Protokoll:
15031

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 15

  • date_rangeSitzungsnummer: 31

  • date_rangeDatum: 13. März 2003

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:05 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:37 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 15/31 a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) (Drucksachen 15/420, 15/522) . . . . . . 2316 C b) Unterrichtung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländer- fragen: Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland (Drucksache 14/9883) . . . . . . . . . . . . . 2316 C c) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Dr. Max Stadler, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Frak- DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2325 C Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin (Baden-Württemberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2327 B Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . . . . . . 2328 C Wolfgang Bosbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . 2328 D Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2329 B Hartmut Koschyk CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 2330 D Hans-Joachim Hacker SPD . . . . . . . . . . . . . . 2334 B Hartmut Koschyk CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 2336 C Hans-Joachim Hacker SPD . . . . . . . . . . . . . . 2337 A Dr. Max Stadler FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2337 B Petra Pau fraktionslos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2338 D Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 31. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 I n h a l t : Nachruf auf den serbischen Ministerpräsiden- ten Zoran Djindjic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2315 A Nachträgliche Gratulation zum 60. Geburtstag der Abgeordneten Manfred Carstens (Emstek), Gerd Höfer und Alfred Hartenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2315 B Benennung der Abgeordneten Marianne Tritz als ordentliches Mitglied und der Abge- ordneten Claudia Roth (Augsburg) als stell- vertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates . . . . . . . . . . . . 2315 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2315 C, 2452 A Tagesordnungspunkt 3: tegration von Unionsbürgern und Aus- ländern (Zuwanderungssteuerungs- und Integrationsgesetz) (Drucksache 15/538) . . . . . . . . . . . . . . 2316 D d) Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Arbeitserlaubnis für ausländische Saisonarbeitskräfte auf sechs Monate ausweiten (Drucksache 15/368) . . . . . . . . . . . . . . 2316 D Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . 2317 A Wolfgang Bosbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . 2320 D Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2323 B Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ tion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Be- grenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der In- Rüdiger Veit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2339 D Thomas Strobl (Heilbronn) CDU/CSU . . . . . 2342 B II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 Josef Philip Winkler BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2344 D Dr. Lale Akgün SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2346 A Tagesordnungspunkt 4: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union – zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu der Abgabe einer Regierungs- erklärung durch den Bundes- kanzler zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Kopenha- gen am 12. und 13. Dezember 2002 – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Gerd Müller, wei- terer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Ab- schluss der Beitrittsverhandlun- gen auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenber- ger, Daniel Bahr (Münster), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Historischer Erweite- rungsgipfel verstärkt Druck auf innere Reformen der Europä- ischen Union (Drucksachen 15/215, 15/195, 15/216, 15/451) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2348 A b) Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Der Europäischen Verfassung Ge- stalt geben – Demokratie stärken, Handlungsfähigkeit erhöhen, Ver- fahren vereinfachen (Drucksache 15/548) . . . . . . . . . . . . . . 2348 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 1: Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Das neue Gesicht Europas: Kernelemente einer europäischen Verfassung (Drucksache 15/577) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2348 C Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 2348 D Michael Roth (Heringen) SPD . . . . . . . . . . . 2351 B Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP . . 2353 B Anna Lührmann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2354 D Peter Altmaier CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 2356 A Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 2358 B Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU . . . . . . . . . . 2361 B Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 2362 A Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 2362 D Dr. Claudia Winterstein FDP . . . . . . . . . . . . 2364 B Hans Martin Bury, Staatsminister AA . . . . . . 2365 C Albert Rupprecht (Weiden) CDU/CSU . . . . . 2367 A Axel Schäfer (Bochum) SPD . . . . . . . . . . . . 2368 B Dr. Andreas Schockenhoff CDU/CSU . . . . . 2369 C Markus Meckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2370 D Erwin Marschewski (Recklinghausen) CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2372 C Markus Meckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 2372 D Markus Meckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2373 C Erwin Marschewski (Recklinghausen) CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2374 A Kurt Bodewig SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2374 A Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . 2375 B Dr. Georg Nüßlein CDU/CSU . . . . . . . . . . . 2376 B Tagesordnungspunkt 18: a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung von Verwaltungsdaten für Zwecke der Wirtschaftsstatistiken (Verwaltungs- datenverwendungsgesetz – VwDVG) (Drucksache 15/520) . . . . . . . . . . . . . . 2378 A b) Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Die Kompetenzen des Sports bei Prävention und Rehabilitation bes- ser nutzen (Drucksache 15/474) . . . . . . . . . . . . . . 2378 A Tagesordnungspunkt 10: Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter (Drucksache 15/411) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2378 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 III Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än- derung des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze – Widerruf der Straf- und Straf- restaussetzung – (… StrÄndG) (Drucksache 15/310) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2378 B Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Melderechtsrahmen- gesetzes (Drucksache 15/536) . . . . . . . . . . . . . . 2378 B b) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Siegfried Kauder (Bad Dürr- heim), Dr. Norbert Röttgen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Privatsphäre (Drucksache 15/533) . . . . . . . . . . . . . . 2378 B Tagesordnungspunkt 19: a) – c) Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses: Sammelübersichten 19, 20 und 21 zu Petitionen (Drucksachen 15/482, 15/483, 15/484) 2378 C Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Ver- teidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Günther Friedrich Nolting, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Ulrich Adam, Ilse Aigner, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU: Trans- atlantische Beziehungen stärken – Potsdam Center fördern (Drucksachen 15/194, 15/519) . . . . . . . . . . . . 2378 D Tagesordnungspunkt 5: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Fünfter Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Ver- einten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) (Drucksache 15/105) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2379 A Renate Schmidt, Bundesministerin BMFSFJ 2379 B Maria Eichhorn CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 2381 C Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2383 A Ina Lenke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2385 A Christel Humme SPD . . . . . . . . . . . . . . . 2386 A Christel Humme SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2387 B Markus Grübel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 2388 C Josef Philip Winkler BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2389 D Petra Pau fraktionslos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2390 D Kerstin Griese SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2391 D Hannelore Roedel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 2393 B Tagesordnungspunkt 6: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Verkehrsinfrastruk- turfinanzierungsgesellschaft zur Finan- zierung von Bundesverkehrswegen (Verkehrsinfrastrukturfinanzie- rungsgesellschaftsgesetz – VIFGG) (Drucksache 15/199) . . . . . . . . . . . . . . 2394 C – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion der CDU/CSU ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfernstraßen- finanzierungs- und Managementgesell- schaft (Bundesfernstraßenfinan- zierungs- und Managementgesell- schaftsgesetz – BFFuMGG) (Drucksachen 15/299, 15/416) . . . . . . 2394 D Dr. Margrit Wetzel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 2395 A Georg Brunnhuber CDU/CSU . . . . . . . . . . . 2396 D Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2398 C Joachim Günther (Plauen) FDP . . . . . . . . . . 2399 D Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2400 D Renate Blank CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 2402 B Tagesordnungspunkt 15: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- längerung der Ladenöffnung an Samstagen (Drucksachen 15/396, 15/521) . . . 2404 D IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Aufhebung des Laden- schlussgesetzes (Drucksachen 15/106, 15/591) 2404 D b) Empfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ladenschlussgesetz mo- dernisieren (Drucksachen 15/193, 15/591) . . . . . . 2404 D Wolfgang Grotthaus SPD . . . . . . . . . . . . . . . 2405 A Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 2406 C Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2409 A Gudrun Kopp FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2410 C Max Straubinger CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 2411 D Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMWA . . . 2412 D Kurt Segner CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 2414 C Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: 59. Tagung der Menschenrechts- kommission der Vereinten Nationen (Drucksache 15/549) . . . . . . . . . . . . . . 2416 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: 6. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den aus- wärtigen Beziehungen und in ande- ren Politikbereichen (Drucksachen 14/9323, 15/171 Nr. 1, 15/397) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2416 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Men- schenrechte als Leitlinie der deut- schen Politik (Drucksachen 15/136, 15/495) . . . . . . 2416 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Ab- geordneten Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Menschenrechts- verletzungen in Tschetschenien nicht vergessen (Drucksachen 15/64, 15/496) . . . . . . . 2416 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Für Men- schenrechte weltweit eintreten – die inter- nationalen Menschenrechtsschutzinstru- mentarien stärken (Drucksache 15/535) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2416 C Rudolf Bindig SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2416 D Hermann Gröhe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 2418 C Christa Nickels BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2420 B Rainer Funke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2421 C Christoph Strässer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 2422 D Melanie Oßwald CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 2425 A Kerstin Müller, Staatsministerin AA. . . . . . . . 2426 C Holger Haibach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 2427 D Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (Drucksache 15/359) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2429 D Dr. Andreas Pinkwart FDP . . . . . . . . . . . . . . 2430 A Lydia Westrich SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2431 A Heinz Seiffert CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 2432 A Christine Scheel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2433 C Stefan Müller (Erlangen) CDU/CSU . . . . . . 2434 C Florian Pronold SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2435 D Tagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der Unternehmensfinanzie- rung (Kleinunternehmerförderungsgesetz) (Drucksache 15/537) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2436 C Ingrid Arndt-Brauer SPD . . . . . . . . . . . . . . . 2436 D Hans Michelbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 2437 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 V Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2439 B Carl-Ludwig Thiele FDP . . . . . . . . . . . . . . . . 2440 C Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2441 D Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 2443 C Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen sicherstellen (Drucksache 15/466) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2445 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Wettbewerbsbedin- gungen bei Vertrieb von Postdienstleistun- gen schaffen (Drucksache 15/579) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2445 A Johannes Singhammer CDU/CSU . . . . . . . . . 2445 B Rainer Funke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2447 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . 2448 A Ulrich Kelber SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2449 D Rainer Funke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2450 B Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . 2450 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhand- lungen – Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern (Drucksachen 15/224, 15/506) . . . . . . . . . . . . 2451 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS- Verhandlungen – Transparenz und Flexibi- lität sichern (Drucksache 15/576) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2451 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: GATS-Verhandlun- gen – Bildung als öffentliches Gut und kul- turelle Vielfalt sichern (Drucksache 15/580) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2451 B Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren, Michael Müller (Düssel- dorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, Rainder Steenblock, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN: Keine Zustimmung zur Erhöhung der EURATOM-Kreditlinie (Drucksache 15/575) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2451 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: EURATOM-Vertrag nicht aufweichen – Keine einseitigen Ein- griffe in die Finanzierung (Drucksache 15/578) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2451 D Zusatztagesordnungspunkt 10: Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines nicht förmlichen Disziplinarverfahrens (Drucksache 15/607) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2452 A Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Reinhold Hemker, Dr. Sascha Raabe, weiterer Abgeordneter und der Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN: Für eine nachhal- tige Agrarpolitik und einen gerechten Inte- ressenausgleich bei den laufenden WTO- Verhandlungen (Drucksache 15/550) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2452 B VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Peter Harry Carstensen (Nordstrand), Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: WTO-Verhandlungen – Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern (Drucksache 15/534) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2452 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2452 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 2453 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Matthias Sehling, Wolfgang Zeitlmann, Ilse Aigner, Martin Hohmann, Hartmut Koschyk, Susanne Jaffke, Michael Glos, Dr. Peter Ramsauer, Dorothee Mantel, Norbert Geis, Dr. Ole Schröder, Stephan Mayer (Altöt- ting), Hubert Deittert, Jochen-Konrad Fromme, Albrecht Feibel, Beatrix Philipp, Dr. Michael Luther, Günter Baumann, Arnold Vaatz, Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen), Reinhard Grindel, Dr. Klaus W. Lippold (Of- fenbach), Thomas Strobl (Heilbronn), Dr. Andreas Schockenhoff, Ursula Lietz, Clemens Binninger, Christa Reichard (Dres- den), Georg Brunnhuber, Heinz Seiffert, Patricia Lips, Matthäus Strebl, Barbara Lanzinger, Manfred Grund, Johannes Singhammer, Daniela Raab, Monika Brüning, Klaus Hofbauer, Hannelore Roedel, Christian Schmidt (Fürth), Doris Meyer (Tapfheim), Dr. Georg Nüßlein, Georg Schirmbeck, Peter Weiß (Emmendingen), Marco Wanderwitz, Peter Bleser, Elke Wülfing, Gerald Weiß (Groß-Gerau), Julia Klöckner, Maria Michalk, Kristina Köhler (Wiesbaden), Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Klaus Brähmig, Michaela Noll, Klaus Riegert, Tanja Gönner, Volker Kauder, Henry Nitzsche, Veronika Bellmann, Albert Rupprecht (Weiden), Dr. Hermann Kues, Erwin Marschewski (Recklinghau- sen), Kurt-Dieter Grill, Erika Steinbach, Dr. Peter Gauweiler, Thomas Dörflinger und Helmut Rauber (alle CDU/CSU) zur Abstim- mung über den Antrag: Der Weg für die Os- terweiterung ist frei: Abschluss der Beitritts- verhandlungen auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen (Tagesordnungspunkt 4 a) . . 2453 B Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Elke Ferner, Bernhard Brinkmann (Hil- desheim), Ulla Burchardt, Peter Dreßen, Klaus Hagemann, Erika Lotz, Lothar Mark, Hilde Mattheis, Dagmar Schmidt (Meschede), Jörg Tauss, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Gernot Erler, Anton Schaaf, Christoph Strässer, Horst Kubatschka, Lothar Binding (Heidelberg), Reinhold Hemker, Willi Brase, Helga Kühn-Mengel, Klaus Barthel (Starn- berg), Florian Pronold, Dr. Ernst Dieter Rossmann, René Röspel, Ottmar Schreiner, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Rüdiger Veit, Dr. Christine Lucyga, Klaus Kirschner, Heidi Wright, Angelika Graf (Rosenheim), Jella Teuchner, Christine Lambrecht, Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Marco Bülow, Anette Kramme, Heinz Paula und Frank Hofmann (Volkach) (alle SPD) sowie Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnung an Samsta- gen (Tagesordnungspunkt 15 a) . . . . . . . . . . . 2453 D Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ernst Hinsken, Renate Blank und Stephan Mayer (Altötting) (alle CDU/CSU) zur Ab- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnung an Sams- tagen (Tagesordnungspunkt 15 a) . . . . . . . . . 2454 C Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Fritz Schlösser und Horst Schmidbauer (Nürnberg) (beide SPD) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Ver- längerung der Ladenöffnung an Samstagen (Tagesordnungspunkt 15 a) . . . . . . . . . . . . . . 2455 A Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Flächendeckende Versorgung mit Post- dienstleistungen sicherstellen – Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb von Postdienstleistungen schaffen (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord- nungspunkt 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2455 A Ulrich Kelber SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2455 B Hubertus Heil SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2456 B Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2457 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 VII (Tagesordnungspunkt 12 und Zusatztagesord- nungspunkt 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2462 D Horst Kubatschka SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 2462 D Dr. Christel Happach-Kasan FDP . . . . . . . . 2475 C Mathias Berninger, Parl. Staatssekräter BMVEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2476 B Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – GATS-Verhandlungen – Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern – GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität sichern (Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7) . . . . . . . 2457 D Ulla Burchardt SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2457 D Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD . . . . . . . . . . . 2458 D Günter Nooke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 2460 B Ulrike Flach FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2462 A Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Keine Zustimmung zur Erhöhung der EURATOM-Kreditinie – EURATOM-Vertrag nicht aufweichen – Keine einseitigen Eingriffe in die Finan- zierung Michael Müller (Düsseldorf) SPD . . . . . . . . 2463 D Dr. Rolf Bietmann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 2464 C Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2466 B Cornelia Pieper FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2467 B Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Für eine nachhaltige Agrarpolitik und einen gerechten Interessenausgleich bei den laufenden WTO-Verhandlungen – WTO-Verhandlungen – Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord- nungspunkt 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2468 B Dr. Sascha Raabe SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 2468 B Reinhold Hemker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 2469 B Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2470 A Bernhard Schulte-Drüggelte CDU/CSU . . . . 2472 B Thilo Hoppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2474 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2315 (A) (C) (B) (D) 31. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 Beginn: 9.05 Uhr
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    1) Anlage 9 nicht aufweichen – Keine einseitigen Eingriffe in die Finanzierung“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord- nung um die Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines nicht förmlichen Disziplinarverfah- rens zu erweitern und diese jetzt als Zusatzpunkt 10 auf- zurufen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Dann rufe ich jetzt Zusatzpunkt 10 der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen (Nordstrand), Albert Deß, Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU WTO-Verhandlungen – Europäisches Land- wirtschaftsmodell absichern – Drucksache 15/534 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2453 (A) (C) (B) (D) Meyer (Tapfheim), Dr. Georg Nüßlein, Georg Schirmbeck, Peter Weiß (Emmendingen), Marco Wanderwitz, Peter Bleser, Elke Wülfing, Gerald Weiß (Groß-Gerau), Julia Klöckner, gesordnungspunkt 15 a) Die Mehrheit unserer Fraktion hat sich für die An- nahme des Gesetzentwurfes in der Ausschussfassung Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Matthias Sehling, Wolfgang Zeitlmann, Ilse Aigner, Martin Hohmann, Hartmut Koschyk, Susanne Jaffke, Michael Glos, Dr. Peter Ramsauer, Dorothee Mantel, Norbert Geis, Dr. Ole Schröder, Stephan Mayer (Altötting), Hubert Deittert, Jochen-Konrad Fromme, Albrecht Feibel, Beatrix Philipp, Dr. Michael Luther, Günter Baumann, Arnold Vaatz, Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen), Reinhard Grindel, Dr. Klaus W. Lippold (Of- fenbach), Thomas Strobl (Heilbronn), Dr. Andreas Schockenhoff, Ursula Lietz, Clemens Binninger, Christa Reichard (Dresden), Georg Brunnhuber, Heinz Seiffert, Partricia Lips, Matthäus Strebl, Barbara Lanzinger, Manfred Grund, Johannes Singhammer, Daniela Raab, Monika Brüning, Klaus Hofbauer, Hannelore Roedel, Christian Schmidt (Fürth), Doris Maria Michalk, Kristina Köhler (Wiesbaden), Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Klaus Brähmig, Michaela Noll, Klaus Riegert, Tanja Gönner, Volker Kauder, Henry Nitzsche, Veronika Bellmann, Albert Rupprecht (Wei- den), Dr. Hermann Kues, Erwin Marschewski (Recklinghausen), Kurt-Dieter Grill, Erika Steinbach, Dr. Peter Gauweiler, Thomas Dörflinger und Helmut Rauber (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Antrag: Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Bei- trittsverhandlungen auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen (Tagesordnungspunkt 4 a) Dem Beitritt von Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakischen Republik, Slowenien, der Tschechischen Republik, Ungarn und Zypern in die Eu- ropäische Union stimmen wir mit dem vorliegenden An- trag grundsätzlich zu, denn diese Völker und ihre jungen Demokratien sind eine Bereicherung für die Europäische Union. Wir sind aber enttäuscht, dass bei den Beitritts- verhandlungen die Menschenrechtsstandards des Kopen- hagener Vertrages nicht die notwendige überragende Rolle gespielt haben. In diesem Sinne sind die Entrech- tungsdekrete gegenüber ungarischen und deutschen Ver- triebenen und Flüchtlingen fortwirkendes Unrecht. In die EU gehören aber nur Staaten, die die Menschenrechte umfassend achten. Menschenrechte sind von sich aus universal angelegt. Rechtsakte, die zu diesen im Gegen- satz stehen, gehören aufgehoben. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Elke Ferner, Bernhard Brinkmann (Hildesheim), Ulla Burchardt, Peter Dreßen, Klaus Hagemann, Erika Lotz, Lothar Mark, Hilde Mattheis, Dagmar Schmidt (Me- schede), Jörg Tauss, Gert Weisskirchen (Wies- loch), Gernot Erler, Anton Schaaf, Christoph Strässer, Horst Kubatschka, Lothar Binding (Heidelberg), Reinhold Hemker, Willi Brase, Helga Kühn-Mengel, Klaus Barthel (Starn- berg), Florian Pronold, Dr. Ernst Dieter Rossmann, René Röspel, Ottmar Schreiner, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Rüdiger Veit, Dr. Christine Lucyga, Klaus Kirschner, Heidi Wright, Angelika Graf (Rosenheim), Jella Teuchner, Christine Lambrecht, Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Marco Bülow, Anette Kramme, Heinz Paula und Frank Hofmann (Volkach) (alle SPD) sowie Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Ver- längerung der Ladenöffnung an Samstagen (Ta- Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adam, Ulrich CDU/CSU 13.03.2003 Austermann, Dietrich CDU/CSU 13.03.2003 Dr. Göhner, Reinhard CDU/CSU 13.03.2003 Göppel, Josef CDU/CSU 13.03.2003 Götz, Peter CDU/CSU 13.03.2003 Lehn, Waltraud SPD 13.03.2003 Möllemann, Jürgen W. Fraktionslos 13.03.2003 Rühe, Volker CDU/CSU 13.03.2003 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 13.03.2003 Schneider, Carsten SPD 13.03.2003 Seib, Marion CDU/CSU 13.03.2003 Volquartz, Angelika CDU/CSU 13.03.2003 Wettig-Danielmeier, Inge SPD 13.03.2003 Wieczorek (Böhlen), Jürgen SPD 13.03.2003 Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 13.03.2003 2454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 (A) (C) (B) (D) ausgesprochen. Wir akzeptieren diese Mehrheitsent- scheidung, obwohl nach unserer Auffassung gewichtige Gründe gegen eine Änderung der jetzigen Regelung sprechen: Eine Verlängerung der Ladenöffnungszeiten schafft nicht mehr Kaufkraft, sondern forciert den Kon- zentrationsprozess im Einzelhandel. Lediglich Geschäfte in den Innenstädten und Ein- kaufszentren auf der grünen Wiese nutzen die bestehen- den Ladenöffnungszeiten voll aus und werden auch die neuen Öffnungszeiten ausschöpfen. Die Folge ist, dass die Konzentration im Einzelhandel zunimmt und die wohnortnahe Versorgung, insbesondere in ländlichen Gebieten, in Wohngebieten und außerhalb der 1a-Lagen abnimmt. Die Erweiterung der Ladenöffnungszeiten wird die- sen Konzentrationsprozess zulasten kleiner Familien- betriebe, kleiner Filialen und kleiner Einzelhändler weiter forcieren. Für Menschen, die auf eine wohnort- nahe Versorgung angewiesen sind, wird sich die Situa- tion weiter verschlechtern. Der Konsum wird zu ande- ren Zeiten und an anderen Orten stattfinden, sich aber nicht vermehren. Eine Verlängerung der Ladenöffnungszeiten schafft nicht mehr Beschäftigung, sondern reduziert die Voll- zeitarbeitsplätze und verschlechtert die Arbeitszeiten für die Beschäftigten. Die Erfahrungen mit der bisherigen Regelung zeigen, dass die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze abnimmt, die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze und Mini-Jobs zunimmt, die Ar- beitszeiten für die Beschäftigten ungünstiger werden, insbesondere durch den Einsatz von kapazitätsorientier- ter variabler Arbeitszeit, und damit für Eltern, insbeson- dere für Mütter, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zunehmend schwieriger wird. Wir befürchten eine Verstärkung dieser Entwicklung und im Ergebnis einen Verlust von existenzsichernden Arbeitsplätzen im Einzelhandel, eine massive Auswei- tung der Mini-Jobs und damit einhergehend weitere Mindereinnahmen bei Steueraufkommen und bei den Sozialversicherungssystemen. Darüber hinaus wird für viele Beschäftigte im Einzelhandel die Wochenendarbeit zunehmen. Davon sind insbesondere Frauen betroffen, für die es noch schwieriger wird, Vereinbarkeit von Fa- milie und Beruf verwirklichen zu können oder am sozia- len und kulturellen Leben teilhaben zu können. Darüber hinaus entstehen gravierende Nachteile für Beschäftigte, die auf den ÖPNV angewiesen sind. Fazit: Eine weitere Lockerung der Ladenöffnungszei- ten wird weder auf den Arbeitsmarkt noch auf das Um- satzvolumen im Einzelhandel insgesamt positive Auswir- kungen haben. Wir erwarten, dass auch die Unternehmen aufgrund der ernsten Lage am Arbeitsmarkt ihre unterneh- merische Verantwortung wahrnehmen und mit der Locke- rung der Öffnungszeiten nicht einen weiteren Abbau von festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein- leiten. Wir erwarten von der Bundesregierung eine genaue Beobachtung der Entwicklung der Arbeitsmarktsitua- tion und der klein- und mittelständischen Struktur im Einzelhandel, um auf Fehlentwicklungen reagieren zu können. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ernst Hinsken, Renate Blank und Stephan Mayer (Altötting) (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen (Tagesordnungspunkt 15 a) Ich werde dem Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 15/396 mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnungszeiten an Samstagen“, dem Gesetzentwurf der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/106 mit dem Titel „Entwurf eines Geset- zes zur Aufhebung des Ladenschlussgesetzes“, sowie dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf Drucksache 15/193 mit dem Titel „Ladenschlussgesetz modernisieren“, nicht zustimmen. Begründung: Die im Jahre 1996 vorgenommene No- vellierung des Ladenschlussgesetzes hat nicht das Er- gebnis gebracht, das man erwartete. So wurden nicht die 50 000 zusätzlichen Arbeitsplätze, wie vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Rexrodt angekündigt, ge- schaffen. Im Gegenteil gab es eine Reduzierung um 133 000 Arbeitsplätze. Bei den Vollzeitarbeitsplätzen ist sogar ein Minus von 175 000 zu verzeichnen. Es soll je- doch nicht verschwiegen werden, dass im Teilzeitbereich eine Steigerung, allerdings nur um 4,4 Prozent, zu ver- zeichnen war. Zudem ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich zwischenzeitlich die Einzelhandelsstruktur in der Bun- desrepublik Deutschland für kleinere und mittlere Be- triebe weiter verschlechtert hat. Circa 7 000 Betriebe werden jetzt weniger gezählt als vor sieben Jahren. Eine weitere Ausweitung der Ladenöffnungszeiten bringt mit sich, dass vor allem die Supermärkte auf der grünen Wiese und die Geschäfte in Toplagen positiv be- troffen sind. Alle übrigen Geschäfte profitieren nicht da- von und werden mit zusätzlichen Kosten belastet, die sie gerade in dieser schwierigen Wirtschaftslage nicht so ohne weiteres verkraften können. Sie sind deshalb der Gefahr besonders ausgesetzt, nicht mehr mithalten zu können und somit schließen zu müssen. Insbesondere negativ betroffen sind Geschäftsinhaber in der Fläche, denn durch eine weitere Veränderung der Öffnungszeiten gibt es noch mehr Kaufkraftverlagerung in größere Einkaufszentren. Eine Eröffnungszeit von durchschnittlich 74 Stunden pro Woche ist meiner Mei- nung nach ausreichend. Ich kann es nicht verantworten, dass unter anderem durch eine zusätzliche Verlängerung der Ladenöffnungs- zeiten ein weiterer Rückgang von kleinen und mittleren Geschäften die Folge sein wird. Aus diesen Gründen werde ich keiner der drei Vorlagen zustimmen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2455 (A) (C) (B) (D) Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Fritz Schösser und Horst Schmidbauer (Nürnberg) (beide SPD) zur Ab- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen (Tagesordnungspunkt 15 a) Seit vielen Jahren setzten wir uns dafür ein, dass Menschen sich wohnortnah versorgen können, die In- nenstädte attraktiv bleiben, Familienbetriebe und Einzel- händler eine Zukunftschance haben, sozialversiche- rungspflichtige Vollzeit- und Teilzeitarbeitsplätze erhalten bleiben und nicht einem ständigen Verdrän- gungswettbewerb durch geringfügige Beschäftigungs- verhältnisse zum Opfer fallen, negative Auswirkungen auf die Beschäftigten im Einzelhandel durch eine kapa- zitätsorientierte, variable Arbeitszeit vermieden werden und Eltern Familie und Beruf besser miteinander verein- baren können. Die neuerliche Reform des Ladenschlusses, die eine weitere Verlängerung der Ladenöffnungszeiten vorsieht, geht in die falsche Richtung. Deshalb lehnen wir eine weitere Lockerung der Ladenöffnungszeiten ab. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Flächendeckende Versorgung mit Post- dienstleistungen sicherstellen – Wettbewerbedingungen bei Vertrieb von Postdienstleistungen schaffen (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord- nungspunkt 4) Ulrich Kelber (SPD): Lassen Sie uns zunächst die Gemeinsamkeiten in dieser Frage betonen: Dieses Parla- ment will quer durch alle Fraktionen eine günstige Post, eine kundenfreundliche Post, eine Post mit einem guten Service und vor allem auch eine ortsnahe Postversor- gung. Dies alles war in den letzten Jahren weitgehend der Fall. Dazu haben die Postagenturen viel beigetragen. Deswegen sieht dieses Parlament, sieht die SPD-Bun- destagsfraktion die Debatte über die neuen Verträge für die Postagenturen mit Sorge. Damit das niemand falsch versteht: Wir sind überzeugt, dass die Liberalisierung der Post gute Preise und guten Service bei gleichzeitiger ortsnaher Versorgung erst möglich gemacht hat. Deswe- gen halten wir an der Liberalisierung fest und werden diesen Weg weiter gehen. Es gibt dazu keine seriöse Al- ternative. Die Liberalisierung hat bereits erste Preissenkungen ermöglicht: Im Jahr 2003 wurde in Deutschland erstmals in der Geschichte das Briefporto gesenkt, nachdem die alte Kohl-Regierung 1997 das Porto noch einmal erhöht hatte. Inflationsbereinigt ist das Briefporto seit den 90er- Jahren sogar sehr stark gesunken. Es waren übrigens auch die geringeren Kosten der Postagenturen gegenüber den Postfilialen, die dies möglich gemacht haben. Die Liberalisierung hat zu mehr Service geführt: Durch die Einführung der Postagenturen haben sich in vielen Fällen die Öffnungszeiten erweitert. In vielen Dörfern und kleinen Ortsteilen haben die Postagenturen die örtliche Nahversorgung stabilisiert, weil der Tante- Emma-Laden zusätzliche Kunden und Einnahmen ge- wonnen hat. Die Liberalisierung hat zu mehr Kundenfreundlich- keit geführt: Früher hat die Post vermittelt, es sei eine Gnade, eine Briefmarke kaufen zu dürfen. Jeder hier wird sich an solche Szenen auf den Postämtern noch er- innern. Heute wird man als Kunde ernst genommen, ge- rade auch in den Postagenturen. Das notwendige Gegenstück zur Liberalisierung ist die PUDLV: vorgeschriebene Qualität zu einem ange- messenen und günstigen Preis. Denn der Markt allein kann zum Beispiel nicht dafür sorgen, dass eine ortsnahe Versorgung besteht. Der Markt allein kann auch nicht dafür sorgen, dass Postleistungen auf dem Land genauso preisgünstig angeboten werden wie in der Stadt. Deswe- gen ist die PUDLV notwendig. Die PUDLV, 1999 beschlossen, schreibt der Post AG 12 000 Postfilialen und Postagenturen vor, übrigens 2 000 mehr, als noch die alte Kohl-Regierung wollte. Deswegen wurde die PUDLV 1999 von CDU/CSU und FDP auch abgelehnt. Ich betone das noch einmal: CDU/ CSU und FDP haben 1999 abgelehnt, der Post eine hohe Anzahl von Postfilialen und Postagenturen vorzuschrei- ben. Viele der Postagenturen, über die wir heute spre- chen, gäbe es überhaupt nicht, wenn CDU/CSU und FDP die Mehrheit im Bundestag hätten. Übrigens haben auch die Bundestagsabgeordneten von CDU/CSU und FDP, die sich jetzt dreist zu ver- meintlichen Fürsprechern für die Postagenturen auf- schwingen wollen, damals gegen eine vorgeschriebene Anzahl von Postfilialen und Postagenturen gestimmt. Rainer Funke, FDP, hat am 4. November 1999 ausge- führt: „In diesem Sinne regelt die PUDLV einfach zu viel ... Ob es zweckmäßig ist, der Post AG im Einzelnen vorzuschreiben, wie viele stationäre Einrichtungen – und zwar Poststellen und Tante-Emma-Läden – vorhanden sein müssen, kann tunlichst bezweifelt werden.“ Das Protokoll vermeldet nach diesem Absatz Beifall der FDP und der CDU/CSU. Wäre es nach der Opposition gegangen, dann hätten wir heute überhaupt kein Druckmittel mehr auf die Post AG in der Hand. Wir hätten keine stringente PUDLV. Nur über die PUDLV können wir Einfluss in der Frage der Postagenturen nehmen. Gut, dass wir diese Verordnung haben. Gut, dass wir von dieser Verordnung jetzt auch Gebrauch machen können. Übrigens haben CDU/CSU und FDP in letzter Zeit grundsätzlich einen Eingriff der Bundesregierung in den geschäftlichen Betrieb von Telekom und Post abgelehnt. Das sei schuld am Sturz der Aktienkurse der beiden 2456 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 (A) (C) (B) (D) Unternehmen, hat – wie so häufig glatt wahrheitswidrig – Herr Merz von der CDU behauptet. Er wollte sich bei den Kleinaktionären lieb Kind machen. Die Wahrhaftig- keit ist dabei auf der Strecke geblieben. Heute legt diese CDU/CSU einen Antrag vor, wo die Bundesregierung zum genauen Gegenteil vom dem auf- gefordert wird, was Merz, Merkel und Stoiber noch vor wenigen Wochen wollten, nämlich den direkten Eingriff der Bundesregierung in den geschäftlichen Betrieb der Post AG. Diese Form von Populismus finde ich peinlich. Er hilft den Betreibern der Postagenturen auch überhaupt nicht. Die Betreiber der Postagenturen werden von CDU/CSU missbraucht für Angriffe auf die Bundesre- gierung. Dabei sind es die Postagenturen, um die es hier geht – und nicht die Interessen von CDU/CSU. Die Postagentu- ren benötigen unsere Hilfe. Und die werden Sie auch be- kommen. Diese Hilfe ist schon unterwegs, nämlich in Form von zwei Drehschrauben für die Politik: Erstens prüft das Kartellamt bereits, ob die neuen Verträge ein Missbrauch von Marktmacht darstellen. Dies ist – das sollten wir dann auch dazusagen – keine Vorverurteilung der Deutschen Post AG. Wir fordern die Post AG auf, diese Prüfung abzuwarten. Zweitens haben wir der Deutschen Post AG klar ge- macht, dass wir ohne jeden Abstrich an der Forderung der PUDLV nach 12 000 Postfilialen und Postagenturen festhalten. Würden wirklich reihenweise Postagenturen gekündigt und damit die PUDLV verletzt, dann würden automatisch Strafen fällig. Wir werden da keine Aus- nahme für die Post AG machen. Wir prüfen auch, ob das Strafmaß weiter erhöht werden muss. Wir fordern CDU/CSU und FDP auf, den offensichtli- chen Populismus sofort einzustellen. Helfen Sie den Postkunden und den Betreibern der Postagenturen. Stop- pen Sie ihre plumpen parteipolitischen Spielchen und ziehen Sie mit uns an einem Strang! Ihr Antrag ist über- flüssig. Ihr Antrag ist eine Mischung aus Selbstverständ- lichkeiten und Unsinn. Die wirklich notwendigen Schritte nennt er nicht. An die Adresse der Deutschen Post AG: Ihr müsst die PUDLV jederzeit und im vollen Umfang erfüllen. Ohne leistungsfähige Postagenturen, deren Betrieb sich auch finanziell lohnen muss, wird das nicht möglich sein. Die Post AG sollte ihren Vorteil der ortsnahen Kundenver- sorgung, die sie gegenüber der Konkurrenz hat, nicht mutwillig aufs Spiel setzen. Hubertus Heil (SPD): Im ländlichen Raum, den Kleinstädten und auch in den Stadtteilen von Großstäd- ten müssen die Bürgerinnen und Bürger auch zukünftig ein erreichbares Angebot von Postdienstleistungen in Anspruch nehmen können. Das war immer unsere Posi- tion, das ist unsere Position und das wird auch immer die Position der SPD-Bundestagsfraktion sein. Postdienstleistungen werden in erheblichem Umfang durch Postagenturen erbracht. Sie sichern die Grundver- sorgung dort, wo die Post diese oft nicht mehr über ei- gene Filialen aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen sicherstellt. Die Postagenturen helfen damit, die nach der Post-Universaldienstleistungsverordnung bestehende Verpflichtung der Deutschen Post AG einzulösen, die Grundversorgung der Bevölkerung mit Postdienstleis- tungen sicherzustellen. Es existieren derzeit etwa 7 800 Agenturen, in denen circa 21 000 Arbeitsplätze entstan- den sind. Zurzeit bemüht sich die Post AG um eine Neuord- nung ihrer Vertragsbeziehung zu den Agenturnehmern. Viele Agenturen und ihre Interessensvertretungen emp- finden die von der Post AG vorgeschlagenen Standard- verträge als „Knebelverträge“. Einige Postagenturen be- klagen sogar, dass sie durch die aus diesen neuen Verträgen resultierenden Umsatzeinbußen in ihrer wirt- schaftlichen Existenz gefährdet seien. Die SPD-Bundestagsfraktion beobachtet diese Ent- wicklung mit großer Sorge und wird darauf dringen, dass die Post AG die Bestimmungen der Verordnung in vol- lem Umfang bis Ende April einhalten wird. Dieses ha- ben uns die Vertreter der Deutschen Post AG gestern in einem Gespräch und heute nochmals schriftlich zuge- sagt. Unsere Gespräche mit der Post AG hatten auch zum Erfolg, dass das Unternehmen zumindest in einigen Bereichen den Agenturen entgegenkommt. So wird in der Übergangsphase der Vertragsumstel- lung den Agenturen im Rahmen eines Verkaufsförde- rungspakets eine Provision für den Verkauf von wert- schöpfenden Produkten angeboten, die über 200 Prozent höher als üblich liegen. Auch wird der Abschluss eines Postbank-Girokontos oder eines Telekom-ISDN-An- schlusses mit 50 Euro statt mit 15 Euro vergütet. Flan- kierend wird diese Maßnahme durch umfangreiche Wer- bekampagnen begleitet. Wir Sozialdemokraten konnten erreichen, dass diese ursprünglich bis September 2003 befristete Aktion für alle Partner der Post AG, die neue Verträge abschließen, auf zwölf Monate ab Vertragsumstellung verlängert wird. Des Weiteren wurden uns zusätzliche Verkaufsför- derungsmaßnahmen zugesichert. Und schließlich sagte uns die Post AG zu, eine regelmäßige Überprüfung der Vergütung im Lichte der Geschäftsentwicklung vorzu- nehmen, um diese gegebenfalls anzupassen. Wir erwarten allerdings über diese Zusagen hinaus von der Post AG, die Neuordnung des Vertragsverhält- nisses mit den Agenturen so lange auszusetzen, bis die Prüfung des Bundeskartellamtes abgeschlossen ist. An den uns vorliegenden Anträgen von CDU/CSU und FDP irritiert uns, dass diese Parteien der von uns verschärften PUDLV damals nicht zugestimmt haben, sich aber heute als Gralshüter dieser Verordnung auf- spielen. Noch mehr irritiert uns, dass der CSU-Kollege Singhammer sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, ei- nen eigenen Antrag zu formulieren. Im Antrag der CDU/ CSU-Fraktion wird wortwörtlich ein Antrag aus einer Sitzung des Beirates der Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation wiedergegeben, ohne auf die Urheberschaft hinzuweisen. Dem ist zu entnehmen, dass der neue stellvertretende Vorsitzende des Beirates die- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2457 (A) (C) (B) (D) sem Gremium keine allzu große Durchsetzungsfähigkeit einräumt. Am meisten irritiert uns aber, dass der von CDU/CSU sonst so viel beschworene ordnungspolitische Kompass in dieser Frage vollständig abhanden gekommen zu sein scheint. Im Gegensatz, zu den Bestimmungen des Akti- engesetzes soll nach Vorstellung der Union der Bund als Mehrheitsaktionär einen direkten Einfluss auf betriebs- wirtschaftliche Entscheidungen nehmen. Ist es nicht immer wieder die Union, die in Bezug auf die Deutsche Telekom AG zu Recht das Gegenteil er- wartet? Populistisch durch jeden Wahlkreis zu ziehen und von der Bundesregierung Handeln einzufordern, das weder eine Rechtsgrundlage hat noch der ordnungpolitischen Vernunft entspricht, mag kurzfristig Effekte erzielen, ist aber alles andere als hilfreich, um nicht zu sagen däm- lich. Herr Singhammer macht den Eindruck eines klei- nen Jungen, der am Rande eines Ozeans steht und den Versuch unternimmt, durch das Werfen von Kieselstein- chen den Kurs eines Tankers zu beeinflussen. Lassen Sie uns lieber die rechtlichen Instrumente nut- zen, um einen fairen Interessenausgleich zwischen den berechtigten betriebswirtschaftlichen Interessen der Post-AG und den Agenturen herbeizuführen. Erst wenn sich dann zeigen sollte, dass die vorhande- nen rechtlichen Instrumente zur Durchsetzung der flä- chendeckenden Umsetzung der Universaldienstverord- nung nicht ausreichen, werden wir neue schaffen. Dazu gehören dann auch gegebenenfalls neue Instrumente der Regulierungsbehörde. Jetzt aber gilt es, die vorhandenen Mittel auszuschöp- fen. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nicht jeder Mensch chattet im Internet. Ja, es soll sogar Menschen geben, die überhaupt keinen Computer besit- zen und keinen Zugang zum Internet haben. Die Post ist für die Kommunikation immer noch unentbehrlich, wenn die Oma ihrem Enkel ein Päckchen zum Geburts- tag schicken will oder die Schülerin ihrem Brieffreund schreibt oder auch nur – ganz wunderbar altmodisch – ein Liebesbrief geschrieben und abgeschickt werden soll. Die Sicherstellung der flächendeckenden Grundver- sorgung mit Postdienstleistungen gehört zur Daseinsvor- sorge. Gerade die Menschen, die verstärkt auf die Post angewiesen sind, sind zum Teil auch körperlich nicht so mobil, weil sie zum Beispiel noch nicht oder nicht mehr Auto fahren. Deshalb muss die nächste Postdienststelle auch in der Fläche für die Menschen erreichbar sein. Den Umfang dieses Universaldienstes hat die rot- grüne Bundesregierung in der Post-Universaldienstleis- tungsverordnung (PUDLV) festgelegt und damit 1998 den massiven Abbau von Postdiensten gestoppt. Die PUDLV ist das zentrale Instrument zur Sicherung eines Mindestangebots durch die Deutsche Post und deren Wettbewerber. In allen Gemeinden mit mehr als 2000 Ein- wohnern muss eine stationäre Einrichtung vorgehalten werden. In zusammenhängenden bebauten Gebieten muss die Einrichtung in maximal 2000 Metern für die Kunden erreichbar sein. Die Vorgabe der PUDLV in der seit dem Zweiten Ge- setz zur Änderung des Postgesetzes vom 30. Januar 2002 gültigen Fassung wird von der Deutschen Post hinsicht- lich der Anzahl der stationären Einrichtungen erfüllt. Je- doch ist mit Stand November 2002 die neue Vorgabe von zusätzlichen stationären Einrichtungen in Gemeinden mit mehr als 2000 Einwohnern nur etwa zu 75 Prozent erfüllt und die Verpflichtung zur Schaffung von stationä- ren Einrichtungen aufgrund des Flächenkriteriums von 80 Quadratkilometern ist bislang nur etwa zu 70 Prozent erfüllt. Und es gibt Hinweise, dass Postfilialen, die auf- grund eines Betreiberwechsels oder Personalmangels ge- schlossen wurden, nicht zeitgerecht wieder geöffnet wer- den. Aktuell beschäftigt uns die Debatte, dass die Post den Postagenturen deutlich schlechtere Verträge anbie- tet. Es existieren 7 800 Agenturen, in denen circa 21 000 Arbeitsplätze entstanden sind. Die neuen Verträge sollen den wirtschaftlichen Betrieb der Agenturen gefährden. Und die Post soll ihre Monopolstellung nutzen, um im Vertriebsbereich zulasten der Agenturen Kosten zu spa- ren. Ich sage hier sehr deutlich im Namen der grünen Fraktion: Wie die Post ihre Verpflichtungen erfüllt, ist ihre Sache. Wir werden es dem Unternehmen nicht vor- schreiben. Aber dass sie für die Verbraucher die zwin- gend erforderliche Versorgung bereitstellen muss, ist auch klar. Die Post muss die Vorgaben der PUDLV einhalten. Wir werden aus gegebenem Anlass zudem prüfen, ob die bestehenden rechtlichen Instrumente ausreichen, einer möglichen Gefährdung der flächendeckenden Versor- gung mit Postdienstleistungen entgegenwirken zu kön- nen. Die Post möchte ich auffordern, die Neuordnung der Vertragsverhältnisse mit den Agenturen so lange aus- zusetzen, bis die Prüfung des Bundeskartellamtes abge- schlossen ist. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden Zur Beratung der Anträge: – GATS-Verhandlungen – Bildung als öffentli- ches Gut und kulturelle Vielfalt sichern – GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität sichern (Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7) Ulla Burchardt (SPD): Internationale Handelsver- einbarungen wie die um GATS haben Auswirkungen auf nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche und betreffen letztendlich jeden Einzelnen. Von daher ist es nicht ver- wunderlich, dass es eine intensive kritische öffentliche Debatte gibt, in die sich die unterschiedlichsten Gruppen und Institutionen einbringen. Man muss ja nicht alle Beiträge und Forderungen gut und richtig finden, aber für meine Fraktion kann ich 2458 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 (A) (C) (B) (D) sagen: Wir begrüßen diese öffentliche Debatte und hal- ten sie für notwendig. Vor allen Dingen aber halten wir es für geboten, ja geradezu für unseren Auftrag als Ab- geordnete, dass sich der Deutsche Bundestag mehr als in der Vergangenheit in diese Verhandlungsprozesse ein- bringt und positioniert, also der Bundesregierung einen klaren Verhandlungsauftrag mit auf den Weg gibt. Mit der Beschlussfassung über unseren Antrag heute sind wir sozusagen „just in time“: das Angebot der EU- Kommission liegt vor, die Bundesregierung wird wie die anderen Mitgliedstaaten ihre Stellungnahme erarbeiten, so dass das endgültige Angebot am 30. März steht. Mit diesem Antrag liegen wir aber nicht nur im Zeit- plan richtig, sondern auch mit unseren Positionen. Uns ging und geht es darum, Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt zu sichern. Wir sehen keine Notwen- digkeit für weitergehende Liberalisierungen, halten die bisherigen für ausreichend, zumals sie weitergehender sind als die anderer Staaten. Wir wollen mehr Qualitäts- wettbewerb und mehr Internationalisierung, nur ist GATS nicht der zielführende Weg. Die einzelnen Forde- rungen und Begründungen sind in der ersten Lesung und in der Ausschussberatung hinlänglich dargestellt wor- den. Ich kann feststellen, dass der Kommissionsentwurf inhaltlich in Bezug auf Bildung und Kultur unseren Vor- stellungen entspricht, also kein Angebot enthält. Auszu- machen bleibt die überfällige Klarstellung des Begriffs der „governmental services“. Ein weiteres Kernanliegen betrifft das grundsätzliche Verhandlungsverfahren. Wir wollen öffentliche Transpa- renz und die frühzeitige Beteiligung des Bundestages. Und hierzu kann ich feststellen, dass durch die Initiati- ven der Koalitionsfraktionen eine neue Sensibilität und Dynamik für die Parlamentarisierung internationaler Entscheidungsprozesse angestoßen worden ist. Das ist gut so, denn Regelungen mit derart weitreichenden Wir- kungen wie GATS können und dürfen nicht ausschließ- lich Bürokratien überlassen werden. Das wäre geradezu antidemokratisch und es gibt überhaupt keinen Grund, bei internationalen Regelsetzungen prinzipiell anders zu verfahren als bei innerstaatlichen. Darüber hinaus hat EU-Kommissar Lamy dankens- werterweise bei seinem Gespräch mit dem EU-Aus- schuss betont, wie wichtig öffentliche Transparenz und Beteiligungen im Hinblick auf den Verhandlungsprozess seien, um dem Entstehen irrationaler Ängste und Kriti- ken keinen Vorschub zu leisten. Nun noch einige Anmerkungen zur Debatten- und Antragslage. Beim Antrag der FDP-Fraktion handelt es sich um eine Mogelpackung. Mit der Überschrift haben sie wortgleich unsere Position übernommen, ihre Fest- stellungen und Forderungen laufen jedoch genau auf das Gegenteil hinaus. Sie bedeuten nicht Sicherung sondern Gefährdung von Bildung als öffentlichem Gut und kultu- reller Vielfalt. Man findet die altbekannte Variation neo- liberaler Ideologie, in der der Markt zum Mythos wird und Liberalisierung als Zaubermittel für mehr Qualität gilt. Das ist eine Position, die mehr mit Glauben und we- nig mit adäquater Problemlösung zu tun hat. Von der Unionsfraktion liegt – obwohl anders ange- kündigt – bis heute kein Antrag vor. Das ist insofern be- merkenswert, als mindestens die CDU-regierten Länder über die BLK eine Position mitformuliert haben, die mit unserer deckungsgleich ist und auch in den bisherigen Bundestagsberatungen an wesentlichen Stellen Überein- stimmung festzustellen war. Auseinandersetzung mit un- serem Antrag erschöpft sich im Wesentlichen in der Kri- tik, wir redeten „ja nur Gruppen wie attac nach dem Munde“ und hätten „zu einer Überschätzung des Themas in der Öffentlichkeit beigetragen“, deshalb lehnten sie ihn ab. Dieser Schuss geht nach hinten los: die öffentli- che Diskussion gab es bereits Monate bevor der Bundes- tag sich des Themas angenommen hat. Insofern ist Ihre Kritik ein Zeichen dafür, dass Sie dieses Interesse bis heute entweder nicht realisieren oder hartnäckig ignorie- ren. Dem gegenüber haben wir uns ernsthaft mit den vor- liegenden Stellungnahmen fachlich relevanter Institutio- nen und Organisationen befasst, wie denen der Bund- Länder-Kommission und der Hochschulrektorenkonfe- renz, dem Wissenschaftsrat und der Gewerkschaft Erzie- hung und Wissenschaft. Wir haben große Übereinstim- mung erzielt und in Gesprächen großes Lob und Zustimmung gefunden. In der abschließenden Bewertung komme ich zu dem Ergebnis: Die FDP ist mit ihrer Postition völlig isoliert, während die CDU/CSU sich offenkundig aus rein takti- schen Gründen bis heute nicht zu einem Antrag hat durchringen können. Sie haben jetzt die Chance, sich von Ihrer entschiedenen Sowohl-als-auch-Position weg- zubewegen. Stimmen Sie unserem Antrag zu! Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Die Europäi- sche Kommission bereitet derzeit ihr Verhandlungsange- bot im Rahmen der Welthandelsrunde WTO für das All- gemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen, GATS, vor. Die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, bis zum 18. März 2003 ihre Stellungnahme abzugeben, damit die EU-Kommission ihre in der Welt- handelskonferenz von Doha gegebene Zusage, bis zum 31. März 2003 ein Angebot an die WTO zu machen, auch einhalten kann. Das vorläufige Eingangsangebot, Initial Draft Offer, der Kommission wurde am Freitag, dem 7. Februar 2003 unter strikter Vertraulichkeitsauflage den nationalen Par- lamenten zugänglich gemacht. Das bedeutet, dass die Parlamente weder ausreichend Zeit noch die Möglich- keit zur Beratung in den Ausschüssen, zur Diskussion mit den Betroffenen sowie einer breiteren Öffentlichkeit haben. Gerade diese fehlende Transparenz ist angesichts der Bedeutung der GATS-Verhandlungen gesellschaft- lich und politisch nicht hinnehmbar. Der Handel mit Dienstleistungen umfasst bisher etwa ein Fünftel des Welthandels und soll – wenn es nach dem Willen der WTO und vieler Interessierter geht – im kom- menden Jahrzehnt auf 50 Prozent des Welthandelsvolu- mens wachsen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2459 (A) (C) (B) (D) Da das Erbringen von Dienstleistungen in den OECD- Ländern circa 60 bis 70 Prozent zum jeweiligen BSP beiträgt, ist klar, dass der hier begonnene Weg einer deutlichen Ausweitung der Liberalisierung des Dienst- leistungshandels von einschneidender Bedeutung sein wird. Dienstleistungen begleiten uns von der Geburt bis zum Lebensende. Sie sind nicht nur in der staatlichen Organisation und öffentlichen Daseinsvorsorge wichtig, sondern auch einer der wichtigsten Wachstumsbereiche auf den privaten Märkten. Für wen, in welchem Umfang, in welcher Qualität und zu welchem Preis die öffentliche Daseinsvorsorge zur Verfügung steht, bestimmt in hohem Maße Wohl- stand und Lebensqualität, Leben und Gesundheit. Sie prägt auch Chancengleichheit, sozialen Zusammenhalt und zu einem nicht geringen Teil das, was wir als natio- nale Identität, kulturelles Erbe, aber auch Heimat defi- nieren. Beim GATS geht es dabei nicht nur allein um private wirtschaftsnahe Dienstleistungen wie Datenverarbei- tung und Kommunikation, einschließlich Post und Tele- kombereich, Werbung, Bau, Montage und vieles mehr und freie Berufe. Es geht auch um Bildung, medizini- sche und soziale Dienstleistungen vom Krankenhaus bis zur Altenpflege, Umweltdienste von Wasser und Abwas- ser bis hin zur Müllabfuhr, Erholung, Kultur und Sport. Nur die „in Ausübung hoheitlicher Gewalt“ erbrachten Dienstleistungen sind ausgenommen – aber was die sind, darüber gibt es keinen weltweiten Konsens – bis auf ei- nen sehr engen Bereich wie Regierung, Parlament, Rechtssprechung, Militär und innere Sicherheit. Und selbst bei den letzten Bereichen gibt es sichtbare Auf- weichungstendenzen in einer Reihe von Staaten. Bei den Verhandlungen geht es also auch entschei- dend darum, was an Leistungen künftig öffentlich er- bracht wird bzw. erbracht werden darf und welche Krite- rien außer der reinen Gewinnerzielung Geltung haben sollen. Gerade in der Daseinsvorsorge, bei den Leistun- gen, die in unseren Städten und Gemeinden erbracht werden, sind die Fragen existentiell, wie viel Gestal- tungsspielraum die öffentliche Hand noch haben wird, wie viel Zuschüsse noch erlaubt bzw. ob jeder private Anbieter ebenso Anspruch auf öffentliche Subventionen hat wie gemeinnützige Organisationen. Aber es geht beim GATS mit der Gestaltung einer neuen internationalen Marktordnung für Dienstleistun- gen nicht nur um eine neue Ordnung des globalen Ar- beitsmarktes. Es wird auch eine neue globale und soziale Ordnung vorgezeichnet, die tief in die bisher vorhande- nen politischen, sozialen und kulturellen Wertvorstellun- gen und Ordnungssysteme der meisten Nationalstaaten eingreift und ihre Handlungsspielräume für politische Gestaltung in der Vergangenheit eingeschränkt hat und in der Zukunft erheblich einschränken kann. Die Sorge um diese weltweiten Entwicklungstenden- zen, das schrittweise Zurückdrängen des öffentlichen Raums und der demokratischen Entscheidung hat uns Sozialdemokraten zu diesem Entschließungsantrag be- wogen und wir wissen, dass viele Abgeordnete aus ande- ren Fraktionen dieses Hauses unsere Sorgen teilen. Wir wollen deutlich machen: Entscheidungen von solcher Tragweite können und dürfen nicht hinter ver- schlossenen Türen der Bürokratien von nationalen Re- gierungen und der Europäischen Kommission fallen. Volle Transparenz, eine umfassende Information und Diskussion der Betroffenen und der breiteren Öffentlich- keit sind unabweisbar und auch die Anhörung der Be- troffenen. Alles andere widerspricht den demokratischen Tradi- tionen der europäischen Völker. Ich sage es offen: Der Mangel an Demokratie in der Spitze der Europäischen Union und die Arroganz der Brüsseler Bürokratie und ihre Missachtung demokratischer Informations- und Ent- scheidungsprozesse kann und wird so nicht mehr hinge- nommen werden. Die Entscheidung des niederländi- schen Parlaments, heute die des Deutschen Bundestages und morgen des finnischen Parlaments, die harsche Kri- tik im französischen Parlament, im britischen Unterhaus und im Europäischen Parlament machen deutlich, dass die bisherigen Verfahrensweisen nicht mehr akzeptiert werden. Aber es ist nicht nur das Verfahren, das kritisierens- würdig ist, es gibt auch eine Fülle von schwerwiegenden Bedenken von Betroffenen, die berücksichtigt oder aber geklärt werden müssen, bevor die Bundesregierung auf den von uns in der Entschließung genannten Bereichen ihre Zustimmung im 133-er Ausschuss erklären kann. Diese Bedenken wollen wir in einer Anhörung am 7. April zur Kenntnis nehmen, bewerten und dann ent- scheiden. Ich wiederhole: Für die Parlamentsmehrheit ist un- denkbar, dass die Bundesregierung sich vorher festlegt. Da uns vonseiten der Regierung auch immer versichert wurde, dass im Verhandlungsverfahren, das Angebot ständig weiter verändert werden darf, kann es wohl kein Problem sein, unter anderem in den Bereichen keine An- gebote zu machen, beispielsweise bei den grenzüber- schreitenden, zeitlich befristeten Dienstleistungen durch Personen, in denen das Parlament Bedenken hat bzw. Klärungsbedarf sieht. Was ist dabei für uns grundsätzlich wichtig? Erstens. Wir sehen bei der gegenwärtigen und abseh- baren Arbeitsmarktlage in Deutschland und Europa grundsätzlich keinen Bedarf für eine Öffnung der Dienstleistungsmärkte für Personen. Dies gilt nicht nur für die Arbeitnehmer, sondern auch für Selbständige, In- dependent Professionals. Ausnahmen im Bereich von Managern, Geschäftsreisenden, Wissenschaftlern und Forschern sowie bei der Weiterbildung im Akademiker- bereich sind nicht unser Problem. Zweitens. Wir wollen im Rahmen von allen Handels- abkommen soziale, ökologische und Verbraucherstan- dards systematisch einbezogen sehen. Im GATS ist uns das besonders wichtig. Es kann und darf auf keinen Fall – über welche Hintertüre auch immer – ein Zwei- oder Dreiklassensystem von Beschäftigten geben. Das ent- steht aber fast zwangsläufig, wenn nicht von Anfang an 2460 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 (A) (C) (B) (D) klargestellt wird, dass auf unserem Boden das Arbeits- verhältnis mindestens nach deutschem Recht geregelt ist. Wenn im Entsendeland Löhne und Rechte besser sind, will das niemand von uns verwehren. Aber wir wollen keine Heloten zum Beispiel aus Entwicklungsländern in der Europäischen Union und in Deutschland, die unter unsäglichen Arbeitsbedingungen und Minimallöhnen bei uns arbeiten wie in den Golfstaaten. Das, was sich schon heute in Deutschland auf vielen Baustellen abspielt, ist schlimm genug; eine Erweiterung darf es nicht geben. Und die Gefahr ist nicht gering. Denn in Deutschland gibt es keine verbindlichen Mindestlöhne wie in anderen europäischen Ländern und – außer im Baubereich – keine Entsenderichtlinie, die diese Bereiche verbindlich regelt. Drittens. Wir wollen den Bereich der öffentlichen Da- seinsvorsorge im weiteren Sinne nicht in die Liberalisie- rung des Dienstleistungshandels einbeziehen. Deswegen begrüßen wir ausdrücklich, dass die Europäische Kom- mission in den Bereichen Bildung, audiovisuelle Dienst- leistungen, Gesundheit sowie Wasser, um nur einige Be- reiche zu nennen, keine Angebote gemacht hat. Dabei soll es im Laufe des GATS-Verhandlungsprozesses auch verbindlich bleiben. Aber ich möchte ausdrücklich beto- nen, dass wir uns auf Definition der Public Services und der öffentlichen Daseinsvorsorge einigen, um bei Strei- tigkeiten im Rahmen der WTO klarzustellen, dass diese Bereiche allein der politischen Entscheidung der souve- ränen Staaten vorbehalten sind und bleiben. Das schließt auch Umweltdienstleistungen und den Verkehrsbereich mit ein. Für die Entscheidung über Qualität und ihre Si- cherung und die Frage der Gewährung öffentlicher Sub- ventionen muss das Gleiche gelten. Viertens. GATS-Verpflichtungen müssen die Mög- lichkeit einschließen, Modelle zu erproben und spezifi- sche Verpflichtungen zu überprüfen und gegebenenfalls zurückzunehmen, wenn die Erwartungen nicht realisiert werden können. Vor Übernahme weiterer Liberalisie- rungsverpflichtungen müssen Folgeabschätzungen durchgeführt und öffentlich diskutiert werden können. Wir befinden uns als Deutscher Bundestag erst am Anfang der Diskussion darüber, wie wir Globalisierung sozial, ökologisch und fair mitgestalten können. Eine breite Öffentlichkeit erwartet von uns zu Recht, dass wir diese Aufgabe nicht rein passiv zur Kenntnis nehmen oder gar als Notare der Exekutive im abschließenden Ra- tifizierungsverfahren beglaubigen. Das wird von uns noch viel Anstrengung, Zeit und auch eine Änderung un- serer parlamentarischen Arbeitsweise verlangen, damit wir unserem eigenen Anspruch, Politik auf allen Sekto- ren der Globalisierung zu gestalten, gerecht werden. Ein wichtiger Schritt dazu ist heute getan. Günter Nooke (CDU/CSU): Gestern hat das Europä- ische Parlament über die Liberalisierung kultureller Dienstleistungen debattiert. Nach dem die Koalitions- fraktionen das Thema unbedingt noch auf die Tagesord- nung setzen wollten, wäre aus Sicht der CDU/CSU- Fraktion für dieses wichtige Thema auch eine angemes- sene, offene Plenardebatte notwendig gewesen. Festzustellen ist zu Beginn, dass bei der Problematik der GATS-Verhandlungen im Grundsatz bei den Kultur- politikern aller Fraktionen im Deutschen Bundestag Ei- nigkeit besteht. Einigkeit besteht darüber, bei den aktuel- len und künftigen GATS-Verhandlungen „Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt zu sichern“, wie die Überschrift des Antrags der Koalitionsfraktionen for- dert. Die Feststellung der grundsätzlichen Einigkeit ist nicht unwichtig, und sie macht zweierlei deutlich: Ers- tens macht sie deutlich, dass die besondere Bedeutung, aber auch die Problematik, die mit der fortschreitenden Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen ver- bunden ist, vom deutschen Parlament gesehen wird. Zweitens macht sie deutlich, dass das Parlament die Not- wendigkeit sieht, einen eigenen Standpunkt zu den lau- fenden Verhandlungen zu formulieren. Das ist nicht we- nig. Aber es ist eben auch nicht genug. Ich bin zwar sicher, dass der Antrag der Koalition gut gemeint ist, aber das reicht nicht. Denn leider wird der vorliegende Antrag aus einer Reihe von Gründen den einleitend festgestellten Ge- meinsamkeiten nicht gerecht. Beim Thema Bildung ist mir der Antrag viel zu defensiv. Gerade der deutsche Bil- dungsbereich kann etwas Wettbewerb gut gebrauchen. Selbst internationale Qualitätsstandards sind ja, seit wir die Ergebnisse von PISA kennen und wissen, was Ab- schlüsse von Hochschulen aus aller Welt im Vergleich zu vielen deutschen Universitäten inzwischen Wert sind, nicht mehr zu fürchten. Vielleicht kann sogar Wettbe- werb von außen hier zu sinnvollen Strukturveränderun- gen in den Bundesländern führen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Denn Bildung, insbesondere Schulbil- dung, hat immer noch einen sehr regionalen Bezug und steht für Kultur schlechthin. Nähern wir uns allerdings dem GATS-Thema von der Seite der Kultur, liegen die Probleme etwas tiefer und wiegen schwerer. Aus kultur- politischer Sicht liegt das große Manko des vorliegenden Antrages darin, dass der kulturelle Aspekt der GATS- Verhandlungen viel zu kurz kommt. Wie die Bildung entzieht sich die Kultur der reinen Logik des Handels mit Dienstleistungen. Gleichzeitig gilt es, bei den konkreten GATS-Verhandlungen zu be- rücksichtigen, dass Kultur genauso wie Bildung zu den Kernaufgaben einer demokratischen Gemeinschaft ge- hört und damit nicht ausschließlich wirtschaftlichen Ge- sichtspunkten untergeordnet werden kann. Die Struktur der öffentlich subventionierten Kultur in Deutschland darf durch die GATS-Verhandlungen nicht generell zur Disposition gestellt werden. Im Hinblick auf den Bereich der audiovisuellen und kulturellen Dienstleistungen ist es von entscheidender Bedeutung, auf die besondere historisch gewachsene Struktur und die kulturelle Vielfalt in Deutschland und den Regionen Europas hinzuweisen. Aus diesem Grund ist es nicht nur wünschenswert, sondern unserer Meinung nach auch notwendig, ein Ab- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2461 (A) (C) (B) (D) kommen zum Schutz der kulturellen Vielfalt anzustre- ben, das bei künftigen Liberalisierungsverhandlungen Standard und Referenzpunkt ist. Ob das in Form einer völkerrechtlichen Vereinbarung geschieht, ähnlich zur Biodiversität oder als Klausel „vor der Klammer“ auch künftiger GATS-Vereinbarungen, muss geprüft werden. Vielleicht ist sogar beides sinn- voll. Entscheidend ist vor allem, dass diese Vereinbarung Referenzpunkt für künftige Liberalisierungsangebote im Rahmen der GATS-Verhandlungen ist und bindenden Charakter für die künftigen Stellungnahmen der Betei- ligten an den Verhandlungen hat. Der Antrag stellt in der Überschrift eine Verbindung her zwischen Bildung und Kultur. Das ist der Sache nach völlig richtig. Aber es muss auch begründet werden, sonst ist der Zusammenhang bloß zufallig und die spe- zielle Problematik der Kultur bloß Anhängsel der Pro- blematik bei der Bildung. Leider bleibt im Antrag der Zusammenhang zufällig. Das ist nicht ausreichend und damit für die künftigen Verhandlungen – leider – wert- los. Auf folgenden Sachverhalt ist also dezidiert hinzu- weisen: Erfolgreiche Bildungspolitik trägt auch dazu bei, dass kulturelle Produktion und kulturelle Wertschöpfung in ihren unterschiedlichen Ausprägungen nachgefragt wird und damit ihre Vielfalt erhalten und gesichert wer- den. Das heißt, dass unsere kulturellen Angebote – ich spreche ganz betont nicht von „kulturellen Dienstleistun- gen“! – nur dann auch in kommenden Generationen nachgefragt, verstanden und weitergegeben werden, wenn in den Schulen entsprechende Grundlagen für die Rezeption gelegt werden. In diesem Zusammenhang ist es besonders bedrü- ckend festzustellen, dass an den Schulen in Deutschland immer wieder und als erstes die musisch-kulturellen-Fä- cher nicht gelehrt werden. Wir brauchen hier eine Kehrt- wende, wir müssen die musisch-kulturelle Bildung wie- der in den Vordergrund stellen, vor allem in den Schulen. Und wir müssen dafür sorgen, dass eine künstlerische Ausbildung – in den Kunst- und Musikschulen der Städte und Gemeinden – nicht als Luxus angesehen wird, sondern als Grundlage zum Verständnis unserer Kultur. Eine solche Grundlage bildet übrigens auch der Religionsunterricht. Wenn wir hier nicht zu einem anderen Verständnis, zu einem anderen Stellenwert der Kultur in der Gesellschaft kommen, dann können wir uns künftig die Diskussionen über die GATS-Verhandlungen zumindest im Kulturbe- reich ganz sparen. Soweit ist es noch nicht, die Verhandlungen stehen nicht vor dem Abschluss, sie stehen am Anfang. Aber ih- nen liegt das Prinzip der „fortschreitenden Liberalisie- rung“ zugrunde. Das heißt, dass wir in großen Zeiträu- men denken müssen. Das ist eine Fähigkeit, die bei der Bundesregierung nur sehr rudimentär entwickelt ist. Aber morgen früh werden wir ja durch den Kanzler vom Gegenteil über- zeugt werden, wie man seit über zwei Wochen hört. Der komplizierte Verhandlungsweg der GATS-Run- den sollte uns andererseits aber auch nicht zu Überreak- tionen veranlassen oder zu blankem Aktionismus oder gar blindem Protektionismus führen: Weder das kultu- relle Erbe des „alten Europa“ noch die föderale Verfas- sung Deutschlands und auch nicht die Stadttheater sind in akuter Gefahr, jedenfalls nicht und nicht in erster Li- nie durch die laufenden Verhandlungen zur Liberalisie- rung des Handels mit Dienstleistungen. Allerdings ist die Praxis der Kulturförderung des „al- ten Europa“ nur schwer kompatibel mit anderen Model- len, zum Beispiel in den USA. Im Unterschied zu den USA subventioniert im „alten Europa“ der Staat die Kul- tur. Und im Unterschied zu den USA stehen im „alten Europa“ Theater und Opernhäuser mit 300-jähriger Ge- schichte. Hierüber ist – im Gegensatz zu anderen aktuel- len Fragen – ein Streit mit den USA nötig und richtig. Fazit: Die innere Logik von WTO-Verhandlungen, die immer in Richtung „fortschreitende Liberalisierung“ führt, darf nicht die Identität und die regionalen Zusam- menhalt stiftende Rolle der Kultur zerstören. Zum Schluss: Wir fordern die Bundesregierung auf, bei den GATS-Verhandlungen sicherzustellen, dass die von den Bundesländern wahrgenommene Kulturhoheit durch das GATS-Abkommen nicht beeinträchtigt wird, dass die Regeln zur „Inländerbehandlung“ gemäß Art. XII des GATS-Vertrages nicht so ausgelegt werden, dass eine generelle Verpflichtung zur staatlichen Sub- ventionierung auch privater Anbieter entsteht – die staat- liche Finanzierung von Bildungs- und Kultureinrichtun- gen in Deutschland darf keine Subventionsansprüche ausländischer Anbieter erzwingen – und dass es zu ei- nem völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz kulturel- ler Vielfalt als Referenzgröße für weitere Liberalisierun- gen im Dienstleistungssektor kommt. Wir begrüßen, dass die Antwort der Staatsministerin für Kultur und Medien, Christina Weiss, auf diesen Vor- schlag von uns positiv ist, und damit erheblich weiter geht als der Antrag der Koalition. Wir können dem vorliegenden Antrag aus kulturpoli- tischer Sicht nicht zustimmen, weil er zentrale Forderun- gen zum Schutz der kulturellen Vielfalt – außer, gut ge- meint, im Titel – nicht vorsieht; weil er damit den besonderen Stellenwert der Kultur bei den Verhandlun- gen nicht annähernd berücksichtigt und so keine Hilfe bei künftigen Verhandlungen darstellt; weil die Interes- sen der Kulturverbände und -institutionen nicht ange- messen vertreten werden und weil die Verbindung der Problematik bei den GATS-Verhandlungen von Bildung und Kultur nicht hergestellt wird. Festzuhalten bleibt, dass Mitglieder der CDU/CSU- Fraktion im Deutschen Bundestag die Intention des An- trages im Grundsatz unterstützen und dass wir auch bei künftigen Diskussionen die Bundesregierung unterstüt- zen werden, wenn es darum geht, den Schutz der kultu- rellen Vielfalt einzufordern. Wir wünschen uns eine Bundesregierung und ein Wirtschaftsministerium, die diese Positionen in der EU in den kommenden Verhandlungen offensiv vertreten 2462 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 (A) (C) (B) (D) und nicht etwa den Kulturteil zum Beispiel nur Frank- reich überlassen. Wir wollen wie die Koalitionsfraktio- nen umfassend informiert werden. Wir werden die Re- gierung an den Ergebnissen messen. Ulrike Flach (FDP): Beim Thema „GATS-Abkom- men“ wird die unterschiedliche Grundphilosophie zwi- schen SPD/Grünen sowie Teilen der Union und den Liberalen deutlich: Wir alle wissen, dass unser Bil- dungssystem derzeit für den internationalen Wettbewerb nicht ausreichend gerüstet ist. Sie ziehen daraus den Schluss, einen Schutzzaun zu errichten, um unsere Bil- dungslandschaft vor dem Eindringen ausländischer An- bieter zu schützen. Sie tun allerdings nichts, um die Hochschulen so fit zu machen, dass sie im Wettbewerb bestehen können. Wir dagegen gehen den umgekehrten Weg: Wir wol- len Wettbewerbsdruck erzeugen und damit auch durch- aus ein Signal setzen, dass die Qualität unserer Bil- dungsanbieter nicht ausreicht. Deshalb fordern wir in unserem Antrag, dass zum Beispiel die Akkreditierung von Studiengängen, Eingangstests für Studierende oder die Überprüfung von Qualitätsstandards als Angebote für eine weitere Liberalisierung eingereicht werden sol- len. Aber wir lassen die Hochschulen im Wettbewerbs- druck nicht allein, sondern wir wollen ihnen auch die Mittel und die rechtlichen Rahmenbedingungen geben, damit sie die Herausforderungen bestehen können. Wir wollen ein entrümpeltes HRG, eine Reform der Profes- sorenbesoldung und ein modernes Wissenschaftstarif- vertragsrecht für eine autonome und leistungsfähige Hochschule. Während Sie Artenschutz betreiben, wollen wir Qua- litätsverbesserung. Und dabei haben wir die Unterstüt- zung des Stifterverbandes für die Wissenschaft, der sich dafür ausspricht, auch ausländischen Hochschulen im Wettbewerb um staatliche Fördermittel eine Chance zu geben, wenn die Studiengänge akkreditiert sind, die Hochschule nach § 70 HRG anerkannt ist und eine Eva- luierung der Qualität, zum Beispiel durch den Wissen- schaftsrat, stattgefunden hat. Jetzt haben Sie vorgestern einen neuen Antrag vorge- legt, der im Grunde nur zwei Aussagen macht: Erstens. Die nationalen Parlamente sind nicht ausrei- chend berücksichtigt worden und es geht alles zu schnell. Zweitens. Sie sehen schwerwiegende Bedenken bei jeder Form der Deregulierung. Ich finde es wirklich erstaunlich, wie sehr Reden und Handeln bei Ihnen auseinander klaffen. Morgen wird der Kanzler in seiner „Ruck-Rede“ für das Aufbrechen von Traditionskartellen, für Entbürokratisierung und Außer- kraftsetzen von überflüssigen Vorschriften sprechen. Hier liegt die rot-grüne Realität vor uns: Sie wollen keine Öffnung der Dienstleistungsmärkte, der Wasser- und Abwasserentsorgung, Sie wollen kein Außer-Kraft- Setzen von Prüfungsvorschriften, Sie wollen kein Auf- brechen von Tarifkartellen, Sie wollen keine Ausnahmen beim Arbeitsrecht für Leih- und Entsendefirmen. Heute Nachmittag erhielt ich eine bemerkenswerte Mail aus dem BMWA. Andere Kollegen, auch aus der Regierungsfraktionen, haben diese Mail auch erhalten. Darin wird völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die Verabschiedung des Antrages, vor allem der geforderte „Parlamentsvorbehalt“, zu einer „Lähmung der Hand- lungsfähigkeit der Gemeinschaft mit unabsehbar nach- teiligen Auswirkungen auf den Fortgang der gesamten WTO-Verhandlungen“ führen könnte. Die im Antrag im- mer wieder genannten „schwerwiegenden Bedenken“ sind gerade nicht erkennbar. Was ist bei Ihnen eigentlich los? Gibt es denn überhaupt keine Koordination zwi- schen Regierungsebene und Parlamentsfraktionen? Wer hat hier eigentlich die Federführung, die sach- kundigen Experten in den Ministerien oder die Angstma- cher in der Fraktion? Wer so denkt, wer solche Anträge schreibt, der er- weist sich als strukturell unfähig, neue Potenziale zu er- schließen und neue Dienstleistungsmärkte für Arbeits- plätze zu nutzen. Geht es uns denn bei 20 Prozent Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern noch nicht schlecht genug? Wir werden erleben, wie andere Regio- nen dieser Welt auch mithilfe von GATS zu dynami- schen Wirtschaftsräumen werden, während Deutschland in seiner geschützten, staatlich behüteten Behäbigkeit beharrt. Wir lehnen Ihren Antrag ab, denn Sie sehen GATS nur als Bedrohung. Mit Angst in der Hose kann man keine Märkte erobern. Die FDP hat keine Angst, sondern sieht in GATS eine echte Chance für mehr Wettbewerb und bessere Qualität von Dienstleistungen. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Keine Zustimmung zur Erhöhung der EURATOM-Kreditinie – EURATOM-Vertrag nicht aufweichen – Keine einseitigen Eingriffe in die Finanzie- rung (Tagesordnungspunkt 12 und Zusatztagesord- nungspunkt 8) Horst Kubatschka (SPD): Der Antrag der Koalition „Keine Zustimmung zur Erhöhung der EURATOM-Kre- ditlinie“ hat zwei klare Ziele: Erstens. Der Anleihehöchstbetrag soll nicht von bis- her 4 auf 6 Milliarden Euro erhöht werden. Zweitens. Der Anwendungsbereich von EURATOM- Darlehen soll nicht erweitert werden. Die Bundesregierung soll darauf drängen, dass die entsprechenden Vorschläge der Kommission in Brüssel im Ecofin-Rat abgelehnt werden. Damit unterstützen wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2463 (A) (C) (B) (D) die Linie der Bundesregierung, die im EU-Ministerrat Umwelt am 9. Dezember letzten Jahres erklärt hat, dass eine Erhöhung der EURATOM-Kreditlinie abgelehnt wird. Der EURATOM-Vertrag stammt aus dem Jahre 1957. Er ist geprägt von der unglaublichen Aufbruchstim- mung, die damals in Bezug auf die Kernenergie ge- herrscht hatte. In den 50er- Jahren des letzten Jahrhun- derts war man fest davon überzeugt, dass alle Energieprobleme durch die Kernenergie gelöst werden könnten. Von Entsorgung und seinen Problemen sprach kaum jemand. Dass Endlager erforderlich sind, die für eine Million Jahre das radioaktive Material von der be- lebten Erde abschließen müßten, war damals nicht be- dacht. Vielmehr träumte man vom Schnellen Brüter und von einem Fusionsreaktor, der 1985 funktionieren sollte. Heute wissen wir es besser. Der unglaubliche Opti- mismus ist verflogen. Spätestens seit Tschernobyl sind wir grausam aus den Träumen gerissen worden. Seit 1957 hat sich viel verändert. Nur der EURATOM-Ver- trag ist unverändert geblieben. Er entspricht heute weder der EU-Wirklichkeit, noch den Erfordernissen einer zu- kunftsgewandten Energieversorgung: Erstens. Von 15 Mitgliedstaaten haben sechs nie die Produktion von Kernenergie aufgenommen. Sie können sich glücklich schätzen – sie sind frei von atomaren Alt- lasten. Fünf weitere Staaten haben die strahlende Sack- gasse Kernenergie erkannt und den Ausstieg beschlos- sen. Es bleiben also nur vier Staaten, die zurzeit noch auf Kernenergie setzen. Nur ein Staat – nämlich Finnland – will neue Atomkraftwerke bauen. Bei der Erweiterung der Europäischen Union sollen mehr unsichere Atom- kraftwerke abgerissen als neue errichtet werden. Zweitens Die EU-Wirklichkeit heißt liberalisierter Markt. Zusätzliche verbilligte EURATOM-Kredite deh- nen die erheblichen Wettbewerbsverzerrungen im euro- päischen Strombinnenmarkt aus. Dem Wettbewerbs- kommissar müßten eigentlich alle Haare zu Berge stehen, so groß ist der Sündenfall gegen den liberalisier- ten Markt. Der Deutsche Bundestag hat am 14. Dezember 2001 das Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergie- nutzung verabschiedet. Es ist am 27. April 2002 in Kraft getreten. Damit hat die rot-grüne Koalition eine Kehrt- wendung in der Nutzung der Kernenergie vollzogen: statt Förderung Ausstieg. Wir halten das Risiko der Kernenergienutzung nur noch für einen begrenzten Zeit- raum für hinnehmbar. Es wäre aber eine unehrliche Politik, bei uns auf Aus- stieg zu setzen und in den Nachbarländern weiter die Kernenergie zu fördern, also die Risiken dort weiter auf- rechtzuerhalten. Die Risiken der Kernenergie wollen wir unserer Bevölkerung nicht zumuten, folglich können wir auch keine Investitionen fördern, die das Risiko für die Bevölkerung in anderen Staaten erhöhen. Ich sage es noch einmal: Dies wäre inkonsequent und unehrlich! Ich möchte auch auf einen Widerspruch bei den Vor- schlägen der Kommission hinweisen. Es soll die De- montage von Atomreaktoren unterstützt werden. Dies halten wir grundsätzlich für richtig. Die Rückzahlung der EURATOM-Kredite sollen aus den Betriebsgewin- nen der Atomkraftwerke zurückgezahlt werden. Ich habe noch nie gehört, dass beim Rückbau von Atomkraftwer- ken Betriebsgewinne beim Betreiber der Anlage erzielt wurden. Diese Kredite könnten also überhaupt nicht zu- rückgezahlt werden. EURATOM-Kredite sind also das falsche Instrument. Außerdem, es besteht bereits ein Instrument zur Förde- rung der Demontage von Atomreaktoren. Diese Mittel werden über die Osteuropabank verwaltet. Für uns in der Koalition ist klar: Die Vorschläge der Kommission zur Erhöhung der EURATOM-Kreditlinie gehen in die falsche Richtung. Sie zielen nicht auf das Gemeinwohl in einer zukunftsgerichteten Europäischen Union, sie nützen höchstens denjenigen, die von den kerntechnischen Investitionen profitieren. Wir müssen unsere Stromerzeugung auf Nachhaltig- keit umstellen. Das heißt Energie sparen, das heißt Ener- gieeffizienz, das heißt erneuerbare Energien. Daran muss und will sich ja auch die Energiepolitik der Gemein- schaft orientieren. Bloß ist die Meinungsbildung in Eu- ropa und in seinen Mitgliedsstaaten diesbezüglich noch nicht abgeschlossen. Um es deutlich zu sagen: Die Atompolitik in Europa ist heftig umstritten und entwi- ckelt sich mehr und mehr zu einem Stein auf dem Weg zu einem gemeinsamen Europa, einem schweren Stein, den wir wegräumen wollen und müssen. Wir wollen ein gemeinsames Europa, ein zukunftsge- richtetes Europa, in dem sich alle Bürgerinnen und Bür- ger sicher und wohl fühlen können. Dies kann mit immer mehr Atomkraftwerken nicht gelingen – und auch nicht mit einer Europäischen Atomgemeinschaft, die seit 1957 unverändert das Ziel hat, „die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie zu schaf- fen“. Und auch nicht mit immer neuen EURATOM-Kre- diten. Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Seit dem Jahr 1957 ist der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, kurz: EURATOM, nahezu unverän- dert geblieben. Horst Kubatschka hat deutlich gemacht, wie sich Energietechnik und Energiewirtschaft seitdem verändert haben – nämlich grundlegend. Das verlangt auch neue Antworten. Ich will noch einmal wiederholen, denn so mancher in diesem Hause scheint einfach nicht zur Kenntnis neh- men zu wollen, was jeder Bürger sehen kann und was je- der Experte ohnehin weiß: Die Energiewelt sieht heute anders aus als vor 50 Jahren. Und sie wird sich in den kommenden 50 Jahren noch einmal grundlegend ändern. Die Zukunft heißt Effizienzrevolution, Einsparen, erneu- erbare Energien. Wie sonst ist zu erklären, dass die FDP in ihrem An- trag erklärt, „der EURATOM-Vertrag ist heute in Inhalt und Aussage aktueller denn je“? Das kann doch nicht wahr sein. Soll der EURATOM-Vertrag etwa unverän- dert wie vor nahezu 50 Jahren das Ziel verfolgen, „die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen 2464 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 (A) (C) (B) (D) Kernindustrie zu schaffen, vorbei am europäischen Strombinnenmarkt, vorbei an Wettbewerbs- und Chan- cengleichheit für alle Energieträger, vorbei an den Parla- menten, vorbei an weiten Kreisen der europäischen Zi- vilgesellschaft, die die Atomkraft nicht mehr für verantwortbar halten? Die FDP fordert bei jeder Gelegenheit mehr Markt, mehr Wettbewerb. Wo bleibt ihr Credo hier in ihrem An- trag zu EURATOM? Ich habe den Eindruck: Wenn ihre Klientel in Atomwirtschaft und Atomforschung es will, wischen sie ihr am Sonntag so hoch gehaltenen An- spruch werktags mit einem Federstrich vom Tisch. Zum Glück wird ihr Antrag unbeachtet in den Archiven ver- schwinden. Aber ärgerlich ist er doch. Wir bauen mit Überzeugung und mit Nachdruck an einem gemeinsamen europäischen Haus. Ende diesen Jahres werden wir eine europäische Verfassung haben. In wenigen Jahren wird unser Europa nicht mehr 15, sondern 25 Mitgliedstaaten haben. Das ist eine großar- tige Perspektive, alle Parteien im Deutschen Bundestag wollen eine starke Europäische Union. Aber es ist auch eine große Herausforderung für uns alle, für unsere Ver- antwortung, für unser Verständnis von einer gemeinsa- men Zukunft, jetzt auch die Weichen für mehr Wirt- schafts- und Lebensqualität und für eine moderne Energieversorgung zu stellen. Bis die europäische Ver- fassung steht, bis wir mit dem gemeinsamen Europa ein gutes Stück weitergekommen sind, haben wir noch viele Steine aus dem Weg zu räumen. Sie muss allerdings für die Bürger überzeugend sein. Der Umbau der Energieversorgung sollte im Interesse der Natur, der Dritten Welt, der friedlichen Partnerschaft am besten gemeinsam von allen Parteien im Bundestag angepackt werden. Wir haben unterschiedliche Auffas- sungen zur Kernenergie. Das ist unbestritten. Aber der Koalition zu unterstellen, sie wolle die Verpflichtungen aus dem EURATOM-Vertrag isoliert aufkündigen, wie es die FDP in ihrem Antrag tut, das kündigt die Gemein- samkeit auf. Die Unterstellungen sind schlicht unwahr. Mit unserem Antrag „Keine Zustimmung zur Erhö- hung der EURATOM-Kreditlinie“ sprechen wir uns ge- gen die Vorschläge der Kommission aus, den Höchstbe- trag für EURATOM-Anleihen um 50 Prozent anzuheben und den Anwendungsbereich der Darlehen zu erweitern. Das ist kein Weg in ein modernes Europa, sondern er führt zurück in die Streitigkeiten, die wir in unserer Ge- sellschaft – mit Ausnahme der Oppositionsparteien – überwunden haben. Wir haben unseren Antrag ausführlich begründet. Er entspricht unserer Grundlinie, eine sichere Energiever- sorgung ohne Atomkraft zu organisieren. Wir wollen da- mit den Vertrag ändern. Dieses Vorgehen entspricht gu- ter demokratischer Praxis, wie sie in den Europäischen Verträgen niedergelegt ist. Uns zu unterstellen, wir wür- den die mit dem EURATOM-Vertrag eingegangenen Verpflichtungen einseitig aufkündigen, das verlässt gute demokratische Praxis. Nein, der Antrag entspringt der Überzeugung, dass wir nicht national aussteigen können, aber in der EU dann die Atomkraft unterstützen. Sie würden dieses Verhalten doch – nicht zu Unrecht – als doppelbödig kritisieren. Ich appelliere an Ihr europäisches und demokratisches Gewissen. Lassen Sie solche Unterstellungen, arbeiten Sie mit uns gemeinsam an den Fundamenten des künfti- gen Europas, dessen Demokratie wir stärken und dessen Handlungsfähigkeit wir erhöhen wollen. Auch auf europäischer Ebene gibt es unterschiedliche Auffassungen über die Bewertung der Kernenergie. Aber dies darf keine Rolle für die Verfassungsgrundla- gen der Europäischen Union spielen. Und dazu gehört nun einmal der EURATOM-Vertrag. Wir müssen in den kommenden Wochen und Monaten eine Lösung für das Verhältnis von EURATOM-Vertrag und europäischer Verfassung finden. Die Vorschläge der Kommission zur EURATOM-Kreditlinie sind dazu Wei- chenstellungen, die nicht hinzunehmen sind. Auch des- halb lehnen wir sie ab. Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): Mit welcher Ge- schwindigkeit Rot-Grün es schafft, ein über Jahrzehnte aufgebautes internationales Vertrauen und internationale Glaubwürdigkeit zu verspielen, ist schon atemberau- bend. Jüngstes Beispiel ist der gestern von den Regie- rungsfraktionen vorgelegte Antrag zur Ablehnung der geplanten Erhöhung der EURATOM-Anleihen: Rot- Grün stellt damit den EURATOM-Vertrag als eine tra- gende Säule der Europäischen Union zur Disposition. Rot-Grün nimmt die von der EU-Kommission befürwor- tete Aufstockung der EURATOM-Anleihen zum Anlass, den gesamten EURATOM-Vertrag auf den Prüfstand zu stellen, und riskiert damit erneut erheblichen Schaden für Deutschland, und zwar sowohl in wirtschafts- und außen- als auch in sicherheitspolitischer Hinsicht. In sicherheitspolitischer Hinsicht ist die Fortführung von EURATOM und der Anleihe zur Verbesserung der Sicherheitsstandards in Kernkraftwerken weiterhin un- bedingt erforderlich. Denn was würde geschehen, wenn durch die EURATOM-Darlehen nicht – wie bisher – ins- besondere die osteuropäischen Kernkraftwerke auf den in Westeuropa üblichen Sicherheitsstandard angehoben würden? Diese Frage ist leicht zu beantworten: Die Re- aktoren würden mit der bisherigen veralteten Technik weiterbetrieben werden. Mehr noch: Auch schon im Bau befindliche Kraftwerksneubauten würden nicht die Si- cherheitsausstattung erhalten, die technisch möglich wäre. Daher hat die Europäische Gemeinschaft – nicht zuletzt aus eigenem Sicherheitsinteresse – die Verant- wortung übernommen und den Staaten Osteuropas über die EURATOM-Darlehen eine Möglichkeit gegeben, die Sicherheit ihrer kerntechnischen Anlagen zu erhöhen. Demgegenüber spricht Rot-Grün davon, dass der För- derzweck der EURATOM-Darlehen mit der Zielsetzung des deutschen Atomausstiegs unvereinbar sei. Der Atomausstieg finde mit dem Antrag auch in der Europa- politik seine Umsetzung. Was hat der deutsche Atomaus- stieg mit der Verbesserung der Sicherheitsstandards aus- ländischer Kernkraftwerke zu tun? Gar nichts! Rot-Grün nimmt unter dem Deckmantel des Atomausstiegs einen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2465 (A) (C) (B) (D) Verzicht auf den Ausbau der Sicherheit des europäischen Kraftwerksparks in Kauf. Diese Politik widerspricht den Sicherheitsinteressen Deutschlands. Aber das ist nicht das einzig paradoxe an der rot-grü- nen Kernenergiepolitik. Während in Berlin gebetsmüh- lenartig der Atomausstieg propagiert wird, werden in Düsseldorf durch den grünen Minister Vesper eine Milli- arde Kilowattstunden Atomstrom für die öffentliche Hand, nämlich das Land und seine Behörden, aus dem Ausland importiert. Krasser kann man sich den Wider- spruch zwischen Anspruch und Realität nicht mehr vor Augen führen. Die Liste der Widersprüche lässt sich beim Thema Endlagerung fortführen. Der Bundesumweltminister hat einen Arbeitskreis Endlagerung ins Leben gerufen. Das mit hochrangigen Experten besetzte Gremium hat im Dezember letzten Jahres seinen Abschlussbericht zu die- sem Thema vorgelegt. Danach führt an einem Endlager- konzept kein Weg vorbei. Aber anstatt nun zügig zu han- deln, übt sich der Bundesumweltminister in der „ruhigen Hand“ und will erst einmal eine über Jahre dauernde ge- sellschaftspolitische Diskussion über dieses Thema ab- warten. Über den Atomausstieg wird tatsächlich geredet, aber bei der gleichzeitig zu lösenden Aufgabe der Endla- gerung fehlt jedes Handlungskonzept. Der Versuch, durch die Aufweichung des EURATOM-Vertrages den Rest der Welt mit den eige- nen deutschen Atomausstiegskonzepten zu missionieren, muss scheitern; denn Rot-Grün übersieht die anhalten- den weltweiten Bestrebungen, die Kernenergie weiterhin als eine Quelle für die zukünftige Sicherung der Energie- versorgung zu nutzen. Daher ist der außenpolitische Schaden erheblich, der mit dieser Haltung der Regie- rungsfraktionen einhergeht. Anstatt die mittel- und ost-eu- ropäischen Beitrittsländer bei ihrem wirtschaftlichen Aufbau zu unterstützen, will Rot-Grün künftig offenbar allenfalls die Demontage von Atomreaktoren unterstüt- zen. Dass die EU-Beitrittskandidaten derzeit überwie- gend keine energiepolitische Alternative zur Kernkraft haben, interessiert Rot-Grün nicht. Die Staaten sind auf die Kernkraft angewiesen, nicht zuletzt auch, um die Ziele des Kioto-Protokolls einhalten zu können. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich sehr ge- nau an die erst Ende Januar mit einer Delegation der rus- sischen Staatsduma in Berlin geführten Gespräche. Ge- meinsam mit den russischen Kollegen fand eine Sitzung der Ausschüsse für Wirtschaft und Arbeit sowie Umwelt statt. Zentraler Punkt der Beratungen waren der Klima- schutz und die Ratifizierung des Kioto-Protokolls durch Russland, eine Ratifizierung, die wir alle wünschen. Auf die Frage, wie Russland die nationalen Klimaschutzziele erreichen will, wurde unmissverständlich klar gemacht, dass dies nur durch einen Ausbau der Kernenergie in Russland möglich ist. Gleichwohl wurde Russland bei der Erreichung der Klimaschutzziele von allen Fraktio- nen des Deutschen Bundestages Unterstützung zugesi- chert. Rot-Grün handelt nun aber genau entgegengesetzt. Das Einfrieren der EURATOM-Anleihen träfe vor allem Russland, das zahlenmäßig die meisten Atommeiler mit veralteter sowjetischer Technik betreibt. Durch die EURATOM-Darlehen könnte Russland die Sicherheit und die Effektivität der Kraftwerke steigern und wäre so in der Lage, den Anteil fossiler Energieträger und damit den Kohlendioxidausstoß zu reduzieren. Wenn Rot-Grün aus EURATOM aussteigen will, hätte dies den russi- schen Vertretern auch mitgeteilt werden müssen. Ver- trauen und Verlässlichkeit gegenüber internationalen Partnern wird damit zulasten zweifelhafter nationaler Alleingänge aufs Spiel gesetzt. Nach dem deutschen Weg in der Außenpolitik droht offenkundig ein deut- scher Alleingang in der Energiepolitik. Dies kann nur zum Schaden des Wirtschaftsstandortes Deutschland sein. Die Zeche dieser Ausstiegspolitik tragen in einem zukünftig liberalisierten Energiemarkt Verbraucher und Unternehmen über international nicht mehr wettbe- werbsfähige Preise. Die hier diskutierte Frage der EURATOM-Anleihen reflektiert damit auch die rot-grüne Wirtschaftspolitik. Nicht übersehen werden sollte, dass es durch die Umrüs- tung der Altanlagen auf moderne Standards auch zu ei- ner Sicherung von deutschen Arbeitsplätzen kommen kann. Denn die deutsche Kraftwerkstechnologie ist in ei- nigen Bereichen immer noch führend und durch den Ex- port von Anlagen werden Arbeitsplätze in Deutschland erhalten. Zugleich kann die weit fortgeschrittene wissen- schaftliche Forschung in Bezug auf die Sicherheit von Kernkraftwerken in Deutschland auf hohem Niveau wei- terbetrieben werden. Der Erhalt und der Ausbau techno- logischen Know-hows ist für Deutschland mehr denn je bedeutsam. Wir sind und bleiben ein rohstoffarmes Land. Wir verdanken unseren Wohlstand zum großen Teil der Innovationskraft der Industrie und der internati- onalen Exportfähigkeit unserer Produkte. Wer dies im Rahmen der Politik völlig ausblendet, kann und wird keine Erfolge bei Wachstum und Beschäftigung erzielen. Von daher ist es auch völlig unvertretbar, aus dem Pro- zess der Kernfusionsforschung aussteigen zu wollen. Anders als bei der Kernspaltung könnte mit der Kernfu- sion eine dauerhaft sichere Energiequelle für die Menschheit entwickelt werden. Auch von daher ist ein deutscher Ausstieg aus der Kernfusionsforschung nicht verantwortbar. Anstatt den Versuch zu starten, Europa über die Hal- tung zu den EURATOM-Anleihen das aktuelle deutsche Verständnis von Energiepolitik aufzwingen zu wollen, wäre Rot-Grün gut beraten, zunächst die Missstände vor der eigenen Haustür zu beseitigen. Durch Ökosteuer, KWK-Abgabe und EEG haben die Stromkosten mittler- weile wieder das Niveau vor der Liberalisierung erreicht. Die durch die Marktöffnung entstandenen Preissenkun- gen gehören durch die Abgabenbelastung und durch die neuerliche Regulierung und Marktabschottung inzwi- schen nach weniger als fünf Jahren wieder der Vergan- genheit an. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Union setzt sich nachhaltig für erneuerbare Energien als ener- giepolitische Alternativen ein. Auch eine angemessene Förderung ist zu sichern. Aber es kann nicht angehen, er- neuerbare Energien um jeden Preis und ohne Rücksicht auf die Wettbewerbs- und Marktfähigkeit zu fördern. Die Förderung der erneuerbaren Energien darf nur befristete 2466 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 (A) (C) (B) (D) Anschubfinanzierung sein. Dauersubventionen schaden dem Standort Deutschland. Sie führen zum Erstarken von Monopolstrukturen, zu mehr Bürokratie und am Ende zu immer höheren Kosten. Der Anteil der Direktinvestitionen aus dem In- und Ausland sinkt in Deutschland nicht nur aufgrund der ho- hen Kosten durch die Sozialsysteme. Ein wesentlicher Punkt sind gerade auch die Energiekosten für die Indus- trie. Der Industriestrompreis hat in Deutschland nach Er- folgen der Liberalisierungspolitik der Union Ende der 90er-Jahre inzwischen nach Irland und Italien wieder ei- nen traurigen Spitzenplatz in Europa erreicht. Aber da- mit nicht genug: Allen Warnungen und Argumenten zum Trotz betreibt Rot-Grün den desaströsen Energiekurs weiter. Die erst im Februar in diesem Hause beratene En- ergiewirtschaftsnovelle führt in der von Rot-Grün be- schlossenen Form zu einer weiteren Verstärkung der Monopolstrukturen. Die Kosten durch das Erneuerbare- Energien-Gesetz für Industrie und Verbraucher steigen durch den zunehmenden Ausbau der installierten Leis- tung insbesondere bei Windkraft derzeit steil an. Allein zwischen 2001 und 2002 ist eine Verdopplung dieser Kosten zu verzeichnen. KWK-Abgabe und Ökosteuer bewirken den Rest. Durch diese Politik werden die Bedingungen für In- vestitionen weiter verschlechtert. Dies verhindert nach- haltig Wachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die Union setzt alles daran, gegen diese für Deutschland schädliche Politik vorzugehen. Die Union lehnt daher auch den jetzigen Antrag, der sich gegen die europäi- schen Verpflichtungen aus dem EURATOM-Vertrag stellt ab, ebenso wie das dahinterstehende energiepoliti- sche Konzept der Regierungskoalition. Die Union tritt für die Einhaltung der in den Europäischen Verträgen übernommenen Verpflichtungen ein. Insbesondere ist der EURATOM-Vertrag kein Auslaufmodell. Er leistet für die Integration der mittel- und osteuropäischen Bei- trittsländer einen wichtigen Beitrag. Nicht zuletzt kann das Ziel der höchstmöglichen Sicherheit der kerntechni- schen Anlagen in unseren europäischen Nachbarstaaten durch den Einsatz auch deutscher Hochtechnologie mit- tels der EURATOM-Anleihen gewährleistet werden. Eine Abkehr – insbesondere von den sicherheitspoliti- schen Interessen – ist unverantwortlich und mit der Union nicht zu machen. Daher lehnen wir den Antrag von SPD und Bündnisgrünen ab und stimmen dem An- trag der FDP zu, der inhaltlich unserer Zielrichtung folgt. Hören Sie im Zeitalter der Globalisierung endlich auf, mit angeblich neuen deutschen Wegen den Standort Deutschland von der internationalen Entwicklung abzu- koppeln! Dieser Weg schadet uns allen. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der heute vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen zur EURATOM-Kreditlinie ist ein klare Ansage: Deutschland wird gegen die Aufstockung und Auswei- tung von EURATOM ein Veto einlegen und dafür auch bei anderen Ländern werben. Da die Entscheidung ein- stimmig zu erfolgen hat, ist klar, dass es nicht zu einer Aufstockung kommen wird. Allerdings wird es auch in dieser Frage keine isolierte deutsche Position geben. Schaut man sich an, wer in Deutschland noch aktiv auf Atomenergie setzt, stellt man schnell fest, wo die Min- derheiten zu finden sind. Und das ist auch gut so! Ich möchte jedoch betonen, dass es mit dieser Initiative nicht darum geht, diesen Ländern unsere Erkenntnisse und Überzeugungen aufzuzwingen. Es wäre allerdings un- glaubwürdig, im eigenen Land aus der Atomenergie aus- zusteigen und gleichzeitig den Ausbau dieser Energieform finanziell den Nachbarländern zu subventionieren. Genau dies wäre der Fall, wenn wir die Aufstockung der EURATOM-Kreditlinie von 4 auf 6 Milliarden Euro zu- stimmen würden. Ich freue mich deshalb sehr, dass wir mit diesem Antrag eine klare Position benennen und möchte mich ausdrücklich bei der SPD-Fraktion und dem Finanzminister für die konstruktive Zusammenar- beit bedanken. Aus der Opposition höre ich bereits den Vorwurf, wir würden mit diesem Antrag die Sicherheit von Atom- anlagen vor allem in Osteuropa gefährden. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Sieht man sich bei der EURATOM-Kreditlinie die Vergabepraxis der vergange- nen Jahre an oder betrachtet man die aktuelle Antrags- lage, fragt man sich schnell, wo denn der substanziell si- cherheitsverbessernde Effekt dieses Instrumentariums bleibt. In Kozloduj 5 und 6 beispielsweise wird an Reak- toren russischer Bauart herumgedoktert, die selbst die Regierung Kohl nach der Wiedervereinigung in Ost- deutschland aus guten Gründen zurückgebaut hat. Auch wenn die bulgarischen Einzelmaßnahmen zur Aufrüs- tung von Teilkompartimenten führt, die Meiler blieben von jedem „TÜV-Sicherheitstempel“ meilenweit ent- fernt. Auf ein anderes Beispiel – die Fertigstellung der beiden ukrainischen Reaktoren K2/R4 – muss ich nicht weiter eingehen, diese Debatte haben wir ja bereits aus- führlich in der letzten Legislaturperiode geführt. Es sollte aber noch erwähnt werden, dass die Ukraine nicht einmal die Mindestsicherheitskriterien der Osteuropabank erfül- len konnte. Aus diesem Grund musste die Ukraine Ende 2001 auf die Teilfinanzierung für K2/R4 durch jenes multitlaterale Finanzinstitut verzichten. EURATOM, das für dieses Projekt mit 680 Millionen Euro weit mehr Geld zur Verfügung stellen will, blieb von dieser Ent- wicklung bislang unbeeindruckt und hält das Geld wei- terhin bereit. Der einzige Antrag auf einen EURATOM-Kredit, der derzeit anhängig ist, ist der Bau des zweiten Reaktors im rumänischen Cernavoda. Ich habe noch nie verstanden, was der Neubau eines Reaktors mit der Verbesserung der nuklearen Sicherheit zu tun haben soll, egal ob er russi- scher Bauart ist oder wie in diesem Fall kanadischer Candu-Reaktor. Was dem Fass aber den Boden ausschlägt, sind die erst kürzlich bekannt gewordenen Pläne, durch EURATOM-Gelder die Fertigstellung von fünf russi- schen Atomreaktoren zu ermöglichen. Unter den ge- nannten Projekten befindet sich auch das AKW Kursk 5, ein Reaktor vom Tschernobyltyp. Ein AKW dieser Bau- art gilt selbst unter Atomhardlinern als „nicht nachrüst- barer Hochrisikoreakor“; darüber hinaus kann er auch für die Produktion von waffenfähigem Plutonium einge- setzt werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2467 (A) (C) (B) (D) Was ist von dem Vorschlag zu halten, EURATOM- Gelder auch für die Abschaltung von AKWs zugänglich zu machen? Auch hier wäre es fatal, der EURATOM- Kreditlinie eine heilbringende Wirkung beizumessen. Der Rückbau von AKW ist mit den Statuten der EURATOM-Kreditlinie kaum zu vereinbaren. Außer- dem muss bei dieser Fragestellung das Rad ja nicht neu erfunden werden: Die Osteuropabank verwaltet den ei- gens für diese Zwecke eingerichteten „Decomissioning Fund“, der über ausreichend Gelder verfügt. Sicherheitstechnisch stehen wir ohne die EURATOM- Kreditlinie deutlich besser da. Aber es gibt noch ein zweites Problemfeld, das ich in diesem Zusammenhang ansprechen möchte: den Wettbewerb. Der „neudeutsche“ Begriff des Level Playing Field umschreibt vielleicht am besten die Wunschvorstellung, in einem liberalisierten Energiemarkt gleiche marktwirtschaftliche Bedingungen für die unterschiedlichen Energieanbieter und -formen zu schaffen. Viele staatliche Subventionen wurden des- halb im Zuge der europäischen Liberalisierungsbestre- bungen eingestellt. Dieser Antrag behebt also eine gern übersehene Schieflage: Eine Kreditlinie reserviert für le- diglich eine spezielle Form der Energieerzeugung? Gäbe es ein solches Instrument auf nationaler Ebene, hätte sich der Wettbewerbskommissar dem längst gewidmet. Nur der Sonderstatus des EURATOMvertrages verhinderte in den vergangenen Jahrzehnten hier alle Reformversuche und somit jegliche Anpassung an die Entwicklung der Europäischen Union. Damit muss Schluss sein; eine Son- derwirtschaftszone Atom, finanziert durch den deutschen Steuerzahler, ist das Letzte was wir fortsetzen wollen. Cornelia Pieper (FDP): Die europäischen Volkswirt- schaften, die der künftigen Mitgliedstaaten der Europä- ischen Union und Russlands eingeschlossen, müssen in den nächsten zehn Jahren grundsätzliche Entscheidungen zu ihren Investitionen im Energiebereich treffen. Einer- seits betrifft das den Ersatz und die Steigerung bisheriger Kraftwerkskapazitäten, andererseits, vor dem Hinter- grund eines weltweit wachsenden Energiebedarfs, eine Entscheidung für bestimmte Energieträger. Dass dieser Prozess nicht rein rational verläuft, son- dern von scharfen ideologischen Kämpfen überlagert ist, führt uns der energiepolitische Alleingang der deutschen rot-grünen Bundesregierung zur scheinbaren Lösung der Klima- und Energieprobleme deutlich vor Augen. Ich bin der festen Überzeugung, dieser Weg ist falsch. Auch in unserer heutigen Debatte, in der es schein- bar „nur“ um eine Zustimmung zu einer Erhöhung der EURATOM Kreditlinie geht, kommen wir nicht umhin, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Wenn wir es zulas- sen, dass der Ausstieg aus der Kernenergie in Deutsch- land in den nächsten Jahren in dem von SPD und Bünd- nis 90/Die Grünen geplanten Tempo vonstatten geht, werden wir ernsthafte Energieprobleme bekommen. Welt- weit wird der Energiebedarf um 40 Prozent bis 2050 stei- gen. Heute wird weltweit der Energiebedarf zu 41 Prozent durch Erdöl, zu 22 Prozent durch Erdgas, zu 16 Prozent durch feste Brennstoffe – Steinkohle und Braunkohle –, zu 15 Prozent durch Kernenergie und zu 6 Prozent durch erneuerbare Energieträger gedeckt. Bei aller Wertschät- zung für erneuerbare Energien teile ich die Auffassung der Wissenschaft: Diese Energien, sei es die gewonnene elektrische Energie aus Windkraftanlagen, aus Fotovol- taikanlagen, aus Biomasseanlagen usw., werden unseren Energieverbrauch auch künftig nicht decken können. Würden wir alle Potenziale ausschöpfen, würden die Menschen unseres Landes 30 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Energie ausgeben müssen. Ich rede heute einmal nicht über die bisherigen Auswirkungen der so genannten ökologischen Besteuerung von Energie. Wollen Sie von SPD und Grünen die Menschen unse- res Landes ausbluten lassen, um sie dann an den Tropf Ihrer scheinbar sozialen Wohltaten zu hängen? Um allein die Leistung der deutschen Kernkraftwerke von 23,6 Gi- gawatt zu ersetzen, bräuchten wir auf 2,2 Millionen Dä- chern durchschnittlich 20 Quadratmeter Solarmodulflä- chen – Kosten etwa 20 Milliarden Euro – 5 000 Windräder vor den Küsten unseres Landes mit jeweils mindestens 2 Megawatt Leistung, Kosten etwa 15 Milliarden Euro. Allerdings müsste dann immer die Sonne scheinen und Wind wehen. Herr Fell hat es an den Reaktionen auf seinen jüngs- ten Artikel in den „VDI-Nachrichten“ schmerzlich er- fahren müssen: Wer etwas von der Gesamtproblematik versteht, kann den idealistischen Heilsbotschaften von einer Welt der regenerativen Energien nicht folgen. Ich prophezeie bereits heute: Wir werden uns schneller, als es uns lieb ist, erneut Gedanken darüber machen, welche Rolle die Kernenergie bis zur Mitte dieses Jahrhunderts weiter spielen soll, vor allem vor dem Hintergrund der Bekämpfung der globalen Erwärmung, der Versorgungs- sicherheit und der nachhaltigen Entwicklung. Denn bei all der Euphorie verlieren Sie Ihr umweltpolitisches Ziel, die Reduzierung von CO2, einem ausgemachten Klima- killer, aus dem Blickfeld. Weltweit arbeiten derzeit 436 Kernkraftwerke. Auf le- diglich 21 haben Sie im eigenen Lande direkten Zugriff. Die Kernkraftwerke in der europäischen Union decken 35 Prozent unseres Strombedarfs. Da diese Reaktoren, dank besserer Kenntnisse auf dem Gebiet der Werkstoff- festigkeit, eine längere Lebensdauer haben als ursprüng- lich erwartet, ist der Kernenergiesektor wettbewerbsfähig geworden und die Betreiber erwirtschaften beachtliche Erlöse. Sie benötigen keine staatlichen Beihilfen mehr und nehmen im Übrigen keine EURATOM-Darlehen mehr in Anspruch. Diese Darlehen werden gegenwärtig zur Modernisierung der Anlagen in den Beitrittsländern Mittel- und Osteuropas eingesetzt und dringend ge- braucht. Hier überzeugt mich die Argumentation des An- trages von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über- haupt nicht. Nehmen Sie doch zur Kenntnis, dass sowohl die Bei- trittsländer Mittel- und Osteuropas als auch Russland auf die Kernenergie zur Sicherung ihres Energiebedarf set- zen und sicherlich in Zukunft auch Elektroenergie aus Kernenergie erzeugen werden. Ich halte die Eröffnung von Kreditlinien für die Modernisierung von Kernkraft- werken in Mittel- und Osteuropa, die hauptsächlich rus- sischer Bauart sind, für außerordentlich wichtig. Hier 2468 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 (A) (C) (B) (D) sollten wir auf keinen Fall einen Rückzug der Europä- ischen Union unterstützen. Das bringen wir auch in un- serem Antrag zum Ausdruck. Vielmehr müssen wir alles daran setzen, dass die osteuropäischen Kernkraftwerke durch den Einsatz deutscher und europäischer Sicher- heitstechnik sicherer werden. Es ist doch ein Treppenwitz der Geschichte, wenn ge- rade Deutschland, was weltweit an der Spitze der Kern- energieforschung und der Kernenergiesicherheitsfor- schung stand und auch die Systemführerschaft für entsprechende Technologien inne hatte, sich von der welt- weiten Entwicklung abkoppelt und nur noch als Zu- schauer den Weg ehemaliger deutscher Höchsttechnologi- eunternehmen auf internationaler Bühne verfolgen kann. Natürlich müssen wir auch unsere übernommenen Verpflichtungen gegenüber diesen Ländern erfüllen. Dass man Reaktoren russischer Bauart sicher machen kann, zeigt uns die Modernisierung der zwei finnischen Reaktoren. Mit dem EURATOM-Vertrag haben die Mit- gliedsländer 1957 eine weitsichtige, von Verantwortung gezeichnete Politik gemacht. Die Zusammenarbeit hat sich bis heute bewährt. Schließlich haben wir über den EURATOM-Vertrag die Normen für den Gesundheits- schutz und den Strahlenschutz für die gesamte Europä- ische Union festgelegt und wir regeln über diesen Ver- trag auch die Verwendung radioaktiver Stoffe in der Medizin, in der Forschung und natürlich auch in der In- dustrie. EURATOM sichert natürlich auch die Glaub- würdigkeit der Europäischen Union im Hinblick auf die Nichtverbreitung von Kernmaterial. Ein wiedererwa- chendes Interesse für den EURATOM-Vertrag und die Tatsache, dass er eine Alternative für die Stromerzeu- gung bietet, sorgen dafür, dass der Vertrag auch in der ge- genwärtigen Lage nichts von seiner Aktualität einbüßt. Das bedeutet für mich auch, dass wir im EU-Konvent über seine künftige Bedeutung und über neue Formen der demokratischen Verantwortung des Europäischen Parla- ments für Fragen der Kernenergie und Kernenergiesi- cherheit nachdenken müssen. Ich appelliere an Sie: Erteilen Sie dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine entschiedene Ab- sage, und unterstützen Sie den von Weitsicht und Verant- wortung gezeichneten Antrag der FDP. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Für eine nachhaltige Agrarpolitik und einen gerechten Interessenausgleich bei den lau- fenden WTO-Verhandlungen – WTO-Verhandlungen – Europäisches Land- wirtschaftsmodell absichern (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord- nungspunkt 9) Dr. Sascha Raabe (SPD): Drei Viertel der Hungern- den und Armen der Welt leben im ländlichen Raum, täg- lich sterben 24 000 Menschen an den Folgen von Hun- ger und Armut. Wenn wir uns das vor Augen führen, dann wird klar, dass es in dieser Debatte nicht nur um Agrarhandel und die Absicherung der europäischen Agrarindustrie geht – so wie die CDU/CSU dies in ihrem Antrag formuliert, sondern es geht auch um Hunger, es geht um Menschenwürde und um Entwicklungschancen für die Menschen in den ärmsten Ländern dieser Welt. Hohe Exportsubventionen und handelsverzerrende Direktzuschüsse der Industrieländer zerstören die Märkte für Kleinbauern in den Entwicklungsländern. Gleichzei- tig gehen den Entwicklungsländern durch die Importzölle der Industrieländer circa doppelt so viele Einnahmen ver- loren, wie sie durch die öffentliche Entwicklungszusam- menarbeit erhalten. Diese ungerechte Welthandelsord- nung führt zu ländlicher Armut und zum Niedergang der Landwirtschaft in vielen Entwicklungsländern. Es gibt aber noch einen weiteren Effekt: Der Anbau von Coca- und Mohnpflanzen ist für viele Kleinbauern oftmals der einzige Ausweg, um die Familie zu ernäh- ren. Mit dem Drogenhandel werden dann wiederum Guerrilla-, Mafia- und Terrororganisationen finanziert, was zur Destabilisierung ganzer Länder und – wenn ich an Südamerika denke – auch ganzer Kontinente führen kann. Somit fällt die Ungerechtigkeit der Weltmarktord- nung am Ende dann wieder auf uns zurück. Es ist also in unserem eigenen Interesse bei der Reform des Welthan- delssystems auch für die Entwicklungschancen der ar- men und ärmsten Länder einzutreten. Auch die heute Vormittag geführte Debatte über ein Zuwanderungsgesetz und die Frage von Flüchtlingen und armutsbedingter Migration ist nicht von der Frage nach fairen Lebensbedingungen in allen Teilen dieser Welt zu trennen. Deshalb muss die Globalisierung fair gestaltet und die WTO-Runde, wie in Doha angekündigt, tatsächlich zu einer Entwicklungsrunde werden. Wenn wir das Ziel, die Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren, erreichen wollen, müssen wir jetzt handeln. In unserem Antrag haben wir wichtige Vorschläge formuliert, um die Armutsspirale zu stoppen. Exportsub- ventionen und handelsverzerrende Direktzuschüsse der Industrieländer für die Landwirtschaft müssen abgebaut werden. Dadurch werden zum einen wertvolle Mittel für die notwendige Unterstützung einer ökologischen und nachhaltigen Landwirtschaft bei uns frei. Zum anderen können wir mit einem Teil der frei werdenden Mittel auch die Entwicklungsländer in die Lage versetzen, ihre Landwirtschaft nachhaltig zu reformieren. Ziel ist es, nicht die Agrarindustrie, sonder die kleinen und mittle- ren bäuerlichen Betriebe bei uns und in den Entwick- lungsländern zu stärken. Zur besonderen Unterstützung von Kleinbauern in Entwicklungsländern wollen wir den bevorzugten Markt- zugang von Produkten aus fairem Handel erreichen. Allerdings kann eine Ausweitung des Marktanteils fair gehandelter Produkte nur dann gelingen, wenn das Be- wusstsein der Verbraucher für die Problematik hierzu- lande geschärft wird. Deshalb ist es außerordentlich zu Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2469 (A) (C) (B) (D) begrüßen, dass die Bundesregierung öffentlichkeitswirk- same Kampagnen zugunsten des fairen Handels auswei- tet. Ich erinnere zum Beispiel an die vor wenigen Wochen stattgefundene „Transfair goes global“-Kampagne an- lässlich der Einführung des neuen Fair Trade Logos. Neben dem Abbau von Importzöllen insbesondere für weiterverarbeitete Produkte dürfen auch keine neuen nichttarifären Hindernisse für die Entwicklungsländer entstehen. Deshalb müssen wir die Entwicklungsländer durch technische und finanzielle Hilfe aktiv unterstüt- zen, damit sie unsere ökologischen und gesundheitlichen Standards erfüllen können. Mit der Aufnahme einer „development box“ im WTO-Abkommen soll die Ernährungsbasis in den Ent- wicklungsländern gestärkt und die Bedingungen für die Entwicklung des ländlichen Raumes verbessert werden. Hierzu zählt auch, den Entwicklungsländern das Recht zuzugestehen, ihren eigenen Agrarsektor insbesondere im Bereich der Grundnahrungsmittel durch Außenschutz und interne Stützung schützen und fördern zu können. Ich will zum Schluss noch einmal auf die Frage der Kohärenz unserer Politik eingehen. Denn wie die Debatte heute zeigt, dürfen wir nicht durch falsche Weichenstel- lungen in der Handelspolitik die Ziele der Entwicklungs- politik gefährden. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat diesen vernetzten Ansatz, wonach alle Ressorts in ihren Ent- scheidungen die Wirkungen für die Entwicklungsländer berücksichtigen sollen, zur Leitlinie unserer Entwick- lungspolitik gemacht. Deshalb haben wir in der Koalition unseren Antrag eng zwischen den Fachleuten für Landwirtschaft und Entwicklungspolitik abgestimmt. Das hätte dem Antrag der Opposition vielleicht auch ganz gut getan. Ich finde nämlich keinen einzigen Namen eines Entwicklungspo- litikers der Union auf diesem Antrag. Es reicht eben nicht, sich nur im Entwicklungsausschuss für die armen Länder stark zu machen, sondern gerade auch in Han- delsfragen entscheidet sich, ob wir die große Kluft zwi- schen Nord und Süd überwinden können. Entwicklungsländer wollen keine Almosen – Nah- rungsmittelhilfe, um Überschüsse loszuwerden, ist meist sogar kontraproduktiv –, sondern sie wollen in der Lage sein, selbstständig ihre Lebensgrundlage zu erwirtschaf- ten. Dies geht nur mit einer gerechten Welthandelsord- nung und einer fairen Ausgestaltung der Globalisierung. Dies ist wiederum nur durch eine kohärente Entwick- lungspolitik zu erreichen. Deshalb bitte ich um Zustim- mung zu diesem Antrag. Reinhold Hemker (SPD): Die Bemühungen Deutsch- lands im Rahmen des Strukturwandels in den ländlichen Regionen sind Teil einer Entwicklung, die zu einem glo- balen Agrarkonzept führen muss. Dabei muss deutlich sein: Die Prinzipien der Kohärenz und Komplementari- tät sind richtungsweisende, globale Elemente einer ge- samtpolitischen Ausrichtung der EU. Dieser Ausrich- tung ist auch Deutschland verpflichtet. Die laufenden WTO-Verhandlungen – nicht nur bezo- gen auf den Agrarteil in Kombination mit der Ernäh- rungswirtschaft – legen wesentliche Bedingungen für diese Entwicklung fest. Und unsere Landwirte und Landwirtinnen leisten in den verschiedenen Regionen Deutschlands schon jetzt mit einer standortgerechten und auch ökologischen Produktionsweise einen Beitrag dazu. Es geht darum, im Sinne des Dreiklangs der Nach- haltigkeitskozeption die ökonomischen Kriterien mit dem Aufbau und Ausbau der Produktion, die ökologi- sche Notwendigkeit für die Bewahrung der Schöpfung und die sozialen Ziele der Sicherung der Lebensverhält- nisse bei der Schaffung und dem Erhalt der Ernährungs- sicherheit zu berücksichtigen. Wenn deutlich ist, dass zum Beispiel durch die Ex- portsubventionierung von Milchpulverprodukten die Entwicklung einheimischer Märkte, wie beispielsweise in Tansania und Jamaika geschehen, behindert wird, dann muss man das im Kontext Ihrer Forderung nach „Beibehaltung der Mengensteuerung bei Milch und Zu- cker als vorhandenes Instrument zur Stabilisierung des Weltmarktes“ bewerten. Dabei ist klar, dass es nicht von heute auf morgen möglich ist, bisherige Regelungen zu beenden. Das Gleiche gilt für den Zuckerbereich, wo natürlich gegenüber dem Harbinson-Entwurf daraufhin gearbeitet werden muss, dass es zu einer Differenzierung etwa zwi- schen „kleinen“ Zuckerproduzenten wie zum Beispiel Mauritius oder auch Kuba und den großen am Zucker- markt beteiligten Ländern wie Brasilien kommen muss. Hier wird es – das sage ich auch mit Blick auf diese For- derung in Ihrem Antrag – natürlich zu Übergangs- und auch Sonderregelungen für besonders schutzbedürftige kleinere, arme Länder kommen müssen, wie es sie in der Vergangenheit bereits gegeben hat. Das gilt auch für den Rindfleischbereich, wobei hier klar sein muss: Deutschland wird sich mit seiner heuti- gen Produktionsweise und den damit verbundenen Men- gen in Zukunft nicht mehr so am Weltmarkt beteiligen können, wie es zurzeit noch geschieht. Welche Wege beschritten und welche Methoden im Übergang praktiziert werden müssen, wird auch im Zu- sammenhang der EU-Agrarreform noch unter quantitati- ven und qualitativen Aspekten zu entscheiden sein. Ich nenne nur Stichworte wie Mutterkuhhaltung, Entkopp- lung und damit Einzelelemente im Rahmen des Struktur- wandels. Dazu gehören sicher auch andere Bewirtschaf- tungsformen auf den Flächen, wo heute noch die Grundlagen für die Zuckerproduktion vorhanden sind. Es geht also auf der einen Seite um eine Neuorientie- rung der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion im Sinne einer nachhaltigen Produktion sowie den damit verbundenen Umwelt- und Qualitätskriterien, die ja auch im CDU-Antrag angesprochen sind, sowie auf der ande- ren Seite um die Förderung der Entwicklungsziele der Entwicklungsländer wozu Sascha Raabe noch etwas sa- gen wird. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung – Frau Ministerin – unter Einbeziehung des europäischen Mo- dells einer flächendeckenden, multifunktionalen und da- mit standortgerechten Landwirtschaft auf einen fairen 2470 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 (A) (C) (B) (D) Ausgleich bei den laufenden WTO-Agrarverhandlungen hinwirken wird. Dann wird es im September in Cancun zu einem angemessenen Ergebnis kommen. Ich freue mich auf die Fachdiskussionen auf der Basis der vorlie- genden Anträge. Albert Deß (CDU/CSU): Laut rot-grüner Koalitions- vereinbarung will sich die Bundesregierung in den lau- fenden WTO-Verhandlungen betont uneigennützig ge- ben: Danach muss die neue Welthandelsrunde zur „Entwicklungsrunde“ werden und die „Einkommen der Entwicklungsländer müssen sich verbessern“. Von den Interessen der deutschen Wirtschaft, geschweige der deutschen Landwirtschaft, ist in dieser Positionsaussage mit keinem Wort die Rede. Auch wir halten eine stärkere Berücksichtigung der Entwicklungsländer, vor allem der ärmsten, für dringend notwendig, fordern aber im Inte- resse der europäischen und deutschen Landwirtschaft eine gerechte Lastenteilung insbesondere unter den ent- wickelten Industrieländern. Wir können nur hoffen, dass diese WTO-Passage in der Koalitionsvereinbarung – wie andere vorher – Makulatur bleibt und die Bundesregie- rung nach ihrer Arbeitsmethode „Versuch und Irrtum“ noch den richtigen Weg findet. Wenig Klarheit zum deutschen Interessenstandpunkt in den WTO-Agrarverhandlungen bringen auch die ent- sprechenden Aussagen im Agrarbericht 2003 der Bun- desregierung vom 5. Februar dieses Jahres. Umso dring- licher ist eine Klärung der deutschen Haltung. Denn Ende März sollen in Genf für die laufende WTO-Runde, die wegen der scharfen Interessengegensätze und des daraus folgenden Disputes in der Öffentlichkeit häufig nur als Agrarverhandlung wahrgenommen wird, wichtige Wei- chen gestellt werden: Die über 140 Teilnehmerstaaten ha- ben sich auf der Ministerkonferenz im November 2001 in Doha/Katar auf einen straffen Zeitplan geeinigt. Danach sollen bis Ende März 2003 die so genannten Modalitäten festgelegt werden, also Grundsätze über Verfahren und Umfang der Verpflichtungen des angestrebten neuen WTO-Agrarübereinkommens. Diese „Modalitäten“ sind der Dreh- und Angelpunkt der WTO-Agrarverhandlungen, weil sie bestimmen, wie das endgültige Ergebnis der aktuellen Agrarhandels- runde aussehen wird. Deswegen ist es so wichtig, dass wir heute über Stand und Perspektiven der WTO-Agrar- verhandlungen und insbesondere über die Vorschläge zu den „Modalitäten“ diskutieren. Der erste Entwurf eines solchen Modalitäten-Papiers, das der Vorsitzende des WTO-Agrarausschusses, Stewart Harbinson, Mitte Februar in Genf vorlegte, kann nur als unausgewogen und einseitig zugunsten von Ländern mit großen Ausfuhrinteressen zurückgewiesen werden. Den Vorteil eines solchen Verhandlungsschemas hätten vor allem die exportorientierten Staaten der Cairns-Gruppe, die USA und weit fortgeschrittene Entwicklungsländer. Die im Kapitel Marktzugang vorgeschlagenen Zoll- senkungsraten von 40 bis 60 Prozent über fünf Jahre würden in der EU bei wichtigen Produkten wie Zucker, Milch und Rindfleisch fast jeglichen Außenschutz weg- nehmen und dort Produktionseinschränkungen erzwingen. Die im EG-Vertrag festgelegte Gemeinschaftspräferenz würde dadurch unterhöhlt. Die EU-Zuckermarktordnung mit ihrem bewährten Quotensystem würde sozusagen durch Druck von außen gekippt. Die Deutsche Gesell- schaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) hat erst kürzlich in einer Studie festgestellt, dass die ärmsten Länder der Welt bei einer Liberalisierung des Weltzu- ckermarktes zu den größten Verlierern zählen würden. Hingegen würde der EU-Vorschlag einer durchschnittli- chen Zollsenkung um 36 Prozent wie in der Uruguay- Runde zu einer gerechteren Verteilung der Lasten unter den Industrieländern führen und den Zugang von Dritt- ländern zum EU-Markt noch weiter verbessern. Die EU ist ja bereits der weltweit größte Importmarkt von land- wirtschaftlichen Erzeugnissen (2001: 60 Milliarden Dol- lar) und importiert insbesondere aus den Entwicklungs- ländern mit 38 Milliarden Dollar im Jahr 2002 mehr als die USA, Kanada, Australien und Neuseeland zusam- men. Beim verbesserten Marktzugang für Entwicklungs- länder unterscheidet die EU in ihrem Verhandlungsange- bot mit Recht nach dem Grad der Entwicklung und schlägt deshalb für Importe aus den am wenigsten entwi- ckelten Ländern Zollfreiheit vor. Bei den Exportsubventionen hat die EU mit Vorlage ihres WTO-Angebots Ende Januar 2003 einen weitrei- chenden Vorschlag gemacht, nämlich Abbau aller For- men von Ausfuhrsubventionen um 45 Prozent. Demge- genüber sieht das Harbinson-Papier die Reduzierung der Exportsubventionen in einem Zeitraum von fünf bis neun Jahren und schließlich die Abschaffung vor. Der wettbewerbsverzerrende Charakter der anderen Formen der Ausfuhrförderung zum Beispiel der Exportkredite der USA, der Nahrungsmittelhilfe und der Tätigkeit von Staatshandelsunternehmen, die ein Exportmonopol be- treiben, wird vom WTO-Vorschlag kaum ins Visier ge- nommen. Die technischen Eingrenzungsformeln lassen zu viel Schlupflöcher offen, als dass von einer Gleichbe- handlung der EU-Erstattungen und der Exportförde- rungsmaßnahmen anderer WTO-Länder wie zum Bei- spiel der USA gesprochen werden könnte. Die US- Exportkredite müssen aber den gleichen mengen- und wertmäßigen Abbauschritten unterworfen werden wie die EU-Beihilfen. Auch sollte die EU prüfen, ob nicht die interne Men- gensteuerung bei Milch und Zucker mithilfe des Quoten- systems dadurch erhalten werden kann, dass sie gegen- über den WTO-Partnern auf Exportförderung verzichtet und die Produktion auf den EU-Binnenmarkt be- schränkt. Denn Freihandel soll ein Instrument zur Wohl- standssteigerung sein, nicht aber eine Ideologie. Wo die- ses Instrument nicht zu angemessenen Erzeugerpreisen und stabilen Märkten führt, sollten durch die ordnende Hand der großen Welthandelspartner stabilere und ge- rechtere Lösungen gefunden werden. Welch schlimme Auswirkungen die Freihandelsideologie für Millionen von Kleinbauern und Landarbeitern in den Entwick- lungsländern hat, zeigt zum Beispiel der sprunghafte Preisverlauf auf den Weltmärkten für Kaffee, Kakao und Baumwolle. Im Bereich der internen Stützung soll nach dem Mo- dalitäten-Papier von Harbinson die so genannte green Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2471 (A) (C) (B) (D) box grundsätzlich beibehalten werden. Danach wären staatliche Hilfen, die nicht an die Produktion gebunden sind und den Handel nicht verzerren, wie zum Beispiel Ausgleichszahlungen für Umweltauflagen oder für be- nachteiligte Gebiete, weiterhin grundsätzlich erlaubt. Diese Position ist nach der Logik der Handelsliberalisie- rung eine pure Selbstverständlichkeit und kann nicht als großes Entgegenkommen gefeiert werden. Ein Fort- schritt aber ist es, wenn Ausgleichszahlungen für Tier- schutzauflagen ebenfalls in die green box einbezogen werden sollen. Dagegen ist jedoch im bisherigen WTO- Vorschlag zu kritisieren, dass die Ausgleichszahlungen für Agrarumweltprogramme und Tierschutz nur teil- weise als zulässig angesehen werden. Ebenfalls kritisch zu hinterfragen sind die bis jetzt be- kannt gewordenen WTO-Vorschläge im Bereich der bis- lang bedingt erlaubten staatlichen Direktzahlungen, die als so genannte blue-box-Maßnahmen bezeichnet wer- den, und der abzubauenden produktionsgebundenen di- rekten Stützungsmaßnahmen der so genannten yellow box. Die Deckelung des Stützungsniveaus in der blue box auf dem Durchschnittsniveau der Jahre 1999 bis 2001 würde für die EU die Zulässigkeit der Getreideaus- gleichszahlungen ausschließen, die durch die Agenda 2000 hinzukamen. Zu begrüßen ist, dass die staatlichen Zahlungen im Rahmen der so genannte de-minimis-Re- gelung abgebaut werden sollen. Von diesem Schlupfloch haben bislang die USA stark profitiert, da Agrarsubven- tionen von weniger als 5 Prozent des Wertes der Erzeu- gung bei der Berechnung der Senkungsverpflichtungen nicht angerechnet wurden. Über diese Ausnahmerege- lungen zahlen die USA derzeit 8 Milliarden Dollar jähr- lich an wettbewerbsverzerrenden Agrarsubventionen. Deswegen muss die EU ihre Forderung nach Beseiti- gung dieses Schlupfloches mit Nachdruck weiterverfol- gen. Nur so können für alle Industrieländer gleiche Wett- bewerbsbedingungen geschaffen werden. Nicht hinnehmbar in den bisher bekannt gewordenen WTO-Vorschlägen ist schließlich für die EU das fast völ- lige Fehlen ihrer nicht handelsbezogenen Anliegen. Mit Ausnahme der schwachen Berücksichtigung der Aus- gleichszahlungen für Tierschutz fehlt jeglicher Hinweis auf geographische Ursprungsbezeichnungen, das Vorsor- geprinzip im Verbraucherschutz und verbesserte Kenn- zeichnungsmöglichkeiten. Die EU muss ihr volles Ver- handlungsgewicht einsetzen, um Fördermaßnahmen zum Schutz der Umwelt, der traditionellen Landschaften, der Tiere, der biologischen Vielfalt sowie für die ländliche Entwicklung und für die Lebensmittelsicherheit in vol- lem Umfang in die Kategorie der zulässigen öffentlichen Hilfen, das heißt in die green box, zu bringen. Nur so kann es gelingen, das europäische Agrarmodell einer multifunktionalen und wettbewerbsfähigen Landwirt- schaft durchzusetzen. Die europäische Landwirtschaft soll nicht nur Lebensmittel und Rohstoffe produzieren, sondern auch die Kulturlandschaft erhalten und pflegen, Boden, Wasser und Luft schützen sowie die Artenvielfalt bewahren. Die EU-Kommission hat das WTO-Modalitäten-Papier zu Recht als unausgewogen und unzureichend kritisiert. Wir unterstützen diese Kritik, müssen aber hinzufügen, dass die EU-Kommission ihre Verhandlungsposition ins- besondere gegenüber den USA und der Cairns-Gruppe durch die kürzlich vorgestellten Vorschläge für eine wei- tere, die dritte Reform der gemeinsamen Agrarpolitik nach der Reform von 1992 und den Agenda-2000-Be- schlüssen von 1999 selbst schwächt. Sie wiederholt da- mit denselben taktischen Fehler wie in der Uruguay- Runde, wo auch parallel zu den Handelsverhandlungen von der damaligen EU-Kommission eine EU-Agrarre- form betrieben wurde. Zwar hat die EU zu Recht Ende Januar 2003 in Genf ein konkretes Angebot für die WTO-Agrarverhandlungen in den Bereichen Marktzu- gang, Exportförderung und interne Stützung vorgelegt. Damit konnte sie vermeiden, als Bremser in den WTO- Verhandlungen dazustehen, die sich ja auch noch auf an- dere große Sektoren wie den Handel mit gewerblichen Gütern und Dienstleistungen erstrecken. Diese nach au- ßen gerichtete Position wird aber unterhöhlt, wenn man fast zeitgleich intern für die gemeinsame Agrarpolitik eine so tiefgreifende Reform in Angriff nehmen will, wie sie in den Legislativvorschlägen der EU-Kommission vom 22. Januar 2003 enthalten ist. Die internen EU-Re- formvorschläge mit dem Kernstück der „Entkoppelung“ und den über die Agenda-Beschlüsse hinausgehenden Stützpreissenkungen bei Getreide und Milch werden von den WTO-Verhandlungspartnern stillschweigend als vorgezogene Zugeständnisse wahrgenommen, für die sie kaum mehr eine Gegenleistung erbringen wollen. Eine taktisch kluge Verhandlungsführung hätte es bei einem Verhandlungsangebot auf der Grundlage der Agenda- Beschlüsse belassen. Wenn dann im Laufe der Verhand- lungen zusätzliche Zugeständnisse nötig werden sollten, reichte es aus, diese Kompromisse nach Verhandlungs- ende durch eine Anpassung der gemeinsamen Agrarpoli- tik umzusetzen. Dieser Meinung war EU-Kommissar Fischler selbst noch vor einiger Zeit. So erklärte er auf der Konferenz Agra-Europe am 29. Juni 1999 in Brüssel, dass durch die Agenda-Beschlüsse die EU für die weite- ren WTO-Verhandlungen gerüstet und ein Konsens für das europäische Agrarmodell erreicht sei, das nunmehr konsolidiert werden müsse. Ich kann mich nur der massiven Kritik des französi- schen Staatspräsidenten Chirac zu den kürzlich vorge- legten EU-Reformvorschlägen anschließen, der auf der Eröffnung der Internationalen Landwirtschaftsmesse in Paris am 22. Februar dieses Jahres wörtlich erklärte – ich zitiere die Übersetzung in der Zeitschrift „Agra-Eu- rope“: „Ich habe nicht verstanden, warum Kommissar Dr. Fischler mit einer Dickköpfigkeit, die bester Absicht würdig wäre, es für notwendig befunden hat, neue Vor- schläge zu unterbreiten und die Entscheidung des Euro- päischen Rates in beeindruckender Weise zu ignorieren.“ Chirac fuhr dann fort, dass die Initiative der EU-Kom- mission missraten sei, da sie gegen die Brüsseler Gipfel- beschlüsse verstoße, sie sei zugleich vergeblich, da sie keine Chance habe, angenommen zu werden. Die Agenda-Beschlüsse seien auf dem EU-Gipfeltreffen im Oktober 2002 bestätigt worden, sodass jegliche Ände- rung vor 2006 ausgeschlossen sei. Ich hoffe, dass diese deutliche Aussage des französi- schen Staatspräsidenten auch von den WTO-Partnern 2472 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 (A) (C) (B) (D) verstanden wird. Sie sollen sich keine Hoffnung machen, dass die Kommissionsvorschläge zur Reform der ge- meinsamen Agrarpolitik bereits vorgezogene EU-Zuge- ständnisse bedeuten, die nicht mehr durch Gegenleistun- gen honoriert werden müssten. Die europäischen und damit auch die deutschen Landwirte haben also einen Anwalt in Paris. Bei der eigenen rot-grünen Bundesre- gierung sind die Anliegen der deutschen Landwirte we- der bei der Diskussion um die erneute EU-Agrarreform noch bei den laufenden WTO-Verhandlungen gut aufge- hoben. Frau Künast hat an den EU-Reformvorschlägen wenig auszusetzen und begrüßt sie grundsätzlich. In gleicher Weise verkennt die rot-grüne Bundesregierung auch ihre Aufgaben in der derzeitigen WTO-Runde, wie die blutleeren Aussagen zu den WTO-Verhandlungen im rot-grünen Koalitionsvertrag beweisen. Frau Künast, die sich so gern des guten Einverneh- mens mit ihrem französischen Kollegen Gaymard rühmt, sollte dann aber auch dessen gutes Beispiel in der Inter- essenvertretung nachahmen. So reiste der französische Landwirtschaftsminister Gaymard Ende Januar 2003 für zwei Tage nach Washington und traf mit allen amerika- nischen Gesprächspartnern zusammen, die im Agrar- und Handelsbereich wichtig sind, nämlich mit der ameri- kanischen Landwirtschaftsministerin Ann Veneman, dem US-Handelsbeauftragten Robert Zoellick, der für die USA die WTO-Verhandlungen führt, mit dem Präsi- dentenberater für Agrarfragen, Chuck Conner, sowie mit zuständigen Senatoren und Kongressabgeordneten. In diesen Gesprächen konnte er für die Erhaltung des euro- päischen Agrarmodells und die Durchsetzung der nicht handelsbezogenen Aspekte in den WTO-Verhandlungen werben. Leider werden wir bei Frau Künast vergeblich auf einen solchen Einsatz für die europäischen und deut- schen Agrar- und Verbraucherschutzinteressen warten müssen. Denn wer wie Frau Künast – und das auch noch entgegen der ausdrücklichen Bitte des Bundeskanzlers an die Mitglieder seines Kabinetts – auf Demonstratio- nen hinter Transparenten und Schildern herläuft, auf de- nen der amerikanische Präsident diffamiert wird, dürfte sich schon schwer tun, einen Gesprächstermin beim Handelsattaché der amerikanischen Botschaft in Berlin zu bekommen. Die CDU/CSU-Fraktion wird aber nicht ablassen, die deutschen Bauern darüber aufzuklären, dass die Ein- fluss- und Einwirkungsmöglichkeiten der rot-grünen Bundesregierung gegenüber unserem wichtigsten über- seeischen Handelspartner durch grob fahrlässige Brüs- kierung gegen Null tendieren und wer dafür die Verant- wortung trägt. Die Folgen werden leider auch die deutschen Landwirte zu tragen haben. Doch werden wir alles in unserer Macht Stehende tun, der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft auch in und nach den laufenden WTO-Verhandlungen eine Perspektive zu er- halten. Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU): Haben Sie schon einmal davon gehört, dass es einen freien Weltmarkt für Kulturlandschaften gibt? Haben Sie schon einmal davon gehört, dass Kulturlandschaften, dass Standards für Umwelt- und Verbraucherschutz an den in- ternationalen Börsen gehandelt werden? Europa steht heute für ein Modell einer umwelt- freundlichen, nachhaltigen multifunktionalen und flä- chendekkenden Landwirtschaft mit hohen Standards in den Bereichen Gesundheits-, Tier- und Umweltschutz. Unsere Landwirtschaft ist es, die den ländlichen Raum seit Jahrhunderten prägt und gestaltet und zu ihrer wirt- schaftlichen und kulturellen Stabilisierung beiträgt. Es liegt an uns, besonders an der Bundesregierung, dieses Modell jetzt und heute zu verteidigen und abzusichern. Seit letztem Monat liegen die Vorschläge des Vorsit- zenden der WTO-Agrarverhandlungsgruppe, Steward Harbinson, in der aktuellen WTO-Runde auf dem Tisch. Dieses Papier hat den Europäern sozusagen die Schuhe ausgezogen. Ein Aufschrei aller Agrarminister durchfuhr Europa. So voller Eintracht hat man die Ministerrunde lange nicht mehr erlebt. Diese Harbinson-Vorschläge kommen den Forderungen der so genannten Cairns- Gruppe und den USA deutlich mehr entgegen als der eu- ropäischen Landwirtschaft. Die Vorschläge sind unaus- gewogen. Sollten sie so durchkommen, geht es um Sein oder Nicht-Sein der europäischen Landwirtschaft. Die WTO-Agrarverhandlungen wurden entsprechend Art. 20 des Übereinkommens über die Landwirtschaft Anfang 2000 aufgenommen. Nach den Beschlüssen der Ministerkonferenz in Doha im November 2001 zum Agrarhändel gab es klare Leitlinien. Die WTO-Mitglie- der waren gehalten, ihre Verhandlungsvorschläge im Agrarbereich bis Ende des Jahres 2002 vorzulegen. Die Kommission ist dieser Verpflichtung im Januar 2003 nachgekommen. Bis Ende März sollen nun die so ge- nannten Modalitäten eines neuen WTO-Agrarüberein- kommens im September 2003 festgelegt werden. Die EU ist der zweitgrößte Agrarexporteur der Welt. Der Zugang zu internationalen Märkten ist für sie von großer Bedeutung. Der amerikanische Markt für Milch- produkte ist beispielsweise für die Exporte der EU noch verschlossen. Japan lässt noch nicht so viel Schweine- fleisch auf seinen Markt, wie die EU liefern könnte. Die EU-Exporte an verarbeitenden Nahrungsmitteln werden immer noch durch viele hohe Zölle behindert. Der Schutz und die Anerkennung von Produkt- und Her- kunftsangaben sind in der WTO noch unbefriedigend ge- regelt. Die EU hat aber auch Vorleistungen erbracht und in der Vergangenheit selbst den Liberalisierungsprozess durch den Abbau von Zöllen und des Außenschutzes be- sonders unterstützt: Nach den Vereinbarungen der Uru- guay-Runde sind im Zeitraum 1995/96 bis 2000/2001 der Außenschutz von Agrarprodukten um insgesamt 36 Prozent, die subventionierten Exporte mengenmäßig um 21 Prozent, budgetmäßig um 36 Prozent sowie die internen Stützungsmaßnahmen um 20 Prozent zurückge- führt worden. Die EU wird sich nun einer weiteren Öffnung der ei- genen Märkte im Rahmen der laufenden WTO-Verhand- lungen auch nicht verschließen. Die Kommission muss sich allerdings den Vorwurf gefallen lassen, mit ihrem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2473 (A) (C) (B) (D) weit gehenden Fischler-Vorschlag an die WTO Herrn Harbinson zu seinen erstaunlichen Thesen ermutigt zu haben. Nach Überlegungen der EU-Kommission sollen – an die Vereinbarung der Uruguay-Runde anknüpfend – die Importzölle auf landwirtschaftliche Erzeugnisse in der laufenden WTO-Runde durchschnittlich um 36 Pro- zent, die Ausgaben für Ausfuhrerstattungen um 45 Pro- zent und die interne handelsverzerrende Agrarstützung um weitere 55 Prozent reduziert werden. Der Vorschlag beinhaltet auch spezifische Maßnah- men, den Entwicklungsländern deutlich bessere Bedin- gungen einzuräumen: zollfreier Zugang aller Agraraus- fuhren ohne Mengenbeschränkung für die ärmsten Länder der Welt. Die Kommission schlägt einen Zollsatz Null für mindestens 50 Prozent aller Agrareinfuhren der Industrieländer aus Entwicklungsländern vor sowie eine so genannte Box Ernährungssicherheit, um eine Förde- rung der Entwicklung zu ermöglichen und die für die Le- bensmittelversorgung wichtigen Anbaukulturen durch besondere Schutzklauseln zu erhalten. Besonders betont der Vorschlag noch einmal die wichtige Rolle nicht han- delsbezogener Anliegen wie Umweltschutz, Entwick- lung des ländlichen Raumes und Tierschutz. Die Vorschläge der Kommission gehen in einigen Be- reichen über die Möglichkeiten der Agenda 2000 hinaus. Die Kommission hat zu früh Verhandlungsspielräume aufgegeben. Es war abzusehen, dass mit diesem konkre- ten Angebot der Kommission die Richtung eines weite- ren Abbaus der Tarife vorgezeichnet war, ohne dass ein nennenswerter Fortschritt bei den nicht handelsbezoge- nen Aspekten als Ausgleich für die vielfältigen, Kosten verursachenden Auflagen, denen die europäischen Bau- ern unterliegen, absehbar war. Zudem scheinen die WTO-Verhandlungspartner die neuen EU-Reformvor- schläge des Kommissars Franz Fischlers zur Landwirt- schaft als gegebene Zugeständnisse hinzunehmen, für die sie keine Gegenleistung erbringen wollen. Der freie Welthandel, Abbau von Zöllen und anderer Handelshemmnisse, die Verflechtung der Weltwirtschaft zur Förderung des Wohlstands in der Welt sind Ziele der Welthandelsorganisation. – Ziele, die es zu unterstützen gilt. Aber ich muss es deutlich sagen: Der Liberalisie- rungsprozess muss unter fairen Bedingungen erfolgen. Ich möchte einige Eckpunkte des Harbinsons-Papiers nennen, die eine Gefahr für unser europäisches Land- wirtschaftsmodell bedeuten würden: Erstens. Kapitel Marktzugang: Der Außenschutz der gemeinsamen Agrarpolitik wird durch das Harbinson- Papier infrage gestellt. So sollen besonders hohe Ein- fuhrzölle in einem rasanten Tempo bis zu 60 Prozent vermindert werden. Hiervon wären insbesondere Zucker, Milch und Rindfleisch betroffen. Ich möchte die Konsequenzen an einem Beispiel deutlich machen: Zucker. Zucker, der nicht aus AKP- Ländern kommt, wird zurzeit von der EU mit einem Wertzoll von rund 180 Prozent belegt und müsste nach dem Harbinson-Vorschlag innerhalb von fünf Jahren auf 72 Prozent vermindert werden. Sollte dieser Vorschlag so realisiert werden, wird von der Zuckermarktordnung in Europa nichts übrig bleiben. Der EU-Vorschlag würde dagegen eine Senkung der Zölle von 36 Prozent bedeu- ten. Dies würde den Zugang von Drittländern zum EU- Markt erleichtern, auf der anderen Seite aber auch zu ei- ner fairen Lastenverteilung der Industrieländer führen. Der Zollabbau darf beim EU-Außenschutz nicht weiter- hin einseitig zulasten der EU gehen. Zweitens. Kapitel Exportsubventionen: Das Harbinson- Papier sieht zunächst eine Reduzierung in einem Zeit- raum von fünf bis neun Jahren vor und schließlich ihre Abschaffung. Bei den Exporthilfen sollten allerdings alle Formen wie Exportkredite, Nahrungsmittelhilfen, Staats- handelsunternehmen gleichwertig mit einbezogen wer- den, um wettbewerbsverzerrende Entwicklungen zu un- terbinden. So müssen zum Beispiel die US-Kredite den gleichen mengen- und wertmäßigen Abbauraten unter- liegen wie die Exportbeihilfen der Europäischen Union. Drittens. Kapitel Interne Stützung: Mit größter Sorge müssen die WTO-Vorschläge zur so genannten Blue Box betrachtet werden. Diese betrifft die Direktbeihilfen der Landwirte der EU. Hier ist ein Abbau um 50 Prozent in- nerhalb von fünf Jahren vorgesehen. Die Folgen für die landwirtschaftlichen Betriebe wäre verheerend. Der Ab- bau der in der Gelben Box zusammengefassten Preisstüt- zungsmaßnahmen um 60 Prozent ist ebenso abzulehnen. Damit wird dem unterschiedlichen Grad an handelsver- zerrender Wirkung nicht ausreichend Rechnung tragen. Völlig unberücksichtigt blieben zudem die von Kommis- sion gemachten jüngsten Reformvorschläge für weitere Getreide- und Milchsenkungen sowie die von der EU verfolgten handelsbezogenen Anliegen wie der Schutz von geographischen Ursprungsbezeichnungen oder die Verankerung des Vorsorgeprinzips im Verbraucherschutz. Der Entwurf stellt, die gemeinsame Agrarpolitik in weiten Bereichen grundsätzlich infrage. Die EU könnte die vorgeschlagenen Senkungsverpflichtungen weder mit der geltenden gemeinsamen Agrarpolitik erbringen noch auf Grundlagen der von der EU-Kommission neu vorgelegten Vorschläge zur Halbzeitbewertung der Agenda 2000. Letztendlich würden die Harbinson-Vor- schläge dazu führen, dass viele Betriebe in der EU nicht mehr existenzfähig wären und aufgeben müssten. Eine flächendeckende Landbewirtschaftung wäre nicht mehr möglich, die ländlichen Räume nicht mehr lebensfähig. Insgesamt würde mit dem Vorschlag von Harbinson die Gestaltung einer nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Landwirtschaft, die unter hohen Standards im Umwelt-, Tier- und Verbraucherschutz wirtschaftet, verhindert. Das Harbinson-Papier soll in den folgenden Wochen überarbeitet werden. Es muss daher auf jeden Fall ver- hindert werden, dass sich die Kommission in den Ver- handlungen der folgenden Wochen auf einen Kompro- miss zulasten der Landwirte einläßt. Die Bundesregierung steht hier in einer öffentlichen Verantwortung. Nun ist die Frau Ministerin Künast und ihr Einsatz gefragt. Im Länderbeobachterbericht zum Rat aus Brüssel, wo die Harbinson-Vorschläge zur Diskus- sion standen, konnte man leider folgendes über die deut- sche Ministerin lesen: 2474 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 (A) (C) (B) (D) „Frau Künast, die, wie ihre Vorredner, einige Haupt- kritikpunkte an dem Harbinson-Papier ansprach, gab aber auch (vorsichtig) zu bedenken, die Landwirtschaft sei nur einer von mehreren Bereichen bei den WTO-Ver- handlungen, man müsse eine Balance finden zwischen der Liberalisierung und den berechtigten, mittelfristigen Anliegen der Gesellschaft.“ Eine solche Aussage kann man wohl nicht als verant- wortungsvolles Handeln für die deutsche und europäi- sche Landwirtschaft bezeichnen. Die Franzosen zeigen da einen ganz anderen Einsatz. Der französische Landwirtschaftminister Herve Gaymard wies das Harbinson-Papier als „inakzeptabel und völlig unausgeglichen“ zurück. Das nenne ich einen klaren Standpunkt. Die Landwirtschaft darf in den WTO-Verhandlungen nicht als Wechselgeld für die Interessen anderer Ressorts benutzt werden. Das europäische Landwirtschaftsmodell steht auf dem Spiel. Es ist von größter Dringlichkeit, dass das hohe europäische Niveau des Gesundheits-, Tier- und Umweltschutzes in dem neuen Welthandelsab- kommen integriert wird. Das heißt auch, dass die in die EU importierten Produkte unseren Standards entspre- chen oder verständlich gekennzeichnet werden. Die hö- heren Kosten für strengere europäische Produktions- standards müssen zudem in der WTO ausgleichsfällig werden. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass die Interessen der Entwicklungsländer verstärkt berücksichtigt werden müssen und ihnen eine Präferenzbehandlung in einer fai- ren Welthandelsordnung zusteht. So muss zum Beispiel garantiert werden, dass die Agrarproduktion in den Ent- wicklungsländern nicht durch subventionierte Agrarex- porte in diese Länder gefährdet wird. Auf der anderen Seite muss der unterschiedliche Entwicklungsgrad ein- zelner Länder berücksichtigt werden. Geschieht dies wie im Harbinson-Papier nicht, werden Schwellenländer mit extrem kostengünstigen Produktionsweisen bevorteilt, die Umwelt-, Tierschutz- und Sozialstandards keine Be- achtung schenken. Ich fordere den Einsatz der Regierung für die Land- wirtschaft und den ländlichen Raum auf internationalem Parkett. Das Engagement für die heimische Landwirtschaft ist ja durchaus begrenzt: Die starken Einkommensrück- gänge in der Landwirtschaft können doch nur als Resul- tat der rot-grünen Politik gewertet werden. Rot Grün beschränkt ihre Politik auf 3 Prozent der Ökobetriebe und plant dann an 97 Prozent der restlichen Landwirtschaft vorbei. Rot- Grün projiziert in der Öf- fentlichkeit Schwarz-Weißgemälde mit Schlagwörtern wie „Klasse statt Masse“ und propagiert damit eine Agrarpolitik, die ausschließlich auf Marktnischen setzt. Sie vernachlässigen damit den Rest der Landwirtschaft und das Problem ihrer internationalen Wettbewerbsfä- higkeit. Im Koalitionsvertrag .wird von einer wettbe- werbsfähigen Landwirtschaft gesprochen. Rot-Grün be- lastet sie dann, aber mit immer mehr Steuern, Auflagen und Bürokratie. So werden Arbeitsplätze und die Exis- tenzen vieler Unternehmen in der Land und Forstwirt- schaft gefährdet. Die rot-grüne Politik der nationalen Al- leingänge verursacht gerade diese Entwicklung. Die deutsche Landwirtschaft ist aber nur dann wettbewerbs- fähig, wenn sie sich auch im Kostenwettbewerb interna- tional behaupten kann. Liberalisierung, Globalisierung sind immer nur Mittel zum Zweck. Der Erhalt unserer Kulturlandschaft und hohe Standards sind aber Werte, die unseren ganzen Ein- satz fordern. Für unsere Kinder soll das Leben und Wirt- schaften auf dem Hof im Dorf, Ackerbau, bestellte Fel- der und Viehzucht nicht zu Bilder aus Büchern vergangener Tage werden. Landwirtschaft wird auch mit agriculture übersetzt. Verantwortungsvolles Händeln ist gefragt: für ein euro- päisches Landwirtschaftsmodell, zur Zukunftssicherung der landwirtschaftlichen Betriebe und für den Erhalt der Kulturlandschaft in Deutschland. Thilo Hoppe (Bündnis 90/Die Grünen): Was wir hier zu nächtlicher Stunde diskutieren, ist kein Randthema sondern betrifft das wichtigste Menschenrecht überhaupt – das Recht auf Leben, auf Überleben, das Recht auf ausreichend Nahrung. Es ist ein Skandal ersten Ranges, dass mehr als 800 Millionen Menschen auf dieser Welt dieses elementare Menschenrecht vorenthalten wird. Mehr als 800 Millio- nen Menschen hungern, nicht etwa weil die Äcker dieses begrenzten Globus nicht mehr hergeben, nicht weil es weltweit zu wenig Nahrungsmittel gibt, sondern weil et- was faul ist im internationalen Agrarhandel, in den Strukturen der Weltwirtschaft, und hinzu kommen kata- strophale Fehlentscheidungen, „bad governance“ einzel- ner Regierungen. Simbabwe ist dafür ein besonders krasses Beispiel. Diese Fehler, die auf das Konto von einigen unfähi- gen Regierungen im Süden gehen, dürfen aber nicht dar- über hinwegtäuschen, dass die meines Erachtens größten Ursachen für den Hunger in der Welt eher bei uns zu su- chen sind. Sie lagen früher im Kolonialismus und sie lie- gen heute in den ungerechten Strukturen der Weltwirt- schaft. Die reicheren Länder dieser Welt, die 27 OECD-Staaten, sub- ventionieren ihre Landwirtschaft jährlich mit weit mehr als 300 Milliarden Dollar. Ich hatte bei meiner Rede im No- vember ein Zahlenspiel mit der subventionierten europä- ischen Kuh angeführt. Ich muss das korrigieren. Meine Zahlen waren nicht korrekt. Die wahren Werte sind noch krasser. Laut Weltbank wurde im letzten Jahr jede Kuh in Europa mit 2,5 Dollar pro Tag subventioniert – wäh- rend die Hälfte der Menschheit mit weniger als 2 Dollar pro Tag auskommen muss. Besonders verheerend für die Entwicklungsländer wirken sich die Exportsubventionen im Agrarbereich aus. Ich will das mit einem Beispiel illustrieren, das mir in Brasilien begegnete: Da gibt es einen Ort mit dem Na- men Withmarsum – ich hätte glauben können, wieder in meiner ostfriesischen Heimat angelangt zu sein – einen Ort, geprägt von deutschen Auswanderern, in dem es Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2475 (A) (C) (B) (D) noch eine gut funktionierende bäuerliche Landwirtschaft gibt – nein gab, muss man jetzt bald sagen. Dort sind schwarzbunte Kühe zu sehen, die eine qualitativ hoch- wertige Milch geben, mit der der regionale Markt be- dient wird. Die Region könnte sich für Renate Künasts Wettbe- werb „Regionen aktiv“ bewerben. Doch in letzter Zeit wird auch in Withmarsum der Markt überschwemmt mit H-Milch – gemixt aus brasilianischem Leitungswasser und Milchpulver aus der Europäischen Union, hoch sub- ventioniert und deshalb extrem billig, sodass die With- marsumer Bauern nicht mehr mithalten können und bald vor dem Ruin stehen. Und ähnliche Vorgänge sind überall in der so genannten Dritten Welt zu sehen. Auch das, was mit Projekten der Entwicklungszusammenarbeit aufgebaut wird – funktio- nierende ländliche Strukturen, die der Versorgung der Be- völkerung mit Grundnahrungsmitteln dienen –, wird durch Dumping aus Europa oder den USA wieder zerstört. Es gibt – und jetzt werden wir hoffentlich bald sagen können: es gab mit Blick auf die europäische Entwick- lungs- und Agrarpolitik ein erhebliches Kohärenzprob- lem: Was die eine Hand aufbaute, wurde von der anderen wieder eingerissen. Ich bin deshalb sehr froh, dass es gelungen ist, Agrar- und Entwicklungspolitiker an einen Tisch zu bekommen. Der Antrag, der heute eingebracht wird, ist ein Plädoyer für eine nachhaltige Agrarpolitik, die dem Umwelt- und Landschaftsschutz gerecht wird, den Verbraucherschutz berücksichtigt und weltweit zur Ernährungssicherheit, zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung, beiträgt. In der WTO wird ein neues Agrarabkommen verhan- delt. Die Vorschläge, die bisher auf dem Tisch liegen – be- sonders der Vorschlag des WTO-Landwirtschaftssekre- tärs Stuart Harbinson –, gehen in die falsche Richtung, weil sie sowohl die Agrarwende in Europa, den Trend hin zu einer nachhaltigen, umweltgerechten Landwirt- schaft, gefährden – als auch, weil sie den berechtigten Interessen der Entwicklungsländer nicht gerecht werden. Wir wollen, dass sich Deutschland aktiv dafür ein- setzt, dass sich auch die Europäische Kommission bei den WTO-Agrarverhandlungen noch weiter bewegt und einen überzeugenden Beitrag zur Überwindung des Hun- gers leistet. Die Kernforderungen unseres Antrags, bei dem Agrar- und Entwicklungspolitiker an einem Strang ziehen: drastischer Abbau der Agrarexportsubventionen (und zwar mit der Perspektive „auf null“), Schaffung an- derer Förderkulissen, die sich nicht handelsverzerrend auswirken. Wenigstens ein Teil der durch den Wegfall der Agrarexportsubventionen frei werdenden Gelder soll in die Entwicklungszusammenarbeit fließen – und zwar in die Stärkung der Landwirtschaft und die Weiterverar- beitung von Agrarprodukten in den Ländern, die am meisten unter Hunger zu leiden haben. Ja zu einer „deve- lopment box“ für die Entwicklungsländer, damit diese im Hinblick auf die Ernährungssicherung ihre Märkte schützen können vor dumping. Und schließlich: substan- zielle Öffnung unserer Märkte für Agrarprodukte aus den Entwicklungsländern. Wir möchten, dass sich die EU in diesem Sinne enga- giert und mit dazu beiträgt, dass die so genannte Doha- Runde wirklich zu einer Entwicklungsrunde wird. Es geht uns um eine Agrarwende weltweit, die sowohl un- sere Landwirtschaft als auch die Landwirtschaft in den Ländern des Südens auf eine solide Grundlage stellt – die sowohl hier als auch dort die Bauern in die Lage ver- setzt, das „täglich Brot“ zu liefern und die Menschen mit ausreichender und gesunder Nahrung zu versorgen. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Das Ergebnis der WTO-Verhandlungen gestaltet wichtige Bereiche des Agrar-Welthandels für die kommenden Jahre. Die Ver- antwortung aller Teilnehmer ist groß und sollte getragen werden vom gemeinsamen Interesse an einer einer glo- balen Entwicklung, die allen Menschen Zukunftsper- spektiven bietet. Im Interesse einer friedlichen und nachhaltigen Ent- wicklung weltweit wollen wir einerseits erreichen, dass Rahmenbedingungen erhalten werden, die eine flächen- deckende Landwirtschaft in Europa ermöglichen, und andererseits wollen wir den Entwicklungsländern den Zugang zu unseren Märkten öffnen und verhindern, dass in den ärmsten Ländern der Welt die eigenen bäuerlichen Strukturen durch subventionierte Importe zerstört wer- den. Dies ist ein äußerst schwieriger Balanceakt. Wir wollen den Hunger in der Welt mindern, das Recht auf Nahrung verwirklichen helfen, den Entwick- lungsländern mehr Chancen für Entwicklung durch Auf- bau einer eigenen Landwirtschaft geben. Gleichzeitig müssen wir dafür Sorge tragen, dass der Strukturwandel in unserer Landwirtschaft sich nicht weiter beschleunigt und mehr Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen ver- nichtet, als neue in den verschiedenen Wirtschaftsberei- chen geschaffen werden. Die Landwirtschaft wird, mit wenigen Ausnahmen, weltweit subventioniert. Das ist keine Entschuldigung für weitere Subventionen, aber dies muss beachtet wer- den, wenn an die eigene Landwirtschaft die Forderung gerichtet wird, auf staatliche Hilfen völlig zu verzichten. Die WTO-Verhandlungen brauchen einen fairen Aus- gleich der teilweise sehr unterschiedlichen Interessen der 145 WTO-Staaten. Nach Auffassung der FDP sollten folgende Ansätze verfolgt werden: Die Öffnung der Märkte soll einen besseren Wettbewerb ermöglichen und den Entwicklungsländern Zugang zu unseren Märkten verschaffen. Die EU will ihre hohen Standards in der Le- bensmittelsicherheit, im Umweltschutz und im Tier- schutz sichern; die Entwicklungsländer brauchen Schutzräume, um durch Verbesserung ihrer wirtschaftli- chen Strukturen die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte zu erhöhen. Dies bedeutet für die WTO-Verhandlungen: Die han- delsverzerrenden Exportsubventionen, Schutzzölle, Marktbeschränkungen müssen sukzessive abgebaut wer- den. Dies muss für alle gelten, auch die von den USA unter dem Deckmantel der „De-Minimis-Regeln“ einge- führte Agrarförderung. Um die Europäischen Interessen durchzusetzen, braucht die EU eine starke Position. Da- 2476 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 (A) (C) (B) (D) her sollten wir bei der Reform der Agenda 2000 keine Vorleistungen erbringen, die bei den WTO-Verhandlun- gen nicht angerechnet werden. Das bedeutet, dass eine Beschlussfassung über die Fischler-Vorschläge erst er- folgen kann, wenn die WTO-Verhandlungen abgeschlos- sen sind. Die Harbinson-Vorschläge sind unausgewogen und daher ungeeignet, bei den WTO-Verhandlungen als Grundlage zu dienen. Ihre Umsetzung wäre das Ende der flächendeckenden, multifunktionalen Landwirtschaft in Europa. Wir brauchen Sonderregelungen für Entwick- lungsländer, die sich an deren Entwicklungsstand orien- tieren. Das Ergebnis der WTO-Verhandlungen wird an die Zukunft der Agrarförderung in Europa besondere Anfor- derungen stellen, denen die Reform der Agenda 2000 gerecht werden muss. Die FDP ist darauf vorbereitet. Wir haben mit unse- rem Modell einer Kulturlandschaftsprämie einen Vor- schlag zur Diskussion gestellt, der die Agrarförderung auf eine neue Grundlage stellt: Die staatliche Förderung der Landwirtschaft wird von der Produktion entkoppelt und vermeidet damit die Nachteile des bestehenden Sys- tems, die Leistungen der Landwirtschaft in der Kultur- landschaftspflege werden honoriert, die hohen europäi- schen Standards in der Lebensmittelsicherheit, im Umweltschutz und im Tierschutz finanziell abgegolten. Die Kulturlandschaftsprämie ist der Grünen Box zuzu- rechnen und unterliegt damit nicht den Abbauverpflich- tungen, die für die Blaue Box gelten. Gleichzeitig ge- winnen Landwirte ein Stück Unabhängigkeit von politischen Entscheidungen – dem größten Risiko, dem landwirtschaftliche Unternehmer heute begegnen müs- sen. Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Die WTO-Agrarverhandlungen sind in eine entscheidende Phase getreten. Bis Ende März 2003 sollen in Genf die Grundsatzentscheidungen über die weiteren Liberalisierungsverpflichtungen im Landwirtschaftsbereich fallen. Die Agrarverhandlungen sind Teil der laufenden Welthandelsrunde. Diese ist ex- plizit als eine so genannte Entwicklungsrunde – Doha Development Agenda – vereinbart worden. Noch ist of- fen, ob sie diesem Anspruch auch gerecht wird. Klar ist allerdings, dass die Agrarverhandlungen als ein Schlüs- selthema für Erfolg oder Misserfolg der gesamten Runde anzusehen sind. Aus meiner Sicht müssen deshalb zwei Ziele gleich- rangig im Mittelpunkt der Verhandlungen stehen: Zum Einen geht es darum, die internationale Agrarpo- litik und den Agrarhandel kohärent zu den Zielen einer Neuorientierung der Landwirtschaft und der Lebensmit- telproduktion in Europa zu organisieren. Die Ergebnisse dürfen also nicht dem widersprechen, was wir bei uns und in Europa auf den Weg gebracht haben oder bringen wollen. In den Mittelpunkt der deutschen und europäi- schen Agrarpolitik rücken dabei mehr und mehr die ge- sellschaftlichen Anforderungen an die Landwirtschaft für Tier- und Umweltschutz, für Verbraucherschutz und Qualitätsproduktion sowie für die Entwicklung ländlicher Räume. So ist eine Stärkung des Verbraucherschutzes er- forderlich, ich nenne nur die Stichworte „klare Regeln zum Vorsorgeprinzip“ und „stringente Kennzeichnungs- regeln mit Auskünften über Produktionsprozesse“. Zum Anderen müssen die Ergebnisse der Agrarver- handlungen in Einklang mit den Bemühungen der Staa- ten stehen, ihre Entwicklungsziele zu erreichen. So muss das Recht auf Nahrung sowie das Ziel, die Zahl der Hun- gernden bis zum Jahr 2015 mindestens zu halbieren, durch die Beschlüsse im Rahmen der WTO befördert werden. Die Stichworte, um eine erfolgreiche Verhandlung zu führen, sind hierbei folgende: Das Ergebnis der Verhandlungen muss zu einem ge- rechten Interessenausgleich zwischen Nord und Süd bei- tragen, muss zu einer vermehrten Marktöffnung auch für Agrarprodukte aus Entwicklungsländern führen, um neue Einkommensmöglichkeiten für diese zu schaffen, muss zum Abbau von Agrarexportsubventionen und ver- gleichbaren Förderinstrumenten von Industrieländern beitragen, muss besondere Regeln schaffen zum Schutz des ländlichen Raums in Entwicklungsländern, Stich- wort „Development Box“. Dies gilt vor allem für die ärmsten Entwicklungsländer. Doch auch Schwellenlän- der werden, angesichts gewaltiger Handelsbilanzdefizite zu ihren Ungunsten, hart für ihre Interessen streiten. Wer hier nicht kompromissfähig ist, nimmt in Kauf, das die ganze WTO-Runde zum Scheitern verurteilt ist. Der Bundeskanzler hat in Johannesburg die Bedeu- tung der WTO-Verhandlungen in seiner Rede aufgegrif- fen und Folgendes gesagt: „Mindestens so wichtig wie Finanzmittel ist der freie und ungehinderte Zugang der Entwicklungsländer zu den Weltmärkten. Dazu gehört ausdrücklich auch der Abbau von marktverzerrenden Subventionen im Agrar- bereich.“ Deshalb müssen Exportsubventionierungen der In- dustrieländer zügig reduziert werden mit dem Endziel ei- ner kompletten Abschaffung. Wenn wir eine doppelte Agrardividende erzielen wollen, tun wir gut daran, die frei werdenden Mittel auch für die Förderung ländlicher Entwicklung in Entwicklungsländer einzusetzen. Die Äußerungen des französischen Staatspräsidenten Chirac, der in diesem Zusammenhang auf dem Afrika- Gipfel ausdrücklich auf die Problematik der Exportstüt- zungen der entwickelten Länder, so auch der EU, hinge- wiesen hat, sollten eine Ermunterung sein, dieses Instru- ment ebenso zu verhandeln wie den Abbau von ähnlichen Instrumenten, von den Exportkrediten bis zu problematischen Formen der Nahrungsmittelhilfe. Wir alle wissen, dass Dumping von Agrarprodukten mithilfe unterschiedlicher Instrumente erfolgen kann. Ein EU-Vorschlag auf dem kommenden G-8-Gipfel zur Bekämpfung des Hungers böte hier die Chance einer doppelten Dividende: einerseits der Abbau von Agrarex- porterstattungen und zum Anderen die Stärkung der Ent- wicklungshilfe für die besonders vom Hunger betroffe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2477 (A) (C) (B) (D) nen ländlichen Räume in Entwicklungsländern. Wie Kompromisse bei den Agrarverhandlungen aussehen können, steht noch in den Sternen. Der vorliegende Vor- schlag – das so genannte Harbinson-Modalitäten-Papier – ist trotz einiger guter Ansätze jedenfalls nicht ausrei- chend, weder bezogen auf die Landwirtschaft in Ent- wicklungsländern noch auf eine multifunktional ausge- richtete Landwirtschaft in Deutschland und Europa. Der Entwurf wird dem Leitbild einer global nachhaltigen Entwicklung der Landwirtschaft nicht gerecht. Er ge- fährdet das europäische Modell einer multifunktionalen, flächendeckenden Landwirtschaft. Die von der EU ver- folgten nicht handelsbezogenen Anliegen werden völlig unzureichend reflektiert, zum Beispiel die Verankerung des Vorsorgeprinzips und der Tierschutz. Der Gedanke, Umweltschutz und moderne Agrarpolitik miteinander zu verknüpfen, fällt hinten runter. Während er auf der einen Seite deutliche Einschnitte bei Zöllen, Exportsubventionen und Stützungsmaßnah- men vorgesehen sind, was unvermeidlich und richtig ist, sind auf der anderen Seite die Forderungen an die USA oder andere Industrieländer mehr als moderat ausgefallen. Die Sonderregelungen für Entwicklungsländern sind grundsätzlich zu begrüßen, auch wenn sie im Detail noch nicht genügend im Hinblick auf den unterschiedli- chen Entwicklungsgrad der Länder differenziert sind. Bei aller Skepsis gegenüber dem vorliegenden Ent- wurf müssen wir jedoch bedenken, dass es einen Erfolg der gesamten WTO-Runde nur dann geben kann, wenn alle Beteiligten – also auch die EU – im Agrarbereich nicht unerhebliche Zugeständnisse machen. Wir müssen also weiter konstruktiv an einer Einigung arbeiten. Die Bundesregierung setzt sich für einen Erfolg der WTO-Verhandlungen ein. Die Verhandlungen müssen aber zu einem ausgewogenen Ergebnis führen. Am Ende der WTO-Verhandlungen muss eine Balance zwischen Handelsliberalisierung und berechtigten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anliegen aller WTO-Partner ge- funden werden. Wir wollen ein Verhandlungsergebnis erzielen, das unseren gemeinsamen Leitvorstellungen ei- ner global nachhaltig wirtschaftenden Landwirtschaft unter Berücksichtigung aller berechtigten handels- und nicht handelsbezogenen Anliegen gerecht wird. 31. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503100000


Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.

Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.


(Die Anwesenden erheben sich)


Gestern Nachmittag erreichte uns die schreckliche
Nachricht, dass der serbische Ministerpräsident Zoran
Djindjic vor dem Parlamentsgebäude in Belgrad auf
offener Straße erschossen worden ist. Wir sind fassungs-
los und entsetzt. Der feige Mord hat uns einen Freund
und Mitstreiter für Europa genommen. Schlimmer noch:
Er droht Serbien auf seinem Weg zu Demokratie und
Modernisierung zurückzuwerfen. Wir müssen alles dafür
tun, dies zu verhindern.

Erst vor wenigen Wochen hat das jugoslawische Par-
lament der neuen Staatenunion Serbien und Montenegro
zugestimmt. Auch damit schien ein neuer Zeitabschnitt
nach dem Bürgerkrieg und der schwierigen Nachkriegs-
zeit zu beginnen. Zoran Djindjic hatte maßgeblichen An-
teil an dieser Entwicklung. Das Attentat zeigt uns, wie
verletzlich die Bedingungen für ein friedliches Zusam-
menleben in diesem Teil Europas noch immer sind.

Der Deutsche Bundestag spricht dem Parlament von

den. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann sind die Kolleginnen Marianne Tritz
als ordentliches Mitglied und Claudia Roth als stellver-
tretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates gewählt.

Interfraktionell ist die Reihenfolge der verbundenen Ta-
gesordnung dieser Woche wie folgt vereinbart worden:
Nach Tagesordnungspunkt 6 kommen Tagesordnungs-
punkt 15 – Ladenschlussgesetz –, Tagesordnungspunkt 7 –
Menschenrechtspolitik –, Tagesordnungspunkt 8 – Um-
satzsteuergesetz –, Tagesordnungspunkt 9 – Kleinunter-
nehmerförderungsgesetz –, Tagesordnungspunkt 14 –
Postdienstleistungen –, Zusatzpunkte 5 bis 7 – GATS-
Verhandlungen –, Tagesordnungspunkt 12 – EURATOM-
Kreditlinie – und Tagesordnungspunkt 11 – WTO-Ver-
handlungen. Die Beratungen zu Tagesordnungspunkt 10 –
ehrenamtliche Richter –, Tagesordnungspunkt 16 – Pots-
dam-Center – und Tagesordnungspunkt 17 – Änderung des
Strafgesetzbuches – sollen ohne Debatte erfolgen. Der ein-
zige Tagesordnungspunkt am Freitag wird die Regierungs-
erklärung mit anschließender Aussprache sein.

Außerdem ist vereinbart worden, die Tagesordnung
um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegenden
Punkte zu erweitern:
Serbien und Montenegro sein Beileid und seine Solidari-
tät aus. Unser tiefes Mitgefühl gehört der Witwe und den
Kindern des Ermordeten. – Ich danke Ihnen.

Nun zu unserer heutigen Tagesordnung – ich beginne
mit einigen Mitteilungen –: Die Kollegen Manfred
Carstens und Gerd Höfer feierten am 23. Februar so-
wie der Kollege Alfred Hartenbach am 5. März jeweils
ihren 60. Geburtstag. Ich gratuliere nachträglich im Na-
men des Hauses sehr herzlich.


(Beifall)


Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen möchte
bei zwei ihrer Mitglieder in der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates einen Tausch vornehmen.
Die Kollegin Marianne Tritz, die bisher stellvertreten-
des Mitglied war, soll ordentliches Mitglied werden, und
die Kollegin Claudia Roth, die bisher ordentliches Mit-
glied war, soll nunmehr stellvertretendes Mitglied wer-

1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, Jürgen Türk, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Das neue Gesicht
Europas – Kernelemente einer europäischen Verfassung

– Drucksache 15/577 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss


(Ergänzung zu TOP 18)


a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Melde-
rechtsrahmengesetzes

– Drucksache 15/536 –

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Wolfgang Thierse
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Siegfried
Kauder (Bad Dürrheim), Dr. Norbert Röttgen, Wolfgang
Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
verbesserten Schutz der Privatsphäre

– Drucksache 15/533 –

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe,
Rainer Eppelmann, Holger Haibach, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Für Menschenrechte welt-
weit eintreten – die internationalen Menschenrechtsschutz-
instrumentarien stärken

– Drucksache 15/535 –

4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Birgit
Homburger, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb
von Postdienstleistungen schaffen

– Drucksache 15/579 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft

5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord-
neten Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhandlungen – Bildung
als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern

– Drucksachen 15/224, 15/506 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Ulla Burchardt
Thomas Rachel
Ursula Sowa

6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhandlungen – Trans-
parenz und Flexibilität sichern

– Drucksache 15/576 –

7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP: GATS-Verhandlun-
gen – Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt
sichern

– Drucksache 15/580 –

8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike
Flach, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: EURATOM-Vertrag nicht aufwei-
chen – Keine einseitigen Eingriffe in die Finanzierung

– Drucksache 15/578 –

9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen

(Nordstrand), Albert Deß, Gerda Hasselfeldt, weiterer Abge-

ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: WTO-Verhand-
lungen – Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern

– Drucksache 15/534 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie mit diesen
Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steue-
rung und Begrenzung der Zuwanderung und zur
Regelung des Aufenthalts und der Integration von

(Zuwanderungsgesetz)


– Drucksachen 15/420, 15/522 –

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte
der Bundesregierung für Ausländerfragen

Bericht über die Lage der Ausländer in der
Bundesrepublik Deutschland

– Drucksache 14/9883 –

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max
Stadler, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung
und Begrenzung der Zuwanderung und zur Re-
gelung des Aufenthalts und der Integration von
Unionsbürgern und Ausländern


(Zuwanderungssteuerungsund Integrationsgesetz)


– Drucksache 15/538 –

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Hans-Michael Goldmann, Dirk






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Wolfgang Thierse
Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Arbeitserlaubnis für ausländische Saison-
arbeitskräfte auf sechs Monate ausweiten

– Drucksache 15/368 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis-
ter Otto Schily das Wort.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1503100100


Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Nach den Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen
hat die Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Frau
Merkel, die gewachsene Verantwortung – –


(Michael Glos [CDU/CSU]: Daraus hätten Sie lernen sollen!)


– Ich kann noch nicht einmal den ersten Satz zu Ende
bringen, da reden Sie schon dazwischen, Herr Glos!
Wenigstens einen halben Satz sollten Sie zur Kenntnis
nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Merkel hat also die gewachsene Verantwortung
der unionsregierten Länder im Bundesrat herausgestellt
und betont, die Union werde mit dem Votum der Wähle-
rinnen und Wähler achtsam und sorgsam umgehen.
Wörtlich haben Sie von einer verantwortungsvollen Poli-
tik gesprochen, die von der Union zu erwarten sei.

Auch aus den unionsregierten Ländern war Entspre-
chendes zu hören. Ministerpräsident Koch hat in diesem
Zusammenhang gesagt, er wolle Kontrolle ausüben statt
Blockade betreiben. Ministerpräsident Stoiber hat kon-
struktive Verbesserungsvorschläge zu den Gesetzesvor-
lagen der Bundesregierung angekündigt.

Alles dies schien auf eine konstruktive Haltung der
CDU/CSU-Opposition schließen zu lassen, die dem
Thema auch angemessen ist. Denn bei allem politischen
Streit um die richtigen Konzepte dürfen wir eines nicht
aus den Augen verlieren: Die Neugestaltung der Zuwan-
derung ist eine Forderung im besonderen, herausgehobe-
nen Interesse unseres Landes und von hoher Bedeutung
für den inneren Frieden und die Zukunft unseres Landes.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nun haben wir aber im Bundesrat, der sich im Rah-
men einer Stellungnahme zunächst mit dem Regierungs-
entwurf zu befassen hatte, gerade erfahren müssen, dass

es nicht weit her ist mit der angeblich verantwortungs-
vollen Politik. Denn das, was wir dort erleben mussten,
war doch genau das Gegenteil dessen, was von Ihnen an-
gekündigt worden ist. Von Bayern wurde beispielsweise
im Wirtschaftsausschuss des Bundesrates ein Antrag
vorgelegt, in dem in aller Bräsigkeit verlangt wurde, den
Gesetzentwurf insgesamt abzulehnen. Auch wenn der
Antrag dort keine Mehrheit gefunden hat, ist doch zu
fragen, was damit bezweckt werden sollte.


(Franz Müntefering [SPD]: Wohl wahr!)


Das kann doch wohl keine verantwortungsvolle Politik
gewesen sein.

Im Innenausschuss des Bundesrates hat die Bayeri-
sche Staatsregierung Änderungsanträge in einem Um-
fang von rund 150 Seiten vorgelegt. Garniert wurde das
Ganze mit plumpen „Grün raus, Schwarz rein“-Forde-
rungen meines Kollegen Günther Beckstein. Wenn nun
kein einziger – das ist zu beachten – dieser verschärfen-
den Änderungsanträge in die Stellungnahme des Bundes-
rates aufgenommen wurde – beachten Sie das bitte! –, so
ist dies leider nicht auf Ihre bessere Einsicht zurückzu-
führen, sondern allein auf die FDP – da will ich die Leis-
tung der FDP anerkennen; ein Teil der Opposition in Ge-
stalt der FDP nimmt ihre Verantwortung wahr –, die das
verhindert hat. Hätten die unionsregierten Länder diese
Anträge zur Abstimmung kommen lassen, so hätten sie
eine deutliche Abstimmungsniederlage erlitten. Das wis-
sen Sie doch. Deshalb haben Sie diese erst gar nicht zur
Abstimmung gestellt.

Anstatt dies nun zum Anlass zu nehmen, sich an dem
Gesetzgebungsverfahren wieder sachorientiert zu betei-
ligen, hat der Kollege Bosbach gleich am 15. Februar
dieses Jahres gegenüber der Nachrichtenagentur ddp an-
gekündigt, seine Fraktion werde sämtliche Änderungs-
anträge des Bundesrates in die parlamentarischen Bera-
tungen des Bundestags wieder einbringen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Bosbach ist ein guter Mann!)


Sieht man sich diese Änderungsanträge genauer an, so
ist festzustellen, dass es sich nahezu ausnahmslos um
Anträge handelt, die bereits Gegenstand der Beratungen
im vorausgegangenen Gesetzgebungsverfahren waren.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das ist doch das gleiche Gesetz!)


Unter diesen Anträgen befinden sich auch solche, die
seinerzeit nicht einmal im Plenum des Bundesrates eine
Mehrheit gefunden hatten, sowie solche, die im Laufe
des früheren Gesetzgebungsverfahrens bereits in den
jetzt vorliegenden Gesetzentwurf eingearbeitet worden
sind.

Herr Bosbach, mit dieser Flut von Änderungsanträgen
wird ein Änderungsbedarf suggeriert, der in Wirklichkeit
überhaupt nicht besteht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie zeigen sich entrüstet darüber, dass wir den Gesetz-
entwurf inhaltlich unverändert erneut eingebracht haben,






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Otto Schily
und versuchen den Anschein zu erwecken, als ob sich
die Bundesregierung überhaupt nicht bewegt habe, er-
wähnen aber nicht, dass wir der Union bereits in vielen
Punkten weit entgegengekommen sind.


(Rüdiger Veit [SPD]: Zu weit!)


– Zu weit sind wir nicht entgegengekommen. Das
stimmt nun wieder nicht, Rüdiger Veit.


(Heiterkeit bei der SPD)


Der aktuelle Gesetzentwurf ist aber bereits ein Kompro-
miss – auch mit Rüdiger Veit; denn wir haben schon im
ersten Gesetzgebungsverfahren zahlreiche Änderungen
vorgenommen, mit denen wir – ich wiederhole – den
Vorstellungen der Opposition weit entgegengekommen
sind.

Von der Bayerischen Staatsregierung ist jedoch noch
eine Reihe neuer Änderungsanträge formuliert worden,
die das Staatsangehörigkeitsrecht betreffen und darauf
abzielen, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts aus
dem Jahre 1999, die europaweit als historischer Schritt
gelobt und anerkannt wird, rückgängig zu machen. Das
werden wir nicht mitmachen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Haltung hat mit dem Zuwanderungsgesetz wahr-
haft nichts zu tun. Die Diskussion über das Staatsbürger-
schaftsrecht ist im Jahr 1999 geführt und abgeschlossen
und dann ist – ich betone – mit breiter Mehrheit ent-
schieden worden. Jetzt versuchen Sie, die Verhandlungs-
masse – taktisch ist das vielleicht günstig – zu vergrö-
ßern, um die Konsensfindung zu erschweren oder gar
unmöglich zu machen.


(Hans-Peter Kemper [SPD]: So sind sie!)


Das kann ja wohl keine verantwortungsvolle Politik
sein. Man kann sich angesichts dessen des Eindrucks
kaum erwehren, dass zumindest ein Teil der Union zwar
nach außen hin von Verantwortung spricht, in Wirklich-
keit aber Blockade meint.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In dieses Bild passen auch die Überlegungen, die der
bayerische Innenminister Beckstein am 6. Februar dieses
Jahres gegenüber der „Rheinischen Post“ geäußert hat.
Er hat dabei angekündigt, dass CDU und CSU ihr bishe-
riges Kompromissangebot aus den gescheiterten Ver-
handlungen vor einem Jahr zurückziehen werden. Die
Bundesregierung und die rot-grüne Koalition müssten
der Union weiter entgegenkommen, als es noch im ver-
gangenen Jahr erwartet worden sei. Das heißt doch im
Klartext nichts anderes als Sie wollen partout keinen
Kompromiss. Das ist die Realität.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe bereits im Bundesrat dargelegt, dass wir im
Streit um das Zuwanderungsgesetz nur dann einen Kom-
promiss erreichen können, wenn sich in diesem Kom-
promiss alle politischen Kräfte, die hier vertreten sind,
wiederfinden können. In diesem Kompromiss müssen

also auch die Position der Grünen und die Position der
FDP ausreichend Berücksichtigung finden. Sie glauben
doch wohl nicht, dass wir hier nur ein irgendwie
„schwarz angemaltes“ Gesetz zustande bringen können.
Das kann nicht gehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Noch nicht einmal das! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die kriegen ja gar keines zustande!)


Glauben Sie mir: Auf eine Taktik, die jenseits von Sach-
argumenten versucht, die Koalitionspartner gegeneinan-
der auszuspielen,


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist nicht mehr nötig!)


werden wir nicht hereinfallen. Ich frage Sie daher, was
die Union anstrebt: verantwortungsvolle Politik oder
Blockade? Sie müssen sich zwischen diesen beiden Al-
ternativen entscheiden.

Es hat ohnehin den Anschein, dass Sie von der Union
sich über das, was Sie eigentlich wollen, gar nicht so
recht einig sind, weil Sie sich nicht mit der Sache ausei-
nander setzen, sondern nur krampfhaft Vorwände für
Ihre Verweigerungshaltung suchen. Auch daher wider-
sprechen Sie sich ständig gegenseitig.

Ich kann dafür einige Beispiele nennen. Ministerprä-
sident Stoiber hat in einem „Stern“-Interview vom
20. Februar 2003 geäußert, dass er nur eine kleine Lö-
sung mit einem Kompromiss über praktische Verbesse-
rungen bei der Integration, beim Nachzugsalter von Kin-
dern und beim wissenschaftlichen Austausch für
möglich hält. Eine umfassende Regelung komme erst
dann in Betracht, wenn die Union wieder Regierungsver-
antwortung trage. Da können Sie lange warten!


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Für Ministerpräsident Müller hingegen, so war am
24. Februar 2003 in der „Welt“ zu lesen, ist schwer vor-
stellbar – hören Sie bitte zu! –, dass es Teilkompro-
misse, etwa über das Nachzugsalter oder über die Zu-
wanderung in den Arbeitsmarkt, gebe und die übrigen
Bereiche ungeregelt im Streit verblieben.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört!)


Stoiber also auf der einen Seite, Müller auf der anderen.

Demgegenüber hat Herr Bosbach nach einer Presse-
meldung der „Stuttgarter Zeitung“ vom 28. Februar 2003
angekündigt, dass die Union einen eigenen Entwurf für
ein Integrationsgesetz vorlegen werde, falls die Regie-
rung dies nicht tun werde, da sie die Differenzen in der
Zuwanderungsfrage nicht für überwindbar halte. Also ist
auch er nur für eine kleine Lösung. Dazu hatte Minister-
präsident Müller in der „Welt“ bereits festgestellt: Auch
eine von der Zuwanderung losgelöste Einigung über ein
eigenständiges Integrationsgesetz sei nicht die beste Lö-
sung; Zuwanderung und Integration gehörten zusammen.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Otto Schily
Dem kann ich nur zustimmen. Wir sind doch einver-
nehmlich der Meinung, dass die Zuwanderung nach
Deutschland derzeit weitgehend ungesteuert verläuft und
dass wir eine qualitative Änderung benötigen. Ohne
Neugestaltung des Zuwanderungsrechts bliebe es beim
gegenwärtigen Rechtszustand und in bestimmten Berei-
chen bei einer Zuwanderung, die wir in dieser Form und
Qualität nicht wollen. Würden wir tatsächlich nur ein In-
tegrationsgesetz verabschieden, hätte dies zur Folge,
dass letztlich auch diejenigen an den mit hohem finanzi-
ellen Aufwand getragenen Integrationsmaßnahmen
partizipieren würden, deren Zuzug nach Deutschland wir
eigentlich unterbinden wollen. Ohne Umsteuerung
bliebe es außerdem bei dem unvermittelten Zuzug in die
Sozialsysteme, der doch gerade von Ihnen ständig be-
klagt wird. Sie beklagen einen Zustand, wollen ihn aber
nicht verändern. Das ist die Realität, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Darauf hat dankenswerterweise auch die Frau Kolle-
gin Werwigk-Hertneck hingewiesen. Sie hat in diesem
Zusammenhang deutlich gemacht, dass die Union min-
destens eine erhebliche Mitverantwortung für den ge-
genwärtigen Rechtszustand habe.

Wollen wir diese negative Entwicklung künftig ver-
meiden, so müssen wir den Zuzug nach Deutschland
qualitativ verändern und zugleich die Zuwanderer umge-
hend in unsere Gesellschaft integrieren. Deshalb ist der
so oft wiederholte Satz richtig: Zuwanderung und Inte-
gration sind zwei Seiten einer Medaille. Wir müssen das
eine tun und dürfen das andere nicht lassen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Beides ist erforderlich: Es bedarf sowohl einer Neuge-
staltung des Zuwanderungsrechts als auch des Aufbaus
einer umfassenden Integrationsförderung.

Dass der Bedarf nach einer grundlegenden Moderni-
sierung des Zuwanderungsrechts besteht, darüber dürfte
nicht nur unter den Fachleuten uneingeschränkte Einig-
keit bestehen. Das gilt aber auch für die wesentlichen In-
halte einer modernisierten Zuwanderungskonzeption,
wie die eingehende Diskussion der vergangenen zwei
Jahre bewiesen hat. Dies bestätigen in gleicher Weise die
Ergebnisse der Süssmuth-Kommission und der Müller-
Kommission, die von den Parteien vorgelegten Konzepte
und die zahlreichen Äußerungen von der Wirtschaft über
die Gewerkschaften bis hin zu den Kirchen.

