die Bereitschaft der Menschen insgesamt
groß, zu niedrigen und, wie ich hoffe, dann auch einfa-
chen Steuern zu kommen.
Indem mit diesem Entwurf schließlich der Versuch
unternommen wird, bei der so genannten Riester-Rente
zu der für eine breitere Akzeptanz notwendigen Verein-
fachung zu gelangen, versucht Rot-Grün endlich, einen
weiteren gravierenden Fehler der bisherigen Regierungs-
arbeit zu korrigieren. In Wahrheit, meine Damen und
Herren, sind Sie bei der Riester-Rente bisher zu kurz ge-
sprungen und haben sich im Bürokratiedickicht verhed-
dert. Dies muss jetzt grundlegend in Ordnung gebracht
werden.
Hierzu ist es erstens notwendig, eine grundlegende
Vereinfachung und Entbürokratisierung des Förderver-
fahrens sicherzustellen und zweitens ein schnelles Vor-
ziehen und eine Dynamisierung des förderfähigen
Höchstbetrages sowie die Öffnung der privaten Alters-
vorsorge für alle einkommensteuerpflichtigen Bevölke-
rungsgruppen vorzusehen. Schließlich muss die Herstel-
lung des Vertrauensschutzes im Bereich der
Altersvorsorge dadurch sichergestellt werden, dass man
mit dieser Reform – gerade bei der Riester-Rente, also
der Kapitaldeckung – nicht erneut zu kurz springt, wie
es der Entwurf zunächst vermuten lässt. Vielmehr müs-
sen wir an dieser Stelle durch eine echte kapitalgedeckte
Vorsorgesäule zu einer grundlegenden Verbesserung
kommen.
Schließlich möchte ich für meine Fraktion anmerken,
dass die nachgelagerte Besteuerung der Alterseinkünfte
eigentlich das Einfallstor sein sollte, um im kommenden
Jahr nicht nur an dieser Stelle, sondern beim gesamten
Steuerrecht zu einer grundlegenden Vereinfachung und
7296 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Dr. Andreas Pinkwart
Steuersenkung zu kommen. Die FDP-Fraktion hat hierzu
einen umfassenden Entwurf vorgelegt.
Die Regierung hatte angekündigt, auch sie wolle dem
Parlament noch Vorschläge zur Steuervereinfachung
vorlegen. Hier ist sie in der Pflicht, ihren Beitrag zu leis-
ten. Aus unserer Sicht wäre es dabei insbesondere wich-
tig, dass in Deutschland endlich Kinder mit Erwachse-
nen steuerrechtlich gleichgestellt würden. Denn das
wäre eine entscheidende Voraussetzung dafür, auf dem
Gebiet der Familienförderung und damit bei der Siche-
rung unserer Alterssicherungssysteme zu der gebotenen
Nachhaltigkeit zu kommen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-
ehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.
Sie wollen einen Nachhaltigkeitsfaktor in die Renten-
versicherung einführen. Was Sie als Nachhaltigkeitsfak-
tor bezeichnen, ist aber schlicht ein Rentenkürzungsfak-
tor. Ich finde, Sie sollten die Dinge beim Namen nennen.
Es geht um Rentenkürzungen für alle: für die, die schon
eine Rente bekommen, und für die, die heute noch arbei-
ten oder arbeitslos sind. Das ist weder sozial noch ge-
recht.
Ich werde Ihnen ganz kurz erläutern, was die PDS auf
dem Gebiet der Rente vorschlägt. Wir wollen eine
Erwerbstätigenversicherung, das heißt eine Rente von
allen für alle.
Beamte, Abgeordnete, Freiberufler und Selbstständige
sollen in die Rentenkasse einzahlen. Damit wird die soli-
darische Basis für die Rentenversicherung erweitert.
Wir wollen eine Anhebung der Beitragsbemessungs-
grenze.
Außerdem schlagen wir als PDS vor, den Arbeitgeber-
beitrag zu den Sozialversicherungen von der Lohn-
summe auf die Bruttowertschöpfung umzustellen. Da-
mit könnte man erreichen, dass der Abbau von
Arbeitsplätzen nicht länger belohnt wird. Wir wollen die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zur Grundlage der
Berechnungen machen und dazu beitragen, dass Arbeits-
plätze erhalten bleiben.
Die PDS lehnt die Erhöhung des Renteneintrittsalters
ab. Die im Nachhaltigkeitsgesetz vorgesehene Anhebung
des frühestmöglichen Renteneintrittsalters auf 63 Jahre
und die sehr engen Vertrauensschutzregelungen sind
keine akzeptable Lösung. Stattdessen schlagen wir vor,
Modelle für flexible Altersgrenzen zu entwickeln. Diese
Modelle müssen erstens der Tatsache Rechnung tragen,
dass besonders belastete Beschäftigte aus gesundheitli-
chen Gründen vorzeitig aus dem Berufsleben ausschei-
den. Zweitens wissen wir doch alle, dass heutige Er-
werbslebensläufe nicht mehr so wie früher sind. Diese
Modelle müssen den heutigen Erwerbslebensläufen also
stärker gerecht werden.
Die Einführung eines Mindestsockels in der gesetzli-
chen Rentenversicherung kann zur Verhinderung von
Altersarmut beitragen. Dazu schlagen wir von der PDS
ein Modell vor, das für Geringverdienende eine Rente
mit Grundbetrag vorsieht. Ziel soll sein, dass diese
Menschen für eine langjährige Versicherungszeit trotz
niedriger eingezahlter Beiträge einen existenzsichernden
Grundbetrag aus der gesetzlichen Rentenversicherung
erhalten. Wer mindestens 30 Jahre lang in die gesetzliche
Rentenversicherung eingezahlt und sich in dieser Zeit
mindestens 15 Entgeltpunkte erarbeitet hat, müsste aus
unserer Sicht eine Rente erhalten, die mindestens
30 Entgeltpunkten entspricht. Damit würde man errei-
chen, dass die Rentner weitgehend unabhängig von der
Sozialhilfe werden. Denn es kann doch nicht sein, dass
jemand sein Leben lang gearbeitet und eingezahlt hat
und im Alter zum Sozialamt gehen muss!
Es sind in der jüngeren Vergangenheit auf den Gebie-
ten der Alterssicherung von Frauen und der Familienar-
beit zwar Verbesserungen erreicht worden – das ist in
dieser Debatte schon gesagt worden –, diese halten wir
aber nicht für ausreichend. Wir als PDS setzen uns für
die Anerkennung einer Kindererziehungszeit von drei
Jahren für jedes Kind ein. Dies muss auch für die vor
dem 1. Januar 1992 geborenen Kinder gelten. Die Zeiten
für Kindererziehung bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit
von Frauen – das gilt auch für Männer; denn auch Män-
ner nehmen Erziehungszeiten in Anspruch – müssen
besser angerechnet werden.
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen damit kurz
und bündig das Rentenkonzept der PDS dargestellt. Es
ist sozial und solidarisch. Wir wollen eine Rente von al-
len für alle. Wenn Sie unsere Empfehlungen in Ihren Ge-
setzentwurf aufnehmen würden, dann wäre das ein
Schritt zur Verbesserung Ihrer Vorschläge.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSU-
Fraktion.
Gerald Weiß (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte in meiner Rede einige Aspekte mei-
ner Vorrednerinnen und Vorredner aufnehmen. Das Ge-
setz, das wir heute behandeln, ist ein Fehlerkorrekturge-
setz von Rot-Grün. Nach Jahren der Irrungen und
Wirrungen in der Rentenpolitik, in denen wir einer Ka-
nonade von Rentengesetzen ausgesetzt waren – diese
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7297
(C)
(D)
Gerald Weiß
haben die Rentnerinnen und Rentner, die Beitragszahler
und die Steuerzahler schlechter gestellt –,
erleben wir nun den Versuch, gravierende Irrtümer zu
beseitigen. Ich gestehe Ihnen zu, dass mit dem Gesetz-
entwurf, den Sie vorgelegt haben, die Chance besteht,
dass Sie nach fünf Jahren das eine oder andere richtig
machen. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass Sie wieder
gravierende Fehler machen, ist größer.
Ich möchte mit dem Titel Ihres Gesetzentwurfs begin-
nen, Frau Schmidt. Sie nennen es Rentenversicherungs-
Nachhaltigkeitsgesetz. Da darin allerdings noch nicht
einmal eine Familienkomponente vorgesehen ist, ver-
dient es diesen Namen nicht.
Um den Generationenvertrag überhaupt fortsetzen zu
können, ist es am wichtigsten, dass es auch Folgegenera-
tionen gibt. Wenn diese partiell ausbleiben, dann liegt
das unter anderem an der unzureichenden Familienför-
derung.
Es ist zwingend notwendig, dass es für Erziehung mehr
Rente gibt und dass Erziehende niedrigere Beiträge zah-
len müssen. Jedes Nachhaltigkeitsgesetz zur Rente, das
diesem Anspruch nicht genügt, ist nichts wert.
Als weiteren Aspekt möchte ich die Riester-Rente
ansprechen; wie der Kollege Storm nenne ich sie lieber
kapitalgedeckte Förderrente. Sie wurde von Ihnen über
den grünen Klee gelobt, obwohl Sie wussten, dass Hun-
derttausende von Verträgen gekündigt wurden. Vor dem
Hintergrund des heute eingebrachten Gesetzentwurfs lo-
ben Sie nun die Entbürokratisierung der Riester-Rente,
die Sie sich vorgenommen haben. Das haben wir Ihnen
doch jahrelang vorgehalten.
Ich muss sagen: Das Risiko, dass Sie bei dieser wün-
schenswerten Entbürokratisierung der Riester-Rente
wieder auf halbem Wege stehen bleiben, ist sehr groß.
Die Kreditwirtschaft, die Fachwelt, spricht von einer rei-
nen Augenwischerei. Die Reduzierung der Zertifizie-
rungskriterien für die Riester-Rente sei lediglich eine re-
daktionelle Neustrukturierung und laufe ins Leere, sagt
der Zentrale Kreditausschuss. Das ist inhaltlich keine
wirkliche Verbesserung.
Ihr eigenes Finanzministerium hat zum Ziel, dass mit die-
sem Gesetz verfolgt wird, mit entwaffnender Offenheit
gesagt: Sachlich zusammenhängende Kriterien werden
zusammengefasst; auf Anforderungen, die an anderer
Stelle hinreichend geregelt sind, wird verzichtet. Das ist
keine Entbürokratisierung, das ist doch nur eine Verkür-
zung des Gesetzestextes.
Es reicht nicht aus, von elf auf fünf Kriterien herun-
terzugehen. Bisher haben Sie keine Vereinfachungen er-
zielt. Frau Schmidt, wenn man Ihnen etwas Positives zu-
gestehen will, dann kann man sagen, dass vielleicht eine
Vereinfachung intendiert ist.
Wir halten Ihnen noch einmal entgegen, Frau Lotz:
Wir wollen nur zwei Kriterien, nämlich Langfristigkeit
und Sicherheit; das reicht. Im Übrigen wollen wir Wahl-
freiheit, Anlagefreiheit und Entscheidungsfreiheit für
den Einzelnen, der für sein Alter vorsorgen will.
Das ist die freiheitliche Alternative.
Sie kommen von diesem Bürokratiemonstrum einfach
nicht weg.
Ich komme nun zur veränderten Rentenformel. Ihre
jetzige Konstruktion ist sehr kompliziert. Es gibt zwei
Faktoren: den weiter wirkenden Riester-Faktor und ei-
nen Rentendämpfungsfaktor. Der neue Nachhaltigkeits-
faktor, der ummodellierte blümsche Rentenfaktor, den
Sie einmal als unanständig bezeichnet und aus der Ren-
tenformel herausgeschmissen haben, soll jetzt wieder-
kehren. Welcher normale Mensch in Deutschland soll
diese komplizierte Mechanik, diese komplizierte Ren-
tenformel begreifen?
Wir werden uns die Auswirkungen der Dopplung dieser
beiden Dämpfungs- und Bremsfaktoren auf die Renten
genau anschauen. Ich bekräftige das, was der Kollege
Zöller eben gesagt hat: Nach lebenslangem Beitragszah-
len darf und kann die Rente im Alter der Sozialhilfe
nicht zum Verwechseln ähnlich sein.
Das wäre weder leistungs- noch lastengerecht.
7298 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Gerald Weiß
Wir werden an diesem Gesetzeswerk konstruktiv mit-
arbeiten. Manches hat positive Ansätze, manches führt
nicht weiter und manches führt in die Irre. Gehen wir an
die Arbeit!
Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Horst Schild, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Herr Kollege Weiß, zumindest das Letzte stimmt
versöhnlich, nämlich die Bereitschaft zur konstruktiven
Zusammenarbeit.
– Nein.
Eines lassen Sie mich aber auch einmal deutlich sa-
gen. Einen Gesetzentwurf zu diskreditieren, weil der
Zentrale Kreditausschuss an der Fassung der Zertifizie-
rungskriterien Kritik übt, ist für uns kein Maßstab. Wir
nehmen so etwas durchaus ernst und werden das auch
beachten,
aber die Kreditwirtschaft hat nun wirklich ein anderes
Interesse an der Riester-Rente als diejenigen, die im Al-
ter darauf bauen müssen, dass sie neben der gesetzlichen
Rente noch eine zusätzliche kapitalgedeckte Einkom-
mensart haben.
Das muss nicht mit den Vorstellungen des Zentralen
Kreditausschusses identisch sein; der denkt eher an die
in seinem Bereich organisierten Banken sowie Kredit-
und Investmentinstitute.
Erlauben Sie mir noch einen zweiten Hinweis. Herr
Kollege Storm, Sie haben heute – wie schon häufig in
der Vergangenheit – Ihren Beitrag wieder damit begon-
nen, die Riester-Rente zu diskreditieren.
Ich gebe zu, Herr Kollege Kolb, auch wir haben biswei-
len Erwartungen gehabt, die über das, was bislang vor-
liegt, hinausgehen; das ist völlig unbestritten. Aber zu
sagen, es sei kein wesentlicher Schritt nach vorn, wenn
vier bis fünf Millionen Verträge im Bereich der privaten
Altersvorsorge abgeschlossen worden sind,
ist doch eine Diskreditierung der von uns allen gemein-
sam eingeschlagenen Richtung.
Man muss zur Kenntnis nehmen, dass die Riester-
Rente ein völlig neues Produkt gewesen ist. Sich für die
Riester-Rente zu entscheiden setzt die Entscheidung vor-
aus, sich für viele Jahre zu binden. Viele Menschen in
diesem Lande sind aber schon in der Vergangenheit im
Bereich der Vermögensbildung und im Bereich der Im-
mobilien Bindungen eingegangen. Man muss also in
Kauf nehmen, dass es vielleicht einige Jahre dauert, bis
die Riester-Rente einen wesentlich höheren Anteil von
Menschen in diesem Lande erreicht als bisher.
Es hilft den Menschen nicht, wenn Sie diese Form der
privaten Altersvorsorge weiterhin diskreditieren;
denn damit treffen Sie nicht in erster Linie uns, sondern
Sie verunsichern Millionen von Menschen, die vor der
Frage stehen, ob sie private Altersvorsorge betreiben
und sich engagieren sollen.
Wir haben Verständnis dafür gehabt, dass Sie damals vor
der Bundestagswahl gesagt haben: Wenn wir an die Re-
gierung kommen, werden wir das alles ändern. Nun sind
Sie nicht an die Regierung gekommen. Ich hoffe, Sie
sind jetzt bereit, in dieser Frage konstruktiv mit uns zu-
sammenzuarbeiten.
Lassen Sie mich noch kurz darauf eingehen, was wir
mit dem Alterseinkünftegesetz erreichen wollen. Wir
wollen die Einführung der nachgelagerten Besteue-
rung, und zwar für nahezu alle Alterseinkünfte. In die-
sem Punkt waren wir uns in der Vergangenheit weitest-
gehend einig. Ich hoffe, dass wir im Laufe des
Gesetzgebungsverfahrens feststellen, dass das auch trag-
fähig ist; denn wir wollen das gerne gemeinsam machen
und wir müssen das gemeinsam machen. Das ist auch im
Interesse der Menschen, die sich darauf verlassen kön-
nen müssen, wenn sie zukünftig privat und betrieblich
vorsorgen.
Damit bin ich beim zweiten Punkt. Wir wollen die be-
triebliche Altersvorsorge stärken. Die betriebliche Al-
tersvorsorge ist seit der Verabschiedung des Altersver-
mögensgesetzes eine Erfolgsstory; das ist unbestritten.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik ist so
viel für die betriebliche Altersvorsorge getan worden
wie seit der Verabschiedung des Altersvermögensgeset-
zes.
– Die betriebliche Altersvorsorge, Herr Kolb, ist doch
nun wirklich nachvollziehbar und auch relativ einfach.
Wir haben im Übrigen nur zusätzliche Vereinfachungen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7299
(C)
(D)
Horst Schild
in die betriebliche Altersvorsorge hineingebracht, keine
Erschwernisse.
– Das will nichts heißen, das ist so. Sie sollten das ein-
mal zur Kenntnis nehmen.
Über die Vereinfachung der Förderung der privaten
Altersvorsorge haben wir gesprochen. Wir gehen im
Übrigen – lassen Sie mich das deutlich sagen – weit über
das hinaus, was uns das Bundesverfassungsgericht am
6. März letzten Jahres auferlegt hat.
Wir alle haben uns – das darf man zugestehen – in der
Vergangenheit schwer getan. Wir wussten seit dem ers-
ten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu diesem
Thema im Jahre 1980, dass der Gesetzgeber handeln
muss.
Wir alle haben uns davor gedrückt.
Man darf der Fairness halber sagen: Auch die CDU/CSU
hat in ihren Petersberger Beschlüssen einen Versuch ge-
startet, in die 50-prozentige Besteuerung einzusteigen.
Das mag vielleicht – das sage ich in aller Deutlichkeit –
vor Jahren noch gereicht haben, um den Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts Rechnung zu tragen.
Heute aber würde das nicht mehr ausreichen, um dem
Buchstaben des Urteils Rechnung zu tragen.
Wir gehen also deutlich weiter. Wir wollen im Zuge
des Verfahrens – wir gehen davon aus, dass dieser Ge-
setzentwurf das hergibt – den Anforderungen des Bun-
desverfassungsgerichts Rechnung tragen. Herr Kollege
Pinkwart, Sie haben vorhin gesagt, man dürfe Gleiches
nicht mit Ungleichem vergleichen. Ich rate Ihnen:
Schauen Sie sich das Urteil noch einmal an! Da Sie Ju-
rist sind und davon mehr verstehen als ich, werden Sie
erkennen: Das Bundesverfassungsgericht hat auf die
Einkünfte im Alter und das Prinzip der Leistungsfähig-
keit abgehoben. Natürlich müssen wir berücksichtigen,
dass die Doppelbesteuerung, die uns das Bundesverfas-
sungsgericht mit Recht untersagt, vermieden wird. Das
greifen wir gerne auf. Im Zuge des weiteren Verfahrens
werden wir dieses Ziel im Auge behalten. Ich gehe da-
von aus, dass dies ein zentraler Gegenstand der öffent-
lichen Anhörung sein wird.
Hier sind Forderungen erhoben worden, man möge
dieses und jenes noch einbeziehen. Dafür haben wir Ver-
ständnis. Aber das Bundesverfassungsgericht hat uns
auch vor dem Hintergrund der finanziellen Auswirkun-
gen auf den Haushalt ausdrücklich zugestanden, die
Übergangsregelung langfristig über mindestens eine Ge-
neration Schritt für Schritt umzusetzen. Jeder, der hier in
Berlin oder in einem Land Verantwortung trägt, wird
darauf achten müssen. Bei der Frage der steuerlichen
Behandlung von Alterseinkünften haben wir eine Rege-
lung gefunden, die dem Einkommensteuerrecht folgt. Je-
der Euro, der dafür zusätzlich ausgegeben werden muss,
muss von den Ländern und Kommunen mitgetragen
werden.
Ich will eines deutlich machen: Die damalige Präsi-
dentin des Bundesverfassungsgerichts, Frau Limbach,
hat seinerzeit ausdrücklich darauf hingewiesen, dass für
Rentner kein Anlass zu Angst oder Aufruhr bestehe.
Niedrige und mittlere Renten würden auch zukünftig
nicht belastet. Das gilt auch für unseren Gesetzentwurf.
Bestandsrenten und Neufälle im Jahr 2005 – Frau Staats-
sekretärin hat dies vorhin schon angesprochen – sind bis
zu einer Größenordnung von 19 000 Euro bei Alleinste-
henden und von 38 000 Euro bei Verheirateten steuer-
frei. Das heißt, Durchschnittsrenten, zu denen noch
durchschnittliche Betriebsrenten hinzukommen, bleiben
auch zukünftig steuerfrei.
Ich hoffe, dass wir uns im Laufe des Verfahrens – aus
Ihren Reihen gibt es einige positive Signale; das verken-
nen wir nicht – darauf einigen, zum 1. Januar 2005 eine
den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht-
werdende Lösung zu finden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Über die andauernde Rentendiskussion sind
die Menschen zutiefst beunruhigt. Sie fragen sich nicht
nur: Wie sicher ist meine Rente? Sie wollen auch wis-
sen: Was bleibt in Zukunft nach Abzug der Steuern noch
übrig? Diese Rentendiskussion verfolgen viele Men-
schen – nicht nur Rentner –, auch sehr viele junge Leute.
Sie fragen sich: Was kann ich heute für meine zukünftige
Rente zurücklegen, und zwar steuerfrei? Auf der ande-
ren Seite will natürlich jeder wissen: Was bleibt mir
netto von der Altersrente übrig?
Das Interesse ist deshalb so hoch, weil nach dem
vorliegenden Gesetzentwurf – Frau Bender hat darauf
hingewiesen – in Zukunft immerhin zusätzlich 1,3 Mil-
lionen Menschen Steuern zahlen müssen. Sie haben
allerdings nicht erwähnt, Frau Bender, dass danach
2 Millionen Rentner mehr Steuern als bisher zahlen
müssen. Das sollten Sie den Bürgern deutlich machen.
Sie haben heute ein neues Besteuerungskonzept für
die Rente vorgelegt. Allerdings ist Ihr Entwurf nicht
7300 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Klaus-Peter Flosbach
geeignet, um den Bürgern klar, transparent und verständ-
lich aufzuzeigen, was auf sie zukommt.
Gerade für die Rentner ist die Rentenhöhe und die steu-
erliche Verlässlichkeit besonders wichtig. Aus Gründen
des Vertrauensschutzes können im Bereich der Alterver-
sorgung nicht ständig beliebig neue Änderungen einge-
führt werden, wie Sie es bei der Riester-Rente gemacht
haben.
Wir können uns kein zweites Riester-Modell mehr
leisten. Von dem ersten Modell sind die Menschen zu-
tiefst enttäuscht.
Herr Schild, die jetzt vorliegenden Änderungen der
Riester-Rente beweisen doch, dass Ihr Modell restlos
misslungen ist. Auf der ersten Seite Ihrer Begründung
schreiben Sie, Sie wollten das Riester-Modell noch un-
bürokratischer machen.
Das heißt, es wäre vorher unbürokratisch gewesen. Sie
folgen nicht einmal Ihrer eigenen Rürup-Kommission,
die deutlich gemacht hat, dass alle einbezogen werden
müssten, auch die Selbstständigen und die Landwirte,
um die Abgrenzungsschwierigkeiten zu vermeiden.
Nehmen Sie doch diese Vorschläge auf! Wir alle wissen
doch, dass die Riester-Rente ein bürokratisches Mons-
trum ist.
Sie wollen allen eine zusätzliche Altersversorgung als
Ersatz für die zurückgehende Rente anbieten. Von
35 Millionen möglichen Fällen sind nur in 5 Millionen
Fällen Rentenverträge abgeschlossen worden. Das be-
weist doch, dass das Ganze bürokratisch ist.
Warum haben Sie dieses Gesetz vorgelegt? Das Bun-
desverfassungsgericht hat am 6. März 2002 die Besteue-
rung von Beamtenpensionen und Renten aus der gesetz-
lichen Rentenversicherung für verfassungswidrig
erklärt. Wir wissen auch, dass diese Neuordnung zum
1. Januar 2005 notwendig ist. Wir bieten Ihnen eine Zu-
sammenarbeit an, weil der Bundesrat ohnehin zustim-
men muss.
Die nachgelagerte Besteuerung von Renten ist sys-
tematisch und richtig. Es ist ein vernünftiger Grundsatz,
dass alle Einkünfte nur einmal versteuert werden müs-
sen. Diese nachgelagerte Besteuerung wird also auch
von uns unterstützt, vorausgesetzt, dass auf der Gegen-
seite die Beiträge für die Altersversorgung nicht aus be-
reits versteuertem Einkommen bezahlt werden müssen.
Herr Professor Pinkwart, Sie haben bereits darauf hinge-
wiesen.
Da ist das erste Problem. Ab 2005 sollen alle Be-
stands- und Neurenten zu 50 Prozent der Besteuerung
unterworfen werden. Das gilt für alle Rentner, auch für
Selbstständige.
Anschließend steigt die Besteuerung, bis sie in 15 Jahren
80 Prozent erreicht hat. Die Begründung, dass 50 Pro-
zent der Beiträge durch den steuerfreien Arbeitgeberan-
teil finanziert worden seien, mag richtig sein. Das trifft
für Angestellte zu. Aber bei den so genannten freiwillig
Pflichtversicherten oder bei denjenigen, die in einem
Versorgungswerk sind, trifft dies schon nicht mehr zu.
Denn die geringen Abzugsmöglichkeiten sind in der Re-
gel bereits durch Krankenversicherungsbeiträge, Pflege-
versicherungsbeiträge, Unfallversicherungsbeiträge und
Haftpflichtversicherungsbeiträge aufgezehrt. So sind die
Altersvorsorgebeiträge aus bereits versteuertem Ein-
kommen bezahlt worden.
Wenn das zutrifft – wir wollen das noch prüfen –,
dann handelt es sich um eine Doppelbesteuerung. Dies
verstößt gegen den vom Bundesverfassungsgericht auf-
gestellten Grundsatz des Verbotes einer Zweifachbesteu-
erung. Wenn das also zutrifft, fangen wir wieder von
vorne an. Kurios ist zudem, dass man durch die Steige-
rung der Besteuerung der Renten besser dran ist, je frü-
her man in Rente geht. Bei der Besteuerung des Ertrags-
anteils war es so, dass man umso weniger Steuern zahlt,
je später man in Rente geht. Beim neuen System wird es
so sein, dass man umso weniger Steuern zahlt, je früher
man in Rente geht.
Auch auf der Beitragsseite sollten wir einmal genau
hinsehen, was zukünftig als Vorsorgeaufwendungen
abziehbar ist. Hier ist eine Staffelung mit anfangs
60 Prozent Abzugsbeträgen vorgesehen. Auch wir sind
der Meinung – Sie haben das Merz-Konzept angespro-
chen –, dass ein laufendes Einkommen im Rentenalter
die Grundlage des steuerlichen Abzugs von Vorsor-
geaufwendungen sein muss. Sie ist die Grundlage, aber
sie ist nicht alles. Das Problem bei Ihrem Konzept ist,
dass Sie überhaupt nur drei Wahlmöglichkeiten eröffnen.
Sie haben erstens die gesetzliche Rentenversicherung,
zweitens das Versorgungswerk bei den freien Berufen
und als dritte Säule bieten Sie die neu zu entwickelnde
private Leibrentenversicherung auf Kapitalbasis an.
– Ich komme noch darauf.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7301
(C)
(D)
Klaus-Peter Flosbach
Dieses neue Angebot an die Bürger ist nicht vererb-
bar, nicht beleihbar, nicht veräußerbar, nicht übertragbar,
nicht vorzeitig auszahlbar und nicht kapitalisierbar.
Die Anforderungen übertreffen die Bedingungen der
Riester-Rente deutlich hinsichtlich der Strenge und der
Regelungsdichte. Glauben Sie ernsthaft, dass Sie bei den
Bürgern Begeisterungsstürme ernten werden und dass
Sie die Menschen ermutigen können, für das Alter vor-
zusorgen, wenn diese sechs Nein demnächst von den
Plakatsäulen auf die Menschen einstürzen? Die Men-
schen fühlen sich in ihrem Eigentum bedroht, weil es
eingeengt wird.
Wir sollten uns genau ansehen, was Vorsorgeprodukte
sind und was der Finanzmarkt bieten kann. Im Finanz-
ausschuss – Herr Schild ist Mitglied – diskutieren wir
derzeit darüber, welche Möglichkeiten der Finanzmarkt
hergibt, die bedürfnisgerecht sind und vom Verbraucher
akzeptiert werden. Ich möchte einige Beispiele nennen:
Erstens. Warum dürfen eigentlich Spar- und Fonds-
produkte nicht als Vorsorgeprodukte anerkannt werden
– bei der Riester-Rente ist das der Fall –, wenn die Aus-
zahlung frühestens zum 60. Lebensjahr erfolgt und eine
laufende Auszahlung bis zum 85. Lebensjahr garantiert
wird. Darüber sollten wir nachdenken. Bei der Riester-
Rente ist sogar eine 30-prozentige Kapitalauszahlung
möglich. Den anderen Privatvorsorgern verwehren wir
das.
Zweitens. In der betrieblichen Altersvorsorge folgen
Sie nicht den Vorschlägen von Herrn Rürup. Die Lohn-
steuerpauschalierung in der Direktversicherung wurde
aufgehoben. Sowohl Herr Rürup als auch die Arbeitsge-
meinschaft für betriebliche Altersversorgung sagt deut-
lich: Da die betrieblichen Direktversicherungen dem-
nächst versteuert werden, müssen die Beträge
angehoben und höhere Vorsorgemöglichkeiten im Be-
reich der betrieblichen Altersversorgung erlaubt werden.
Drittens. Es gibt eine Vielzahl von privaten Leibren-
tenversicherungen – das bedeutet eine Vielzahl unter-
schiedlicher Möglichkeiten –, die eine lebenslange
Rente garantieren, die aber auch vererbbar sein können.
Tritt der Todesfall kurz nach Beginn der Auszahlung der
Leibrente ein, kann ein größerer Teil des Kapitals an die
Hinterbliebenen ausgeschüttet werden. Warum verbauen
wir den Menschen die Möglichkeiten? Ein Single hat
ganz andere Interessen als ein Familienverbund. Ein Fa-
milienverbund denkt natürlich an die Vererbung.
Viertens. Rot-Grün will die Erträge aus ab 2005 neu ab-
geschlossenen Verträgen über eine Kapitalversicherung
oder eine fondsgebundene Lebensversicherung voll
steuerpflichtig machen. Kursgewinne aus Einzelpapie-
ren oder Fonds sind hingegen nach einem Jahr steuerfrei.
Das heißt, wenn jemand im Rahmen eines Versiche-
rungsvertrages langfristig für das Alter vorsorgt, ist der
Ertrag voll steuerpflichtig, während der einzelne Kapi-
talanleger steuerfrei gestellt wird. Wir sollten darüber
nachdenken, ob das der richtige Weg ist. Das ist syste-
matisch falsch.
Wir werfen Ihnen vor, dass Sie immer wieder unsys-
tematische Einzelfallentscheidungen treffen, anstatt das
große und wichtige Thema der Altersversorgung in eine
Neuordnung des gesamten Steuersystems, wie es zum
Beispiel Friedrich Merz vorsieht, einzubetten.
Zumindest sollten Sie diesen Komplex in die Besteue-
rung der Zinsgewinne, der Dividenden und der Veräuße-
rungsgewinne einbetten.
Ihr Gesetzentwurf hat einen weiteren Mangel, der
sich wie ein rot-grüner Faden durch alle Steuergesetze
dieses Jahres zieht. Sie peitschen das Gesetz – die
Drucksache stammt vom 9. Dezember – mit hohem
Tempo ohne ausreichende Beratung durch. Der Deut-
sche Steuerberaterverband schreibt in seiner ersten
Stellungnahme vom 13. November 2003 an das Finanz-
ministerium:
Aufseiten der Verbände kann man sich, bedingt
durch die Kürze der eingeräumten Fristen,
– neun Tage –
nicht immer des Eindrucks erwehren, dass eine
Stellungnahme der entsprechenden Verbände in
Wirklichkeit gar nicht gewollt ist.
Der Zentrale Kreditausschuss spricht von einer unge-
wöhnlichen Kürze der Konsultationsfrist, die nicht der
Bedeutung des Gesetzesvorhabens gerecht wird.
– Ja, die Anhörung kommt. Das alles wird aber innerhalb
von zwei Monaten nach der Weihnachtspause durchge-
zogen.
Die Union bietet Ihnen eine konstruktive Zusammen-
arbeit an, damit über dieses Thema im Bundestag ent-
schieden wird und wir uns damit nicht erneut lange im
Vermittlungsausschuss beschäftigen müssen.
Ziel der Steuergesetzgebung ist es unseres Erachtens,
die Bürger verstärkt zu eigenen Vorsorgeanstrengungen
zu bewegen. Hierfür ist es erforderlich, einfache und
klare gesetzliche Regelungen zu finden. Diese müssen
von den Bürgern verstanden und akzeptiert werden, da-
mit es auch zum gewünschten Verhalten, zur Eigenvor-
sorge, kommt. Ihr Gesetzentwurf erfüllt diesen An-
spruch nicht.
Ich danke Ihnen.
7302 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 15/2149 und 15/2150 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/2150 soll zu-
sätzlich an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, den
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft sowie an den Haushaltsausschuss gemäß § 96
der Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Peter Paziorek, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef
Laumann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Zukunftsorientierte und effiziente Gestaltung
der Novelle des Erneuerbare-Energien-Geset-
zes
– Drucksache 15/818 –
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nung
Technikfolgenabschätzung
hier: Monitoring – „Möglichkeiten geothermi-
scher Stromerzeugung in Deutschland“
– Drucksache 15/1835 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Professor Rolf Bietmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Energiepolitik und ihre Bedeutung für die
Bürgerinnen und Bürger rückt angesichts einer Vielzahl
ungelöster Probleme zunehmend in den Blickpunkt der
deutschen Öffentlichkeit. In dieser Woche berichteten
die Medien von der lebhaften Kritik der Verbraucher-
schützer an zu hohen Stromrechnungen. Beklagt wird,
dass die Privathaushalte in den vergangenen fünf Jahren
von der Liberalisierung des Marktes kaum profitiert hät-
ten. Auch die Wirtschaft beklagt, dass die Wettbewerbs-
fähigkeit der deutschen Unternehmen durch den im
internationalen Vergleich hohen Energiepreisfaktor ne-
gativ tangiert wird.
Zudem wird deutlich, dass die Energiepolitik ein zentra-
ler Baustein unserer Volkswirtschaft ist und dass die
Energiewirtschaft in all ihren Facetten zu den deutschen
Schlüsselindustrien zählt. Vor diesem Hintergrund er-
weist sich das Fehlen eines energiepolitischen Gesamt-
konzepts als hochschädlich für die weitere Entwicklung
unseres Landes.
Die rot-grüne Bundesregierung hat es nicht geschafft,
die Energieversorgung künftiger Generationen durch
eine schlüssige Energiepolitik unter gleichzeitiger Be-
rücksichtigung ökologischer Ziele und wirtschaftlichen
Wachstums darzustellen.
Im Gegenteil: Die Zweiteilung der energiepolitischen
Kompetenzen im Wirtschafts- und Umweltministerium
führt nicht zu einer besseren Abstimmung der energiepo-
litischen Notwendigkeiten; vielmehr verfestigt sie die
scheinbar unüberbrückbaren Gegensätze in der rot-grü-
nen Koalition über die Zukunft des Energiestandortes
Deutschland.
Ohne klare Rahmenbedingungen wird die Energiepo-
litik in Deutschland zum Spielball unterschiedlicher
Lobbyinteressen. Die Zeche hierfür zahlen die Verbrau-
cher. Es steht unbestreitbar fest, dass der reine Strompro-
duktionspreis für einen Musterhaushalt heute um ein
Fünftel unter dem Wert von 1998 liegt. Tatsächlich zahlt
der Haushalt aber wieder den Strompreis, der vor fünf
Jahren gezahlt werden musste, weil die Vorteile von Li-
beralisierung und Wettbewerb in der Stromproduktion
durch eine Vielzahl staatlicher Sonderlasten aufgesaugt
wurden. So kann es in Deutschland nicht weitergehen!
Wir brauchen eine klare Definition eines ausgewoge-
nen Energieträgermixes für die Zukunft. Dabei wissen
wir, dass durch die Ausstiegsvereinbarung in Sachen
Kernenergie erhebliche Probleme bei der Sicherstellung
der Stromversorgung auf uns zukommen werden.
Wir wissen auch, dass die deutsche Energiewirtschaft
Planungssicherheit für die zwischen 2010 und 2020 an-
stehende Erneuerung des Kraftwerkparks benötigt und
dass wir im Klimaschutz vor einer großen Aufgabe ste-
hen. Denn bezogen auf das Jahr 1990 hat sich Deutsch-
land verpflichtet, seine CO2-Emissionen bis 2010 um25 Prozent zu reduzieren.
Wir brauchen mithin ein Gesamtkonzept mit einem
gleichgewichtigen Verhältnis von Versorgungssicherheit,
Ökologie und Ökonomie. Ein unverzichtbarer Bestand-
teil dieses ausgewogenen Energieträgermixes sind für
die CDU/CSU die erneuerbaren Energien.
Ihnen fällt eine Schlüsselfunktion in der Klimaschutzpo-
litik zu. Die europäische Richtlinie zur Stromerzeugung
aus erneuerbaren Energiequellen sieht eine Verdoppe-
lung des Anteils erneuerbarer Energien am EU-Energie-
verbrauch bis 2010 vor. Für Deutschland wird in der
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7303
(C)
(D)
Dr. Rolf Bietmann
Richtlinie eine Steigerung auf 12,5 Prozent angestrebt.
Dies entspricht fast einer Verdoppelung im Vergleich
zum Jahr 2000. Ich sage es noch einmal: Die Union be-
kennt sich aus klimapolitischer Verantwortung, aber
auch aus wirtschaftlicher Vernunft – mit Blick auf den
volkswirtschaftlich notwendigen Energiemix – zu die-
sem Ziel der EU-Vorgabe.
Trotz der klaren Vorgaben der EU liegt bis heute noch
immer kein Entwurf eines Gesetzes zur Novellierung des
EEG vor.
Allerdings ist der kurzfristig am Mittwoch eingegange-
nen Antwort der Bundesregierung auf die Große An-
frage der CDU/CSU-Fraktion zur Novellierung des EEG
zu entnehmen, dass ein Kabinettsentwurf noch im De-
zember beschlossen werden soll. Bekannt ist der Ent-
wurf aber bis heute nicht.
Entsprechend zögerlich erfolgte die Antwort auf un-
sere Große Anfrage. Nach sage und schreibe acht Mona-
ten Bearbeitungszeit ist nun vor zwei Tagen eine Ant-
wort vorgelegt worden. Selbst wenn man trotz der Kürze
der Zeit auf die Antwort eingehen wollte, wäre dies nicht
möglich, weil Fragen vielfach offen geblieben sind oder
mit dem Verweis auf weiterführende Informationen be-
antwortet werden, die sich aus einem Kabinettsentwurf
ergeben sollen. Erstaunlich für den Leser ist aber, dass es
noch gar kein Kabinettsentwurf zum EEG gibt. Freilich
mag die Bundesregierung über einen Entwurf verfügen.
Aber der Deutsche Bundestag verfügt über keine Vorla-
gen. So könnte man noch lange über den Status des Ent-
wurfs eines Entwurfs oder der Vorlage eines Entwurfs
oder des Entwurfs einer Vorlage philosophieren, wenn
das Thema nicht so ernst wäre. Die Bundesregierung hat
die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU durch
den Verweis auf nicht bekannte und nicht abgestimmte
Kabinettsentwürfe zielgerichtet unvollständig beantwor-
tet.
Dies stellt eine Missachtung der Rechte des deutschen
Parlaments dar.
Über die Inhalte unserer Fragen und der unbedingt er-
forderlichen Antworten muss in diesem Haus gespro-
chen werden. Die Entwicklung ist zu wichtig, als dass
sie zum Spielball von Taktierereien verkommen darf.
Wie groß das Chaos innerhalb der Koalition sein muss, do-
kumentiert beispielhaft die Beantwortung der Frage 6, bei
der es um die Abschätzung der finanziellen Auswirkun-
gen der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien
geht. Hingewiesen wird in der Anwort der Bundesregie-
rung auf eine Internetadresse, bei der man – angeblich –
die entsprechenden Zahlen abrufen kann. Geht man auf
die angegebene Internetseite, dann stellt man mit Erstau-
nen fest, dass die von uns angefragten und in der Ant-
wort zitierten Zahlen überhaupt nicht eingestellt sind.
Diese Antwort dokumentiert doch nachdrücklich, wie
schlampig das BMU mit einem der wichtigsten energie-
und klimaschutzpolitischen Themen in diesem Lande
umgeht.
Der BMU hat im Sommer dieses Jahres einen ersten
Referentenentwurf zum EEG präsentiert. Nach einem
halben Jahr Zeitverzug soll der Kabinettsentwurf kom-
men. Aber auch den kennen wir nicht. Wertvolle Zeit für
die Optimierung des Klimaschutzes in Deutschland wird
von Rot-Grün vertan, weil die Bundesregierung weder
über Ziele noch über Inhalte ihrer Energiepolitik Einver-
nehmen herstellen kann.
Ich denke, die Diskussion über die Photovoltaik hat uns
allen gezeigt, wohin das führt. Flickschusterei kann ge-
zielte Politik nicht ersetzen; denn hierdurch wird Unsi-
cherheit bei den Unternehmern und insbesondere bei den
Investoren im Bereich der erneuerbaren Energien er-
zeugt. Das ist für diese Gruppen schier unerträglich.
Mit der Zustimmung zur Förderung der Photovoltaik
haben wir, die CDU/CSU, dokumentiert, dass wir bei
den verschiedenen erneuerbaren Energien keine Präfe-
renzen sehen. Alle stehen zu gleichen Bedingungen am
Start. Wichtig ist aber, dass erneuerbare Energien nur
dann eine Zukunft haben, wenn sie zumindest mittelfris-
tig mit den konventionellen Energien konkurrieren kön-
nen. Anderenfalls werden sie sich am Markt nicht durch-
setzen können. Deshalb fordert die Union seit langem,
dass die bisherige Überförderung der Windkraft vor al-
lem an windschwachen Standorten, die letztlich nie
marktwirtschaftlich arbeiten können, aufgegeben wer-
den muss.
Stattdessen ist eine zielgerichtete Förderung der Wind-
kraft überall dort zu begrüßen, wo infolge der Windstan-
dards und der Ausbausituation Wettbewerbsfähigkeit zu-
mindest annähernd erreicht werden kann. Wir werden
den von Ihnen angekündigten Kabinettsentwurf dahin
gehend prüfen, ob er diesem Ziel gerecht wird.
Trotz aller Kritik muss man bei den mit den erneuer-
baren Energien verbundenen Chancen ansetzen. Hierzu
gehört für uns insbesondere die Bioenergie. Sie verfügt
über ein großes, noch ungenutztes Potenzial und zeich-
net sich durch Grundlastfähigkeit und Vermeidung von
Konflikten mit dem Natur- und Landschaftsschutz aus.
Darum tritt die Union für den weiteren Ausbau der Bio-
energie und der Biomasse entschieden ein.
Wir fordern die Bundesregierung auf, im Rahmen der
Novellierung des EEG eine Förderung der Bioenergie,
insbesondere wenn sie in kleineren Anlagen erzeugt
wird, angemessen zu berücksichtigen.
7304 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Dr. Rolf Bietmann
Eine weitere zentrale Frage der Novellierung ist der-
zeit ungeklärt: Rot-Grün bleibt die Antwort schuldig,
wie die durch das EEG verursachten Netzausbau- und
Regelenergiekosten verursachungsgemäß zugerechnet
werden können; denn die durch Windkraft gewonnene
Energie steht weder kontinuierlich noch bedarfsabhän-
gig zur Verfügung. In windstarken Zeiten stößt die
Netzinfrastruktur an Grenzen, während in windschwa-
chen Zeiten die Regelenergie hinzugefügt werden muss.
Ein weiterer Ausbau der Windkraft an windstarken
Standorten zieht einen weiteren Ausbau des Netzes
zwangsläufig nach sich.
Die verursachergerechte Klärung des Problems „Netz-
ausbau- und Regelenergiekosten“ muss aus Sicht der
Union in der Novellierung des EEG zum Ausdruck ge-
bracht werden. Die im Kabinettsentwurf vorgesehene
Regelung bleibt abzuwarten, nachdem die Antwort auf
unsere Große Anfrage unergiebig war; gerade mit den
sich aus der Förderung erneuerbarer Energien ergeben-
den Kosten muss mit sehr viel Sorgfalt umgegangen
werden. Auch wer zum Ausbau erneuerbarer Energien Ja
sagt, kann nicht wollen, dass sie dauerhaft an einem Sub-
ventionstropf der privaten und der öffentlichen Haus-
halte hängen. Der Kohlepfennig darf nicht durch Wind-
groschen ergänzt werden.
Ich komme zum Schluss. Die Union steht für den ver-
antwortbaren Umgang mit erneuerbaren Energien als
Bestandteil eines ausgewogenen Energiemix. Wir brin-
gen Klimaschutz und wirtschaftliche Auswirkungen zu
einem vernünftigen Konsens. Rot-Grün schafft dies er-
kennbar nicht. Auch darum brauchen wir eine andere
Politik für Deutschland.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Scheer.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Egal wo wir hinschauen, stellen wir fest: Die Energie-
debatte ist in ganz starkem Maße von den bisherigen
Strukturen der Energieversorgung geprägt. Sie ist da-
mit äußerst vergangenheitsorientiert. Gewollt oder unge-
wollt, prallen immer wieder Argumente aufeinander, die
– auch wenn es vielen nicht bewusst ist – im Grunde ge-
nommen in eine Kategorie der Planwirtschaft gehören.
Dies ergibt sich aus Begriffen wie „Planungssicherheit“
– man tut so, als könnte in einer Marktwirtschaft irgend-
jemandem für 30 oder 40 Jahre Planungssicherheit ge-
geben werden – und „energiepolitisches Gesamtkon-
zept“ – nach einem solchen Konzept wird gerufen –, als
wäre es möglich, die verschiedenen Energieoptionen im
Hinblick auf mehrere Jahrzehnte ganz genau zu sortie-
ren.
Dieses – heimlich oder offen praktizierte – planwirt-
schaftliche Denken findet vor einem Hintergrund statt,
der damit im Zusammenhang steht, dass Energie für
jede Gesellschaft ein strategisches Gut ist; ohne Ener-
gie geht nichts. Ausreichend Energie ist damit Voraus-
setzung für alles. Auch wenn man es häufig nicht zugibt:
Außer der Frage von Krieg und Frieden hat die Energie-
frage den höchsten politischen Stellenwert. Sie ver-
mischt sich zunehmend mit der Frage von Krieg und
Frieden – aktuelle Entwicklungen zeigen das –, insbe-
sondere angesichts der Erschöpfung der flüssigen Erdöl-
vorkommen.
Insofern stehen wir vor einer unglaublichen Heraus-
forderung: Wir stehen vor der Notwendigkeit einer glo-
balen Transformation des gesamten Energiesystems
aufgrund von zwei nicht zu leugnenden Grenzen des
heutigen atomar-fossilen Energiesystems, ob in Deutsch-
land oder woanders.
Eine Grenze liegt darin, dass diese Herkunftspoten-
ziale, die Primärenergien, erschöpflich sind, wann im-
mer das der Fall sein wird, wahrscheinlich früher, als die
meisten denken, wenn man nicht auch noch die Ozean-
gründe und andere Vorkommen aufmachen will, Ölsände
und Ölschiefer fördern will, was aber die Umweltbelas-
tungen, die ohnehin groß genug sind, dramatisch erhö-
hen würde. Selbst wenn es noch genug Ressourcen gäbe,
so würde uns das überhaupt nicht helfen, weil die Be-
lastbarkeit der Ökosphäre schon längst überschritten
ist.
Wir müssen also vor der Erschöpfung der heute be-
kannten atomar-fossilen Energiepotenziale eine Alter-
native realisiert haben. Diese Alternative kann nur die
Umorientierung der gesamten Energieversorgung, natio-
nal wie global, auf erneuerbare Enrgien sein.
Das ist die Schlüsselfrage, vor der wir alle stehen, eine
Frage, die vor 20, 30 Jahren noch fast völlig ignoriert
wurde, die aber mehr und mehr in die Diskussion kommt
und die noch viel weiter in die Diskussion kommen
muss. Dazu müssen wir alle unseren Beitrag leisten.
Dazu wird und muss es auch Lernprozesse der unter-
schiedlichen Akteure geben, von der Politik bis zur Wis-
senschaft und natürlich auch zur Wirtschaft, zu unter-
schiedlichen Zeiten, zeitverschoben also.
Insofern müssen wir gewärtigen, dass wir hier vor
dem größten Strukturwandel in der Wirtschaftsge-
schichte seit Beginn des Industriezeitalters stehen. Das
Industriezeitalter ist in den letzten 200 Jahren über-
haupt nicht vom Aufbau der fossilen und dann der ato-
maren Energiewirtschaft zu trennen. In allen Ländern
besteht natürlich eine engste Verwobenheit politischer
Institutionen und Akteure mit der herkömmlichen Ener-
giewirtschaft.
Diese herkömmliche Energiewirtschaft wird nicht
und kann nicht, jedenfalls nicht allein, Träger der künfti-
gen Energieversorgung sein. Vielen ist nicht bewusst,
dass ein Energiesystem, das wir uns schaffen, technisch
wie politisch und wirtschaftlich, zwangsläufig dem
Energiefluss, den Energiequellen folgen muss, die wir
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7305
(C)
(D)
Dr. Hermann Scheer
bereitstellen, von der Förderung bis zum Endverbrauch.
Wenn es bei erneuerbaren Energien völlig andere Ener-
gieflüsse gibt, dann brauchen wir andere Techniken, an-
dere Unternehmensformen, andere Infrastrukturen, Gott
sei Dank teilweise gar keine Infrastrukturen; da denke
ich an die Dimension des solaren Bauens. Damit kom-
men auch andere wirtschaftliche Träger in Betracht. Das
zu begreifen heißt, den Strukturwandel zu begreifen, vor
dem wir stehen.
Die erste Schlussfolgerung für die gesamte Energie-
debatte ist: Wir können nicht nur in dem bisherigen en-
gen Rahmen der Energiewirtschaft denken, wenn es um
die energiepolitischen Akteure der Zukunft geht. Wir
brauchen sehr viel mehr Akteure, auch solche, die freier
sind von Rücksichtnahmen auf die herkömmlichen Inte-
ressen, um diesen Strukturwandel tatsächlich realisieren
zu können und aus einer strukturkonservativen Selbst-
fesselung herauszukommen.
Dazu bedarf es der Überwindung einer mentalen
Sperre. Diese mentale Sperre ist in dem Mythos der Un-
verzichtbarkeit der atomar-fossilen Energiepotenziale
begründet, der wie ein Gespenst die energiepolitische
Diskussion, auch in großen Teilen der Energiewissen-
schaft, durchzieht und die energiepolitischen Debatten
natürlich dominiert. Der Mythos der Unverzichtbarkeit
eines begrenzten und damit gleichzeitig erschöpflichen
atomar-fossilen Energiepotenzials ist eine Absurdität in
sich selbst. Das Potenzial der erneuerbaren Energien,
die uns direkt als Solarstrahlung oder als Derivate dieser
Solarstrahlung in Form der anderen erneuerbaren Ener-
gien, als natürliche Umgebungsenergie täglich 15 000-
mal mehr Energie anbieten, als an atomar-fossilen Ener-
gien überhaupt konsumiert wird, wird unterschätzt. Dies
zeigt, dass im Grunde genommen eine Energielüge in
den Köpfen ist, die viele daran hindert, zu erkennen,
dass es tatsächlich möglich ist, die komplette Energie-
versorgung der gesamten Menschheit auf erneuerbare
Energien umzustellen, was wegen des Mythos der Un-
verzichtbarkeit immer noch bestritten wird. Erst wenn
wir das erkennen, haben wir überhaupt die Chance, alle
Zukunftsdimensionen offensiv und aufmerksam in den
Blick zu nehmen und praktisch und kreativ umzusetzen.
– Ich möchte Ihnen einige Zahlen nennen, ehe Sie das
wieder bestreiten; ich kenne doch das Lachen darüber,
das allerdings früher, so vor zehn bis 15 Jahren, lauter
war.
– Ich meine doch niemanden persönlich, auch nicht Sie,
Herr Paziorek.
– Nein, inzwischen bestreitet er das nicht mehr.
Ich nenne Ihnen nur ein Szenario zur Entlastung Ihrer
Fantasie, das natürlich nicht genauso praktiziert werden
könnte oder müsste: Angesichts dessen, dass 40 Prozent
des gesamten Energieverbrauchs in Gebäuden entstehen,
aber es in Deutschland bereits 3 000 Häuser gibt, die
keinerlei Fremdenergie mehr brauchen – das ist erst der
Anfang der Entwicklung solarökologischen Bauens –,
wird deutlich, dass 40 Prozent der Energieprobleme
durch den Ansatz solaren Bauens gelöst werden können.
Das ist aber nun keine Thematik der Energiewirtschaft
mehr, sondern eine technische Thematik, eine Thematik
der Bauwirtschaft, der Stadtplanung und der Kommunal-
politik der Zukunft.
Das zeigt, wie sehr wir unsere Gedanken öffnen müssen,
um die tatsächlichen Chancen zu erkennen. 40 Prozent
der Energieprobleme könnten also durch einen solchen
Ansatz gelöst werden, der das herkömmliche Energie-
system überwindet.
Mit 50 000Windkraftanlagen à 2 Megawatt könnte
man ein Drittel des in Deutschland benötigten Stroms er-
zeugen.
– Ich polemisiere doch gar nicht, Herr Kollege. – Es gibt
aber nicht nur die Windkraft. Solarzellen auf insgesamt
5 000 Quadratkilometern der überbauten Fläche von ins-
gesamt 50 000 Quadratkilometern – das lässt sich doch
ausrechnen – würden nach Stand der Technik heute aus-
reichen, um die Gesamtstrommenge, die derzeit ver-
braucht wird, per Photovoltaik zu erzeugen. Natürlich
setzen wir nicht nur auf Windkraft, Photovoltaik und
Biomasse, sondern der Energiemix der Zukunft muss
auch mithilfe von geothermischer Energie vorbereitet
werden. Hierfür sind drei Instrumente notwendig:
Ein Instrument haben wir schon realisiert, nämlich
das Erneuerbare-Energien-Gesetz; das findet im Parla-
ment mittlerweile wieder breitere Zustimmung, nach-
dem es schon einmal sehr breite Zustimmung dafür gab.
Ich denke hierbei insbesondere an die Elemente Min-
destpreisvergütung und garantierte Stromeinspeisung,
die wir mit dem Stromeinspeisungsgesetz auf den Weg
gebracht haben.
Auch bezüglich des zweiten Instruments besteht doch
Konsens. Wir müssen nur endlich realisieren, welche
Chancen darin liegen. Es handelt sich um die vollstän-
dige Steuerbefreiung für alle Biokraftstoffe, die am
1. Januar in Kraft tritt. Damit werden alle Biokraftstoffe
billiger als die besteuerten fossilen Kraftstoffe. Hiermit
kommen wir weg vom Öl. Wir verfolgen so gleichzeitig
eine ökologische, ökonomische sowie friedens- und ent-
wicklungspolitische Strategie in einem mit einem ver-
hältnismäßig einfachen Instrument, das sowohl unbüro-
kratisch handhabbar ist wie auch eine völlig neue
Chance darstellt. Dieser Herausforderung stellen wir
uns.
7306 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Dr. Hermann Scheer
Beim dritten Instrument besteht noch Nachholbedarf.
Wir müssen sehr starke politische Anstrengungen unter-
nehmen und sehr viel Kreativität entwickeln, um den
Ansatz des solaren Bauens voranzutreiben und damit
eine neue Architektur- und Städtebaudimension in unse-
rem Lande zu eröffnen. Voraussetzung dafür ist, die
mentale Sperre, dass hiermit ökonomische Belastungen
verbunden seien, zu überwinden. Vielmehr handelt es
sich um eine einzigartige Chance für die Ökonomie des
21. Jahrhunderts. Es könnte zu einer treibenden Kraft für
die Industrie werden und auch der Landwirtschaft neue
Chancen eröffnen.
Wir müssen hier aber auch internationale Aktivitäten
entwickeln. Deswegen sind wir als Regierungsfraktio-
nen mit zwei Dingen, die einzelne Ministerien bisher in
diese Richtung tun, noch nicht so richtig einverstanden:
Wir haben die große Chance, bei der Internationalen
Konferenz zu erneuerbaren Energien, zu der Bundes-
kanzler Schröder in Johannesburg eingeladen hatte, die
Diskussion darüber zu eröffnen.
Herr Scheer, achten Sie auf die Redezeit.
Ich bin beim letzten Satz. – Die treibenden Kräfte wa-
ren, wenn es um die erneuerbaren Energien ging, immer
die Parlamente. Das Parlamentarierforum, das wir be-
schlossen haben und gemeinsam vorbereiten, wird im al-
ten Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn tagen
und nicht irgendwo anders.
Die Auseinandersetzungen, die es gegenwärtig hierzu
gibt, sind etwas peinlich. Sie sind auch niemandem ver-
mittelbar. Wir haben die Chance, einen großen interna-
tionalen Schritt zu tun, den wir im Bundestag beschlos-
sen haben: die Einrichtung einer internationalen
Agentur für erneuerbare Energien. Hinsichtlich dessen,
was wir hier mit mehrheitlichem Willen beschlossen ha-
ben, wollen wir, dass die Regierung bzw. die zuständi-
gen Ministerien es umsetzen und nicht einfach liegen
lassen.
Danke schön.
Sagen Sie doch in Zukunft besser, dass Sie beim letz-
ten Gedanken sind.
Diese letzten Sätze sind manchmal sehr lang.
– Genau, aber dann weiß man, dass man ihn früher
stoppt.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika
Brunkhorst.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die
Große Anfrage der Union beinhaltete viele berechtigte
Fragen. Ich habe versucht, eine Gesamteinschätzung zu
treffen, und ich muss sagen – das ist meine Interpre-
tation –: Auch die Unionsparteien wünschen eine zügi-
gere Heranführung der Erneuerbare-Energien-Branche
an die Wettbewerbsfähigkeit.
Mein Appell an Sie lautet: Das können Sie ruhig häufi-
ger etwas klarer und vielleicht auch etwas lauter nach
außen tragen.
– Seien Sie nicht so schüchtern.
– Wir wollen hier jetzt keinen Dialog führen, Frau
Hustedt.
Die FDP hat sich ganz klar positioniert: Auch wir
wollen die Klimavereinbarungen des Kioto-Proto-
kolls einhalten. Wir halten das für ein sinnvolles Ziel.
Auch wir betrachten in diesem Zusammenhang den Aus-
bau der erneuerbaren Energien als einen möglichen und
sinnvollen Weg. Das möchte ich hier betonen. Um das
zu erreichen und um die erneuerbaren Energien in den
Energiemarkt zu integrieren, halten wir die zügige He-
ranführung an die Wettbewerbsfähigkeit allerdings für
unumgänglich.
Wir schlagen dafür einen Systemwechsel vor, den ich
noch einmal kurz skizzieren möchte. Wir möchten gern
zu einem Mengenziel und Ausschreibungsmodell kom-
men, das sich an den Klimazielvorgaben der Zukunft
orientiert. Entgegen allen Unkenrufen meinen wir, dass
das neue System – Zertifikate, Emissionshandel usw. –,
wenn es sorgfältig vorbereitet wird, auch funktionieren
wird. Dann ist es tauglich, den Anteil erneuerbarer Ener-
gien zu steigern.
Wir müssen dazu aber auch von der Abhängigkeit der
Netzeinspeisung und der Abhängigkeit von Regelener-
gie abweichen. Wir brauchen eine auf Energiespeiche-
rung beruhende Nutzung der erneuerbaren Energien.
Dabei bin ich gleich beim nächsten Punkt, den wir for-
dern: Wir wollen weitere Anstrengungen für die Ener-
giespeicherforschung. Wenn wir das schaffen, dann kön-
nen wir auch den Verkehrssektor in ein gesamtes
klimapolitisches Konzept einbauen. Denn hier sind
– auch Sie geben das zu – große CO2-Einsparpotenziale
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7307
(C)
(D)
Angelika Brunkhorst
vorhanden, die bislang überhaupt nicht im Ansatz zu fin-
den sind und die es in Zukunft stärker zu beachten gilt.
Wir meinen, dass die Kioto-Instrumente – zum Bei-
spiel Joint Implementation, CDM und der Zertifika-
tehandel – endlich vehementer genutzt werden sollten,
sodass wir die Chance haben, mit unserer Spitzentech-
nologie im Rahmen der technischen Entwicklungshilfe
Exportmärkte zu erschließen und gleichzeitig auch den
Schwellen- und den Entwicklungsländern bei der wirt-
schaftlichen Entwicklung der unterschiedlichen Regio-
nen Hilfestellung zu leisten.
In diesem Zusammenhang setze auch ich sehr große
Erwartungen in die im nächsten Jahr in Bonn stattfinden-
den Renewable 2004. Ich hoffe – ähnlich wie Herr
Scheer, da kann ich ihn zur Abwechslung einmal unter-
stützen –,
dass der Erfahrungsaustausch der Parlamentarier auf die-
ser Konferenz Wichtigkeit hat und dass er einen beachte-
ten Part spielen wird. Ich möchte hier der Staatssekretä-
rin Wolf einen Appell mitgeben: Richten Sie Herrn
Trittin aus, dass er bitte dafür sorgen möge!
Natürlich habe ich die Beantwortung der Großen An-
frage der Unionsparteien durch die Bundesregierung
sorgfältig gelesen. Überraschenderweise habe ich an drei
Stellen ein beachtliches Bekenntnis gefunden – ich zi-
tiere, Frau Präsidentin –:
Die Bundesregierung hat das Ziel, dass erneuerbare
Energien mittel- bis langfristig ihre Wettbewerbs-
fähigkeit im Energiebinnenmarkt erreichen. Denn
nur dann, wenn sich erneuerbare Energien ohne
finanzielle Förderung auf dem Markt behaupten,
können sie auf Dauer eine tragende Rolle im Ener-
giemarkt spielen.
Da können Sie ruhig einmal klatschen!
– Ja, das überrascht mich.
Das hört sich gut an und ist auch richtig. Wir von der
FDP fordern es schon seit langem.
Nur halten wir das EEG dafür immer noch nicht für ein
probates Mittel. Im Entwurf der Novelle ist gerade wie-
der vorgesehen, die Fördertatbestände auszuweiten. Wir
alle mussten leidvoll erfahren, wie ein Vorschaltgesetz
nach dem anderen im Schnellverfahren eingebracht
wurde, um uns zu übertölpeln, sodass wir gar nicht mehr
wissen konnten, worum es eigentlich geht.
Bei dem großen Pool der Fragen und Antworten, auf
die meine Vorredner teilweise eingegangen sind, möchte
ich insbesondere einen Blick auf die Arbeitsmarktsitua-
tion werfen; denn die Beschäftigungseffekte werden ja
von Rot-Grün als Hauptargument angeführt. Laut eige-
nen Schätzungen der EEG-Branche beruhen 135 000 Ar-
beitsplätze auf Aktivitäten in diesem Bereich. Darin ent-
halten sind direkte und indirekte Arbeitsplätze. Es wird
zugestanden, dass es sich dabei um keine gesamtwirt-
schaftliche Bewertung handelt.
Eine solche sollte man aber durchaus vornehmen.
Dazu liegt eine Studie des Bremer Energie-Instituts, er-
stellt im Auftrag der Böckler-Stiftung, vor. Diese Studie
enthält detaillierte Angaben zur Arbeits- und Beschäfti-
gungssituation im Bereich der erneuerbaren Energien.
Ich will einige Punkte kurz vortragen. So werden durch
die Einrichtung einer Windenergieanlage an Land mit ei-
ner Leistung von 1,2 Megawatt im ersten Betriebsjahr
17 Arbeitsplätze geschaffen. In den folgenden Jahren
nimmt dieser Effekt aber rapide ab: Der weitere Betrieb
erfordert nur noch 0,7 Personenjahre. Es wird in dieser
Studie auch gesagt, dass dadurch, dass der Strom aus er-
neuerbaren Energien mit mehr als dem eigentlichen wirt-
schaftlichen Wert vergütet wird, Mittel für andere Aus-
gaben nicht zur Verfügung stehen, wodurch in anderen
Branchen Beschäftigungsverluste entstehen. Das darf
nicht vergessen werden. Die Studie kommt zu dem Er-
gebnis, dass im Saldo, bezogen auf eine 20-jährige Lauf-
zeit, acht Arbeitsplätze verloren gehen.
Auch die Nutzung von Biogas und Geothermie hat
negative Beschäftigungseffekte. Ausgeglichen ist die Bi-
lanz dagegen in der Solarbranche, positiv ist sie bei der
Biomassenutzung.
Darf ich auch Sie auf die Zeit hinweisen, bitte?
Was ganz interessant ist: Die Offshorewindnutzung
ist die einzige Technologie, die auf jeden Fall ein positi-
ves Beschäftigungspotenzial bietet: ungefähr 20 000 Ar-
beitsplätze in den nächsten 20 Jahren.
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt einfach Schluss ma-
chen.
Ich möchte damit darauf hinweisen, dass man, wenn
man solche Argumente anführt, den Leuten auch wirk-
lich die Wahrheit sagen muss.
7308 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Angelika Brunkhorst
– Das hoffe ich, Herr Fell.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Margareta Wolf.