Auch Ministerpräsident Müller – um ihn noch einmal
zu zitieren – hat im „Focus“ vom 13. Januar dieses Jah-
res erneut betont, dass wir dringend eine Reform der Zu-
wanderung brauchen. Er hat warnend hinzugefügt: „Eine
Strategie, die Kompromisse ausschließt, ist verantwor-
tungslos.“


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung vor-
gelegt hat, sind – ich will das noch einmal wiederholen –
die Vorstellungen der Union bereits in einem großen

Umfang berücksichtigt. Die Unterschiede in den stritti-
gen Punkten sind daher bei weitem nicht so groß, wie sie
manchmal dargestellt werden. Ich will das an einigen
Punkten illustrieren, die von Ihnen, von der Union, mit
steter Regelmäßigkeit aufgegriffen werden.

Es wird permanent behauptet, dass in § 1 zwar die
Begrifflichkeit der Zuwanderung enthalten sei, diese
aber nicht im gesamten Gesetzentwurf konsequent
durchgehalten werde. Das gelte vor allem für die Zuwan-
derung zum Arbeitsmarkt. Wir haben in dem Gesetzent-
wurf den Zugang für ausländische Arbeitskräfte in syste-
matischer und nicht nur in quantitativer Hinsicht völlig
neu gestaltet, weg von einem sehr komplizierten Verfah-
ren, das uns behindert, hin zu einer marktwirtschaftli-
chen Systematik, die strikt am Bedarf orientiert ist; das
betone ich. Hierzu war es erforderlich, den so genannten
Anwerbestopp in Teilen aufzuheben.

Zu behaupten, dass damit eine Gefährdung des hiesi-
gen Arbeitsmarktes verbunden sei, ist schlicht unwahr –
um nicht eine härtere Formulierung zu verwenden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


An dieser Stelle will ich einen Satz von Frau Rita
Süssmuth zitieren. Sie hat gesagt, sie habe in ihrem gan-
zen politischen Leben noch nie ein so hohes Maß an
Desinformation erlebt, wie es von Ihnen, der Unions-
fraktion, über das Zuwanderungsgesetz verbreitet werde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das schreiben Sie sich einmal hinter die Ohren!


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Erstens ist der so genannte Anwerbestopp bereits im
geltenden Recht durch zahlreiche Ausnahmen aufge-
weicht. Ich empfehle einen Blick in die Anwerbestopp-
ausnahmeverordnung. Das neue System befreit lediglich
davon, diese Verordnung permanent zu ändern, wenn sich
am Arbeitsmarkt veränderte Mangellagen herausbilden.

Zweitens haben wir den Anwerbestopp für nicht oder
nur gering Qualifizierte bewusst aufrechterhalten. Das
ist ein Bereich, dem ein großer Teil unserer inländischen
Arbeitslosen zuzuordnen ist, sodass entsprechende Ar-
beitsplätze grundsätzlich aus dem vorhandenen Arbeits-
kräftepotenzial besetzt werden können.

Drittens ist sichergestellt, dass Zuwanderung in den
deutschen Arbeitsmarkt nur dann – und nur dann – statt-
finden kann, wenn alle vorhandenen Möglichkeiten
ausgenutzt worden sind, die zur Verfügung stehenden
Arbeitsplätze mit denjenigen zu besetzen, die in
Deutschland ohne Arbeit sind.

Ich glaube, Sie haben das inzwischen auch eingesehen;
denn Sie haben die Aufrechterhaltung des Anwerbe-
stopps in Ihrer Göttinger Erklärung vom 11. Januar 2003
nicht mehr erwähnt, sondern formuliert – ich zitiere –:

Zuwanderung kann es nur für Fachkräfte geben, die
am deutschen Arbeitsmarkt nicht in ausreichender
Zahl zur Verfügung stehen.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Otto Schily
Das ist der Inhalt unseres Gesetzes.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben das, was Sie formulieren, bereits in unser Ge-
setz geschrieben.

Nun führen Sie dagegen immer wieder an, dass die
uneingeschränkte Geltung des Vorrangprinzips nicht zu-
treffen, weil es beim Punktesystem auf ein konkretes
Arbeitsplatzangebot gar nicht ankomme. Das stimmt,
weil es sich bei dieser Variante um ein angebotsorientier-
tes Verfahren handelt, das allerdings nur in Kraft treten
kann, wenn Bundesrat und Bundestag zustimmen.

Ich muss Sie aber erinnern: Sie haben das selbst ge-
wollt. Vielleicht ist Ihnen das gar nicht mehr in Erinne-
rung, aber im Beschluss des Bundesausschusses der
CDU Deutschlands, Ihrem so genannten kleinen Partei-
tag, vom 7. Juni 2001, der auf der Grundlage der Ergeb-
nisse der Müller-Kommission gefasst wurde, heißt es:

Der vorhandene Bedarf an Fachkräften wird unter
Beachtung des Vorrangs von Ausbildung und Qua-
lifikation jährlich festgestellt. Dadurch entfällt die
Notwendigkeit einer Subsidiaritätsprüfung im kon-
kreten Einzelfall.

Das ist doch das Punktesystem, das Sie hier beschreiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist nichts anderes als die Festsetzung einer jähr-
lichen Höchstzahl.

Ich zitiere weiter:

Die Auswahl der betreffenden Personen erfolgt so-
dann auf der Basis eines Punktesystems,

– Sie haben gerade protestiert, es sei kein Punktesystem;
hier steht es aber –

das nach Alter, Schulausbildung, Beruf, Sprach-
kenntnissen, Berufserfahrung … differenziert.

Das entspricht auch unserem Punktesystem, das wir im
Gesetz festgelegt haben.


(Franz Müntefering [SPD]: Ihr müsst das lesen! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir haben es vorgeschlagen, wir müssen es nicht lesen!)


Auch andere Einwände, die Sie erheben, sind weit
hergeholt und dienen nur dazu, das Gesetzgebungsver-
fahren zu verhindern. – Ich blicke auf die Uhr und sehe,
dass ich nicht alle Punkte ansprechen kann.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


– So ist es. Wenn Sie mir noch mehr Redezeit geben
wollen, können Sie das gern tun. Sie können diese Zeit
dann von Ihrer Redezeit abziehen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Der Herr Schmidt macht das!)


Wir stehen jetzt vor der Wahl, ob wir es bei dem ge-
genwärtigen Rechtszustand belassen oder nicht. Das ist

die eigentliche Frage. Sie müssen wissen, was Sie tun
und was Sie lassen.


(Beifall des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/ CSU])


Bei allem Streit um das richtige Zuwanderungsgesetz
sollten wir uns immer die Fragen stellen: Was passiert,
wenn wir keinen Konsens erreichen?


(Michael Glos [CDU/CSU]: Was haben Sie dafür getan?)


Ist der Kompromissvorschlag, den wir hier vorlegen,
nicht doch sehr viel besser als der gegenwärtige Rechts-
zustand? Ohne Konsens bliebe alles beim Alten. Ich will
Ihnen sagen, was das hieße: keine Steuerung und Quali-
fizierung der Zuwanderung – das ist der gegenwärtige
Rechtszustand –, keine Begrenzungsmechanismen, kei-
ne Berücksichtigung unserer eigenen wirtschaftlichen
Interessen, unverminderter Zuzug in die Sozialsysteme,
keine Straffung und Beschleunigung der Asylverfahren,
keine Instrumente zur effektiven Durchsetzung der Aus-
reise gegenüber ausreisepflichtigen Personen, keine Ver-
einfachung und Entbürokratisierung des Ausländer-
rechtes, keine Bündelung der Behördenorganisation,
keine Regelungen für Selbstständige in Deutschland,
die Arbeitsplätze schaffen würden, keine Bleibemög-
lichkeiten für qualifizierte und in Deutschland bestens
integrierte ausländische Studienabsolventen, keine För-
derung des Wissenschaftstransfers und des Studien-
standorts Deutschland, ungelöste Integrationsprobleme,
ein Kindernachzugsalter von 16 Jahren usw. All das läge
in Ihrer Verantwortung, wenn der Zustand, den Sie sel-
ber beklagen, so bliebe. Das müssten Sie dann vor den
Wählerinnen und Wählern vertreten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich biete Ihnen nach wie vor einen vernünftigen Kom-
promiss an. Nach meinen bisherigen Erfahrungen bin ich
aber leider nicht sehr zuversichtlich, dass es uns in den
Beratungen des Bundestages gelingt, einen Kompromiss
zu finden. Aber vielleicht ist es Ihnen im stillen Käm-
merlein des Vermittlungsausschusses möglich, Ihre Vor-
behalte zu überwinden und die Vernunft wieder zu ent-
decken, die man in der Politik braucht. In dem Sinne
bleibe ich ein Optimist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503100200


Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang
Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1503100300


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat-
tieren heute über die Wiederauflage eines Gesetzent-
wurfs der Bundesregierung zur völligen Umgestaltung






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Bosbach
des geltenden Ausländerrechts mit dem Ziel, Deutsch-
land zu einem klassischen, zu einem multikulturellen
Einwanderungsland zu machen. Wir wollen keine multi-
kulturelle Gesellschaft. Wir wollen nicht mehr Zuwan-
derung, sondern mehr Integration. Wir wollen gerne der
uns zugewachsenen größeren Verantwortung gerecht
werden. Deshalb lehnen wir das Gesetz ab.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland.
Wir können es aufgrund unserer historischen, geographi-
schen und gesellschaftlichen Gegebenheiten auch nicht
werden. Dabei geht es nicht um die Frage: Zuwanderung
ja oder nein? Diese Frage wäre einigermaßen albern. Wir
hatten in der Vergangenheit Zuwanderung und wir haben
sie zurzeit. Wir hatten nach dem Zweiten Weltkrieg Zu-
wanderung wie kein anderes Land auf dieser Erde. Wir
werden sie auch in Zukunft aufgrund der EU-Freizügig-
keit, der Möglichkeit des Familiennachzugs oder aus hu-
manitären Gründen haben. Es geht darum, ob die mit
diesem Gesetz geplante erhebliche Ausweitung der Zu-
wanderung nach Deutschland dem Interesse unseres
Landes dient. Genau das ist nicht der Fall.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Sie glauben doch selbst nicht, was Sie da erzählen! – Rüdiger Veit [SPD]: Sie reden wider besseres Wissen!)


Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung, sondern
wir haben einen erkennbaren Mangel an Integration.
Deshalb ist nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr In-
tegration das Gebot der Stunde.


(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Wo waren denn Ihre Bemühungen?)


Bei der Zuwanderung gehen Sie zu weit und bei der Inte-
gration bei weitem nicht weit genug.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Regierung weiß genau, dass und warum die
Union dieses Gesetz ablehnt. Wenn Sie es dennoch wort-
wörtlich wieder einbringen, dann ist das der schlagende
Beweis dafür, dass es Ihnen im Gegensatz zu allen öf-
fentlichen Erklärungen nicht um einen Kompromiss mit
der Union, sondern um Konfrontation geht,


(Widerspruch bei der SPD)


weil Sie offensichtlich darauf spekulieren, im Bundesrat
die unionsgeführten Bundesländer auseinander dividie-
ren zu können.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Dieses Bemühen wird ebenso scheitern wie der unappe-
titliche Versuch, mithilfe eines vorsätzlichen, eines
wohlkalkulierten Verfassungsbruchs das Gesetz durch
den Bundesrat zu peitschen.


(Widerspruch bei der SPD)


Das ist auch gut so.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieses Gesetz würde die Zuwanderung nicht besser
steuern, als es derzeit möglich ist. Es gibt nämlich über-
haupt keine Beschränkung. Jeder, der nach geltendem
Recht kommen kann, könnte auch nach dem neuen
Recht kommen. Herr Schily hat von dieser Stelle aus
kein einziges Beispiel dafür genannt, welche Gruppe zu-
künftig nicht mehr oder nicht in dem Umfang, wie es
derzeit möglich ist, kommen kann. Er kann ein solches
Beispiel auch nicht nennen, weil er weiß, dass das, was
er gesagt hat, in weiten Teilen nicht das ist, was im Ge-
setz steht. Das lassen wir ihm nicht durchgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Dieses Gesetz gibt Steuerungsinstrumente auf. Es wird
die Steuerung nicht erleichtern, sondern erschweren.

Das beliebteste Argument für das Gesetz – auch heute
wieder vorgetragen – lautet: Alle gesellschaftlich rele-
vanten Gruppen sind dafür: die Kirchen, die Arbeitge-
ber, der DGB und Frau Süssmuth.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Unanständig!)


Bei dieser Aufzählung fehlt allerdings eine gesellschaft-
lich relevante Gruppe, die für die Union eine große Be-
deutung hat. Das ist die Bevölkerung der Bundesrepu-
blik Deutschland.


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


80 Prozent – –


(Michael Glos [CDU/CSU]: Nicht die Bevölkerung, sondern das deutsche Volk! – Zurufe von der SPD)


– Herr Schily, wäre ich in punkto Zwischenrufe – ge-
nauer gesagt: in punkto Pöbelei – nur halb so empfind-
lich, wie Sie zu Beginn Ihrer Rede waren, dann müsste
ich hier schon längst explodiert sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Weil die Regierung genau weiß, welche Haltung die
Bevölkerung hat


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, das deutsche Volk! – Michael Glos [CDU/CSU]: Warum sprichst du nicht vom deutschen Volk?)


– über 80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht mehr
Zuwanderung –, versucht sie, fälschlicherweise den Ein-
druck zu erwecken, als würde die Zuwanderung durch
dieses Gesetz reduziert.


(Zuruf von der CDU/CSU: Lüge!)


Nur ein Beispiel aus dem berüchtigten Desinformations-
blatt der Bundesregierung:

Weniger Zuwanderung

Das Gesetz wird die Zahl der Zuwanderer deutlich
verringern. Als Zuwanderer werden nur noch Men-
schen kommen, die in Deutschland eine Perspektive
haben und Chancen als qualifizierte Arbeitskräfte
geboten bekommen.






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Bosbach
Das ist die glatte Unwahrheit; das wissen Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Immerhin hat die damalige Staatssekretärin des In-
nenministers, die Kollegin Sonntag-Wolgast, zugegeben,
dass diese Aussage falsch ist; allerdings ist sie jetzt keine
Staatssekretärin mehr.


(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Was?)


– In der Sendung „Münchener Runde“ am 25. März
2002 haben Sie vor dem deutschen Fernsehpublikum ge-
sagt, die Zuwanderung werde sich ausweiten, wenn auch
nicht gravierend. Das ist das Gegenteil dessen, was in
dieser Broschüre steht und wofür der deutsche Steuer-
zahler 2,6 Millionen Euro bezahlen musste.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Erneut soll die Bevölkerung über die gesellschaftli-
chen Folgen eines Gesetzes getäuscht werden – wie
beim Staatsangehörigkeitsrecht auch. Sie haben es ge-
rade selbst erwähnt. Herr Schily, Sie haben in der De-
batte im Mai 1999 gesagt:

Weil Sie das Thema Doppelpass angesprochen ha-
ben: Ich darf Sie bitten – das meine ich sehr ernst –,
zur Kenntnis zu nehmen, dass es mir wahrlich nicht
um die Herbeiführung möglichst vieler doppelter
Staatsbürgerschaften geht. Das ist nicht unser Ziel.
Ich bin sogar der Meinung, dass doppelte Staatsbür-
gerschaften vermieden werden sollten.

Der Kollege Westerwelle – es tut mir Leid, Herr
Westerwelle, dass ich dies hier ansprechen muss; Sie ha-
ben Jürgen Möllemann am Bein und das ist die politi-
sche Höchststrafe für jeden Liberalen –


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


hat in derselben Debatte wortwörtlich gesagt: „Der Dop-
pelpass ist vom Tisch.“ Von wegen vom Tisch! Ihr Ge-
setz zur Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts war
ein Konjunkturprogramm für doppelte Staatsangehörig-
keiten. Vor dem Gesetz wurden etwa 14 Prozent der
Ausländer unter Hinnahme der doppelten Staatsangehö-
rigkeit eingebürgert. Jetzt sind es knapp 50 Prozent. Ge-
nau das Gegenteil dessen, was Herr Schily hier zu den
Folgen des Gesetzes gesagt hat, ist in der Wirklichkeit
eingetreten.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit! Wie halten Sie es denn mit der Wahrheit, Herr Bundesminister?)


Dieselbe Masche wird jetzt bei der Zuwanderung aus-
probiert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In der Gesetzesbegründung – warum haben Sie diesen
Schlüsselsatz hier nicht zitiert, warum steht er nicht in
der Broschüre der Bundesregierung? – heißt es:

Zu den öffentlichen Interessen gehört im Gegensatz
zum geltenden Ausländergesetz nicht länger eine
übergeordnete ausländerpolitische Grundentschei-
dung der Zuwanderungsbegrenzung oder der An-
werbestopp.

Im Klartext: Im Gegensatz zum geltenden Recht soll die
Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland kein
politisches Ziel mehr sein. Sie darf also auch nicht bei
Ermessensentscheidungen von der Verwaltung berück-
sichtigt werden. Außerdem wollen Sie den Anwerbe-
stopp im Gegensatz zu dem, was Sie hier vor zehn Minu-
ten gesagt haben, nicht teilweise, sondern generell
aufheben, womit Sie den deutschen Arbeitsmarkt weit
über das geltende Recht hinaus für ausländische Arbeit-
nehmer öffneten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Falsch!)


Ihre Begründung lautet, wir müssten uns am weltwei-
ten Wettbewerb um die klügsten Köpfe beteiligen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Die gehen inzwischen aus Deutschland weg!)


Natürlich müssen wir dies tun. Wir machten geradezu ei-
nen Fehler, wenn wir uns nicht auch international um
Spitzenkräfte bemühten. Aber darum geht es nur in einer
einzigen Vorschrift des Gesetzes.


(Jörg Tauss [SPD]: Gegen die sind Sie auch!)


– Diese Vorschrift ist im Grundsatz nicht umstritten.

Die Behauptung, der deutsche Arbeitsmarkt sei für
ausländische Arbeitnehmer faktisch verriegelt, ist ange-
sichts der EU-Freizügigkeit sowie der Tatsache, dass wir
im vorvergangenen Jahr 342 000 Arbeitserlaubnisse an
ausländische Arbeitnehmer erteilt haben – 235 000 für
Saisonbeschäftigung und 107 000 für Dauerarbeitsver-
hältnisse –, grober Unfug.

Es gibt ein weiteres populäres Argument: Wir bemü-
hen uns um die Anwerbung von Pflegekräften. Richtig.
Das ist nach geltendem Recht aber ohne weiteres mög-
lich.


(Otto Schily, Bundesminister: Nein, nein!)


Warum erwecken Sie dann den Eindruck, dass das nur
mit dem neuen Recht möglich ist?

Das beste Argument für unsere Haltung in dieser
Frage ist die Erfahrung mit der Greencard-Initiative.
Vor gut drei Jahren gab es hier ein gewaltiges Tamtam
unter großer öffentlicher Anteilnahme. Es hieß, wir
müssten weltweit IT-Spezialisten gewinnen.


(Otto Schily, Bundesminister: Ja, genau! – Zuruf von der CDU/CSU: 100 000!)


Das Ergebnis war: An einem einzigen Tag wurde, je
nach Form der Vertreter der Wirtschaft, ein Bedarf von
40 000, 50 000 oder 100 000 solcher Fachkräfte ange-
meldet. Die Verordnung sieht eine Beschränkung auf
20 000 vor.

Nach mehr als zweieinhalb Jahren hat es lediglich
13 700 Zusicherungen gegeben


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein Erfolg! Freuen Sie sich doch mal!)


und es sind noch nicht einmal 11 000 gekommen. Und,
Herr Tauss, Überraschung: Vier Bundesländer wenden






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Bosbach
diese Rechtsverordnung nicht an; sie haben landesrecht-
liche Regelungen auf der Basis des alten Rechts.
12 Bundesländer wenden die neue Bundes-IT-Verord-
nung an. Mehr IT-Spezialisten sind in die vier Bundes-
länder gegangen, die das alte Recht anwenden, als in die
12 Bundesländer, die das neue Recht anwenden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Von nichts Ahnung, aber wirklich von nichts! – Weitere Zurufe von der SPD: Keine Ahnung! – So ein Blödsinn!)


Das ist ein klarer Beweis dafür, dass es mit dem gelten-
den Recht offensichtlich besser geht, international Spit-
zenkräfte anzuwerben, als mit der Bundes-IT-Verord-
nung.

Sie wollen sicherlich wissen, welche Auswirkungen
die Greencard-Verordnung auf dem deutschen Arbeits-
markt hatte. Dazu zeige ich Ihnen anhand eines Dia-
gramms einmal die Entwicklung der Zahl der inländi-
schen arbeitslosen IT-Fachkräfte. Die Zahl hat sich in
den letzten zweieinhalb Jahren fast verdreifacht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)


Alles das, was Sie in punkto Greencard erzählt haben, ist
nicht eingetreten.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503100400


Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Niebel? – Bitte.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1503100500


Vielen Dank.

Herr Kollege Bosbach, Sie haben gerade angeführt,
was alles nach geltendem Recht schon möglich ist. Unter
anderem haben Sie angeführt, dass auch Pflegekräfte an-
geworben werden können, was Sie als richtig empfin-
den. Ist Ihnen nicht bekannt, dass diese Regelung eine
Übergangsregelung ist, die bis zum In-Kraft-Treten des
Zuwanderungsgesetzes gelten sollte und die am
31. Dezember letzten Jahres ausgelaufen ist? Sind Sie
mit mir der Ansicht, dass man eine Regelung braucht,
um die notwendigen Pflegekräfte nach Deutschland an-
werben zu können?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Alles nicht bekannt?)



Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1503100600


Kein Mensch sagt doch – das gilt im Übrigen, Herr
Niebel, auch für Ihren Antrag betreffend Saisonarbeits-
kräfte –,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nicht ablenken! Sagen Sie nur Ja oder Nein!)


dass das geltende Recht optimal ist. Kein Mensch sagt,
dass wir keine Korrekturen vornehmen müssen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sagen Sie doch mal Ja oder Nein!)


Das gilt beispielsweise in dem von Ihnen genannten Be-
reich oder auch beim Thema Saisonarbeitskräfte. Warum
keine großzügigeren, flexibleren Regelungen? Dagegen
spricht nichts. Wir wenden uns gegen die generelle Auf-
hebung des Anwerbestopps für Arbeitskräfte aus Nicht-
EU-Ländern.


(Lothar Mark [SPD]: Er hat eine Frage gestellt, die man mit Ja oder Nein beantworten kann!)


Das hat mit dem von Ihnen angesprochenen Thema
nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich bin selten mit Herrn Niebel einer Meinung, aber was er gerade gesagt hat, ist richtig!)


Wenn in Deutschland tatsächlich Fachkräfte fehlen,
dann ist das eine Herausforderung für die Bildungspoli-
tik, für die berufliche Qualifizierung, für den Hochschul-
standort Deutschland und nicht eine Entwicklung, die
mit mehr Zuwanderung beantwortet werden kann. Diese
Probleme können wir nicht mit dem Ausländerrecht lö-
sen, sondern nur mit einer besseren Bildung und Ausbil-
dung unserer Kinder und der jungen Generation.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Anwerbestopp wurde 1973 von Willy Brandt
– er war Sozialdemokrat – bei einer Arbeitslosenquote
von 1,2 Prozent und einer Ausländerarbeitslosenquote
von 0,8 Prozent erlassen. Jetzt will die gleiche SPD bei
einer Arbeitslosenquote von 11 Prozent und einer Aus-
länderarbeitslosenquote von 21 Prozent diesen Anwer-
bestopp aufheben. Das ist nicht nur unverantwortlich,
sondern paradox. Das werden wir nicht mitmachen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Anteil der ausländischen Arbeitslosen ist doppelt
so hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Der Anteil
der ausländischen Sozialhilfeempfänger ist dreimal so
hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Die Zahl der
ausländischen Arbeitslosen hat sich in den letzten zehn
Jahren glatt verdoppelt. Sie beträgt heute 580 000.
Glaubt denn irgendjemand ernsthaft, dass wir diese Pro-
bleme mit der Aufhebung des Anwerbestopps oder mit
mehr Zuwanderung lösen könnten? So werden wir die
Probleme verschärfen und nicht lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Solange wir auf dem Arbeitsmarkt eine derart drama-
tische Situation haben, in der selbst eine hervorragende
Schulausbildung und eine hervorragende berufliche
Ausbildung sowie Weiterbildung nicht vor Arbeitslosig-
keit schützen, muss die Weiterqualifizierung und Ver-
mittlung von inländischen Arbeitslosen Vorrang haben
vor einer weiteren Zuwanderung auf den deutschen Ar-
beitsmarkt.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie bauen ja einen Popanz auf! Unglaublich!)







(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Bosbach
Natürlich ist es für die Unternehmen ein Problem,
wenn sie trotz Massenarbeitslosigkeit freie Stellen nicht
besetzen können. Das ist aber eine Herausforderung für
die Sozialpolitik, für die Arbeitsmarktpolitik. Es muss
wieder gelten, dass derjenige, der den ganzen Monat hart
gearbeitet hat, mehr in der Tasche hat als derjenige, der
Sozialleistungen bezieht. Wir müssen die Anreize erhö-
hen, aus den sozialen Sicherungssystemen heraus- und
in eine Beschäftigung hineinzugehen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das machen wir doch!)


Das alles hat mit dem Thema „Ausländerrecht und Zu-
wanderung“ nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch die demographischen Probleme in unserem
Land werden wir nicht durch eine höhere Zuwanderung
lösen. Es ist ja richtig: Wir haben eine im internationalen
Vergleich sehr niedrige Geburtenrate. Wir ersetzen die
Elterngeneration nur zu zwei Drittel. Möglicherweise
unterschätzen wir die damit verbundenen Probleme
mehr, als dass wir sie überschätzen. Aber das ist für uns,
für die CDU/CSU, keine Herausforderung für die Aus-
länderpolitik. Vielmehr müssen wir wieder ein konse-
quent kinderfreundliches Land werden und eine bessere
Familienpolitik machen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Deshalb das höhere Nachzugsalter!)


Jetzt sage ich etwas, von dem ich weiß, dass manch
einer den Kopf schütteln oder denken wird, das sei poli-
tisch nicht korrekt. Meine feste Überzeugung ist aber
nun einmal: Mich würde es beim Thema Bevölkerungs-
politik bzw. Familienpolitik freuen, wenn wir im Deut-
schen Bundestag mit der gleichen Leidenschaft, mit der
wir über Ausländerpolitik sprechen, auch einmal darüber
reden, wie wir in Deutschland ungeborenes Leben besser
schützen können. Auch das wäre einmal eine Debatte
wert.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unfassbar, was hier alles vermischt wird!)


Herr Schily hat vorhin die „Zuwanderung aus demo-
graphischen Gründen“ und in diesem Zusammenhang
§ 20 des Gesetzentwurfes angesprochen. Er hat gesagt,
auch wir von der CDU/CSU würden ein Punktesystem
vorsehen. Dabei haben Sie den wesentlichsten Unter-
schied unterschlagen.


(Lothar Mark [SPD]: Alles Ideologie!)


Wir sehen zwei Säulen vor: die Zuwanderung von
Höchstqualifizierten und die von Fachkräften aufgrund
eines nationalen Arbeitsmarktbedürfnisses – und nicht,
wie Sie es regeln wollen, aufgrund eines regionalen Ar-
beitsmarktbedürfnisses, das über 91 Arbeitsämter zu dia-
gnostizieren ist – mithilfe eines Punktesystems. Sie se-
hen drei Gruppen vor: Höchstqualifizierte, übrige
Arbeitnehmer und ein Punktesystem aus demographi-
schen Gründen, von dem Sie selber sagen: Wir wollen
diese Vorschrift in den nächsten Jahren gar nicht anwen-

den. Wenn das so ist, dann können wir § 20 ersatzlos
streichen. Wenn Sie dennoch an dieser Vorschrift fest-
halten, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir Ihnen
Ihre politischen Absichten nicht glauben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist noch gar nicht lange her, da haben Sie, Herr
Schily, in einem Interview mit der „Süddeutschen Zei-
tung“ auf die Frage, ob man, da die Wirtschaft sage, sie
brauche internationale Arbeitskräfte, Fachkräfte und
Spitzenkräfte, nicht das geltende Recht ändern müsse,
wortwörtlich gesagt:

Wenn mir Siemens sagt, wir brauchen soundso
viele, bin ich sofort bereit. Da brauchen wir kein
Zuwanderungsgesetz, das geht schon mit dem gel-
tenden Ausländergesetz.

Heute behaupten Sie genau das Gegenteil.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Weil durch dieses Gesetz im Bereich der humanitären
Zuwanderung die Ausweitung der Zuwanderung nach
Deutschland vorprogrammiert wird, entsteht ein Gegen-
satz zu dem, was Sie selber einmal zur humanitären
Zuwanderung gesagt haben, nämlich dass es in
Deutschland keine Schutzlücken gibt. Das haben Sie
über eine lange Zeit gesagt; Sie bestätigen es hier wieder.
Wenn es aber keine Schutzlücken gibt, dann gibt es auch
nicht die gesetzgeberische Notwendigkeit, solche zu
schließen. Selbstverständlich müssen wir und wollen wir
unseren humanitären Verpflichtungen nachkommen; das
ist doch völlig unstrittig. Wenn das Leben und die Frei-
heit eines Flüchtlings konkret bedroht sind, dann genießt
er in Deutschland Schutz. Das ist so und das wird auch
in Zukunft so bleiben. Wir wollen aber nicht über die
eindeutigen Regelungen der Genfer Flüchtlingskonven-
tion hinausgehen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Wir auch nicht! Sie wissen das!)


Weil das, was Sie zur nicht staatlichen Verfolgung ge-
sagt haben, zutrifft, können Sie nicht mit unserer Zu-
stimmung rechnen. Ich zitiere den Innenminister in ei-
nem Interview mit dem „Tagesspiegel“: „Wenn man aber
generell auch nicht staatliche Verfolgung als Asylgrund
anerkennen will, gäbe es praktisch keine Begrenzung
mehr.“ Weil es genau so ist, Herr Schily, können Sie von
uns nicht erwarten, dass wir diesem Gesetzentwurf zu-
stimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Außerdem ist es falsch, dass es im Grundsatz – von
einer Ausnahme abgesehen – dabei bleiben soll, dass
Asylbewerber nach bloßem Zeitablauf von drei Jahren
nicht mehr nur die abgesenkten Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz, sondern die volle Sozial-
hilfe bekommen. Das wollen Sie in einem kleinen Teil-
bereich ändern, im Übrigen bleibt es bei dieser Rege-
lung. Angesichts einer Anerkennungsquote von zurzeit
unter 2 Prozent müssen wir jeden Anreiz nehmen, unter
Berufung auf das Asylrecht, in Wahrheit aber aus asyl-
fremden Gründen nach Deutschland zu kommen. Herr






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Bosbach
Schily, ändern Sie das, dann werden wir dem gerne zu-
stimmen!


(Rüdiger Veit [SPD]: Sagen Sie den Bundesländern, dass die Verfahren abgekürzt werden müssen!)


Wir müssen zurück zum alten Recht. Kein politischer
Flüchtling, dessen Leib und Leben im Heimatland be-
droht wird und der hier in Deutschland Schutz sucht,
wird sich ernsthaft darüber beklagen, dass er nur für die
Zeit des Anerkennungsverfahrens abgesenkte Leistun-
gen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und nicht
die volle Sozialhilfe bekommt. Sie geben bereits nach
drei Jahren die volle Sozialhilfe. Das ist ein kapitaler
Fehler; denn wer als Asylbewerber anerkannt wird, un-
terliegt ohnehin nicht mehr den Regelungen des Asylbe-
werberleistungsgesetzes.


(Rüdiger Veit [SPD]: Eben! Deswegen müssen die Verfahren kürzer werden!)


Es darf keine wirtschaftlichen Anreize geben, um unter
Berufung auf das Asylrecht nach Deutschland zu kom-
men.

Unser eigentliches Problem ist nicht das Asylrecht
selber, sondern der vielfältige Missbrauch der Inan-
spruchnahme des Asylrechts. Das wollen wir ändern.
Das wird aber mit Ihrem Gesetzentwurf nicht geändert.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Wer hat denn das Asylbewerberleistungsgesetz verabschiedet?)


Nun zu dem Kapitel Integration: Sie bleiben weit hinter
dem zurück, was in punkto Integration notwendig wäre.


(Jörg Tauss [SPD]: Ach du liebe Zeit!)


Ihr Verhalten ist getragen von dem Bemühen, Kosten
vom Bund auf die Länder und Gemeinden abzuwälzen.
Natürlich findet Integration immer im richtigen Leben,
also vor Ort in den Städten und Gemeinden statt. Wenn
der Bund Rechtsansprüche gewährt, muss er auch die
Kosten tragen. Wir werden es nicht zulassen, dass die
Kosten auf die Städte und Gemeinden abgewälzt wer-
den, die dank Rot-Grün ohnehin auf dem letzten Loch
pfeifen. Eine solche Politik machen wir nicht mit.

Wir müssen mehr für die nachholende Integration tun.
Wir brauchen wirksame Sanktionen für diejenigen, die
sich rechtsgrundlos weigern, trotz Rechtspflicht an ei-
nem solchen Integrationskurs teilzunehmen. Wenn wir
darauf verzichten, setzen wir das falsche Signal, nämlich
dass uns Integration offensichtlich doch nicht so viel
wert ist, wie ständig behauptet wird.


(Jörg Tauss [SPD]: Wie bei euch!)


Tun Sie weniger für Zuwanderung und mehr für Integra-
tion! Dann haben Sie uns an Ihrer Seite.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herr Schily, Sie haben uns aufgerufen, einem Kom-
promiss zuzustimmen, und haben gleichzeitig gesagt,
Sie seien zu Änderungen an diesem Gesetzentwurf be-
reit, sofern die Substanz nicht geändert werde. Im Klar-

text heißt das: Änderungen ja, wenn sich nichts ändert.
Dann können Sie doch nicht ernsthaft erwarten, dass wir
diesem Gesetzentwurf zustimmen.

Herr Kollege Beck, Sie haben in einem Interview ge-
sagt: „Wir verkaufen unsere Seele nicht.“ Soll ich Ihnen
etwas sagen? – Wir verkaufen unsere Seele auch nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Ihr habt doch gar keine! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben doch gar keine!)


Wir werden keinem Gesetzentwurf zustimmen, der
den Interessen des Landes nicht dient, weder heute noch
morgen.

Danke fürs Zuhören.


(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503100700


Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Seelenverkäufer!)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503100800


Lieber Herr Bosbach,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Keine Liebeserklärungen!)


über die Frage des Abtreibungsverbots gerade in der
Einwanderungsdebatte bevölkerungspolitisch zu disku-
tieren, das ist für mich nun wirklich völlig daneben.


(Lothar Mark [SPD]: Nicht nur das, alles, was er gesagt hat!)


Ich glaube, das sollten wir lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deutschland hat heute 82 Millionen Einwohner; ohne
Zuwanderung, so das Institut für Bevölkerungsfor-
schung, wären es gerade 55 Millionen. Diese Zahlen zei-
gen: Deutschland ist ein Einwanderungsland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht nicht um die Anerkennung oder Leugnung ei-
nes Tatbestandes, es geht um seine Gestaltung. Moderne,
innovative Gesellschaften, die im internationalen Wett-
bewerb bestehen wollen, müssen atmen. Der Austausch
mit dem Ausland durch Spracherwerb und Wissenstrans-
fer, aber eben auch durch Zu- und Abwanderung ist für
sie essenziell. Wer Abschottung betreibt, ist daher ein In-
novationshemmnis und schädigt die Zukunftsfähigkeit
unseres Landes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bei dieser Diskussion geht es auch um Mythen und
um Realität. Der Mythos ist der Anwerbestopp mit der
Begründung: Wir brauchen keine Zuwanderung, wir






(A) (C)



(B) (D)


Volker Beck (Köln)

haben ja so viele Arbeitslose; deshalb ist das keine Frage,
die man lösen muss. Die Realität ist die Anwerbestopp-
ausnahmeverordnung. Wir haben IT-Fachleute angewor-
ben und es sind weniger gekommen – das ist richtig –, als
wir zugelassen haben. Offensichtlich ist der Druck, nach
Deutschland zu kommen, gar nicht so groß und offen-
sichtlich sind die Regelungen, die wir auf der Grundlage
des bestehenden Rechts schaffen können, nicht hinrei-
chend attraktiv im Wettbewerb um die High Potentials
auf dem internationalen Arbeitsmarkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Die wissen gar nicht, was das ist!)


VDI-Präsident Christ hat vorgestern auf der CeBIT
gesagt: Es gibt einen jährlichen Mangel von 20 000 In-
genieuren. Wir müssen versuchen, diesen Mangel durch
eine bessere Bildungspolitik zu beheben. Aber das wer-
den wir nicht allein mit dieser Maßnahme schaffen. Wir
brauchen auch mehr Flexibilität im Zuwanderungsrecht.

Bayern und Hessen – Herr Bosbach hat es angespro-
chen – werben trotz der jetzigen Situation auf dem Ar-
beitsmarkt Pflegepersonal für die häusliche Pflege an.
Offensichtlich kommen sie an Ihrer eigenen Ideologie
nicht vorbei und müssen letztendlich da, wo Sie regie-
ren, die Realitäten auch anerkennen.

Was soll dieser Popanz mit dem Anwerbestopp? Hier
hat der Innenminister ja offensichtlich den absoluten
Sündenfall begangen. Mir liegt ein Antrag aus den Aus-
schussberatungen im Saarland vor, in dem steht: Erset-
zung des Anwerbestopps durch ein den Bedürfnissen des
deutschen Arbeitsmarkts gerecht werdendes Steuerungs-
system bei striktem Vorrang der Vermittlung deutscher
und bevorrechtigter ausländischer Arbeitssuchender.


(Jörg Tauss [SPD]: Wer regiert denn im Saarland?)


Das ist genau das, was wir im Zuwanderungsgesetz for-
muliert haben. Das ist das, was Herr Müller will, und Sie
machen hier so einen Zinnober!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Bauernfängerei!)


Kommen Sie zur Sachlage zurück.

Ein anderer Mythos: Wir bürden Flüchtlingen, denen
in ihrer Heimat Steinigung oder andere unmenschliche
Behandlung droht, auf, bei uns nur geduldet zu werden.
Das heißt zu Deutsch: Ihre Abschiebung wird vorüberge-
hend ausgesetzt. Monat für Monat Kettenduldung, oft
über Jahre hinweg. Die Realität ist: Die Menschen blei-
ben über Jahre hier, aber wir geben ihnen keine Chance,
hier ein neues Leben zu beginnen, eine Existenz zu grün-
den, für ihre Kinder eine Zukunft aufzubauen. Wir zwin-
gen sie dazu, der öffentlichen Hand auf der Tasche zu lie-
gen. Das ist einfach eine verrückte Politik. Mit dieser Art
von Realitätsverweigerung macht das Zuwanderungsge-
setz Schluss und deshalb brauchen wir es ganz dringend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir steuern mit diesem Gesetz erstmals die Zuwande-
rung nach den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmark-
tes und sorgen dafür, dass die Leute, die wir brauchen,
auch zu uns kommen können und attraktive Rahmenbe-
dingungen vorfinden. Für die Flüchtlinge, die auf Dauer
hier bleiben, eröffnen wir die entsprechenden Perspek-
tiven. Wer nicht von sich aus sieht, dass dies notwendig
ist, sollte einmal im Bericht der Ausländerbeauftragten
nachlesen. Ihr spreche ich im Namen meiner Fraktion,
der Koalition und – ich glaube, ich kann das auch für Sie
sagen – des gesamten Hauses für ihre engagierte Arbeit
meinen herzlichen Dank aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, kom-
men Sie endlich aus der Schmollecke heraus. Geben Sie
Ihre Verweigerungshaltung auf! Herr Stoiber hat in sei-
nem „Stern“-Interview gesagt, er wolle überhaupt keine
Einigung. Herr Bosbach hat schon im Dezember verkün-
det, er könne sich ein Gesetz, das von Schwarz-Rot und
Rot-Grün gleichermaßen getragen werde, nicht vorstel-
len. Herr Beckstein hat heute über die Ticker verkünden
lassen, keine Einigung sei auch kein Unglück. Die Union
ist bei der Zuwanderungsfrage gesellschaftspolitisch und
parteipolitisch völlig isoliert. Es gibt keine relevante ge-
sellschaftliche Gruppe, keine andere Partei, die in dieser
Frage an Ihrer Seite steht und die 137 Änderungsanträge
aus dem Bundesrat unterstützt. Deshalb belassen Sie es
bei diesen Anträgen bei einer Beratung, bringen Sie ver-
handlungsfähige Positionen ein und öffnen Sie sich für
die Debatte!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Arbeitgeber und Gewerkschaften, Kirchen und Men-
schenrechtsorganisationen unterstützen den Kompromiss-
entwurf, den die Bundesregierung heute erneut vorgelegt
hat. Herr Reimers von der Evangelischen Kirche in
Deutschland hat gestern gesagt – ich zitiere –:

Das Zuwanderungsgesetz in seinem vorliegenden
Entwurf darf aus Sicht der EKD nicht weiter abge-
schwächt werden.

Die Kirchen, so Reimers weiter, sähen daher keinen An-
lass, ihre Position zu relativieren. Wenn das Gesetz ver-
wässert werde, könne man gleich bei den bestehenden
Regelungen bleiben. Schreiben Sie sich das hinter die
Ohren! Sie führen doch das „C“ in Ihrem Parteinamen.
Deshalb sollten Sie in dieser Debatte ein wenig auf die
Stimme der Kirchen hören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Oder hören Sie sich an, was der BDI in seinem Papier
„Innovationspolitik in der 15. Legislaturperiode“ zu die-
sem Thema sagt:

Engpässe auf dem Arbeitsmarkt müssen auch
durch Zuwanderung ausgeglichen werden können.
Deutschland muss die Zuwanderung aus dem Aus-
land am Bedarf der eigenen Wirtschaft und Gesell-
schaft ausrichten. Das heißt, die Auswahl der






(A) (C)



(B) (D)


Volker Beck (Köln)

Zuwanderer muss bedarfsgerecht nach Qualifika-
tion, Berufserfahrung, Alter, Familienstand und In-
tegrationsfähigkeit erfolgen. ... Im globalen Wett-
bewerb um die besten Köpfe hat Deutschland nur
eine Chance, wenn es für Zuwanderer attraktiv ist
und sich ausländerfreundlich und integrationsbe-
reit zeigt.

Das liest sich doch wie die Begründung zu unserem
Gesetzentwurf. Deshalb fordere ich Sie auf: Öffnen Sie
sich in dieser Frage. Gehen Sie mit uns in die Beratun-
gen und in die Verhandlungen. Lassen Sie uns eine sach-
liche Debatte führen und zum Wohle unseres Landes ei-
nen Kompromiss herbeiführen!

Wir sind dazu bereit. Kompromisse bedeuten immer,
dass jeder auf den anderen zugehen muss und bereit sein
muss, in den Verhandlungen seine Position etwas zu än-
dern. Wir sind aber nicht dazu bereit, unsere Seele zu
verkaufen; das hat Herr Bosbach richtig wiedergegeben.
Das verlangt auch von Ihnen niemand. Wenn wir es im
Innenausschuss schaffen würden, uns zu einer gemein-
samen Lektüre dieses Gesetzentwurfes zusammenzuset-
zen, dann würden wir, wie ich glaube, feststellen, dass
die Differenzen nicht so groß sind, wie es in den Plenar-
debatten scheint. In Plenardebatten geht es nämlich
meist um Ideologie und Mythen und nicht um die Reali-
tät und den Gesetzestext.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Dann stimmen Sie doch unseren Anträgen zu!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503100900


Ich erteile das Wort der Justizministerin des Landes
Baden-Württemberg, Frau Corinna Werwigk-Hertneck.


(Beifall bei der FDP)



(BadenWürttemberg)


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Die FDP legt heute einen alternativen Entwurf für
ein modernes Zuwanderungssteuerungs- und Integra-
tionsgesetz vor. Es ist wirklich ärgerlich, dass die Bun-
desregierung ihren Gesetzentwurf unverändert einge-
bracht hat. Es ist aber auch wirklich ärgerlich, dass
dieses Gesetz durch 137 Anträge der Union blockiert
werden soll.


(Beifall bei der FDP)


Wir haben einen Vermittlungsvorschlag auf der Basis
des rot-grünen Regierungsentwurfes unter Einbezie-
hung vieler Punkte aus den 137 Änderungsanträgen der
Union vorgelegt.


(Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: In dem Punkt haben Sie Recht!)


Kernpunkte des Gesetzentwurfes sind: mehr Steue-
rung und Begrenzung der Zuwanderung, mehr Integration

und weniger Verwaltungsbürokratie. Dem Ganzen liegt
aber zugrunde, dass wir akzeptieren müssen, dass wir ein
Einwanderungsland sind – sicherlich kein traditionelles,
aber ein faktisches. Das muss die Botschaft sein.


(Beifall bei der FDP)


Es gibt einen breiten Konsens aller gesellschaftlichen
Gruppen, Wirtschaftsverbände, Kirchen und auch der
Parteien darüber, dass wir ein solches Gesetz brauchen.
Wir wollen es nicht abgespaltet wissen; denn Zuwande-
rungspolitik und Integrationspolitik sind zwei Seiten
einer Medaille. Ich möchte den saarländischen Minister-
präsidenten Peter Müller zitieren, der in einem Interview
der „Welt“ am 24. Februar und auch heute in einem Arti-
kel der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt hat: „Zuwande-
rung und Integration gehören zusammen.“


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, ich will nur vier Beispiele
dafür nennen, dass unser heutiges Ausländerrecht nicht
ausreicht:

Erstens. Bis heute gibt es keine gesetzliche Grundlage
für umfassende, zwischen Bund, Ländern und Kommu-
nen abgestimmte Integrationsmaßnahmen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das haben Sie mit zu verantworten!)


Zweitens. Die Regelungen für die Zuwanderung qua-
lifizierter Kräfte sind unzureichend und unübersichtlich.
Es reicht nicht, wenn man Insellösungen fabriziert oder
Löcher in den Anwerbestopp bohrt. Dies hat zur Folge,
dass vor allem Wirtschaftsflüchtlinge und die Ärmsten
der Armen zu uns kommen, obwohl wir eigentlich wol-
len, dass andere Menschen zu uns kommen. Wir sollten
sagen, was wir wollen.


(Beifall bei der FDP)


Drittens. Wir schicken die ausländischen Absolventen
unserer Fachhochschulen und Universitäten nach ihrer
teuren Ausbildung wieder zurück. Andere Länder sind
dankbar, dass sie die in Deutschland ausgebildeten klu-
gen Köpfe bekommen können.


(Beifall bei der FDP – Volker Kauder[CDU/ CSU]: Die anderen Länder brauchen sie zu Hause!)


Viertens. Für humanitäre Härtefälle gibt es immer
noch keine praktikable rechtliche Handhabe. Wir brau-
chen also ein flexibles und gut steuerbares System.

Wir Liberalen – ob in den Landtagsfraktionen oder in
der Bundestagsfraktion – wollen bei diesem wichtigen
Thema vermitteln und die Konsensbildung fördern. Es
bringt uns nicht weiter, wenn immer wieder die gleichen
Argumente gebracht werden. In unserem Vermittlungs-
vorschlag ist dies eingearbeitet. Die Bevölkerung ist es
leid, dass die Argumente jahrelang gegeneinander ausge-
tauscht wurden und es auch bei diesem Punkt, der eigent-
lich sehr nahe liegend ist, wieder keine Reformen gibt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/ CSU]: Weil Rot-Grün sich nicht bewegt!)







(A) (C)



(B) (D)


Ministerin Corinna Werwigk-Hertneck (Baden-Württemberg)

Ich erinnere nur daran, dass – laut einer gestern ver-
öffentlichten Forsa-Umfrage – 67 Prozent der Bevölke-
rung nicht mehr daran glauben, dass wir gute und wirk-
same Reformen hinbekommen. Es ist also ein Gebot,
auch bei diesem Punkt zu zeigen, dass wir es doch schaf-
fen.


(Beifall bei der FDP)


Unser liberaler Vorstoß steuert auf jeden Fall die Zu-
wanderung von ausländischen Fachkräften, wobei Deut-
sche und Deutschen gleichgestellte Arbeitnehmer stets
Vorrang genießen. Es ist Ihnen in der Union ja so wich-
tig, dass geklärt wird, wie bei der EU-Osterweiterung
mit den Arbeitskräften umgegangen wird. Das muss na-
türlich berücksichtigt werden. Dies wollen wir mit einer
Jahreszuwanderungsquote erreichen.

Warum sagen wir nicht selbstbewusst, dass wir ein
Einwanderungsland sind und dass wir im nächsten Jahr
100 000 Menschen und im übernächsten Jahr niemanden
– oder zum Beispiel in fünf Jahren 200 000 Menschen –
zuwandern lassen wollen? Wir können das selbst bestim-
men. Dabei soll angerechnet werden – so stellen wir es
uns vor –, wer im Rahmen des Familiennachzugs und
des Asylnachzugs zu uns kommt. Von daher handelt es
sich bei der Quote um eine Höchstquote. Ich weiß gar
nicht, was die Union noch dagegen haben kann.


(Beifall bei der FDP – Wolfgang Bosbach [CDU/ CSU]: Wie hoch ist die Quote denn?)


Dies ist übrigens ein Weg, der in Österreich, Kanada
und Australien beschritten wird. Herr Koschyk, ich habe
gelesen, Sie hätten gesagt, dass diese Quote zu einer
weiteren qualifikationsunabhängigen Zuwanderung füh-
ren würde. Ich glaube, Sie haben den Vorschlag entwe-
der nicht gelesen oder zu wenig Vertrauen in die Union;
denn die Quote wird – das ist ganz normal – mit Zustim-
mung des Bundestages und des Bundesrates bestimmt.
Sie muss jedes Mal ausdiskutiert werden. Darüber hin-
aus kann sie auch auf null gesetzt werden.


(Beifall bei der FDP)


Als FDP bitten wir Sie deshalb, sich mit diesem Vor-
schlag ernsthaft auseinander zu setzen. Wir haben uns
viel Mühe gegeben und ihn ausdiskutiert, um die ver-
schiedensten Positionen einzuarbeiten. Wichtig ist auch
der Integrationsteil. Wir schlagen die nachholende Inte-
gration vor. Dies ist im Entwurf enthalten. Für jeden
von uns ist es Zeit, sich von inhaltlichen Maximalvor-
stellungen insgesamt zu verabschieden. Es ist wesent-
lich, dass wir einen Konsens finden. Ansonsten schaden
wir den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interes-
sen Deutschlands in der Zukunft.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503101000


Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
gin Cornelie Sonntag-Wolgast, die diese schon während
der Rede des Kollegen Bosbach angemeldet hatte.


Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD):
Rede ID: ID1503101100


Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten
Kollegen und Kolleginnen, der gerade erwähnte Kollege
Bosbach hat mir vorgeworfen,


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Nein, ich habe Sie gelobt!)


ich hätte mich in einer Sendung anders geäußert, als dies
in einem Flugblatt der Bundesregierung zum Ausdruck
komme. Herr Kollege Bosbach, nehmen Sie bitte zur
Kenntnis, dass jedes polemische Herauspicken aus dem
Zusammenhang gerade in der Diskussion um dieses Ge-
setz von Übel ist.


(Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD])


Es ging mir in der Sendung seinerzeit um die Frage,
wer nach einer zielgerichteten und wohlgeplanten migra-
tionspolitischen Konzeption unter bestimmten Umstän-
den, soweit Bedarf ist und niemand sonst aus der EU zur
Verfügung steht, nach Deutschland kommen kann – wie
das die Ministerin eben in ihrer Rede dargestellt hat und
wie auch Sie es vorhin vorsichtig angedeutet haben. Das
kann natürlich auch bedeuten, dass in mehreren Jahren
eine größere Zahl von Zuwanderern nach Deutschland
kommt, als es zurzeit möglich ist.

Auf der anderen Seite – das muss man in diesem Zu-
sammenhang sehen – dämmt das Gesetz ungeordnete
Zuwanderung ein, zum Beispiel durch erhöhte Integrati-
onsanforderungen an verschiedene Gruppen, sowohl
Ausländer als auch Aussiedler. Zudem wird im Gesetz
eine konsequentere Abschiebung derjenigen gefordert,
die bei uns nicht bleiben können und deren Zurückwei-
sung wir aufgrund rechtstaatlicher Prinzipien verantwor-
ten können. Nichts anderes sieht dieses Gesetz vor.
Nichts anderes habe ich in all meinen Äußerungen, ob in
Interviews oder Reden, zu diesem Gesetz gesagt.

Noch eine ernsthafte Bitte, Herr Kollege Bosbach:
Gezielte und bewusste Missdeutung eines Gesetzes, wie
Sie es praktiziert haben und wie es Ihre ehemalige Kolle-
gin mit Recht kritisiert, ist politisch unanständig. Davon
sollten Sie ablassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503101200


Kollege Bosbach, Sie haben Gelegenheit, darauf zu
reagieren.


Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1503101300


Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, ich habe Sie gerade
nicht kritisiert, sondern ich habe Sie dafür gelobt, dass
Sie in der Sendung „Münchner Runde“ am 25. März
2002 richtigerweise darauf hingewiesen haben, dass es
eben nicht zu einer Reduzierung der Zuwanderung nach
Deutschland kommen wird.

Noch einmal: In dem Flugblatt, das so weit von der
Wahrheit entfernt ist, dass es dem deutschen Steuerzahler






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Bosbach
nun wirklich nicht zumutbar ist, für diese Desinforma-
tion 2,6 Millionen Euro zahlen zu müssen, heißt es unter
der Überschrift „Weniger Zuwanderung“:

Das Gesetz wird die Zahl der Zuwanderer deutlich
verringern. Als Zuwanderer werden nur noch Men-
schen kommen, die in Deutschland eine Perspektive
haben und Chancen als qualifizierte Arbeitskräfte
geboten bekommen.

Kein Bürgerkriegsflüchtling, kein Asylbewerber, kein
Kontingentflüchtling und kein De-facto-Flüchtling muss
nachweisen, dass er ein Angebot für einen Arbeitsplatz hat.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Darum geht es doch gar nicht! – Weitere Zurufe von der SPD)


Das alles ist Ihnen bekannt. Durch diese Passage wird
der Bevölkerung der Eindruck vermittelt, als könne es
überhaupt keine Zuwanderung mehr geben, wenn nicht
ein Arbeitsplatz nachgewiesen und der Lebensunterhalt
durch Erwerbseinkommen gesichert ist. Das steht in die-
sem Flugblatt. Dies aber ist falsch. Es ist gut, dass Sie in
der „Münchner Runde“ nicht den Inhalt dieses Flugblat-
tes wiedergegeben, sondern die Wahrheit gesagt haben.

Ich wende mich dagegen, dass bei der Bevölkerung
hinsichtlich der Folgen des Gesetzes ein völlig falscher
Eindruck erweckt wird.


(Monika Heubaum [SPD]: Daran sind Sie doch schuld! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch unanständig, was Sie hier machen!)


Nach dem geltenden Gesetz gibt es überhaupt keine Be-
schränkung. Die einzige Beschränkung, die jetzt vorge-
sehen ist, bezieht sich auf die Spracherfordernisse der
mitreisenden ausländischen Familienangehörigen nach
dem Bundesvertriebenengesetz. Ansonsten – dem haben
Sie gerade nicht widersprochen – bleibt es bei dem, was
ich hier gesagt habe: Jeder, der nach geltendem Recht
nach Deutschland kommen kann, kann dies auch zu-
künftig tun. Darüber hinaus gibt es weitere Zuwande-
rungsmöglichkeiten.

Sie sagen den Kirchen: Wir lassen aus humanitären
Gründen mehr Zuwanderung zu. Sie sagen den Arbeit-
gebern: Wir sorgen dafür, dass mehr ausländische Ar-
beitskräfte angeworben werden können. Sie sagen der
Bevölkerung: All dies führt zu weniger Zuwanderung. –
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503101400


Ich erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin
Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin bei der Bun-
desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend;
Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-
linge und Integration:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine
Debatte über Zuwanderung, die in der Bevölkerung sehr

aufmerksam verfolgt wird und von der wir alle wissen,
dass sie tief an den Emotionen der Menschen rührt, ist
dann ganz schlecht, wenn sich Politik ständig bewusst
missversteht. Ich kann nur noch einmal appellieren, uns zu
bemühen, sachlich zu diskutieren, anstatt in dem hochsen-
siblen Bereich des bewussten Missverstehens zu agieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Bosbach, inwiefern bringt uns eine De-
batte über die Frage, ob Deutschland ein klassisches
Einwanderungsland ist oder nicht, eigentlich weiter?
Welche Folgen hat das für die Realität? Die Realität, mit
der wir uns auseinander zu setzen haben, ist: Seit den
50er-Jahren hat es sehr viel Zuwanderung nach Deutsch-
land gegeben. Es gab auch sehr viel Abwanderung.
Deutschland ist nunmehr ein Land, in dem 7,3 Millionen
Menschen leben, die keinen deutschen Pass besitzen.
Das begründet eine politische Herausforderung und for-
dert politische Gestaltung.

Eben darum geht es beim Zuwanderungsgesetz: ob wir
uns endlich dazu durchringen, anzuerkennen, dass es Ein-
wanderung gegeben hat und es sie auch weiter geben
wird, und ob wir den politischen Gestaltungsaufwand, der
mit der Einwanderung verbunden ist, wirklich annehmen.


(Beifall des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dazu gehört auch die Frage, ob wir Ausländer der zwei-
ten oder dritten Generation, die in Deutschland geboren
wurden und hier leben, weiterhin als Ausländer bezeich-
nen oder als unsere Bürgerinnen und Bürger, ob wir ak-
zeptieren, dass sie zu uns gehören. Dazu gehört auch,
dass wir uns damit auseinander setzen, dass sich das Ge-
sicht einer Gesellschaft durch Einwanderung spürbar
verändert, weil Gesellschaften durch Einwanderung plu-
ralistischer werden.

Jede sechste Ehe, die heute geschlossen wird, ist bina-
tional. Jeder dritte Schüler in den westdeutschen Groß-
städten hat einen Migrationshintergrund. Mehr Deut-
sche als Ausländer heiraten Ehepartner aus dem
Ausland. In 30 Jahren wird jeder zweite Bürger unseres
Landes einen Wanderungshintergrund haben, das heißt,
zum Beispiel eine Großmutter oder einen Großvater, die
aus anderen Ländern, aus anderen Kulturen oder anderen
Religionen kommen. Das ist die eigentliche Herausfor-
derung, vor der wir stehen. Darauf muss sich Politik ein-
stellen. Das tut sie mit dem vorliegenden Gesetz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir kennen die Zahlen über die gewaltige Schieflage
zwischen Bildungserfolgen von Kindern aus Zuwande-
rerfamilien und jenen von Kindern von deutschen Eltern.
Werfen Sie einen Blick in den Bericht über die Lage der
Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland! Für uns
ist das nichts Neues. Aber sind Ausländerkinder deswegen
verantwortlich für das schlechte deutsche Abschneiden bei
der PISA-Studie? Müssen wir nicht vielmehr sagen: Unsere
Schulen sind offensichtlich nicht so ausgestattet, dass sie
nach 40 Jahren Zuwanderung gelernt haben, mit den






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Marieluise Beck
sozialen Folgen von Migration positiv und vernünftig
umzugehen?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sind die Lehrer schuld? Oder wer ist schuld?)


– Von der Schuld der Lehrer war hier überhaupt nicht die
Rede.

Tatsache ist, Schülerinnen und Schüler mit Migra-
tionshintergrund sind Teil der Gesamtschülerschaft. Wir
rechnen die Jungen schließlich auch nicht heraus; dann
sähe das Ergebnis der PISA-Studie nämlich auch schon
deutlich besser aus. Kinder und Jugendliche sind für uns
diejenigen, die wir ausbilden und qualifizieren müssen.
Schüler und Lehrer müssen in die Lage versetzt werden,
mit diesen schwierigen Herausforderungen umzugehen.

In unserer alternden Gesellschaft muss eines klar sein:
In Zukunft brauchen wir jedes Kind und jeden Jugend-
lichen. Deswegen sollten wir uns das Leitmotiv dieser
Debatte in Finnland zu Gemüte führen, welches lautet:
Wir brauchen hier jeden, hoffnungslose Fälle können wir
uns nicht leisten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auf diesen positiven Ausgangspunkt sollten wir uns ver-
ständigen.

Mit der Zuwanderung kamen auch neue Religionen.
3 Millionen Bürger islamischer Herkunft sind nunmehr
deutsche Realität. Wir wissen, dass es immer dann
schwierig wird, wenn diese neue Religion sichtbar wird,
sei es durch den Wunsch, in einer Gemeinde eine Mo-
schee zu bauen, sei es durch das Tragen eines Kopftu-
ches, sei es durch das in der Bevölkerung hoch umstrit-
tene Schächten. Wir wissen, dass solche islamischen
Symbole in der deutschen Bevölkerung oft mit der Ver-
mutung verbunden sind, dass es sich um politischen
Fundamentalismus handelt.

Damit wird viel Porzellan zerschlagen. Viele Mus-
lime fühlen sich in ihrem Glauben nicht akzeptiert. Da-
her müssen wir möglichst viele Zeichen setzen, um zu
zeigen: Unsere Gesellschaft ist so tolerant, dass auch
Menschen anderen Glaubens hier ihren Raum finden,
und wir sind bereit, sie zu respektieren und ihnen die Tü-
ren zu öffnen. Erst dann werden auch diese Menschen
bereit sein, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren.
Ablehnung erzeugt Ablehnung und Rückzug. Das ist ge-
fährlich für beide Seiten, nämlich sowohl für die Zuwan-
derer als auch für diejenigen, die bereits hier leben.

Im Zusammenhang mit der Integration gibt es in der
Tat Probleme. Es gibt Jugendkriminalität, eine Machis-
mokultur und Gewaltbereitschaft – unter ausländischen
Jugendlichen wie auch unter jugendlichen Aussiedlern,
die nach dem Staatsbürgerschaftsrecht Deutsche sind.
Wir werden diese Probleme aber nur lösen, wenn wir sie
als unsere gemeinsamen Probleme begreifen, die wir mit
den Zugewanderten zusammen angehen müssen.

Es geht nicht um Ausgrenzung, sondern um Integra-
tion. Der Schlüssel dazu ist die deutsche Sprache. Da-

rüber besteht gottlob Konsens. Das Zuwanderungsgesetz
geht mit der Erstförderung einen ersten Schritt. Wir soll-
ten diesen Schritt gemeinsam gehen.

Es ist zwar richtig, zu fördern und zu fordern, aber – das
sage ich an die Länder gewandt – wer fördern will, der
darf sich auch nicht aus der Finanzierung stehlen. Es
geht nicht an, die Aufgaben immer wieder hin- und her-
zuschieben, ohne dass schließlich Ergebnisse erzielt
werden. Ich betone das im Hinblick auf die Vorschläge
der unionsgeführten Länder, die für eine Integrationsbe-
auftragte in der Tat sehr erfreulich sind, weil der Umfang
der Integrationsangebote deutlich erweitert werden soll.
Wir sollten aber auch ehrlich über die dadurch entstehen-
den Kosten sprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Gesellschaftliche Veränderungen müssen sich in Ge-
setzen widerspiegeln. Das Ausländerrecht ist veraltet
und bürokratisch verworren; man hat dort zu oft „ange-
baut“.

Lassen Sie uns den Weg zu der Erkenntnis, dass Ein-
wanderung und Integrationspolitik zusammengehören
wie zwei Seiten einer Medaille, den wir in den vergange-
nen zwei Jahren gegangen sind, fortsetzen und produktiv
und verantwortungsvoll den Prozess der Gestaltung ein-
leiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503101500


Ich erteile dem Kollegen Hartmut Koschyk, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1503101600


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Beck, Sie haben zwar Ihre Argumente für den
in unveränderter Form eingebrachten Entwurf eines rot-grü-
nen Zuwanderungsgesetzes nicht so aggressiv und bissig wie
der Bundesinnenminister, sondern wesentlich werbender, lie-
benswürdiger und charmanter vorgetragen, aber auch Sie
vermochten nicht, uns zu überzeugen. Denn wir glauben,
dass das bereits einmal vor dem Bundesverfassungsge-
richt gescheiterte rot-grüne Zuwanderungsgesetz, wenn
es Wirklichkeit werden sollte, einen großen Schaden für
unser Land bedeutet.