Ma
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wer die Debatte bis jetzt verfolgt hat, hat
festgestellt – und dies auch nicht zum ersten Mal –, dass
es offensichtlich im Deutschen Bundestag gelegentlich
Themen gibt – darüber freue ich mich –, bei denen Re-
gierung und Opposition übereinstimmen. Erstaunlich
finde ich aber, dass die Opposition erst in der heutigen
Debatte realisiert hat, dass mit der Novelle zum Erneuer-
bare-Energien-Gesetz auch die Heranführung der er-
neuerbaren Energien an die Wettbewerbsfähigkeit
intendiert ist.
Dass Energiepolitik von großer wirtschaftspolitischer
Bedeutung ist – darauf hat Herr Bietmann hingewiesen –,
ist dieser Koalition schon seit längerem bekannt. Die
Kollegin Hustedt, bei der ich mich ganz herzlich bedan-
ken möchte, hat sich dafür immer wieder eingesetzt. Am
1. April 2000 waren alle Voraussetzungen erfüllt und das
Erneuerbare-Energien-Gesetz wurde von diesem Haus
– leider gegen die Stimmen der CDU/CSU und der
FDP – verabschiedet.
Selbstverständlich brauchen wir einen Energiemix
und klare Rahmenbedingungen. Ich bin Ihnen, Herr Pro-
fessor Bietmann, ausgesprochen dankbar, dass Sie aus-
sprechen, dass erneuerbare Energien eine zentrale Vor-
aussetzung für die Erfüllung des Klimaschutzes in
unserem Lande sind.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle mitteilen, dass
Jürgen Trittin zurzeit in Mailand ist; dort treffen sich die
Vertreter von 180 Staaten, um darüber zu sprechen, mit
welchen Instrumenten man das Klimaschutzziel noch
früher erreichen kann als bisher vorgesehen.
Herr Paziorek und ich waren vor kurzem auf einer
einschlägigen Veranstaltung in der Bremer Landesver-
tretung. Wir haben den Eindruck gewonnen, dass die
Branche das immer stärker werdende Zusammenrücken
der Parteien in dieser Frage bemerkt. Das hilft der Bran-
che.
Es geht der Bundesregierung mit der Novelle des Er-
neuerbare-Energien-Gesetzes selbstverständlich um eine
sichere und zukunftsfähige Energiestruktur in diesem
Land. Das bedeutet den forcierten Ausbau der erneuer-
baren Energien. Ich freue mich, Herr Professor
Bietmann, dass die CDU/CSU ihn unterstützt. Sie unter-
stützt auch, dass bis zum Jahr 2010 mindestens
12,5 Prozent des verbrauchten Stroms durch erneuerbare
Energien erzeugt werden sollen.
Wir werden am nächsten Mittwoch, also am
17. Dezember, den Referentenentwurf zur Novellierung
des EEG im Kabinett einbringen. Dadurch schaffen wir
Investitionssicherheit, Klarheit und Transparenz für die
gesamte Branche der erneuerbaren Energien. Ich glaube,
dafür ist uns die Branche dankbar. Mit der Novelle
schaffen wir Anreize, die Kosten zu senken und die Wir-
kungsgrade zu erhöhen.
Herr Kollege Bietmann, es war nicht schön und hat
der Kultur dieses Hauses widersprochen, dass Sie es nö-
tig hatten zu sagen, das BMU und die Koalition würden
schlampig arbeiten und Chaos produzieren. Sie wissen,
dass ich vor drei Wochen die Eckpunkte für die Novel-
lierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes vorgestellt
habe. Sie wissen auch, dass die Bundesregierung Ihnen
am 28. April, nachdem Sie Ihre Große Anfrage einge-
bracht haben, mitgeteilt hat, dass wir sie zum
31. Oktober beantworten werden; dann haben wir um
Verlängerung gebeten, weil wir uns in der Abstim-
mungsphase um die Novellierung des Gesetzes befan-
den. Sie haben der Verlängerung bis zum 31. Januar
nicht widersprochen. In der letzten Sitzungswoche je-
doch haben Sie ad hoc die Aufsetzung Ihrer Großen An-
frage beantragt. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
haben Tag und Nacht Antworten formuliert. Heute ha-
ben Sie die Beratung der Antworten wieder abgesetzt.
Ich möchte Ihnen nicht vorwerfen, Sie argumentierten
oder verhielten sich chaotisch, aber Sie sollten im Inte-
resse der erneuerbaren Energien in unserem Lande die
Rhetorik etwas zurückfahren. Sie können sie ja in ande-
ren Punkten umso mehr ausleben.
Frau Brunkhorst, an Ihren Ausführungen hat mir be-
sonders gut gefallen, dass auch die FDP die Initiative der
Bundesregierung, die Erneuerbare-Energien-Kon-
ferenz 2004 in Bonn stattfinden zu lassen, begrüßt. Wir
werden dort selbstverständlich auch ein Parlamentarier-
forum haben. Foren mit Beteiligung von Parlamentariern
finden zurzeit in den verschiedensten Ländern statt, in
Asien, Afrika und Südamerika, und sind für die Arbeit
der nationalen Parlamente durchaus produktiv. Ich
denke, dass wir mit dem novellierten EEG dort ein auch
für den internationalen Klimaschutz sehr wichtiges In-
strument werden präsentieren können. Ich würde mich
freuen, wenn wir dies gemeinsam tun könnten.
Meine letzte Bemerkung in Richtung der Gegner der
erneuerbaren Energien betrifft die Regelenergie. Herr
Bietmann, Sie wissen, dass wir mit diesem Gesetz die
Biomasse und die Geothermie stärken wollen. Wir wis-
sen alle, dass diese beiden Formen der Stromerzeugung
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7309
(C)
(D)
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf
zu jeder Zeit Regelenergie bereitstellen können, sodass
dieses Argument im weiteren Verlauf der Debatte nicht
mehr angeführt werden kann.
Ich wünsche uns allen eine gute Beratung des Gesetz-
entwurfes nach der Befassung des Kabinetts.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Franz Obermeier.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wenn
man die Debatte verfolgt, meint man, alles wäre in bester
Ordnung
und wir hätten keine Probleme in der Energiepolitik, in
der Energiewirtschaft und insbesondere in der Wirtschaft
in Deutschland. Klar ist, dass die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion zum wiederholten Mal ihr tiefes Bekenntnis
zu den erneuerbaren Energien im Allgemeinen und zu
der hier anstehenden Frage im Besonderen abgelegt hat,
allerdings mit dem Tenor, dass die erneuerbaren Ener-
gien möglichst rasch ihre Marktfähigkeit erlangen sol-
len.
In dem Zusammenhang möchte ich, Herr Dr. Scheer,
auf die von Ihnen angesprochene angebliche Verbindung
zur Planwirtschaft eingehen.
So kann man nicht argumentieren. Wir wollen keine rein
technologiebezogene Energiepolitik; vielmehr wollen
wir die Energiepolitik an drei wesentlichen Orientie-
rungspunkten festmachen: der Versorgungssicherheit,
der Umweltverträglichkeit und der Wirtschaftlichkeit.
An diesen Rahmenbedingungen orientieren wir unsere
legislative Arbeit in der Energiepolitik. Das hat mit
Planwirtschaft nichts zu tun, sondern das ist Marktwirt-
schaft und das schafft Wettbewerb.
Frau Staatssekretärin, ich habe Zweifel, ob die Bun-
desregierung der Energiepolitik den richtigen Stellen-
wert einräumt; denn Sie sind bis heute außerstande, ein
Energiekonzept auf den Tisch zu legen. Sie präsentieren
lediglich schlecht aufbereitete Fragmente.
Frau Staatssekretärin, Sie beklagen sich darüber, dass
der Kollege Professor Bietmann von schlampiger Arbeit
redet. Hier können wir Sie aber leider nicht entlassen.
Sie sind mit dieser Großen Anfrage alles anders als par-
lamentarisch umgegangen. Das können wir so unter gar
keinen Umständen hinnehmen. Wir halten es auch für ei-
nen schlechten Stil, wie Sie die Beratung und die Ausei-
nandersetzung mit der Opposition eingeleitet haben.
Nun zur Parlamentarierkonferenz in Bonn: Dass
man die Parlamentarierkonferenz nicht im Plenarsaal in
Bonn abhalten will, ist in meinen Augen ein Zeugnis da-
für, dass diese Veranstaltung als mehr oder weniger min-
derwertig angesehen wird. Ich bitte Sie darum, dass Sie
Ihren Einfluss dahin gehend geltend machen, dass diese
Parlamentarierkonferenz im Plenarsaal in Bonn stattfin-
det, um ihr das richtige Flair zu geben.
Frau Staatssekretärin, heute sollten wir ja eigentlich
die Antworten auf die Große Anfrage beraten. Das kön-
nen wir aber nicht tun, weil die Antworten auf diese
Große Anfrage in zentralen Punkten völlig unzureichend
bis nichtssagend sind. Aber Ihre Einlassungen zu der
Wirkung auf den Einsatz der Biomasse sind schon stark
zu relativieren. Man hört ja allenthalben, dass Sie die
Fördersätze für die Biomasse anheben wollen. Gleich-
zeitig stellt sich aber die Frage, warum Sie dann den För-
derzeitraum bei der Biomasse von 20 auf 15 Jahre be-
grenzen wollen.
Das widerspricht Ihren Prinzipien. Ich möchte Sie bitten,
diese Regelungen noch einmal zu überdenken, bevor der
Gesetzentwurf vom Kabinett beraten wird, damit wir bei
der Biomasse zu einer vernünftigen Regelung kommen.
Diese Regelung für die Biomasse brauchen wir nach
meiner Überzeugung dringend, weil es durch den ver-
stärkten Ausbau der Windkraft zu erheblichen Verwer-
fungen kommen wird,
die in Hinblick auf die Kostenstruktur unserer Volkswirt-
schaft zu erheblichen Problemen führen werden.
Das ist leider so.
Zwar haben Sie diese negativen volkswirtschaftlichen
Effekte jahrelang bestritten. Aber jetzt wird auch bei Ih-
nen darüber diskutiert. Leider haben Sie die DEnA-Stu-
die viel zu spät in Auftrag gegeben. Ich frage mich
schon, was es soll, dass Sie in der nächsten Woche einen
Kabinettsbeschluss fassen wollen, ohne dass die Inhalte
der DEnA-Studie vorliegen. Denn für uns in der CDU/
CSU-Fraktion ist völlig klar, dass die negativen Effekte
7310 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Franz Obermeier
insbesondere des verstärkten Ausbaus der Windkraft bei
der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
mit berücksichtigt werden müssen, damit es zu einer ge-
rechten Verteilung der Kosten kommt und damit nicht
mehr Vorwürfe hinsichtlich der Kosten erhoben werden
können.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen noch die
Äußerung des Bundeswirtschaftsministers vorhalten, der
kürzlich gesagt hat, die ganze Erneuerbare-Energien-
Kiste müsse gedreht werden.
– Das habe ich ein bisschen salopp ausgedrückt. Ich bitte
um Entschuldigung, Herr Hempelmann.
Aber, Herr Hempelmann, wir müssen die volkswirt-
schaftliche Relevanz dieses Themas mit bedenken. Ins-
besondere in der jetzigen Zeit müssen wir darauf achten,
wie hoch die CO2-Vermeidungskosten bei den einzel-nen Energiearten wirklich sind.
Wenn das Bundeswirtschaftsministerium zu dem Er-
gebnis kommt, dass die Vermeidung einer Tonne CO2bei der Windenergie circa 70 Euro kostet und dass an-
dere Möglichkeiten bis hin zum Emissionshandel deut-
lich billiger sind, dann meine ich, dass wir uns damit,
insbesondere angesichts der jetzigen wirtschaftlichen
Lage, noch stärker auseinander setzen sollten.
Auch wir sind ja dafür, dass der Umfang des Einsat-
zes der erneuerbaren Energien verdoppelt wird. Profes-
sor Bietmann hat das ausgeführt. Hierbei beziehe ich
mich auf eine Aussage des Kollegen Hempelmann, der
gesagt hat: Verdoppelung der erneuerbaren Energien ja,
aber keine Verdoppelung der Kosten für erneuerbare
Energien.
In diesem Punkt sind wir uns völlig einig.
Der Referentenentwurf, der hinter vorgehaltener
Hand diskutiert wird, soll von Gesamtkosten in Höhe
von 7 Milliarden Euro ausgehen. Wenn wir für das Jahr
2003 Kosten in Höhe von 3 Milliarden Euro unterstellen,
dann wäre dies mehr als eine Verdoppelung. Hier stellt
sich die Frage, ob wir unserem Auftrag, dazu beizutra-
gen, dass sich die Volkswirtschaft wieder belebt, noch
gerecht werden. Das bezweifle ich ganz stark.
Lassen Sie mich zum Abschluss weitere Schwerpunkte
nennen. Wir sind für die beschleunigte Marktreife der er-
neuerbaren Energien. Dafür sollten wir alles Notwendige
tun. Deswegen ist es völlig unverständlich, dass die Bun-
desregierung die Mittel für Forschung und Entwicklung
auf dem Energiesektor, auch auf dem Sektor der erneuer-
baren Energien, deutlich reduziert. Daher habe ich die
große Sorge, dass wir auf wichtigen Sektoren von unseren
Wettbewerbern im europäischen und außereuropäischen
Ausland überholt werden und damit unsere Zukunft aufs
Spiel setzen.
Ich bin ferner der Überzeugung, dass wir stärker be-
rücksichtigen müssen, dass der Faktor Energie auch ei-
nen Kostenfaktor darstellt.
Wir müssen dafür sorgen, dass sich diese Kosten nicht
auf die volkswirtschaftliche Entwicklung unseres Lan-
des auswirken.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich bitte Sie, das zu berücksichtigen. Wir werden hof-
fentlich auch im neuen Jahr dieses Thema debattieren
können.
Herzlichen Dank.
Es tut mir Leid, dass ich so oft mahnen muss. Aber in
dieser Debatte haben alle Redner die Tendenz, ihre Re-
dezeit zu überschreiten, weil sie so viele Gedanken un-
terbringen wollen.
Jetzt hat der Abgeordnete Marco Bülow das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Obermeier, wir sind froh, dass Sie uns nicht entlassen
wollen. Wir wollen auch gerne weitermachen. Ich denke,
das verspricht gute Aussichten.
Bevor ich auf die Anfrage der Union zu sprechen
komme, möchte ich einige Ausführungen zur TAB-Stu-
die über Geothermie machen, schließlich steht auch sie
heute auf der Tagesordnung. Die TAB-Studie bestätigt,
dass die Nutzung von Erdwärme ein großes Potenzial
bietet, auch hier in Deutschland. Ein großer Vorteil der
Erdwärme ist, dass sie witterungsunabhängig ist. Rein
technisch wäre es schon heute möglich, den Strombedarf
in Deutschland gleich mehrfach allein durch Erdwärme
zu decken. Trotz hoher Erschließungskosten wird Erd-
wärme eine immer größere Rolle spielen; das ist eine
realistische Einschätzung. Durch gute Forschungsleis-
tungen und die Förderung durch das EEG, das Erneuer-
bare-Energien-Gesetz, werden wir auch dieser Technolo-
gie erfolgreich den Weg ebnen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7311
(C)
(D)
Marco Bülow
Nun zur Anfrage der Union. Sie ist – das kennen wir
schon – geprägt von Skepsis und Mutlosigkeit.
Dabei sollten wir mit positivem Elan zur Tat schreiten
und sollten die vielfältigen Chancen, die die Nutzung er-
neuerbarer Energien bietet, erkennen. Ich habe nichts da-
gegen, selbst in einer schmackhaften Suppe ein Haar zu
suchen. Aber vor lauter negativem Grimm sollte man bei
der Suche nicht verhungern.
Kurz zur Historie. In Ihrer Anfrage loben Sie zu
Recht das Stromeinspeisungsgesetz von 1990 als Aus-
gangspunkt einer sinnvollen Förderung. Ich muss Ihrem
Gedächtnis aber auf die Sprünge helfen: Diesem Parla-
mentsgesetz hat die damalige Opposition, die konstruk-
tiv war, zugestimmt, weil sie es für sinnvoll hielt.
Der richtige Durchbruch im Bereich erneuerbare Ener-
gien ist erst mit unserem Erneuerbare-Energien-Gesetz
und den Maßnahmen der neuen Regierung gelungen.
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat aber nicht die Zu-
stimmung der Opposition, die jetzt aus Union und FDP
besteht, gefunden. Bis auf ein paar Unentwegte haben
alle aus der Opposition dagegen gestimmt und sich dem
Fortschritt verweigert.
Sie suchen nun das Haar in der Suppe. Das zeigen die
42 Fragen, die Sie uns gestellt haben. Die entscheidende
Frage in Ihrem Fragenkatalog ist die erste Frage, die lau-
tet, ob sich das Erneuerbare-Energien-Gesetz bewährt
habe. Darüber sprechen wir doch nun schon seit einem
Jahr! Alle erbrachten Daten und Fakten sprechen eine
deutliche Sprache: Ja, es hat sich bewährt.
Jede Beurteilung des EEG von internationalen Institu-
ten bestätigt das. Das Worldwatch-Institut hat das EEG in
diesem Jahr als beispielhaft bewertet. Auch UNEP und
Herr Töpfer äußern sich positiv über das Erneuerbare-
Energien-Gesetz. Andere Länder kopieren es. Die Be-
völkerung will mit großer Mehrheit den weiteren Aus-
bau der erneuerbaren Energien.
Ich möchte einen Blick auf die Anforderungen wer-
fen, die wir an das EEG gestellt haben. Dieser bestätigt:
Erstens. Bei der Verwirklichung des Ziels, den Anteil
der erneuerbaren Energien bis 2010 auf 12,5 Prozent zu
verdoppeln, liegen wir mit einem bis jetzt erreichten
Stand von über 8 Prozent voll im Soll.
Zweitens. Das EEG sollte ein Klimaschutzprogramm
werden. Schon jetzt sparen wir jährlich über 50 Millio-
nen Tonnen CO2 und fast weitere 50 Millionen Tonnen
an anderen Luftschadstoffen ein, die meistens nicht er-
wähnt werden. Daran hat das EEG einen großen Anteil.
Drittens. Es handelt sich außerdem auch um ein Wirt-
schaftsprogramm. Mithilfe der erneuerbaren Energien
hat sich eine innovative Technologiebranche an die in-
ternationale Spitze katapultiert. Davon profitiert auch
der Mittelstand. Er wird immer gerne gelobt, für ihn
wird aber selten etwas gemacht. Hier machen wir etwas
für den Mittelstand, auch für das Handwerk. Es ist eine
junge Branche mit Zukunft und mit riesigen Exportchan-
cen.
Viertens. Zudem ist es ein Beschäftigungsförderungs-
programm. Über 135 000 Arbeitsplätze werden in die-
sem Bereich im Augenblick gesichert. Frau Brunkhorst,
Sie haben das Thema Arbeitsplätze angesprochen und
Vergleiche angeführt. Sie müssen aber schon die Bran-
chen im Energiebereich vergleichen. Wenn Sie diese
vergleichen würden, würden Sie sehen, wer die höhere
Zahl aufweist. Alle Studien kommen zu dem Ergebnis,
dass die Beschäftigungswirkung im Bereich erneuerba-
rer Energien um ein Vielfaches höher ist als in anderen
Energiebereichen, vor allem als in der Atombranche.
Fünftens. Es ist auch ein positiver Beitrag zur Ent-
wicklungshilfe. Das kann dazu führen, dass wir viele
Konflikte und Kriege, die um Energie geführt werden
– sie werden auch in Zukunft eine große Rolle spielen –,
vermeiden können.
Das EEG ist weltweit das erfolgreichste Gesetz zur
Förderung der erneuerbaren Energien und es stellt den
Beginn eines der nachhaltigsten Projekte überhaupt dar,
vor allen Dingen dann, wenn wir den Weg konsequent
weitergehen und auch international offensiv dafür wer-
ben, was wir, so denke ich, auf der Weltkonferenz auch
tun werden.
Zurück zum Haar in der Suppe, das Sie noch immer
suchen. Zunächst war die angeblich unklare rechtliche
Situation das Haar. Wir haben darüber diskutiert. Dann
wurde die Rechtskonformität vom Europäischen Ge-
richtshof bestätigt. Schon wurde ein neues Haar ent-
deckt, nämlich die angeblich utopische Vorstellung, den
Anteil der erneuerbaren Energien in so kurzer Zeit zu
verdoppeln. In dem Erfahrungsbericht wird auch das wi-
derlegt. Wir werden die 12,5 Prozent erreichen. Zwi-
schendurch gab es immer wieder Attacken gegen die er-
neuerbaren Energien. All das nützte nichts.
Dann endlich fanden Sie ein Haar, das zumindest dem
ersten Blick standhält, nämlich die Kosten: Die erneuer-
baren Energien seien ja ganz schön, aber viel zu teuer
und die Kosten, die durch das EEG entstünden, seien zu
hoch. Doch auch dieses Haar erweist sich beim zweiten
Blick als Schwindel:
Erstens. Es findet keine faire Kostendiskussion statt.
Die erneuerbaren Energien stehen am Anfang. Sie benö-
tigen eine Anschubförderung durch das EEG und wer-
den immer günstiger. Wir sehen, wie innovativ im
7312 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Marco Bülow
Bereich der erneuerbaren Energien gearbeitet wird und
dass sich die Kostenschere schließen wird.
Zweitens. Die herkömmlichen Energien sind nur
günstig, weil sie gefördert, also subventioniert wurden.
Dies geschieht zum Teil auch heute noch – teilweise ver-
steckt. Ich will Ihnen ein besonderes Beispiel aus dem
Bereich der Atomkraft nennen. Bei einem Super-GAU
würden auf uns in Deutschland Kosten in Höhe von
5,4 Billionen Dollar zukommen. Das müsste eigentlich
durch eine Versicherungssumme abgedeckt sein. Die be-
stehende Versicherung deckt diese Summe aber bei wei-
tem nicht. Die deutschen Atomkraftwerke sind nur mit
2,5 Milliarden Dollar – das sind nur etwa 0,05 Prozent
der wirklichen Summe – versichert. Das bedeutet: Bei
einer angemessenen Versicherung würde sich der Preis
für den Atomstrom zumindest verdoppeln. Diese Kos-
tendiskussion müssten wir führen.
Selbst wenn nichts passiert – was wir alle natürlich
hoffen –, ist zu sagen: Allein die Suche nach einem End-
lagerstandort und die Erkundung von Gorleben kosteten
uns 1,4 Milliarden Euro. Diese Beträge tauchen zwar
nicht auf der Stromrechnung auf, sie sind aber von je-
dem Bürger und jeder Bürgerin zu zahlen.
Drittens. Bei der Rechnung wurde auch sonst zu kurz
gedacht. Es stimmt: Einen durchschnittlichen Familien-
haushalt kosten die erneuerbaren Energien im Augen-
blick 1 Euro zusätzlich pro Monat. Allerdings sparen wir
bei den externen Kosten – den Umwelt- und Gesund-
heitsschäden – jeden Monat 5 Euro ein. Diese Kosten-
rechnung muss immer aufgemacht werden.
Es ist also wieder nichts mit dem Haar. Oder? Es gibt
ja noch die Wetterabhängigkeit der erneuerbaren
Energien. Auch dies wurde hier wieder angesprochen.
Der Wind wehe doch nicht immer,
was zu Problemen bei der Regelenergie führe. Richtig!
Allerdings muss man demgegenüber sehen: Die Progno-
sesysteme und somit die Wettervorhersagen werden im-
mer besser. Der Kollege Hermann Scheer hat schon an-
gesprochen, dass es auf den Mix der erneuerbaren
Energien ankommt. Natürlich spielen Geothermie und
Biomasse eine große Rolle – das müssen sie auch –, weil
sie ständig zur Verfügung stehen.
Es sind also erdrückende Vorteile und unglaubliche
Chancen. Anstatt sie zu nutzen, wird gemäkelt und sich
geziert. Das Haar, das den Fortschritt verhindern oder
zumindest verlangsamen soll, wird förmlich herbeige-
sehnt. Ich habe das Gefühl: Wenn es nicht einmal herbei-
geredet werden kann, dann soll uns die Suppe wenigs-
tens versalzen werden.
Das werden wir aber nicht zulassen. Der Weg wird kon-
sequent fortgesetzt. Dafür ist das EEG ein wichtiger Be-
standteil.
Wir laden Sie herzlich dazu ein, hier mitzugestalten.
Wenn Ihnen an den erneuerbaren Energien und an der
Zukunft wirklich etwas liegt, dann werden Sie mitarbei-
ten.
Die Suppe ist schmackhaft, sie hat hochwertige Inhalts-
stoffe, sie sättigt und sie macht groß und stark. Da das
für Sie anscheinend immer noch nicht reicht, rufe ich Ih-
nen das zu, was man bei uns im Ruhrgebiet sagt: Es wird
gegessen, was auf den Tisch kommt. Zum Wohle!
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Axel Fischer.
Axel E. Fischer (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Menschen
in Deutschland und auch die überwiegende Mehrzahl der
Unternehmen im Lande brauchen heute und in Zukunft
eine sichere, umweltverträgliche und vor allem auch
kostengünstige Energieversorgung. Weltweit steigt der
Energieverbrauch. Nur eine begrenzte Anzahl von Tech-
niken kann heute eine zuverlässige Energieversorgung in
entwickelten Volkswirtschaften gewährleisten.
Deshalb kommt den Entwicklungsmöglichkeiten vor-
handener Techniken sowie der Entwicklung und Bewer-
tung neuer Techniken eine große Bedeutung zu. Im
Brennpunkt stehen insbesondere die Eignung so genann-
ter erneuerbarer Energien wie Wind, Sonne, Erdwärme
oder Biomasse für eine nachhaltige Energieversorgung
in Deutschland.
In einer aktuellen Studie des Büros für Technikfol-
genabschätzung beim Deutschen Bundestag zum Thema
Geothermie wird die Unwirtschaftlichkeit geothermi-
scher Strom- und Energieerzeugung hervorgehoben.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7313
(C)
(D)
Axel E. Fischer
Die Technik sei derzeit noch im Forschungs- und Ent-
wicklungsstadium, so die Studie. Marktchancen für eine
Verbreitung bestünden auf absehbare Zeit hinaus in
Deutschland nicht.
Die abschätzbaren Potenziale für die Stromproduktion
und die Niedertemperaturwärme seien, so die Studie, oh-
nehin begrenzt. Hier, wie auch im gesamten übrigen
Energiebereich, stellt sich die Frage, wie man mit Tech-
niken umgehen soll, die nach Stand von Forschung und
Entwicklung auf absehbare Zeit nicht marktfähig sind.
Eine forcierte Markteinführung nicht marktreifer Tech-
niken mithilfe umfangreicher Subventionen bzw. Förde-
rungen erscheint mittel- bis langfristig wenig Erfolg ver-
sprechend, wie auch das Beispiel der Windkraft zeigt.
In einer aktuellen Studie eines großen deutschen
Bankinstitutes heißt es hierzu:
In den Medien ist ein Kampf um das „Wie weiter
mit der Windenergie?“ entbrannt. Kulminations-
punkt ist die Veränderung der Höhe der Stromein-
speisepreise, wie sie im Erneuerbare-Energien-Ge-
setz ... geregelt sind. Die Politik ist sich einig, dass
die bisherigen Vergütungssätze für Onshore-Anla-
gen gesenkt werden müssen.
Weiter unten heißt es in der eben zitierten Studie:
Die Befürworter ,
das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit und eine gut organisierte
Lobby aus dem Interessenverband, Bundesverband
Windenergie e. V. ..., den Betreibern, Herstellern,
Dienstleistern, Fondsinitiatoren und Forschungs-
instituten, deren Finanzierung nicht unerheblich
von Aufträgen des Bundesumweltministeriums ab-
hängt, propagieren eine Wirtschaftlichkeit der An-
lagen in wenigen Jahren, eine „grandiose“ Entwick-
lung des Stromangebots aus Windenergie, die
Erfüllung der Kioto-Verträge zur Treibhausgasredu-
zierung und die Schaffung vieler neuer Arbeits-
plätze.
Im Fazit der Studie heißt es mit Blick auf die Auswir-
kungen der EEG-Förderung:
Treibhausgase werden eingespart, aber um den
Preis hoher, den Strompreis treibender Fördergelder
und einer „Verspargelung“ der Landschaft. Profi-
tiert haben durchaus Investoren an sehr guten
Standorten, einzelne Landwirte, lokale Forschungs-
institute, einige Kommunen und vor allem die deut-
sche Windindustrie, die, aus kleinsten Verhältnissen
kommend, gestärkt wurde und nun offenbar wie-
der … schrumpft. Der Traum von einer mittelstän-
disch geprägten Industrie, die Technologieführung
in der Welt beanspruchen und nachhaltig viele neue
Arbeitsplätze schaffen kann, ist für fast alle Anbie-
ter bald beendet.
Die Bewertung der Förderung der Windenergie liest sich
dort wie folgt:
Die Goldgräberstimmung der Boomjahre insbeson-
dere ab 1999 hat nicht getragen, Gewinne sind un-
produktiv in den Taschen der Fondsinitiatoren,
Dienstleister, Vertriebe und auch einiger Hersteller
gewandert oder für einen unkoordinierten Entwick-
lungswettlauf verwendet worden. Die Förderung
des EEG hat dies nicht verhindert und sich damit
für die Zukunft als ineffizient, weil zu unspezifisch
erwiesen.
Die Haltung der Bundesregierung zur Novellierung
des EEG wie auch die Tatsache, dass die Bundesmittel
für die langfristig orientierte Energieforschung im
Haushaltsentwurf unverständlich gering sind,
belegen die kurzfristige und kurzsichtige Orientierung
der Regierungspolitik im Energiebereich.
Es ist so deutlich wie bestürzend, wie sehr diese Bun-
desregierung trotz der miserablen Haushaltslage und der
wirtschaftlichen Misere im Land weiterhin Fragen der
Wirtschaftlichkeit ignoriert. Statt die Energieforschung
voranzutreiben und die Techniken zur Marktreife zu ent-
wickeln, werden dauerhaft unrentable Anlagen in die
Landschaft gesetzt und Volksvermögen, Arbeitsplätze
und Wohlstand massiv vernichtet. So kann man für
Deutschland keine positive Zukunft gestalten.
So kann man allenfalls die Begehrlichkeiten von Interes-
sengruppen für einen begrenzten Zeitraum befriedigen.
Was wir aber in Deutschland dringend brauchen, sind
Entscheidungen für Kraftanlagen und Energietechniken,
die uns allen auch langfristig Vorteile bringen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Josef Fell.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist eine
7314 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Hans-Josef Fell
Erfolgsgeschichte, und zwar für Wirtschaft und Umwelt,
Herr Fischer.
Das hat die Bundesregierung im Gegensatz zu Ihren
Aussagen in der Antwort auf Ihre Große Anfrage in aller
Deutlichkeit dargestellt.
Jährlich – so können Sie dort lesen – werden in
Deutschland durch erneuerbare Energien zurzeit
50 Millionen Tonnen CO2 eingespart. Ein Umsatzvolu-men von 10 Milliarden Euro wird in unserer Wirtschaft
erreicht. Aktuell werden hier 135 000 Menschen be-
schäftigt. Damit ist klar: Ökonomie und Ökologie stellen
keinen Gegensatz dar; vielmehr – entgegen Ihren Aussa-
gen – bedingen sie sich.
Noch eine Ihrer Aussagen ist falsch. Die von der
Union und der FDP immer wieder überdramatisierten
Mehrkosten im Strompreis sind überschaubar und gehen
mittelfristig bereits zurück. Damit ist schon heute er-
kennbar: Die volkswirtschaftlichen Markteinführungs-
kosten für erneuerbare Energien werden wesentlich
geringer sein, als es zum Beispiel die der Kernenergie in
der Vergangenheit waren und übrigens noch heute sind;
Herr Bülow hat dies sehr gut herausgestellt.
Die deutsche Volkswirtschaft ruft zu Recht nach Inno-
vationen, um Arbeitsplätze und neue unternehmerische
Tätigkeit zu initiieren. Das Erneuerbare-Energien-Ge-
setz ist in diesem Sinne ein besonders erfolgreiches
Innovationsinstrument. Zusammen mit dem alten
Stromeinspeisungsgesetz hat es die Kosten der Wind-
stromproduktion seit 1990 um über 50 Prozent gesenkt.
Die Kosten der Photovoltaik sind seit 1999 real um
25 Prozent gesunken. Auch bei der Bioenergie sind die
Innovationsfortschritte enorm. Damit ist klar, meine Da-
men und Herren von der Union: Der Weg, den wir hier
beschritten haben, ist der beste Weg zur Wettbewerbsfä-
higkeit.
Besonders beachtlich ist der Innovationseffekt des
EEG bei der Nutzung der Erdwärme. Die rot-grüne
Bundestagsmehrheit hat mit der Aufnahme der Erd-
wärme in das Erneuerbare-Energien-Gesetz im
Jahre 2000 besonderen Weitblick bewiesen. Gab es da-
mals noch Stimmen, zum Beispiel aus der bayerischen
Energiewirtschaft, man könne in Deutschland gar keinen
Strom aus Tiefenerdwärme erzeugen, so sind heute alle
Zweifler eines Besseren belehrt worden. Vor wenigen
Wochen ging in Neustadt-Glewe in Mecklenburg-Vor-
pommern die erste Anlage zur Stromerzeugung aus Tie-
fenerdwärme ans Netz.
Wie weitsichtig der Blick der damals federführenden
Parlamentarier war, lässt sich heute erst annähernd erah-
nen. Im Bericht des Büros für Technikfolgenabschät-
zung, den wir heute ebenfalls debattieren, wird das ge-
waltige Potenzial der Erdwärme für Strom- und
Wärmeerzeugung in Deutschland dargestellt. Ich weiß
gar nicht, Herr Fischer, welchen Bericht Sie gelesen ha-
ben.
Im Ausschuss habe ich schon gemerkt, dass Sie auf win-
zige Defizite hinweisen und die riesigen Möglichkeiten,
die die Wissenschaftler darstellen, gar nicht zur Kenntnis
nehmen.
Ich zitiere aus dem Bericht: Geothermieenergien stel-
len eine ernst zu nehmende Option für die zukünftige
Energieversorgung dar, wenn auch nur ein Bruchteil der
geschätzten Potenziale tatsächlich genutzt werden. – So
schreiben die Wissenschaftler des Deutschen Bundesta-
ges.
Alleine die Erdwärme könnte in Deutschland die ge-
samte Grundlaststromerzeugung ersetzen. Mehr noch:
Das ginge ohne nennenswerte Umweltbelastung oder
CO2-Emissionen. Damit ist klar: Das Abschalten derAtomkraftwerke muss nicht mit einem höheren CO2-Ausstoß verbunden sein, wie Sie, meine Damen und
Herren von der Union und der FDP, das immer wieder
darstellen.
Wir können es auch mit erneuerbaren Energien schaffen.
Der Wärmestrom aus der Tiefe der Erde kann gleich-
mäßig, Tag und Nacht, im Sommer wie im Winter, ge-
nutzt werden. Damit bietet die Erdwärme zusammen mit
den Bioenergien und intelligenten Speichertechnologien
die ideale Ergänzung zu den alternierenden Energien
von Sonne und Wind. Diese Energien können eine hö-
here Versorgungssicherheit herstellen als die heutige
Kraftwerkserzeugung. Denn wir wissen doch, dass die
Kohle- und Kernkraftwerke im Sommer dieses Jahres
besondere Probleme durch die Dürre und die Hitze hat-
ten, als ihnen fast das Kühlwasser ausgegangen ist. Wir
wissen, dass wir mit der Nutzung der Erdwärme erst am
Anfang sind. Es gibt einiges zu tun. Das BMU hat kon-
sequenterweise im Entwurf der EEG-Novelle eine hö-
here Vergütung vorgeschlagen. Wir werden dies im Par-
lament aufgreifen.
Herr Fischer, Sie haben die Energieforschung her-
vorgehoben. Unter Ihrer Regierung wurde damals die
Forschung über die Nutzung der Erdwärme fast beendet.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7315
(C)
(D)
Hans-Josef Fell
Wir haben die Forschung wieder auf den Weg gebracht
und damit große Vorteile erreicht. Wir werden das weiter
verfolgen, damit über das Sinken der Kosten der Erd-
wärme ein schneller Weg eingeschlagen wird. Wir sind
uns sicher, dass all dies gelingen wird.
Zusammen mit anderen Maßnahmen, mit Vorschlä-
gen aus dem Parlament, die die Bundesregierung aufge-
griffen hat, zum Beispiel auch mit der großen Energie-
konferenz und der damit zeitgleich stattfindenden
Parlamentarierkonferenz, werden wir diese Technolo-
gien der Welt bewusster machen. Sie wird insgesamt er-
kennen, welche großen Möglichkeiten sich ergeben. Da-
mit die Parlamentarier einen entsprechenden Rahmen
finden können, erhebt auch unsere Fraktion die Forde-
rung, diese Parlamentarierkonferenz im Plenarsaal des
ehemaligen Bundestagsgebäudes in Bonn stattfinden zu
lassen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1835 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
– Drucksache 15/1075 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 15/2191 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Dr. Günter Krings
Jerzy Montag
Rainer Funke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.
A
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Nach der Redeliste von heute halte ich eine
Rede in der Zukunft, nämlich in der Sitzung am
12. Dezember 2004. Ich werde mich aber bemühen,
heute eine zukunftsorientierte Rede zu halten,
denn mit dem Geschmacksmusterreformgesetz setzen
wir die Richtlinie der EU in nationales Recht um. Das
Geschmacksmuster wird im Ergebnis zu einem vollwer-
tigen gewerblichen Schutzrecht aufgewertet. Das Ge-
schmacksmusterrecht schützt insbesondere die Form und
die Gestalt eines Gegenstandes, betrifft also das Design.
Unser Gesetzentwurf ist deshalb auf breiteste Zustim-
mung gestoßen – bis auf einen streitigen Punkt, der das
Gesetzgebungsverfahren verlängert hat: Sollen Ersatz-
teile, insbesondere Kfz-Ersatzteile, vom Geschmacks-
musterschutz erfasst sein oder nicht? Dabei muss man
wissen, dass ohnehin nur die sichtbaren Ersatzteile ge-
meint sind, wie zum Beispiel Scheinwerfer, Rückleuch-
ten oder Außenspiegel.
Unser Gesetzentwurf sieht eine sowohl für die Auto-
mobilindustrie als auch für die Unternehmen im Ersatz-
teilhandel gute und ausgewogene Lösung vor.
Wir behalten den Status quo, also die bisherige Rechts-
lage, auch für die Zukunft bei, Herr Krings. Damit kön-
nen die Marktteilnehmer wie bisher auskömmlich ne-
beneinander leben.
Hinzu kommt, dass die Europäische Kommission bis
zum Herbst kommenden Jahres einen Vorschlag für eine
europaweit einheitliche Lösung dieser Detailfrage vorle-
gen will. Es wäre nicht sinnvoll, durch neue nationale
Vorschriften dem Gemeinschaftsrecht vorzugreifen und
eine Art Unordnung in Europa zu schaffen.
– Hören Sie einfach einmal zu!
Wenn unser Gesetzentwurf gerade auch für Ersatz-
teile Geschmacksmusterschutz ermöglicht, so entspricht
dies übrigens vollkommen unserem System der gewerb-
lichen Schutzrechte. In diesem Zusammenhang höre ich
häufig den Einwand, der Automobilindustrie solle kein
Designmonopol zufallen. Dem halten wir entgegen,
dass die gewerblichen Schutzrechte den Lohn für eine
besondere geistige Leistung bilden – beim Geschmacks-
muster für eine gelungene Produktgestaltung. Da ist es
nur konsequent, wenn wir es mit dem Schutz geistigen
Eigentums ernst meinen. Außerdem hat sich der freie
Teilemarkt – hören Sie gut zu, Herr Krings! – auch unter
den bestehenden Vorschriften gut entwickelt. Eine Ver-
drängung vom Markt hat nicht stattgefunden. Derzeit
verfügen der freie Markt und die Konzerne über jeweils
50 Prozent der Marktanteile.
Auch die Automobilhersteller wollen am Status quo
nichts ändern. Sie haben im Vorfeld dieses Entwurfs aus-
drücklich erklärt, dem freien Teilemarkt keine Markt-
anteile durch vermehrtes Pochen auf Schutzrechte strei-
tig zu machen. Das ist die Geschäftsgrundlage unseres
Entwurfs.
7316 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
Solange die Automobilindustrie diese Geschäftsgrund-
lage nicht verlässt – sie hat zugesagt, diese Basis zu
beachten –, besteht kein Anlass, das geltende bewährte
Recht umzuschreiben.
Als Alternativen zum Entwurf der Bundesregierung
wurden von den Ersatzteilehändlern und der CDU/CSU
immer wieder eine so genannte Reparaturklausel oder
aber eine Vergütungsregelung genannt. Beide Vor-
schläge sind aber letztlich zur Lösung der Probleme völ-
lig ungeeignet. Die deutsche Automobilindustrie stünde
schutzlos da und müsste mit Massenimporten aus Billig-
lohnländern rechnen.
Ich habe das übrigens Herrn Stoiber erzählt. Der kommt
noch und zieht Ihnen die Ohren lang; passen Sie einmal
auf!
Nicht die mittelständischen Hersteller würden davon
profitieren, sondern allenfalls der Handel. Der Verlust
von Arbeitsplätzen stünde zu befürchten. Nicht einmal
den Verbrauchern käme man entgegen. Der hohe Quali-
tätsstandard, den wir gewohnt sind, wäre kaum zu hal-
ten. Die Billigimporte würden sich auf wenige gängige
Marken beschränken, an denen der Importhandel ver-
dient. Die Automobilindustrie könnte nicht mehr ausge-
wogen kalkulieren und müsste Ersatzteile für weniger
gängige Modelle teuer herstellen. Ihr Argument, meine
Damen und Herren von der Opposition, Sie wollten den
Verbraucherschutz stärken, geht daher völlig fehl.
Auch eine Vergütungsregelung würde das Problem
nicht befriedigend lösen. Im Gegenteil, es ergäbe sich
eine Reihe neuer Probleme, insbesondere ein neuer Bü-
rokratismus, Herr Funke, der für die Wirtschaft nur
schädlich sein kann.
Das wollen wir durch moderne Regelungen vermeiden.
Unser Lösungsweg ist also ausgewogen und tragfähig.
Er wird sich durchsetzen.
Danke schön.
Ein letzter Satz: Ich wünsche allen einen schönen Ad-
vent und eine gute Vorweihnachtszeit, damit Sie nächs-
ten Freitag guter Stimmung sind!
Wir danken für die Adventsgrüße und erwidern sie
von Herzen. – Das Wort hat jetzt der Abgeordnete
Günter Krings.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Zunächst einmal: Den Adventswün-
schen des Herrn Staatssekretärs kann ich mich voll und
ganz anschließen.
Ansonsten wird diesen Tag wahrscheinlich vor allem
die deutsche Automobilindustrie als Erfolg feiern
können – zumindest wenn es so ausgeht, wie Sie sich
das vorstellen. Wenn ein Gesetz die Belange dieses
wichtigen Wirtschaftszweiges berücksichtigt, so ist da-
gegen prinzipiell auch gar nichts einzuwenden. Im Ge-
genteil: Es ist in der Regel sogar begrüßenswert.
Wenn aber ein Gesetz einseitig den Interessen der
fünf großen Automobilhersteller dient – wie es bei dem
vorliegenden Gesetzentwurf der Fall ist –, während die
Interessen von 47 Millionen Autofahrern und Tausenden
von mittelständischen Produktions-, Handwerks- und
Handelsbetrieben in Deutschland ignoriert werden, dann
ist an diesem Gesetz etwas faul. In diesem Fall ist es die
Pflicht der Opposition, den Finger auf die Wunde zu le-
gen und auf diese Einseitigkeit hinzuweisen.
Sie auf der linken Seite des Hauses kümmern sich
wieder einmal nur um die Großen in diesem Land. Wir
werden Ihnen bei der Verabschiedung dieses verbrau-
cher- und mittelstandsfeindlichen Gesetzes nicht die
Hand reichen.
Die Bundesregierung hätte schon in der vorigen
Wahlperiode ausreichend Zeit gehabt, um einen Vor-
schlag zu einem fairen Interessenausgleich im Design-
schutz für Autoteile zu erarbeiten. Sie aber haben sich
den Luxus erlaubt, schon bei der Einbringung des Ge-
setzentwurfes alle europarechtlichen Fristen großzügig
zu überschreiten. Inzwischen ist der letzte Tag der Um-
setzungsfrist schon lange – seit zwei Jahren – verstri-
chen. Das zeigt, wie ich befürchte, dass der Schutz des
geistigen Eigentums innerhalb des Kabinetts leider nicht
den Stellenwert besitzt, den er angesichts seiner wirt-
schaftlichen Bedeutung verdient.
Die geistige und schöpferische Leistung des Desig-
ners sorgt völlig zu Recht dafür, dass auf dem
Neuwagenmarkt – hören Sie jetzt genau zu, Herr
Hartenbach! – ein Produktmonopol für Kraftfahrzeuge
wie auch für die sichtbaren Außenteile der Kraftfahr-
zeuge entsteht. Käme etwa Audi auf die Idee, den Küh-
lergrill von BMW nachzubauen, so könnten sich die
Münchner erfolgreich dieses Übergriffs in ihre Rechte
erwehren.
Die Rechte des Designers werden in dem neuen Ge-
schmacksmustergesetz sogar noch ausgeweitet.
Künftig wird es in vielen Fällen einfacher werden,
rechtlichen Schutz für die eigene Designleistung zu er-
langen. Das begrüßen wir ausdrücklich.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7317
(C)
(D)
Dr. Günter Krings
Ein Problem des vorgelegten Gesetzentwurfs besteht
aber darin, dass die Automobilindustrie – Herr Montag,
Sie haben im Ausschuss bereits darauf hingewiesen –
von dieser Verbesserung des Designschutzes ausge-
nommen wird. Der von der Regierung formulierte § 67
verhindert ausdrücklich, dass insbesondere Autoherstel-
ler in den Genuss der verbesserten Schutzmöglichkeit
kommen. Damit wird das Gegenteil dessen erreicht, was
Sie angeblich beabsichtigen.
Die Industrie wird das sicherlich verschmerzen kön-
nen. Der Designschutz, der eigentlich den Hersteller ei-
nes gänzlich neuen Produkts gegen Nachahmer und Ko-
pierer schützen soll, ist in der langen und erfolgreichen
Geschichte der deutschen Automobilindustrie noch nicht
ein einziges Mal von einem Automobilhersteller gegen
einen anderen juristisch geltend gemacht worden.
Auf dem Neuwagenmarkt, für den der Designschutz
– zumindest im Kraftfahrzeugbereich – eingeführt wurde,
wird er offenbar nicht gebraucht. Stattdessen wird dieses
Schutzrecht als Instrument genutzt, um das Monopol auf
dem Neuwagenmarkt auf einen anderen Markt, nämlich
den Markt für Ersatzteile, zu übertragen.
Bei allen, die ein wenig von Kartellrecht verstehen
– im Gegensatz zu Ihnen verstehe ich wenigstens etwas
davon; hören Sie besser genau zu, dann werden Sie et-
was lernen –,
müssen in wettbewerbsrechtlicher Hinsicht alle Alarm-
glocken läuten, wenn ein Unternehmen sein Monopol
von einem Markt auf einen anderen übertragen will.
Dass der Neuwagen- und der Ersatzteilmarkt aus öko-
nomischer Sicht zwei Märkte sind, kann in wettbewerbs-
rechtlicher Hinsicht nicht ernsthaft bestritten werden.
Der Kunde, der ein Auto erwirbt, will sich mit dieser
Entscheidung nicht auf Gedeih und Verderb der Preispo-
litik seines Autoherstellers ausliefern. Genauso wenig,
wie wir als Gesetzgeber den Autokäufer zwingen, bei
Reparaturen nur die Vertragswerkstatt aufzusuchen oder
gar seinen Kraftstoff nur bei Vertragstankstellen zu tan-
ken, sollten wir ihn zwingen, seine Ersatzteile nur vom
Autohersteller zu beziehen.
Eine Reparaturklausel würde den Musterschutz für
Neuwagen und Neuteile ohne jede Einschränkung ge-
währleisten. Sie würde es lediglich erlauben, dass Repa-
ratur- und Ersatzteile für Autos nachgebaut werden kön-
nen. Wir meinen, das wäre ein fairer Kompromiss.
Wir wollen weniger Gängelung und mehr Wettbe-
werb. Nur ein rechtlich abgesicherter Wettbewerb wird
zu niedrigen Preisen auf dem Ersatzteilmarkt führen
können. Es ist sehr erstaunlich, dass der Protest hier-
gegen von den Kollegen in diesem Hause kommt, de-
nen sonst – etwa beim Urheberrecht, Herr Kollege
Manzewski – die Einschränkung von Eigentumspositio-
nen nicht weit genug gehen kann.
Wir als CDU/CSU-Fraktion wissen, dass Eigentum
verpflichtet und dass es beim geistigen Eigentum um ei-
nen angemessenen und fairen Interessenausgleich zwi-
schen den Kreativen und ihren Auftraggebern einerseits
und den Nutzern andererseits geht. Diesem mitunter
schwierigen Geschäft scheinen sich SPD und Grüne
beim Geschmacksmusterrecht offenbar entziehen zu
wollen.
Herr Kollege Tauss, wenn wir es uns zum Beispiel beim
Urheberrecht genauso einfach gemacht hätten wie Ihre
Fraktionskollegen beim Geschmacksmusterrecht, dann
hätten wir viel Zeit gespart und ein Urheberrecht schaf-
fen können, das gerade einmal zwei Paragraphen um-
fasst hätte: § 1 hätte besagt, dass das Urheberrecht für
Autoren und andere Kreative gilt. In § 2 wären Strafen
und Bußgelder definiert worden. Das wäre es gewesen,
Ende der Veranstaltung. So einfach können wir es uns
aber weder beim Urheberrecht noch beim Geschmacks-
musterrecht machen. Dafür möchte ich werben.
Es ist im Übrigen schon bemerkenswert, wen Sie bei
Ihrer Ablehnung einer Reparaturklausel auf Ihrer Gegen-
seite haben. Erstens. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten
der Europäischen Union, die ihrer Pflicht zur Umsetzung
der Geschmacksmusterrichtlinie nachgekommen ist, hat
sich klar für eine Reparaturklausel oder eine vergleich-
bare Regelung entschieden. Zu diesen Ländern gehören
interessanterweise vor allem solche mit einer bedeuten-
den Autoindustrie, wie zum Beispiel Italien, Spanien
und Großbritannien.
Zweitens. Die EU-Kommission befürwortet ebenfalls
eine Reparaturklausel; denn sie ist wichtig für den Wett-
bewerb in Europa.
Drittens. Sogar das Bundeskartellamt hat sich offen-
bar schon im letzten Jahr positiv zu einer solchen Klau-
sel geäußert, übrigens in einer internen Stellungnahme,
deren Inhalt mir zwar berichtet wurde, deren Veröffent-
lichung aber das Bundeswirtschaftsministerium offen-
sichtlich verweigert. Ich finde auch das ist kein guter
Stil.
Was macht die deutsche Regierung? Sie geht den um-
gekehrten Weg. Sie votiert gegen den freien Wettbe-
werb. Angesichts dessen fragt man sich schon, woran
das liegt. Herr Kollege Hartenbach, uns ist natürlich klar,
dass die Entscheidung gegen eine Reparaturklausel, also
gegen eine verbraucher- und mittelstandsfreundliche Re-
gelung nicht primär im Justizministerium getroffen wor-
den ist, sondern dass sich der „Autokanzler“ persönlich
einschaltet, wenn die Interessen der Autoindustrie be-
troffen sind. Der schöne Titel „Autokanzler“ kann aber
nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wirtschaftspoli-
tik dieses Regierungschefs auch der deutschen Autoin-
dustrie deutlich mehr schadet als nutzt. Das zentrale Pro-
blem rot-grüner Wirtschaftspolitik liegt aber darin, dass
7318 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Dr. Günter Krings
der Kanzler nur ein „Autokanzler“ und nicht zugleich
ein „Handwerkskanzler“, ein „Einzelhandelskanzler“
oder ein „Mittelstandskanzler“ ist.
Man muss nur wissen, dass innerhalb der Privatwirt-
schaft 70 Prozent der Menschen im deutschen Mittel-
stand Beschäftigung finden. So lässt sich leicht und lo-
gisch erklären, welche Politik mit ursächlich dafür ist,
dass wir inzwischen in Deutschland konstant über
4 Millionen Arbeitslose beklagen müssen.
Zu den fadenscheinigsten Angriffen auf eine Repara-
turklausel zählt im Übrigen das Argument, die Qualität
der Ersatzteile sei gefährdet – Sie haben das inzident
angesprochen –, wenn die deutsche Autoindustrie es
nicht mehr in der Hand habe, welche Hersteller auf den
deutschen Markt dürfen und welche nicht. In der Anhö-
rung des Rechtsausschusses hat der Sachverständige
Ulrich May, der als Vertreter des 14,5 Millionen Mitglie-
der starken ADAC eingeladen war, klipp und klar ausge-
führt – ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin
aus dem Anhörungsprotokoll –:
Nach Rücksprache mit unserer Crashabteilung ha-
ben wir auch festgestellt, dass es keinerlei Erfah-
rungen gibt, die belegen würden, dass Sicherheitsri-
siken durch Nachbauteile im Karosseriebereich
entstehen würden.
Ebenso scheinheilig ist das Argument, eine Repara-
turklausel gefährde Arbeitsplätze in Deutschland, weil
sie den Import von Nachbauteilen nach Deutschland zu-
lasse. Fakt ist, dass es nicht in erster Linie die Ersatzteil-
hersteller sind, die im Ausland produzieren oder produ-
zieren lassen. Vielmehr verlagern die Automobilfirmen
selbst – leider – einen immer größeren Teil ihrer Produk-
tion in das nähere und fernere Ausland und beziehen
auch Teile verstärkt aus dem Ausland. Die freien Ersatz-
teilproduzenten sind überwiegend mittelständische deut-
sche Firmen, deren wirtschaftliche Existenz wir nicht
vom Gutdünken der großen Automobilfirmen abhängig
machen dürfen.
Übrigens, Herr Hartenbach, und Herr Staffelt, wenn
Sie sich hier über Bremsscheiben unterhalten, dann zeigt
das wieder einmal, wie gut Sie Ihren eigenen Gesetzent-
wurf kennen; denn Bremsscheiben sind gar nicht betrof-
fen. Sie sind nämlich nicht sichtbare Ersatzteile.
Wer glaubt, dass die eben erwähnten Befürchtungen
übertrieben pessimistisch seien, weil bislang alles gut
gegangen sei und weil der deutsche Ersatzteilhandel
noch gut im Geschäft sei, der hat offenbar die jüngsten
Entwicklungen der Branche nicht zur Kenntnis genom-
men oder will sie nicht zur Kenntnis nehmen. Mehrere
deutsche Automobilfirmen sitzen nicht mehr in den
Startlöchern, sondern sind schon losgelaufen, um mit-
hilfe ihrer Designrechte die unliebsame freie Konkur-
renz vom Markt zu drängen. Erste Prozesse sind bereits
anhängig. Obwohl dem Verband der Automobilindustrie
das vorzeitige Losschlagen wohl etwas peinlich ist, sind
die Klagen bislang nicht zurückgenommen worden. Man
darf also sehr gespannt sein, welche Prozesse in den
nächsten Monaten und Jahren noch angestrengt werden.
Wenn es nach dem Regierungsentwurf und nach Ihrer
Rede, Herr Staatssekretär, geht, dann dürfte es die be-
schriebenen Verfahren gegen die deutschen Teilehändler
eigentlich gar nicht geben. In der Begründung des Ge-
setzentwurfs wird ein Brief der deutschen Automobilin-
dustrie an den Bundeskanzler zitiert. Dort heißt es:
Die Automobilindustrie hat insoweit klar und ein-
deutig erklärt, dass es ihr nicht darum geht, den
Wettbewerb und den Ersatzteilmarkt zum Nachteil
der Ersatzteilehersteller und des Handels zu beein-
trächtigen.
Es wird sich in den nächsten Monaten zeigen, was
solche Zusagen wirklich wert sind. Entscheidend ist
aber, dass sich dieses Haus dank seiner rot-grünen Mehr-
heit geradezu der Lächerlichkeit preisgibt, wenn es ein
Gesetz unter der Bedingung erlässt, dass die Nutznießer
versprechen müssen, davon keinen Gebrauch zu ma-
chen.
Wie können wir erwarten, dass die Bürger und Unter-
nehmer in Deutschland unsere Gesetze noch ernst neh-
men, wenn sie unter solchen Umständen zustande kom-
men? Dieses Gesetz und vor allem seine Begründung
stärken nicht das Vertrauen, sondern das Misstrauen ge-
genüber dem Rechtsstaat. Mit einer solchen Hinterzim-
mergesetzgebung ist kein Staat zu machen.
Wir von der Unionsfraktion waren und sind zu einem
vernünftigen Kompromiss bereit. Die Reparaturklausel
stellt schon in sich einen solchen Kompromiss dar: Sie
gibt der Autoindustrie das Produktmonopol für den Neu-
wagenbereich und überlässt den Ersatzteilemarkt dem
freien Wettbewerb. Darüber hinaus ist die Erhebung ei-
ner Lizenzgebühr möglich. Autofirmen können damit
eine angemessene Vergütung für die Nutzung ihres De-
signs bei Ersatzteilen verlangen. Ebenso ist eine Befris-
tung des Musterschutzes für Ersatzteile denkbar, und
zwar in folgendem Sinne: Den Automobilfirmen ver-
bleibt ein Marktmonopol für die ersten zwei oder drei
Jahre der Lebenszeit eines Modells; danach setzt der
freie Wettbewerb ein.
Wir haben drei konkrete Vorschläge gemacht. Wir
sind zu Kompromissen bereit. Sie haben alle Vorschläge
ausgeschlagen und sich für eine verbraucher- und mittel-
standsfeindliche Lösung entschieden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen auf der linken Seite
dieses Hauses, ich fordere Sie ein allerletztes Mal auf:
Werfen Sie in Sachen Reparaturklausel „Ihr Herz über
die Hürde“! Beweisen Sie, dass es nicht nur für die Chef-
etagen der deutschen Automobilindustrie, sondern auch
für 47 Millionen Autobesitzer in Deutschland schlägt.
Danke schön.
Jetzt hat der Abgeordnete Jerzy Montag das Wort.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7319
(C)
(D)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Dr. Krings, trocknen Sie
Ihre Krokodilstränen, die Sie wegen des angeblich feh-
lenden Verbraucherschutzes vergießen! Das passt nicht
zur Politik Ihrer Partei. Es ist bezeichnend, dass Sie den
Verbraucherschutz erst dann entdecken und vermeint-
lich vehement verteidigen, wenn es um Autobesitzer
geht.
Wir werden uns das merken. Wenn wir Anfang des Jahres
2004 miteinander über die Reform des Gesetzes gegen
den unlauteren Wettbewerb diskutieren, dann werden wir
Ihnen Ihre Überlegungen zum Verbraucherschutz einmal
vorhalten.
Wir legen das Gesetz – es ist im wohlverstandenen In-
teresse der Verbraucher und auch der Autobesitzer –
ohne eine Reparaturklausel vor, weil sich die betroffenen
Ersatzteilhersteller auf den Bereich der Autoteile be-
schränken – das ist selbstverständlich und das wirft ih-
nen niemand vor –, der einen guten Profit abwirft, wäh-
rend die Automobilindustrie für alle Modelle und über
viele Jahrzehnte alle Ersatzteile vorrätig hält, damit auch
derjenige, der noch einen alten VW Käfer fährt, ein Er-
satzteil bekommen kann. Deswegen ist es wichtig, dass
die Automobilindustrie das Recht erhält, am Autoteile-
markt im Grundsatz teilzuhaben.
Herr Kollege Dr. Krings, ich will Sie daran erinnern
– aus dem von Ihnen genannten Argument wird nur um-
gekehrt ein Schuh –, wie Sie bei der Reform des Urhe-
berrechts gegen die Privatkopie gewettert haben.
Da ging es um den Verbraucher, Herr Dr. Krings, der
eine CD kauft und nur zur privaten Nutzung
drei oder vier Kopien herstellen möchte. Da haben Sie
den Schutz des geistigen Eigentums hochgehalten und
gesagt, das sei unmöglich, das könne nicht sein.
Genauso war Ihre Argumentation, als wir im Zuge der
Novellierung des Urheberrechts darüber nachgedacht
haben – da jedes Eigentum nach dem Grundgesetz dem
Gemeinwohl verpflichtet ist,
auch das geistige Eigentum –,
zugunsten von Schulen sowie für Zwecke der Ausbil-
dung und der Forschung Schranken einzufügen.
Auch da war Ihre Argumentation also, das könne man
nicht machen. Da waren Sie durchaus verbraucher- und
gemeinwohlfeindlich, lieber Herr Kollege. Deswegen
sind die Tränen, die Sie hier beim Thema Autoersatzteile
vergießen, Krokodilstränen.
Entgegen Ihren Ausführungen ist der Markt im Be-
reich der Automobilteile liberalisiert und ausgewogen.
Ich will Ihnen die Stellungnahme des Gesamtverbandes
Autoteile-Handel e. V. vorhalten. Die Betroffenen selbst
haben noch im Jahr 2002 erklärt, sie hätten 40 Prozent
des Autoteilehandels in ihren Händen. Herr Staatssekre-
tär Hartenbach hat von 40 bis 50 Prozent gesprochen,
aber die Betroffenen selbst sagen, dass sie 40 Prozent in
ihren Händen haben. Von einer Monopolisierung kann
also überhaupt keine Rede sein.
Hochinteressant: Die Beitrittsländer, die Autos produ-
zieren, Tschechien und Polen etwa, haben in den letzten
Tagen davon Abstand genommen, eine Reparaturklausel
in ihre neuen Gesetze zur Erreichung des Acquis einzu-
fügen.
Nach § 67 des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
bleibt die Gesetzeslage gerade auf dem Gebiet des Auto-
teilehandels so, wie sie ist. Die rot-grüne Mehrheit und
die Bundesregierung werden darauf achten, dass sich im
Sinne eines ausgewogenen und liberalen Marktes daran
auch nichts ändert. Die Situation, die Sie über viele Jahre
nicht beklagt haben, wollen Sie jetzt aus durchsichtigen
Gründen Ihrer Oppositionshaltung verändert wissen. Da
werden wir Ihnen nicht auf den Leim gehen. Wir werden
uns Ihre Argumente notieren und sie Ihnen zu gegebener
Zeit wieder vorhalten.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mo-
dernisierung des Geschmacksmusterrechts ist seit lan-
gem überfällig. Der von der Bundesregierung vorgelegte
Entwurf eines Geschmacksmusterreformgesetzes schafft
in der Tat im Grundsatz ein modernes Designschutzrecht.
Dass mit diesem Gesetz die so genannte Muster-Richtli-
nie viel zu spät in das deutsche Recht umgesetzt wird, so
spät, dass bereits ein Vertragsverletzungsverfahren gegen
7320 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Rainer Funke
Deutschland eingeleitet worden ist, erwähne ich hier nur
am Rande.
Die FDP wird dem Geschmacksmusterreformgesetz
heute trotzdem die Zustimmung versagen. Der Entwurf
leidet unverändert an einem großen Mangel: Er enthält
keine so genannte Reparaturklausel. Der Verzicht auf
diese dringend gebotene Bestimmung wiegt nach unserer
Überzeugung so schwer, dass die FDP dem Gesetz nicht
zustimmen kann. Im Übrigen war das bislang auch die
Meinung des Bundesjustizministeriums. Anders als das
Bundeswirtschaftsministerium wollte das Bundesjustiz-
ministerium diese Reparaturklausel immer. Das Bundes-
wirtschaftsministerium hat natürlich immer die Interes-
sen der Großkonzerne gegen den Mittelstand vertreten.
Insoweit ist das eine Debatte, die schon die frühere Bun-
desregierung beschäftigt hat. Das Bundesjustizministe-
rium ist jetzt gegenüber dem Bundeswirtschaftsministe-
rium, gegenüber dem Bundeskanzleramt und natürlich
auch gegenüber der Großindustrie, den Großkonzernen
der Automobilindustrie, eingeknickt.
Die Reparaturklausel würde den Inhabern von
Geschmacksmusterrechten einerseits einen uneinge-
schränkten Schutz des Designs von komplexen Erzeug-
nissen garantieren, einschließlich des Designs der sicht-
baren Einzelteile solcher Erzeugnisse. Andererseits wäre
aber die Ausdehnung dieses Musterschutzes auf Ersatz-
teile wie zum Beispiel Kotflügel ausgeschlossen. Die
Reparaturklausel verhindert damit ungerechtfertigte Mo-
nopole auf den nachgeordneten sekundären Ersatzteil-
märkten.
Die Behauptung, die Reparaturklausel würde den De-
signschutz insgesamt einschränken, ist also völlig
falsch. Stattdessen setzt die Reparaturklausel dem legiti-
men Designschutz eine sachgerechte Grenze im Inte-
resse des freien Wettbewerbs. Die Reparaturklausel ist
aber nicht nur aus wettbewerbs- und ordnungspoliti-
schen Gründen geboten, sondern sie dient zugleich auch
dem Verbraucherschutz, was ja auch der ADAC in der
Anhörung zu Recht deutlich gemacht hat.
Die Bundesregierung verweist auf die Zusage der
Automobilhersteller. Ob die etwas wert ist, wage ich zu
bezweifeln. Sie haben sich nämlich nicht verbindlich er-
klärt, sondern nur einen Brief geschrieben, der ausdrück-
lich nicht verbindlich sein soll. Insoweit wird die euro-
päische Rechtsentwicklung abzuwarten sein. Wir
würden es begrüßen, wenn die Reparaturklausel kom-
men würde. Sie würde die europäische Rechtsentwick-
lung nicht vorausnehmen. Insoweit wäre die gesetzliche
Verankerung der Reparaturklausel auch für Verbraucher
und für die mittelständische Wirtschaft eine gute Lösung
gewesen.