(Beifall bei der CDU/CSU – Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Wir glauben auch, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen, dass Sie die Bevölkerung unseres Landes
über Inhalt und Auswirkungen dieses Gesetzes nach wie
vor im Unklaren lassen;


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Täuschung ist auf Ihrer Seite!)







(A) (C)



(B) (D)


Hartmut Koschyk
denn das rot-grüne Zuwanderungsgesetz ist tatsächlich
ein Zuwanderungserweiterungsgesetz.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Darauf ist es in seiner Grundsubstanz und in jedem
Buchstaben angelegt.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zeigen Sie mal den Buchstaben! Wo ist denn der Buchstabe?)


Weil Sie Angst vor der Reaktion der Bevölkerung haben,
bestreiten Sie dies.

Wir aber sagen der Bevölkerung: Wenn Rot-Grün
durchgängig alle wesentlichen den Zuzug beschränken-
den Elemente des geltenden Rechts aufhebt, dann führt
dies nicht zu weniger, sondern zu mehr Zuwanderung
nach Deutschland. Eins plus eins ist für uns trotz PISA
immer noch zwei und nicht minus zwei, wie Sie uns und
der Bevölkerung glauben machen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das rot-grüne Zuwanderungsgesetz in der vorliegen-
den Form ist für uns inakzeptabel. Ich betone auch im
Hinblick auf die anstehenden Ausschussberatungen: Für
uns geht es nicht um Nachverhandlungen in einigen
Punkten, sondern dieses Gesetz ist von seiner Grund-
struktur her inakzeptabel und muss völlig neu überarbei-
tet werden.

Wir sind überzeugt, dass angesichts von fast 5 Mil-
lionen Arbeitslosen in unserem Land, leerer Staatskas-
sen, berstender Sozialsysteme und einer desaströsen
Wirtschaftslage an den bereits von der sozialliberalen
Koalition 1981 aufgestellten und bis zur Bildung der rot-
grünen Bundesregierung unumstrittenen Grundsätzen
des deutschen Ausländerrechts festgehalten werden muss.
Diese Grundsätze sehen die Integration der rechtmäßig
dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländer vor. Wir ha-
ben – das müssen Sie doch einräumen, Frau Beck – Gro-
ßes im Hinblick auf nachholende Integration der be-
reits bei uns lebenden Ausländer zu leisten. Deshalb
können wir einen weiteren Zuzug, der über das hinaus-
geht, was wir bereits an humanitären Verpflichtungen
und Familiennachzug vor allem aus Staaten außerhalb
der Europäischen Union haben, nicht mehr verkraften.

In Deutschland leben nahezu doppelt so viele Auslän-
der wie durchschnittlich in allen anderen Ländern der Eu-
ropäischen Union: 9,3 Prozent in Deutschland, 4,8 Pro-
zent in den anderen Mitgliedstaaten. Es ist zwar zu begrü-
ßen, dass ausländische Mitbürger die Wirtschaft und den
Kulturaustausch in Deutschland beleben, dass sie als
Selbstständige Arbeitsplätze schaffen und dass sie auch
bereit sind, Tätigkeiten zu verrichten, für die deutsche Ar-
beitnehmer – bedauerlicherweise und nachdenkenswerter-
weise – oftmals nicht mehr zu gewinnen sind. Gleichwohl
sind Ausländer in Deutschland überproportional von Arbeits-
losigkeit betroffen. Während 9,9 Prozent der deutschen
Bevölkerung von Arbeitslosigkeit betroffen sind, sind
18,4 Prozent der ausländischen Bevölkerung arbeitslos.


(Jörg Tauss [SPD]: Warum denn?)


Des Weiteren ist der Anteil der Sozialhilfeempfänger an
der ausländischen Bevölkerung überdurchschnittlich
hoch. Während deren Anteil an der deutschen Bevölke-
rung 2,8 Prozent beträgt, liegt ihr Anteil an der ausländi-
schen Wohnbevölkerung bei 8,1 Prozent.


(Rüdiger Veit [SPD]: Wenn wir sie nicht arbeiten lassen, ist das kein Wunder!)


Außerdem ist der Anteil der Ausländer an der Kriminal-
statistik ein Vielfaches höher als ihr Anteil an der Wohn-
bevölkerung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist der Punkt! Was sagen sie dazu?)


Ich weiß nicht, warum Sie das bestreiten. Haben Sie
nicht zur Kenntnis genommen, dass der der SPD ange-
hörende Berliner Innensenator Körting kürzlich deut-
lich gemacht hat, dass er den dramatischen Anstieg der
Jugendkriminalität in Berlin auf den Anteil ausländi-
scher Jugendlicher zurückführt? Es muss uns doch er-
schüttern, wenn Ihr Parteifreund Körting als Berliner In-
nensenator sagt:

Die Kinder lernen kaum Deutsch, scheitern in der
Schule, haben schlechte Chancen auf dem Arbeits-
markt und verkehren nur im eigenen Milieu. Statt
Integration steht am Ende Isolation und Ausgren-
zung.

So weit der Berliner Innensenator über den Befund von
Zuwanderung in Deutschland im Jahr 2003.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Kürzlich hat der Präsident der Deutschen Gesellschaft
für Demographie, Professor Herwig Birg, der auch Bei-
ratsmitglied des Bundesinstituts für Bevölkerungsfor-
schung ist, anlässlich der Jahrestagung dieser Gesell-
schaft der Auffassung widersprochen, Deutschland sei in
Sachen Zuwanderung ein rückständiges Land und
schotte sich gegenüber Zuwanderern ab. Vielmehr, so
Professor Birg, sei Deutschland das Industrieland mit der
höchsten Zuwanderungsrate. Er hat dargelegt, dass der
prozentuale Anteil der Zuwanderer in Deutschland an
der Gesamtbevölkerung drei- bis fünfmal höher liege als
in klassischen Einwanderungsländern wie den USA,
Australien oder Kanada. Herr Professor Birg hat auch
beklagt – das sollten auch Sie von der FDP einmal zur
Kenntnis nehmen –, dass die Politik und die veröffent-
lichte Meinung in Deutschland demographische Befunde
ignorierten und verstärkt für Zuwanderung plädierten,
obgleich die Zahl der Zuwanderer in Deutschland etwa
genauso groß sei wie die Zahl der Geburten. In deut-
schen Großstädten sei die Zahl der Zuwanderer sogar
viermal größer als die Geburtenzahl. Auch die Behaup-
tung, Zuwanderung sei notwendig, um die Sozialsys-
teme zu sichern, stimme nicht, so Professor Birg, mit
wissenschaftlichen Erkenntnissen überein. Nach seinen
und anderen gesicherten Forschungsergebnissen wie
zum Beispiel denen des Ifo-Instituts


(Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])







(A) (C)



(B) (D)


Hartmut Koschyk
– Sie werden doch nicht die Seriosität des Ifo-Instituts
bestreiten – übersteigt die Zahl der von Zuwanderern
empfangenen Leistungen die der geleisteten Zahlungen
in die sozialen Sicherungssysteme.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Sie müssen sich schon einmal fragen lassen, was Sie
in diesem Land im Hinblick auf Wirtschaft und Arbeits-
markt angerichtet haben. Viele deutsche Spitzenkräfte
verlassen dieses Land, weil sie hier keine Zukunft mehr
sehen. Auch darüber muss man einmal in einer solchen
Debatte diskutieren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Ich kann Ihnen nur sagen: Wer bei 5 Millionen Ar-
beitslosen in Deutschland den Anwerbestopp aufhebt
und den Arbeitsmarkt grundsätzlich für alle Ausländer,
nicht nur für wenige Spezialisten, die wir selbst nicht ha-
ben, öffnen will, der handelt unverantwortlich.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt doch nicht!)


Wer meint, Zuwanderung aus Drittländern könne zu-
rückgehende Bevölkerungszahlen ausgleichen, der irrt.
Das Ausländerrecht ist hierfür das falsche Instrument.
Nötig ist ein Konzept familien-, sozial- und arbeits-
marktpolitischer Maßnahmen.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit dem Familiengeld?)


– Ich wusste noch gar nicht, Herr Minister Fischer, dass
Sie sich auch um Familienpolitik kümmern.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Doch!)


Sie haben mit der deutschen Außenpolitik genug zu tun?
Kümmern Sie sich um die deutschen Interessen, die zur-
zeit durch den Kurs, den diese Bundesregierung in der
Außenpolitik fährt, sträflich vernachlässigt werden!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr gut! – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Präsident, können Sie für etwas Ruhe sorgen?
Meine Kollegen wollen im Gegensatz zu der anderen
Front dort drüben zuhören.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Ich möchte es hören, Herr Präsident!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503101700


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich unterstütze aus-
drücklich die Bitte des Kollegen Koschyk. Er möchte
gehört werden. Der Kollege Koschyk soll die Chance
haben, gehört zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ausnahmsweise Beifall für Thierse!)



Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1503101800


Herzlichen Dank, Herr Präsident.

Das rot-grüne Zuwanderungsgesetz will über die völ-
kerrechtlichen Verpflichtungen hinaus


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wissen überhaupt nicht, was Sie dort ablesen! – Rüdiger Veit [SPD]: Wer hat das aufgeschrieben?)


quasi im europäischen Alleingang im humanitären Be-
reich die Zufluchtsgründe erweitern und den Status für
Personen, die bislang vor allem in unsere Sozialsysteme
zugewandert sind, aufwerten. Dies lehnen wir ab, weil es
aus sachlichen Gründen nicht gerechtfertigt ist. Es ist
auch nach Auffassung von Völkerrechtlern, die sich ge-
rade mit dem humanitären Völkerrecht exzellent ausken-
nen und die wir von der Union in der Anhörung zur ers-
ten Auflage der parlamentarischen Beratungen benannt
haben, klar, dass die von Rot-Grün beabsichtigte Einbe-
ziehung nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer
Verfolgung in den Flüchtlingsbegriff nicht nur über die
Genfer Flüchtlingskonvention hinausgeht.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das steht auf Ihren Wunsch im Gesetz!)


Hinsichtlich des Schutzes vor nicht staatlicher Verfol-
gung ist festzustellen, dass in der internationalen Staa-
tenpraxis die Einbeziehung nicht staatlich Verfolgter in
den Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder
sonstiger vertraglicher Schutzinstrumente nicht zuge-
standen wird.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der UNHCR sieht das anders!)


Auch der EU-Praxis liegt kein Verfolgungsbegriff zu-
grunde, der unmittelbar staatliche oder dem Staat zumin-
dest zurechenbare Verfolgung voraussetzt.

Sie sollten endlich mit der falschen Behauptung auf-
hören, Deutschland sei in dieser Frage in der Staatenge-
meinschaft isoliert.


(Jörg Tauss [SPD]: Sie sind isoliert!)


Sie sind nicht in der Lage, auch nur ein Beispiel dafür zu
nennen, dass aus Deutschland Menschen abgeschoben
wurden, wenn konkret-individuell festgestellt wurde,
dass ihnen existenzielle Gefahren drohen.


(Widerspruch bei der SPD)


Es steht völlig außer Frage, dass diesen Menschen in der
Not Schutz zu gewähren ist. Aber es ist eben nach unse-
rer Auffassung ein grundlegender Unterschied, ob man
den Betroffenen für die Dauer ihrer Bedrohung in
Deutschland Aufenthalt gewährt oder ob man deren Zu-
fluchtsmöglichkeiten und auch ihren Aufenthaltsstatus
grundlegend erweitert mit der Möglichkeit eines vollen
Familienzuzugs, auch bei gleichgeschlechtlichen Le-
benspartnerschaften, und dem Zugang zum Arbeitsmarkt
ohne jede Bedarfsprüfung. Das wollen wir nicht, meine
sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Hartmut Koschyk
Sie verteidigen Ihr Gesetz ständig mit falschen Be-
hauptungen. Sie sagen, Zuwanderung sei aus demogra-
phischen Gründen notwendig. Das ist falsch. Ich muss
Ihnen eines sagen: Gestern saßen die Innenpolitiker un-
serer Fraktion mit den Fachleuten der katholischen Kir-
che zusammen, um über diese Frage zu sprechen. Wir
haben ganz offen darüber gesprochen, wo Dissens und
wo Übereinstimmung besteht. Ich bestreite überhaupt
nicht, dass wir mit den Kirchen – das Gespräch mit den
Vertretern der katholischen Kirche gestern hat das ge-
zeigt – im Bereich humanitärer Zuwanderung einen Dis-
sens haben. Eines will ich Ihnen hier einmal sagen: Auch
die katholische Kirche hält aus demographischen und
aus arbeitsmarktpolitischen Gründen mehr Zuwande-
rung nach Deutschland nicht für gerechtfertigt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vereinnahmen Sie nicht ständig die Kirchen für eine ge-
nerelle Zustimmung zu Ihrem Zuwanderungsgesetz!
Diese Zustimmung gibt es so nämlich nicht. Die Be-
hauptung, dass es diese Zustimmung gibt, ist unwahr.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte auf die Behauptung zu sprechen kommen,
Zuwanderung sei aus demographischen Gründen not-
wendig. Frankreich – Sie orientieren sich zurzeit doch so
sehr an Frankreich – hat gezeigt, dass man mit einer
nachhaltigen Bevölkerungspolitik sowie mit einer besse-
ren Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, als sie in
Deutschland betrieben wird, demographische Probleme
ganz anders angehen kann, als wenn man auf Zuwande-
rung setzt.

Da Sie auch in dieser Debatte immer wieder den Ein-
druck zu vermitteln versuchen, es gehe nur noch um
Kleinigkeiten und wir seien uns im Grundsatz einig,
möchte ich Folgendes sagen: Ihrem Konzept, also dem
Konzept von Rot-Grün, und dem der Union liegen völlig
unterschiedliche Vorstellungen zugrunde. Die Bundesre-
gierung und die sie tragende Koalition wollen einen Pa-
radigmenwechsel hin zum multikulturellen Einwande-
rungsland.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sie waren auch schon mal weiter!)


Wir, die Union, wollen die Bewahrung der Identität von
Staat und Gesellschaft. Wir wollen die Rücksichtnahme
auf die Aufnahmefähigkeit unseres Landes und wir
wollen die Verhinderung weiterer Zuwanderung in un-
sere kollabierenden sozialen Sicherungssysteme.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wolfgang Bosbach hat bereits sehr eindrucksvoll da-
rauf hingewiesen – ich will das wiederholen –,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war genauso falsch wie von Ihnen! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Bosbach ist ein guter Mann!)


dass Ihre Behauptung, Zuwanderung schaffe Arbeits-
plätze, allein durch die mit der Einführung der Green-
card verbundenen Geschehnisse und durch die Situation

in der IT-Branche widerlegt sei. In zwei Jahren wurden
nämlich nur 13 400 Arbeitserlaubnisse erteilt, obwohl
man einmal annahm, es gebe einen Bedarf von 50 000 bis
100 000 Arbeitskräften.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt ja nicht, dass alle kommen wollen!)


Von den 13 400 Personen, denen eine Arbeitserlaubnis
erteilt worden ist, sind nicht einmal alle gekommen. Sie
müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass von denjenigen
Inhabern einer Greencard, die nach Deutschland gekom-
men sind, um in der IT-Branche zu arbeiten, einige auf-
grund der katastrophalen Situation in dieser Branche be-
reits arbeitslos sind. Das zeigt doch, dass in diesem
Bereich ein Verdrängungswettbewerb stattfindet.

Ich muss Ihnen ebenfalls sagen – das sage ich auch in
Richtung der deutschen Wirtschaft –: Wir müssen der
deutschen Wirtschaft die Verantwortung zumuten – aus
dieser Verantwortung dürfen wir sie nicht entlassen –,
dass man dem Fachkräftemangel in Deutschland auch
durch Fortbildung von Mitarbeitern in Deutschland und
durch größere Anstrengungen im Bereich der Bildung
und Ausbildung Rechnung trägt. Die bisherige Politik
in Niedersachsen ist Gott sei Dank beendet worden. Un-
ter der Regierungsverantwortung der SPD wurde in Nie-
dersachsen der IT-Ausbildungsbereich einer Fachhoch-
schule geschlossen.


(Jörg Tauss [SPD]: Ach, das ist doch Quatsch! Das weiß doch inzwischen jeder!)


Hinterher haben Sie sich beklagt, dass wir zu wenig IT-
Fachleute in Deutschland haben. Sie sollten sich nicht
hier hinstellen und behaupten, wir könnten die mit der
demographischen Entwicklung verbundenen Probleme
nur durch Zuwanderung lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie behaupten, dass Sie in der Zuwanderungsfrage
mit Ihrem Gesetz einen breiten gesellschaftlichen Kon-
sens erzielen. Wir bestreiten dies. Sie kommen vielleicht
mit Spitzenvertretern bestimmter, auch wichtiger gesell-
schaftlicher Interessengruppen zu einem Konsens,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bischöfe und Kardinäle!)


aber nach dem Motto: Dem einen ein bisschen hiervon,
dem anderen ein bisschen davon. Uns geht es um das
Gemeinwohl; wir fühlen uns dem Gemeinwohl ver-
pflichtet. Wir stellen die Frage, wie viel Zuwanderung
dieses Land verkraften kann. Darin wissen wir uns mit
der Mehrheit unserer Bevölkerung einig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte, Frau Ministerin, noch mit einem Satz auf
den Entwurf der FDP eingehen. Wir glauben nicht, dass
dieser FDP-Entwurf eine Brücke zu einem Kompromiss
und einer Einigung darstellt. Die FDP will eine Jahreszu-
wanderungsquote. Dabei muss die FDP wissen, dass der-
jenige, der nach Ausschöpfung der Jahreszuwanderungs-
quote über das Asylverfahren nach Deutschland kommen
will, hieran außer durch die Drittstaatenregelung nicht






(A) (C)



(B) (D)


Hartmut Koschyk
gehindert werden kann; denn die Zuwanderung im huma-
nitären Bereich lässt sich rechtlich nicht beschränken.

Sie wollen Arbeitsmigration und humanitäre Zuwan-
derung trennen. Dabei muss die FDP doch wissen, dass
derjenige, der von der erfolglosen Zuwanderung aus Er-
werbsgründen in das Asylverfahren wechseln will, daran
wegen der Garantien des Asylgrundrechtes rechtlich
nicht gehindert werden kann und als Asylsuchender – au-
ßer bei erfolglosem Eilverfahren in Drittstaatenfällen –
nicht darauf verwiesen werden kann, sein Verfahren in
Deutschland vom Ausland aus zu betreiben.

Deshalb ist für uns weder der rot-grüne noch der
FDP-Gesetzentwurf zustimmungsfähig. Wir werden im
parlamentarischen Verfahren umfangreiche Änderungs-
anträge einbringen. Wenn Sie, Kolleginnen und Kolle-
gen von Rot-Grün, mit diesen Änderungsanträgen wie
bei der ersten Auflage der Zuwanderungsdebatte verfah-
ren – durchpeitschen, nicht zur Kenntnis nehmen, ableh-
nen –, wird und kann es in Bezug auf ein Zuwanderungs-
gesetz und ein neues Zuwanderungsrecht in Deutschland
keine Einigung geben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503101900


Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Joachim Hacker,
SPD-Fraktion.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1503102000


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich bin wie unser Bundesin-
nenminister grundsätzlich ein Optimist und gehe Pro-
bleme mit einer optimistischen Einstellung an. Aber,
Herr Bosbach und Herr Koschyk, was Sie uns hier heute
geliefert haben, hat meine Grundeinstellung auf eine
ziemlich harte Probe gestellt. Ich glaube, Sie können vor
dem Hintergrund der Tatsache, dass in der letzten Dis-
kussion zu dem ersten Entwurf eines Zuwanderungsge-
setzes Kompromisse geschlossen worden sind, dass in-
tensiv beraten worden ist, dass auch Forderungen von
Brandenburg einer ernsthaften Prüfung unterzogen wor-
den sind, nicht sagen, wir wären nicht bereit, über die
Fragen, die sich hier stellen, zu diskutieren.

Herr Bosbach, was Sie uns hier geboten haben, war
eine Mischung von Blockade und Scheinheiligkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na! Ein bisschen vorsichtig, Herr Kollege!)


Ich glaube, Sie sind selber nicht gut aufgestellt. Sie wis-
sen nicht, was Sie mit diesem Thema rechtlich machen
sollen. Die Gesellschaft sagt, dass eine Zuwanderungs-
gesetzgebung benötigt wird, und Sie wissen nicht, wie
Sie aus dieser Falle herauskommen sollen.

Ich hatte bei einigen Passagen der Rede von Herrn
Bosbach das Empfinden, dass der Geist des vorletzten
Jahrhunderts das Plenum erreicht hat,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


um nicht zu sagen: ein Lichtstrahl aus dem Mittelalter.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das Mittelalter war gar nicht so schlecht, auf jeden Fall besser als Ihre rot-grüne Regierung!)


Herr Koschyk, in einem Punkt muss ich auch auf Ihre
Rede eingehen. Ich finde, es ist unanständig, wenn Sie
ausländische Mitbürger, die mit uns hier in Deutschland
leben, pauschal kriminalisieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hartmut Koschyk [CDU/ CSU]: Das habe ich doch überhaupt nicht gemacht! Ich habe Körting zitiert!)


Sie haben den Eindruck erweckt,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Hören Sie auf, uns mit dem Finger zu drohen!)


wir würden nicht zur Kenntnis nehmen, dass es im Be-
reich der Kriminalität eine besondere Häufung ein-
zelner ausländischer Gruppen gebe. Das ist doch unbe-
stritten; das weiß jeder in Deutschland. Aber die
Gleichsetzung, die Sie betreiben, indem Sie Ausländer
pauschal als kriminalitätsbelastet einstufen, ist unverant-
wortlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind ein Wahrheitsverweigerer!)


Damit befinden Sie sich leider in einem Boot mit Agita-
toren vom rechten Rand. Sie bedienen so ganz schöne
Stimmungen.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Jetzt ist aber Schluss! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das ist eine Unverschämtheit!)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das Zuwan-
derungsgesetz, das wir heute beraten, hätte längst verab-
schiedet sein müssen. Es ist ein wichtiges, notwendiges
Gesellschaftsprojekt. Wir befinden uns da in Überein-
stimmung mit wichtigen gesellschaftlichen Gruppen: mit
den Kirchen, den Arbeitgeberverbänden, den Gewerk-
schaften und nicht zuletzt – auch das will ich hier deut-
lich machen – mit sehr vielen, ich möchte fast sagen: al-
len Kommunalpolitikern, die darauf warten, dass wir
diesen Gesetzgebungsprozess endlich zum Abschluss
bringen. Sie warten in Bayern und auch in Hessen da-
rauf, dass wir dieses Gesetz verabschieden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Insofern befinden Sie sich im Übrigen in Konfrontation
mit Angehörigen Ihrer eigenen Partei und damit in der
Isolation.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Der Mann ist angeblich schon das fünfte Mal im Bundestag! Wo hat er sich in den vergangenen vier Wahlperioden versteckt?)







(A) (C)



(B) (D)


Hans-Joachim Hacker
Herr Koschyk, Sie haben hier wieder ein Märchen er-
zählt. Sie sagen, das Gesetz sei in Karlsruhe aufgrund
inhaltlicher Fehler und Mängel gescheitert. Das stimmt
doch nicht.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie sind so nervös, dass Sie ständig Dinge hören, die ich nicht gesagt habe!)


Lediglich das Verfahren im Bundesrat hat zur Verhand-
lung in Karlsruhe geführt. Nur darum geht es.

Wer hat denn das Theater inszeniert


(Jörg Tauss [SPD]: Die da drüben!)


und wer ist dafür verantwortlich, dass wir heute noch
einmal eine Debatte über ein notwendiges Zuwande-
rungsgesetz führen müssen? Wir haben in der Diskus-
sion im Bundesrat Forderungen Brandenburgs nachge-
geben. Das Scheitern des Gesetzes muss sich die CDU
wegen des Versagens des Innenministers Schönbohm auf
die eigene Fahne schreiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Wären Sie doch bei der Speisekarte geblieben!)


Herr Bosbach, nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! Das
Nein von Herrn Schönbohm war ein Wortbruch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist eine Beleidigung für die Speisekarte!)


Es ist höchste Zeit, dass wir die Zuwanderung in ei-
nem Gesetz einheitlich regeln. Darüber sind wir uns
auch einig. Die Diskussion, ob Deutschland ein Zuwan-
derungs- oder ein Einwanderungsland ist, ist eine theore-
tische Diskussion, die uns überhaupt nicht weiterbringt.
Fakt ist, dass zwischen 1955 und 1999 mehr als
31 Millionen Menschen nach Deutschland zugezogen
sind. Richtig ist auch, dass in der gleichen Zeit etwa
22 Millionen Menschen weggezogen sind. Unterm
Strich gab es immer einen positiven Zuwanderungs-
saldo; in diesem Zusammenhang ist auch die Zuwande-
rung der Russlanddeutschen zu nennen, es waren durch-
schnittlich 100 000 jährlich.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Der Hacker hackt da vorn herum!)


Die CDU/CSU – darüber ist hier schon diskutiert
worden – führt sich als Schutzpatron des deutschen Ar-
beitsmarktes auf. Aber was haben Sie in den 80er- und
90er-Jahren gemacht? Der 1973 richtigerweise verhängte
Anwerbestopp ist von der Union in der Ära Helmut
Kohl mehrfach durchlöchert worden.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Was haben Sie denn in der Ära Kohl gemacht? Da waren Sie Justiziar im VEB-Kombinat!)


Sie haben Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft und
die Gastronomie, zahlreiche Werkvertragsarbeitnehmer
als Bauarbeiter, Spezialitätenköche, Hausangestellte,
Lehrkräfte, Krankenschwestern,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Unglaublich! Wären Sie bei den Speisekartoffeln geblieben!)


Künstler, Artisten usw. mit Sonderregelungen nach
Deutschland geholt. Das ist doch die Wahrheit. Solche
Dinge wollen wir jetzt endlich vernünftig regeln, und
zwar einheitlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Solche Unverschämtheiten abzulassen!)


Herr Bosbach, nehmen Sie doch einfach einmal Ihre
Einwanderungspolitik, Ihre Ausnahmepolitik der 80er-
und 90er-Jahre zur Kenntnis! Daraus ist ein unübersicht-
liches Geflecht an Regelungen und Durchführungsver-
ordnungen entstanden. Herr Bosbach, ich will an eines
erinnern: Bayern setzt diese Politik fort. Die bayerische
Landesregierung tritt dafür ein,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Es heißt immer noch Staatsregierung!)


dass weitere Sonderregelungen im Bereich der Pflege-
kräfte greifen sollen. An dieser Stelle verstehe ich Ihre
Politik nicht. Nähern Sie sich doch unseren Vorstellun-
gen! Wir sind diskussions- und verhandlungsbereit.

Es ist längst Zeit, eine umfassende rechtliche Rege-
lung zu schaffen. Für uns ist dabei die Frage der Inte-
gration von zentraler Bedeutung. Das Konzept der Bun-
desregierung, das wir in der Koalition unterstützen,
steuert, begrenzt und fördert die Integration. Herr
Bosbach, Sie können natürlich sagen, das seien die For-
derungen, die Sie stellen. Wir sagen Ja zur Steuerung,
wir fordern Begrenzung und wollen genauso wie Sie die
Integration. Wo sind wir da auseinander? Gleichzeitig
wollen wir das unüberschaubare Regelwerk abschaffen.

Zurzeit gibt es eine wirtschaftsschädliche Sperre ge-
gen den Zuzug dringend benötigter Wissenschaftler und
Unternehmer nach Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Unsere Wirtschaft braucht diese Fachkräfte. Sie sind
auch für die Stabilisierung unserer sozialen Sicherungs-
systeme dringend notwendig. Wer das verschweigt,
nimmt nicht zur Kenntnis, in welcher Situation sich die
sozialen Sicherungssysteme in Deutschland befinden.

Wer die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte
steuern will, muss ein Punktesystem aufstellen. Dieses
System ist im Gesetzentwurf enthalten. Wer zu uns kom-
men will, muss die entsprechenden Kriterien erfüllen.
Dabei spielen Ausbildung, Berufserfahrung, Alter und
Sprachkenntnisse, aber auch die Beziehungen des An-
tragstellers zu Deutschland und die Frage, ob er schon
einen Arbeitsplatz hat, eine erhebliche Rolle.

Wir wollen weiterhin, dass den in Deutschland ausge-
bildeten jungen Menschen keine Steine in den Weg ge-
legt werden.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn Sie es nicht wollen, müssen Sie abtreten!)


Es ist doch widersinnig, wenn junge Menschen aus der
Dritten Welt, die gebührenfrei an den Universitäten in






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Joachim Hacker
Deutschland studiert haben, in andere Industriestaaten
gehen – leider gehen sie nicht immer in ihre Heimatlän-
der zurück, wo sie dringend gebraucht werden; das kön-
nen wir aber nicht steuern – und dort ihr erworbenes
Wissen anwenden. Das müssen wir anders regeln.

Ein weiterer Aspekt. Ich will für die Koalition insge-
samt sagen, dass wir mit dem im Zuwanderungsgesetz
vorgesehenen beschleunigten Asylverfahren unserer
Verpflichtung zur Humanität, die sich aus dem Grund-
gesetz ergibt, gerecht werden. Diejenigen, die unseres
Schutzes bedürfen, müssen ihn auch weiterhin bekom-
men. Menschlichkeit – ich denke, da sind wir uns ins-
besondere mit Frau Süssmuth einig; auch Sie sollten
sich dieser Auffassung anschließen – darf nicht quo-
tiert werden. Darin sollten wir uns alle einig sein, Herr
Bosbach.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben immer noch die Kadersprache drauf!)


Zuwanderer sollten dauerhaft integriert werden. Des-
wegen ist für uns das Integrationsprogramm eine
wichtige und gleichwertige Säule des Zuwanderungs-
konzeptes.

Wir müssen heute die wichtige Frage beantworten, ob
wir Zuwanderung angesichts der 4,7 Millionen Arbeits-
losen brauchen. Wir antworten darauf eindeutig mit Ja.
Wir brauchen diese Zuwanderung. Dafür muss es im Ge-
setz eine entsprechende Regelung geben. Die heute
schon viel genannten Erfahrungen mit der Greencard
belegen nicht nur, dass es für diese Fachkräfte Arbeits-
plätze in Deutschland gibt, sondern auch, dass durch sie
gleichzeitig mindestens zwei Arbeitsplätze in der betref-
fenden Firma bzw. in Firmen des Zulieferbereichs ge-
schaffen werden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503102100


Herr Kollege Hacker, Sie müssen zum Ende kommen.
Ihre Redezeit ist schon überschritten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Michael Glos [CDU/CSU]: Es wird höchste Zeit!)



Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1503102200


Herr Präsident, ich komme zum Ende. – Wenn ich mir
die Presseerklärung der FDP ansehe, Herr Gerhardt,
dann bin ich optimistisch, dass wir für unser Projekt Zu-
stimmung erhalten werden. Ich richte an Sie, meine sehr
verehrten Damen und Herren von der Union, noch ein-
mal den Appell: Stellen Sie sich der Lebensrealität in
Deutschland! Stellen Sie sich wie wir alle den Heraus-
forderungen!


(Zuruf von der CDU/CSU: Stellen Sie sich einmal der Meinung der Menschen in Deutschland!)


Gehen Sie mit uns den Weg der Diskussion!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder Ab auf den Kartoffelacker!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503102300


Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Hartmut Koschyk.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1503102400


Herr Präsident! Herr Kollege Hacker, Sie haben mir
in Ihrer Rede den Vorwurf gemacht,


(Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!)


dass ich ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger in
Deutschland generell kriminalisiere.


(Jörg Tauss [SPD]: Ja!)


Ich möchte mich gegen diesen ungeheuren Vorwurf auf
das Schärfste verwahren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Zu Unrecht!)


Sehr geehrter Herr Kollege Hacker, diese Art der Wort-
verdrehung und der Zitatefälschung


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das waren Sie doch!)


war vielleicht in der Führung des Kombinats Obst, Ge-
müse und Speisekartoffeln im Bezirk Schwerin, wo Sie
einmal Justiziar waren, üblich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)


Aber das sollte nicht der Stil der Auseinandersetzung im
Deutschen Bundestag sein.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So weit zur Diskriminierung!)


Ich muss Ihnen noch eines sagen, Herr Hacker. Ihr
Parteifreund und Berliner Innensenator Körting hat da-
rauf hingewiesen, dass der überproportionale Anteil der
Jugendlichen in der Kriminalstatistik des Landes Berlin
auf einen hohen Anteil ausländischer Jugendlicher zu-
rückzuführen ist. Wenn ich eine Aussage von Herrn Kör-
ting zitiere, in der er den Befund einer gescheiterten Inte-
gration dieser ausländischen Jugendlichen in Berlin
darstellt, dann können Sie das nicht so uminterpretieren,
dass ich die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbür-
ger generell der Kriminalität verdächtige. Mich dann
noch in die Ecke von Rechtsradikalen zu rücken ist un-
anständig. Ich weise das in schärfster Form zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503102500


Kollege Hacker, Sie haben Gelegenheit zur Reak-
tion.






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1503102600


Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Koschyk, in Ihrer
Kurzintervention haben Sie eigentlich noch das übertrof-
fen, was Sie zuvor am Pult geboten hatten.


(Beifall bei der SPD – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Aber Recht hat er!)


Sie tragen heute, 13 Jahre nach der deutschen Einheit,
hier erneut einen schlimmen Spaltpilz in die Debatte hi-
nein – zumindest versuchen Sie es –, indem Sie Biogra-
fien von Menschen aus einer anderen Zeit für diese De-
batte nutzen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wer war denn damals der Justiziar gewesen?)


– Ich gehe auf Ihre Frage ein: Was hat das denn damit zu
tun?

Sie haben in Ihrer Rede von Ausländerkriminalität
schlechthin gesprochen. Hätten Sie es so differenziert
dargestellt, wie es der Innensenator tat


(Hartmut Koschyk im Protokoll nach!)


und wie es auch hier im Bundestag schon diskutiert
wurde, könnte ich mich Ihrer Argumentation anschlie-
ßen. Aber Sie haben es nicht getan; Sie haben ganz all-
gemein von Ausländerkriminalität gesprochen. Dagegen
verwahre ich mich nochmals. Lesen Sie Ihre eigene
Rede durch und korrigieren Sie sich!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503102700


Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion,
das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1503102800


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir haben in dieser Debatte eine wirklich neue Er-
kenntnis gewonnen: Der Kollege Wolfgang Bosbach von
der CDU will sich kein Vorbild an Goethes Faust nehmen
und seine Seele nicht verkaufen. Das ist sein gutes Recht.
Aus diesem Grund schlage ich vor, dass wir uns ein ande-
res Vorbild aus der Geschichte nehmen, nämlich
Alexander den Großen. Ihm ist es bekanntlich gelungen,
den Gordischen Knoten zu durchschlagen. Genau vor die-
ser Aufgabe stehen wir in dieser Zuwanderungsdebatte.


(Beifall bei der FDP und der SPD)


Freilich passt der Vergleich insofern nicht ganz, als
eine derart martialische Vorgehensweise hier nicht mög-
lich ist. Vielmehr brauchen wir Kompromissbereitschaft
auf allen Seiten. Meine Damen und Herren, weder kann
nach dem bekannten Vorlauf Rot-Grün erwarten, dass
das vom Bundesverfassungsgericht aufgehobene Gesetz
so wieder durch das Parlament kommt,


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)


noch kann die CDU/CSU mit Fug und Recht erwarten, dass
ihre 130 Änderungsanträge hier eine Mehrheit finden.


(Beifall bei der FDP und der SPD – Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Wir sind schon mit 120 zufrieden!)


Meine Damen und Herren, die Debatte vermittelt lei-
der bisher nicht den Eindruck, als wären wir wirklich auf
dem Weg zu einem Kompromiss, der allseitige Zustim-
mung finden könnte. Das darf aber nicht das Ende dieser
mehr als zweijährigen öffentlichen Diskussion um ein
Zuwanderungsgesetz sein.


(Beifall bei der FDP)


Aus diesem Grunde ist es erforderlich, dass die gegen-
seitige Blockade, die bei Rot-Grün einerseits und der
CDU/CSU andererseits zu beobachten ist, aufgehoben
wird.


(Beifall bei der FDP)


Deshalb hat die FDP einen eigenen Gesetzentwurf ein-
gebracht, der auf den Vorschlägen von Minister Döring
und Ministerin Werwigk-Hertneck aus Baden-Württem-
berg beruht.

Meine Damen und Herren, wir glauben, dass wir da-
mit eine vernünftige Grundlage für die weiteren Gesprä-
che in den Ausschüssen schaffen; denn es kann doch
nicht sein – ich sage dies, auch wenn Sie es nicht gern
hören –, dass viele gesellschaftliche Gruppen in einer
seltenen Einmütigkeit von uns als dem Gesetzgeber ein
Handeln verlangen, wir als Bundestag aber nicht in der
Lage sind, dem nachzukommen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wann hat man es schon, dass Arbeitgeber, Wirtschaft,
Gewerkschaften, Kirchen, Menschenrechtsorganisatio-
nen und alle Fachleute der Auffassung sind, dass ein sol-
ches Gesetz notwendig ist?

Meine Damen und Herren, eine gesetzliche Regelung
muss drei Kernelemente enthalten.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Erstens. Wir brauchen eine Begrenzung und Steue-
rung der Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt nach unse-
ren eigenen wohlverstandenen Bedürfnissen, nicht mehr
und nicht weniger.


(Beifall bei der FDP)


Das bedeutet zum Beispiel, dass selbstverständlich der
Vorrang für die inländischen Arbeitnehmer gilt. Das be-
deutet auch, dass derjenige, der sich aus dem Ausland
um einen Aufenthalt bei uns bewirbt, einen konkreten
Arbeitsvertrag vorweisen muss. Um den Bedenken aus
der CDU/CSU entgegenzukommen, dass der deutsche
Arbeitsmarkt trotz allem überlastet werden könnte,
schlagen wir jetzt vor, dass dies alles durch eine Jahres-
höchstquote begrenzt wird, obgleich wir uns auch eine
marktwirtschaftlichere Lösung hätten vorstellen können.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Max Stadler
Ich verstehe nicht, warum wir dann, wenn schon so
viele Sicherungen eingebaut sind und wenn es de facto
doch Zuwanderung nach Deutschland in ungesteuerter
Form gibt – das ist insbesondere die Zuwanderung aus hu-
manitären Gründen –, ausgerechnet auf die Gestaltung der
Zuwanderung mit dem Ziel der Besetzung von Arbeits-
plätzen verzichten sollten, mit denen Wirtschaftswachs-
tum generiert und die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Das
ist nämlich das Ziel der Veranstaltung, nicht umgekehrt!


(Beifall bei der FDP)


Die FDP steht aber nicht nur zu dieser eng begrenz-
ten, im eigenen Interesse liegenden und für mehr Ar-
beitsplätze im Inland sorgenden Zuwanderung auf den
Arbeitsmarkt, sondern selbstverständlich auch zu den
humanitären Verpflichtungen. Wir haben keinen An-
lass, uns hier an kleinlichen Debatten zu beteiligen. Für
uns ist völlig klar, dass es selbstverständlich beim Asyl-
grundrecht bleibt und dass auch diejenigen, die von nicht
staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung be-
droht sind, unseren Schutz gemäß der Genfer Flücht-
lingskonvention genießen. Mehr ist dazu nicht zu sagen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der eigentliche Fehler in dem aufgehobenen Zuwan-
derungsgesetz lag darin – da sind sich alle Experten ei-
nig; Marieluise Beck hat es vorhin auch durchklingen
lassen –, dass der wichtige Teil der Integration der Zu-
wanderer noch nicht genügend ausformuliert war. Wir
stehen jetzt nicht am Beginn einer Debatte, sondern wir
sind nahezu am Ende eines langjährigen Diskussions-
prozesses. Deswegen ist es richtig, solche Kritikpunkte
aufzugreifen. Wir sehen daher in unserem Entwurf ein
deutlich erweitertes Angebot an Integrationsmaßnahmen
– das betrifft insbesondere Sprachkurse als Schlüssel für
die Verständigung – vor.

Wir wollen außerdem den Einstieg in die so genannte
nachholende Integration;


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)


denn es gibt auch Sprach- und Integrationsmängel bei
Ausländern, die schon einige Jahre in Deutschland sind.
Das ist auch eine Forderung der Union. Aber wir können
das nicht rückwirkend ad infinitum machen, sondern wir
wollen das zeitlich begrenzt für fünf Jahre machen, weil
sonst die finanzielle Belastung nicht darstellbar wäre.


(Beifall bei der FDP)


Übrigens ist es durchaus zumutbar, wenn Zuwanderer
nach eigener Fähigkeit in angemessener Weise an den
Kosten von Sprach- und Integrationskursen beteiligt
werden.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Genau so!)


Auch das sehen wir vor. Überhaupt muss das erweiterte
Angebot an Integrationsmaßnahmen selbstverständlich
auch mit stärkeren Anforderungen an diejenigen, die zu
uns kommen, verbunden sein, diese Angebote zu nutzen.


(Beifall bei der FDP)


Deswegen soll es Sanktionen geben, wenn sie schuldhaft
nicht genutzt werden, aber auch Anreize für diejenigen,
die sich integrieren, etwa schnellerer Erwerb der deut-
schen Staatsbürgerschaft.

Wir befrachten unseren Gesetzentwurf nicht mit an-
deren Themen, mit denen sich der Bundestag auch ein-
mal befassen muss. Ich nenne nur die Situation der Hun-
derttausende von Illegalen in Deutschland. Darüber
müssen wir ein anderes Mal reden. Wir wollen nicht zu
viel in dieses Gesetz hineinpacken. Wir haben aber ein
Anliegen, für das wir hier sofort Beifall von allen Seiten
bekommen müssten. Jenseits der Frage der Zuwande-
rung gibt es auch noch einen Bedarf an Saisonarbeits-
kräften. Diesbezüglich müssen die Verfahren unbürokra-
tischer werden. Wir brauchen statt einer Genehmigung
für die Dauer von drei Monaten für das Gaststättenge-
werbe und für die Landwirtschaft, die Erntehelfer
braucht, eine solche von sechs Monaten. Dieser Antrag
von uns steht auch zur Debatte.


(Beifall bei der FDP)


Ich komme zum Schluss und möchte noch Folgendes
grundsätzlich bemerken: Ich halte nichts davon, wenn
jetzt schon die Rede davon ist, dass das Ganze in den
Vermittlungsausschuss kommen und dort hinter ver-
schlossenen Türen beraten werden soll. Warum denn?
Der Deutsche Bundestag ist doch das Forum, auf dem in
offener Debatte das Für und Wider ausgetragen wird.
„Hic Rhodus, hic salta“, sagt der Lateiner. Hier müssen
wir entscheiden. Deswegen gilt das Angebot unseres
Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Gerhardt, über die Vor-
schläge – wir machen mit unserem Kompromissvor-
schlag ein Angebot an alle anderen – jetzt hier im Deut-
schen Bundestag zu sprechen. Wenn wir das tun, dann
werden Sie sehen, dass das, was die FDP als Grundlage
vorschlägt, von allen Seiten akzeptiert werden kann. Das
dringend notwendige Gesetz muss endlich zustande
kommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Max, wenn doch alle nur so vernünftig wie du wären!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503102900


Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1503103000


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zwei Sätze vorab: Die PDS war und ist der Mei-
nung, die Bundesrepublik ist ein Einwanderungs-
land. Das bedeutet, wir brauchen ein Einwande-
rungsrecht und keine Blockaden.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Das waren übrigens exakt die zwei Eingangssätze, die
ich vor einem Jahr sprach. Denn am 1. März 2002 haben
wir hier über dasselbe Thema debattiert. Heraus kam ein






(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau
Gesetz, das inzwischen vom Bundesverfassungsgericht
kassiert wurde. Dazwischen lag eine unwürdige Bundes-
ratsaufführung, die ich heute nicht noch einmal würdi-
gen möchte; denn keiner der daran Beteiligten hat sich
damals mit Ruhm bekleckert.

Die PDS hat übrigens vor Jahresfrist mit Nein ge-
stimmt, allerdings aus konträr anderen Gründen als die
Opposition zur Rechten dieses Hauses. Der rot-grüne
Entwurf war uns im Zuwanderungsteil zu regressiv und
im Asyl- und Flüchtlingsteil zu repressiv. Das hatte be-
kannte Gründe. Denn Bundesinnenminister Schily hatte
so lange einen Kompromiss mit der CDU/CSU gesucht,
bis Rot-Grün zur Unkenntlichkeit verfinstert war.

Die PDS im Bundestag hatte andere Maßstäbe. Un-
sere erste Prüffrage hieß: Gelingt mit dem Zuwande-
rungsgesetz ein Paradigmenwechsel? Schaffen wir also
ein Bürgerrecht, bei dem nicht die Verwertbarkeit des
Menschen, sondern das Menschsein im Vordergrund
steht?


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Unsere zweite Prüffrage lautete: Sucht die Bundesrepu-
blik mit dem Zuwanderungsgesetz Anschluss an inter-
nationale Normen oder verharrt sie in einem völkischen
Zustand aus dem vorigen Jahrhundert? Unsere dritte
Prüffrage war: Werden mit dem Zuwanderungsgesetz
endlich willkürliche Regeln abgeschafft, die nicht deut-
sche Bürgerinnen und Bürger noch immer zu Menschen
zweiter Klasse degradieren?

Das waren unsere Maßstäbe und das sind sie noch im-
mer. Deshalb wird die PDS im Bundestag den jetzt wie-
der unverändert vorgelegten Gesetzentwurf erneut ableh-
nen müssen. Allerdings würden wir, wenn wir unsere
Position begründen wollten, heute nur wiederholen, was
wir vor einem Jahr schon einmal gesagt haben. Das wäre
langweilig und es wäre effektiver gewesen, wenn wir un-
sere alten Reden einfach noch einmal zu Protokoll gege-
ben hätten.

Es ist aber mehr geschehen, als dass ein Jahr verflos-
sen ist. Wir verzeichnen in der Bundesrepublik einen
politischen Rechtsruck, was bei dem heute debattierten
Thema auch heißt: Jene Parteien, die kein modernes Zu-
wanderungsrecht wollen, jene Parteien, die auch frem-
denfeindliche Parolen nicht scheuen, jene Parteien, die
Menschen in nützliche, unnütze und gar schädliche ein-
teilen, haben im Moment im Bundesrat eine Blockade-
mehrheit. CSU und CDU machen keinen Hehl daraus,
dass sie diese Blockademehrheit kräftig nutzen wollen.

Nun kenne ich Stimmen – das habe ich in vielen Brie-
fen, die ich in den letzten Tagen erhalten habe, gelesen –,
die meinen, dass es unter diesen Umständen besser wäre,
kein Zuwanderungsgesetz zu verabschieden als ein Ge-
setz, das von CDU und CSU diktiert wird. Ich kann das
gut nachvollziehen. Aber bedenken wir: Das hilft den
Betroffenen überhaupt nicht. Deshalb werbe ich drin-
gend dafür: Lassen Sie uns doch wenigstens im humani-
tären Bereich rechtliche Standards setzen, die längst
überfällig sind!

Ich möchte mich daher heute auf die Grundforderun-
gen beschränken, die auch von Flüchtlings- und Mi-
grantenorganisationen zu Recht erhoben werden:

Erstens. Der Familiennachzug in die Bundesrepublik
muss für alle Kinder möglich sein. Das heißt nach gel-
tendem Familienrecht: bis zum Alter von 18 Jahren.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Wer das ablehnt – wir haben gestern bereits darüber de-
battiert –, mag Gründe haben. Unter dem Strich betreibt
er aber eine Politik, die Familien erster und Familien
zweiter Klasse schafft. Das wollen wir nicht.

Zweitens. Nicht staatliche und geschlechtsspezifi-
sche Verfolgung muss endlich als Fluchtgrund anerkannt
werden. Wer das nicht tut, sortiert Menschen in höchster
Not nach Gutdünken. Das wollen wir nicht.

Drittens. Opfer von Menschenrechtsverletzungen dür-
fen weder ab- noch zurückgeschoben werden. Wer das
will, riskiert neue Menschenopfer. Das wollen wir nicht.

Viertens. Schutzbedürftige, die nicht abgeschoben
werden dürfen oder können, müssen einen sicheren Auf-
enthaltsstatus erhalten. Wer das nicht will, nimmt Men-
schen ihre Würde.

Fünftens. Das Asylbewerberleistungsgesetz muss ab-
geschafft oder zumindest, wie in Berlin und Mecklen-
burg-Vorpommern, humaner praktiziert werden. Wer das
nicht will, behandelt Asylbewerber wie Aussätzige.

Der Katalog humanitärer Forderungen ist natürlich län-
ger, wohlgemerkt: „humanitärer Forderungen“, denn mit
einem modernen Zuwanderungsrecht oder mit einem repu-
blikanischen Staatsverständnis hat das noch nichts zu tun.

Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen:
Während die US-Regierung einen Krieg vorbereitet und
die CDU-Spitze dies unterstützt, treiben den bayerischen
Innenminister Beckstein ganz andere Sorgen um. Er will,
dass Kriegsflüchtlinge auf keinen Fall Europa erreichen
und schon gar nicht die Bundesrepublik; so seine Forde-
rung. Sie müssten in der Krisenregion – ich zitiere –
menschenwürdig untergebracht werden. Mit Verlaub,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, das
ist politische Schizophrenie.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503103100


Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit von der SPD-
Fraktion.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1503103200


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach dieser Debatte muss ich zumindest eine
Vorbemerkung machen. Herr Kollege Koschyk, Sie ha-
ben es für richtig gehalten, sich wegen angeblich zu
scharfer, ehrverletzender Äußerungen, die ich über
Herrn Schönbohm gemacht hätte, an meinen Arbeits-
gruppensprecher zu wenden. Das ist Ihr gutes Recht. Ich
komme darauf noch zurück.






(A) (C)



(B) (D)


Rüdiger Veit
Wenn Sie aber derart ehrpusselig und empfindlich
sind,


(Zuruf des Abg. Hartmut Koschyk [CDU/CSU])


verstehe ich nicht, wie Sie dazu kamen, gegenüber dem
Kollegen Hacker in Bezug auf seine berufliche Vergan-
genheit in der früheren DDR eine derart abfällige Be-
merkung zu machen. Das war unanständig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hartmut Koschyk [CDU/ CSU]: Was er vorher zu mir gesagt hat, interessiert Sie wohl nicht!)


Aber das ist nicht die einzige Heuchelei, mit der wir
es hier und heute zu tun haben. Vielmehr ging es mun-
ter weiter. Heute Morgen konnte man, wenn man die
Tickermeldungen gelesen hatte, noch der Meinung sein,
die CDU/CSU sei in der Frage nicht ganz aufgestellt
und es sei unklar, ob sie bereit sein könnte, beim Zu-
wanderungsgesetz an einem echten Kompromiss mitzu-
wirken. Nach den Redebeiträgen von Herrn Bosbach
und Herrn Koschyk bin ich da nicht mehr sehr optimis-
tisch.

Immerhin sagten heute Morgen Frau Professor
Süssmuth und Ministerpräsident Müller auf der einen
Seite, das Zuwanderungsgesetz müsse es grundsätz-
lich geben. Die Herren Stoiber und Beckstein auf der
anderen Seite sagten, eigentlich gehe nichts mehr, wir
bräuchten nichts, es sei kein Unglück, wenn wir gar
nichts bekämen.

Heute stellt sich dann Herr Bosbach hier hin und sagt
– auch das kann so nicht stehen bleiben –, im ersten An-
lauf sei versucht worden, den Gesetzentwurf durch einen
angeblich wohl kalkulierten Verfassungsbruch durch den
Bundesrat zu bringen.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Soll ich das noch einmal sagen? – Zuruf von der CDU/ CSU: Das war auch so!)


Herr Kollege Bosbach, ich will Ihnen dazu etwas sa-
gen: Da ich den Vorzug hatte, dieser Beratung im Bun-
desrat beizuwohnen, konnte ich nicht umhin zuzuhören,
als sich Herr Stoiber zu seinem letzten Gespräch mit
Herrn Schönbohm vor der Abstimmung ausgerechnet
anderthalb Meter neben mich gestellt hat, um ihn davon
zu überzeugen, er müsse im Bundesrat nicht nur einmal,
sondern mindestens dreimal Nein sagen.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das hat er ja auch!)


Auch die beiden sind davon ausgegangen, dass dann,
wenn er sich anders verhalten würde, die Zustimmung
von Brandenburg möglicherweise unterstellt werden
könnte. Ich will Ihnen einmal sagen, wer damit etwas
kalkuliert hat:


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war ja alles inszeniert!)


Herr Schönbohm hat damit kalkuliert, dass er seinen Mi-
nisterposten behält, wenn er folgsam ist und nur einmal

Nein sagt. Im Übrigen sagte er: Herr Präsident, Sie ken-
nen meine Auffassung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Bosbach [CDU/ CSU]: Ist das verfassungswidrig? Das ist doch lächerlich!)


– Das ist nicht lächerlich, das ist die Wahrheit und ent-
spricht dem wirklichen Ablauf.

Sie sagen, Karlsruhe habe diesen Gesetzentwurf ver-
worfen.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Herr Schily hat gesagt, das wäre verfassungsmäß!)


Karlsruhe hat den Gesetzentwurf aber nicht wegen sei-
nes Inhalts verworfen,


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das hat keiner gesagt!)


sondern das Gericht hat das Theaterdrehbuch verworfen,
für das Herr Koch im Bundesrat Verantwortung getragen
hat. Darum ging es.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Bosbach [CDU/ CSU]: Es hat eure absurde Rechtsansicht verworfen!)


Herr Koschyk, ich darf mich Ihnen noch einmal zu-
wenden. Auf der einen Seite beklagen Sie bei unserer De-
batte, dass die sozialen Sicherungssysteme überlastet
seien. Sie sprachen sogar vom Kollabieren oder Zerbers-
ten. Auf der anderen Seite ist es die CDU/CSU, die bereits
im vormaligen Gesetzgebungsverfahren, aber auch jetzt
wieder gesagt hat: Wir sind dagegen, dass Menschen, die
in Deutschland als Flüchtlinge Schutz finden müssen, weil
man sie nicht abschieben kann oder weil sie nicht ausrei-
sen können, eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Wir
sind dafür, dass es für diese weiterhin Kettenduldungen
gibt – das betrifft etwa eine viertel Million Menschen –,
mit der Folge, dass sie nicht arbeiten können, dass sie ih-
ren Lebensunterhalt nicht verdienen können, dass ihre
Kinder keine Ausbildungsplätze antreten können und
dass ihre Integration keine Fortschritte macht, obwohl
sich ihr Aufenthalt manchmal bis Jahrzehnte erstreckt.
Wer Sozialneid schürt, indem er auf der einen Seite sagt,
er sei dagegen, dass die Sozialsysteme belastet werden,
auf der anderen Seite aber sagt, er sei ebenfalls dagegen,
dass die Menschen in die Lage versetzt werden, mit ihrer
eigenen Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt zu bestrei-
ten, der redet mindestens widersprüchlich.


(Zuruf von der CDU/CSU: Es geht um die Attraktivität des Asylmissbrauchs! Sie haben es nicht begriffen!)


Man könnte etwas pointierter auch sagen: Er heuchelt,
und das nicht unerheblich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich noch einmal zu den drei Komplexen
des Zuwanderungsgesetzes kommen und die Positionen
zu markieren versuchen.






(A) (C)



(B) (D)


Rüdiger Veit
Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt. Hier ist die
FDP meilenweit von der CDU entfernt. Wir liegen mit
unserem abgewogenen Vorschlag ziemlich genau da-
zwischen. Wir wollen je nach den Bedürfnissen des Ar-
beitsmarktes Arbeitsmigration in begrenztem Umfang
zulassen. Die CDU/CSU legt jetzt einen neuen Ände-
rungsantrag vor, in dem sie die Regelungen mit 1 Mil-
lion Euro Investitionskapital und zehn Arbeitsplätzen bei
Selbstständigen nicht mehr will. Meine sehr verehrten
Damen und Herren, ist es eigentlich Ihrer Aufmerksam-
keit entgangen, dass im letzten Gesetzgebungsverfahren
genau diese Passage auf Wunsch der CDU/CSU ins Ge-
setz hineingekommen ist? Was können wir denn dafür,
wenn Sie ein Jahr später nicht mehr wissen, was Sie frü-
her gefordert haben?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr richtig!)


Sie sind auch diejenigen, die ernstlich meinen, man
könnte Höchstqualifizierte ins Land holen und ihnen sa-
gen: Ihr bekommt eine Aufenthaltserlaubnis nur für drei
Jahre, danach könnt ihr mit euren Familien oder auch al-
lein wieder nach Hause gehen.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Abwegig ist das! Das ist Unfug, Herr Schröder, wie Sie wissen!)


So werden wir hier keinen Erfolg haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nächstes Stichwort: Integration. Hier stimmen wir ja
überein, dass es wünschenswert wäre, auch diejenigen
mit zu integrieren und ihnen Deutschkurse anzubieten,
die schon länger in Deutschland leben und einen auslän-
dischen Pass haben, und nicht nur denjenigen, die neu zu
uns kommen. Aber wenn wir einen Rechtsanspruch für
alle bereits in Deutschland lebenden Menschen ohne
deutschen Pass begründen würden, könnte das im Ergeb-
nis nicht nur sehr viel Geld von allen staatlichen Ebenen
erfordern, namentlich vom Bund – das ist ja vor allen
Dingen Ihre Vorstellung –, sondern es würde auch be-
deuten, wir müssten am Tag des In-Kraft-Tretens, theo-
retisch am 1. Januar 2004, für „round about“ 2 Millionen
Menschen Deutschkurse anbieten. Das kann niemand
leisten, auch organisatorisch nicht.

Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren
von der CDU/CSU oder auch von der FDP, Kollege
Dr. Stadler oder Frau Ministerin, sagen, wir müssten hier
sehr viel mehr machen, es habe Defizite gegeben, stim-
men wir mit Ihnen überein. Wenn wir gemeinsam einen
Weg finden, das zu bezahlen: noch besser. Aber eines
können wir Ihnen hier nicht durchgehen lassen: Tun Sie
bitte nicht so, als wäre es ein Versäumnis der rot-grünen
Regierung oder der Mehrheit der letzten fünf Jahre, dass
es ausländische Menschen gibt, die noch nicht ausrei-
chend Deutsch können. Das sind die Folgen Ihrer Ver-
säumnisse in den vergangenen Jahren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die FDP war, wenn ich mich richtig erinnere, als Junior-
partner auch über 40 Jahre an der Bundesregierung be-
teiligt und hat sich wohl in diesen Fragen nicht durchset-
zen können.


(Jörg Tauss [SPD]: Die haben sich zu diesem Thema knapp gehalten!)


Meine Damen und Herren, hier könnten wir sicher zu
Kompromissen kommen, wenn es uns auch gelänge, das
Geld zu finden.

Lassen Sie mich noch einmal kurz zur Frage des Aus-
länderrechts kommen. Ich finde es bemerkenswert – ich
muss das wiederholen –, wie viel Angst die CDU/CSU
vor Kindern hat.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja total lächerlich!)


Wir reden hier über die Differenz zwischen zehn und
zwölf Jahren beim Kindernachzugsalter.


(Martin Hohmann [CDU/CSU]: Schauen Sie mal Ihre neue Familienministerin an!)


Dabei geht es insgesamt um wenige hundert Kinder pro
Jahr. Sie wollen sogar abschaffen, was wir ins Gesetz
schreiben wollen, dass nämlich Ausnahmen möglich
sind, wenn das Kindeswohl es erfordert oder wenn be-
sondere familiäre Umstände vorliegen. Sie sind dagegen,
das besagt einer Ihrer Änderungsanträge. Das ist Ihr Fa-
milienbegriff, jedenfalls wenn es um ausländische Men-
schen geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Weil bei Ihnen jede Ausnahme zur Regel wird!)


Dieses Gesetz, das wir erneut auf den Weg gebracht
haben – darauf hat auch der Herr Bundesinnenminister
hingewiesen –, ist bereits ein politischer Kompromiss.
Wir haben im Beratungsverfahren im Innenausschuss
16 Änderungsanträge der CDU/CSU und elf Anregun-
gen des Bundesrates aufgenommen. Darunter waren üb-
rigens auch Änderungsanträge, die die Härtefallregelung
betreffen, die nun wiederum von der CDU/CSU nicht
gewollt wird. Wir haben außerdem die vier Brandenbur-
ger Punkte aufgenommen und sind dort Herrn Stolpe
und Herrn Schönbohm weitgehend entgegen gekommen.

Das hat, wie wir alle wissen, leider nicht gereicht.
Deswegen muss ich erneut feststellen – Herr Kollege
Koschyk, daher entschuldige ich mich nicht für das, was
ich über Herrn Schönbohm gesagt habe, sondern wieder-
hole es –:


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das wäre aber angebracht!)


Es ist besonders bedauerlich, dass Herr Schönbohm, der
sich laut „Berliner Zeitung“ vom 18. Januar 2002 ganz
weit aus dem Fenster gelehnt hat, dann nicht zu seinem
Wort gestanden hat. Auf die Frage, ob die große Koali-
tion in Brandenburg bei der Begrenzung der Zuwande-
rung bei nicht staatlicher Verfolgung zustimmen würde,
wenn wir uns auf Brandenburg zubewegen würden – das






(A) (C)



(B) (D)


Rüdiger Veit
haben wir getan –, hat er gesagt: Ja, das sei die Linie, die
abgestimmt sei, auch – man höre – mit dem CDU-regier-
ten Saarland. Diese Zusage würden sie auch einhalten,
wenn ihnen – wie es in den Beratungen des Innenaus-
schusses geschehen ist – die Bundesregierung in der ge-
forderten Weise entgegenkommen würde.

Daraufhin wurde nachgefragt, ob nicht die Gefahr be-
stehe, dass er als Koalitionär bei einer Zustimmung in ei-
nen Zwiespalt geraten könne, schließlich sei er Präsidi-
umsmitglied in der CDU und gleichzeitig in einer
Koalition mit der SPD. Er hat wörtlich geantwortet – ich
nehme an, das Interview, bestehend aus Fragen und Ant-
worten, ist von ihm so autorisiert –:

Stoiber und die CDU wissen seit dem
20. Dezember, unter welchen Bedingungen wir nur
zustimmen können. Das weiß auch die Bundes-
regierung.

Jetzt kommt ein Satz, der für einen früheren Berufsoffi-
zier besonders bemerkenswert ist:

Weil wir altmodische Leute sind und halten, was
wir sagen, kann man uns nicht zwischen die Fron-
ten bringen.

Hätte er das mal wahr gemacht! Wenn ich von Wort-
bruch spreche, dann ist das objektiv richtig. Sie hätten
alle Veranlassung dazu, in diesem Gesetzgebungsverfah-
ren etwas Wiedergutmachung zu leisten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503103300


Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Strobl
von der CDU/CSU-Fraktion.


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1503103400


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren Kollegen! Herr Bundesinnenminister Schily und die
Redner der rot-grünen Koalition haben eine ganze Reihe
von Appellen an die Union gerichtet und uns gebeten,
wir mögen dem rot-grünen Zuwanderungsgesetz doch
zustimmen. Stur wie Panzer bringen Sie ein Gesetz ein,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das müssen Sie gerade sagen! – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Rüsten Sie ab, Herr Strobl! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch die Panzerfraktion! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/ CSU]: Ihr seid doch die Betonfraktion!)


von dem Sie aus den Beratungen im Deutschen Bundes-
tag und im Bundesrat wissen, dass wir es ablehnen. Sie
legen, obwohl Sie wissen, dass das Bundesverfassungs-
gericht dieses Gesetz aus formalen Gründen für verfas-
sungswidrig erklärt hat, uns dieses Gesetz in der alten
Fassung vor. Vor diesem Hintergrund sind die Appelle,
die Sie an uns richten, doch scheinheilig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Scheinheilig ist auch etwas anderes. Die Überschrift
dieses Gesetzentwurfes lautet: Zuwanderung steuern und
begrenzen – Integration fördern. Dem können wir zu-
stimmen. Das Problem ist nur: In dem Gesetz steht das
Gegenteil von dem, was die Überschrift verspricht.


(Zuruf von der SPD: Was? Das ist auch drin!)