Wir werden dem Gesetz nicht zustimmen, weil hier
nur der Torso eines Gesetzes vorliegt.
Danke.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir de-
battieren hier über das Geschmacksmusterreformgesetz,
Kollege Krings und Kollege Funke. Ich erwähne das
noch einmal ausdrücklich, da mir nach Ihren beiden Bei-
trägen nicht so ganz klar wurde, worum es eigentlich
geht.
– Ganz vorsichtig!
Das Gesetz, über das wir hier reden, umfasst
70 Seiten und etwa ähnlich viele Vorschriften. Im ge-
samten Gesetzgebungsverfahren, auch am heutigen
Tage, haben Sie nicht eine einzige Vorschrift dieses Ge-
setzes kritisiert, Kollege Krings und Kollege Funke.
Aber weil das Gesetz von der Bundesregierung stammt,
muss es wohl schon deshalb von der Opposition abge-
lehnt werden.
So haben Sie verzweifelt nach einem Grund hierfür ge-
sucht und diesen dann offensichtlich wohl in der hier
schon andiskutierten Frage der Aufnahme der Reparatur-
klausel gefunden.
Nun könnte man das ja alles nachvollziehen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, wenn wir es in diesem
Punkte unterlassen hätten, einer Vorgabe der EU zu fol-
gen. Sie aber haben hier verschwiegen, dass das eben
nicht der Fall ist. Aufgrund der völlig unterschiedli-
chen Auffassungen innerhalb der EU zu diesem Thema
hat die EU diesen Streitpunkt bewusst nicht gelöst, son-
dern die Entscheidung hierüber vertagt. Für die Ableh-
nung des Gesetzes habe ich deshalb keinerlei Verständ-
nis. Für mich stellt das Ihrer Rechtspolitik, meine
Damen und Herren von der Opposition, ein Armuts-
zeugnis aus.
Nun lassen Sie mich noch etwas zu der von Ihnen
hoch gelobten Reparaturklausel sagen. Mir ist schon
nicht erklärlich, warum wir hier einer Entscheidung der
EU vorweg greifen sollten, um diese dann möglicher-
weise später revidieren zu müssen.
Ich vermag weiterhin auch nicht den Nutzen einer sol-
chen Reparaturklausel für unser Land zu erkennen. Um
es noch einmal deutlich zu machen, meine Damen und
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7321
(C)
(D)
Dirk Manzewski
Herren: Derzeit ist eine solche Reparaturklausel bei uns
nicht gesetzlich verankert. Es gibt momentan einen Ge-
schmacksmusterschutz für Ersatzteile. Wer sich im
Lande umschaut – wir haben das getan und die Zu-
schauer können das auch gerne tun –, wird bestätigen
können, dass gleichwohl kaum ein Bereich in Deutsch-
land so boomt wie der des Ersatzteilhandels.
Wir haben zu diesem Streitpunkt auch eine Sachver-
ständigenanhörung durchgeführt. Für mich persönlich
war dabei maßgebend, Kollege Krings, was Vertreter
von BDI und Max-Planck-Institut gesagt haben, nämlich
dass die Einführung einer Reparaturklausel – das ist
wichtig – den Bruch des gewerblichen Rechtsschutzes in
Deutschland darstellen würde. Innovation und Know-
how, liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen die Zu-
kunft Deutschlands dar. Das ist hier im Hause schon oft
genug von den Vertretern aller Fraktionen beschworen
worden. Innovation und Know-how bringen aber nur
dann maximale Wertschöpfung, wenn sie rechtlich abge-
sichert sind.
Niemand sollte glauben, dass deutsche Zulieferer
über einen längeren Zeitraum von einer solchen Klau-
sel profitieren würden. Über kurz oder lang wäre die
Produktion solcher Ersatzteile nur noch in Billiglohn-
ländern zu finden. Kollege Krings, Ihre Rede war
schon ein bisschen daneben. Da hilft dann auch kein
Hinweis auf die Rechtslage in anderen EU-Staaten. Por-
tugal, Irland, Holland, Luxemburg oder Belgien kön-
nen es sich mit einer solchen Regelung relativ einfach
machen, weil sie quasi keine Automobilindustrie haben
und von einer solchen Reparaturklausel nur profitieren
würden.
– Großbritannien kann schon deshalb nicht der Maßstab
sein, Herr Kollege Krings, weil die Reparaturklausel
dort sogar ein Mehr an Rechtsschutz bedeutet. Ersatz-
teile sind Einzelteile. Sie wissen ganz genau, dass vor
der Einführung der EU-Richtlinie in Großbritannien auf
diese Einzelteile weitestgehend noch nicht einmal ein
Rechtsschutz bestand.
– Man merkt bei Ihren Zwischenrufen, wie Sie jetzt rum-
eiern.
Wir im Deutschen Bundestag haben deutsche Interes-
sen zu vertreten und zu bedenken, dass das deutsche
Recht des geistigen Eigentums viel ausgeprägter ist als
in anderen Ländern. Es ist nicht zu erklären – das hat in
der ganzen Debatte auch niemand von Ihnen getan –,
wie ein Auto Designschutz genießen soll, wie ein Ein-
zelteil Designschutz genießen soll, das entsprechende
Ersatzteil aber nicht. Das Design eines Produktes ist
doch nicht abhängig davon, ob ein Einzelteil heil oder
kaputt ist. Das Design eines Produktes schwebt immer
imaginär im Hintergrund.
Eine systemkonforme Begründung, wie Sie ange-
sichts dessen für Ersatzteile eine Sonderregelung verlan-
gen können, habe ich bislang noch nicht gehört. Allein
das Argument, dass wir für mehr Wettbewerb sorgen
müssen, kann nicht alles sein. Abgesehen davon, dass
Automobilindustrie und Ersatzteilhandel prächtig neben-
einander existieren, ist es für mich nicht zu beanstanden,
wenn jemand aufgrund seines geistigen Eigentums über
einen kürzeren oder längeren Zeitraum ein Monopol hat
und dieses selbstverständlich gerichtlich einklagt. Das
muss möglich sein.
Für mich wäre es sehr interessant, zu erfahren, wie
Sie sich zukünftig gegenüber Erfindern in Deutschland
positionieren werden. Gilt dann das Motto „Patente und
deren ausschließliche Nutzung gibt es nur, wenn diese
nicht wirtschaftlich erfolgreich sind“? Darf bei Verstoß
gegen das Patent nicht rechtlich dagegen vorgegangen
werden? Ich verstehe das nicht.
– Kollege Krings, Sie haben heute schon lange genug
geredet. Sie bekommen das Wort nicht mehr.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Krings?
Nein, dies habe ich gerade abgelehnt. Ich habe seine
Wortmeldung gesehen.
Wenn die Opposition uns dann vorwirft, hier allein
die Interessen der Automobilindustrie zu vertreten,
bleibt festzustellen, Kollege Krings, dass wir es sind, die
bestehendes Recht und geistiges Eigentum hoch halten;
das ist hier gar nicht deutlich geworden. Sie sind es, die
eine Gesetzesänderung verlangen und sich damit vor den
Karren der Ersatzteilbranche spannen lassen. Lobbyis-
mus pur hier im Deutschen Bundestag!
Wenn Sie behaupten, eine Reparaturklausel sei ver-
braucherfreundlicher, so kann das allenfalls auf den
Preis zutreffen. Bei der Qualität hätte ich schon erhebli-
che Probleme. Verbraucher sind auch Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, die in der deutschen Automobil-
industrie Beschäftigung finden.
Hinzu kommt noch etwas – Kollege Montag hat es
schon angedeutet –: Der Ersatzteilhandel sucht sich
momentan nur die Produkte aus, die für ihn wirtschaft-
lich interessant sind. Um den Rest soll sich weiterhin die
Automobilindustrie kümmern. Das gilt auch für die
Stoßstangen des zehn oder 15 Jahre alten Fahrzeuges.
Für den freien Ersatzteilhandel ist dies völlig uninteres-
sant, weil sich nur noch relativ wenige von diesen Fahr-
zeugen im Verkehr befinden. Aber die Automobilbranche
7322 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Dirk Manzewski
hat diese Ersatzteile vorzuhalten, wodurch erhebliche
Kosten verursacht werden. Ich kann Ihre Argumentation
nicht verstehen.
Kollege Krings, ich habe leider nicht mehr so viel
Zeit.
Ich hätte Ihnen gern noch einiges gesagt; denn das, was
Sie erzählt haben, war Unsinn pur. Lassen Sie mich
gleichwohl abschließen. Ich freue mich ebenso wie der
Kollege Montag, dass Sie plötzlich Ihr Herz für die Ver-
braucher entdeckt haben. Ich verspreche Ihnen auch,
dass ich Sie hieran bei der im neuen Jahr fortgeführten
Debatte über das Gesetz gegen den unlauteren Wettbe-
werb sehr gern erinnern werde.
Meine letzten Sätze: Sie sehen, es spricht viel für die
Beibehaltung des Status quo – mehr wollen wir nicht –
und nichts für die Aufnahme einer Reparaturklausel.
Überwinden Sie Ihren Lobbyismus, meine Damen und
Herren von der Opposition, und stimmen Sie diesem
hervorragenden Gesetzentwurf zu!
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform
des Geschmacksmusterrechts. Der Rechtsausschuss
empfiehlt auf Drucksache 15/2191, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Bitte erheben Sie sich, wenn
Sie dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen
worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Stärkung der dualen Berufsausbildung in
Deutschland durch Novellierung des Berufs-
bildungsrechts
– Drucksachen 15/1348, 15/1957 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Willi Brase
Uwe Schummer
Grietje Bettin
Christoph Hartmann
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-
sprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-
spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Parlamentarische Staatssekretär Christoph Matschie.
C
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute über einen Antrag der CDU/CSU-
Fraktion zur Novellierung des Berufsbildungsrechts. Ich
glaube, wir sind uns alle darin einig, dass veränderte Be-
schäftigungsstrukturen sowie Innovations- und Verände-
rungsbedarf in der Wirtschaft natürlich auch Verände-
rungen im Berufsbildungsrecht nach sich ziehen müssen,
dass unser Ausbildungssystem hier vor neue Herausfor-
derungen gestellt wird. Ich denke, wir sollten heute vor
allem über diese notwendigen Strukturanpassungen dis-
kutieren.
Mir ist wichtig, dass wir dabei nicht aus dem Auge
verlieren, dass im Mittelpunkt unserer Überlegungen
auch diejenigen stehen sollten, um die es geht, nämlich
die Auszubildenden, und dass ihre Interessen in dieser
Diskussion ausreichend berücksichtigt werden sollten.
Natürlich fordern Auszubildende zu Recht verlässliche
gesetzliche Rahmenbedingungen, die auch ihren Bedürf-
nissen und Interessen gerecht werden, genauso wie diese
Rahmenbedingungen den Interessen der Wirtschaft ge-
recht werden müssen.
Genau in der Frage, was eigentlich mit den Rechten
der Auszubildenden ist, sehe ich ein Problem bei den
Anträgen der Opposition. Sie haben zum Beispiel in Ih-
rem Antrag geschrieben:
Jugendarbeitsschutzgesetz und das Betriebsverfas-
sungsgesetz müssen um ausbildungshemmende
Vorschriften bereinigt werden.
Die FDP ist da noch ein bisschen unverblümter. Sie
sagt direkt, dass die Abschaffung des Übernahmegebotes
bei der Jugend- und Auszubildendenvertretung abge-
schafft werden solle.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7323
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Christoph Matschie
Das hat erstens natürlich nichts mit dem Berufsbildungs-
gesetz zu tun; das wissen Sie auch. Zweitens wurde diese
Regelung gerade dazu aufgenommen, um Auszubilden-
den und Lehrlingen eine angemessene Position bei der
Vertretung ihrer Interessen im Betrieb zu verschaffen.
Das hat aus meiner Sicht nichts mit Ausbildungshemm-
nissen zu tun, sondern mit legitimer Interessenvertre-
tung, die auch in Zukunft gesichert sein muss.
Lassen Sie mich auf einige Kernpunkte bei der No-
vellierung des Berufsbildungsgesetzes eingehen. Wenn
ich Ihren Antrag richtig verstanden habe, liegen wir in
vielen Punkten in der Sache nicht sehr weit auseinander.
Ich will zunächst etwas zu den Positionen sagen, die wir
mit Sicherheit gemeinsam vertreten können. Natürlich
ist es klar, dass wir eine Erleichterung des Zugangs zum
Hochschulsektor für beruflich Qualifizierte brauchen;
das sehen wir ganz genauso. Hierfür gibt es in den Län-
dern sehr unterschiedliche Regelungen. Es ist notwen-
dig, dass wir hier stärker harmonisieren und klare Zu-
gangsregelungen schaffen.
Wir brauchen auch eine konsequente Ausrichtung der
Ausbildungsordnungen samt Ausbildungsrahmenplänen
am Grundsatz der Vermittlung beruflicher Hand-
lungsfähigkeit. In der Tat ist hier eine Beschreibung der
Qualifikationen notwendig, die von den Ausbildungsbe-
trieben umgesetzt werden könnten. Bedenken Sie dabei
aber bitte – ich sage das gerade in Richtung der Kolle-
ginnen und Kollegen von der FDP –, dass alle neueren
Ausbildungsordnungen schon jetzt die Möglichkeit bie-
ten, Ausbildungen flexibel an betriebliche Erfordernisse
anzupassen. Zudem enthalten viele Ausbildungsordnun-
gen schon jetzt so genannte Wahl- und Pflichtbausteine.
Ich glaube auch, dass es darum gehen muss, die Aus-
richtung der Abschlussprüfung an praxisorientierten Ar-
beitsaufgaben und branchenüblichen Arbeitsprozessen
stärker zur Geltung zu bringen. Das wird in den einzel-
nen Ausbildungsordnungen zu regeln sein.
Wie Sie in Ihrem Antrag wollen auch wir die Einfüh-
rung einer gestreckten Abschlussprüfung, deren erster
Teil die Zwischenprüfung ersetzen und damit einen
wichtigen Beitrag für eine kontinuierliche Lernbeglei-
tung leisten wird.
Die Zukunft der nach dem Berufsbildungsgesetz ge-
regelten Weiterbildung sehen wir wie Sie in der modu-
laren Strukturierung dieser Bildungsgänge mit einem da-
zugehörigen einheitlichen Qualitätssicherungsverfahren.
Hier sind jedoch vorrangig – das wissen Sie – die Kam-
mern gefordert, die die Hauptverantwortung bei der
Schaffung arbeitsmarktrelevanter Weiterbildungsange-
bote tragen. Die Neustrukturierung der Gremien ist aus
unserer Sicht notwendig und sinnvoll. Wir streben zum
Beispiel eine Verringerung der Zahl der Mitglieder des
Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung
an.
Nicht zuletzt ist natürlich klar, dass wir eine Öffnung
des Berufsbildungssystems für internationale Ansätze,
wie beispielsweise die Absolvierung von Ausbildungs-
teilen im Ausland, brauchen. Auch das steht auf unserer
Agenda, wenn wir über eine Novelle des BBiG diskutie-
ren.
Ich möchte nun Ihr Augenmerk auf drei Punkte richten,
bei denen wir in der Sache auseinander liegen und über
die wir noch diskutieren müssen. Ich möchte Sie fragen:
Was meinen Sie konkret mit Ihrer Forderung, die Verstaat-
lichung der beruflichen Bildung zurückzuführen? Richtet
sich diese Forderung gegen die starke Berücksichtigung
vollzeitschulischer Ausbildungsgänge im BBiG? Wollen
Sie wirklich die Augen davor verschließen, dass viele
junge Menschen in der vollzeitschulischen Ausbildung
eine echte Alternative zur betrieblichen Ausbildung se-
hen und solche Alternativen auch gern nutzen? Wollen
Sie den Absolventen dieser schulischen Ausbildungs-
gänge eine stärkere Anerkennung verweigern? Ich weiß
nicht ganz genau, was Sie an diesem Punkt wollen. Wir
müssen darüber diskutieren.
Wir müssen das hohe Ansehen und die Qualität der
dualen Berufsausbildung auch auf diese Ausbildungs-
gänge übertragen. So müssen wir zum Beispiel den Ab-
solventen berufsschulischer Bildungsgänge einen An-
spruch auf Zulassung zur Abschlussprüfung bei den
Kammern verschaffen und somit die Anrechnung voll-
schulischer Qualifikationen verbessern.
Ein anderer Punkt des Berufsbildungsgesetzes: Das
Berufsbildungsgesetz sieht zurzeit eine Ausbildungszeit
von zwei bis drei Jahren vor. Ich denke, das ist ein ange-
messener Zeitraum, um eine anspruchsvolle Facharbei-
ter- oder Fachangestelltentätigkeit zu erlernen. Deshalb
kann ich Ihre Forderung nach einjährigen Ausbildungs-
berufen überhaupt nicht nachvollziehen; denn da, wo sie
im Einzelfall Sinn machen, gibt es schon heute die Mög-
lichkeit der Stufenausbildungen, bei denen ein erster be-
rufsqualifizierender Abschluss schon nach einem Jahr
vorgesehen werden kann. Es besteht also kein weiterer
Bedarf an solchen Ausbildungen. Zudem möchte ich da-
rauf hinweisen, dass wir erst kürzlich Forderungen der
Wirtschaft aufgegriffen und ein Neuordnungsverfahren
für vier zweijährige Ausbildungsberufe eingeleitet haben.
Werte Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss
möchte ich ganz deutlich sagen: Wir unterstützen Ihr
Anliegen, das Gesetz über die berufliche Bildung weiter-
zuentwickeln. Ich habe deutlich gemacht, dass es in ver-
schiedenen Punkten gemeinsame Ansätze gibt. Lassen
Sie uns diese gemeinsamen Anknüpfungspunkte nutzen,
um zu einem gemeinsamen Ergebnis in der Berufsbil-
dung zu kommen. Das wäre für die Ausbildung und die
Jugendlichen gut, die sich sicher sein können, dass im
Parlament gemeinsam getragene Vorstellungen die be-
rufliche Ausbildung weiter voranbringen werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
7324 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Werner Lensing.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Ich glaube, Herr Staatssekretär Matschie,
es liegt an der adventlichen Stimmung oder aber – das
wäre mir natürlich lieber und spräche für die Sache – an
der Qualität unseres Antrags, dass Sie uns so loben.
Die Qualität unseres Antrags zeigt sich darin, dass er
von der Wirklichkeit ausgeht. Die Wirklichkeit zeigt sich
für uns in den Fakten, die ich jetzt benennen werde.
Wenn Sie uns mit Ihrer Fraktion darin folgen, kann ich
mir in vielen Bereichen eine Annäherung vorstellen.
Erstens. Bildung ist unser eigentlicher Reichtum; will
heißen: Unsere wirkliche Ressource besteht im Wissen
und Können unserer Schülerinnen und Schüler.
Zweitens. Bildung umfasst immer den ganzen Men-
schen. Das bedeutet, dass Bildung niemals isoliert be-
trachtet werden darf.
Drittens. Der Rohstoff Bildung droht auszugehen.
Viertens. In der Berufsausbildung geht dies bedauerli-
cherweise mit der fortwährenden Schwächung der dua-
len Ausbildung einher.
Fünftens – auch das ist objektiv –: Schuld daran trägt
die verfehlte Politik von Rot-Grün in Bildung und Wirt-
schaft mit der höchsten Neuverschuldung seit Gründung
der Bundesrepublik Deutschland.
Sechstens – Sie kennen es –: Was die eine Hand mit
120 000 Insolvenzen im Mittelstand in drei Jahren ver-
nichtet hat, probiert die andere mit Zwangsabgaben
– Stichwort Ausbildungsplatzabgabe – einzufordern. Das
kann nicht funktionieren.
Siebtens. Die Blockadehaltung der Gewerkschaften
bei der Schaffung theorieentlasteter Berufe trägt trauri-
gerweise zur Verschärfung der Lehrstellensituation bei.
Das nenne ich unverantwortlich.
Achtens und letztens. Bereits heute ist ein Mangel an
qualifizierten Fachkräften in Sicht.
Wie ich Ihnen das eben schon versprochen habe, geht
unser Antrag konkret auf diese prekäre Lage ein, in die
uns nicht zuletzt – Sie wollen es nicht hören, aber ich bin
als Unionsmann der Wahrheit verpflichtet –
die Bundesregierung durch schuldhaftes Zaudern ge-
bracht hat.
Im Gegensatz zu ihr reagieren wir auf die bestehen-
den Notwendigkeiten und setzen konsequent auf die Ent-
wicklung von drei entscheidenden Handlungsfeldern in
der beruflichen Bildung. Diese lauten: Transparenz bei
Durchlässigkeit, Flexibilisierung und die Einführung
von Bildungsbausteinen, den so genannten Modulen.
Zur Transparenz: Diese sollte in einem modernen
Staat wie Deutschland eigentlich Normalität sein, ist es
aber nicht. Regelwerke und ein Verordnungsdschungel
wie beispielsweise auch bei Ihrem eben schon erwähnten
Betriebsverfassungsgesetz und dem Jugendarbeits-
schutzgesetz trüben die Sicht auf klare Ausbildungs-
ziele.
So wollen wir Kompetenzen – das sage ich jetzt extra für
Sie, Kollege Barthel –, die ein Auszubildender erreichen
soll, anhand eines ganzheitlichen Berufsbildes beschrei-
ben. Derzeit hingegen werden Lernziele festgelegt, die
nicht einmal mehr die Ausbildungsbetriebe richtig ver-
stehen.
Zur Transparenz in der Ausbildung gehört aber auch
– und dies ist mir besonders wichtig –, dass die Berufs-
schulleistungen angemessen berücksichtigt werden.
Deshalb fordern wir nach erfolgreicher Prüfung die Er-
stellung eines Zertifikats, in das die Ergebnisse der Be-
rufsschulleistungen sowie das betriebliche Zeugnis
gleichberechtigt aufgenommen werden.
Dies ist nicht zuletzt für die zusätzliche Motivation der
Lehrer- wie der Schülerschaft wichtig. Deswegen benö-
tigen wir eine eigenständige und neutrale Qualitätssiche-
rung, über die wir im Einzelnen zu verhandeln haben.
Zur Durchlässigkeit: Ich bin der Meinung – das gilt
besonders mit Blick auf die Hochschulen –, dass diese
der Schlüssel für ein dynamisches lebenslanges Lernen
ist. Um die Ausbildungsfähigkeit besonders der kleinen
und mittleren Betriebe zu fördern, sind wir – es gibt sie
zum Teil bereits – für Ausbildungsverbünde, für die wir
allerdings wesentlich konkretere Rahmenbedingungen
schaffen müssen.
Zu den Bildungsbausteinen nur so viel: Mit der Ein-
führung dieser Module wird die Bildungsfreiheit des
Einzelnen im Lernprozess erweitert werden. Diese Mo-
dule gelten sowohl für die Berufsvorbereitung als auch
für die Ausbildung und die Weiterbildung. Das Tollste
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7325
(C)
(D)
Werner Lensing
daran ist – deswegen bin ich davon so begeistert –: Die
Lernenden sind bei der Wahl ihrer Module frei. Eine vor-
geschriebene Reihenfolge existiert nur dort, wo dies aus
Gründen der inneren Logik zwingend ist. – Aufgrund Ih-
rer Zwischenrufe weiß ich zwar nicht, ob Sie die Gesetz-
mäßigkeiten der inneren Logik beherrschen. Aber das
möchte ich hier nicht im Einzelnen ausführen. –
Als Nachweis für die erworbenen Module dient dann ein
von uns geforderter Berufsbildungspass.
Meine Damen und Herren, unser ständiges Leitmotiv
pädagogischen Handelns lautet: Individualität des Ler-
nens anstatt rot-grüner Verstaatlichung der Bildung.
Vielen Dank.
Danke schön. Wir alle fragen uns, was der Unter-
schied zwischen der inneren und der äußeren Logik ist.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Wir alle wissen, dass wir bei der Reform der be-
ruflichen Bildung zusammenarbeiten müssen, da das
BBiG zustimmungspflichtig ist. Von daher finde ich,
dass wir hier eine sehr differenzierte Debatte führen soll-
ten. Leider ist das, was die Zusammenarbeit angeht, in
anderen Bildungsbereichen wie Schule oder Hochschule
noch nicht in dem Maße der Fall, wie ich mir das wün-
schen würde. Vielleicht ist dieser Antrag der CDU/CSU-
Fraktion ein Schritt, damit wir uns zumindest bei der Re-
form der beruflichen Bildung in wesentlichen Punkten
einigen können.
Die rot-grüne Bundesregierung hat bereits viele wich-
tige Impulse für die Reformen im Bereich von Hoch-
schule und Schule gesetzt. Darüber hinaus ist die Re-
form der beruflichen Bildung für uns ein ganz zentrales
politisches Thema. Denn schließlich ist dies der Ausbil-
dungsweg, den die Mehrheit der jungen Menschen in
Deutschland wählt. Leider ist die Zahl der betrieblichen
Ausbildungsplätze dramatisch gesunken. Darüber haben
wir uns hier im Plenum schon oft unterhalten. Leider
können wir den Wünschen der jungen Menschen nicht in
dem Maße gerecht werden, wie wir das gerne tun wür-
den.
Viele Details Ihres Antrags, liebe CDU/CSU-Frak-
tion, teilen wir; beispielsweise was den Zugang zur
Hochschulbildung, die Einführung gestreckter Prüfun-
gen und die Internationalisierung der beruflichen Bil-
dung angeht. Allerdings ist in Ihrem Antrag ein ganz
großes Manko festzustellen: Sie äußern sich überhaupt
nicht zu benachteiligten Jugendlichen und ihrer Förde-
rung.
Für uns Grüne ist die Chancengerechtigkeit das zen-
trale Element für alle Bereiche der Bildungspolitik. Die
PISA-Studie hat gezeigt, dass die Bildungsbiographien
und die damit verbundenen Aufstiegschancen im Beruf
in Deutschland ganz direkt von der familiären Herkunft
abhängig sind. Uns ist es daher wichtig, unser ganz be-
sonderes Augenmerk auf die Jugendlichen, die beispiels-
weise aus ethnischen, sozialen, physischen oder psychi-
schen Gründen benachteiligt sind, zu richten.
Wir brauchen Modernisierung und Flexibilisierung,
die den heute veränderten Lebensbedingungen auf viel-
fältige Weise gerecht werden. Wir haben schon erste
Versuche unternommen, den Jugendlichen Schritt für
Schritt den Weg hin zu einer vollwertigen Ausbildung zu
ermöglichen. So haben wir unter anderem die Berufsaus-
bildungsvorbereitung bereits in das BBiG integriert, um
hier für junge Leute ohne Schulabschluss eine Erleichte-
rung vorzunehmen.
Wir können Jugendliche nicht in Maßnahmen parken,
ohne sie mit ganz konkreten Fähigkeiten auszustatten.
Wir können sie nicht, wie das in Deutschland leider
schon seit vielen Jahren der Fall ist, in Ersatzmaßnah-
men parken. Staatliche Gelder müssen für Qualifizierung
und dürfen nicht für Beschäftigungstherapie ausgegeben
werden.
Auch halten wir Grüne den Streit um eine Modulari-
sierung für wenig zukunftsweisend. Klar ist, dass wir
junge Menschen für einen Beruf qualifizieren und nicht
für bestimmte Tätigkeiten in einem einzelnen Betrieb
anlernen wollen. Aber die Modularisierung soll aus un-
serer Sicht endlich die Anerkennung von Teilqualifika-
tionen regeln,
um den wechselhaften Biographien und der großen Zahl
von Schulabgängerinnen und Schulabgängern ohne
Schulabschluss gerecht zu werden.
Wir Grüne wollen nicht grundsätzlich zu einer zwei-
jährigen Ausbildungsdauer zurück. Wir möchten aber
diejenigen in Ausbildung hineinholen, die im derzeit be-
stehenden Ausbildungssystem nicht zurecht kommen.
Motivation soll durch die Anrechnung von Teilqualifika-
tionen sichergestellt werden. Wir müssen die jungen
Menschen ernst nehmen.
Ich betone aber, dass wir nicht für eine Stufenausbil-
dung eintreten. Die Jugendlichen müssen wissen, dass
sie in ein drittes Ausbildungsjahr eintreten können, um
einen besseren Abschluss zu bekommen und einen Beruf
mit einem vollen Berufsbild zu ergreifen. Die Ausbil-
dungsdauer muss sich deswegen unserer Meinung nach
flexibel in einem Zeitraum von zwei und dreieinhalb
7326 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Grietje Bettin
Jahren bewegen, je nach Leistungsfähigkeit der jungen
Menschen. Von Herrn Matschie wurde bereits angespro-
chen, dass das BBiG eine solch flexible Handhabung in
manchen Bereichen bereits ermöglicht. Wir wollen aber
einen klaren Rechtsanspruch auf verkürzte Ausbildungs-
zeiten, beispielsweise bei Vorliegen des Abiturs.
Ganz wichtig ist für uns die Verbesserung der Bil-
dungsberatung, in diesem Fall der Ausbildungsbera-
tung. Es ist festzustellen, dass junge Frauen und Jugend-
liche mit Migrationshintergrund noch immer häufig
wenig zukunftsweisende Berufe wählen. Wir sollten das
Jahr 2004, das Jahr der Technik, nutzen, um viele Berufe
vorzustellen und sie bekannter zu machen. Wir müssen
den jungen Menschen, gerade jungen Frauen und Ju-
gendlichen mit Migrationshintergrund, mehr Anreize ge-
ben, damit sie andere Berufe auswählen.
Es wurde schon die Bedeutung der Regionalisierung
angesprochen. Sie ist besonders wichtig, weil sie den
Bedürfnissen der jungen Menschen besonders gut ge-
recht werden kann. Beispiele dafür finden sich bei den
regionalen Ausbildungsverbünden und den Ausbil-
dungszentren. Das sind für uns wichtige Ansatzpunkte.
Wir müssen zusehen, dass wir bei diesen Fragen zusam-
menkommen.
Zum Abschluss möchte ich einen kurzen Ausblick ge-
ben. Die Statistik zeigt, dass die Mittel von Bund und
Ländern für die Berufsausbildung kontinuierlich gestie-
gen sind, die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze
dagegen gesunken ist. Das halten wir nicht für eine zu-
kunftsweisende Lösung. Wir können die Betriebe nicht
aus der Verantwortung entlassen. Wir müssen darüber
nachdenken, wie wir in Deutschland überbetrieblichen
Ausbildungsformen mehr Chancen geben und wie wir es
schaffen, die Kooperationsmöglichkeiten auf regionaler
Ebene zu verbessern. Daran wollen wir gemeinsam mit
Ihnen arbeiten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der Kollege Christoph Hartmann,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Staatssekretär, Sie haben betont, was diese
Bundesregierung schon alles getan hat, um die Berufs-
bildung in Deutschland attraktiver zu machen. Das reicht
aber noch nicht; denn die Ausbildungsbereitschaft in
Deutschland ist nach wie vor zu gering. Das liegt unter
anderem an den vielen bestehenden wirtschaftlichen
Hemmnissen, an der mangelnden Ausbildungsreife eini-
ger Jugendlicher und daran, dass die Berufsbildung in
Deutschland noch immer nicht genügend modern, inter-
national vergleichbar und zukunftssicher gestaltet ist.
Die Bürokratie in den Betrieben muss abgebaut werden.
Wir haben nach wie vor – darauf komme ich später noch
zu sprechen – zu viele starre und veraltete Berufsbilder.
Trotz dieser Rahmenbedingungen haben Sie eine
Ausbildungsplatzabgabe in die Diskussion gebracht.
Es gibt keinen Experten, der bestätigt: Die Ausbildungs-
platzabgabe bringt in Deutschland etwas. – Im Gegen-
teil: Sie wird in diesem Bereich eher zu einer Ver-
schlechterung führen. Erkennen Sie das endlich!
Der Antrag der CDU/CSU geht in die richtige Rich-
tung. Er geht uns aber noch nicht weit genug. Die Bun-
desregierung muss endlich den Mut finden, die richtigen
und entscheidenden Weichenstellungen zu treffen. Ich
finde es hervorragend, dass Sie gesagt haben, worin Sie
mit uns d‘accord sind. Die Frage ist aber doch, ob sich
die Bundesregierung endlich dazu bereit erklärt, uns
Vorschläge vorzulegen und die Probleme gemeinsam mit
uns anzugehen. Stattdessen lehnt sie die Vorschläge, die
ihr von der Opposition vorgelegt werden, nur ab.
Wir brauchen die Modularisierung. Wir brauchen
einzelne Bausteine, die wir zu einer individuell leistba-
ren Ausbildung zusammenfügen. Modularisierung be-
deutet nämlich, dass jeder Ausbildungsziele, die ihn für
eine spätere Beschäftigung qualifizieren, nach seinem
Lerntempo erreichen kann.
Dazu gehören dreieinhalbjährige Berufsausbildungs-
gänge für Jugendliche, die einen längeren Zeitraum
brauchen, um sich das notwendige Wissen anzueignen.
Dazu gehören aber eben auch zweijährige theoriegemin-
derte Berufsausbildungsgänge für Jugendliche, die an-
sonsten keine komplette Ausbildung absolvieren kön-
nen.