Es soll nicht mehr gesteuert werden, sondern mehr unge-
steuerte Zuwanderung ermöglicht werden. Dieses Zu-
wanderungsgesetz ist ein großer Etikettenschwindel.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ihr Zuwanderungsgesetz ist kein Fall für das Bundes-
gesetzblatt, sondern für das Monatsblatt der Stiftung
Warentest. Wenn dort der Inhalt Ihres Gesetzes auf
Übereinstimmung mit der Überschrift geprüft würde,
dann wäre das Ergebnis: nicht empfehlenswert. Darüber
hinaus würden Sie wegen Irreführung des Verbrauchers
auf der Titelseite stehen. Ein solches Gesetz werden wir
Ihnen nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: „Nicht empfehlenswert“ käme da heraus! – Gegenruf des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen Verbraucherschutz sind Sie ja auch!)


Die Bundesrepublik Deutschland ist ein ausländer-
freundliches Land. Wir wollen, dass Deutschland ein
ausländerfreundliches Land bleiben kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Die Ansage von Herrn Koschyk war ja ein Kulturkampf!)


Ich nenne hierzu einige Zahlen: Deutschland steht mit
einem Ausländeranteil von 9 Prozent – das sind
7,3 Millionen Menschen; davon drei Viertel aus Nicht-
EU-Staaten – an der Spitze der großen westlichen Indus-
triestaaten. Insofern muss jedem verständigen Politiker
doch vollkommen klar sein, dass unser Ziel eine ver-
stärkte Steuerung und Beschränkung der Zuwanderung
sein muss. Alles andere ist unverantwortliche Politik.

Deshalb vertreten wir von der CDU/CSU einen
grundsätzlich anderen Ansatz in der Zuwanderungspoli-
tik als Sie von Rot-Grün. Wir wollen nämlich eine tat-
sächliche Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung.
Dies soll nicht nur vorne auf dem Gesetz, sondern auch
im Gesetz stehen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abschottung wollen Sie!)


Entgegen Ihren Behauptungen – insbesondere Be-
hauptungen des Herrn Bundesinnenministers auch hier
und heute von dieser Stelle aus – wollen Sie in Wahrheit
keine verstärkte Steuerung und Begrenzung der Zuwan-
derung. Die schlichte Wahrheit – das ist heute bei ver-
schiedenen Debattenbeiträgen in Nebensätzen ein wenig
durchgedrungen – ist: Sie wollen, dass Deutschland ein
multikulturelles Einwanderungsland wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre wirklich schlimm! – Wilhelm Schmidt Thomas Strobl [Salzgitter] [SPD]: Das kennen wir doch alles schon! Das wird auch durch Wiederholungen nicht besser!)





(A) (C)


(B) (D)


Wir wollen es nicht.

Herr Kollege Schmidt, ich nenne Ihnen gerne ein paar
Zahlen dazu. Nach dem In-Kraft-Treten des rot-grünen
Zuwanderungsgesetzes – wir hoffen, dass es nicht in
Kraft tritt –


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was denn nun?)


gäbe es beim jährlichen Zuwanderungssaldo ein Plus
von bis zu 100 000 Menschen.


(Zuruf von der SPD: Quatsch!)


Ich nenne und wiederhole kurz die Gründe dafür, die die
Kollegen Bosbach und Koschyk hier bereits dargestellt
haben, nämlich


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist unseriös wie sonst nichts!)


die deutliche Erweiterung im Bereich der Arbeitsmigra-
tion durch die Aufhebung des Anwerbestopps, weitere
Möglichkeiten des Familiennachzugs, weitere Anreize
zur ungesteuerten Zuwanderung durch Missbrauch des
Asylrechts, eine erweiterte Härtefallregelung usw.


(Lothar Mark [SPD]: Das glauben Sie doch selbst nicht, was Sie da sagen!)


Das alles sind Regelungen, die die Zuwanderung nicht
begrenzen, sondern ausweiten.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!)


Legt man den derzeitigen und langfristigen Zuwan-
derungssaldo von 200 000 Ausländern in die Bundes-
republik Deutschland zugrunde, stiege der Saldo der Zu-
wanderer mit dem neuen Recht auf jährlich circa
300 000 an. Nach den Berechnungen des Bevölkerungs-
wissenschaftlers Rainer Münz von der Humboldt-Uni-
versität hier in Berlin ergäbe sich damit bis 2050 ein
bundesweiter Ausländeranteil von 18 bis 20 Prozent.
Das wäre mehr als eine Verdoppelung der Zahl der Aus-
länder in der Bundesrepublik Deutschland bezogen auf
den derzeitigen Stand. Der Ausländeranteil würde in ei-
ner ganzen Reihe von großen Städten auf über
50 Prozent steigen. In vielen Großstädten wird der An-
teil der Zugewanderten bei den unter 40-Jährigen im
Übrigen schon ab 2010 bei über 50 Prozent liegen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist so abstrus, das muss man überhaupt nicht kommentieren! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat das der Herr Birg wieder gesagt oder was?)


Bei Kindern und Jugendlichen wäre ein noch höherer
Anteil zu erwarten. Durch eine Ausweitung der Zuwan-
derung würde die deutsche Bevölkerung in vielen Städ-
ten und Regionen zu einer Minderheit im eigenen
Land.


(Zurufe von der SPD: Herrgott noch mal! – Fängt der wieder damit an!)


– Herr Kollege, das malen nicht wir an die Wand und das
sagen nicht nur wir, sondern das ist das Ergebnis, zu dem
führende Bevölkerungswissenschaftler kommen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Einer, und der ist umstritten ohne Ende! Das wissen Sie doch auch! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Sie wären vielleicht gut beraten, wenn Sie das, was uns
die Bevölkerungswissenschaftler sagen und für die Zu-
kunft prognostizieren,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der eine!)


zur Kenntnis nehmen und nicht nur Ihrer Ideologie frö-
nen würden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Welche Prioritäten Rot-Grün verfolgt, kann man im
Übrigen auch an der überaus nachlässigen Behandlung
des Themas Integration sehen. Der Bund zieht sich aus
der Integration zurück.


(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Was war denn in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit in Sachen Integration?)


Das ist nicht nur ein Zuwanderungserweiterungsgesetz,
sondern auch ein Kostenverteilungsgesetz zulasten der
Länder und insbesondere der Kommunen. Auch dies
können wir nicht akzeptieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, eine Bemerkung des Kol-
legen Beck, die er hier heute wiederholt hat, war interes-
sant: Die Union sei in der Zuwanderungsfrage völlig iso-
liert.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig so!)


Ich möchte Ihnen hierzu nur sagen, dass eine Mehrheit
der Bürgerinnen und Bürger die Ausweitung der Zuwan-
derung ablehnt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nach einer Emnid-Umfrage im Januar 2002 sind 75 Pro-
zent der Befragten für eine Beschränkung der Zuwande-
rung. In einer Umfrage im März 2002 sagten 52 Prozent,
dass ihnen der Ausländeranteil in Deutschland zu hoch
sei.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie dem Gesetz doch zu!)


Das Institut für Demoskopie Allensbach hat im Februar
2003 ermittelt, dass 62 Prozent der Bevölkerung von ei-
nem Zuwanderungsgesetz die Verringerung des Zuzugs
von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten erwarten. Weil
auch wir genau das wollen, ist die Union nicht isoliert.
Sie bringt vielmehr das zum Ausdruck, was eine Mehr-
heit der Bevölkerung in dieser Frage denkt.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Thomas Strobl (Heilbronn)

Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben
keine Unterstützung für die von Ihnen geplante generelle
Öffnung des Arbeitsmarktes. Sie haben heute noch weni-
ger Unterstützung als vor einem Jahr, weil die Arbeitslo-
senzahl inzwischen bei knapp 5 Millionen angelangt ist.
Deswegen betreiben Sie mit Ihrem Zuwanderungsgesetz
fortgesetzt Etikettenschwindel. In der Überschrift zu die-
sem Gesetz steht „Steuerung und Begrenzung“, aber im
Gesetz selbst haben Sie reihenweise Tatbestände ge-
schaffen oder ausgeweitet, die das genaue Gegenteil
bewirken, nämlich Ausweitung und Entgrenzung von
Zuwanderung. Den von Ihnen behaupteten breiten ge-
sellschaftlichen Konsens in dieser Frage gibt es nicht;
dies ignoriert die Haltung der Bürgerinnen und Bürger.

Rot-Grün ist im Übrigen der Volkswille ziemlich
egal. Deswegen waren Sie bereit – der Kollege Bosbach
hat darauf zu Recht hingewiesen –, die Verfassung zu
brechen, um Ihre Politik gegen den Willen der großen
Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So sind sie halt!)


so wie dies Herr Wowereit auf Geheiß des Bundeskanz-
lers bei der Abstimmung zum Zuwanderungsgesetz im
Bundesrat getan hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Hören Sie doch auf die Fachleute! Hören Sie doch auf
die vielen kritischen Stimmen in Wissenschaft und Poli-
tik! Wenn Sie schon nicht auf sie hören, dann hören Sie
wenigstens auf einen verdienten Genossen:

Wir haben unter idealistischen Vorstellungen, gebo-
ren aus der Erfahrung des Dritten Reichs, viel zu
viele Ausländer hereingeholt ..., die nicht integriert
sind, von denen die wenigsten sich integrieren wol-
len, denen auch nicht geholfen wird, sich zu inte-
grieren.

So sprach Altbundeskanzler Helmut Schmidt, SPD. Ich
sage Ihnen: Der Mann hat Recht. Wir wollen einen ande-
ren, aus unserer Sicht realistischen Weg gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unbemerkt von der Öffentlichkeit vollzieht sich auf
der Ebene der EU ein besonders trauriges Kapitel. Sie
stimmen Regelungen auf EU-Ebene zu oder widersetzen
sich ihnen jedenfalls nicht, mit denen die Zuwanderung
ausgeweitet werden soll. Ihr Motto lautet wohl: Wenn
wir unser Zuwanderungsrecht in Deutschland nicht in
unserem Sinne verändern können, dann bleibt uns noch
immer die Möglichkeit, dies auf europäischer Ebene
durchzusetzen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der Vorteil, wenn man der Regierung angehört!)


Herr Kollege Beck hat dies Ende letzten Jahres in der
„Welt“ zum Ausdruck gebracht:

Dann können wir besser mit dem geltenden Auslän-
derrecht leben und mit den Regelungen, die auf eu-
ropäischer Ebene kommen.

Nachtigall, ich hör dir trapsen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503103500


Herr Kollege Strobl, bitte kommen Sie zum Schluss.


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1503103600


Herr Präsident, ich komme zum Schluss.

Es war schon ein starkes Stück, als der Herr Staats-
sekretär im Bundesinnenministerium, Körper, gestern im
Deutschen Bundestag der deutschen Öffentlichkeit ver-
kaufen wollte, dass wir durchaus die Möglichkeit hätten,
das Nachzugsalter auf unter zwölf Jahre zu senken.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zitieren Sie einmal richtig! Zitieren Sie aus dem Protokoll!)


Dabei ist allgemein bekannt, dass dies aufgrund von EU-
Recht nicht mehr möglich ist. Dies hat im Übrigen Frau
Staatssekretärin Vogt am Vormittag desselben Tages im
Innenausschuss des Deutschen Bundestag auch so darge-
stellt. Herr Bundesinnenminister, nur einer Ihrer Staats-
sekretäre kann in dieser Frage Recht haben. Es wäre
schön gewesen, wenn Sie hier im Plenum des Deutschen
Bundestages heute Morgen ein klärendes Wort zu dieser
Frage gesagt hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503103700


Herr Kollege Strobl, das war ein guter Schluss. Vielen
Dank.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Gut war es nicht, aber es war Schluss!)



Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1503103800


Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503103900


Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Philip Winkler
vom Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Strobl, obwohl Sie so gerne Herrn Birk zi-
tieren, muss ich Ihnen heute zumuten, dass Leute wie ich
am Rednerpult des Deutschen Bundestages stehen. Das
sollte nicht die Ausnahme bleiben, sondern – Herrn Birk
wird dies vielleicht ärgern – in Zukunft noch deutlich
häufiger der Fall sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nach der Greencard-Initiative des Bundeskanzlers und
der Einsetzung der parteiübergreifenden Unabhängigen






(A) (C)



(B) (D)


Josef Philip Winkler
Kommission Zuwanderung hat die Bundesregierung ein
Zuwanderungsgesetz verabschiedet. Der vorgelegte Ge-
setzentwurf ist das Ergebnis der Einbeziehung aller, auch
der christdemokratischen Parteien. Dieses Gesetz markiert
– bei aller Kritik in Einzelpunkten – einen Paradigmen-
wechsel hin zu einem Einwanderungsland Deutschland.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


In dem Gesetz wird Integration als gesellschaftliche
Aufgabe anerkannt. Die Zuwanderung von Arbeitskräf-
ten wird durch ein modernes Auswahlverfahren sowie
eine Abkehr von der Politik des Anwerbestopps vernünf-
tiger und deutlich demokratischer geregelt. Die humani-
tären Verpflichtungen, insbesondere im Flüchtlingsrecht,
werden nunmehr umfassend und uneingeschränkt beach-
tet. Zum ersten Mal erkennt eine Bundesregierung die
Realität an, dass die Bundesrepublik Deutschland ein
Einwanderungsland ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Koschyk, Ihrer Interpretation der französischen
Einwanderungsgesetzgebung kann ich nicht ganz folgen.
Schauen Sie sich doch einmal die französische National-
mannschaft an: Bei ihrer Farbenpracht implodiert jeder
Farbfernseher.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Familienpolitik! – Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Was hat das denn mit Familienpolitik zu tun?)


– Familienzusammenführungspolitik.

Herr Bosbach, Sie sprachen vom Volkswillen, der bei
der Gesetzgebung befolgt werden müsse. Hinsichtlich
der Außenpolitik interessiert Sie der Volkswille über-
haupt nicht. Sie haben jeden Anspruch verwirkt, den
Willen des Volkes für sich in Anspruch zu nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Schauen Sie sich doch einmal in Ihrem eigenen Be-
kannten- und Verwandtenkreis um: Die deutsche Gesell-
schaft wandelt sich. Ich finde, das ist richtig so.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Darum geht es doch nicht!)


In Zeiten der Globalisierung ist es ein Irrglaube, zu
denken, dass man Wanderungsbewegungen komplett
stoppen kann. Da die Möglichkeiten zur Mobilität und
Kommunikation in Zukunft nicht abnehmen, sondern zu-
nehmen werden, werden wir es in Zukunft verstärkt mit
einem Mosaik unterschiedlicher Traditionen, Religionen
und Lebensgewohnheiten in Deutschland zu tun haben.
Eine Abschottungspolitik, wie sie in den Änderungsanträ-
gen, die von den unionsregierten Ländern im Bundesrat
eingebracht wurden, zum Ausdruck kommt, kann diese
Entwicklung nur verzögern, jedoch nicht verhindern.

Der Geist, der hinter einigen Ihrer Anträge steckt,
meine Damen und Herren von der Union, ist jedoch gefähr-

lich. Sie ignorieren, dass in unserem Land inzwischen die
dritte Generation der Einwanderer herangewachsen ist.
Diese Generation tritt mit viel Selbstbewusstsein auf und
lässt es sich nicht mehr so leicht gefallen, herumge-
schubst zu werden. Bei diesen jungen Menschen tritt ein
anderes Selbstverständnis zutage als noch bei ihren El-
tern. Sie verstecken sich nicht mehr, sondern stellen legi-
time Forderungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Diese jungen Migrantinnen und Migranten wollen, dass
ihre Art zu leben in der Gesellschaft als eine Form unter
anderen akzeptiert und anerkannt wird. Sie wollen von
der hiesigen Gesellschaft nicht mehr – auch nicht von Ih-
nen – durch die Brille der 60er-Jahre gesehen werden.

Unter den neuen Inländern gibt es Vertreter aller Be-
rufsgruppen. Sie alle werden ihren Beitrag zur Weiter-
entwicklung unserer Gesellschaft leisten. Wenn wir ih-
nen diese Chance geben und sie dabei aktiv fördern,
werden sie uns helfen, Brücken nicht nur zwischen der
ersten Einwanderergeneration und der Mehrheitsgesell-
schaft zu bauen, sondern auch zwischen dem Herkunfts-
land und der Aufnahmegesellschaft.

In diesem Sinne gebe ich die Hoffnung auf das Zu-
standekommen eines breiten Konsenses nicht auf, ob-
wohl Sie, meine Damen und Herren von der Union, mit
Ihren Anträgen das Rad der Geschichte zurückdrehen
wollen. Sie verschließen weiterhin die Augen vor der ge-
sellschaftlichen Realität und den Herausforderungen ei-
ner Einwanderungsgesellschaft. Sie fallen mit dieser
Verhandlungsgrundlage zudem – das wurde schon ge-
sagt – weit hinter die Beschlüsse Ihrer eigenen Zuwan-
derungskommission zurück.

Bezogen auf Ihre Anträge will ich ein persönliches
Beispiel anführen: Mit dem Antrag bezüglich des Staats-
bürgerschaftsrechts wird von Ihnen eine ganze Genera-
tion hier lebender junger Menschen, die in diesem Land
geboren wurden, aus der Gesellschaft ausgeschlossen
und ihr jede Integrationschance verbaut, weil Sie der
zweiten Generation die Einbürgerungschance verwehren
wollen. Das geht so nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin stolz, der Sohn einer indischen Mutter zu sein.
Ich bin aber auch stolz, ein deutscher Volksvertreter zu
sein. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Integrati-
onswilligkeit und die Integrationsfähigkeit – Sie spre-
chen sie dieser ganzen Generation junger Menschen ab –
von Ihnen nicht richtig eingeschätzt wird. Sie sollten
sich da bewegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Harald Leibrecht [FDP])


Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und
Unsicherheiten darf ein solcher Weg nicht beschritten
werden, wenn die Zukunft in einem weltoffenen Europa
gemeinsam gestaltet werden soll. Wir, die rot-grüne
Koalition, wollen ein modernes, sozial verträgliches,






(A) (C)



(B) (D)


Josef Philip Winkler
europataugliches und humanes Zuwanderungsgesetz,
das den Realitäten dieses Landes gerecht wird.

Sie sind herzlich eingeladen, sich dem anzuschließen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503104000


Herr Kollege Winkler, ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!


(Beifall)


Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Lale Akgün von
der SPD-Fraktion.


Dr. Lale Akgün (SPD):
Rede ID: ID1503104100


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem
Haus wird das Zuwanderungsgesetz heute zum zweiten
Mal beraten. Dass es beim ersten Mal nicht zu einem
parteiübergreifenden Konsens kommen konnte, hatte da-
mit zu tun, dass die Bundestagswahl vor der Tür stand.
Ihnen, werte Kollegen von der CDU/CSU, war es wich-
tig, das Thema Zuwanderung zum Wahlkampfthema
machen zu können. Sie haben sich dabei alle Mühe ge-
geben, die Aufgaben der Politik misszuverstehen. Sie
haben nicht die Ängste der Menschen aufgenommen,
sondern Sie haben sie geschürt und instrumentalisiert.


(Beifall bei der SPD)


Der Wahlkampf auf dem Rücken der Menschen ist Ih-
nen aber nicht gelungen; Sie haben die Bundestagswahl
verloren. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass der Wahl-
kampf vorbei ist, und kehren Sie zu einer konstruktiven Po-
litik zurück! Denn das Thema Zuwanderung ist langfristig
von zu großer Bedeutung, um es in Bundestags- oder Land-
tagswahlen für kurzfristige Interessen zu verschleißen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ein Blick in den Bericht der Enquete-Kommission
„Demographischer Wandel“ aus der vergangenen Legis-
laturperiode zeigt Ihnen, dass es sich um einen generati-
onenübergreifenden Politikansatz handeln muss, der
langfristige Planung und ein langfristig angelegtes Ge-
setz notwendig macht.

In diesem Zusammenhang – weil wir den Bericht der
Integrationsbeauftragten heute mitberaten – möchte ich
mich bei Frau Beck herzlich dafür bedanken, dass sie ei-
nen so konkreten und detaillierten Bericht vorgelegt hat,
der eine hervorragende wissenschaftliche Grundlage für
unsere Arbeit darstellt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ihrer Haltung, werte Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, kann ich leider kein Lob aussprechen.
Ihre Haltung ist nicht nur wahlkampfgesteuert, sondern

sie zeigt ein viel tiefer sitzendes Problem in Ihren Rei-
hen. Sie sind von einem tiefen Misstrauen gegen jedes
Fremde und Neue und speziell gegen Ausländer in unse-
rem Land besetzt.

Wenn ich Ihre Redebeiträge verfolge, so scheinen Sie
tatsächlich zu glauben, jeder Zuwanderer habe nur das
Ziel, Deutschland maximalen Schaden zuzufügen.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist doch wirklich Quatsch!)


So kommen Sie zu dem Schluss, dass man jede nur er-
denkliche Hürde gegen die Zuwanderung in das Gesetz
aufnehmen muss, um Zuwanderern das Leben in
Deutschland zu erschweren.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist doch wirklich Unsinn, was Sie sagen!)


Anders kann ich mir Ihre Änderungsanträge im Bera-
tungsverfahren des Bundestages und Bundesrates nicht
erklären, in denen Sie die Hürden für Zuwanderung und
Integration verdoppeln und gleichzeitig jede Erleichte-
rung halbieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie sieht die Realität in unserem Land aus? Heute be-
sitzt fast jeder zehnte Mitbürger einen nicht deutschen
Pass. Es gibt mehr als 800 000 binationale Ehen. Mehr
als jeder fünfte Ausländer ist bereits in Deutschland ge-
boren; bei den Türken ist es bereits mehr als jeder dritte.

Das heißt, Deutschland ist ein Einwanderungsland.
Das ist die Realität, auch wenn Sie vor dieser Wahrheit
den Kopf in den Sand stecken. Aber weil dies die Reali-
tät ist, gilt es nicht zu regeln und zu definieren, ob, son-
dern wie die Zuwanderung stattfindet und wie wir die
Zugewanderten bestmöglich integrieren. Genau dies und
nichts anderes regelt dieses Gesetz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben das Argument gebracht, Herr Strobl,
Deutschland werde überfremdet, weil der Ausländeran-
teil in manchen Großstädten in den nächsten Jahrzehnten
auf bis zu 50 Prozent ansteige.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Von Überfremdung hat niemand gesprochen!)


Dieser Denkweise kann man aber nur dann verfallen,
wenn man wie Sie meint, Ausländer bleiben immer Aus-
länder, über Generationen hinweg.

Wir hingegen meinen: Die Menschen, die in dritter
oder vierter Generation bei uns sind, sind keine Auslän-
der. Sie sind in dieser Gesellschaft geboren und aufge-
wachsen. Sie werden als Deutsche geboren, weil wir das
dank unserem republikanischen Denken mit dem neuen
Staatsangehörigkeitsrecht ermöglicht haben, während
Sie immer noch einem Denken in ethnischen Schubladen
verhaftet sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Lale Akgün
Dieser Denkweise kann man aber nur dann verfallen,
wenn man wie Sie meint, Ausländer bleiben immer Aus-
länder, über Generationen hinweg.

Wir hingegen meinen: Die Menschen, die in dritter
oder vierter Generation bei uns sind, sind keine Auslän-
der. Sie sind in dieser Gesellschaft geboren und aufge-
wachsen. Sie werden als Deutsche geboren, weil wir das
dank unserem republikanischen Denken mit dem neuen
Staatsangehörigkeitsrecht ermöglicht haben, während
Sie immer noch einem Denken in ethnischen Schubladen
verhaftet sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch ein Beispiel nennen, bei dem Sie
sich irren. Das Flüchtlingsrecht wird an internationale
Standards angepasst. Die Anerkennung von nicht staat-
licher und geschlechtsspezifischer Verfolgung bringt
keine Zunahme der Flüchtlingszahlen, sondern sie
schafft lediglich Rechtsklarheit für diejenigen, die auf-
grund der Genfer Flüchtlingskonvention ohnehin nicht
ausgewiesen werden.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Darüber wollen Sie hinausgehen! Das ist unser Problem!)


Herr Lubbers, der Vertreter des UNHCR in Deutschland,
hat gestern noch einmal betont, die Genfer Flüchtlings-
konvention kenne keinen Unterschied zwischen staatli-
cher und nicht staatlicher Verfolgung. Die CDU wolle
einen Sonderweg, der in die völlige Isolation führe.
Seien wir doch ehrlich, es geht letztlich darum, einigen
Hundert, vielleicht wenigen Tausend Menschen, die
grausamste Verfolgung hinter sich haben, ein Stück
mehr Rechtssicherheit zu geben. Warum betreiben Sie
hier Fundamentalopposition? Wie kann Ihre christliche
Seele diese Menschen ernsthaft als Bedrohung ansehen?


(Rüdiger Veit [SPD]: Die haben gar keine!)


Ich sage nur: Schämen Sie sich dafür!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Rechtssicherheit und gesetzgeberische Klarheit für
unser Land und für diejenigen Menschen, die zu uns
kommen, heißt übrigens auch, Integration zu erleich-
tern; denn die Zuwanderer wissen, was auf sie zukommt,
und können somit ihre Zukunft in Deutschland gestalten.
Deshalb wollen wir ein Integrationskonzept für diejeni-
gen, die zu uns kommen, mit Sprachkursen als wichti-
gem, aber nicht alleinigem Baustein. Wir wollen des
Weiteren einen Rechtsanspruch auf Integration, weil wir
eine bestimmte Vorstellung von Integration haben. Für
uns ist Integration Teilhabe in allen Lebensbereichen
und Mitgestaltung der Lebensperspektiven in diesem
Land. Wir wollen und werden diese Vision in konkrete
Politik umsetzen. Sie hingegen verkaufen die Bilder von
gestern als Politik von morgen.

In jüngster Zeit wird wieder einmal die PISA-Studie
zitiert, wenn es darum geht, die Defizite von Migranten-
kindern bei Sprache und schulischen Leistungen heraus-

zustellen. Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, beschränken sich darauf, darüber zu lamen-
tieren. Wir hingegen handeln, indem wir bei der Sprach-
kompetenz ansetzen, und zwar schon vor Beginn des
Schulbesuchs. Verstärkte Kindergartenbetreuung und
unsere Politik zur Förderung von Ganztagsschulen sind
die logischen Resultate aus dem Rechtsanspruch auf In-
tegration.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Übrigens, die Sozialdemokraten haben Erfahrungen
mit Integrationsoffensiven. Denken Sie an die Bildungs-
offensive der 70er-Jahre, mit der wir den Zugang zu Bil-
dung für Arbeiterkinder, insbesondere den Zugang zu
Gymnasien, verstärkt haben. Ich bin mir sicher, dass sich
in allen Fraktionen dieses Hauses Abgeordnete finden
lassen, die damals davon profitiert haben. Das gleiche
Engagement wünsche ich mir heute, wenn wir die Inte-
grationsoffensive für die Kinder und Jugendlichen der
Migranten beginnen. So selbstverständlich es heute ist,
dass ehemalige Arbeiterkinder hier Gesetze beschließen,
so selbstverständlich sollte es in 30 Jahren sein, dass Kin-
der ehemaliger Migranten als deutsche Juristen, Wissen-
schaftler und Fachleute in diesem Hohen Hause beraten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich weiß, dass wir Erfolg damit haben werden; denn wir
Sozialdemokraten glauben an Chancengleichheit und
wissen, wie man sie umsetzt.

Herr Bosbach, noch einem anderen Argument möchte
ich entgegentreten, nämlich dem, dass Ausländer stärker
von Arbeitslosigkeit betroffen seien und häufiger Sozial-
hilfe bezögen. Das stimmt zwar, aber an eines sollten Sie
sich erinnern: Als die Anwerbeabkommen geschlossen
worden sind, hat nicht die SPD regiert. Damals wurden
Menschen in der Schwerindustrie, im Bergbau für den
Einsatz unter Tage und in der Stahlindustrie gesucht. Es
wurden ungelernte Arbeitskräfte gebraucht und solche
wurden auch angeworben. Sie sind heute vom Struktur-
wandel besonders stark betroffen, weil in sie nicht inves-
tiert worden ist und weil sie nicht aus- und weitergebil-
det worden sind. Daraus kann man ihnen keinen Vorwurf
machen; denn wir hatten damals keine Konzepte für In-
tegration und Deutschland stand nicht auf der Agenda.
Das ist die Wahrheit. Ich sage bewusst: „Wir“ hatten
keine Konzepte für Integration; denn auch die SPD hat
damals über die Bedeutung von Integration nicht nach-
gedacht. Wir wollen mit unserem Gesetz erreichen, dass
wir aus unseren Fehlern lernen und künftig der Integra-
tion der Einwanderer vom ersten Tag an die ihr gebüh-
rende Bedeutung beimessen.

Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam aus
unseren Fehlern lernen. „Stolz“ ist doch ein ganz wichti-
ger Begriff für Sie. Sorgen Sie deshalb dafür, dass
Deutschland auch stolz auf seine Opposition sein kann.
Springen Sie über Ihren Schatten und stimmen Sie mit
uns für unseren Gesetzentwurf!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503104200


Frau Kollegin Akgün, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!


(Beifall)


Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/420, 15/522, 14/9883, 15/538
und 15/368 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie
Zusatzpunkt 1 auf:

4 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (20. Ausschuss)


– zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN

zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch den Bundeskanzler zu den Ergebnis-
sen des Europäischen Rates in Kopenhagen
am 12. und 13. Dezember 2002

– zu dem Antrag der Abgeordneten Peter
Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU

Der Weg für die Osterweiterung ist frei:
Abschluss der Beitrittsverhandlungen auf
dem Europäischen Rat von Kopenhagen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr

(Münster), Ernst Burgbacher, weiterer Abge-

ordneter und der Fraktion der FDP

Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt
Druck auf innere Reformen der Europä-
ischen Union

– Drucksachen 15/215, 15/195, 15/216,
15/451 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Gloser
Peter Hintze
Rainder Steenblock
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Der europäischen Verfassung Gestalt geben –
Demokratie stärken, Handlungsfähigkeit er-
höhen, Verfahren vereinfachen

– Drucksache 15/548 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss

Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Claudia
Winterstein, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP

Das neue Gesicht Europas: Kernelemente ei-
ner europäischen Verfassung

– Drucksache 15/577 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Red-
ner hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1503104300


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Europa ist gestern von einem feigen Mordanschlag
auf den serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic
erschüttert worden. Wir trauern um einen mutigen Politi-
ker, der für den Demokratieprozess in seinem Land und
damit auch für Europa einen bleibenden Beitrag geleistet
hat. Die Konstante des Zoran Djindjic war der Kampf
für Demokratie und gegen Diktatur. Wir setzen darauf,
dass die Mörder rasch gefasst werden und dass ihr Anlie-
gen scheitert.

Politische Instabilität in einem Teil Europas betrifft in
seinen Auswirkungen den ganzen Kontinent. Die äußerst
fragile Stabilität auf dem Balkan muss mithilfe und im
Interesse Europas gehalten und gefestigt werden. Ich be-
grüße es außerordentlich, dass der EU-Außenbeauftragte
Javier Solana bereits heute nach Belgrad reist, um der
Regierung bei ihrer Reformbemühung zu helfen. Der
Demokratisierungsprozess im ehemaligen Jugoslawien
braucht unsere weitere Unterstützung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


2003 wird als das Jahr der europäischen Weichenstel-
lungen in die Geschichte eingehen. Wir stehen vor der






(A) (C)



(B) (D)


Peter Hintze
bislang größten Erweiterung der Europäischen Union.
Zugleich wollen wir Europa mit einer Verfassung ein
neues Gesicht geben und es nach innen und nach außen
stark für die Zukunft machen. Schließlich führt uns in
diesen Tagen der Irakkonflikt vor Augen, welche außen-
und sicherheitspolitischen Herausforderungen die Euro-
päische Union in den kommenden Jahren zu bewältigen
hat.

Die zentrale Frage, vor der wir heute stehen, lautet:
Wie machen wir Europa angesichts neuer Herausforde-
rungen zu einer wirtschaftlich, politisch und kulturell
starken Gemeinschaft? Der Erfolg der Europäischen
Union beruht auf zwei Einsichten: Das europäische Pro-
jekt kann nur gelingen, wenn der Gemeinschafts-
gedanke die nationalen Partikularinteressen überwiegt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Und: Europa ist auf eine enge transatlantische Part-
nerschaft ebenso angewiesen wie Amerika auf einen
starken europäischen Pfeiler.

Seit Konrad Adenauer zeichnet eine kluge Politik aus,
dass sie die Interessen Deutschlands am besten in einem
versöhnlichen Ausgleich und in einer herzlichen Freund-
schaft mit Frankreich und zugleich in einer festen Ver-
bindung mit den Vereinigten Staaten von Amerika auf-
gehoben sah. Ich halte es für ein Gebot der Vernunft, an
dieser Einsicht in der deutschen Politik festzuhalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es war ein verhängnisvoller Fehler, dass die Bundes-
regierung mit dieser Kontinuität gebrochen hat. Sie hat
sich in den vergangenen Monaten dazu hinreißen lassen,
dieses Prinzip der doppelten Bindung auf dem Altar des
Wahlkampfes zu opfern. Was wir damit erleben, ist ein
verhängnisvoller Paradigmenwechsel in der deutschen
Politik, nämlich eine Goslarisierung unserer gesamten
Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ein Küblböck der Politik! Küblböckisierung!)


Ich will zur Erregung der Kollegen von Rot-Grün sa-
gen: Es ist schon ein trauriger Vorgang, wenn sich ein
deutscher Bundeskanzler im Wahlkampf dazu hinreißen
lässt, alle politischen Prinzipien der Kanzler von Konrad
Adenauer über Willy Brandt bis Helmut Kohl in einer
einzigen Rede zu zertrümmern und damit die Axt an die
Wurzeln der NATO und der Europäischen Union zu le-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit ihrer „Ohne uns, egal was kommt“-Rhetorik hat
die Bundesregierung die bisher größte Vertrauenskrise in
den transatlantischen Beziehungen hervorgerufen und
eine gemeinsame europäische Position verhindert.


(Beifall des Abg. Ulrich Heinrich [FDP])


Darin liegt das Problem in der derzeitigen europa- und
außenpolitischen Debatte. Die Schuld dafür liegt bei
Deutschland. Um der Gerechtigkeit willen möchte ich

sagen: Dafür trägt Großbritannien eine Mitverantwor-
tung. Beide haben sich vor Kenntnis der Fakten und vor
dem Austausch untereinander festgelegt: Großbritannien
war auf jeden Fall für, Deutschland war auf jeden Fall
gegen einen militärischen Einsatz. Dadurch wurde die
Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Position
verhindert. Das war ein schwerer Fehler.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Heute sprechen wir auch über den Konvent. Ich hoffe
und erwarte – ich will es meinem Kollegen Peter
Altmaier ans Herz legen –, dass in die Verfassung für die
Europäische Union ein Grundsatz aufgenommen wird,
der es der Union ermöglicht, erst einmal eine gemein-
same Position zu formulieren, bevor nationale Wider-
sprüche auftreten.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Dass diese Position im zweiten Schritt von dem einen oder
anderen Staat dann möglicherweise nicht mitgetragen
wird, das ist etwas anderes. Aber wir halten es für falsch,
das Projekt Europa derart infrage zu stellen, dass das ge-
meinsame Handeln durch ein Veto konterkariert wird, be-
vor die Chance auf gemeinsames Handeln besteht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ein zweiter Komplex spielt hier eine große Rolle. Wir
stehen vor der größten Erweiterung in unserer Ge-
schichte. Was sollen eigentlich die Länder, die der Euro-
päischen Union bald beitreten werden, von der Art hal-
ten, wie sie bei uns aufgenommen werden und wie wir
mit ihnen umgehen? Haben sie nicht eine faire Partner-
schaft und eine faire Beteiligung verdient? Was haben
sie stattdessen erfahren? Sie haben dafür Kritik erfahren,
dass sie es gewagt haben, sich in dieser Schicksalsfrage,
die auch sie angeht, zu äußern und ihr eigenes Interesse
zu formulieren. Die Europäische Union muss eine Ge-
meinschaft von Gleichen sein. Da kann es nicht Euro-
päer erster und zweiter Klasse geben. Es muss heißen:
Als Schicksalsgemeinschaft stehen, beraten und handeln
wir zusammen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das lernt man schon in der Kinderstube!)


Es mag sein, dass die Beitrittsstaaten etwas in guter
Erinnerung haben, was bei uns in Vergessenheit geraten
ist: dass nämlich die Neuordnung in Europa, die Über-
windung des Eisernen Vorhangs, die Niederringung der
Diktatur und das Engagement, das die Vereinigten Staa-
ten von Amerika in Europa zur Herstellung einer friedli-
chen und freiheitlichen Ordnung gezeigt haben, sehr
wohl etwas miteinander zu tun haben. Ich füge hinzu: Es
wäre gut, wenn sich auch die deutsche Regierung an die-
ses Handeln Amerikas für und in Europa erinnerte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das Referendum in Malta war ein erstes Signal dafür,
dass Europa von den Menschen in den Beitrittsländern






(A) (C)



(B) (D)


Peter Hintze
angenommen wird. Weitere Referenden stehen jetzt auf
der Tagesordnung. Sie werden umso erfreulicher für uns
sein, je weniger wir das Vertrauen der Menschen in ein
solidarisches und faires Europa enttäuschen und je deut-
licher wir machen: Die Länder, die zu uns kommen, ver-
stehen wir als einen Gewinn, als eine kulturelle und poli-
tische Bereicherung. Wir dürfen nicht den Eindruck
erwecken, es seien im Grunde Störenfriede, die wir an
unseren wichtigen Beratungen nicht beteiligen wollten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])


Es scheint mittlerweile zum guten Ton zu gehören,
den Vereinigten Staaten von Amerika Unilateralismus
und Hegemonialstreben vorzuwerfen und Europa gegen
die USA auszuspielen. Dabei entsteht der fatale Ein-
druck, dass nicht Saddam Hussein – er hat seine Nach-
barstaaten überfallen und 17 UN-Resolutionen gebro-
chen –, sondern die Vereinigten Staaten das Problem
seien. Damit werden die Tatsachen auf den Kopf gestellt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es waren die USA, die nach dem 11. September 2001
einen Primat der Diplomatie bewiesen und für eine inter-
nationale Koalition gegen den Terror gesorgt haben. Es
waren die USA, die mit der UN-Resolution 1441 den
Grundstein für eine wirksame Abrüstung des Irak gelegt
haben. Es sind die USA, die, zusammen mit Großbritan-
nien, für eine weitere UN-Resolution werben, um den
Diktator in Bagdad zur Kooperation zu zwingen und
eine sich möglicherweise als notwendig erweisende mi-
litärische Intervention völkerrechtlich zu legitimieren.

Statt auf unsere Freunde zuzugehen und zusammen
mit den USA und Großbritannien einen politischen
Kompromiss im Weltsicherheitsrat zu suchen, schmiedet
diese Bundesregierung Koalitionen mit Moskau und Pe-
king gegen unseren wichtigsten sicherheitspolitischen
Partner


(Zurufe von der SPD: Oh! – Kurt Bodewig [SPD]: Das ist vollkommen falsch! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!)


und belastet damit auch das Zusammenwirken in Europa
auf erhebliche Weise.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich habe die Sorge, dass bei alldem der zivilisatori-
sche Kern des Völkerrechts aus den Augen verloren
wird. Die schrecklichen Erfahrungen aus zwei Weltkrie-
gen mit zwei menschenverachtenden Diktaturen lehren
uns: Eine friedliche Ordnung der Welt gelingt nur auf der
Grundlage allgemein verbindlicher Normen. Sie funktio-
niert nur dann, wenn die internationale Gemeinschaft be-
reit und in der Lage ist, ihre Regeln durchzusetzen.

Wem an einer Durchsetzung des Völkerrechts gelegen
ist, der muss freilich wissen, dass die Völkergemein-
schaft hierbei auf die Vereinigten Staaten von Amerika
angewiesen ist. Sie sind die einzige demokratisch legiti-

mierte Macht, die in der Lage ist, den Beschlüssen der
Vereinten Nationen Geltung zu verschaffen.

Ich will uns hier ganz ruhig sagen: Eine Demütigung
der USA und ein Triumph des Diktators von Bagdad
würden die Welt erheblich gefährlicher machen, gerade
für uns in Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Richtig! Aber wer ist daran schuld? – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sprechen Sie auch über das zweite Kapitel: Demütigung der Vereinten Nationen?)


Der hehre Wunsch nach einer multipolaren Welt führt
in die Irre. Mit ihm verkommt das Völkerrecht zu einer
bloßen Hülle; denn es suggeriert eine politisch-morali-
sche Gleichordnung von Demokratie und Diktatur und
dass es egal sein kann, mit wem wir kooperieren, Haupt-
sache, es sind Mächte.

Das ist nicht unsere Auffassung, meine Damen und
Herren; denn damit würden wir unser Schicksal letztlich
in die Hände von Unrechtsstaaten legen, für die das Völ-
kerrecht immer nur ein taktisches Instrument ist. Freiheit
und Zivilisation dürfen nie zum Spielball von Unrechts-
regimen werden. Wir würden einen schweren Fehler ma-
chen, wenn wir es in der aktuellen Krise dahin trieben,
dass etwa die Vereinigten Staaten von Amerika nicht
mehr bereit wären, wie sie es auf dem Balkan, in Afgha-
nistan und mit Leib und Leben für uns in Europa waren,
für Freiheit und gegen Diktatur einzutreten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es wird Zeit, dass Deutschland seine Koordinaten
wieder richtig setzt und wir uns die Frage stellen: Wem
wollen wir uns anvertrauen, wenn es um elementare Ge-
fahren für die Zivilisation durch Terrorismus, Diktatur
und Massenvernichtungswaffen geht? Diesen Gefahren
können Europa und Amerika nur gemeinsam begegnen.
Wenn wir da eine Stimme haben wollen, wenn wir das
mitbestimmen und mitgestalten wollen, dann müssen wir
für die Voraussetzungen sorgen. Das heißt, dass wir ers-
tens in einer fairen Weise in Europa zu einer gemeinsa-
men Haltung finden müssen – gegen diesen Grundsatz
ist verstoßen worden – und dass wir zweitens dafür sor-
gen müssen, dass wir in der Lage sind, in einer Welt, die
sich geändert hat, in der es neue und gefährliche Bedro-
hungsszenarien gibt, zu handeln. Wir dürfen nicht nur
wirtschaftlich stark und ansonsten verletzlich sein, son-
dern müssen auch die Fähigkeiten haben und schaffen, in
Krisen der Welt mit einzugreifen und mitzuhelfen, damit
diese Krisen nicht die Welt erfassen, sondern wir die
Krisen bewältigen.

Die Antwort muss eine weitere Integration sein. Hier
ist der Verfassungskonvent aufgefordert, die Gemein-
same Außen- und Sicherheitspolitik zu mehr zu machen
als zu einem Nebeneinander von 15, 25 oder noch mehr
nationalen Außen- und Sicherheitspolitiken. Es kommt
darauf auf, dass wir unsere Kräfte bündeln, dass wir bei-
spielsweise das Nebeneinander unserer Streitkräfte in
ein Miteinander führen – erster Schritt: europäische Ein-
greiftruppe auch als Teil der NATO-Response-Force,






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Peter Hintze
zweiter Schritt: eine europäische Armee –, und dass wir
unsere Soldaten, wenn wir sie mit diesem wichtigen
Auftrag in die Welt senden, auch mit einem Material
ausstatten, das sie schützt, statt mit einem veralteten Ma-
terial, das sie gefährdet.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben keine Ahnung von der Ausstattung der Einsatzkräfte!)


Deswegen lautet unser Appell an die Bundesregierung:
Es besteht die Fürsorgepflicht, dass diejenigen, die für
Recht und Freiheit eintreten, auch vernünftig ausgerüstet
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Europa ist nicht in bester Verfassung, aber ich habe
die Hoffnung, dass wir mithilfe des Konvents eine gute
Verfassung bekommen, die die Dinge zum Besseren
wendet. Es ist jedenfalls aller Anstrengungen wert, Eu-
ropa transparenter, effizienter und demokratischer zu
gestalten. Ich danke den deutschen Mitgliedern des
Konvents dafür – sie kommen aus dem Europäischen
Parlament, dem Bundestag und der Regierung –, dass sie
daran arbeiten, eine solche Verfassung zu entwickeln,
die diesen Namen auch verdient. Europa kann jedenfalls
stolz darauf sein.

Ich freue mich für meine Fraktion, dass Peter
Altmaier, der in Brüssel im Konvent zusammen mit sei-
nen Kollegen eine erstklassige Arbeit leistet, gleich un-
sere Position im Einzelnen skizziert.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503104400


Herr Kollege Hintze, kommen Sie bitte zum Schluss.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1503104500


Herr Präsident, ich komme zum Schluss meiner Rede.

Europapolitisch sollten wir bei der Erarbeitung der
Verfassung und in unserem konkreten Tun alles daran-
setzen, unsere Handlungsfähigkeit zu erweitern und das
Leben sowie das wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Wohlergehen der Bürger Europas zu bewahren.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503104600


Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Roth von der
SPD-Fraktion.


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1503104700


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
würde gern mit Ihnen über die Chancen Europas und
darüber sprechen, wie wir Europa gemeinsam voranbrin-
gen können; denn die Erweiterung der EU muss jetzt
durch eine substanzielle Vertiefung der Integration flan-
kiert werden. Das war und ist eine Grundregel deutscher

Europapolitik. Ich hoffe, dass darüber Konsens in die-
sem Hause besteht.

Was drohte sonst? Wir hätten sonst Stillstand,
schlimmstenfalls den schleichenden Zerfall des europäi-
schen Einigungswerks. Darüber, dass wir Letzteres nicht
wollen, sind wir einer Meinung. Mit der Erweiterung
werden sich das Gesicht und die Chancen Europas
grundlegend verändern. Mit Energie und Beharrlichkeit
muss jetzt die Vertiefung der Europäischen Union voran-
gebracht werden.

Wer bei der Erweiterung aufs Gas drückt, aber bei der
Vertiefung gleichzeitig die Handbremse zieht, bringt die
Europäische Union auf einen ganz gefährlichen Schleu-
derkurs.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit es nicht zu einem gesamteuropäischen Schleuder-
trauma kommt, muss der europäische Konvent eine
mutige Verfassung für die Europäische Union erarbeiten,
die vor allem den Bedürfnissen der Bürgerinnen und
Bürger gerecht wird. Weder mit einem Verfassungspla-
cebo noch mit einer Mogelpackung werden wir die
Herausforderungen der Zukunft meistern können.

Ich werde jetzt ein Bild erwähnen, das zumindest der
Außenminister bestens kennt: den Marathonlauf. Die Ar-
beiten des europäischen Konvents ähneln nämlich einem
Marathonlauf. Nach einer umfangreichen Warmlauf-
phase geht man das Rennen behutsam an, teilt sich seine
Kräfte gut ein, verpasst keine der Verpflegungspausen,
weil sonst ein Hungerast droht, beobachtet genau den
Zustand der Mitläufer und hebt sich Reserven für einen
langen Schlussspurt auf. Wir sind jetzt im letzten Drittel
des Verfassungsmarathons und dürfen uns keine Schwä-
chen erlauben.

Es gibt zwei Gestaltungsprinzipien, die für uns im
Mittelpunkt der Debatte stehen: Handlungsfähigkeit ei-
nerseits und Demokratie andererseits. Die Konvents-
methode zur Ausarbeitung der europäischen Verfassung
ist für sich genommen schon ein gewaltiger Schritt hin
zu mehr Demokratie in Europa. Verfassung bedeutet im-
mer mehr Sicherheit, mehr Stabilität und mehr Frieden.
Sie bedeutet auch die friedliche Austragung von Kon-
flikten.

Vielleicht ist der furchtbare Mord an Zoran Djindjic
für uns alle ein Fanal, das uns ermutigen sollte, noch
schneller und engagierter diesen europäischen Verfas-
sungsprozess voranzutreiben, der hoffentlich in absehba-
rer Zeit die Teilstaaten der ehemaligen Bundesrepublik
Jugoslawien umfassen wird, denn auch ihnen muss eine
europäische Perspektive gegeben werden. Auch das ist
eine Botschaft, die von diesem fürchterlichen Attentat
ausgehen muss. Darin stimme ich dem Kollegen Hintze
voll zu.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Erstmals wirken Parlamentarier aktiv und unmittel-
bar an der europäischen Verfassungsgebung mit. End-
lich! Diese Reformmethode hat bislang gut funktioniert






(A) (C)



(B) (D)


Michael Roth (Heringen)

und zu ermutigenden Zwischenergebnissen geführt. Un-
seren Konventsmitgliedern, Herrn Meyer, dem Außen-
minister, Martin Bury als seinem Stellvertreter und auch
dem Kollegen Altmaier, möchte ich herzlich danken. Sie
alle setzen sich für dieses herausragende Projekt ein, für
das wir im Deutschen Bundestag so lange gearbeitet und
für das wir so lange gestritten haben.

Diese Konventsmethode muss in der europäischen
Verfassung verankert werden. Die kommende Regie-
rungskonferenz, die in diesem Jahr hoffentlich ihre Ar-
beit abschließen kann, muss die letzte ihrer Art sein. Die
Ergebnisse des Konvents dürfen im Nachhinein nicht
verwässert werden.

Wer es mit dem Begriff von der Union der Bürgerin-
nen und Bürger in Europa ernst meint, der kommt an ei-
ner weiteren Stärkung des Europäischen Parlamentes
– der Bürgerkammer, wie wir es fortschrittlich nennen –
nicht vorbei. Wir fordern eine umfassende und gleichbe-
rechtigte Mitentscheidung des Europäischen Parlaments
in allen Feldern der Gesetzgebung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU])


Ein ebenso wichtiger Schritt zu mehr Demokratie und
parlamentarischer Verantwortlichkeit in Europa ist die
Wahl des künftigen Präsidenten der EU-Kommission
durch das Europäische Parlament. Den Bürgerinnen und
Bürgern muss klar sein, warum es sich lohnt, für Europa
zur Wahl zu gehen. Unterschiedliche Spitzenkandidaten
der europäischen Parteien, die unterschiedliche politi-
sche Ziele verfolgen, machen deutlich, dass es in Europa
– auch da gibt es noch eine Menge zu tun – eben auch
um einen Wettbewerb der Ideen und der Personen geht.
Das macht aber nur dann Sinn, wenn das Europäische
Parlament anschließend den Kommissionspräsidenten
mit der so genannten Kanzlermehrheit wählt. Das Erfor-
dernis einer Zweidrittelmehrheit wäre ein Affront gegen
Europas Wählerinnen und Wähler.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Neben der Demokratie müssen wir zugleich die
Handlungsfähigkeit nachhaltig stärken; denn eine er-
weiterte EU wird mit den Mechanismen von heute sonst
zum gelähmten Bürokratiemoloch. Die Rezepte sind uns
allen längst bekannt: die Durchsetzung des Mehrheits-
prinzips bei den Entscheidungen der EU-Mitgliedstaaten
im Rat in grundsätzlich allen Bereichen, auch in der Jus-
tiz- und Innenpolitik und eben auch in der Außen- und
Sicherheitspolitik. Ohne Mehrheitsprinzip in der Außen-
und Sicherheitspolitik wird es so sein, dass am Ende der-
jenige „Mister Europe“ angerufen wird, der durch sein
Veto die Entscheidungen der EU lahm legen kann. So
einfach und zugleich so schwierig ist das.

Aber wo sind die Konzepte seitens der Union? Ich muss
Sie fragen: Wo ist Deutschland in der Außenpolitik iso-
liert? Die gegenwärtige Situation wurde schon geschildert.
Wir alle tun uns nicht leicht mit der Frage, wie wir den Pro-
zess der Herausbildung einer europäischen Außenpolitik

mit der transatlantischen Tradition verbinden können.
Aber Ihre Plattitüden und Ihre larmoyante Kritik zeigen
überhaupt keine Alternativen zu dem schwierigen Weg
auf, den die Bundesregierung und auch wir beschreiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU)


Ich sehe keine substanzielle Alternative und keinen Fort-
schritt in dem, was Sie, Herr Hintze, eben zum Ausdruck
gebracht haben.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Bisher haben Sie doch sachlich geredet, Herr Kollege! Was soll das jetzt?)


Wer in dieser Frage bremst, der verurteilt die EU zum
Stillstand. In einer Europäischen Union der Größe 25
plus x gibt es entweder Mehrheitsentscheidungen im Rat
oder es gibt gar keine Entscheidungen.

Wer Europa demokratischer und handlungsfähiger
machen will, der braucht keinen gewählten Präsidenten
des Europäischen Rates. Wir bejahen zwar eine bessere
Sichtbarkeit Europas in der internationalen Politik. Wir
sagen gleichwohl Nein zum Oberkommando der großen
Mitgliedstaaten über die Gemeinschaftsinstitutionen.
Eine Vorsitzlösung für den Europäischen Rat ist nur
dann akzeptabel, wenn sie wirklich gemeinschaftstaug-
lich ist. Ich bin froh, dass auch die Bundesregierung in
diesem Sinne denkt und handelt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer die jüngsten Entwicklungen im und um den Kon-
vent beobachtet, der wird das Gefühl nicht los, dass
einige Akteure massiv versuchen, den europäischen Ver-
fassungsprozess zu schwächen. Die Diskussion über
Zeitpläne, Ratifizierungserfordernisse und die Beteili-
gung bestimmter Akteure sind durchsichtige Manöver.
Sie dienen nur einem einzigen Zweck: die Reform-
schritte möglichst kurz ausfallen zu lassen. Wir dürfen
das nicht hinnehmen. Wir werden das – das ist überein-
stimmende Auffassung – sicherlich nicht hinnehmen;
denn wer jetzt das Ziel der Vertiefung Europas hinter-
treibt, setzt mehr als nur die Erweiterung aufs Spiel. Er
gefährdet den Integrationsprozess insgesamt.

Was wäre denn die Alternative zu einer zukunftsge-
wandten Verfassung? Etwa ein Regelwerk, das den Sta-
tus quo zementiert? Das würde Europa in eine tiefe Krise
führen und könnte dazu führen, dass einige integrations-
willige Mitgliedstaaten voranschreiten, um politisch das
durchzusetzen, was in der Union als Ganzes nicht mehr
möglich ist. Das wollen wir nicht. Wir wollen ein Eu-
ropa, das zusammenhält, ein Europa der Solidarität, das
auf die Herausforderungen der Globalisierung demokra-
tische und sozial gerechte Antworten findet. Wir wollen
ein Europa, das in der internationalen Politik und im
transatlantischen Dialog eine aktiv gestaltende Rolle
spielt. Richtig ist zwar, dass wir letztlich niemanden
zwingen können, diesen Weg mit uns zu beschreiten.
Aber es ist scheinheilig, so zu tun, als könne eine erwei-
terte Europäische Union ohne weitere substanzielle Inte-
grationsfortschritte funktionsfähig bleiben.






(A) (C)



(B) (D)


Michael Roth (Heringen)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch eine Bemer-
kung in eigener Sache: Die voranschreitende europäi-
sche Integration und der Verfassungsprozess gehen auch
an uns Abgeordneten nationaler Parlamente nicht spur-
los vorüber. Europapolitik ist schon heute ein integraler
Bestandteil der Innenpolitik. Die Denk- und Handlungs-
muster der klassischen Außenpolitik lassen sich einfach
nicht auf die europäische Politik übertragen. Dieser Tat-
sache müssen sich die nationalen Parlamente, also auch
der Deutsche Bundestag, noch stärker bewusst werden.
Im parlamentarischen Handeln muss dieser Entwicklung
Rechnung getragen werden. Es ist wichtig, dass der
Deutsche Bundestag schon jetzt beginnt, sich mit den
möglichen Ergebnissen des europäischen Verfassungs-
prozesses aktiv auseinander zu setzen. Wir Parlamen-
tarier müssen europatauglich sein und Europa in den
Mittelpunkt unserer Arbeit rücken. Das betrifft alle Poli-
tikfelder: Innen-, Justiz-, Umwelt- oder auch Verbrau-
cherschutzpolitik.

Deswegen haben wir als Koalitionsfraktionen einen
sehr weit reichenden Antrag präsentiert, mit dem wir
zum Ausdruck bringen wollen, dass der Deutsche Bun-
destag diesen Prozess nicht nur als Beobachter begleitet,
sondern auch konkrete Vorschläge unterbreitet, wie der
Konventsprozess zu einem erfolgreichen Abschluss ge-
bracht werden kann. Wenn wir, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das Europäische Parlament nachhaltig stärken
und unsere parlamentarischen Mitwirkungsrechte auf
nationaler Ebene effektiv nutzen, dann wird Demokratie
in Europa künftig mit einem großen D geschrieben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503104800


Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger von der FDP-Fraktion.


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1503104900


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Wir diskutieren heute zwei Prozesse,
deren Erfolg oder Misserfolg über die Zukunft Europas
entscheiden wird: die Osterweiterung, für die auf dem
Europäischen Gipfel von Kopenhagen endgültig grünes
Licht gegeben worden ist, und das Projekt der europäi-
schen Verfassung. Beide gehören untrennbar zusammen.
Ohne eine gelungene Reform der EU-Strukturen mit den
Zielen mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, verbürgte
Grundrechte und Handlungsfähigkeit wird das erweiterte
Europa nicht als politisches Europa bestehen können.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter Hintze [CDU/CSU])


Der feige Mord an Serbiens Premier Djindjic zeigt
uns auf, wie notwendig die demokratische, wirtschaftli-
che und rechtsstaatliche Stärkung der ost- und südosteu-
ropäischen Staaten ist. Die politische Entscheidung für
die Osterweiterung der EU – sie war in den vergangenen
Jahren heftig umstritten – wird durch dieses Attentat er-

neut bekräftigt. Es hat gleichsam den Auftrag, in diesem
Prozess weiter voranzugehen, noch einmal formuliert.


(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Europa befindet sich an der entscheidenden Weg-
kreuzung. Die europäische Verfassung, eine von der
FDP schon lange Jahre gehegte Vision, die von vielen
noch während der Ausarbeitung der Europäischen
Grundrechte-Charta als Utopie abgetan wurde, könnte
schon bald Realität sein, wenn der Konvent seinen ehr-
geizigen Zeitplan einhält und bald Entwürfe für alle Ar-
tikel der Verfassung vorlegt, wenn nicht allen an die-
sem Prozess Beteiligten der Atem ausgeht – Herr Roth,
beim Marathon braucht man bekanntlich besondere
Techniken –, wenn die tiefen Zerwürfnisse zwischen ei-
nigen Mitgliedstaaten überwunden werden und wenn
die Gefahr gebannt wird, dass große und kleine Mit-
gliedstaaten gegeneinander ausgespielt werden. Man-
che nennen die künftige Verfassung ja schon heute in ei-
nem Atemzug mit der amerikanischen Verfassung von
Philadelphia aus dem Jahre 1787. Aber das ist wirklich
Zukunftsmusik.

Heute müssen wir uns auf die gegenwärtigen Heraus-
forderungen konzentrieren. Dazu muss ich ganz klar sa-
gen: Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate und
ihre möglichen Auswirkungen auf den Verfassungspro-
zess im Konvent bereiten uns als FDP-Bundestagsfrak-
tion große Sorgen.


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wohl wahr!)


Das Ringen um den erfolgreichen Weg zur Abrüstung
des Irak hat tiefe Gräben in der heutigen und der erwei-
terten EU entstehen lassen oder aufgedeckt. Auch die
Bundesregierung trägt mit ihrer falschen Frühfestlegung
dafür Verantwortung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Genauso gilt das für die nicht zuerst in der EU abgespro-
chene deutsch-französische Initiative. In diesem Zusam-
menhang ist auch der Brief der Acht zu nennen – ein ein-
maliger Vorgang, der durch schwere diplomatische und
handwerkliche Mängel zu einer in dieser Form bisher
nicht gekannten Konfrontation in der Europäischen
Union geführt hat. Auch der dann endlich auf dem Son-
dergipfel am 27. Februar gefundene Minimalkonsens hat
diese Kluft bis heute nicht schließen können.

Diese Zerwürfnisse, vielleicht ein Teil Missverständ-
nisse, können die Arbeiten des Konvents nicht nur be-
hindern; sie können das ganze Projekt der europäischen
Verfassung gefährden.


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Leider wahr! – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Jetzt übertreiben Sie!)


Dann würde dieses aus unserer Sicht notwendige Projekt
vielleicht in einer Reihe mit der hervorragenden Pauls-
kirchen-Verfassung stehen, die leider nie die Wirkung
entfaltet hat, die man eigentlich von ihr erwartet hat.






(A) (C)



(B) (D)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Das ist keine Schwarzmalerei. Ursprünglich war im
Konvent zum Beispiel vorgesehen, Ende dieses Monats
über die verfassungsrechtliche Ausgestaltung einer ge-
meinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik
zu beraten. Das Präsidium des Konvents musste diese
Beratung und die Vorlage von Textentwürfen um meh-
rere Wochen auf April oder Mai vertagen, um nicht das
Risiko einzugehen, im Konvent den Streit zwischen den
Regierungsvertretern sofort neu zu entfachen. Die offen-
sichtliche Diskrepanz zwischen schönen Verfahrensrege-
lungen für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspoli-
tik auf dem Papier und der Realität würde die Arbeiten
des Konvents gegenwärtig unglaubwürdig erscheinen
lassen.

Es sind allerdings nicht nur die außenpolitischen Er-
eignisse, die den Erfolg der Arbeit des Konvents gefähr-
den. Man muss auch der Tatsache ins Auge sehen, dass
die wesentlichen Fragen, insbesondere die institutionel-
len und damit die Machtfragen, bisher noch ungeklärt
sind und dass es angesichts der Vielzahl völlig gegenläu-
figer Interessen und Vorstellungen ungewiss ist, ob die
Delegierten hierüber Einigkeit erzielen werden.

Die FDP-Bundestagsfraktion hat ihre Vorstellungen
von einem verfassten Europa mit ihrem Antrag zu den
Kernelementen einer europäischen Verfassung zur heuti-
gen Sitzung vorgelegt; denn der Deutsche Bundestag
muss sich jetzt mit schriftlich formulierten Vorschlägen
einbringen, die dann auch zu einem Auftrag und zu einer
Stärkung der deutschen Vertretung im Konvent führen.

Lassen Sie mich auf zwei Punkte eingehen; meine
Kollegin Frau Dr. Winterstein wird noch konkret auf un-
seren Antrag zu sprechen kommen. Es geht – das ist für
uns wichtig – um das neue Gesicht Europas, also die po-
litisch-demokratisch legitimierte Vertretung Europas
nach außen, und die außenpolitische Repräsentanz der
Europäischen Union. Bei diesen beiden Themen gilt es,
die Weichen dafür zu stellen, ob Europa auch in Zukunft
den Integrationskurs der vergangenen Jahre verfolgen
wird oder ob letztlich doch der intergouvernementale
Ansatz noch mehr an Boden gewinnt.

Für uns – das sagen wir ganz klar – steht die Stärkung
der Position des Kommissionspräsidenten – die Kom-
mission ist ja das Integrationsorgan der Europäischen
Union – im Mittelpunkt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das wird natürlich von vielen unterstützt. Das ist auch
Element der deutsch-französischen Initiative. Aber die
birgt mit der Doppelspitze, die Sie, Herr Roth, in dieser
Form auch kritisiert haben, sehr wohl Gefahren in sich,
zum Beispiel die, dass der Ratspräsident oder wie auch
immer Sie ihn nennen mögen, der vom Rat gewählt ist,
die Position des Kommissionspräsidenten schwächt,
dass gar nicht klar ist, in welchem Verhältnis sie zuei-
nander stehen, wer für Europa nach außen spricht und es
insgesamt nach außen repräsentiert. Das wird durch eine
Doppelspitze eher verwässert denn gestärkt. Deshalb
wollen wir diesen Weg nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wir sehen schon bei den jetzigen Beratungen im Kon-
vent, dass dieses Kompromissmodell, auf das Sie, Herr
Außenminister, sich eingelassen haben – so habe ich das
immer verstanden –, in dieser Form keinen Erfolg haben
wird. Es gibt nicht wenige Vertreter im Konvent und
auch nicht wenige Mitgliedstaaten, die die Wahl des
Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parla-
ment nicht wollen. Das würde bedeuten, dass wir zwar
einen gestärkten Ratsvorsitz bzw. Ratspräsidenten hät-
ten, dass aber das Europäische Parlament, das ursprüng-
lich den Kommissionspräsidenten wählen sollte, nicht
gestärkt würde. Deshalb ist dieses Modell aus unserer
Sicht nicht die richtige Weichenstellung.

Da meine Redezeit vorbei ist, Herr Präsident,


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Schade!)


noch ein Wort zur so genannten Doppelhutlösung. Der
Schaffung eines europäischen Außenministers stimmen
wir zu.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wir wollen eine Ministerin!)


Aber in der Ausprägung, die jetzt vorgeschlagen worden
ist, kann und darf dies nur eine Übergangsregelung sein.
Denn die Gefahr, dass diese Persönlichkeit zwischen Rat
und Kommission zerrieben wird, ist schon jetzt festge-
schrieben. Deshalb sollte hier allenfalls eine Übergangs-
regelung geschaffen werden.

Der Verfassungsprozess sollte sich zwar an den vor-
gegebenen Zeitplan halten. Wichtiger ist mir aber eine
gut ausgearbeitete Verfassung, die am Ende dieses Jahres
auf einer Regierungskonferenz vorliegt, als Beratungen
im Konvent, die keine Änderungsanträge berücksichti-
gen und die Bürgerinnen und Bürger nicht einbeziehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503105000


Das Wort hat jetzt die Kollegin Anna Lührmann vom
Bündnis 90/Die Grünen.


Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503105100


Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Europäerinnen und Europäer! Man könnte fast
meinen, dass in Europa ein Gespenst umgeht: das Ge-
spenst einer europäischen Verfassung.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ich dachte: Joschka Fischer!)


Auch wenn die Mächte des alten Europas noch zaudern: In
wenigen Monaten werden die europäischen Bürgerinnen
und Bürger ihre europäische Verfassung in der Hand halten.

Mit diesem alten Europa meine ich nicht das alte Eu-
ropa des Herrn Rumsfeld, sondern das alte Europa, das
sich primär durch nationale Interessen definiert.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das neue Europa von Herrn Fischer!)







(A) (C)



(B) (D)


Anna Lührmann
Ich meine das alte Europa, das hinter verschlossenen Tü-
ren Entscheidungen trifft, das alte Europa, in dem das
Europäische Parlament oft nichts zu sagen hat.

Das neue Europa hingegen, an dem im europäischen
Konvent gerade gearbeitet wird, steht für Demokratie,
Handlungsfähigkeit und Transparenz.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist Fischers Europa!)


Die europäische Verfassung wird das Fundament für die-
ses neue Europa legen, von dem alle profitieren werden.

Die Ereignisse der letzten Wochen haben uns drama-
tisch verdeutlicht, warum die EU so dringend eine
europäische Verfassung braucht. Denn wie in einem
Worst-Case-Scenario mussten wir miterleben, wie un-
einig Europa ohne effiziente Entscheidungsverfahren und
ohne eine einheitliche Vertretung nach außen sein kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das alte Europa hat sich also, als es brenzlig wurde, als
handlungsunfähig erwiesen.

Herr Hintze, wenn ich mich recht entsinne, dann ha-
ben auch die CDU/CSU-Europapolitiker schon lange da-
vor gewarnt, dass die EU-Institutionen nicht für eine sol-
che Krise ausgelegt sind. Da hilft kein Polemisieren
Ihrerseits gegenüber der Bundesregierung. Da helfen nur
konstruktive Vorschläge im Verfassungskonvent.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger (CDU/ CSU)

konstruktiven Vorschlag nach dem anderen! –

Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1503105200
Außer uns
macht keiner konstruktive Vorschläge!)

Der Konvent kann zwei Grundvoraussetzungen dafür
schaffen, dass Europa wieder weltweit mit einer Stimme
sprechen kann: Erstens brauchen wir einen europäi-
schen Außenminister als Impulsgeber. Zweitens brau-
chen wir im Rat im Bereich der Gemeinsamen Außen-
und Sicherheitspolitik endlich qualifizierte Mehrheits-
entscheidungen. Diese beiden Vorschläge haben dank
der Initiative der Bundesregierung gemeinsam mit
Frankreich gute Chancen, im Konvent angenommen zu
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die momentane Vielstimmigkeit sollte für uns Euro-
päerinnen und Europäer also kein Grund zur Resignation
sein. Denn gerade wenn die Nacht am dunkelsten ist, ist
der Morgen am nächsten.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


In den letzten Jahren konnten wir schon häufiger er-
leben, wie hell der europäische Stern am Nachthimmel
erstrahlen kann. Schon das alte Europa hat in den ver-
gangenen Jahren viele internationale Projekte vorange-

trieben, die für die Zukunft meiner Generation extrem
wichtig sind, so zum Beispiel das Kioto-Protokoll oder
den Internationalen Strafgerichtshof.

Vor dem Hintergrund der Herausforderungen des
21. Jahrhunderts liegen noch viele wichtige Aufgaben
vor dem neuen Europa: Es geht um nichts Geringeres als
um die gerechte Gestaltung der Globalisierung in allen
Teilen der Welt. Es geht um eine Weltinnenpolitik, die
Kriege verhindert, bevor sie beginnen. Es geht um den
Zugang zu Wasser für alle und das ist noch längst nicht
alles.

Genau diese Ziele Frieden, Demokratie, Solidarität
und Umweltschutz sind typisch europäisch. Nur wenn
Europa an einem Strang zieht, werden wir eine Chance
haben, diese Ziele auch weltweit zu verwirklichen. Da-
für müssen diese Ziele jetzt in der Verfassung festge-
schrieben werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch die innere Organisation der EU muss drin-
gend reformiert werden. Wir brauchen demokratischere
und effizientere Institutionen in Europa. Nur dadurch
werden wir zu einer wirklich zukunftsfähigen Politik in
der EU kommen. Im neuen Europa muss das Europäi-
sche Parlament in allen Bereichen der Gesetzgebung mit-
entscheiden können, damit die Europawahlen endlich zu
einer tatsächlich demokratischen Abstimmung über eu-
ropäische Politik werden. Deshalb soll das Parlament
den Präsidenten der Europäischen Kommission wählen –
oder die Präsidentin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Eine EU der 25 wird nicht in der Lage sein, schnell
auf neue Herausforderungen zu reagieren, wenn weiter-
hin in vielen Bereichen einzelne Staaten aufgrund natio-
naler Interessen Entscheidungen blockieren können.
Denn schon jetzt gibt es große Probleme durch das Veto-
recht. In vielen Politikbereichen werden zukunftswei-
sende Projekte nicht angepackt, weil auf die nationalen
Interessen einzelner Staaten Rücksicht genommen wer-
den muss. So gibt die EU immer noch die Hälfte ihres
Geldes für eine verfehlte Agrarpolitik aus oder eines der
reichsten Länder der EU erstreitet sich immer wieder ei-
nen Rabatt bei den Beitragszahlungen.

Das absurdeste Beispiel jedoch betrifft den Tabakan-
bau: Auf der einen Seite subventioniert die EU den An-
bau von Tabak und auf der anderen Seite will sie gleich-
zeitig die Tabakwerbung verbieten. Deshalb brauchen
wir dringend die Abschaffung des Einstimmigkeitsprin-
zips im Rat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir hier im Bundestag – und besonders auch unsere
Vertreter im Konvent – sollten sich in den nächsten Wo-
chen und Monaten dafür einsetzen, dass wir eine zu-
kunftsfähige Verfassung schaffen, eine Verfassung, die
Europa international handlungsfähig macht, eine Verfas-
sung, die Europa auf ein demokratisches Fundament






(A) (C)



(B) (D)


Anna Lührmann
stellt, eine Verfassung für eine Europäische Union der
Bürgerinnen und Bürger, also eine Verfassung für ein
neues Europa.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503105300


Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Altmaier von der
CDU/CSU-Fraktion.


Peter Altmaier (CDU):
Rede ID: ID1503105400


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die
Notwendigkeit der Reform der europäischen Außen-,
Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind wir uns alle
in diesem Hause einig. Herr Bundesaußenminister, was
in der deutsch-französischen Initiative zu diesem Thema
gesagt worden ist, wird doch von uns allen unterschrie-
ben und mitgetragen: im Konvent, im Deutschen Bun-
destag und überall. Aber Sie, sehr geehrter Herr Bundes-
außenminister, sollten dann wenigstens ab und an den
Versuch unternehmen, sich auch in der Praxis an Ihre ei-
genen hehren Prinzipien zu halten.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Das wäre eine gute Idee!)


Es war doch gerade die deutsche Bundesregierung,
die mit ihrem Alleingang, mit ihrem deutschen Sonder-
weg verhindert hat, dass Javier Solana auch nur die Spur
einer Chance hatte, eine gemeinsame europäische Posi-
tion zu formulieren,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD)


denn Schröder hat auf der einen Seite hü geschrien und
Blair hat auf der anderen Seite hott gerufen. Inzwischen
ist das Pferd tot und alle beklagen die Situation.

Ganz ähnlich ist es doch bei der Frage, wie Europa in
Zukunft im Innern organisiert sein soll. Ich habe nicht
gesehen, dass sich der Bundeskanzler in irgendeiner
Weise für die Debatte interessiert, wer in Europa was
machen soll.


(Günter Gloser [SPD]: Das ist doch völlig falsch!)


Er hat offenbar kein Problem damit, dass Europa in Zu-
kunft für alles und jedes zuständig ist. Nur, wenn Europa
dann handelt – Beispiele sind VW und die Wettbewerbs-
politik –, ist der Bundeskanzler der erste, der die Europä-
ische Kommission vors Schienbein tritt und die europäi-
sche Integration infrage stellt. Genau diesen Zustand
können wir uns in Europa nicht leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, wir brauchen – das muss
das Ergebnis des Konvents sein – nicht irgendeine Ver-
fassung. Wir brauchen nicht irgendwelche Kompromiss-
lösungen. Wir brauchen eine starke und entscheidungs-
fähige Europäische Union, die sich auf Kernaufgaben

konzentriert, die demokratisch legitimiert und kontrol-
liert ist.

Wenn wir die Probleme der Bürgerinnen und Bürger,
die es in Europa auch nach 40 Jahren Integration gibt,
ernst nehmen und lösen wollen, dann ist nicht entschei-
dend, ob wir in der Theorie einen Staatenbund oder ei-
nen Bundesstaat haben, dann kommt es darauf an, wie
wir Europa so konstruieren, dass es handeln kann. Dann
können beispielsweise Probleme nicht mit dem alten
Einstimmigkeitsprinzip nach dem Modell der deutschen
Kultusministerkonferenz gelöst werden. Das wird in ei-
ner Europäischen Union mit 25 Mitgliedstaaten nicht
funktionieren.


(Zuruf von der SPD: D’accord!)


Meine Damen und Herren, wir müssen auch über die
Frage sprechen, wer für welche Probleme in Zukunft zu-
ständig sein soll. Nicht jedes Problem in Europa ist auch
ein Problem für Europa. Wenn eine staatliche Ebene al-
les machen will, wird sie in Wirklichkeit nichts mehr
richtig machen. Das ist die Begründung für die Debatte
über Kompetenzabgrenzung und Kompetenzkontrolle.
Wir wollen Prinzipien definieren. Wir wollen auch die
Rolle der nationalen Parlamente stärken. Dabei wollen
wir keine neuen Institutionen und keine neuen Gremien,
aber wir wollen beispielsweise für den Deutschen Bun-
destag und für den deutschen Bundesrat das Recht, die
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips notfalls auch
gerichtlich vor dem Europäischen Gerichtshof in Lu-
xemburg zu kontrollieren und durchzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich begrüße es ausdrücklich, Herr Bundesaußenmi-
nister, dass auch Sie, dass die Bundesregierung diese
Forderung wenigstens im Antrag für den Konvent unter-
stützt hat, auch wenn wir in der täglichen Debatte im
Konvent nicht den Eindruck hatten, dass diese Probleme
Ihnen besonders auf den Nägeln brennen.


(Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! – Was er gesagt hat, ist zu wenig!)


Meine Damen und Herren, nach dem blamablen
Scheitern der Regierungskonferenz von Nizza, wo sich
nicht Europa blamiert hat, sondern wo sich die nationa-
len Regierungen, die ihre eigenen kleinlichen Interessen
zu Tode geritten haben,


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Unsere an erster Stelle!)


blamiert haben, kann man heute bereits sagen: Der Kon-
vent ist ein Erfolg.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben in diesem einen Jahr mehr erreicht als alle an-
deren Initiativen in den letzten fünf Jahren gemeinsam.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Und wer hat den Konvent erfunden?)


Und das hat einen Grund. Der erste Grund liegt in der
Öffentlichkeit der Sitzungen. Die Öffentlichkeit der






(A) (C)



(B) (D)


Peter Altmaier
Sitzungen und damit die Überwachung durch die Presse
und durch die europäischen Bürgerinnen und Bürger be-
grenzt die Möglichkeit für nationale Regierungen, offen-
sichtlichen Unsinn zu machen. Deshalb haben wir bislang
nicht erlebt, dass nationale Regierungen im Konvent mit
Vetorecht, mit Blockade oder mit offensichtlich unbe-
gründeten und nicht durchsetzbaren Vorschlägen hervor-
getreten sind. Darin liegt eine große Chance für den
Konvent, zu einem Ergebnis zu kommen.

Zweitens. Wir machen in diesem Konvent ja gerade
keine Politik, bei der jeder national seine Erbsen zählt
und das ganze Projekt in Frage stellt, wenn er nicht alle
Erbsen bekommt, die er haben möchte. Nein, wir disku-
tieren in diesem Konvent nach politischen Richtungen,
nach unterschiedlichen Konzepten und Vorstellungen. In
dieser Diskussion ist der lettische Delegierte, der eine
gute Idee hat, genauso viel wert wie der Delegierte aus
Frankreich oder Deutschland, der eine gute Idee hat. Das
ist das Modell, nach dem wir Europa in Zukunft organisie-
ren müssen, und eben nicht nach nationalen Partikularin-
teressen. Dann wären wir als Bundesrepublik Deutsch-
land mit unserer europäischen Zentrallage und mit
unserem Interesse an funktionierender Integration immer
und automatisch die Verlierer.

Deshalb unterstreiche ich auch das, was die Vorredner
gesagt haben. Wir müssen das Konventmodell auf Eu-
ropa übertragen. Wir brauchen öffentliche Ratssitzun-
gen, wenn über europäische Gesetze entschieden wird.
Wir brauchen schlanke Strukturen. Wir brauchen einen
vernünftigen Interessenausgleich zwischen Groß und
Klein. Weder dürfen die Großen die Kleinen noch dürfen
die Kleinen die Großen dominieren. Deshalb, Herr Bun-
desaußenminister, sorgen Sie bitte dafür, dass dieses
unselige Gerede über ein Direktorium von großen
Mitgliedstaaten, über den Europäischen Rat als die
Entscheidungszentrale in der Europäischen Union,
das es in der Anfangszeit des Konvents gegeben hat, be-
endet wird. Ich weiß, Sie denken anders darüber. Wir
müssen es nur im Konvent mehrheitsfähig machen und
durchsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die Debatte über die Insti-
tutionen mündet immer wieder in folgende Fragen:
Brauchen wir einen oder zwei europäische Präsidenten?
Brauchen wir einen Doppelhut? Brauchen wir eine Dop-
pelspitze? Brauchen wir eine Pyramide? Soll es einen
Chairman oder einen Präsidenten für den Europäischen
Rat geben? All diese Debatten versteht und begreift
draußen niemand. Deshalb wird der Erfolg des Konvents
auch davon abhängen, ob es uns gelingt, die entschei-
denden europäischen Machtfragen so zu formulieren,
dass die Öffentlichkeit sie versteht, damit die Öffentlich-
keit den Konvent auch unterstützt, wenn er sich gegen
Regierungen und deren Positionen durchsetzen muss.

Zwei Aspekte sind meiner Meinung nach wichtig,
ganz egal, auf welchem Weg man einen Kompromiss
findet. Wir brauchen keine neuen bürokratischen Mons-
ter, die die Entscheidungsprozesse in Europa weiter
komplizieren und erschweren. Wenn in der Debatte über
eine Kompromissfindung herauskäme, dass neben der

EU-Kommission eine Parallelbürokratie beim Europäi-
schen Rat entstehen würde, dann hätten wir etwas falsch
gemacht und hätten die Erwartungen der Bürger nicht er-
füllt, sondern enttäuscht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Der zweite Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass die
Selbstverständlichkeit, als die wir die Demokratie in un-
seren Mitgliedsstaaten empfinden, endlich auch auf die
europäische Ebene übertragen wird. Bis zu 70 Prozent
all unserer Gesetze kommen aus Brüssel. Es werden in
Brüssel Entscheidungen gefällt, die die Bürger unmittel-
bar betreffen, nicht nur die Landwirte, sondern auch Stu-
denten und mittelständische Unternehmer. Wir müssen
dafür sorgen, dass dieses Europa mindestens so demo-
kratisch organisiert wird wie die Willensbildung in
Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien und je-
dem anderen europäischen Land.

Es gibt allerdings noch einen großen Unterschied.
Dieser Punkt ist wichtig; ich möchte ihn für all diejeni-
gen ansprechen, die uns zuhören, weil er etwas mit der
Europamüdigkeit und Europaverdrossenheit zu tun hat.
Wenn Sie als Bürger eines Mitgliedsstaates mit Ihrer Re-
gierung und den Entscheidungen, die sie trifft, unzufrie-
den sind, dann haben Sie alle vier oder fünf Jahre die
Möglichkeit, Ihre Regierung zu wählen bzw. abzuwäh-
len. Sie haben die Möglichkeit, der Regierung einen
Denkzettel zu geben. Sie können bei Bundestags- oder
Landtagswahlen über politische Konzepte entscheiden.
Sie können als Bürger mit entscheiden, welche Politik in
den nächsten vier oder fünf Jahren gemacht wird.

Diese Möglichkeit hat der Bürger auf europäischer
Ebene nicht. Es ist nicht erkennbar, welchen Einfluss
und welche Auswirkungen die Wahl zum Europäischen
Parlament auf die Politik hat, die in Europa gemacht
wird. Deshalb müssen wir dieses Prinzip aus den Mit-
gliedsstaaten auf Europa übertragen. Die Bürger müssen
die Möglichkeit haben, mit der Wahl zum Europäi-
schen Parlament auch über ihre Exekutive zu entschei-
den. Deshalb, Herr Bundesaußenminister: Egal, was wir
mit unseren französischen Freunden hinsichtlich der
Frage des Kommissions- und des Ratspräsidenten ver-
einbaren, egal, ob es noch Kompromissmöglichkeiten
gibt, an die niemand von uns denkt, wir müssen errei-
chen, dass der Ausgang der Wahlen zum Europäischen
Parlament einen entscheidenden Einfluss darauf hat, wer
in Europa regiert und wie in Europa regiert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, diese Europäische Union
von 25 Mitgliedstaaten ist ein Experiment ohne Beispiel
in der Nachkriegsgeschichte. Es gibt weltweit kein Inte-
grationsmodell, das ähnlich weit vorangeschritten ist,
das eine ähnlich hohe Integration aufweist, das ähnlich
viele Mitgliedstaaten, Kulturen und Sprachen unter ei-
nem Dach vereinigt. Deshalb müssen wir alles tun, damit
dieses Experiment gelingt. Ich denke, dass sich jeder im
Konvent darüber im Klaren ist. Wir schaffen einen euro-
päischen Verfassungsvertrag, also eine Verfassung in
Form eines Vertrages, auch deshalb, um europäische






(A) (C)



(B) (D)


Peter Altmaier
Identität zu stiften. Ein solches Gebilde kann auf Dauer
nur funktionieren, wenn die Bürger keine Zweifel bezüg-
lich der Identität haben, wenn sie wissen, wer zusam-
mengehört und wie dieses Gebilde aussieht.

Deshalb ist es, wie ich glaube, wichtig, dass wir in
diesem Verfassungsvertrag die Grundrechte-Charta an
die erste Stelle setzen und sie nicht in irgendein Proto-
koll oder irgendwelche Erklärungen am Schluss des Do-
kumentes packen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist ein
Kernelement unseres Menschenbildes und unseres
Staatsverständnisses. Dieser Satz steht in Art. 1 Abs. 1
unseres Grundgesetzes und in Art. 1 Satz 1 der Europä-
ischen Grundrechte-Charta. Es wäre großartig, wenn es
uns gelänge, diesen Satz auch in der europäischen Ver-
fassung zu verankern.

Meine Damen und Herren, wir haben drei Monate
Zeit, um dem Deutschen Bundestag ein Ergebnis vorzu-
legen. Als Vertreter des Bundestages gemeinsam mit
dem Kollegen Meyer in diesem Konvent will ich meinen
Kolleginnen und Kollegen und allen hier in diesem
Hause sagen: Ich bin der Auffassung, dass wir alles tun
sollten, um diese drei Monate zu nutzen. Wir sollten
nicht darüber reden, den Zeitplan aufzuweichen. Wir
sollten keinen Druck aus dem Kessel nehmen. Wir soll-
ten uns von den großen Schwierigkeiten bei den Themen
Irak und Außenpolitik nicht entmutigen lassen. Diese
müssen vielmehr ein Ansporn für uns sein, dafür zu sor-
gen, dass so etwas in Zukunft nicht wieder vorkommt.
Ich glaube, wir haben in diesem Konvent die Chance, die
Lehren aus der Geschichte, auch aus der jüngsten Ge-
schichte, zu ziehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503105500


Das Wort hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503105600


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste
Redner der Opposition hat heute zu Recht darauf hinge-
wiesen, dass in diesem Jahr zwei Entscheidungen, die zu
Recht historisch genannt werden, anstehen, nämlich die
Erweiterung und die neue europäische Verfassung, der
neue Vertrag.

Kollege Altmaier, Sie haben zu Recht unterstrichen
– das freut mich –, dass der Konvent schon heute ein
Erfolg ist. Nun bin ich nicht ganz so weit; das will ich
erst noch sehen. Ich teile allerdings Ihren Optimis-
mus, dass er ein Erfolg werden kann. Ich freue mich,
dass die Opposition dies unterstreicht; denn ich denke,
es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Wechsel

in der Regierung im Jahre 1998 eine Voraussetzung
dafür war, dass wir hinsichtlich der Erweiterung der
EU mit der praktischen Arbeit beginnen konnten; bis
dahin gab es nämlich nur abstrakte Versprechungen,
aber kein Öffnen der einzelnen Verhandlungskapitel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ CSU]: Das ist Geschichtsklitterung!)


Der zweite Punkt ist die Agenda 2000, die eine wich-
tige Voraussetzung für einen Kompromiss, der uns alles
andere als leicht gefallen ist, war. Auch das dürfen wir
nicht vergessen.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die Agenda ist ein Flop, sonst gar nichts!)


Schließlich komme ich zum dritten Punkt: Auch der
Verfassungsprozess ist von der Bundesregierung unter
Bundeskanzler Gerhard Schröder angeschoben worden,


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: So ist es!)


weil wir anders als Sie der Meinung waren, dass eine Er-
weiterung auf 25 Mitglieder und mehr – wir werden bei
der 25er-Union nicht stehen bleiben – ohne eine grund-
sätzliche Reform der Verträge und der europäischen Ver-
fassung nicht möglich ist.

Sie sagen, dass Nizza gescheitert ist. In Nizza haben
wir den Konvent beschlossen. Ich bitte Sie, das nicht zu
vergessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ CSU]: Der Konvent ist nicht in Nizza beschlossen worden!)


Wie Ihre Rhetorik bei unseren Nachbarn in Frankreich
ankommen wird, bitte, das liegt in Ihrer Verantwor-
tung. Aber wenn ich mir das gerade vor dem Hinter-
grund der aktuellen Erfahrungen und Entwicklungen
anschaue, dann wird mir klar, dass dieser Konvent noch
sehr wichtig sein wird, um auftretende Brüche und Grä-
ben in der erweiterten Union überbrücken zu können
und um nicht in die Gefahr einer Avantgarde-Bildung
hineinzulaufen.

Kollege Hintze, ich möchte hier keine Irak-Debatte
führen. Ich frage mich nur: Wen in diesem Land und in
den anderen europäischen Ländern meinen Sie mit Ihren
Worten eigentlich noch erreichen zu können? Sie – Ihre
Parteivorsitzende und Ihr Kanzlerkandidat haben dies
ebenfalls getan – schweigen bei der entscheidenden
Frage. Es geht darum, ob Sie wollen, dass die Inspektio-
nen abgebrochen werden und dass wir uns der Resolu-
tion der USA, Spaniens und Großbritanniens anschlie-
ßen. Wenn dies so ist, dann sollten Sie sagen, dass Sie
das wollen und dass Sie für einen Krieg gegen Saddam
Hussein sind. Hier haben wir einen tiefen Widerspruch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es nützt doch nichts, nur im Verfahren zu bleiben. Sie
müssen zum Punkt kommen.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer
Diese Bundesregierung hat gegenüber den amerikani-
schen Partnern von Anfang an – und zwar lange vor dem
Wahlkampf – ihre tiefe Skepsis und Sorge bezogen auf
einen Krieg im Irak zum Ausdruck gebracht, weil sie
erstens der Überzeugung ist, dass vor allem die langfris-
tigen Risiken gewaltig sind. Dabei geht es nicht nur um
die humanitären Risiken, die ein solcher Krieg für un-
schuldige Menschen bedeuten würde, sondern zweitens
auch um die Frage des Zusammenhalts der Antiterror-
koalition und die Konsequenzen für den Kampf gegen
den Terrorismus. Drittens geht es um die Frage der re-
gionalen Stabilität, die gerade uns als direkten regiona-
len Nachbarn langfristig tiefe Sorgen macht.

Herr Kollege Hintze, ich komme zum zweiten Punkt
in diesem Zusammenhang: Unter schwierigen Bedin-
gungen hat diese Bundesregierung – der Bundeskanzler,
ich und andere Mitglieder der Bundesregierung und der
Koalition – in ihrer Regierungsgeschichte die Entschei-
dung für eine militärische Intervention als das letzte
Mittel zweimal für unabweisbar gehalten, nämlich im
Kosovo und in Afghanistan. Bevor man über Krieg
spricht, sollte man bedenken, dass es dabei um das letzte
und nicht um das nächste Mittel oder um formale
Gründe geht, Kollege Hintze.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Angesichts der gegenwärtigen Situation, in der ich die
Berichte der Inspektoren zur Kenntnis nehme, sage ich Ih-
nen: Bevor man über den Krieg als das letzte Mittel redet,
muss klar sein, dass alle anderen Mittel erschöpft sind.
Wenn ich die Berichte von Blix und al-Baradei zur Grund-
lage nehme, dann erkenne ich, dass sie nicht erschöpft
sind. Blix hat gesagt, dass er nicht über Wochen und nicht
über Jahre, sondern über Monate, die er braucht, spricht.

Sie wissen es doch so gut wie ich: Wenn Saddam
Hussein die Zerstörung der Raketen zum 1. März abge-
lehnt hätte, dann wäre das der Anlass dafür gewesen,
dass jetzt zu militärischen Maßnahmen gegriffen worden
wäre. Aber man kann es nicht als irrelevant bezeichnen,
wenn bei der Zerstörung wirklich Fortschritte gemacht
werden. Genau das wollen wir mit dem deutsch-franzö-
sischen Memorandum erreichen: Mit der Setzung von
Fristen soll sichergestellt werden, dass tatsächlich abge-
rüstet wird. Das ist unsere Position. Wir sagen Nein zum
Krieg, während Sie in dieser Frage herumeiern und den
Menschen nicht klar machen, was Ihre Position ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Kollege Pflüger hat schon sehr früh im Ausschuss er-
klärt, dass es für ihn wichtiger sei, an der Seite der USA
zu stehen, und er deswegen für den Krieg sei. Diese
Worte sollte er einmal hier wiederholen.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Können Sie mir sagen, wann ich das gesagt haben soll?)


Auch die Vorsitzende Merkel sollte sich einmal äußern.
Dann gäbe es in dieser Frage Klarheit.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sie wissen genau, dass das nicht stimmt! – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Dieser Mann ist ein Spalter! Er spaltet nur!)


Zurück zu Europa. Wir kommen jetzt in die entschei-
dende Phase der Erweiterung.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Wo habe ich gesagt, ich sei für den Krieg?)


– Ich saß doch neben Ihnen, als Sie erklärt haben, dass
für Sie nun der „material breach“ gegeben sei, Kollege
Pflüger. Sie wissen so gut wie ich, was dann die Konse-
quenzen sind.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ihre physische Anwesenheit ist kein Argument!)


Ich wundere mich, dass Sie sich jetzt darüber so aufre-
gen. Ihre Position ist doch bekannt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Eine Lüge, Herr Kollege!)


– Das ist keine Lüge. Das zeigt nur, dass ein schwanken-
der Halm ein Muster an Stabilität im Verhältnis zur Posi-
tion der Union in der Frage ist: Wie halte ich es mit
einem Krieg im Irak?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ CSU]: Sie spalten das Volk!)


Die Erweiterung – ich komme zu einem Punkt, der
zu Recht angesprochen wurde – macht eine neue Ver-
fassung notwendig. Diese neue Verfassung ist vor dem
Hintergrund der weltpolitischen Herausforderungen
umso wichtiger. Ich denke, es wäre keine gute Perspek-
tive, in eine De-facto-Avantgarde innerhalb oder außer-
halb der Verträge hineingetrieben zu werden. Deshalb
müssen wir gerade jetzt in der Endphase ein ambitionier-
tes Ziel anstreben. Ich rate jedoch dazu, die Realitäten
anzuerkennen. Es ist nicht so, dass ich mir nicht weiter
gehende Schritte wünschen würde, aber wir müssen am
Ende, ausgehend von der nationalen Position, zu Kom-
promissen kommen.

Herr Kollege Altmaier, dabei sind Ihre Vorschläge
nicht sehr hilfreich. Natürlich gibt es Interessenunter-
schiede zwischen großen und kleinen Staaten. In der er-
weiterten Union der 25 wird es Realität sein, dass die
Staatenmehrheit bei den kleinen Ländern liegt, während
gleichzeitig die sechs größten Mitgliedstaaten über
70 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Das schafft
ein sehr großes Ausgleichsproblem, und zwar nicht nur
in der Frage des Europäischen Rates, sondern auf nahezu
allen Ebenen. Es wird schwierig sein, hier ein Gleichge-
wicht zu finden. Eine Lösung wird sich nur finden las-
sen, wenn man sich, ausgehend von den unterschiedli-
chen Interessen, an einem Kompromiss orientiert.

Dasselbe Problem gilt zwischen den neuen und den
alten Mitgliedstaaten. Wir Deutsche haben dafür eine be-
sondere Sensibilität, weil wir die Schwierigkeiten des
Zusammenwachsens in unserem Alltag und auch bei der
Gesetzgebung erleben: zwischen den alten und den






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer
neuen Bundesländern und auch zwischen den Menschen
in dieser Stadt. Selbstverständlich verstehe ich, dass der-
jenige, der 50 Jahre Unterdrückung und Sowjetkommu-
nismus erlebt hat, eine ganz spezifische Sicht, basierend
auf dieser Erfahrung, auf die USA hat. Auch wir hatten
und haben eine spezifische Sicht auf die USA, die sich
von anderen unterscheidet. Natürlich verstehe ich auch,
dass Polen jenseits dieser 50 Jahre noch eine andere Er-
innerung hat. Auch das ist mir völlig klar. Dabei spielen
wir Deutsche eine nicht ganz unwichtige Rolle. Daraus
erwächst noch einmal eine andere Perspektive.

Die alte Union stand für das Zuschütten des Grabens
der Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frank-
reich. Die neue Union wird das Überwinden des Eiser-
nen Vorhangs bedeuten. Dass das Zeit braucht, wissen
gerade wir Deutsche.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber eine erweiterte Union wird starke integrative In-
stitutionen brauchen, sonst wird sie nicht funktionieren.
Alle Mitgliedstaaten, alte wie neue, haben ein Interesse
daran, dass die Union funktioniert; denn eine nicht funk-
tionierende Union würde sofort zu einer informellen
Gruppenbildung führen – Geschichte lässt sich nicht auf-
halten –, weil dann die Interessen der Mitgliedstaaten
mit ihrem ganzen Schwergewicht zur Geltung kämen.

Das ist die Aufgabe. Dabei geht es um die Ausgestal-
tung der wesentlichen Punkte. Ich sehe in der Tat eine
Möglichkeit ganz konkret vor uns. Ich persönlich hätte
mir gewünscht, dass es nur einen Präsidenten gibt. Aber
ich muss feststellen: Dazu ist es noch zu früh. Es gibt im
Konvent Überlegungen, die Festlegung auf einen Präsi-
denten nach zwei oder drei Wahlperioden in die Verfas-
sung hineinzuschreiben. Das heißt, in zehn oder 15 Jah-
ren wird diese Idee Realität werden. Dann ist eine neue
Generation herangewachsen. Das halte ich für eine nicht
unkluge Idee.

Wir müssen darauf Acht geben, dass das institutio-
nelle Dreieck gestärkt bleibt, wenn wir zwei Präsidenten
haben. Bei 25 oder mehr Mitgliedstaaten halte ich es für
ein Unding, an der rotierenden Präsidentschaft im Euro-
päischen Rat festzuhalten. Das wird nicht funktionieren.
Ein permanenter Vorsitz im Europäischen Rat bedeutet
de facto eine Stärkung des Rates. Auch deswegen wird
es so wichtig sein, dass die Wahl des Kommissionsprä-
sidenten durch das Europäische Parlament erfolgt.
Diese Punkte hängen für uns unmittelbar zusammen.

Die Größe der Kommission müssen wir uns eben-
falls anschauen. Eine Kommission, die aus 25 Kommis-
saren besteht – gemäß dem Nizza-Vertrag wird sie so
groß sein –, macht eine starke innere Differenzierung
notwendig, weil sie an eine Funktionalitätsgrenze stößt
bzw. bereits jenseits dieser Grenze ist. Die Alternative ist
das Rotationsmodell, welches für die großen Mitglied-
staaten besonders bitter ist. Sie haben bereits auf einen
Kommissar verzichtet. Selbst wenn das Rotationsmodell
einen langen Zeitraum umfassen würde – es gibt große,
mittlere und kleine Mitgliedstaaten –, würde es immer
eine Phase geben, in der ein großes Land nicht vertreten

wäre. Das ist ohne jeden Zweifel eine bittere Pille, die zu
schlucken wäre. Gleichwohl: Im Interesse der Funktio-
nalität würde ich mich einem solchen Kompromissvor-
schlag, wie er im Präsidium des Konvents diskutiert
wird, nicht verschließen. Das sind für mich zwei wesent-
liche Punkte.

Der dritte Punkt ist die Ausdehnung der Mitentschei-
dungsrechte des Parlaments auf alle gesetzgeberischen
Maßnahmen. Das halte ich für einen sehr wichtigen
Punkt.

Ich warne davor, sich beim Doppelhut des Außenmi-
nisters sofort auf die volle Integration zu versteifen, weil
das eine lange Perspektive braucht. Bis die Mitgliedstaa-
ten ihre Souveränitätsrechte – vor allem hinsichtlich des
ius bellum – aufgeben, wird viel Zeit vergehen. Wenn es
gut läuft, erzielen wir eine verstärkte Parallelität bei der
Integration. Die Position des Außenministers der
Union wird in erster Linie im Rat verankert sein, weil
dort das Hauptgewicht liegt. Ich halte es aber für unver-
zichtbar, dass er zugleich in der Kommission eine beson-
dere Rolle spielt. Das ist der Inhalt des Vorschlags des
Doppelhuts, der zurzeit mehrheitsfähig zu sein scheint.
Aus den bisherigen Erfahrungen können wir entspre-
chende Konsequenzen ziehen.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)


Kollege Altmaier, ich möchte den Art. 14 im jetzt
vorliegenden Entwurf noch einmal neu formuliert sehen.
Das Problem liegt für mich nicht so sehr im Inhalt des
„Briefes der Acht“ als im Verfahren. In Europa wird es
immer verschiedene Meinungen geben. In einem vielfäl-
tigen Europa kann das nicht anders sein. Wir müssen uns
aber auf eine Methode einigen, mit der wir eine gemein-
schaftliche Position finden können. Das ist meine Kritik
am „Brief der Acht“.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


In Art. 14 muss eine entsprechende Konsequenz gezo-
gen werden. Ich denke, es gibt entsprechende Formu-
lierungen, um verpflichtend sicherzustellen, dass die
Mitgliedstaaten wie auch die gemeinschaftlichen Insti-
tutionen im Falle auftauchender ernsthafter Krisen oder
im Falle substanzieller Veränderungen in den Beziehun-
gen zu strategischen Partnern eine gemeinschaftliche
Haltung finden. Das ist meines Erachtens in Art. 14
machbar.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Peter Altmaier [CDU/CSU]: Die haben doch nicht angefangen! Sie haben nur reagiert!)


– Die Debatte können wir gerne an anderer Stelle führen.

Für mich ist ein anderer Punkt entscheidend. Ich
stimme Ihnen teilweise zu. Hinsichtlich des Klagerechts
der Bundesländer muss ich Ihnen leider widersprechen.
Ich habe Präsident d’Estaing noch einmal klar gemacht,
wie wichtig das für uns, vom nationalen Standpunkt aus
betrachtet, ist. Ich denke, das wird mit berücksichtigt
werden.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer
Mich wundert, dass Sie, als Vertreter der Christlich
Demokratischen Union, die Frage, wie der Gottesbezug
in der Verfassung verankert werden kann – beim Be-
such im Vatikan spielte das eine große Rolle –, nicht auf-
genommen haben.


(Peter Altmaier [CDU/CSU]: Wir beantragen das doch im Gegensatz zur Bundesregierung!)


Um diese Dinge geht es konkret. Der vorliegende
Entwurf ist gut. Die entsprechenden nationalen Initiati-
ven sind geeignet, einen Kompromiss zu finden. Ich bin
dafür, dass wir nicht verzögern, sondern während der ita-
lienischen Präsidentschaft, in der zweiten Jahreshälfte,
im Rahmen einer kurzen Regierungskonferenz zum Ab-
schluss kommen. Voraussetzung dafür ist, dass die in
Kopenhagen beschlossene Teilnahme der Kandidaten,
die de jure noch nicht Vollmitglieder sind, die aber die
Beitrittsverträge bereits unterzeichnet haben, eine wirk-
liche volle Teilhabe bedeutet. Dann wären die Bedenken
dieser Länder ausgeräumt. Im Klartext heißt das, dass
wir dann zügig vorankommen können. Gerade ange-
sichts der internationalen und der weltwirtschaftlichen
Lage meine ich, dass eine handlungsfähige Union, die
mit der Erweiterung zu einer Union der 25 Mitglied-
staaten ernst macht und dieses ehrgeizige und schwierige
Projekt umsetzt, durchaus in der Lage ist, sich eine fle-
xible, demokratische und handlungsfähige Verfassung zu
geben. Dieses Ziel halte ich für erreichbar. In diesem
Punkt sind wir uns auch alle einig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503105700


Es sind zwei Kurzinterventionen der Kollegen Pflüger
und Hintze angemeldet. Ich schlage vor, dass wir sie hin-
tereinander aufrufen und dass dann der Außenminister
Gelegenheit hat, sie gegebenenfalls zusammen zu beant-
worten. – Herr Kollege Pflüger.


Dr. Friedbert Pflüger (CDU):
Rede ID: ID1503105800


Herr Minister Fischer, ich habe eben mit etwas Ver-
wunderung zur Kenntnis genommen, dass Sie aus einer
vertraulichen Ausschusssitzung zitiert haben. Wenn Sie
schon aus dieser Sitzung zitieren, bitte ich Sie darum,


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Nicht Lügen zu verbreiten!)


richtig zu zitieren, statt eine Lüge zu verbreiten. Denn
nichts anderes haben Sie getan.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ich kann es bestätigen! Ich war dabei!)


Es gibt schließlich ein Ausschussprotokoll, in dem wir
das nachlesen können.

Ich habe mich – wie alle Kollegen in der Unionsfrak-
tion – zu keinem Zeitpunkt für einen Krieg ausgespro-
chen, weder direkt noch indirekt. Denn wir wollen ebenso
wie jeder andere in diesem Hause den Frieden. Unterlas-
sen Sie es bitte, Herr Minister, die Menschen in diesem

Hause und in unserem Lande in diejenigen einzuteilen, die
den Frieden wollen, und diejenigen, die den Krieg wollen!
Das vergiftet die Atmosphäre und ist zudem unwahr.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sie sollten das Volk zusammenführen und nicht spalten!)


Was uns unterscheidet, ist, dass wir die Meinung ver-
treten, dass es militärischen Druckes bedarf, um die Ar-
beit der Inspektoren und die Entwaffnung, die auch Sie
als wichtiges Ziel ansehen, durchführen zu können. Mili-
tärischer Druck kann aber nicht erzeugt werden, wenn
von vornherein erklärt wird – wie es die Bundesregie-
rung getan hat –: Alles ist denkbar, aber nicht, dass wir
militärisch vorgehen.

Wenn sich jedes Land so verhalten hätte, dann gäbe es
keinen militärischen Druck, keine Inspektoren und keine
Entwaffnung des Irak. Das ist der Widerspruch, auf den
ich in der Ausschusssitzung hingewiesen habe und den
Sie bis heute nicht aufgeklärt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Was ich in der Tat kritisiert habe, ist die deutsch-
französisch-russische Initiative. Ich habe sie kritisiert,
weil sie eben keine klaren Ultimaten setzt, wie es uns
Herr Blix vorgemacht hat. Herr Blix hat einen Brief an
Saddam Hussein geschrieben, in dem er mitgeteilt hat,
dass die al-Samud-Raketen bis zum 1. März vernichtet
werden müssen. Es war ziemlich klar, dass andernfalls
der Sicherheitsrat militärisch vorgehen würde.

Diese Art von deutlichen Ultimaten und Zielvorgaben
gibt es in der deutsch-französisch-russischen Initiative
nicht, sondern sie erlaubt im Kern, dass Saddam Hussein
das alte Spiel fortsetzen kann. Ohne den Zeithorizont zu
begrenzen, gibt sie ihm die Möglichkeit, seine taktischen
Spiele fortzusetzen. Das machen wir nicht mit.

Es muss klar gemacht werden, dass die Inspektoren
eine Chance bekommen sollen. Aber darüber muss mit
unseren amerikanischen Partnern und mit den NATO-
Partnern gesprochen werden, statt mit China, Russland
und Frankreich innerhalb der Weltgemeinschaft Achsen
zu bilden, um gegen unsere amerikanischen Bündnis-
partner vorzugehen.


(Widerspruch bei der SPD)


Darin unterscheiden wir uns in der Tat. Wir werden se-
hen, ob Sie mit Ihrer Politik wirklich einen Krieg verhin-
dern oder ob es bei den schönen Friedensbekenntnissen
bleibt, Herr Minister. Mein Verdacht ist, dass Sie mit Ih-
rer Politik nicht sehr weit gekommen sind.


(Ute Kumpf [SPD]: Na, na, na!)


Sie klingt schön; aber sie sichert nicht den Frieden in un-
serem Land.


(Zuruf des Bundesministers Joseph Fischer)


– Es geht zwar um den Frieden am Golf, Herr Fischer;
aber es geht auch um die Sicherheit hier bei uns. Neben
Ihnen sitzt Minister Schily, der deutlich sagt, dass es
auch bei uns große Risiken gibt.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Friedbert Pflüger
Lassen Sie mich Ihnen versichern: Wenn wir nicht et-
was für die Entwaffnung des Irak tun, dann bekommen
wir das große Problem, dass es irgendwann bei uns Ter-
rorismus in Verbindung mit Massenvernichtungswaf-
fen geben wird. Um das auszuschließen, müssen wir
Saddam gegenüber eine klare und deutliche Sprache
sprechen. Das hat nichts mit Kriegstreiberei zu tun. Las-
sen Sie bitte in Zukunft die Unterstellung gegenüber ir-
gendjemandem in diesem Haus, dass er sich einen Krieg
wünschen würde! Ich will die friedliche Entwaffnung
des Irak. Darum geht es mir und meiner Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503105900


Herr Kollege Hintze, ich darf noch einmal darauf hin-
weisen, dass Kurzinterventionen auf drei Minuten be-
grenzt sind.


(Ute Kumpf [SPD]: Und nicht vier! – Joseph Fischer, Bundesminister: Herr Präsident, habe ich dann sechs Minuten?)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1503106000


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir sind es von unserem Bundesaußenminister ja ge-
wohnt, dass er zuweilen, um die parlamentarischen De-
batten – ich möchte es freundlich formulieren – zu wür-
zen, auf Unschärfen und manchmal leider auch auf
Unterstellungen zurückgreift. Heute hat er sich beider
Stilmittel bedient.

Erstens. Die Konferenz von Nizza – ich beginne mit
den Unschärfen – ist eindeutig gescheitert. Sie, Herr Mi-
nister, meinten sich daran zu erinnern, dass in Nizza der
Konvent beschlossen worden sei. Ich bitte Sie, das in
Ruhe zu überprüfen; denn der Konvent ist nicht in
Nizza, sondern in Laeken beschlossen worden. Richtig
ist, dass sich die Bundesregierung eine Initiative aus der
Mitte des Parlaments und des Europaausschusses zu Ei-
gen gemacht hat. Das finden auch wir gut. Aber ich bitte
um der historischen Wahrheit willen, die Dinge richtig
darzustellen.

Zweitens. Sie haben auf den Vatikan und die Frage
abgehoben, ob der Anfang der zukünftigen europäischen
Verfassung einen Gottesbezug, also einen Hinweis auf
unsere Verantwortung vor Gott, enthalten soll. Vielleicht
können Sie uns einmal klar sagen, wie Sie dazu stehen.
Ich jedenfalls bin dafür. Die Europäische Volkspartei, in
der alle Christdemokraten zusammengeschlossen sind,
hat einen entsprechenden Antrag gestellt. Wenn auch Sie
als Konventsmitglied das unterstützen würden – so habe
ich Sie jedenfalls verstanden –, dann wäre das wenigs-
tens ein kleiner Erfolg bzw. tätige Reue für die Unterstel-
lungen, mit denen Sie aus taktischen Gründen die Oppo-
sition im Deutschen Bundestag überziehen.

Herr Bundesaußenminister, wissen Sie, was mir fast
die Sprache raubt? Sie stellen sich an das Rednerpult des
Deutschen Bundestages und freuen sich über die Erfolge
der Inspektionen. Woher kommen denn die Erfolge der

Inspektionen? Sie sind eindeutig und ausschließlich auf
die Tatsache zurückzuführen, dass der Diktator den rea-
len Druck der militärischen Entschlossenheit spürt. Nur
deswegen ist er ein Stück weit zurückgewichen. Die
Frage lautet nun: Wird dieser Druck aufrechterhalten
oder wird er derartig unterminiert, dass am Ende des In-
spektionsverfahrens der Diktator und mit ihm alle Schur-
ken dieser Welt triumphieren können? Das ist der ent-
scheidende Unterschied.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Da hilft es nichts, dass Sie sich öffentlich über den
Kollegen Pflüger aufregen. Sie behaupten, er breche die
Vertraulichkeit, und gleichzeitig legen Sie vor dem Deut-
schen Bundestag dar – das finde ich pikant –, was er – an-
geblich – in nicht öffentlicher Sitzung gesagt hat. Wenn
Sie so etwas machen, dann wäre es zumindest wün-
schenswert, dass Sie ihn richtig zitieren würden. Aber das
alles hilft überhaupt nichts; denn die entscheidende Frage
ist, ob sich die Völkergemeinschaft das Instrument erhält,
Diktatoren in den Arm zu fallen, oder nicht. Hier ist die
Bundesregierung gefordert, nicht dem Land in den Arm
zu fallen, das als einziges in der Lage ist, dem Völker-
recht Geltung zu verschaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel [FDP])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503106100


Herr Minister, bitte schön.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503106200


Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Pflüger,
ich habe Ihnen das schon in der damaligen Ausschusssit-
zung entgegengehalten. Ich habe nichts zurückzuneh-
men. Gleichwohl habe ich Sie nicht als Kriegstreiber be-
zeichnet. Diesen Begriff haben Sie gerade selber in die
Debatte eingeführt und zurückgewiesen. Einen solchen
Begriff habe ich Ihnen gegenüber nicht verwendet.

Ich möchte noch ein paar andere Dinge richtig stellen.
Das deutsch-französische Memorandum scheinen Sie
überhaupt nicht oder nur schlecht gelesen zu haben;
denn genau dort beziehen wir uns auf das Arbeitspro-
gramm, das Herr Blix entsprechend der Resolution 1284
vorlegen soll und in dem er detailliert die einzelnen
Schritte, versehen mit Benchmarks oder, wo es möglich
ist, mit einem so genannten Zeitfaktor, exakt beschreiben
soll, so wie es bei den al-Samud-Raketen bereits ge-
schehen ist.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Was passiert dann?)


– Ich habe Ihnen zugehört und jetzt hören Sie mir bitte
auch zu. – Genau das wird im deutsch-französischen
Memorandum gefordert, ja noch mehr: Deutschland und
Frankreich sind in einer Sicherheitsratssitzung aktiv ge-
worden und haben verlangt, dass dieses Arbeitspro-
gramm vorgezogen wird. Mittlerweile wird es präsen-
tiert. Ob das zeitlich noch reicht, ist eine andere Frage.
Aber es waren nicht Deutschland und Frankreich, sondern






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer
andere Länder, die sich in dieser Sitzung energisch ge-
gen das Vorziehen des Arbeitsprogramms ausgesprochen
haben. Die Behauptung, dass das deutsch-französische
Memorandum keine verbindlichen Zeitfaktoren enthalte,
ist also völliger Unsinn. Der französische Präsident hat
bei seinem Besuch in Berlin anlässlich des Blaesheim-
Treffens auf einer Pressekonferenz genau darauf noch
einmal hingewiesen.

Nun komme ich zu der von Ihnen und auch von Ih-
nen, Herr Hintze, hergestellten Verbindung zwischen
Terrorismusbekämpfung und dem Irak. Das ist mein
grundsätzliches Problem. Wenn es nach mir gegangen
wäre, hätte ich nach dem 11. September – dafür habe ich
bei der amerikanischen Seite immer geworben – eine an-
dere Tagesordnung aufgestellt. Es gab keine Alternative
zu unserem Einsatz in Afghanistan. Deshalb sind wir
mit großer Entschlossenheit gemeinsam an der Seite
unseres durch die verbrecherischen Attentate angegrif-
fenen wichtigsten Bündnispartners außerhalb Europas
in den Einsatz gegangen. Wir haben heute über
2 000 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. Wir haben
Sondereinheiten im Rahmen von Enduring Freedom in
Kuwait und am Horn von Afrika.

Ich habe aber schon damals gesagt, dass ich keinen
Zusammenhang zum Irak sehe und dass ich auch keine
Appeasement-Politik im Irak sehe, sondern Contain-
ment-Politik, die wirkt. Ich habe gesagt, dass Saddam
ein schlimmer Diktator ist, dass ich aber an die zweite
Stelle die Lösung der Regionalkonflikte setzen würde,
vor allem die des Nahostkonflikts. Wenn es nach uns ge-
gangen wäre, hätten wir den Irakkonflikt nicht als Num-
mer eins auf die Tagesordnung gesetzt, jetzt nicht und so
nicht. Das haben wir den amerikanischen Partnern aus
den Gründen, die ich vorher genannt habe, und auch ei-
nigen anderen immer gesagt. Aber es gibt die Resolution
1441, es gibt die Entscheidungen, es gibt den Druck.

Angesichts dieses Drucks muss ich fragen: Gibt es
tatsächlich eine Verbindung zwischen den Anschlägen
vom 11. September und dem Irak? Kollege Pflüger hat
gerade wieder gesagt, der Terror könnte kommen. Mit
diesem Ansatz habe ich ein Problem. Wenn wir nicht
mehr eine konkrete Bedrohung haben, sondern die abs-
trakte Vermutung, es könnte eines Tages eine Bedrohung
kommen, und diese Vermutung als Grund für einen prä-
ventiven Militärschlag nehmen,


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist nicht präventiv!)


dann bekommen wir bei der Frage einer zukünftigen Welt-
ordnung – ich formuliere das jetzt sehr diplomatisch – ein
schlichtes Balanceproblem. Wir bekommen auch ein völ-
kerrechtliches Problem. Das wissen Sie nur zu gut.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Falsch! 1441!)


– Doch. Deswegen, sage ich Ihnen, ist die Verbindung zu
den Anschlägen vom 11. September schon eine entschei-
dende Frage.

Die Begründungen wechseln auch. Zuerst hatten wir
die Begründung durch den 11. September, dann die Be-
gründung, dass eine nukleare Aufrüstung droht. Es

würde mich nicht wundern, wenn auch Sie dies im Spät-
sommer mit vertreten hätten. Dann kam die Begründung
mit den biologischen und chemischen Massenvernich-
tungswaffen. Jetzt geht es um die Frage der humanitären
Intervention, um einen furchtbaren Diktator von der
Macht zu entfernen.

Das sind wechselnde Begründungen. Ich kann Ihnen
nur sagen: Vor diesem Hintergrund ist unsere Skepsis
eher größer als kleiner geworden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie sagen: Alle Schurken dieser Welt triumphieren.
Was ist denn die Botschaft einer Politik, die in Nordko-
rea auf Verhandlungen setzt – was ich richtig finde; da-
mit Sie mich nicht missverstehen –, die dies aber vor
dem Hintergrund tut, dass dort möglicherweise schon
Nuklearwaffen vorhanden sind? Umgekehrt wurde im
Falle von Saddam, bei dem keine Verbindungen zu den
Anschlägen vom 11. September bestehen, der aber ein
furchtbarer Diktator ist, eine Containment-Politik ge-
macht. Warum gibt es denn seit Jahren die kurdische Au-
tonomie? Ich habe mich dafür eingesetzt und bekam da-
für teilweise Prügel. Es hat die Flugverbotszonen
gegeben. Ich habe mich immer dafür eingesetzt. Sie ken-
nen nur zu gut die Botschaft, die mit einer solchen Poli-
tik signalisiert wird. Sie teilen diese Sorgen, wie ich aus
Gesprächen mit Einzelnen weiß. Die Botschaft kann
sein: Hast du eine Nuklearwaffe, dann wird verhandelt;
hast du sie nicht, dann wird nicht verhandelt. Wenn das
die Botschaft ist, dann, fürchte ich, bekommen wir auf
mittlere Sicht ein ganz anderes Problem. Denn diese
Botschaft wird von den Schurken dieser Welt, die Sie,
Herr Hintze, zu Recht benannt haben, dann verstanden
werden, mit all den großen Proliferationsrisiken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deswegen ist für mich – das besagt auch die UN-
Charta – die entscheidende Frage die Proportionalität,
die Verhältnismäßigkeit. Sind alle nichtmilitärischen
Mittel erschöpft? Es tut mir Leid, aber nach dem, was ich
in den Sitzungen in New York höre – ich erinnere insbe-
sondere an die beiden letzten Berichte von al-Baradei
und Blix, den Inspektoren –, muss ich sagen: Es ist
meine feste persönliche Überzeugung, dass wir jetzt die
Chance hätten, wirklich eine weitgehende Abrüstung des
Irak mit diesen Instrumenten der Inspektoren zu errei-
chen, wenn wir genügend Zeit bekommen.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist ein Märchen!)


Genau das versuchen wir zu machen. Das hat doch
nichts mit Allianzbildung oder Ähnlichem zu tun. Für
mich ist die nordatlantische Allianz unverzichtbar. Aber
sie ist eine Allianz freier Demokratien. Wir haben gerade
auch von den USA gelernt, dass eine Demokratie im
Diskutieren und im Widerspruch besteht. Das ist für
mich ein ganz wesentlicher Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer
In einer Allianz freier Demokratien wird es Widersprü-
che geben. Es kommt nicht nur auf das Wie an, sondern
aus meiner Sicht kommt es vor allem auf die Substanz
an. Wenn ich von einem Krieg als letztem Mittel nicht
überzeugt bin, dann werde ich auch in Zukunft wider-
sprechen. Das habe ich unter anderem von den USA und
ihrem Demokratieverständnis gelernt, Kollege Pflüger.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


So werde ich es auch in Zukunft handhaben.

Wenn Russland und China heute aufseiten der USA
und Großbritanniens stünden, dann spräche man nicht
von einer neuen Achse, sondern dann würde man deren
Unterstützung selbstverständlich gerne annehmen, weil
man damit eine Mehrheit im Sicherheitsrat hätte.

Ich halte den möglichen Krieg gegen den Irak ange-
sichts der – nicht änderbaren – geopolitischen Lage in
Bezug auf die Folgewirkungen für uns alle für hochris-
kant. Andere sind nicht mehr unmittelbar betroffen,
wenn sie ihre Truppen aus der Region abgezogen haben.
Wir können Europas geopolitische Lage nicht ändern.
Der Nahe Osten wird nämlich immer unser Nachbar
sein und dadurch werden die Probleme, die dort existie-
ren, immer unsere Probleme – ich denke dabei insbeson-
dere an unsere Sicherheit – sein.

Da ich mir all dessen bewusst bin und gleichzeitig
eine bestimmte Entscheidung nicht mittragen kann, weil
ich der Meinung bin, die Risiken seien zu groß und die
nicht militärischen Mittel seien noch nicht erschöpft,
entspricht es meinem Verständnis von einer Allianz
freier Demokratien, dass man das, was man meint, auch
so sagt, und zwar in der gebotenen Klarheit. Genau das
haben wir getan und das werden wir auch in Zukunft tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503106300


Wegen der besonderen Wichtigkeit dieses Themas bin
ich sowohl bei den Fragen als auch bei der Antwort mit
unseren Regelungen in der Geschäftsordnung sehr groß-
zügig umgegangen. Ich weise nur darauf hin, dass ich
nicht die Absicht habe, das in der gesamten Debatte so
zu handhaben.


(Beifall des Abg. Dr. Peter Danckert [SPD])


Als nächste Rednerin in dieser Debatte hat nun die
Frau Kollegin Dr. Winterstein für die FDP-Fraktion das
Wort.


Dr. Claudia Winterstein (FDP):
Rede ID: ID1503106400


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte in dieser Debatte zum Thema euro-
päische Verfassung zurückkehren.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wir alle im Plenum wissen, wie wichtig die Europäi-
sche Union für uns als europäische Bürger ist. Die EU
hat in vielen Lebensbereichen einen direkten Einfluss
auf die Unionsbürger. Ich sehe es als unsere Aufgabe,

also als die Aufgabe der Politiker, an, den Bürgerinnen
und Bürgern dies positiv zu vermitteln.


(Beifall bei der FDP)


Wir müssen erreichen, dass sich die Bürgerinnen und
Bürger der erweiterten Europäischen Union stärker mit
dem gemeinsamen Rahmen identifizieren und die Institu-
tionen in Brüssel nicht als fern und abgehoben beurteilen.

Mit dem Entwurf für eine neue Europäische Verfas-
sung werden die Staaten Europas erstmals ihre gemein-
samen Wertvorstellungen in einem Dokument zusam-
menfassen und entsprechend verankern. Die neue
erweiterte Union braucht jetzt dringend neue Strukturen,
um damit auch ihre zukünftigen Aufgaben meistern zu
können.


(Beifall bei der FDP)


Auf den Punkt gebracht: Die neue Verfassung muss
mehr Bürgernähe, mehr Transparenz sowie mehr demo-
kratische Legitimationen schaffen und natürlich die
Handlungsfähigkeit der Institutionen sicherstellen. Wir
von der FDP legen heute einen detaillierten Antrag vor,
in dem wir aufzeigen, wie diese Ziele zu erreichen sind
und wie eine europäische Politik gestärkt werden kann.

Ich will einige wichtige Punkte herausgreifen:

Ein ganz entscheidender Bestandteil der künftigen eu-
ropäischen Verfassung muss die Grundrechtecharta
sein.


(Beifall bei der FDP)


Diese Grundrechtecharta ist aus unserer Sicht so funda-
mental wichtig, dass sie nicht in einen Anhang verbannt
werden darf, sondern selbstverständlich im vorderen Teil
der Verfassung der EU verankert werden muss.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Der Bürger muss seine verbürgten Grundrechte gericht-
lich durchsetzen können.


(Beifall bei der FDP)


Wir wollen das Europäische Parlament deutlich stär-
ken. Wir schlagen deshalb vor, dass der Präsident der
Europäischen Kommission künftig vom Europäischen
Parlament gewählt wird und natürlich auch abgewählt
werden kann. Dies ist ein wichtiger Schritt, um das be-
stehende Demokratiedefizit zu beseitigen.


(Beifall bei der FDP)


Wir schlagen weiterhin vor, dem Europäischen Parla-
ment künftig das Recht zu geben, Legislativvorschläge zu
unterbreiten, und damit das bisher bestehende Monopol der
Kommission zu beenden. Zur notwendigen Stärkung des
Parlaments gehört auch, das Mitentscheidungsrecht auf
alle europäischen Rechtsetzungsbereiche auszudehnen.

Wir wollen die Größe der Kommission auf maximal
15 Kommissare begrenzen und uns hierbei an der Zahl
der Geschäftsbereiche orientieren. Nur ein schlanker Zu-
schnitt sichert die Handlungsfähigkeit der Kommission
in einer so erweiterten Union.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Claudia Winterstein
Wenn Sie nun fragen, wie bei 15 Kommissaren die
Beteiligung aller Nationalitäten gesichert werden soll,
dann sage ich Ihnen: Wir müssen weg vom Nationalitä-
tenproporz. Bei der Auswahl der Kommissare soll nicht
die Nationalität, sondern die Kompetenz entscheidend
sein.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Für die Handlungsfähigkeit des Europäischen Rates
und der Ministerräte ist es notwendig, das Einstimmig-
keitsprinzip abzuschaffen. Künftig muss in allen EU-Po-
litikbereichen, außer bei Verfassungs- und Verteidi-
gungsfragen, mit Mehrheit oder qualifizierter Mehrheit
entschieden werden können. Dabei muss sichergestellt
sein, dass die Stimmenmehrheit die Mehrheit der Uni-
onsbürger repräsentiert.

Wir brauchen eine klare Abgrenzung der Kompeten-
zen zwischen EU und Mitgliedstaaten.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Richtig!)


Die Aufteilung in ausschließliche, geteilte und unterstüt-
zende Zuständigkeiten halten wir für sinnvoll.

Unser Antrag enthält eine, wie ich finde, sehr wich-
tige Klarstellung: Die Formulierung von Zielen der
Union begründet allein noch keine Zuständigkeit der EU
im jeweiligen Bereich.

Abschließend: Ganz besonders wichtig ist das Subsi-
diaritätsprinzip.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU])


Die EU soll im Rahmen der ihr zugewiesenen Kompe-
tenzen nur das regeln, was regional und national nicht
ebenso gut oder vielleicht sogar besser geregelt werden
kann. Wir unterstützen von daher den Vorschlag, für die
Parlamente der Mitgliedstaaten eine frühzeitige Ein-
spruchsmöglichkeit und bei Nichtberücksichtigung eine
Klagemöglichkeit zu schaffen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, nochmals:
Es kommt darauf an, der Europäischen Union für diese
Erweiterung eine gemeinsame Verfassung zu geben, die
ein demokratisches, transparentes und bürgernahes Eu-
ropa schafft. Die Parlamente der Mitgliedstaaten sind
jetzt aufgefordert, ihre konkreten Vorschläge zu unter-
breiten. Die FDP legt mit diesem Antrag ihren Beitrag
vor.

Danke.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503106500


Frau Kollegin Winterstein, zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag darf ich Ihnen herzlich gratulieren,
verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere par-
lamentarische Arbeit.


(Beifall)


Das Wort hat nun der Staatsminister Martin Bury.

H
Hans Martin Bury (SPD):
Rede ID: ID1503106600


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
starkes vereintes Europa als gleichberechtigter Partner
der Vereinigten Staaten von Amerika, so stellte sich John
F. Kennedy die Fortentwicklung der europäischen Inte-
gration vor. Seine Vision einer Partnerschaft zwischen
dem neuen, auf Integrationskurs befindlichen Europa
und den USA brachte er 1962 in Philadelphia, dem Ur-
sprungsort der amerikanischen Verfassung, in einer Rede
zum Ausdruck, in der er gleichzeitig die Bedeutung der
Verfassung für das Entstehen eines geeinten, starken
Amerika unterstrich.

Heute steht Europa kurz davor, sich selbst eine Ver-
fassung zu geben, eine Verfassung, die Europa stärker
und handlungsfähiger machen wird. Nur so hat die Euro-
päische Union eine Chance, zu einem wirklichen Partner
der USA bei der Wahrnehmung globaler Verantwor-
tung zu werden, der in diese Partnerschaft seine eigenen,
spezifischen Erfahrungen einbringt. Kernelemente dieser
spezifisch europäischen Erfahrung sind das Leid durch
Krieg im eigenen Land, aber auch der friedliche Interes-
senausgleich, zu dem Deutschland und Frankreich vor
50 Jahren gefunden haben. Beide Seiten haben hiervon
profitiert und eine beispiellos erfolgreiche Entwicklung
in Gang gesetzt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deutschland und Frankreich haben dabei von Anfang
an nicht den Fehler begangen, sich ausschließlich auf
ihre Zusammenarbeit zu konzentrieren. Sie wurden zum
Motor der europäischen Integration. Es gilt bis heute:
Ohne deutsch-französische Kooperation im Vorfeld
der Erweiterung oder im Konvent wären Fortschritte in
Europa kaum denkbar. Der Erfolg deutsch-französischer
Gemeinschaftsinitiativen beruht dabei nicht auf Domi-
nanz, sondern auf der Fähigkeit zu Kompromissen.