Sie wollen eine Art Modularisierung, die sich bei Ihnen
Qualifizierungsbausteine nennt. Diese Qualifizierungs-
bausteine setzen Sie aber eben nur in der Berufsausbil-
dungsvorbereitung und nicht in der Berufsausbildung
ein.
Auch das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Diese Bundesregierung – auch der Staatssekretär – er-
klärt uns immer wieder, dass es schon so viele verkürzte
Ausbildungsberufe gibt. Nun, es gibt einige. Derzeit gibt
es aber nur 30 theoriegeminderte Ausbildungsgänge, die
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7327
(C)
(D)
Christoph Hartmann
man in zwei Jahren absolvieren kann. 30 von 350 – das
sind noch nicht einmal 10 Prozent. Herr Staatssekretär,
das reicht einfach nicht.
Es gibt Einzelhandelskaufleute und Verkäufer. Wa-
rum gibt es aber zum Beispiel nicht Fahrradmonteure?
Es gibt Chemielaboranten und Chemielaborjungwerker.
Warum gibt es aber zum Beispiel nicht Dienstleistungs-
fachkräfte, die meinetwegen in Sonnenstudios arbeiten?
Es ist doch besser, dass es überhaupt eine Ausbildung
für Menschen gibt, die ansonsten nicht in der Lage wä-
ren, eine Ausbildung zu absolvieren, damit sie wenigs-
tens etwas in der Hand haben, als dass gesagt wird: Ihr
müsst leider draußen bleiben, weil ihr nicht in der Lage
seid, die Theorie, die bei der dualen Ausbildung gelehrt
wird, zu bewältigen.
Insofern ist es ein Scheinargument, dass die Modulari-
sierung eine Gefahr für die duale Ausbildung in
Deutschland bedeutet.
Die Modularisierung ist die einzige Chance für einige
theorieschwache Jugendliche, eine Ausbildung zu schaf-
fen.
– Herr Kollege, ich bedanke mich für den Zwischenruf.
Ich selbst bin Mitinhaber einer kleinen Firma, die in den
letzten Jahren immerhin vier Auszubildende zur Ausbil-
dungsreife geführt hat. Wir arbeiten selbst daran, für die
Menschen etwas zu tun und sie auszubilden. Das ist der
Unterschied zwischen einigen aus der Opposition und
dieser Bundesregierung.
Zu einer Ausbildungsoffensive gehört aber noch viel
mehr. Dazu gehören eine radikale Entbürokratisierung,
eine Erleichterung für die Schaffung von Ausbildungs-
verbünden, die Flexibilisierung von Beschäftigungszei-
ten und die Aufhebung der Flächentarifverträge; denn
der eine oder andere ist sicherlich damit einverstanden,
dass er 100 Euro pro Monat weniger an Ausbildungsver-
gütung bekommt, dafür aber auf jeden Fall eine Ausbil-
dung erhält.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ja, die Bun-
desregierung hat einiges getan. Das reicht aber nicht.
Deswegen müssen jetzt die nächsten Schritte folgen, um
dieses Land wirklich ausbildungsfähig zu gestalten.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Klaus Barthel für die SPD-
Fraktion das Wort.
– Zu Recht, Herr Lensing. – Herr Präsident! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen!
Den Antrag der Union, den wir heute beraten, begrüßen
wir zum Teil durchaus. Für Ihre Verhältnisse ist er sehr
differenziert und Sie hüten sich darin vor allzu einfachen
Antworten. Sie verabschieden sich offensichtlich von
allzu platten Forderungen, die wir schon gehört haben,
zum Beispiel von der Forderung nach der Abschaffung
des JUMP-Programms,
einer simplen Deregulierung, der Auflösung von Quali-
tätsansprüchen und – im Unterschied zur FDP – der Ab-
senkung der Ausbildungsvergütung sowie dem Abbau
der Rechte von Auszubildenden.
Herr Hartmann, schauen wir uns einmal die Ausbil-
dungsvergütungen an. Wenn Ihre Logik stimmen
würde, eine einfache Absenkung von Ausbildungsvergü-
tungen also genügen würde, um Ausbildungsplätze zu
schaffen, dann müsste es in den neuen Bundesländern
und bei den einfachen Berufen von Ausbildungsplätzen
doch geradezu wimmeln.
Sie von der Union betonen andererseits ganz zu Recht
die Bedeutung von Bildung im Allgemeinen und von der
beruflichen Bildung im Besonderen. Sie wollen mit uns
das Berufsbildungsrecht modernisieren. Ich hebe das al-
les anerkennend hervor, weil leider im Kreise von Union
und Arbeitgeberverbänden oft ganz andere Töne zu hö-
ren sind.
Ihr Antrag beinhaltet aus unserer Sicht drei Sorten
von Forderungen. Die erste Sorte sind solche Forderun-
gen, die unstrittig sind, weil sie schon längst erfüllt sind.
Berufskonzept, ganzheitlicher Anspruch, flexible Aus-
gestaltung von Ausbildungsplänen, branchen- und be-
triebsspezifische Ausprägungen: All das gibt es schon.
Lassen Sie uns auch immer wieder sagen, dass es das
schon gibt, damit wir denen entgegentreten können, die
7328 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Klaus Barthel
unser derzeitiges System als unflexibles und überholtes
Monstrum diskreditieren wollen.
Das Schlechtreden dieses Systems führt nämlich zu al-
lem Möglichen, aber nicht dazu, dass mehr Ausbildungs-
plätze entstehen oder dass mehr Jugendliche für dieses
System gewonnen werden.
Bei der zweiten Sorte von Forderungen in Ihrem An-
trag besteht zwischen uns Konsens: Zugang zu Hoch-
schulen regeln – da sind wir einmal gespannt darauf, was
die Länder machen –, Zahl der Gremien reduzieren
– auch hier ist die Frage: Wie sieht es bei den Ländern
aus? Denn es geht hierbei nicht nur um die Bundes-
ebene, sondern um die ganze Vielfalt von zuständigen
Stellen bei Kammern, Berufsständen, Verwaltungen
usw. –, Zusammenfassung von Aus- und Weiterbildung
– wunderbar –, bessere Lernortkooperation zwischen
Betrieb und Schule, Internationalisierung usw.
Jetzt, Herr Lensing, kommen wir zur dritten Sorte,
nämlich zu Ihren widersprüchlichen Forderungen und
den Forderungen zu strittigen Punkten. Zum Beispiel ist
die Ermöglichung von einjährigen Ausbildungen der
Abschied vom Berufskonzept. Das muss man doch ganz
klar sagen.
Da noch von der Befähigung zur Aufnahme einer quali-
fizierten Tätigkeit zu sprechen, wie Sie das tun, ist doch
angesichts der Realität auf dem Arbeitsmarkt absolut
absurd. Sie selbst schreiben doch im Vorspann Ihres An-
trages über die wachsenden Anforderungen an die Quali-
fikation in der wissensbasierten Informations- und
Dienstleistungsgesellschaft. Einjährige Ausbildungen
gehören überall hin, zum Beispiel in die feudale Dienst-
botengesellschaft, aber nicht in die moderne Gesell-
schaft der Zukunft.
Genauso wenig passt Ihre Vorstellung von Modulari-
sierung mit der gleichzeitigen Aufweichung von Ausbil-
dungsordnungen zusammen. Das geht nicht. Wie sollen
denn Module zueinander passen, wenn Sie, wie Sie in
Punkt 9 Ihres Antrages beschreiben, Abweichungen von
Ausbildungsordnungen in großem Stil, von betrieblichen
Notwendigkeiten diktiert, zulassen wollen? Wie soll es
denn möglich sein, Ausbildungspläne von Berufsschule
und Betrieben aufeinander abzustellen, wenn gleichzei-
tig alles modularisiert und – auch im Zeitablauf – immer
unverbindlicher wird? Das geht doch nicht.
Spannend wird es bei der von der Union geforderten
Modularisierung auch in Bezug auf den Vorschlag, Teil-
qualifikationen zu zertifizieren und anzurechnen, siehe
Forderung auf Seite 4 in Punkt 4. Gleichzeitig führen Sie
im Deregulierungskapitel auf Seite 2 genau diese An-
rechnungspflicht als ausbildungshemmende Vorschrift
an. Wollen Sie also einschränken oder abschaffen, oder
was wollen Sie? Das Deregulierungskapitel finden wir
sowieso etwas skurril, weil darin mehr Regulierung
– zum Teil durchaus sinnvolle Regulierungen – als De-
regulierung gefordert wird.
Die Verstaatlichung der beruflichen Bildung, von
der Sie reden, ist über das, was Herr Matschie gesagt hat,
hinaus auch noch zu hinterfragen. Eine Verstaatlichung
findet doch bei uns in der Bundesrepublik nicht statt,
weil irgendwelche finsteren sozialistischen oder gewerk-
schaftlichen Kräfte am Werk sind. Verstaatlichung findet
statt, weil sich die Wirtschaft zu Teilen ihrer Verantwor-
tung entzieht und sich der Kosten und Mühen einer Aus-
bildung entledigt.
Das hochgelobte duale System konzentriert sich mittler-
weile auf weniger als ein Drittel aller Unternehmen, die
immer noch zum Vorteil der Gesamtwirtschaft ausbil-
den. Verstaatlichung findet also unfreiwillig statt, weil
wir es ablehnen und weil die Koalition es ablehnt, die
Folgen dieses Rückzugs der Wirtschaft auf dem Rücken
der Jugendlichen abzuladen.
Der Staat muss für die Wirtschaft in die Bresche sprin-
gen, weil es nicht anders geht. Die öffentliche Hand
– Bund, Länder und Bundesanstalt für Arbeit – zahlt
inzwischen je nach Berechnungsart zwischen einem
Drittel und 40 Prozent aller Ausbildungskosten, fast
10 Milliarden Euro in diesem Jahr. Wir brauchen also
Ihre Parolen nicht, sondern wir brauchen passende Lö-
sungsvorschläge.
Diese müssen sich auf Quantität und Qualität von Aus-
bildung beziehen.
Ich kann das nicht mehr im Detail ausführen.
Ich will noch einen Punkt ansprechen. Unser Problem
ist – ich hätte mir diese Bemerkung gerne erspart, Herr
Lensing, weil sie uns nicht weiterführt –, dass die Zahl
der Ausbildungsplätze nicht nur im konjunkturellen Tal
der letzten zwei bis drei Jahre zurückgegangen ist, also
nicht nur in der Regierungszeit von Rot-Grün, was wir
mit staatlichen Maßnahmen aufgefangen haben, sondern
der Rückgang der Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze
ist seit mehr als zehn Jahren im Gange. Anfang der 90er-
Jahre ist die Ausbildungsquote von über 7 Prozent auf
mittlerweile gut 5 Prozent besonders schnell zurückge-
gangen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7329
(C)
(D)
Klaus Barthel
Diese langfristigen Probleme können wir nur durch
eine dauerhafte Qualitätssicherung und durch eine zu-
künftige Finanzierung des Ausbildungssystems lösen.
Wir laden Sie herzlich ein, gemeinsam mit uns daran zu
arbeiten. Ihr Antrag enthält eine Reihe von vernünftigen
Vorschlägen. Wir müssen aber aus den genannten Grün-
den Ihren Antrag ablehnen und die Vorstellungen der
FDP massiv bekämpfen.
Das Präsidium ist für jeden Redner dankbar, der die
Bekämpfung der Anträge der anderen Fraktionen inner-
halb der gemeldeten Redezeit bewerkstelligt.
Nun erhält der Kollege Uwe Schummer für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Der
Auftakt von Herrn Staatssekretär Matschie war gut und
kooperativ.
Das, was er aufgebaut hat, hat der Kollege Barthel alles
wieder niedergerissen. Bei ihm kam die alte Ideologie
der Bekämpfung durch.
Sie müssen sich zwischen Kooperation und Konflikt mit
der Opposition entscheiden.
Wir sind dafür, dass wir am Menschen orientiert eine
Modernisierung der beruflichen Bildung entwickeln.
Dazu gehört die gemeinsame Geistesanstrengung: Wie
können wir verstärkt betriebliche Ausbildungsplätze
schaffen? Im Zusammenhang mit der schleichenden Ver-
staatlichung müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass
heute 40 Prozent der Schulabgänger gezwungenermaßen
Ersatzmaßnahmen in Anspruch nehmen, weil sie keine
betriebliche Ausbildungsperspektive haben.
Diesen Zustand wollen wir ändern, indem wir die Be-
triebe verstärkt ermutigen und es ihnen erleichtern, Aus-
bildungsplätze zu schaffen. Wenn Sie mit uns kooperie-
ren wollen, dann zeigen Sie das, indem Sie auch die
Opposition zur Mitarbeit in der Kommission, die im
Kanzleramt bereits eingerichtet ist – sie beschäftigt sich
damit, wie die Modernisierung der beruflichen Bildung
aussehen könnte –, einladen.
Es ist der beste und direkte Weg, nicht nur von Zusam-
menarbeit zu reden, sondern uns konkret einzuladen.
Wir werden miteinander darüber verhandeln, was für die
Menschen der beste Weg ist.
Wir werden zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir in
diesem Ausbildungsjahr zusätzlich 15 000 Schulabgän-
ger im Ausbildungsmarkt zu integrieren haben. Das
Defizit an Lehrstellen ist mit 30 000 ähnlich hoch wie im
letzten Jahr. Es ist nun einmal so: Der Ausbildungsmarkt
folgt dem Arbeitsmarkt. Im Jahresvergleich gibt es einen
Abbau von 632 291 sozialversicherten Beschäftigungs-
verhältnissen. Es ist offenkundig, dass Betriebe, die
keine Zukunft haben, Menschen keine Zukunft bieten
können. Deshalb müssen wir Betriebe entlasten und
nicht weiter belasten.
Eine Verunsicherung des größten Ausbilders, des
Handwerks, ist durch die kleine Handwerksnovelle ent-
standen. Sie haben sich darüber beklagt, Herr Kollege
Barthel, dass wir Berufsbilder mit einjähriger Ausbil-
dung schaffen wollen, die in die Zeit der Leibeigenschaft
gehörten. Tatsache ist: Mit der kleinen Handwerksno-
velle sollen Ich-AGs mit sozialversicherten Arbeitsplät-
zen in Konkurrenz zum Handwerk Arbeiten ausführen
dürfen, die in drei Monaten erlernt werden können. Sie
betreiben im Handwerk die Atomisierung von Berufsbil-
dern. Ziehen Sie diese kleine Handwerksnovelle zurück.
Dann gibt es auch wieder mehr Ausbildungsplätze im
Handwerk.
Immerhin werden 540 000 Auszubildende im Hand-
werk beschäftigt. Das ist nicht nur eine starke Wirt-
schaftsstruktur, sondern auch eine der wichtigsten Aus-
bildungskräfte bei uns im Lande. Die Lehrstellenlücke
von 30 000 wäre sicherlich kleiner, wenn Sie diese Ver-
unsicherung im Handwerk nicht betrieben hätten.
Das Berufsbildungsgesetz wurde 1969 geschaffen.
Es muss mit der Zeit modernisiert werden. Es muss fle-
xibler werden. Es gibt viele Berufsbilder, die theorie-
stark sind, aber praktisch Begabte verlieren den An-
schluss. Warum sind wir das einzige Land, das den
dreijährigen Ausbildungsberuf des Tankwarts kennt?
Demnächst gibt es den Tankwart mit betriebswirtschaft-
lichem Studium.
7330 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Uwe Schummer
Wir müssen Berufsbilder wieder an der Realität ausrich-
ten und dürfen nicht möglichst viel Theorie verlangen,
damit der Praktiker und der Hauptschüler nicht unterge-
hen. Wenn ich eine Autopanne habe, dann brauche ich
jemanden, der abschleppen und reparieren kann. Ich
brauche niemanden, der mir Einsteins Relativitätstheorie
erläutert.
Für die Ausbildung zum Altenpfleger sehen Sie jetzt
500 Unterrichtsstunden mehr vor. Das heißt noch weni-
ger Praxis, noch mehr Theorie an der Pflegefachschule.
Die Konsequenz ist, dass der Hauptschüler keine Chance
mehr hat, diese Ausbildung zu absolvieren.
Derzeit fehlen 20 000 Pflegekräfte. Einige diskutieren
darüber, diese aus außereuropäischen Ländern zu impor-
tieren und dafür eine Greencard zu erteilen. Geben Sie
durch eine Stufenausbildung wie im Saarland – erste
Stufe Altenpflegehelfer, zweite Stufe Altenpfleger – in
allen Berufsbereichen auch den praktisch Begabten eine
Chance, eine Ausbildung aufzunehmen.
Das wäre in allen Berufen möglich.
– Das Saarland macht es ja.
In Nordrhein-Westfalen ist es die Union, die das vor-
schlägt. In Brandenburg wird es ebenfalls von der Union
vorgeschlagen. Wir sind diejenigen, die bereit sind, ent-
sprechende Modelle umzusetzen.
40 Prozent der 4,2 Millionen Arbeitslosen sind ohne
Berufsabschluss. Derzeit sind 1,3 Millionen Menschen
bis 29 Jahre ohne Berufsausbildung.
Jedes Jahr produziert das Bildungssystem 100 000 aus-
bildungslose junge Menschen. Hier müssen wir gegen-
steuern und versuchen, Möglichkeiten zum Einstieg in
einen Beruf zu vermitteln.
Lassen Sie uns darüber reden, wie wir Learning by
Doing, wie ich es als Pfadfinder gelernt habe, in die Be-
rufsausbildung integrieren können.
„Begreifen“ kommt von „greifen“ und hat etwas mit
praktischer Begabung zu tun. Wir müssen Theorie und
Praxis stärker miteinander verbinden und noch mehr
Wert auf die Praxis legen.
– Schreien Sie nicht nur herum, Herr Barthel, Sie haben
schon genug mit Ihrer Rede kaputtgemacht.
Führen Sie ein Stufensystem ein: vom Baufacharbei-
ter zum Maurer, vom Verkäufer zum Einzelhandelskauf-
mann, vom Änderungsschneider zum Konfektions-
schneider. Lassen Sie den Kfz-Mechatroniker in der
ersten Stufe Mechanik und Karosserie lernen und in der
zweiten Stufe die Elektronik und die Theorie. Wir kön-
nen die Stufenausbildung in allen Berufszweigen umset-
zen. Dann hätten alle Menschen eine Chance, wieder
eine berufliche Perspektive zu finden.
Das Berufsbildungsgesetz muss nicht nur flexibler,
sondern auch dynamischer werden. Es gibt 350 Berufs-
bilder, davon 32 zweijährige Ausbildungen. In den letz-
ten drei Jahren wurden 13 neue Berufsbilder zwischen
den Sozialpartnern vereinbart. Es sind über 100 Berufs-
bilder in der Pipeline, die noch bearbeitet werden müs-
sen. Wenn es in diesem Schneckentempo weiter geht,
sind diese Berufsbilder erst im Jahre 2013 abgearbeitet.
Lassen Sie uns darüber nachdenken, ob wir einen neutra-
len Schlichter einsetzen, der dann, wenn sich die Sozial-
partner gegenseitig blockieren, entscheidet und Berufs-
bilder freigibt, die dann zu mehr Ausbildungsplätzen
führen.
Ich hätte Ihnen gerne noch weitere Vorschläge ge-
macht.
Das glaube ich sofort.
Unsere Bitte ist: Nehmen Sie unsere Eckpunkte als
konkretes Gesprächsangebot! Wir sind bereit, partei-
übergreifend mit Ihnen etwas für die Menschen zu leis-
ten.
Das Wort hat nun der Kollege Willi Brase, SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, zum
Tempo der Neuordnung muss ich etwas ausführen, denn
nach meiner Erinnerung waren die Neuordnungsverfah-
ren Mitte der 90er-Jahre wesentlich länger, als das der-
zeit der Fall ist.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7331
(C)
(D)
Willi Brase
Wir haben die Verfahren stark verkürzt, vor allen Din-
gen mit Unterstützung der beteiligten Partner.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat bei Schülern
in den Abschlussklassen der allgemein bildenden Schu-
len 2001 und 2003 nachgefragt, wo ihre Interessen lie-
gen. Lassen Sie mich einige dieser Zahlen nennen:
86 Prozent der befragten Hauptschüler – 9. Klasse – in
den alten Ländern gaben an, eine duale Ausbildung ma-
chen zu wollen; unter den Realschülern – 10. Klasse –
waren es immerhin noch 73 Prozent. In den neuen Bun-
desländern lagen die Vergleichszahlen bei 90 Prozent für
die Hauptschüler und 80 Prozent für die Realschüler.
Allein diese Zahlen zeigen doch eindeutig, wie groß
das Interesse der jungen Leute an dualer Ausbildung ist.
Vor diesem Hintergrund fordere ich Sie und uns gemein-
sam auf, eine sach- und fachgerechte Debatte zur Be-
rufsbildungsreform zu führen, sie auf den Weg zu brin-
gen und vor allen Dingen zusammen mit den
Unternehmen genügend Ausbildungsplätze zu organisie-
ren.
Sie fordern – das ist schon angesprochen worden – für
bestimmte Berufszweige eine nur einjährige Ausbil-
dungsdauer bzw. eine theoriegeminderte Ausbildung.
Professor Dieter Euler, Professor für Wirtschaftspädago-
gik und Bildungsmanagement an der Universität Sankt
Gallen, hat dazu nach meinem Dafürhalten etwas Richti-
ges ausgeführt, was ich hier gerne vorstellen möchte:
Es wird zukünftig sicherlich Einfacharbeitsplätze
geben, für die streng genommen eine Anlehre nötig
ist, wenn man es allein unter qualifikatorischen Ge-
sichtspunkten betrachtet. Dennoch sollte gerade in
diesen Ausbildungsbereichen eine Berufsausbil-
dung mehr leisten als ein enges Ausrichten auf ei-
nen Arbeitsplatz. Die jungen Leute benötigen häu-
fig Unterstützung, neuen Mut und Motivation für
den Einstieg ins Berufsleben. Deshalb halte ich
Kurzausbildungsgänge für zu eng und kurzsichtig.
Sie zielen auf einen Qualifikationsbereich, dessen
Nachfrage abnimmt, und sie beschneiden den
Raum für Förderung.
Genau das ist das Problem.
Vor dem Hintergrund des Gesagten ist es für mich
nicht erkennbar, dass die im Antrag der Union formulier-
ten Vorschläge zur Modularisierung und zur ein- bis
dreieinhalbjährigen Ausbildungsdauer die Beschäfti-
gungsfähigkeit tatsächlich verbessern werden. Die Län-
der in Europa, die das Berufskonzept einer dualen Aus-
bildung umfänglich verfolgen, haben wesentlich
weniger jugendliche Arbeitslose bzw. sind viel eher in
der Lage, die Jugendarbeitslosigkeit schnell abzubauen.
Allein aus diesem Grund spreche ich mich gegen eine zu
starke Modularisierung aus. Damit beziehe ich mich ins-
besondere auf die Segmente, in denen zukünftig kaum
oder gar keine Einfacharbeitsplätze mehr entstehen.
Angesprochen wurde auch die Frage einer Verstaatli-
chung. Der Kollege Barthel hat schon darauf hingewie-
sen, dass in den letzten Jahren die Kosten für die Durch-
führung der beruflichen Bildung eine beachtliche
Entwicklung genommen haben. Die Anteile zwischen
dem öffentlichen Bereich, inklusive der Bundesanstalt
für Arbeit, auf der einen Seite und den Unternehmen auf
der anderen Seite haben sich zulasten des öffentlichen
Bereichs verschoben. Ich will Ihnen das noch einmal an
Zahlen deutlich machen: 1993 waren 363 000 Schülerin-
nen und Schüler im Berufsgrundbildungsjahr, im Berufs-
vorbereitungsjahr oder an einer Berufsfachschule. Im
Jahr 2001 stieg diese Zahl auf 541 000. Oder nehmen
wir nur die Schülerinnen und Schüler an den Berufsfach-
schulen, die außerhalb des Geltungsbereichs des Berufs-
bildungsgesetzes und der Handwerksordnung ausgebil-
det werden: Diese Zahl hat sich von 141 000 im Jahre
1997 auf 176 000 im Jahre 2001 erhöht.
Das sind doch Anzeichen dafür, dass eine Verstaatli-
chung der beruflichen Ausbildung in Kombination mit
einer gewissen Verschulung auf den Weg gebracht
wurde. Ich kann nur sagen: Hier müssen wir bei der Re-
form sehr aufpassen. Das ist der falsche Weg. Denn die
Beschäftigungsfähigkeit wird vor allem in den voll qua-
lifizierenden Berufsausbildungsverhältnissen der Unter-
nehmen geleistet.
Ich bin der Kultusministerkonferenz dankbar
– da können Sie ruhig „Nein!“ rufen –, die vor wenigen
Tagen in einem Beschluss wieder mehr Verlässlichkeit
der Wirtschaft bei der Bereitstellung von Ausbildungs-
plätzen eingefordert hat. In diesem Zusammenhang
fordert sie eine verlässliche Bereitstellung einer ausrei-
chenden Anzahl von Ausbildungsstellen, um der schlei-
chenden Verstaatlichung der Berufsausbildung entge-
genzuwirken. Falls erforderlich, sollte auch über Bedarf
ausgebildet werden, damit die Berufsausbildung auch in
konjunkturell schwierigen Zeiten und bei demogra-
phisch bedingten Problemen funktionsfähig bleibt und
die Wirtschaft ihrer gesellschaftspolitischen Verantwor-
tung gerecht wird. Genau darum geht es und genau des-
halb werden wir handeln.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Pau, bevor ich Ihnen das Wort erteile,
bitte ich Sie, noch einige Sekunden zu warten. Weil mich
der Kollege Tauss mehrfach insistierend bittet, die
7332 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
bescheidene Überschreitung der Redezeit seines Kolle-
gen ausdrücklich zu würdigen, will ich das vor Beginn
Ihrer Rede erledigen.
Ich erteile der Kollegin Petra Pau das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben zuletzt vor drei Monaten über die Berufsausbil-
dung debattiert. Die PDS hat damals zwei Maßnahmen
gefordert, nämlich akut eine Ausbildungsumlage und
grundsätzlich eine Ausbildungsreform.
Eine Ausbildungsumlage sollte von jenen Unterneh-
men entrichtet werden, die ausbilden können, dies aber
nicht tun. Sie sollte denjenigen zugute kommen, die aus-
bilden wollen, es aber nicht können. Eine Ausbildungs-
reform ist seit Jahren überfällig, um den Ansprüchen des
21. Jahrhunderts und den Erwartungen der Lernenden
gerechter zu werden.
Seit unserer Debatte im September ist Folgendes pas-
siert:
Erstens. Die Regierung setzte damals noch auf ihre
Ausbildungsplatzoffensive und wiederholte die Verspre-
chen der Unternehmer. Die Hoffnung trog allerdings; es
fehlen noch immer Tausende von Ausbildungsplätzen.
Zweitens. Die SPD hat auf ihrem Parteitag zum x-ten
Mal mit einer Ausbildungsplatzumlage gedroht.
Aber auch diese Hoffnung trügt. Noch immer fehlen
konkrete Schritte. Sie sind auch nicht in Sicht.
Genau betrachtet ist also nichts passiert. Das Di-
lemma wird verlängert. In gewisser Weise ist aber doch
etwas passiert: Erneut werden zigtausend Jugendliche
enttäuscht und um ihre Hoffnung betrogen. Das ist doch
das eigentliche Dilemma. Damit wird sich die PDS im
Bundestag nicht abfinden.
Viele Kameras und Mikrofone sind derzeit auf den
Vermittlungsausschuss gerichtet. Alles wird gedeutet,
bewertet und zum Anlass für höchst wichtige Sondersen-
dungen genommen. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen,
dass bei dem Geschacher zwischen SPD und CDU/CSU
und zwischen Bund und Ländern das Wort Ausbildung
gar nicht vorkommt?
Beide Seiten – die Regierungskoalition und die Oppo-
sition – reformieren unaufhörlich, aber besser wird
nichts, auch nicht für jene, die nur einen Ausbildungs-
platz suchen.
Liebe Kollegen Hartmann und Schummer, die Hilfs-
kraft im Solarium oder der nicht ausgebildete Fahrrad-
monteur können doch nicht ernsthaft als Beispiele für
die Ausbildung light in den von Ihnen wohlgepriesenen
Minijobs der Zukunft dienen.
Ich denke, Sie verfehlen die Lösung des Grundproblems,
nämlich Ausbildungsinhalte für das 21. Jahrhundert zu
definieren und Ausbildungs- und auch entsprechende
Arbeitsplätze zu schaffen.
Im „Spiegel“ wurde vor wenigen Wochen eine kühne
These aufgestellt. Kurz gefasst lautet sie: Der Osten wird
alt und dumm. Gemeint sind die neuen Bundesländer.
Noch schlimmer ist: Diese These fußt auf Fakten. Immer
mehr Menschen wandern gen Westen, und zwar die jun-
gen, flexiblen und gebildeten. Sie suchen ihr Glück in
der Ferne, weil ihre Chancen daheim immer weiter
schwinden. Sie sind dazu gezwungen, weil sie andern-
falls auch noch von Staats wegen bestraft werden.
Das ist die Logik, die sowohl Ihrer Agenda 2010 als
auch Ihren heute zu beratenden Gesetzentwürfen inne-
wohnt. Insofern ist doch etwas passiert, seit wir im Sep-
tember über die Ausbildungsplatzmisere diskutiert ha-
ben. Sie verfolgen – assistiert von der konservativen
Opposition – entschlossener denn je Ihren fatalen Kurs
der Agenda 2010.
Dabei macht die PDS im Bundestag nicht mit.
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Marion Seib, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich gleich mit dem Ausbildungs-
hemmnis Nummer eins beginnen: Wer nicht ausbildet,
wird umgelegt. Kommt Ihnen dieser Satz irgendwie be-
kannt vor?
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7333
(C)
(D)
Marion Seib
Ich glaube schon. Mit diesem grobschlächtigen Slogan
begannen die Jungsozialisten in der SPD Ende der 90er-
Jahre erneut eine Debatte über eine Ausbildungsplatzab-
gabe. In den 80er-Jahren hatte das Bundesverfassungs-
gericht die Abgabe aufgrund von Verfahrensfehlern
schon einmal gekippt.
Ihnen geht es immer nur darum, sich von den Unter-
nehmen Geld zu holen.
Aber durch die falsche Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und
Finanzpolitik der Bundesregierung ist von Wirtschafts-
wachstum nichts zu merken.
Die Arbeitslosigkeit befindet sich auf dem höchsten
Nachkriegsniveau. Die Beschäftigtenzahlen brechen
dramatisch ein. Logischerweise ist auch die Lehrlings-
ausbildung von dieser Krise negativ betroffen. Noch nie
war die Ausbildungssituation derart katastrophal wie im
Sommer 2003.
Als Antwort der Bundesregierung wird die Ausbilder-
Eignungsverordnung ausgesetzt und die unsägliche Aus-
bildungsplatzabgabe
wieder aus der untersten Schublade gezerrt.
Was einst lustig von den Jusos skandiert wurde, wird mit
dieser Abgabe
für viele Unternehmen bald bitterer Ernst. Mit der Ab-
gabe
werden viele Unternehmen im wahrsten Sinne des Wor-
tes umgelegt.
Hat denn niemand im Bundeskanzleramt zur Kenntnis
genommen, dass über 40 000 Unternehmen Insolvenz
anmelden mussten und dass viele Unternehmen bereits
mit dem Rücken zur Wand stehen? Die Ausbildungsnot
ist die Kehrseite der wirtschaftlichen Not vieler Betriebe.
Lassen Sie sich sagen: Mittelständler, die um ihre Exis-
tenz bangen, haben andere Sorgen als die Lehrlingsaus-
bildung.
Durch Ihr Konzept, mit der Ausbildungsplatzabgabe
überbetriebliche Ausbildung zu subventionieren, be-
steht die Gefahr, dass in staatlichen Ausbildungspro-
grammen vor allem praxisfremde und nicht am Bedarf
orientierte Lehrstellen entstehen. Packen Sie die Ausbil-
dungsplatzabgabe
wieder in die Schublade, wohin sie gehört, und beginnen
Sie endlich mit der Novellierung des Berufsbildungs-
rechts.
Wir haben dazu ein detailliertes Eckpunktepapier im
Bundestag eingebracht. Der Abbau von Ausbildungs-
hemmnissen ließe sich beliebig fortführen. Vor allem
brauchen wir aber strukturelle Veränderungen. Die Be-
rufsausbildung muss wieder stärker an betrieblichen
Aufgaben und Arbeitsprozessen orientiert und den Be-
trieben mehr Eigenverantwortung bei der Ausbildung
gegeben werden. Deshalb fordern wir: Die Ausbildungs-
ordnungen müssen modernisiert und insbesondere flexi-
bilisiert werden. Berufsausbildungsvorbereitung, Be-
rufsausbildung und berufliche Weiterbildung müssen im
Bausteinsystem organisiert werden.
Der Ausbildungsrahmenplan muss regelmäßig angepasst
werden.
Der erste wichtige Schritt wäre, den Grundsatz einer
breit angelegten beruflichen Grundbildung mit Kern-
und Fachqualifikation einzuhalten. Betriebsbezogene
Spezialisierung hat in allgemeinen Berufsbildern nichts
verloren.
Vor allem vor dem Hintergrund, dass jährlich 15 Prozent
der Jugendlichen ohne Ausbildungsabschluss bleiben, ist
es notwendig, auch zweijährige theorieentlastete Ausbil-
dungsgänge zu schaffen. Wichtig ist dabei, dass die er-
worbene Qualifikation zu einem späteren Zeitpunkt zu
einem umfassenden qualifizierten Berufsabschluss er-
weitert werden kann. Ich kann es mir nicht verkneifen:
Treten Sie den Gewerkschaften endlich auf die Zehen!
Lassen Sie es nicht zu, dass die jungen Leute ihre beruf-
liche Karriere mit Arbeitslosigkeit beginnen müssen, nur
weil ein unsäglicher Grundsatzstreit von Ecklohnbeton-
köpfen dies so will.
Man muss auch kein Abitur haben, um ein guter, kre-
ativer Handwerker zu werden. Wichtig ist, dass wir den
jungen Leuten realistische Ausbildungsinhalte und Aus-
bildungsordnungen geben. Mit der Überspezialisierung
7334 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Marion Seib
in der dualen Berufsausbildung muss Schluss sein. Wir
brauchen mehr tüchtige Handwerker und Facharbeiter
und weniger Nischenausbildung, die oft schon im ersten
Lehrjahr beginnt und bei Brancheneinbrüchen zu früher
Arbeitslosigkeit führt. Vor allem aber sollten künftig alle
beruflich erworbenen Zertifikate, Abschlussprüfungen
und Weiterbildungsprüfungen in einem einheitlichen Be-
rufsbildungspass dokumentiert werden, der selbstver-
ständlich auf freiwilliger Basis geführt werden sollte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der rot-
grünen Koalition, dies ist der richtige Weg, um die Aus-
bildungsbereitschaft und vor allem die Ausbildungskraft
der Betriebe zu stärken. Es gilt, Anreize zu schaffen und
nicht abzustrafen. Verspielen Sie bitte nicht länger die
Chancen der jungen Generation. Werden Sie endlich tä-
tig!
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/1957
zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Stärkung der dualen Berufsausbildung in Deutschland
durch Novellierung des Berufsbildungsrechts“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1348
abzulehnen.
– Ich gehe einmal davon aus, dass alle für wichtig gehal-
tenen Anmerkungen zur Sache in der Debatte vorgetra-
gen worden sind und dass wir nun tatsächlich zur Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung kommen
können. – Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Möchte sich jemand der Stimme
enthalten? – Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehr-
heit der Koalition gegen die Stimmen der Opposition an-
genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Johannes Kahrs, Eckhardt Barthel ,
Wilhelm Schmidt , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Volker Beck , Claudia Roth
, Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Denkmal für die im Nationalsozialismus ver-
folgten Homosexuellen
– Drucksachen 15/1320, 15/2101 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel
Vera Lengsfeld
Claudia Roth
Hans-Joachim Otto
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Ich erteile das Wort zu-
nächst der Staatsministerin für Kultur und Medien,
Christina Weiss.
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, Sie erlauben, dass ich dem Kollegen
Volker Beck zum Geburtstag gratuliere.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Blau unterlegt und unübersehbar weist das Straßen-
schild den Weg; „Homo-monument“ steht darauf ge-
schrieben, ganz einfach und locker, als hätte Volkes
Hand den Stift geführt. Dieser Richtungsanzeiger führt
nicht – leider noch nicht – an den südöstlichen Rand des
Großen Tiergartens, sondern an den Amsterdamer Wes-
termarkt. Schon seit 1987 wird dort, an der Keizers-
gracht, der ermordeten Homosexuellen gedacht, übri-
gens mit einer Inschrift, die sehr berührt: „Solch eine
maßlose Sehnsucht nach Freundschaft“. Nicht mehr,
aber auch nicht weniger.
Weit sichtbar sind die großen, dreieckigen Marmor-
platten, die das Mahnmal bilden. Wie aufgebrochene
Eisschollen ragen Sie hervor, schimmern rosa und zwin-
gen zum Innehalten. Es war das erste Denkmal über-
haupt, das an die Demütigung, die Verfolgung und die
Ermordung jener Menschen erinnert, die im Dritten
Reich mit dem rosa Winkel stigmatisiert wurden. Das
„Homo-monument“ erinnert würdig. Es rüttelt aber auch
auf, wachsam zu sein. Es rüttelt auf, Ausgrenzungen zu
ächten und jeglicher Form von Diskriminierung im All-
tag zu begegnen.
Auch wir in Deutschland brauchen dieses Wachhalten
und ein gutes Maß an Aufrütteln. Zwar wird in den ehe-
maligen Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau
oder Sachsenhausen längst auch über die Qualen der ho-
mosexuellen Insassen berichtet; ein sichtbares Zeichen
der Trauer um diese geschundenen Seelen an prominen-
ter Stelle fehlt jedoch bislang. Aus diesem Grunde soll-
ten wir uns ein Beispiel an Amsterdam nehmen. Ich ge-
stehe allerdings auch, dass ich nicht sicher bin, ob
deutsche Behörden wirklich den Mut hätten, „Homo-
monument“ auf ein Straßenschild zu schreiben.
Ich bin froh, dass sich der Deutsche Bundestag dieses
Denkortes heute erneut annimmt. Wir debattieren darü-
ber spät. Dieses Thema ist in den Geschichtsdebatten lei-
der lange verschämt verschwiegen oder verdrängt wor-
den. Wir brauchten in Deutschland erst eine Bewegung
der Emanzipation und der Selbstbehauptung, die es
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7335
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(D)
Staatsministerin Dr. Christina Weiss
möglich machte, diese Lebensform zu respektieren, sie
gleichzustellen, sie als das zu behandeln, was sie nach
Klaus Mann ist, nämlich „nicht besser, nicht schlechter,
mit ebenso viel Möglichkeiten zum Großartigen, Rüh-
renden, Melancholischen, Grotesken, Schönen oder Tri-
vialen wie die Liebe zwischen Mann und Frau“. Das war
ein jahrelanger Kampf. Diese Bundesregierung hat end-
lich Ernst damit gemacht, homosexuelle Bürgerinnen
und Bürger als Teil der Gesellschaft zu begreifen und sie
zu integrieren – mit Pflichten, aber auch mit lange ver-
weigerten Rechten.
Wenn wir von Aufrichtigkeit im Umgang sprechen,
dann gilt das in besonderer Weise auch für die Vergan-
genheit. Wer die Tagebücher homosexueller Häftlinge
liest, wer Schicksale kennt, der ahnt, welches Grauen sie
in den Konzentrationslagern erlebten, welche Sonder-
stellung sie einnehmen mussten und wie tief unten in der
Häftlingshierarchie sie rangierten. Werner Koch, ein po-
litischer Häftling im KZ Sachsenhausen, schreibt:
Noch verachteter und isolierter als die Asozialen
freilich sind die Homosexuellen, die einen rosa
Winkel tragen.
Die so genannten 175er erlebten Erniedrigungen,
schlimme Folter, schauerlichste Torturen und waren der
sadistischen Willkür des Lagerpersonals besonders
schutzlos ausgeliefert. Von der Vernichtung durch Arbeit
will ich gar nicht reden. Es schien einigen Häftlingen er-
strebenswerter – so habe ich gelesen –, lebenslang in ei-
nem Gefängnis zu sitzen, als im Konzentrationslager
entwürdigt zu werden.
Es ist überfällig, dass in der Mitte der deutschen Haupt-
stadt auch der ermordeten Homosexuellen gedacht wird.
Hier, wo die Täter ihr Handwerk versahen, ließ Heinrich
Himmler 1936 eine Reichszentrale zur Bekämpfung der
Homosexualität und der Abtreibung einrichten, hier gab
es Razzien und Verhaftungen, nicht zu vergessen Denun-
ziationen in großem Stil. Wer kritisiert, in der deutschen
Hauptstadt entstehe mit dem Denkmal für die ermorde-
ten Juden Europas und dem Denkmal für die ermordeten
Sinti und Roma eine Gedenkmeile, der verkennt, in wel-
chem Ausmaß gerade die Minderheiten von den syste-
matischen Verbrechen der Nationalsozialisten betroffen
waren.
Es soll nicht verschwiegen sein, dass der Terror ge-
genüber den Homosexuellen auch ein Terror gegenüber
unserer Kultur war. Wir wollen und wir werden dieser
Opfergruppe gedenken, weil nicht verschwiegen werden
darf, welchen Preis zu zahlen hatte, wer seine sexuelle
Orientierung offenbarte. Trotz aller Aufklärungsarbeit in
unseren Gedenkstätten ist der Platz, den die verfolgten
und ermordeten Homosexuellen im kollektiven Gedächt-
nis einnehmen, noch nicht sehr gefestigt. Da bleibt noch
viel zu tun.
Es wäre zu begrüßen, wenn dieses Denkmal ein An-
stoß dazu sein könnte, in der Mitte der Gesellschaft nach
minderheitenfeindlichen Ressentiments zu forschen. Wir
dürfen nicht zulassen, dass Vorurteile, die lange, sehr
lange gehegt wurden, immer noch widerspruchslos hin-
genommen werden.
Es ist an der Zeit, dass wir das Denkmal für die im
Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Homo-
sexuellen bauen. Ich begrüße sehr, dass das Land Berlin
dafür ein Grundstück am Rande des Tiergartens bereit-
stellt. Wir werden einen künstlerischen Wettbewerb ini-
tiieren und kommen somit der Initiative „Der homosexu-
ellen NS-Opfer gedenken“ entgegen. Die Errichtung des
Denkmals wird aus meinem Etat mit 500 000 Euro un-
terstützt. Ich hoffe sehr, dass wir zügig mit dem Wettbe-
werb beginnen können. Es ist höchste Zeit, dass wir ei-
nen Ort der Selbstvergewisserung schaffen. Unterstützen
Sie uns dabei!
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Vera Lengsfeld,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den vorliegenden
Antrag der SPD und der Grünen, ein Denkmal für die im
Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen zu er-
richten, ab. Es gibt dafür mehrere Gründe.
Der für mich persönlich gewichtigste Grund ist, dass
es in und um Berlin herum zahlreiche Gedenkstätten für
die Opfer der NS-Diktatur gibt. Alle diese Gedenkstätten
leiden unter einem nicht gerade kleiner werdenden Man-
gel an finanziellen Mitteln. Wer zum Beispiel, beein-
druckt durch den Film „Rosenstraße“, heute den Ort des
damaligen Geschehens aufsucht, sieht sich einem reich-
lich vergammelten und vernachlässigten Ort gegenüber.
Das ist nun wahrlich nicht der einzige Ort, der aus Man-
gel an Mitteln nicht entsprechend seiner Bedeutung ge-
pflegt wird. Es ist schon deshalb nicht einsehbar, dass
man, statt die vorhandenen authentischen Stätten zu
pflegen, sich ein weiteres Denkmal auf die grüne Wiese
setzt. Unsere politische Aufgabe sollte es sein, die au-
thentischen Stätten, die an das Grauen der Nazizeit erin-
nern, zu erhalten.
Wir müssen auch die Institutionen der Dokumentation
und der Forschung, deren es zahlreiche in Deutschland
gibt, fördern. Wir haben die ehemaligen Konzentrations-
lager, wir haben die Stiftung „Topographie des Terrors“
mit einem teuren Neubau auf einem großen Gelände.
7336 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Vera Lengsfeld
Wir haben das Deutsche Historische Museum. Bevor wir
über weitere einzelne, zentrale Denkmale reden, brau-
chen wir eine Gesamtkonzeption, die zeigt, wohin wir
am Ende wollen.
Statt dieser Gesamtkonzeption gibt es jetzt lauter Einzel-
anträge.
Es geht doch um Begreifen der und Nachdenken über
die Geschichte, es geht auch um Bildung von demokrati-
schen Grundhaltungen und es geht um nicht mehr und
nicht weniger als das geschichtspolitische Selbstver-
ständnis Deutschlands. Ein neues zentrales Mahn- oder
Denkmal für eine einzige ausgewählte Opfergruppe
scheint uns dieser komplizierten Aufgabe nicht gerecht
zu werden.
Wir halten ein Denkmal für homosexuelle NS-Opfer
auch deshalb für verzichtbar, weil bereits in der Neuen
Wache ihrer gedacht wird und es im Tiergarten, wo ja
das neue Denkmal platziert werden soll, das Magnus-
Hirschfeld-Denkmal gibt. Es gibt eine Gedenktafel am
Berliner U-Bahnhof Nollendorfplatz und es gibt – Frau
Staatsministerin hat ja dankenswerterweise darauf hin-
gewiesen – in zahlreichen KZ-Gedenkstätten Hinweise
und Ehrungen für die homosexuellen Opfer des Natio-
nalsozialismus.
Meine Damen und Herren, erinnern wir uns an die
Debatte in der letzten Legislaturperiode: Da hätte sich
uns die Möglichkeit eröffnet, im Rahmen des zentralen
Mahnmals für die jüdischen Opfer des Holocaust aller
Opfer zu gedenken. Wir haben in der damaligen Denk-
maldebatte darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, die
einzelnen Opfergruppen zu separieren,
und mögliche Ansprüche anderer Opfergruppen auf ein
zentrales Denkmal zurückgewiesen. Es gibt keinen
Grund, heute von dieser Entscheidung abzurücken.
– Ach, Herr Tauss, wenigstens bei solch einer Debatte
sollten Sie diese Zwischenrufe unterlassen.
Es geht um Erinnerung in einer offenen demokrati-
schen Gesellschaft. Diese lässt sich nicht verordnen,
nicht vom Zeitgeist, nicht vom Parlament und auch nicht
von Bürgerinitiativen.
Frau Kollegin Lengsfeld, der Kollege Barthel würde
Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Frau Kollegin, nachdem Sie den Beschluss zum Holo-
caust-Mahnmal eben erwähnt haben, möchte ich Sie fragen,
ob Ihnen bekannt ist, dass in diesem Beschluss steht, dass
wir uns auch verpflichten, „der anderen Opfer … würdig zu
gedenken“, und wir das trotz des Wissens, dass es am
Nollendorfplatz das von Ihnen erwähnte Schild und auch
anderswo Hinweise gibt, hineingeschrieben haben. Füh-
len Sie sich diesem Beschluss des Deutschen Bundesta-
ges weiterhin verpflichtet oder nicht?
Aber sicher fühle ich mich diesem Beschluss ver-
pflichtet. Deshalb habe ich ja auch diese Gesamtkonzep-
tion angemahnt und gemeint, dass es gerade nicht im
Sinne dieses Beschlusses ist, wenn jetzt, ohne über eine
Gesamtkonzeption debattiert zu haben, die Errichtung
einzelner Denkmale beschlossen wird.
– Nein.
In Anbetracht dessen, was schon vorhanden ist, frage
ich, welchen Sinn ein weiteres, zusätzliches Mahnmal
nur für die homosexuellen Opfer haben soll.
Angenommen, wir würden uns einem Kollektiv Täter-
volk – Singular! – zugehörig fühlen, dann hätten wir
kein moralisches Recht, ein Denkmal für die Opfer zu
setzen. Ich erinnere daran, dass dieser Punkt Gegenstand
heftiger Auseinandersetzungen im Rahmen der Mahn-
maldebatte in der letzten Legislaturperiode war. Diese
Diskussion ist keineswegs obsolet.
Auch wenn – wie jüngst bekundet wurde – niemals
jemand den Vorwurf des Tätervolkes erhoben haben
will,
als hätte es die ganze Goldhagen-Debatte nicht gegeben,
ist dieser Punkt nach wie vor zu berücksichtigen. Wenn
aber eine Mahnung an die nachgeborenen Deutschen be-
absichtigt ist, die keine Täter sind, so kann das nur – da
sind wir uns hoffentlich einig – eine Mahnung vor den
Folgen totalitärer Ideologie und Politik und eine Mah-
nung vor der sittlichen Verwahrlosung sein, die immer
mit totalitären Ideologien einhergeht.
Aber gerade dann ist eine Separierung und Hierar-
chisierung der Opfer entsprechend der NS-Diskrimi-
nierung überhaupt nicht zielführend, sondern eher
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7337
(C)
(D)
Vera Lengsfeld
kontraproduktiv. Ich verstehe die singuläre Stellung, die
die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in unserem
nationalen Erinnern einnehmen. Aber eine weitere Ein-
teilung nach Opfergruppen verstehe ich nicht. Frau
Staatsministerin Weiss, was Sie über die Leiden der
Homosexuellen in den Konzentrationslagern gerade
richtig ausgeführt haben, traf ganz genauso auf alle an-
deren Opfergruppen, die sich in den Konzentrationsla-
gern befanden, zu.
Gerade wenn wir bei unserer Entscheidung auch an
die Wirkung denken wollen, dann wünsche ich mir, dass
in diesem Hohen Hause mehr darüber nachgedacht wird,
dass gut gemeint sehr oft das Gegenteil von gut ist. Wir
als Parlamentarier können ein Vorbild demokratischer
Haltung geben. Wir müssen das sogar tun, wenn wir un-
seren Auftrag ernst nehmen. Wir sollten das aber mit al-
ler Vorsicht tun. Wir sollten uns immer der Wirkung des-
sen, was wir tun, bewusst sein. Wir können freiheitliche
Gesetze erlassen. Wir sollten ein persönliches Bekennt-
nis als Demokraten ablegen. Wir können aber kein Ok-
troi über die Deutung der Geschichte beschließen und in
der Mitte Berlins ein Mahnmal neben das andere setzen.
Ich möchte Ihnen in allem Ernst zu bedenken geben,
dass in der Jugendszene das Wort Opfer heute das Wort
ist, das denjenigen, den es treffen soll, am meisten belei-
digt. Das sollte uns wirklich zum Nachdenken anregen.
– Das verstehen Sie nicht?
– Dann fragen Sie einmal die Jugendlichen bzw. Ihre
Söhne und Töchter – Sie haben wahrscheinlich keine –,
warum das so ist.
Das ist nicht zu philosophisch; bei den Jugendlichen
schon gar nicht. Es ist eine elementare Reaktion auf eine
verfehlte Volkspädagogik oder Sozialpädagogik. Das
sollte man wirklich ernst nehmen.
Ich erinnere nur an die kürzlich entdeckten, bisher
verschwiegenen NSDAP-Mitgliedschaften einiger pro-
minenter Kulturikonen dieses Landes, die ihren mahnen-
den Zeigefinger immer ganz besonders weit oben hatten.
Gerade das sollte doch klar gemacht haben, wie dünn
das moralische Eis ist, auf dem die Nationalpädagogik
daherkommt. Glauben Sie nicht, dass das besonders von
unseren Jugendlichen durchschaut wird?
Es ist nichts so falsch wie die gern gebrauchte These,
die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft habe sich
mit ihrer Vergangenheit nicht genügend auseinander ge-
setzt. Die Verantwortung für die NS-Geschichte wurde
in dieser Gesellschaft – ich präzisiere ausdrücklich: ge-
rade in der Mitte dieser Gesellschaft – ohne Wenn und
Aber angenommen; in der Mitte der Gesellschaft klarer
als an manchen Rändern.
Doch die Verbrechen des Dritten Reiches machen
nicht die ganze Geschichte des deutschen Nationalstaa-
tes aus. Das einzigartige historische Skandalon war der
braune Zivilisationsbruch, der totalitäre Abschied von
unserer Tradition als große abendländische Kulturnation.
Die braune Vergangenheit ist längst akzeptierte Gegen-
identität zu der gelungenen deutschen Demokratie ak-
zeptiert worden.
Aber warum soll unsere Geschichte allein im Schatten
der nationalsozialistischen Vernichtungslager gesehen
werden? Wenn wir über Denkmale für weitere Opfer-
gruppen im Gefolge des Nationalsozialismus sprechen,
ist zu fragen: Wann wird ein zentrales Mahnmal für die
Opfer des terroristischen Bombenkrieges errichtet?
Wann erhalten wir eine Gedenkstätte für die Millionen
Opfer der Vertreibung? Wann gibt es eine Ehrenpension
für die Opfer des SED-Staates?
Frau Kollegin, Sie denken bitte an Ihre Zeit.
Ich sage noch einmal: Geschichte ist unteilbar.
Wir glauben an das freie und verantwortliche Indivi-
duum. Wir wissen um den Unterschied zwischen indivi-
dueller und unabweisbarer politischer Schuld sowie der
daraus erwachsenden Verantwortung. Aber wir werden
uns das Vertrauen in die freiheitlichen Traditionen
Deutschlands nicht nehmen lassen. Erinnerungskultur ist
ein heikles Unterfangen. Stabile und freiheitliche For-
men politischer Ordnung lassen sich nicht auf ein kollek-
tives Schuld- oder Schandebewusstsein begründen.
Wir brauchen deshalb, wie ich eingangs sagte, eine
Debatte über eine Gesamtkonzeption, eine Debatte darü-
ber, wohin wir mit unserer Erinnerungskultur kommen
wollen. Wir brauchen aber keine weitere Separierung
des Problems.
Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck,
Bündnis 90/Die Grünen, dem ich im Namen des Hohen
Hauses zu seinem Geburtstag ähnlich herzlich gratulie-
ren möchte, wie das bereits die Frau Staatsministerin im
Namen der Bundesregierung getan hat.
7338 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Das freut mich sehr. Vielen Dank, Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Leider ist heute aber ange-
sichts der Worte meiner Vorrednerin nicht nur ein erfreu-
licher Tag. Die Würde der Debatte verbietet es, mit der
Schärfe, die diese Rede durchaus verdient hätte, zu rea-
gieren. Ich will erläutern, warum wir es für dringend nö-
tig halten, dass ein solches Denkmal gebaut wird.
Nach der gestrigen sehr würdigen und angemessenen
Debatte zum Thema Antisemitismus hatte ich gedacht,
dass heute vielleicht die Chance bestehen würde, das,
was gestern über die Bedeutung von Erinnern und Ge-
denken für die Bekämpfung von Minderheitenfeindlich-
keit und Antisemitismus gesagt wurde, gemeinsam in
Taten umzusetzen. Aber ich glaube, unser Umgang mit
dem Thema heute ist letztendlich ehrlicher; denn die Ge-
schichte der Aufarbeitung der Verfolgung der Homo-
sexuellen im Nationalsozialismus war immer sehr kon-
trovers.
Lange Zeit ist von bundesdeutschen Organen wie dem
Bundesverfassungsgericht bestritten worden, dass es
überhaupt eine Verfolgung der Homosexuellen durch die
Nationalsozialisten gab. Infolgedessen wurden die ho-
mosexuellen Opfer des Nationalsozialismus von der
Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz
ausgeschlossen. Es dauerte bis zum Jahr 2000 – man will
es kaum glauben –, bis sich der Deutsche Bundestag zu
der Schuld, die deutsche Staatsorgane vor und auch nach
dem Krieg – durch die Kontinuität der Strafverfolgung
bis nach 1969 in der Bundesrepublik – mit ihrem Um-
gang mit den Homosexuellen auf sich geladen haben,
bekannt und sich bei den homosexuellen Opfern ent-
schuldigt hat. Es dauerte bis 2002, bis schließlich auch
die während des Dritten Reiches unter den Nationalsozi-
alisten erfolgten Verurteilungen aufgrund § 175 aufge-
hoben wurden. Es war die Unionsfraktion, die verhindert
hat, dass dieser Beschluss zusammen mit dem NS-Un-
rechtsaufhebungsgesetz getroffen worden ist.
Insofern ist der Befund der heutigen Kontroverse ehr-
licher; denn die Rehabilitierung, die Entschädigung und
die Erinnerung an das Unrecht, das der deutsche Staat in
der Zeit des Dritten Reiches den Homosexuellen zuge-
fügt hat, wurde mühsam erkämpft.
Gerade deshalb kommt diesem Denkmal eine beson-
dere Bedeutung zu, gerade deshalb haben sich die Initia-
tive für das Denkmal und der Lesben- und Schwulenver-
band seit Jahren engagiert, eine Mehrheit im
Parlament für die Errichtung zu bekommen. Es geht da-
rum, die spezifische Verfolgung der Homosexuellen, die
so lange ignoriert wurde, dem Vergessen zu entreißen
und mit einem Denkmal zu vergegenständlichen und so-
mit Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.
Ihre Verfolgung ist oftmals in Vergessenheit geraten.
Ein Grund dafür ist vielleicht, dass die Zahl der Opfer un-
ter den Homosexuellen in keiner Weise mit der Zahl der
verfolgten Juden und Sinti und Roma zu vergleichen ist.
Trotzdem darf man nicht verkennen: Ziel nationalsozia-
listischer Homosexuellenpolitik war, die Homosexualität
gleichsam auszureißen aus dem „deutschen Volkskör-
per“, wie man damals formuliert hat, und die Homosexu-
alität zu vernichten.
Das Leben mancher Homosexueller in der Kriegs-
phase wurde vielleicht dadurch gerettet, dass man einer-
seits Männer für den Kriegseinsatz brauchte und dass es
andererseits unter den Gelehrten der nationalsozialisti-
schen Rassenideologie einen Streit darüber gab, ob man
die Homosexuellen durch Operation, Kastration, Hor-
monbehandlung oder durch Wegsperren von ihrer Ho-
mosexualität befreien könne oder ob das nur durch die
Vernichtung allen homosexuellen Lebens ginge. 10 000
bis 15 000 Homosexuelle wurden in Konzentrationsla-
ger gebracht und es gab 50 000 Verurteilungen nach
§ 175 in der Zeit des Dritten Reiches.
Dass die Homosexuellenverfolgung zum Kernbestand
nationalsozialistischer Ideologie und Vernichtungspoli-
tik gehörte, kann man daran erkennen, dass im Dritten
Reich im Jahr 1936 eine eigene Reichszentrale zur Be-
kämpfung der Homosexualität und der Abtreibung
im Reichssicherheitshauptamt aufgebaut wurde, nach-
dem Jahre zuvor durch Runderlass von Himmler befoh-
len war, alle sich homosexuell Betätigende in Zentral-
karteien zu erfassen, damit man sie jederzeit einsammeln
und der Verhaftung oder Vernichtung zuführen konnte.
Dies in Erinnerung zu rufen ist nicht nur deshalb
wichtig, damit unser Geschichtsbild komplett ist – auch
dafür ist es natürlich wichtig –, sondern auch für die Zu-
kunft. Es gibt viele Länder auf dieser Welt, in denen das
Leben und die Freiheit von Homosexuellen heute noch
gefährdet ist, in denen das Leben homosexueller Men-
schen nichts gilt. Dazu zählen die Länder im islamischen
Raum wie Iran und Saudi-Arabien. Dort stehen die To-
desstrafe oder schwere Körperstrafen auf homosexu-
elle Betätigung. Auch in vielen Ländern Lateinamerikas
wird die Homosexualität unter Erwachsenen strafrecht-
lich verfolgt; damit werden die Existenzen dieser Men-
schen vernichtet.
Es war ein schwieriger Prozess für uns, zu unserem
heutigen Erkenntnisstand in der Homosexuellenfrage zu
kommen. Gleichwohl sind wir heute noch weit von der
Gleichberechtigung entfernt. Diesbezüglich sollte man
fragen, ob es nicht eine Konsequenz aus der Geschichte
wäre, diese endlich zu vollenden. Wir verlangen von an-
deren Ländern die Einhaltung der Menschenrechte auch
bei homosexuellen Bürgerinnen und Bürger. Wir können
nur glaubwürdig bleiben, wenn wir uns unserer eigenen
Geschichte erinnern und diese vergegenständlichen.
Ich halte es für eine gelungene Lösung, gegenüber
dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas ein
kleineres und sicherlich bescheideneres, aber angemes-
senes Denkmal zu errichten, über das man stolpert. Wir
erinnern damit an die Gräuelphase, die einen Teil unse-
rer Geschichte ausmacht.
Wir sollten berücksichtigen – ich fand Ihre geschicht-
liche Analyse, Frau Kollegin Lengsfeld, einfach neben
der Sache –, dass die Homosexuellenfeindlichkeit wie
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7339
(C)
(D)
Volker Beck
der Antisemitismus keine Frage der Diskontinuität ist,
sie ist eine Frage der Kontinuitäten in der deutschen
Geistesgeschichte vor 1933 und nach 1945.
– Leider nicht nur in der deutschen. Deshalb habe ich ge-
rade die internationale Bedeutung eines solchen Denk-
mals angesprochen.
Sie können doch nicht wirklich ernsthaft behaupten,
dass es reicht, am U-Bahnhof Nollendorfplatz eine Pla-
kette von einem Quadratmeter zu haben, die an das
Schicksal der Homosexuellen erinnert. Es war eine tolle
Initiative einer Bürgerinitiative, dort einen Ort der Erin-
nerung in Berlin einzurichten, wo damals viele Homo-
sexuelle gelebt haben und heute viele Einrichtungen für
Homosexuelle zu finden sind. Das ist aber doch kein Er-
satz für ein nationales Denkmal, mit dem wir uns zur
Schuld bekennen, mit dem wir Nein zur Verfolgung und
Ja zu den Menschenrechten der Homosexuellen sagen.
An Ihrer Rede hat man gemerkt, dass Sie sich mit Ih-
rem Nein zu diesem Denkmal bloß hinter der Idee einer
Gesamtkonzeption verstecken wollen. Wir haben bei
dem Beschluss für das Denkmal für die ermordeten
Juden Europas gesagt: Wir wollen nicht aller Opfer des
Nationalsozialismus gleichzeitig gedenken, weil hinter
dem Begriff „alle Opfer des Nationalsozialismus“ das je-
weilige Verfolgungsschicksal und auch der jeweilige
ideologische Hintergrund, der zu der Verfolgung geführt
hat, verdeckt werden. Deshalb war ich damals sehr da-
für, erst einmal ein Denkmal für die ermordeten Juden
Europas zu errichten; denn der Antisemitismus war das
treibende Element der nationalsozialistischen Ideologie.
Er hat alle vielgestaltigen Anhänger dieses Regimes zu-
sammengehalten. Er hat den Vernichtungswillen ge-
prägt, dem dann auch andere Gruppen zum Opfer gefal-
len sind.
Es gehört sich aber, dass wir jeder Opfergruppe in ih-
rer eigenen Art gedenken. Ich glaube, es hat Gründe,
dass sich hier gerade die Sinti und Roma sowie die Ho-
mosexuellen dafür engagiert haben, dass neben dem
Denkmal für die ermordeten Juden Europas ihrer Opfer-
gruppen gedacht wird; denn ihre Situation ist in dieser
Gesellschaft und in vielen anderen Ländern immer noch
prekär. Deshalb ist dieses Denkmal hochaktuell und hat
keine museale Aufgabe. Es setzt vielmehr ein großes
Ausrufezeichen hinter die Forderung nach Menschen-
rechten und gleichen Rechten auch für diese gesell-
schaftliche Gruppe.
Ich erteile dem Kollegen Hans-Joachim Otto, FDP-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Ich möchte in der gebotenen Kürze zunächst einmal sa-
gen: Selbstverständlich gibt es aufgrund des Beschlusses
aus dem Jahre 1999, den ich damals wie heute aus vol-
lem Herzen unterstütze, eine gewisse Selbstverpflich-
tung des gesamten Hauses. Wir haben damals gesagt:
Die Bundesrepublik Deutschland bleibt verpflichtet, der
anderen Opfer des Nationalsozialismus würdig zu ge-
denken.
Es ist aber nicht nur diese Selbstverpflichtung, die uns
freie Demokraten veranlasst, für diesen Antrag zu stim-
men, sondern es ist auch die Überzeugung von der Not-
wendigkeit und der Überfälligkeit dieses Denkmals.
Dabei denken wir nicht nur an das, was der Kollege
Beck eben anschaulich geschildert hat, also an die Ver-
gangenheit, an das, was den Homosexuellen im Dritten
Reich angetan wurde. Wir haben immer auch ein wach-
sames Auge auf die Gegenwart und die Zukunft.
Es lässt sich nicht bestreiten, dass es auch heute noch
latent und manchmal sogar offen Vorurteile, Behinde-
rungen und Nachteile für Homosexuelle gibt. Gerade vor
diesem Hintergrund ist das Denkmal eine Selbstverge-
wisserung dessen, was in der Vergangenheit passiert ist,
und weist insoweit in die Vergangenheit. Aber wie jede
Gedenkstätte hat es natürlich – das ist mir besonders
wichtig – auch eine Stoßrichtung in die Gegenwart und
in die Zukunft. Wir wollen, dass jegliche Form der
Benachteiligung und Diffamierung von sexuell anders
Orientierten, von anderen Rassen oder anderen Religio-
nen unterbleibt. Ein sehr wichtiger Mosaikstein ist in
diesem Zusammenhang, dass wir der homosexuellen
Opfer des Dritten Reiches in dieser Form würdig geden-
ken.
Liebe Frau Kollegin Lengsfeld, es liegt mir sehr da-
ran, mich auch mit Ihren Argumenten auseinander zu
setzen, denn ich finde, dass auch ein Austausch der Ar-
gumente zur Selbstvergewisserung beiträgt. Ich be-
komme in der Auseinandersetzung mit Ihrem Vortrag
durchaus zusätzliche Argumente für das, was wir for-
dern. Zu Ihrer Warnung vor einer Separierung und Hie-
rarchisierung der Opfergruppen sage ich: Wir haben in
dem Beschluss aus dem Jahre 1999 sehr bewusst – ich
erinnere mich, dass auch Sie damals dabei waren – ge-
sagt: Man hätte das auch anders entscheiden können.
Salomon Korn hat beispielsweise gesagt: Wir wollen ein
einheitliches Mahnmal für alle Opfergruppen. Kollege
Beck hat darauf hingewiesen, dass wir mit Mehrheit un-
sere Überzeugung kundgetan haben, die individuellen
Schicksale auch individuell zu behandeln. Die Worte Se-
parierung und Hierarchisierung sehe ich als diffamierend
an. Wir gedenken den einzelnen Opfergruppen in der ih-
nen jeweils würdigen Weise und wollen keine Gleich-
setzung der Opfergruppen. Das war die Entscheidung,
7340 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Hans-Joachim Otto
die wir 1999 getroffen haben. Ich finde, sie ist auch
heute noch richtig.
Zu Ihrem Argument hinsichtlich des Gesamtkonzepts,
liebe Frau Kollegin Lengsfeld, sage ich: Wir als Kurato-
riumsmitglieder haben einen Beirat beauftragt, für das
Holocaust-Mahnmal ein Gesamtkonzept zu entwickeln.
Im Grunde wurde auch ein Gesamtkonzept entwickelt.
Ein Bestandteil gerade dieses Gesamtkonzeptes ist es,
für die Homosexuellen ein Denkmal zu errichten. Wir
befinden uns in voller Übereinstimmung mit den Wis-
senschaftlern, denen wir diesen Auftrag erteilt haben.
Meine Damen und Herren, ich möchte Folgendes sa-
gen: Nachdem 58 Jahre ins Land gegangen sind, ist es
allerhöchste Zeit und überfällig, dass wir einer Opfer-
gruppe wie dieser, die wirklich schweres Leid erlitten
hat, in würdiger Weise gedenken. Ich denke, es ist eher
zu spät als zu früh, dies zu tun. An dieser Stelle möchte
ich ganz klar sagen: Es gibt noch eine weitere Opfer-
gruppe, nämlich die der Sinti und Roma, der wir in
würdiger Weise gedenken müssen. Auch das muss jetzt
langsam einmal auf den Weg gebracht werden.
Abschließend möchte ich an die Adresse der Kolle-
ginnen und Kollegen von Rot-Grün, obwohl wir ihrem
Antrag zustimmen, noch einige Bemerkungen machen:
Ich hätte es für überzeugender gehalten und als kraftvol-
ler empfunden, wenn Sie diesen Antrag nicht als einen
Antrag von Rot-Grün eingebracht hätten, sondern wenn
Sie uns von vornherein, auch bei der Formulierung des
Antrags, einbezogen hätten.
Wenn Sie dies getan hätten, hätten Sie meines Erachtens
einen Fehler bzw. eine Schwäche, über die wir schon im
Ausschuss diskutiert haben, vermieden. In Ihrem Antrag
ist nämlich unter Ziffer 4 vorgesehen, dass die Verwirkli-
chung dieses Denkmals allein dem Senat und der
Bundesregierung überlassen bleibt. Aus unserer Erfah-
rung mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Euro-
pas wissen wir, dass es sehr sinnvoll ist, wenn auch der
Bundestag an diesem Prozess in geeigneter Weise betei-
ligt wird.
Trotz allen Vertrauens, das ich Frau Dr. Weiss, dem Se-
nat – ihm gegenüber habe ich weniger Vertrauen, aber
dazu sage ich jetzt nichts –
und der Bundesregierung entgegenbringe, halte ich es
aus grundsätzlichen Erwägungen für wichtig, den Bun-
destag in geeigneter Weise zu beteiligen.
Deswegen bitte ich darum, dass – ungeachtet der Formu-
lierung von Ziffer 4, der wir auch die Zustimmung erteilen,
um keine Schwächung des Anliegens zu erzielen – von
Frau Weiss und Herrn Flierl gewährleistet wird, dass der
Bundestag oder hilfsweise das Kuratorium der Stiftung
Denkmal für die ermordeten Juden Europas an diesem
wichtigen Projekt in geeigneter Weise beteiligt wird.
Summa summarum sage ich: Wir stimmen dem An-
trag zu und hoffen, dass der Bau dieses Denkmals in
würdiger Weise und rasch vollendet wird.
Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Kahrs,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eigentlich hatte ich eine Rede vorbereitet, die
mir dem Anlass angemessen schien. Nachdem ich aber
Ihren Beitrag, Frau Kollegin Lengsfeld, gehört habe,
muss ich sagen, dass ich etwas verwundert darüber bin,
wie Sie diese Debatte gestaltet haben. Man kann sagen,
dass man hier den Unterschied zwischen Regierung und
Opposition ganz deutlich gespürt hat.
An dieser Stelle möchte ich ganz besonders den Bei-
trag von Frau Weiss loben.
Sie hat in aller Kürze das Wesentliche gesagt. Kollege
Beck hat das ergänzt.
Es hätte eine wunderbare Debatte sein können, in der wir
uns hätten austauschen können und, wie ich glaube, auch
im Konsens zu einem Ergebnis gekommen wären.
Ihr Beitrag allerdings, Frau Kollegin, führt vom Thema
weg.
– Natürlich dürfen Sie anderer Meinung sein.
Aber diese Meinung muss man dann auch begründen
können. Wenn man sich aber Ihre Begründung anhört,
auf die ich jetzt eingehen werde, dann stellt man fest,
dass sie in sich überhaupt nicht schlüssig ist.
Auch ich glaube – übrigens wie Sie –, dass man das
Gedenken an alle Opfer des Nationalsozialismus durch-
aus in einem Denkmal hätte zum Ausdruck bringen kön-
nen. Deswegen habe ich damals, im Gegensatz zu Ihnen,
gegen die Errichtung dieses Denkmals gestimmt. Aber
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7341
(C)
(D)
Johannes Kahrs
jetzt haben wir uns anders entschieden. Die Mehrheit in
diesem Hohen Hause ist – unter anderem auch durch
Ihre Stimme –
zu einem anderen Ergebnis gekommen und hat festge-
stellt, dass – abgesehen von dem einen Denkmal – wei-
tere Denkmäler für die verschiedenen Opfergruppen
errichtet werden. Die logische Konsequenz dieses Be-
schlusses ist, dass wir auch über die Errichtung eines
Denkmals für die verfolgten Homosexuellen diskutieren
müssen.
Mit der damaligen Entscheidung ist sozusagen verbun-
den, dass jeder einzelnen Opfergruppe mit einem Denk-
mal gedacht werden muss. Indirekt wurde das damals
durch die breite Mehrheit in diesem Hause so beschlos-
sen.
Die Begründung, die Sie hier angeführt haben, ist am
Thema vorbeigegangen. Sie war in meinen Augen eher
traurig. Durch diese Ausführungen dürften diejenigen,
die betroffen sind, zumindest peinlich berührt sein. In
einer Debatte über ein solches Thema muss man denjeni-
gen, die davon besonders betroffen sind, das Gefühl ge-
ben, dass ihr Anliegen bei uns gut aufgehoben ist. Bei
Ihrer Rede, verehrte Frau Kollegin, konnte man diesen
Eindruck leider nicht bekommen.
Ich habe gestern hier die Rede von Wolfgang Thierse
gehört. Er hat gesagt: Was wir von Generation zu Gene-
ration weitergeben, sind unvermeidlich Erinnerungen
und vernünftigerweise Verantwortung. Das gilt auch
für dieses Thema. Er hat kurz und prägnant dargestellt,
worum es geht.
Ich bin von Hause aus Haushaltspolitiker und Vertei-
digungspolitiker, und das aus vollem Herzen. Trotzdem
habe ich mich entschlossen, zu diesem Thema zu spre-
chen. Das liegt daran, dass ich als Schwuler betroffen
bin. Ich habe mich lange mit vielen meiner Freunde un-
terhalten, wie man an dieses Thema herangehen könne.
Ich bin der Meinung, dass man dieses Thema auf eine
Art und Weise aufarbeiten muss, dass man es vermitteln
kann und in der Gesellschaft Akzeptanz dafür findet.
Frau Kollegin, Sie dürfen nicht glauben, dass man
sich davonstehlen könne, indem man solche kleinen Ge-
schichten erzählt.
Sie müssen ganz klar sagen, was Sie wollen. Sie haben
von kleinen Denkmälern gesprochen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Lengsfeld?
Gerne, Frau Kollegin.
Herr Kollege, es wäre der Würde dieser Debatte ange-
messener, wenn wir uns gegenseitig zuhören würden und
dem anderen nicht böswillig etwas unterstellen würden.
Wenn Sie zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass ich
nicht von irgendwelchen kleinen Denkmälern gespro-
chen habe.
Ich will auf das Beispiel zu sprechen kommen, das
der Kollege Beck genannt hat. Man sollte solche Initiati-
ven wie die am Nollendorfplatz hier in Berlin nicht
kleinreden.
Das wäre eine Beleidigung gegenüber denjenigen, die
solche Gedenkstätten initiiert haben. Ich habe nicht von
kleinen Denkmälern gesprochen, sondern habe in meiner
Rede auf die authentischen Stätten nationalsozialisti-
schen Grauens hingewiesen, die nicht in angemessener
und würdiger Weise gepflegt werden können, weil nicht
genügend Geld vorhanden ist. Das ist ein Unterschied.
Frau Kollegin, ich vermisse Ihre Frage. Trotzdem
möchte ich dies kommentieren.
Das, was Sie gesagt haben, zeigt auf, wo das Problem
liegt: Die Denkmäler, um die es Ihnen geht, erfüllen auf
lokaler Ebene ihren Sinn und Zweck. In Berlin wird mit
ihrer Hilfe auf hervorragende Weise der Grund darge-
stellt, warum sie existieren.
In dieser Debatte aber haben wir über ein Mahnmal
zu diskutieren, das bundesweite Bedeutung haben und
das zum Gedenken an die jeweilige Opfergruppe seine
Wirkung in die ganze Republik ausstrahlen soll. Das ist
der wesentliche Punkt. Darum geht es und nicht darum,
dass man einzelne Initiativen schlecht macht. Im Gegen-
teil: Einzelne Denkmäler sind gut und würdig. Es muss
sie geben. Dass es sie in Berlin und an anderen Orten
gibt, zeigt, dass vor Ort weiter gedacht wird, als wir in
Ihrem Beitrag erkennen konnten.
Ich glaube, dass man die kleinen Denkmäler vor Ort
nicht als Ersatz nehmen darf – vielen Dank, Herr Kol-
lege –, sondern dass man diese Debatte auch auf bundes-
weiter Ebene führen sollte. Das ist unsere Aufgabe, die
wir auch wahrnehmen.
7342 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Johannes Kahrs
Ich habe mit vielen meiner Freunde über dieses
Thema diskutiert und gemerkt, dass viele Schwule der
Meinung sind, dass sie nicht irgendwelche Denkmäler
haben wollen. Es gibt viele, die das strittig sehen. Im
Rahmen dieser Diskussionen, in denen man auch seine
eigene Meinung schärft, kommt man irgendwann zu der
Erkenntnis, dass solche Denkmäler die Orte sind, an de-
nen eine Diskussion stattfinden kann und an denen man
sich selber überlegen kann, welche Position man hat.
Wolfgang Thierse – ich habe ihn eben zitiert – hat das
ganz klar gesagt. Er hat ausgeführt, dass das etwas mit
Erinnerung und Verantwortung zu tun hat. Dieser
Verantwortung müssen wir uns doch bewusst sein. Na-
türlich kann man darüber diskutieren, ob man dreiseitige
Erklärungen für ein Denkmal und darüber, wie es auszu-
sehen hat und ob es an dieser oder jener Stelle errichtet
werden soll oder nicht, braucht. Man muss diese Debatte
aber führen. Wir brauchen dieses Denkmal, weil es
wichtig ist, dass ein beständiges Zeichen gegen Intole-
ranz und Feindseligkeit sowie gegen die Ausgrenzung
von Schwulen gesetzt wird. Dieses Denkmal dient die-
sem Zweck.
Man muss es ehrlich sagen: Wenn man ein solches
Denkmal und das, was dazugehört, will, dann stimmt
man dem Antrag, den die Koalition gestellt hat, zu.
Wenn man es nicht will, dann muss man offen sagen:
Nein, wir wollen es nicht.
Dann muss man aber auch sagen, warum man es nicht
will. Ich persönlich glaube, dass diese Debatte entspre-
chend geführt werden muss. Man darf nicht herumeiern,
sondern man muss dazu stehen. In Ihrer Fraktion gibt es
ja auch einige, die das tun. Ich glaube, die Debatte heute
war allein schon deshalb wichtig. Ich hoffe, dass dieses
Denkmal möglichst schnell gebaut wird.
Ich möchte mich ganz herzlich bei all den Gruppen,
Initiativen und Einzelpersonen bedanken, die es möglich
gemacht haben, dass wir so weit gekommen sind, und
die uns mit motiviert haben, diese Debatte zu führen. Im
Ergebnis wird dieses gemeinsame Tun zu einem Symbol
führen, das dem Zweck, nämlich der Erinnerung und der
heutigen Verantwortung, gerecht wird.
Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Günter Nooke, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Ich fange vielleicht doch so an, wie ich es mir vor-
genommen hatte. Ich möchte nicht, dass wir uns miss-
verstehen, woran Sie von der Koalition ja offensichtlich
ein großes Interesse haben.
Ich möchte noch einmal klarstellen: Es ist unbestrit-
ten, dass das Anliegen, das im Antrag formuliert wird,
gerechtfertigt ist. Ich unterstütze das auch. Es ist Tatsa-
che, dass die homosexuellen Opfer des Nationalsozialis-
mus im nationalen Gedenken bislang durchaus eine eher
untergeordnete Rolle gespielt haben – zumal wir jetzt ein
Denkmal für die ermordeten Juden Europas errichten
werden –; das ist sicher nicht in Ordnung und historisch
offensichtlich auch nicht gerechtfertigt. Insofern sollten
wir das ändern. – Das war meine Vorbemerkung.
Nun komme ich zum konkreten Antrag. Herr Beck,
wir verteilen hier keine Geburtstagsgeschenke und las-
sen uns moralisch auch nicht einbinden. Wir diskutieren
einen Antrag und das konkrete Prozedere; das ist unsere
Aufgabe. In diesen Punkten sind wir halt anderer Mei-
nung als Sie. Herr Kahrs, das fängt schon damit an, dass
wir noch gar nicht wissen, wie das Denkmal aussehen
wird. Ich habe mir den Entwurf des vom Berliner Senat
in Auftrag gegebenen Denkmals für die Sinti und Roma
angesehen und bin mir überhaupt nicht sicher, ob das,
was Sie zum Schluss beschrieben haben, wirklich so
überzeugend wird. Darüber werden wir uns vielleicht
noch genauer unterhalten müssen.
Ich möchte jetzt aber noch ganz kurz darauf eingehen,
warum wir dem Anliegen, nicht aber diesem Antrag zu-
stimmen können. Das hat Frau Lengsfeld ja auch schon
dargestellt.
Der Deutsche Bundestag hat am 25. Juni 1999 die
Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden
Europas beschlossen. Hier wurde gesagt, dass wir zu
dem Antrag nicht mehr stehen und dass wir das würdige
Gedenken an die anderen Opfergruppen nicht ernst neh-
men. Das will ich ganz deutlich zurückweisen. Zu den
Aufgaben bei der Umsetzung dieses Beschlusses gehört,
dass die gegründete Stiftung auch der anderen Opfer-
gruppen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ge-
denkt, dass also – so heißt es – das würdige Gedenken in
geeigneter Weise sicherzustellen ist. Das ist bis heute
nicht geschehen.
„In geeigneter Weise sicherstellen“ heißt nicht unbe-
dingt und automatisch, dies in Form neuer Gedenkstätten
zu tun. Das ist das erste Missverständnis. Es gibt zum
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7343
(C)
(D)
Günter Nooke
Beispiel eine Gruppe – die Vertreter der Euthanasie-
opfer –, die keinen Wert darauf legt, ein gesondertes
Denkmal zu erhalten. Aber auch das wurde noch nicht
abschließend diskutiert. Dass so etwas nur in Form von
nationalen Denkmälern geht, ist also, glaube ich, das
erste große Missverständnis der Antragsteller.
Wenn Sie diesen Beschluss wirklich ernst nähmen,
wüßten Sie – Herr Kahrs kann das nicht wissen; Herr
Barthel ist etwas besser informiert –, dass der Beirats-
vorsitzende für die anderen Opfergruppen, Professor
Benz, in den Kuratoriumssitzungen bei der Stiftung
„Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ immer be-
richtet und dass wir, was diesen Antrag angeht, keine
Beziehung zu dem haben, was im Kuratorium berichtet
wird und was dort zu tun ist.
Herr Otto, auch Sie wissen das: Ich habe den Kurato-
riumsvorsitzenden mehrfach darauf hingewiesen, dass
Herr Thierse einmal klären muss, was diese Berichte ei-
gentlich bedeuten.
– Herr Benz hat bisher genau das, was wir gefordert
haben und was auch seine Aufgabe wäre, nämlich das
würdige Gedenken aller anderen Opfergruppen sicherzu-
stellen, nicht geleistet. Damit wäre ich bei der Gesamt-
konzeption, hinter der wir uns nicht verstecken.
Herr Kollege Beck möchte eine Zwischenfrage stel-
len.
Bitte.
Herr Kollege, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass
uns – Sie sind ja, wie ich, Mitglied des Kuratoriums – im
Kuratorium der Stiftung „Denkmal für die ermordeten
Juden Europas“ berichtet wurde, dass der Beirat emp-
fohlen hat, sowohl ein Denkmal für die ermordeten Sinti
und Roma als auch ein Denkmal für die verfolgten Ho-
mosexuellen zu errichten. Darüber wurde also diskutiert.
In der Tat hat sich der Beirat bislang nicht zu der Frage
einer Gesamtkonzeption geäußert. Wir haben ihm diese
Gesamtkonzeption übrigens auch nicht abverlangt, son-
dern haben gesagt, er solle darüber beraten, in welcher
Form jeweils geeignet gedacht werden sollte. Diese De-
batte findet im Beirat auch statt. Könnten Sie es für mög-
lich halten, dass die Idee einer Gesamtkonzeption ange-
sichts dessen, dass Erinnerungsarbeit immer im Werden
begriffen und nie ganz abgeschlossen ist, ähnlich abwe-
gig ist wie die Vorstellung von einem Ende der Ge-
schichte?
Nein, das kann ich überhaupt nicht verstehen. Das,
was Sie jetzt sagen, ist eine Unterstellung, die den prak-
tischen Gegebenheiten, wie wir Denkmäler errichten
und wie wir darüber zu diskutieren haben, völlig wider-
spricht. Ich will Ihnen als Antwort ein Beispiel nennen.
Die Staatsministerin für Kultur und Medien hat sich
dazu geäußert und hat angekündigt, dass die Bundes-
regierung auch die Finanzierung eines Mahnmals zum
Gedenken an die Sinti und Roma, die Opfer des Natio-
nalsozialismus geworden sind, in unmittelbarer Nähe
des Bundestages übernehmen wird. Für die Gestaltung
ist immer noch der Berliner Senat zuständig; er hat be-
reits eine Entscheidung getroffen. Wenn Sie so wollen,
ist das eine Berliner Initiative, die Sie bei dem Homose-
xuellendenkmal ja als unzureichend ansehen. Wir unter-
stützen beide Initiativen. Bei der einen Initiative – davon
haben Sie gesprochen – geht es um nationales Geden-
ken. Bei der Initiative bezüglich der Sinti und Roma gibt
es sogar schon einen Entwurf. Geht es dabei um Berliner
Gedenken oder wird es durch die Finanzierung ebenfalls
ein nationales Gedenken?
Ich würde das gerne geklärt haben.
– Sie müssen jetzt ruhig sein, jetzt rede ich.
Wenn Sie also wirklich meinen, Gesamtkonzeption
sei ein Begriff, hinter dem wir uns verstecken, dann rate
ich Ihnen, nur einmal die beiden Denkmalkonzeptionen
zu betrachten, die jetzt in der Debatte sind. Sie werden
merken: Schon bei den Trägerschaften passt das nicht
zusammen und auch bei der Bedeutung passt es nicht zu-
sammen. Ich will gar nicht von einer Hierarchisierung
der Opfer reden. Mich ärgert aber zum Beispiel, wenn in
der Begründung der SPD in der Beschlussempfehlung
einfach gesagt wird, es koste ja nur 500 000 Euro.
Wenn es wirklich darum geht, dass wir würdiges Geden-
ken sicherzustellen haben, dann ist das für mich eine
Aussage, die ich so nicht gerne wiederholen würde; denn
ich glaube, dass die Aussage allein, dass sich damit die
Kosten in einem überschaubaren Rahmen halten – so
steht es in der Beschlussempfehlung, Herr Barthel –, zu
wenig ist.
Bei dem Denkmal, das wir für den Berliner Senat mitfi-
nanzieren, mögen die Kosten noch überschaubarer sein,
aber die Betriebskosten sind mit 300 000 Euro jährlich
veranschlagt. Vielleicht ist das schon nicht mehr so ganz
der überschaubare Rahmen, den wir wollen. Können wir
über so etwas nicht sachlich und ohne moralische Über-
höhungen reden? Können Sie nicht einfach zugeben,
dass von einem würdigen Gedenken nicht die Rede sein
kann, wenn man hier – Herr Otto hat das kritisiert – als
Koalition einen solchen Antrag einbringt, ihn durchzieht
und meint, man müsse dann die Zustimmung der ande-
ren Fraktionen in diesem Haus bekommen?
7344 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Günter Nooke
Herr Beck, erinnern Sie sich nur an die Diskussion in
Ihrer eigenen Fraktion. Erinnern Sie sich nur, wie wenig
Zustimmung Sie selbst in der eigenen Fraktion für die-
sen Antrag hatten.
– Manchmal bin auch ich ganz gut informiert.
– Die Gegenstimmen waren nicht anwesend.
Bei der Erarbeitung eines Gesamtkonzeptes müssen
wir uns bewusst sein, was wir als Deutscher Bundestag
und als Bundesrepublik Deutschland in dieser Sache
überhaupt vorhaben.
Die Vorlage einzelner Anträge für einzelne Mahnmale
halten wir aus diesem Grunde eben nicht für den rich-
tigen Weg. Auch das Verfahren ist aus unserer Sicht
problematisch. Ich hatte auf die unterschiedlichen Trä-
gerschaften hingewiesen. Gleiches gilt für die Opfer-
gruppen, an die noch gedacht werden muss und die
noch nicht genannt worden sind. Ich möchte sie nicht
alle aufzählen, aber es gibt auf jeden Fall mehr als die
drei Opfergruppen, die wir in der Diskussion bisher ge-
nannt haben.
Bevor wir anfangen zu bauen, müssen wir wissen,
wie, in welcher Form und welcher Opfergruppen über-
haupt gedacht werden soll. Ich glaube, das wäre für je-
den, der Entwürfe für ein Denkmal erarbeiten soll, eine
Herausforderung. Im Tiergarten wäre durchaus Platz für
ein Denkmal, das auf mehrere Opfergruppen – zwar ein-
zeln, aber in einer Gesamtkonzeption – auch baulich Be-
zug nimmt. All das bleibt ungeklärt, wenn wir nach und
nach versuchen, die Forderungen der Opfergruppen ab-
zuarbeiten, deren Druck am stärksten ist. Auch wir ha-
ben mit dem Schwulen- und Lesbenverband gesprochen
und den Sachstand erörtert. Wir haben deutlich gemacht,
dass wir nicht die Verantwortung für eine Debatte mit
der Überschrift übernehmen wollen: Welche Opfer sind
euch wie viel wert? Diesen Vorwurf wollen wir hier
nicht stehen lassen.
In diesem Zusammenhang ist noch ein anderer Punkt
bemerkenswert, nämlich die Idee – sie ist hier schon
zum Ausdruck gebracht worden –, ein Denkmal für alle
homosexuellen Opfer in unserem Land zu errichten und
damit auch die Nachkriegszeit in der Bundesrepublik
Deutschland und in der zweiten Diktatur zu berücksich-
tigen. Herr Beck sprach davon, wie aktuell die Probleme
in anderen Ländern dieser Welt sind. Wir wissen, dass
mit den schrecklichen Dingen, die Homosexuellen ange-
tan worden sind, nach 1945 nicht Schluss war. Auch da-
rüber können wir eine Debatte führen.
– Wenn wir den Antrag gemeinsam erarbeitet hätten,
Herr Barthel, hätten wir all das vielleicht einbringen
können. Ich habe so viele Beispiele genannt, dass klar
wird: Wenn es hier um würdiges Gedenken geht, wenn
es darum geht, hier zu gemeinsamen Positionen zu kom-
men, dann hätten wir all das diskutieren müssen. Dieser
Schnellschussantrag wird uns noch viele Probleme be-
reiten.
Wir werden uns mit der baulichen Errichtung dieses
Denkmals und anderer Denkmale noch öfter befassen
müssen. Verstehen Sie also bitte: Wir teilen das Anlie-
gen, aber wir lehnen den Antrag ab.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Drucksache 15/2101 zu dem Antrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Denk-
mal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homo-
sexuellen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/1320 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Joachim Otto , Rainer Funke, Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Schutz vor illegalen und jugendgefährdenden
Internetinhalten – filtern statt sperren
– Drucksache 15/1009 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei
die Fraktion der FDP fünf Minuten erhalten soll. – Dazu
höre ich keinen Widerspruch, sodass wir das Zeitkontin-
gent damit beschlossen haben. Wir werden es vermutlich
nicht ganz benötigen, weil einige der vorgesehenen Re-
den zu Protokoll gegeben worden sind.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Hans-Joachim Otto für die FDP-Fraktion das Wort.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003 7345
(C)
(D)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich danke
den verbliebenen Kolleginnen und Kollegen, dass sie
sich am Ende dieses langen Tages noch wenige Minuten
mit Internetpolitik beschäftigen. Da sich dieses Haus re-
lativ wenig mit dieser doch sehr wichtigen Materie be-
fasst und wir nie eine bessere Sendezeit bekommen,
bitte ich um Verständnis, dass wir jetzt darüber sprechen.
In diesen Minuten geht in Genf der UN-Weltgipfel
zur Informations- und Wissensgesellschaft zu Ende.
Dort sind auch von der deutschen Delegation hehre Ziele
formuliert worden, insbesondere die Forderung nach
globalen Regeln für das Internet. Die Realität hierzu-
lande deckt sich gelegentlich nicht mit solchen Sonn-
tagsreden. Jedenfalls besteht eine wachsende Gefahr,
dass wir wieder einmal, jetzt beim Internet, einen deut-
schen Sonderweg beschreiten, statt global zu handeln.
So hat etwa der Düsseldorfer Regierungspräsident
Jürgen Büssow Sperrungsverfügungen gegen eine Viel-
zahl von Providern erwirkt, wonach diese ihren Kunden
den Zugang zu bestimmten Internetseiten zu verwehren
haben.
– Zu Ihnen komme ich noch. –
Bisher sind zwar nur zwei Angebote betroffen, jedoch
haben der Regierungspräsident, aber leider auch Frau
Staatsministerin Weiss vorgestern bei einer Veranstal-
tung angedeutet, dass eine Vielzahl weiterer Sperrun-
gen geplant sind. Gesperrt werden sollen künftig offen-
bar Seiten nicht nur zur Bekämpfung von politischem
Extremismus, sondern auch zum Jugendschutz, ob-
wohl zumindest hierfür nutzerautonome Filtersysteme
wie zum Beispiel das von ICRA zur Verfügung stehen.
Es droht ein Flächenbrand. Deswegen müssen wir darü-
ber sprechen.
Kritik an diesen Sperrungsverfügungen gibt es nicht
nur von der Internetwirtschaft und von der FDP-Fraktion.
Jetzt, Herr Kollege Tauss, komme ich zu Ihnen. In Ihrer
unnachahmlichen Weise haben Sie kürzlich gewettert:
„Die Sperrungsverfügung … ist rechtlich eine Zumutung
und politisch fehlgeleitet.
Herr Büssow führt als selbst ernannter Internetsauber-
mann einen privaten Kreuzzug gegen das Böse in der
Welt.“
Wo er Recht hat, hat er Recht. Ich applaudiere Herrn
Tauss.
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Auch wir
Liberale halten das Internet nicht für einen rechtsfreien
Raum. Vielmehr müssen illegale, insbesondere auch
volksverhetzende und menschenverachtende Internet-
inhalte konsequent verfolgt werden, aber an der Quelle.
Wogegen wir uns wehren, ist, dass im Wege eines na-
tionalen Alleingangs mit der Schrotflinte auf alles ge-
schossen wird, was sich bewegt. Die Sperrungsverfü-
gungen von Herrn Büssow richten sich nicht etwa gegen
die jeweiligen Anbieter der – wie auch ich meine – ver-
werflichen Webseiten, also die Urheber, auch nicht ge-
gen Host-Provider, die Speicherplatz für fremde Inhalte
vorhalten, sondern gezielt gegen Access-Provider, die
nur den Zugang zum Internet vermitteln, also sich auf
die Durchleitung fremder Inhalte beschränken.
Dieses Vorgehen wirft rechtliche, aber auch wirt-
schaftspolitische Probleme auf. Die Stoßrichtung gegen
Access-Provider, also gegen drittbetroffene Nicht-Störer,
verstößt gegen das im deutschen wie im europäischen
Recht sinnvollerweise bestehende Prinzip der gestuften
Verantwortlichkeit. Hiernach ist zunächst gegen den Ur-
heber des inkriminierten Inhalts vorzugehen. Bloße tech-
nische Dienstleister dürfen nur dann in Anspruch ge-
nommen werden, wenn die Maßnahme verhältnismäßig
und geeignet ist. Ich aber habe bereits an der Wirksam-
keit der büssowschen Sperrungen erhebliche Zweifel.
Noch wichtiger als diese rechtliche Komponente ist
mir die politische. Sperrungsverfügungen schädigen den
Internetstandort Deutschland. Denn die damit verbun-
denen Kosten – sie sind erheblich – führen dazu, dass
Service-Provider Deutschland meiden, jedenfalls sich
mit weiteren Investitionen zurückhalten. Der Kreuzzug
gegen die Service-Provider könnte im Übrigen dazu ver-
leiten, sich auf die Bekämpfung von Symptomen zu kon-
zentrieren, statt den Schwerpunkt der Bemühungen auf
Selbstkontrolleinrichtungen wie etwa INHOPE und auf
eine Stärkung der internationalen Zusammenarbeit zur
Bekämpfung illegaler Inhalte im Internet zu legen, wie
zum Beispiel im Rahmen der Cybercrime-Convention
des Europarates.
Der Globalität des Internet darf nicht mit nationalen
Sonderwegen begegnet werden. Auch bei der Bekämp-
fung illegaler Inhalte darf es nicht zu einer digitalen
Spaltung einzelner Nationen und ihres Vorgehens im
Netz kommen. Im Gegenteil ist ein abgestimmtes Vorge-
hen aller Nationen notwendig.
Ich freue mich auf die weitere Beratung dieses Antra-
ges in den Ausschüssen und hoffe sehr – wir haben eben
schon einmal informell darüber gesprochen –, dass man
mit einem gemeinsamen Antrag ein Zeichen setzt, um
den Internetstandort Deutschland zu stärken und dazu
beizutragen, dass der Eindruck vermieden wird, als ob es
7346 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Dezember 2003
(C)
(D)
Hans-Joachim Otto
einen deutschen Sonderweg gäbe. Ich freue mich auf die
Debatte; auf Wiedersehen in den Ausschüssen.
Die Kolleginnen Sabine Bätzing, SPD-Fraktion,
Antje Blumenthal, CDU/CSU-Fraktion, und Grietje
Bettin, Bündnis 90/Die Grünen, haben ihre vorbereiteten
Reden zu Protokoll gegeben und tragen damit zu einem
frühzeitigen Schluss unserer heutigen Plenarsitzung
bei. – Der Kollege Tauss regelt sein Klärungsbedürfnis
regelmäßig durch gezielte Zwischenrufe.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der soeben noch einmal erläuterten Vor-
lage auf Drucksache 15/1009 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich stelle
fest, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung. Eigentlich hätte dies die letzte Plenarsitzung vor
Weihnachten sein sollen. Nun weiß ich, wie sehr Sie sich
alle darauf freuen, dass wir in der nächsten Woche noch
einmal zusammenkommen dürfen,
um über hoffentlich eindrucksvolle Vermittlungsergeb-
nisse zu befinden. Bis dahin wünsche ich Ihnen einige
besinnliche Adventstage und den Kolleginnen und Kol-
legen, die um das Wochenende gebracht werden, weil sie
unmittelbar im Vermittlungsausschuss beschäftigt sind,
umso mehr, dass sie gemeinsam zur Besinnung
kommen – was auch immer das im Einzelnen bedeuten
mag.
Die Sitzung ist geschlossen.