In vielen Einzelfragen liegen die Ausgangspositionen
Deutschlands und Frankreichs auch heute noch weit aus-
einander. So war es bei der Frage einer Begrenzung der
Agrarausgaben im Zusammenhang mit der Erweiterung
oder bei der Konventsinitiative zur institutionellen Re-
form der EU. Unsere gemeinsame Stärke besteht gerade
darin, aus unterschiedlichen Ausgangspositionen ge-
meinsame Vorschläge zu entwickeln, die geeignet sind,
auch die anderen Partner in der EU zu gewinnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit der Erweiterung entsteht ein größeres Europa.
Der Konvent muss die Voraussetzungen dafür schaffen,
dass die erweiterte Europäische Union handlungsfähig,
bürgernah und demokratisch wird. Die Erweiterung
zwingt uns dazu, längst überfällige Reformen endlich in
Angriff zu nehmen. Kompromisse auf dem kleinsten ge-
meinsamen Nenner können wir uns bei bald 25 und mehr
Mitgliedstaaten nicht mehr leisten.

Es ist gerade in Europa nicht außergewöhnlich, dass der
Problemdruck den notwendigen Fortschritt beschleunigt






(A) (C)



(B) (D)


Staatsminister Hans Martin Bury
oder erst ermöglicht. Wir sind uns einig, dass am Ende
der Arbeit des Konvents ein Verfassungsentwurf stehen
muss, der erstmals einen einheitlichen Rahmen für das
Handeln der europäischen Institutionen schafft.

Für uns ist besonders wichtig, dass Europa bürgernä-
her wird. Deshalb ist das Subsidiaritätsprinzip und seine
Durchsetzung in der europäischen Praxis von großer Be-
deutung. Wir begrüßen Vorschläge für entsprechende
Frühwarnmechanismen, halten jedoch darüber hinaus
ein Klagerecht der nationalen Parlamente, und zwar bei-
der Kammern, das heißt in Deutschland des Deutschen
Bundestages und des Bundesrates, unabhängig vonei-
nander, für unverzichtbar. Wir wollen die Rechtsinstru-
mente vereinfachen und klare Kompetenzregelungen
vereinbaren. Jeder soll nachvollziehen können, wer in
der Union für was zuständig ist.

Doch eine Verfassung ist mehr als eine Beschreibung
von Institutionen und Verfahren. Wir wollen, dass sich
die Bürgerinnen und Bürger Europas mit der neuen Eu-
ropäischen Union identifizieren können. Deshalb setzen
wir uns auch für die Aufnahme der Grundrechtecharta in
die europäische Verfassung ein, und zwar an prominen-
ter Stelle. Ich freue mich, dass die entsprechende Initia-
tive der Bundesregierung nicht nur die Unterstützung al-
ler deutschen Konventsvertreter, sondern auch die
Unterstützung von über 100 Mitgliedern des Verfas-
sungskonvents gefunden hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil
die Europäische Union nicht nur eine Union der Staaten
und Völker, sondern zugleich eine Union der Bürgerin-
nen und Bürger ist. Das muss auch in der neuen Verfas-
sung entsprechend zum Ausdruck kommen.

Für die Akzeptanz europäischer Institutionen ist nicht
zuletzt deren Handlungsfähigkeit von Bedeutung. Der
deutsch-französische Vorschlag zur Fortentwicklung der
europäischen Institutionen stärkt Parlament, Kommis-
sion und Rat und damit die Europäische Union insge-
samt. Die größte Herausforderung – das erfahren wir
nicht zuletzt in der aktuellen weltpolitischen Debatte und
das prägt auch die heutige Debatte des Bundestages – ist
die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der
EU. Diese Debatte berührt selbstverständlich auch die
Arbeit des Konvents; er ist kein Elfenbeinturm.

Eine Verfassung ist jedoch mehr als eine Antwort auf
tagespolitische Fragen. Wir bauen den Rahmen, in dem
sich in Zukunft gemeinsame europäische Willensbildung
vollziehen kann und soll. Das setzt entsprechenden Wil-
len voraus – keine Frage –, aber auch geeignete Instituti-
onen und Verfahren.

Unser Vorschlag, die Schaffung eines europäischen
Außenministers, würde Europa in der Gemeinsamen Au-
ßen- und Sicherheitspolitik ein Gesicht geben. Noch
wichtiger ist für mich die Perspektive, in Fragen der Ge-
meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifi-
zierter Mehrheit zu entscheiden, damit die EU auch mit
einer Stimme sprechen kann.

In der Bevölkerung gibt es gerade in der Irakfrage
schon heute über alle nationalen Grenzen hinweg ein ge-
meinsames europäisches Bewusstsein. Es ist die Verant-
wortung der politischen Akteure, auch in der Opposition,
das entsprechende europäische Selbstbewusstsein an den
Tag zu legen, ein Selbstbewusstsein, das auf Partner-
schaft setzt, aber Ergebenheitsadressen nicht nötig hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, zur Weiterentwicklung der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gehört für
mich auch die Perspektive einer europäischen Sicher-
heits- und Verteidigungsunion. Die EU der 15 gibt im
Vergleich zu den USA etwa 50 Prozent der Mittel für mi-
litärische Aufgaben aus; aber unsere militärischen Fä-
higkeiten liegen weit unterhalb dieser Marke. Deshalb
müssen wir unsere Fähigkeiten und Ressourcen bündeln,
stärker kooperieren und unsere Bedarfsplanung harmo-
nisieren.

Da sich auf absehbare Zeit nicht alle Mitgliedstaaten
an einer ESVU beteiligen können oder wollen, sollten
wir das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit nut-
zen, um dieses Schlüsselprojekt für den europäischen In-
tegrationsprozess voranzubringen.

Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
ist keine Konkurrenz zur NATO, erst recht keine Alter-
native, sondern eine unverzichtbare Stärkung der transat-
lantischen Partnerschaft.

Auch das hatte John F. Kennedy bereits angepeilt: eine
NATO, die auf zwei starken Pfeilern, einem amerikani-
schen und einem europäischen Pfeiler, steht.

Wir sind im Konvent – ohne Frage – weit gekommen,
weiter, als manche Skeptiker vermutet haben. Aber noch
ist nicht völlig sicher, ob das größere Europa wirklich
mehr sein wird als eine erweiterte Freihandelszone. Für
uns in Deutschland war die EU stets mehr als nur ein
Markt, nämlich eine Gemeinschaft mit gemeinsamen
Werten und Zielen. Lassen Sie uns weiterhin gemeinsam
daran arbeiten, diese Werte und Ziele in der europä-
ischen Verfassung zu verankern und die institutionellen
Voraussetzungen zu schaffen, um diesen Werten und
Zielen Geltung zu verschaffen – in Europa und darüber
hinaus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben die historische Chance, die Teilung unseres
Kontinents zu überwinden und ein Europa der Freiheit,
des Friedens und des Zusammenhalts zu schaffen. Las-
sen Sie uns diese Chance nutzen!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503106700


Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Rupprecht,
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Albert Rupprecht (CSU):
Rede ID: ID1503106800


Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir
Junge in Europa, die heute 20- bis 30-Jährigen, erleben
Europa anders als die Nachkriegsgeneration. Wir fragen
primär nach den Chancen, die uns Europa bietet. Wir
wollen in einem starken und handlungsfähigen Europa
leben, einem Europa der Vielfalt und der Regionen.

Aber zwischen diesem europäischen Traum – er ist
auch mein Traum – und der politischen Wirklichkeit in
Europa wird die Kluft größer. Deutschland war früher
die treibende Kraft für die Gemeinschaft. Heute spaltet
es Europa; ein Riss geht quer durch Europa.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist aber kein guter Einstieg!)


Es ist doch traurig, dass trotz aller Dramen, die sich auf
der Welt abspielen, die gemeinsame Außenpolitik völlig
verloren geht.

Das großartige Deutschland, jahrzehntelang der wirt-
schaftliche Motor in Europa, ist heute ein Sanierungsfall.


(Ute Kumpf [SPD]: Na!)


100 000 gut ausgebildete junge Leistungsträger verlas-
sen Deutschland jedes Jahr, weil sie bei uns keine Zu-
kunft sehen.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Stimmt leider!)


Der Kanzler sagt, dass das neue große Europa möglichst
niemandem Angst machen solle.


(Ute Kumpf [SPD]: Das ist auch gut so!)


Reden Sie doch einmal mit den Menschen! 61 Prozent
der Menschen in Deutschland haben Angst vor der Ost-
erweiterung.


(Widerspruch bei der SPD)


Trotz oder gerade weil ich von der europäischen Idee
begeistert bin, hinterfrage ich, ob der europäische Zug
auf dem richtigen Gleis steht und ob er in die richtige
Richtung fährt. Ich frage Sie: Schafft der Verfassungs-
vertrag handlungsfähige Institutionen? Bringt er eine
Klärung der Kompetenzen zwischen Brüssel, Berlin und
den Regionen Katalonien oder Bayern? Vor allem:
Bringt er, wo nötig, eine Rückverlagerung der Kompe-
tenzen?

Mal ehrlich: Innerlich haben viele von uns bereits zu-
gestimmt – man macht es halt so; Europa ist eben gut
und toll –, ohne zu wissen, was im Verfassungsvertrag
stehen wird. Ich denke aber, dass der Verfassungsvertrag
die Zustimmung auch wert sein muss. Ob er es ist, wer-
den wir dann sehen, wenn er vorliegt. Ein Ja und Amen
zu allem kann und darf es nicht geben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Deshalb müssen wir uns beteiligen!)


Es ist doch kaum zu ertragen, wie sich Landesparla-
mente und der Bundestag in den vergangenen Jahren
schleichend selbst entmachtet haben. Zeitlich verzögert
winken wir die Sammellisten durch und winken ab. Wir

brauchen handlungsfähige Parlamente in Deutschland.
Ich hoffe, dass der Verfassungsvertrag hier eine Besse-
rung bringt.

Kommen wir zur Osterweiterung. Die Wiederverei-
nigung Europas ist ein großartiger Prozess, großartig
auch für Deutschland. Aber die Osterweiterung ohne
Vollzug der institutionellen Reformen und ohne Klärung
der Kompetenzen zu beschließen ist zumindest riskant.
Wir machen den zweiten Schritt vor dem ersten, weil
man sich in Nizza nicht fähig gezeigt hat.

Es wird auch Verlierer geben, die wir auffangen müs-
sen. Osteuropa muss aufgebaut werden – keine Frage.
Diese Gelder werden aber bei uns fehlen. Auch das ist
keine Frage. Was passiert in Ostdeutschland? Über
Nacht soll die europäische Förderung wegfallen. Ein na-
tionaler Ausgleich ist – zumindest bisher – nicht gewähr-
leistet. Wie soll es weitergehen? Die Betroffenen wollen
das wissen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ostbayern, meine Oberpfälzer Heimat, wird im Ver-
gleich zu unserem tschechischen Nachbarn das höchste
Fördergefälle der Welt verkraften müssen. Das bricht
Strukturen und verursacht Verwerfungen. Trotz aller
Freundschaft verstehen die Menschen das nicht.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die warten auf den Kanzlerförderplan!)


Der Kanzler machte in der Weidener Erklärung den
Menschen Hoffnung; der damalige Fraktionsvorsit-
zende Ludwig Stiegler versprach seinerzeit, ein ge-
schlossenes Grenzgürtelprogramm aufzulegen. Sehr ge-
ehrte Damen und Herren, die Menschen warten noch
heute. Es wurde versprochen und es wurde gebrochen.

Europa wird nur dann erfolgreich sein, wenn es ein
Europa der Regionen wird – davon bin ich zutiefst
überzeugt –, ein Europa der Vielfalt mit seinen faszinie-
renden kulturellen Unterschieden, Sprachen und Traditi-
onen. Bauen wir in Europa auf Dezentralität und Viel-
falt, wie es erfolgreiche Länder, aber auch Unternehmen
tun. Nehmen wir uns erfolgreiche Regionen zum Vor-
bild: Regionen in Irland, in Kalifornien, in Asien und
immer mehr in Mittel- und Osteuropa. Dort wird die re-
gionale Kraft, das regionale Können unterstützt und
Großartiges aufgebaut. Dort entstehen boomende und
ausstrahlende Kerne. Aber dazu brauchen unsere Regio-
nen Handlungskompetenz; sie hatten diese Kompetenz
früher mehr als heute. Wir brauchen eine Neuverteilung
der Kompetenzen, eine dezentralere Strukturpolitik
ebenso wie eine dezentralere Agrarpolitik, wir brauchen
ein vernünftiges Maß. Das wäre modern und erfolgreich.
Das wäre ein wichtiger Schritt auch für ein boomendes
Europa.

Ein Letztes: Als junger Europäer und Christ wünsche
ich mir ein menschliches Europa. Das muss auch für
Vertriebene gelten. Sie haben unsägliches Leid erfahren;
Menschen sind zutiefst in ihrer Seele verletzt worden.
Die Vertriebenen erwarten zu Recht eine Distanzierung
von dem Unrecht, das ihnen widerfahren ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Albert Rupprecht (Weiden)

Es ist die Pflicht der Bundesregierung, mit allem Nach-
druck hierauf zu drängen.

Die Wiedervereinigung Deutschlands war und ist für
uns eine gemeinsame Aufgabe. Damals gab es mit Helmut
Kohl eine klare nationale und europäische Führungspersön-
lichkeit. Herr Schröder stellte sich im Bundestag in die Stie-
fel von Willy Brandt und sagte zur Osterweiterung: „Es
wächst zusammen, was zusammengehört.“ Nur acht Wo-
chen nach diesem Satz stehen wir in Europa vor einem
Scherbenhaufen. Was ist das für eine Weitsicht, was ist
das für eine politische Führung?


(Karin Kortmann [SPD]: Was ist das für ein Schmarren?)


Sehr geehrte Damen und Herren, wir brauchen in
Deutschland und in Europa klare Führung statt Beliebig-
keit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ulrich Heinrich [FDP])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503106900


Herr Kollege Rupprecht, ich gratuliere auch Ihnen
herzlich zu Ihrer ersten Rede im Plenum des Deutschen
Bundestages und verbinde dies mit allen guten Wün-
schen für Ihre weitere Arbeit.


(Beifall)


Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Axel Schäfer
für die SPD-Fraktion.


Axel Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1503107000


Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Europa ist
auf einem guten Weg zur Verfassung. Lassen Sie es mich
in einem Bild darstellen: Der europäische Zug rollt ra-
scher und rascher in Richtung Integration. Seit 1951 ha-
ben wir die Lokomotive mehrfach generalüberholt: vom
kohlegefüllten Stahltender der Montanunion über die
Diesellok der Wirtschaftsgemeinschaft bis hin zur E-Lok
des Binnenmarktes. Heute sitzen wir im Hochgeschwin-
digkeitszug nach Brüssel. Statt wie früher nur sechs
Waggons bewegen wir künftig 25 oder 30. Mit neuen In-
strumenten passen wir die alten europäischen Gleise an
das rasante Tempo an; die Ära der Bummelzüge ist vor-
bei. Nur mit starken, schnellen Zügen wie ICE, TGV,
Thalys und Eurostar kann die EU beim Wettbewerb mit-
halten. Es bleibt keine Zeit mehr, anzuhalten und zu ver-
schnaufen. Wir müssen der europäischen Lokomotive in
voller Fahrt die Räder wechseln.


(Heiterkeit)


Mit dem EU-Verfassungskonvent und der zeitglei-
chen historischen Erweiterung um zunächst zehn Länder
bringen wir unseren Kontinent nahe an das heran, was
einmal die Vereinigten Staaten von Europa sein werden.
Für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist dies
Grundbestandteil ihrer geschichtlichen Identität. Unsere
Forderung nach deutscher Einheit als Anfang eines soli-
darischen europäischen Staates datiert aus dem Jahr

1866 und war im ersten Wahlprogramm des Allgemei-
nen Deutschen Arbeitervereins zu finden. Heute ist das
fast Wirklichkeit.

Weitestgehend erfüllt ist auch das Vermächtnis jener
politischen Häftlinge im KZ Buchenwald aus 13 Län-
dern und dem gesamten Spektrum der demokratischen
Linken. Sie mahnten nach der glücklichen Befreiung
durch US-Soldaten im Jahr 1945, Europas kulturelle
Mission in der Welt zu erneuern. Die erste Vorausset-
zung dafür sahen sie in der deutsch-französischen und in
der deutsch-polnischen Verständigung. Auf diese Tradi-
tion sind wir stolz – und das zu Recht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik
Deutschland, Willy Brandt, Helmut Schmidt und
Gerhard Schröder, haben, jeder zu seiner Zeit, dazu
Wegweisendes geleistet. Die besonderen Verdienste von
christdemokratischen Regierungschefs wie Konrad
Adenauer und Helmut Kohl um Europa möchte ich an
dieser Stelle ausdrücklich einbeziehen.

Eine EU-Verfassung des Jahres 2003 ist allerdings
nur möglich, weil die deutsche Ratspräsidentschaft 1999
ein Erfolg war, weil diese Bundesregierung mit dem
Konvent zur Grundrechtecharta den Integrationsprozess
vom Kopf auf die Füße gestellt hat und weil SPD und
Grüne die öffentliche Debatte der Bürgerinnen und Bür-
ger sowie der Parlamentarierinnen und Parlamentarier an
die Stelle von Geheimdiplomatie von Regierungsvertre-
tern und Beamten gesetzt hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der seinerzeitige Vorsitzende der CDU/CSU-Frak-
tion, Kollege Schäuble, hat den damaligen EU-Gipfel, an
dem ich als Mitglied des Europäischen Parlaments als
Gast teilnehmen konnte, für gescheitert erklärt – trotz
der Erfolge im Kosovo, trotz des EU-Konvents, den wir
auf den Weg gebracht hatten. Die Geschichte ist darüber
hinweggegangen und hat unsere Position bestätigt.

Diese europäische Konstitution wird bestimmt ein
Modell ohne Beispiel; sie ist aber nicht ohne Vorbilder.
Gerade bei der Geburt einer Verfassung heute ist es
wichtig, an „The Birth of a Nation“ von 1776 bis 1787
zu erinnern. Damals schufen sich Menschen aus der al-
ten Welt in Amerika eine neue. Heute bilden in Europa
alte Staaten ein neues Gemeinwesen. Genau darin sehen
viele jenseits des Atlantiks heute ein Vorbild für regio-
nale Zusammenschlüsse – Stichwort NAFTA.

Die amerikanische Verfassung beginnt mit den Wor-
ten „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Ab-
sicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen“. In der
europäischen Verfassung beginnen wir fast gleichlautend
mit dem Wunsch der Völker und Staaten Europas, ihre
Zukunft gemeinsam zu gestalten.

Gerade weil Europa und die USA so vieles an Über-
zeugungen und Grundsatzfragen verbindet, können wir
unterschiedliche Positionen im Einzelfall austragen und
aushandeln. Ein Blick auf den Bericht des Europäischen






(A) (C)



(B) (D)


Axel Schäfer (Bochum)

Parlaments 2002 zu den transatlantischen Beziehungen
zeigt 64 Punkte, bei denen es in der Politik Meinungs-
verschiedenheiten gibt. Von der Irakfrage war damals
überhaupt nicht die Rede. Gerade dabei kommt es auf
gleiche Augenhöhe und zuweilen auch auf Tapferkeit
vor dem Freund an.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der europäische Verfassungskonvent bedeutet in stür-
mischen Zeiten zugleich eine klare Akzentuierung unse-
res Profils. Ortega y Gasset hat vor fast 50 Jahren festge-
stellt: In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem
den Deutschen, Spanier, Franzosen und vier Fünftel un-
serer inneren Habe sind europäisches Gemeingut. – Wer
heute die Selbstbehauptung Europas will, braucht Selbst-
bewusstsein und Selbstachtung. Aus gemeinsamen Wer-
ten muss gemeinsames Handeln erwachsen. Deshalb ist
diese Verfassung auch die allgemeine Antwort auf eine
konkrete Frage, die der Irakkonflikt stellt. Sie lautet: Ist
das vereinte Europa mehr als die Summe seiner Teile
oder fliehen wir in Zeiten, in denen die fortschreitende
Globalisierung harte Fakten schafft, zurück in den wei-
chen Schein von Renationalisierung? Nur Zusammenar-
beit oder doch Zusammenschluss?

Jawohl, Europa braucht Mut und wir brauchen Mut zu
Europa. Mit dem EU-Konvent verbinden wir einen kriti-
schen, einen kreativen und einen offenen gesellschaftli-
chen Dialog. Denn eine Verfassung wird für Menschen
gemacht. Sie müssen sich darin wiederfinden. Sie muss
klare Orientierungen, eindeutige Formulierungen und
auch Hoffnungen enthalten – im blochschen Sinne: „Ins
Gelingen verliebt“.

Für uns gilt: Europa ist der Weg und das Ziel; der
Frieden ist das Mittel und der Zweck. Deshalb bringen
wir Deutsche in die künftige EU-Verfassung unsere
Staatsräson vor dem Hintergrund der Präambel des
Grundgesetzes ein. Wir wollen als gleichberechtigtes
Land in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt
dienen.

Glück auf!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503107100


Herr Kollege Schäfer, als früheres Mitglied des Euro-
päischen Parlaments war das selbstverständlich nicht
Ihre erste parlamentarische Rede. Aber dies war Ihre
erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich herzlich
gratuliere,


(Beifall)


verbunden mit allen guten Wünschen für die Fortsetzung
Ihrer langjährigen Arbeit an dem gemeinsamen großen
Thema Europa.

Nun erteile ich dem Kollegen Andreas Schockenhoff
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1503107200


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! In dem Antrag, den uns die Koalitions-
fraktionen zu unserer heutigen Debatte vorlegen, heißt es
– ich zitiere –:

Um den neuen außen- und sicherheitspolitischen
Anforderungen gerecht zu werden, muss Europa
auf der internationalen Bühne mit einer Stimme
sprechen. … Dies ist auch im Interesse einer ausge-
wogenen und dauerhaften transatlantischen Partner-
schaft wichtiger denn je.

Leider erleben wir derzeit, wie eklatant Anspruch und
Wirklichkeit rot-grüner Außenpolitik auseinander klaf-
fen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Durch die einseitige Vorfestlegung im Irakkonflikt
unabhängig von dem Ergebnis der UN-Inspektionen hat
die Bundesregierung nicht nur die atlantische Partner-
schaft dramatisch beschädigt. Sie hat Europa gespalten.
Bei allem Optimismus, der in dieser Debatte zu Recht
zum Ausdruck gekommen ist, müssen wir feststellen,
dass der europäische Einigungsprozess in einer der
größten Krisen, die es in den letzten Jahren gab, steckt.
Das gilt vor allem für substanzielle Fortschritte im Be-
reich der Außen- und Sicherheitspolitik, wobei zurzeit
die Vertrauensbasis, die dafür notwendig ist, nachhaltig
zerrüttet ist.

Das ist deshalb umso dramatischer, als der europä-
ische Einigungsprozess auch nach der Osterweiterung
und nach dem Konvent fortgesetzt werden muss. Nur in
einem großen, politisch einigen und handlungsfähigen
Europa können wir im 21. Jahrhundert unsere Interessen
wahren und unserer Verantwortung gerecht werden.
Dieses Europa ist eben kein Gegensatz zur atlantischen
Partnerschaft, sondern ein wesentlicher Teil davon. Eu-
ropäische Einigung und transatlantische Allianz sind
existenzielle Grundlagen für die Sicherung unserer Zu-
kunft.

Natürlich haben gerade wir Deutschen ein ureigenes
Interesse am Erweiterungsprozess. Mit dem Beitritt un-
serer östlichen Nachbarn erzielen wir einen historischen
Erfolg bei der dauerhaften Sicherung von Frieden in
Freiheit. Wie labil Frieden und Freiheit auf unserem
Kontinent immer noch sind, das haben wir gestern in
brutaler Weise durch die Ermordung des serbischen Mi-
nisterpräsidenten Djindjic wieder vor Augen geführt be-
kommen.

Im Übrigen hat die Befriedung des Balkans in den
90er-Jahren auch deutlich gemacht: Ohne die Vereinig-
ten Staaten von Amerika können wir Europäer die dauer-
hafte Stabilisierung Ostmitteleuropas und Südosteuropas
nicht leisten. Ich bin mir nicht sicher, ob in den Vereinig-
ten Staaten von Amerika die Akzeptanz des Engage-
ments amerikanischer Soldaten auf unserem Kontinent
erhalten bleibt, wenn europäische Partner die Solidarität
verweigern, wenn sich Amerika bedroht fühlt,


(Beifall des Abg. Peter Hintze [CDU/CSU])







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Andreas Schockenhoff
und wenn europäische Diplomaten im Sicherheitsrat of-
fen gegen die Vereinigten Staaten von Amerika Stimmen
sammeln.

Gestern hat der NATO-Rat beschlossen, mit Ablauf
dieses Monats die Operation Allied Harmony in Ma-
zedonien vorzeitig zu beenden. Von April an soll die Eu-
ropäische Union diesen Einsatz übernehmen. Die CDU/
CSU begrüßt dies ausdrücklich. Dies ist der erste militä-
rische Einsatz im Rahmen des internationalen Krisenma-
nagements, der von der Europäischen Union geführt
wird. Obwohl die Gemeinsame Außen- und Sicherheits-
politik wegen des Irakkonflikts einen herben Rückschlag
erlitten hat, ist sie doch so weit institutionalisiert, dass es
zumindest im Kleinen Fortschritte zu verzeichnen gibt.
Die enge Zusammenarbeit mit der NATO und auch der
Rückgriff auf Fähigkeiten und Mittel der NATO bei der
Übernahme des Mandats in Mazedonien sind vorgese-
hen. Auch hier zeigt sich wieder: Dort, wo die Europäi-
sche Union – und sei es nur im Kleinen – international
agiert, ist sie ohne eine enge Abstimmung mit der NATO
und damit ohne das „backing“ der Vereinigten Staaten
von Amerika nicht handlungsfähig.

Die deutsch-französische Zusammenarbeit – Herr
Staatsminister Bury hat zu Recht darauf hingewiesen –
bleibt für die europäische Einigung essenziell. Eine
Grundlage deutscher Außenpolitik war immer, eine aus-
gewogene Balance zwischen transatlantischer Koopera-
tion und deutsch-französischer Partnerschaft zu suchen.
Diese Balance hat der Bundeskanzler aufgegeben.

Zu den Grundlagen unserer Außenpolitik hat auch
immer gehört, dass wir auf der einen Seite eine privile-
gierte Partnerschaft mit Frankreich pflegen, uns anderer-
seits aber auch zum Anwalt der Interessen kleinerer EU-
Mitgliedstaaten machen. Auch diese Ausgewogenheit
hat der Bundeskanzler aufgegeben, und zwar erstmals –
das hat nachhaltiger gewirkt, als uns heute lieb sein
kann – mit der offenen Brüskierung Österreichs, nach-
dem Wolfgang Schüssel zum Bundeskanzler gewählt
wurde.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es!)


Vor allem in den Staaten, die jetzt der Europäischen
Union beitreten, hat dies psychologisch eine verheerende
Auswirkung gehabt. Gerade die Ost- und Mitteleuropäer
haben immer wieder gesagt: So etwas passiert nur einem
kleinen oder mittleren Land und wir, die beitreten, sind
alles kleine und mittlere Länder; einem großen Land
wäre das nicht passiert. Auch die Art und Weise der
deutsch-französischen Vorgehensweise im Irakkonflikt
gegenüber den kleinen und auch gegenüber den jetzt bei-
tretenden Staaten war


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Verheerend!)


psychologisch verheerend.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wo war denn die Kritik unseres Außenministers?)


Die deutsch-französische Partnerschaft ist eben kein Ma-
jorat, sondern sie ist Motor der Einigung. Sie muss im
Interesse der Europäischen Union wirken.

Deshalb will ich abschließend auf das eingehen, was
Sie, Herr Bury, zum Instrument der verstärkten Zusam-
menarbeit gesagt haben. Selbstverständlich kann in ei-
nem Europa mit 25 Mitgliedern vor allem im Bereich der
Außen- und Sicherheitspolitik nicht alles mit allen Mit-
gliedern gemacht werden. Aber wir müssen auf dieses
Instrument zurückgreifen können. Nach unserer Auffas-
sung gilt: Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik
in Europa darf es keine verstärkte Zusammenarbeit ge-
ben, an der nicht beide, also Deutschland und Frank-
reich, beteiligt sind. Es darf aber auch keine verstärkte
Zusammenarbeit geben, die nicht für alle anderen EU-
Mitglieder zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem sie dies
wollen und können, offen bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Was Sie zur Arbeitsteilung vor allem mit Blick auf die
diplomatischen oder militärischen Fähigkeiten gesagt
haben, ist selbstverständlich. Wir werden nächste Woche
bei der Haushaltsberatung sehen, ob Sie diesem An-
spruch auch Taten und entsprechende Mittel folgen las-
sen.

Die Osterweiterung der Europäischen Union ist eine
historische Chance und Herausforderung für die deut-
sche Außenpolitik. Es ist höchste Zeit, die Hand-
lungsfähigkeit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit
zurückzugewinnen, die durch den Sonderweg der Bun-
desregierung gegenüber den heutigen und künftigen
Partnern in der EU verspielt worden ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503107300


Das Wort hat nun der Kollege Markus Meckel für die
SPD-Fraktion.


Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1503107400


Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrter Kollege
Schockenhoff, Sie sind wahrhaftig ein akzeptierter Au-
ßenpolitiker, aber manchmal fehlt die Wahrnehmung der
Realitäten. Es ist richtig, dass sich die Situation in Eu-
ropa so darstellt, dass es eine Spaltung der Europäer in
der Frage, wie der Irak entwaffnet werden soll, gibt, dass
es insoweit unterschiedliche Positionen gibt. Das ist aber
nicht einfach der Bundesregierung anzulasten, sondern
das liegt daran, dass hier sehr unterschiedliche Positio-
nen und Ansätze miteinander in Einklang gebracht wer-
den müssen.

Zurzeit sind vier europäische Staaten Mitglied im
Sicherheitsrat. Es gibt ein ständiges Mitglied – Frank-
reich –, das der deutschen Position sehr nahe steht.
Dann gibt es ein anderes ständiges Mitglied – Großbri-
tannien –, das der Position der USA und Spaniens sehr
nahe steht. Dort reden und diskutieren wir darüber, wel-
ches der beste Weg zur Abrüstung des Irak ist.

Es stellt sich die Frage – diese Frage hat der Außen-
minister schon an Sie gerichtet –, wie Sie sich da einord-
nen. Sind Sie der Meinung, dass ein „schwerwiegender






(A) (C)



(B) (D)


Markus Meckel
Verstoß“ gegen die Resolution 1441 vorliegt – ein „mate-
rial breach“ –, oder sind Sie der Meinung, dass die In-
spektionen auf der Grundlage dessen, was jetzt geschieht,
fortgeführt werden sollen? Das sind die politischen Ent-
scheidungen, vor denen Sie stehen. Sie müssen im Rah-
men der Konstellation Europas versuchen, Ihre eigene
Position zu beziehen.

Wenn wir uns diese unterschiedliche Situation anse-
hen – die unterschiedlichen Einschätzungen sind offen-
sichtlich –, dann stellen wir fest, dass sich die griechi-
sche Präsidentschaft erfolgreich um eine gemeinsame
Position bemüht hat, auf die man sich am 27. Januar
einigte. Wir haben dann erleben müssen, dass nicht die
Ost- und Mitteleuropäer die Initiative ergriffen haben,
sondern Herr Blair und Herr Aznar. Man kann vermuten,
dass sie vielleicht nicht ganz alleine auf den Gedanken
gekommen sind, eine Initiative zu starten, um diesen
Konsens kaputtzumachen.

Wir kritisieren nicht den Inhalt der Erklärung, der sich
unsere osteuropäischen Partner angeschlossen haben,
sondern das Prozedere. Ich komme gerade aus Polen und
Budapest, wo mir sehr deutlich gesagt wurde, dass man
dies aus heutiger Sicht für problematisch hält. Die Dis-
kussion findet in den Ländern statt. Auch in Budapest
und in Polen wird darüber diskutiert und es wird allge-
mein gesagt, dass wir so nicht miteinander umgehen
sollten. Den Regierungschefs Polens und Deutschlands,
die sich so gut kennen und so oft gesehen haben wie vor-
her niemals Regierungschefs der beiden Länder, sollte so
etwas nicht passieren. Aber wer wollte es dem polni-
schen Regierungschef vorwerfen, wenn wir gleichzeitig
feststellen müssen, dass auch der polnische Staatspräsi-
dent es vorher nicht wusste?

Es gibt also manchmal Kommunikationsschwierig-
keiten in einem Staat, es gibt Kommunikationsschwie-
rigkeiten in Europa. Ich denke, wir alle sollten und kön-
nen daraus lernen. Ich glaube, es ist uns allen, und zwar
sowohl den Beitrittsstaaten als auch den Mitgliedstaaten,
bewusst, dass es darum geht, Europa auch in der Außen-
und Sicherheitspolitik gemeinsam stark zu machen.

Bei der Betrachtung der jetzigen Situation sehen wir
heute normalerweise zuallererst die gespaltene Position
Europas. Wenn wir uns aber die Entwicklung der GASP
und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-
politik, ESVP, seit 1999 und eben nicht nur die Ent-
wicklung seit gestern ansehen, stellen wir fest, dass un-
geheuer viel passiert ist. Das kann niemand von uns
leugnen. Ich denke dabei natürlich an das Schaffen der
entsprechenden Institutionen und der entsprechenden
Ausschüsse sowie an das Zusammenbinden der militäri-
schen und der zivilen außenpolitischen Arbeit. In dieser
zentralen Frage hat gerade Europa besondere Verdienste,
auch in der Vergangenheit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dies wollen wir gemeinsam weiterentwickeln zu einer in-
tegrativen Außenpolitik Europas, in der die politischen,
ökonomischen, zivilen und auch die militärischen Mög-
lichkeiten, die Europa hat, zu einer Gemeinsamen Au-
ßen- und Sicherheitspolitik zusammengeführt werden.

Meine Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist ein
großer Fortschritt, dass Europa auch eine sicherheitspoli-
tische Dimension hat und außenpolitisch wirklich ge-
meinsam agiert. Das wurde bis 1999 nicht für möglich
gehalten. Dass wir dazu heute im Konvent einen ganz
breiten Konsens haben, ist bereits mehrfach angespro-
chen worden. Dass es möglich ist, bereits über einen eu-
ropäischen Außenminister zu sprechen, ist ein ungeheu-
rer Fortschritt.

Heute geht es darum, diesen politischen Willen ange-
messen umzusetzen. Ich denke, dass es gerade im trans-
atlantischen Verhältnis ausgesprochen wichtig für uns
alle ist, dass Europa gemeinsam agiert und gemeinsam
auftritt. Es wäre ein völlig falsches transatlantisches Ver-
ständnis, zu glauben, durch eine Spaltung Europas nutze
man Amerika. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, den
wir uns deutlich machen müssen. Das transatlantische Ver-
hältnis wird umso stärker sein, je klarer Europa Amerika
als Partner auf gleicher Augenhöhe begegnet, als Partner
mit gemeinsamen Werten, in gemeinsamen Institutionen
und mit ganz zentralen gemeinsamen Interessen weltweit.


(Beifall bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ CSU]: So, wie wir es im Augenblick praktizieren! Das ist Ihre Wunschrealität!)


Die Erweiterung der EU ist beschlossen. Im nächsten
Monat wird die feierliche Unterzeichnung stattfinden,


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die verklärte Welt!)


aber wir werden auch die Referenden in den Beitritts-
staaten haben. Wir haben die Wackelpartie und die Dis-
kussion in Malta erlebt und sind froh, dass dieses Land,
das als erstes sein Referendum abgehalten hat, recht
deutlich zugestimmt hat. Es wird dort, wie wir wissen,
zwar noch einen parlamentarischen Prozess und Wahlen
geben, aber ich glaube, Malta ist auf einem guten Wege.

Schwieriger wird die Abstimmung in Slowenien, der
wir mit Spannung entgegensehen. Dort ist zwar die Ak-
zeptanz für die EU groß, allerdings wurde das Referen-
dum mit der Abstimmung über die NATO-Mitglied-
schaft verbunden. Eine NATO-Mitgliedschaft ist in der
Bevölkerung nicht sehr populär. Wenn es zu einem Krieg
kommen sollte – wir hoffen zwar alle, dass er verhindert
werden kann; aber es sieht ja nicht danach aus –, und
dies im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit
dem Referendum, dann müssen wir uns durchaus große
Sorgen machen.

Ich hoffe, dass alle Referenden erfolgreich durchge-
führt werden. Es darf bei den neuen Mitgliedstaaten
Ost- und Mitteleuropas nicht der Anschein erweckt
werden – so kam das etwa durch die Reaktion Chiracs
auf den Brief der Acht bei ihnen an –, dass sie nicht zur
Definition eigener, selbstständiger Positionen und zum
Einbringen ihrer Positionen in die europäische Mei-
nungsbildung berechtigt sein sollten. Wir wollen sie als
wirkliche Partner. Es ist richtig, dass sie sich als solche
zur Sprache bringen.

Deshalb ist es meiner Meinung nach gut, wenn der pol-
nische Außenminister Initiativen zur Gestaltung der






(A) (C)



(B) (D)


Markus Meckel
Nachbarschaft ergreift. Die Europäische Union hat jetzt
dazu einen Text vorgelegt. Wir werden darüber reden
müssen, wie die Gestaltung einer guten Nachbarschaft in
der Europäischen Union auch mit Blick auf künftige Er-
weiterungsprozesse vorangebracht werden kann. Der
Mord an Zoran Djindjic, den wir gerade erleben mussten,
ist für uns ein ganz klares Signal und eine Warnung, dass
wir aktiv werden müssen und dass wir den Ländern in die-
ser Region und den restlichen Ländern Europas verstärkt
eine Perspektive auf eine Mitgliedschaft geben müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, wir haben uns sowohl im
Rahmen der EU, wo wir mit dem Headline Goal die
militärische Dimension implementieren wollen, als
auch im Rahmen der NATO, wo wir die Response Force
beschlossen haben, hohe Ziele gesetzt und müssen nun
zusehen, dass dies kompatibel wird. Dazu gibt es den
festen Willen. Dabei müssen wir darauf achten, dass wir
die Grundsätze wirklich in der Praxis umsetzen. Wir ha-
ben nur eine Bundeswehr. Angesichts der Defizite, die
im Bereich der Streitkräfte – bei den Transportkapazitä-
ten, bei der Kommunikation und der Aufklärung – vor-
handen sind, werden wir große Anstrengungen tun müs-
sen. Das geht nur durch Arbeitsteilung, durch Bündelung
und dadurch, dass wir in Absprache mit den anderen eu-
ropäischen Partnern gemeinsam handeln.

Wichtig scheint mir – damit möchte ich schließen –,
dass wir auch in der Frage der Rüstungs- und Anschaf-
fungspolitik in Europa zu gemeinsamer Aktion, zu ge-
meinsamem Handeln kommen. Im Rahmen des Kon-
vents ist der Vorschlag gemacht worden, eine
europäische Rüstungsagentur zu schaffen. Ich denke,
das ist ein ganz zentrales Thema, nicht nur für die euro-
päische Rüstungswirtschaft, die gegenüber der Rüs-
tungswirtschaft der USA konkurrenzfähig sein soll, son-
dern auch für eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Wir
brauchen gemeinsames Handeln im Rüstungssektor.
Deswegen sollten wir diese Agentur intensiv unterstüt-
zen, einmal deswegen, weil sie Forschungs- und Ent-
wicklungsvorhaben in Europa fördern kann, aber auch
deswegen, um die Einhaltung der Kapazitätsziele, die
wir als Staaten versprochen haben, zu erreichen.

Meine Damen und Herren, wir sind auf einem guten
Weg und sollten uns dessen auch bewusst sein. Im
Jahr 1989/90 haben wir – denken Sie einmal zurück –
noch über „Vertiefung oder Erweiterung?“ diskutiert.
Heute sind wir dabei, in einem parallelen Prozess beides
zu erreichen. Wir haben die große Erweiterung beschlos-
sen und sollten alles dafür tun, dass die Referenden ge-
lingen. Darüber hinaus werden wir am Ende des Jahres
hoffentlich eine europäische Verfassung haben. Dies
wird ein großer Erfolg sein.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503107500


Ich erteile das Wort dem Kollegen Erwin
Marschewski, CDU/CSU-Fraktion.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1503107600


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vor-
redner haben zu Recht gesagt, dass die Osterweiterung
der Europäischen Union ein epochales Ereignis ist. Dass
Demokratie, Menschenrechte und Minderheitenschutz in
dann 25 Staaten Europas mit 450 Millionen Menschen
absolute Geltung haben werden, hat der Union Kraft ge-
geben, seit Jahrzehnten auf dieses Ziel hinzuarbeiten.
Wir wollen diese historische Chance nutzen, die auch
eine noch intensivere Verständigung mit unseren öst-
lichen Nachbarn umfasst.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Verständigung und Aussöhnung – das sind Ziele, die
die Heimatvertriebenen bereits im August 1950 in ihrer
Stuttgarter Charta proklamiert haben. Es geht darum, die
Gräben zuzuschütten und ein geeintes Europa zu schaffen,
in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.
Weil dies auch unsere Ziele sind, haben wir als Union die
wichtige Brückenfunktion der deutschen Heimatvertrie-
benen und Volksgruppen in Mittel- und Osteuropa stets in
besonderer Weise herausgestellt. Deswegen werden wir
die berechtigten Anliegen der Heimatvertriebenen im
Rahmen der Osterweiterung zur Sprache bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Weil das Recht auf die Heimat gilt, muss die in der
Europäischen Union geltende Freizügigkeit ein Schritt
hin zur Verwirklichung dieses Rechts auf die Heimat
sein, und weil sich Europa als Rechts- und Wertegemein-
schaft versteht, müssen Völker und Volksgruppen ohne
rechtliche Diskriminierung zusammenleben können.
Deswegen betone ich: Die Vertreibungsdekrete und
Vertreibungsgesetze sind Unrecht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Daher darf zum Beispiel das so genannte tschechische
Straffreistellungsgesetz von 1946, durch das die Verbre-
chen an Deutschen und Ungarn bis hin zur Tötung straf-
frei gestellt wurden, keine Gültigkeit mehr haben. Glei-
ches gilt für die Aufhebung der Unschuldsvermutung
und die entschädigungslose Enteignung. Sie dürfen
keine notwendigen Sanktionen mehr sein, wie es das
tschechische Verfassungsgericht noch 1995 bedauer-
licherweise ausdrücklich erklärt hat.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503107700


Herr Kollege Marschewski, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Meckel?


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1503107800


Bitte schön, Herr Präsident.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503107900


Bitte sehr.


Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1503108000


Sehr geehrter Herr Kollege, ich denke, wir alle in die-
sem Hohen Hause sind uns einig, dass Vertreibungen






(A) (C)



(B) (D)


Markus Meckel
Unrecht sind. Dies ist hier von Vertretern aller Fraktio-
nen mehrfach gesagt worden.

Ich glaube, es gibt aber ein Missverständnis. Deshalb
möchte ich Sie dazu etwas fragen. Wollen Sie damit sa-
gen, dass Sie dieses Thema jetzt, nachdem die Verhand-
lungen mit diesen Ländern über den Beitritt zur Europä-
ischen Union zu einem Ende geführt worden sind – die
Verträge sind zwar noch nicht unterschrieben, aber die
Verhandlungen sind beendet –, erneut aufgreifen und
einbringen wollen? Wollen Sie damit sagen, dass dies für
Sie ein neues Feld ist und dass diese Frage in den Verträ-
gen noch in irgendeiner Weise berücksichtigt werden
muss? Hier wäre Klarheit wichtig.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1503108100


Herr Meckel, ich will eines sagen: Vertreibung und
ethnische Säuberung dürfen nirgendwo Bestandteil einer
bestehenden Rechtsordnung sein. Es kann nicht sein,
dass diese Dinge zum Beispiel in der Tschechischen Re-
publik noch in den Gesetzesblättern stehen. Das muss
durch eine Erklärung des Parlaments oder Ähnliches be-
endet werden können. Denn für uns ist es doch eindeutig
– dies will ich mit meinen Ausführungen sagen –: Dies
alles steht im klaren Widerspruch zu dem Geist und den
Werten der Europäischen Union und des Völkerrechts.
Das ist unsere Intention.


(Beifall bei der CDU/CSU – Abg. Markus Meckel [SPD] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)


– Ich möchte in den verbleibenden Minuten gern zu
Ende ausführen, verehrter Herr Kollege.

Um eines noch zu sagen: Wir Deutsche wissen natür-
lich um das schwere Unrecht, das die Nazis auch vielen
Völkern Osteuropas zugefügt haben. Das, was Helmut
Kohl ausgedrückt hat, ist aber auch richtig:

Weder wird deutsche Schuld durch das Unrecht der
Vertreibung auch nur um ein Jota gemindert, noch
hebt deutsche Schuld das Unrecht der Vertreibung
auf.

Deswegen – das ist meine weitere Antwort – müssen
diese Themen auch im Verhältnis zu unseren östlichen
Nachbarn offener und intensiver angesprochen werden;
sonst könnten sie den Weg in eine gemeinsame Zukunft
erschweren, Herr Kollege Meckel.

Es ist die Verpflichtung der Bundesregierung, genau dies
zu tun. Wir beide kennen doch Art. 6 des Vertrages über
die Europäische Union. In ihm sind die Grundsätze der
Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und der
Rechtstaatlichkeit festgeschrieben, die die Mitgliedstaa-
ten akzeptieren müssen. Was aber in diesen Dekreten
steht, ist eben nicht rechtstaatlich. Sie stehen in eklatan-
tem Widerspruch zu Art. 6 des EU-Vertrages. Die Ver-
treibungsdekrete sind Unrecht und müssen aufgehoben
werden. Dafür steht die Union ein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit dieser Haltung stehen wir nicht allein. Sie wissen,
dass sich der UNO-Menschenrechtsausschuss in Genf in

mindestens sechs Entscheidungen entsprechend geäußert
hat. Sie wissen, dass auch das Europäische Parlament die
Aufhebung verlangt hat. Wenn Sie gar nichts überzeugt:
Der Bayerische Landtag hat mit den Stimmen von CSU
und SPD einen Beschluss in diesem Sinne gefasst.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, ich sage dazu nur: Tut es ihnen gleich!

Sie wissen doch genauso gut wie wir: Nur wenn wir
auch das ansprechen, wenn wir darüber diskutieren und
wenn wir zu anderen Ergebnissen kommen, können wir
als Nachbarn in eine gemeinsame und bessere europä-
ische Zukunft gehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503108200


Bevor ich dem Kollegen Meckel das Wort zu einer
Kurzintervention erteile, möchte ich – ganz freundlich –
darauf hinweisen, dass der zwischen den Fraktionen ver-
einbarte Zeitplan unserer heutigen Plenardebatte schon
kräftig aus dem berühmten Ruder gelaufen ist. Ich wäre
dankbar, wenn alle dies bei ihren Zusatzfragen, Interven-
tionen und der Ausnutzung ihrer Redezeit berücksichti-
gen.

Bitte schön, Herr Meckel.


Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1503108300


Vielen Dank, Herr Präsident. Ich werde mich kurz
fassen.

Herr Marschewski, wir sind uns völlig einig, dass wir
die Fragen von vergangenem Unrecht und von Vertrei-
bung, dass wir unsere europäische Geschichte überhaupt
noch intensiv zum Thema machen müssen. Das gilt nicht
nur für unsere östlichen Nachbarn, sondern das betrifft
unsere Situation in Europa insgesamt. Wir brauchen über
die Ländergrenzen hinweg den gemeinsamen Willen zur
Behandlung von Geschichte und sollten versuchen, ge-
meinsam Geschichte zu schreiben. Ich stimme Ihnen
auch ausdrücklich darin zu, dass sich alle Staaten der
Europäischen Union an die europäische Rechtsordnung
halten müssen.

Eine Frage ist mir aber wichtig und deshalb habe ich
mich doch noch zu einer Kurzintervention gemeldet – das
ist in Ihrer Rede offen geblieben –: Wollen Sie sagen,
dass Sie Gesprächsbedarf sehen, oder wollen Sie sagen,
dass Sie bis zum Abschluss der Verträge und ihrer Ratifi-
zierung entweder von der Europäischen Kommission
eine entsprechende Initiative erwarten, um das Thema
Verteibung zur Sprache zu bringen, oder sich von den
Nachbarländern eine entsprechende Entscheidung als Vo-
raussetzung für die Zustimmung Ihrer Fraktion zur Auf-
nahme in die Europäische Union erhoffen. Diese Frage
möchte ich sehr gerne von Ihnen beantwortet haben.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503108400


Herr Kollege Marschewski, möchten Sie antworten? –
Gut, dann erteile ich Ihnen das Wort.






(A) (C)



(B) (D)


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1503108500


Herr Kollege Meckel, ich spreche nicht für alle Au-
ßenpolitiker der Union; das ist wahr. Aber ich kenne die
Meinung unserer Außenpolitiker. Sie alle vertreten ein-
deutig die Auffassung: Wir müssen noch einmal mitein-
ander reden. Der Deutsche Bundestag hat in seinen Sit-
zungen nach dem Krieg zum Volksgerichtshof und zu
vielen anderen scheußlichen Dingen Nein gesagt und sie
als Unrecht verurteilt. So etwas erwarte ich zum Beispiel
auch von unseren tschechischen Freunden. Was hindert
sie daran, es uns gleichzutun und die Dekrete, die Ver-
treibung, die Aberkennung der Staatsbürgerschaft, die
Verurteilungen zum Tode, Totschlag und vieles andere
als Unrecht zu verurteilen? Das erwarten wir. Wir erwar-
ten, dass die Bundesregierung – der Außenminister ist
nicht mehr anwesend – dies intensiv und kraftvoll vor-
trägt.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503108600


Das Wort hat nun der Kollege Kurt Bodewig, SPD-
Fraktion.


Kurt Bodewig (SPD):
Rede ID: ID1503108700


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde es gut, dass wir uns heute die Zeit nehmen, über
zwei wirklich historische europäische Ereignisse zu
sprechen: die Entwicklung einer europäischen Verfas-
sung und das große Thema des Beitritts, also die Tat-
sache, dass Europa ab dem 1. Mai 2004 anders aussehen
wird.

Das Bemühen der Opposition, künstlich Gegensätze
zu erzeugen, ist nur zum Teil gelungen. Schließlich füh-
ren wir heute eine Debatte über Europa und nicht über
den Irak, auch wenn ein geeintes, starkes Europa meines
Erachtens eine Antwort in der Irakdebatte ist. Ich will
nachher darauf eingehen.

Es ist wichtig, festzustellen, dass die künstliche Tren-
nung zwischen Ost und West aufgehoben worden ist. Die
Qualität dieses Ereignisses können wir gar nicht hoch
genug schätzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bedauere, dass dies in der Debatte kaum Widerhall
gefunden hat. Ist es so selbstverständlich, dass es in
Europa, zumindest in den Grenzen der Europäischen
Union, seit 58 Jahren keinen Krieg mehr gegeben hat?
Für diese Region der Welt ist das der längste Zeitraum
friedlichen Zusammenlebens in der Historie. Auch das
ist Europa.

Ich gratuliere dem Kollegen Rupprecht zu seiner ers-
ten Rede. Seine bayerische Euroskepsis macht mich je-
doch sehr nachdenklich. Ich fand das Statement, das Sie
hier in Richtung Europa abgegeben haben, traurig, weil
dieses Europa – auch nach der Erweiterung – eine hohe
Attraktivität hat. Eine Zone der Sicherheit und Demo-
kratie zu haben ist keine Selbstverständlichkeit. Der

Mordanschlag von gestern hat dies unterstrichen. Es ist
ein großer Wert, dass in Europa eine Zone der Sicher-
heit, der Demokratie und der wirtschaftlichen Zusam-
menarbeit besteht, die nach der Erweiterung bis ins Bal-
tikum, nach Bulgarien und Rumänien reichen wird. Das
bedeutet eine ganz neue Attraktivität.

Einige von uns haben eine Einladung nach Oslo be-
kommen. Die Norweger diskutieren auf einmal über ei-
nen Beitritt zur Europäischen Union. Diese neuen Ent-
wicklungen zeigen: Es gibt eine Attraktivität dieses
größten ökonomischen Binnenmarktes der Welt, der
nach der Erweiterung 450 Millionen Menschen umfas-
sen und damit – auch das sollten wir sehen – ein starkes
Gegengewicht zu den Wirtschaftsräumen in Nordame-
rika und Asien bilden wird.

Ich halte es für Unsinn, eine Debatte zu führen, ob es
sich um ein altes oder ein neues Europa handelt. Europa
hat eine Geschichte, die mit Werten verbunden ist. Zu-
künftig werden wir ein gemeinsames Europa haben. Das
ist eine Antwort auf all diejenigen, die in Europa künst-
liche Gräben errichten wollen. Wir wollen ein gemein-
sames und starkes Europa im Sinne einer Lebensverbes-
serung der Menschen und der Friedenssicherung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


In der Zuwanderungsdebatte heute Morgen hat ein
Kollege der Union den Begriff vom gordischen Knoten
gebraucht.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: FDP! Stadler war das!)


Wenn dieser Begriff in eine Richtung treffend ist, dann
in Bezug auf den Gipfel von Kopenhagen. Dort ist, ge-
rade in Bezug auf die schwierigen Verhandlungen mit
Polen, ein gordischer Knoten durchschlagen worden,
und zwar nicht zuletzt vom Bundeskanzler. Das sollten
wir anerkennen und dafür sind wir dem Kanzler zu Dank
verpflichtet.


(Beifall bei der SPD)


Herr Altmaier, das ist auch die Antwort auf Ihren Bei-
trag, in dem Sie uns glauben lassen wollten, der Bundes-
kanzler sei hinsichtlich Europa desinteressiert. Das Ge-
genteil ist richtig. Es geht um große Linien und um
konkrete Kleinarbeit. Beides wird von dieser Bundesre-
gierung mit Unterstützung des Parlaments hervorragend
gehandhabt.

Mein Dank gilt natürlich auch Günter Verheugen, der
in einer sehr schwierigen Situation die Interessen der
Staaten überein gebracht hat. Leider ist der schwere
Zypernkonflikt, der übrigens auch Gradmesser für die
Europafähigkeit der Türkei ist, noch nicht gelöst.

Die Unterzeichnung der Beitrittsverträge mit zehn
Staaten am 16. April ist dennoch ein historischer Vor-
gang. Die Erweiterung wird zu Wachstum, ausländi-
schen Direktinvestitionen und klaren wirtschaftlichen
Impulsen führen. Ich fand die Formulierung von Sir
Leon Brittan in diesem Zusammenhang sehr treffend:






(A) (C)



(B) (D)


Kurt Bodewig
Die Bedeutung der Osterweiterung ist nur ver-
gleichbar mit dem Abschluss der Römischen Ver-
träge im Jahr 1957.

Wenn uns das bewusst ist, können wir positiv nach vorne
schauen und den bayerischen Skeptizismus zur Seite
schieben.

Ich will noch etwas zu Herrn Marschewski sagen. Ich
glaube, Ihre ganze Herangehensweise ist falsch. Dieses
Europa wird ein Europa der Gemeinsamkeit und der Be-
gegnung sein. Am sichersten wird gegen Vertreibung
und ethnische Säuberung wirken, dass sich die Men-
schen kennen lernen. Wenn junge Menschen miteinander
in einen Austausch treten, ist das das Wirkungsvollste,
was wir auch im Sinne der Vertriebenen tun können. Da-
ran sollten wir gemeinsam arbeiten.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie mich auch das Thema Handel ansprechen.
Die EU-Osterweiterung hatte seine Vorgeschichte mit ei-
nem Europaabkommen, mit dem faktisch eine europä-
ische Freihandelszone einherging. Allein der Beitritts-
prozess hat nun bewirkt, dass die Kandidatenstaaten in
Vorleistung gegangen sind: Sie haben die Stabilitätskri-
terien ernst genommen und durchgesetzt. Das sind deut-
liche Erfolge.

Der Handelsbilanzüberschuss der EU gegenüber den
zehn Beitrittsländern beträgt 20 Milliarden Euro.
Deutschland hat hieran einen Anteil von 50 Prozent.
Die ökonomische Wirkung ist also auch im Sinne
Deutschlands positiv, wobei für die Beitrittskandidaten
die strukturellen Chancen für eine wirtschaftliche Ent-
wicklung noch größer sind als im Europa der Fünf-
zehn. Beides zusammengenommen wird dazu führen,
dass neue Wachstumschancen entwickelt werden und
dass ein Europa geschaffen wird – damit ende ich an
dem Punkt, an dem ich begonnen habe –, das Frieden
gewährleistet und eine starke Kraft darstellt.

Ich glaube, dass dieses Europa nicht gegen Amerika
gerichtet ist. Das Problem der acht Unterzeichner des
vielfach angesprochenen Briefes bestand doch vielmehr
darin, dass sein Inhalt nicht einmal in Übereinstimmung
mit der Auffassung der eigenen Bevölkerung stand.

Dieses Europa wird ein friedliches Europa mit guten
Beziehungen zu den USA und anderen großen Zentren
dieser Welt sein. Wir sollten dieses friedliche Europa in
einem gemeinsamen Verständnis und mit Ihrer Unter-
stützung aufbauen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503108800


Das Wort hat nun die Kollegin Frau Dr. Lötzsch.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1503108900


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einige
EU-Beitrittskandidaten mit Polen an der Spitze haben in

der Frage eines Krieges gegen den Irak eine andere Mei-
nung vertreten als Frankreich und Deutschland. Wir als
PDS teilen die Auffassung dieser Länder ausdrücklich
nicht, weil wir der Meinung sind, dass Krieg kein Mittel
der Politik sein darf.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Aber offensichtlich haben einige Politiker der EU ver-
gessen, dass auch EU-Beitrittsstaaten souveräne Staa-
ten sind. Sie haben wie jedes andere Land das Recht auf
eine eigene Meinung und damit auch auf eine argumen-
tative Antwort.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)


Insbesondere die Reaktion des französischen Präsiden-
ten war sicherlich nicht von Argumenten dominiert und
ist daher symptomatisch.

Damit komme ich zu einem Aspekt, der in dieser De-
batte bisher noch keine Rolle gespielt hat. Die Beitritts-
länder werden von der EU häufig wie Schuljungen be-
handelt, die gefälligst keine eigene Meinung vertreten
sollen. Meinungsmacher sind Frankreich, Deutschland
und Großbritannien; die anderen Länder haben das
Recht, sich dieser Meinung anzuschließen. Diese Sicht-
weise ist mir bei den Beitrittsverhandlungen immer wie-
der aufgefallen.

Die Verhandlungen wurden von oben herab geführt.
Die Beitrittsländer wurden häufig wie Bittsteller behan-
delt. Die Ergebnisse der Verhandlungen sind gerade für
Polen in vielen Fragen eine Zumutung. Die EU fordert,
dass alle Regeln durch die Beitrittsländer 1 : 1 übernom-
men werden, gewährt aber gleichzeitig den zukünftigen
EU-Bürgern nicht die gleichen Rechte wie den Alt-EU-
Bürgern. Vor allem Deutschland hat mit völlig überzoge-
nen Übergangsregeln – ich nenne nur die Einschränkung
der Niederlassungsfreiheit für Bürger aus den Beitritts-
ländern für sieben Jahre – EU-Bürger erster und zweiter
Klasse festgeschrieben.

Ich denke, die EU braucht dringend neue politische
und strukturelle Ansätze. Man darf die Beitrittsländer
nicht wie Erstklässler behandeln, sondern man muss ih-
nen Spielräume lassen, damit sie Neues ausprobieren
und Innovationen in die EU hineintragen können.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Dabei handelt es sich um eine Lehre, die wir auch aus
den Erfahrungen in Ostdeutschland ziehen müssen.
Die kritiklose Übernahme verkrusteter Strukturen der al-
ten Bundesrepublik war ein schwerer Fehler und hat zur
Stagnation in Ostdeutschland beigetragen. Das stelle ich
nicht nur aus eigener Erkenntnis fest, sondern ich darf
als Beispiel Professor Simon, seinerzeit Präsident des
Wissenschaftsrates, zitieren, der von den im Kern verrot-
teten Hochschulen sprach – in der alten Bundesrepublik,
wohlgemerkt!

Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu der Arbeit
des Konvents machen. Die PDS im Bundestag begrüßt
die Erarbeitung einer Verfassung für die Europäische
Union. Eine künftige Union der Fünfundzwanzig braucht
grundlegende Reformen. Sie braucht Institutionen und






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gesine Lötzsch
Verfahren, die auch mit 25 Mitgliedern funktionieren.
Die PDS setzt sich dafür ein, dass folgende vier Punkte
in der zukünftigen Verfassung auf jeden Fall berücksich-
tigt werden:

Erstens: Sozialstaatlichkeit. Wir wollen, dass Sozial-
staatlichkeit und soziale Marktwirtschaft in der Verfas-
sung festgeschrieben werden; offene Marktwirtschaft ist
uns zu wenig. Massenarbeitslosigkeit, soziale Ausgren-
zung und Armut sind europäische Themen, die wir in
Europa gemeinsam angehen müssen. Dazu sollten wir
uns auch verbindlich verpflichten.

Zweitens: Grundrechte. Die Grundrechte-Charta
muss – das ist schon von einigen Vorrednern angespro-
chen worden – in vollem Wortlaut an den Anfang der
Verfassung gestellt werden. Schon lange haben wir uns
für ihre volle Rechtsverbindlichkeit eingesetzt. Alle Ver-
suche, die in ihr enthaltenen sozialen Grundrechte zu
verwässern, lehnen wir als PDS ab.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Drittens: Demokratie. Das Demokratiedefizit der Eu-
ropäischen Union muss in der Verfassung endlich ange-
gangen werden. Das bedeutet Stärkung der Rechte der
Bürgerinnen und Bürger sowie Stärkung der Rechte des
Europäischen Parlaments.

Viertens: Friedensverpflichtung. Wir halten es nicht
zuletzt vor dem Hintergrund der Diskussionen über ei-
nen drohenden Krieg gegen den Irak für unerlässlich,
eine Friedensverpflichtung in der europäischen Verfas-
sung zu verankern. Darum muss sich die deutsche Bun-
desregierung im Konvent noch mehr bemühen. Es sollte
doch eine Selbstverständlichkeit sein, die Europäische
Union auch in ihrem außenpolitischen Handeln auf das
Völkerrecht und insbesondere auf die Ächtung von An-
griffskriegen zu verpflichten.

Herzlichen Dank.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503109000


Letzter Redner in der Aussprache zu diesem Tages-
ordnungspunkt ist der Kollege Dr. Nüßlein, CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1503109100


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Das Zusammenwachsen Europas
und die Freundschaft Amerikas haben nach zwei Welt-
kriegen Frieden, Freiheit und Wohlstand gesichert. Darü-
ber besteht Konsens.


(Beifall des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU])


Herr Bodewig, ich denke, dass dies bereits in der heuti-
gen Debatte entsprechend gewürdigt wurde. Konsens be-
steht aber auch darüber – so hoffe ich jedenfalls –, dass
die EU nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine
Wertegemeinschaft ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die europäischen Werte haben ihre Wurzeln im Chris-
tentum und in der Aufklärung. Deshalb setzen wir uns
von der CDU/CSU für die „invocatio dei“ ein. Der Be-
zug zu Gott ist die kulturelle Klammer Europas, die jede
Verfassung, auch die europäische, übersteigende Ver-
pflichtung zur Verantwortung vor der höchsten Macht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dass sich manche heute schwer mit dem Bekenntnis zu
Gott tun, haben wir schon bei der Vereidigung des amtie-
renden Atheistenkabinetts erlebt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kollege Marschewski hat Recht: In unserer europä-
ischen Wertegemeinschaft haben die diskriminierenden
Benes-Dekrete keinen Platz. Leider warten die Europäer
noch immer auf die tschechische Distanzierung vom Un-
recht der Vertreibung, aber auch auf eine klare Stellung-
nahme der rot-grünen Mehrheit in diesem Haus.

Wenn man auf dem von mir dargestellten Wertefunda-
ment steht, dann wird auch klar, dass einer EU-Vollmit-
gliedschaft der Türkei die Basis fehlt. Daran sollten wir
künftig keinen Zweifel lassen, um einerseits die Integra-
tionsfähigkeit Europas nicht zu überfordern und anderer-
seits die Partnerschaft mit der Türkei, die ich für sehr
wichtig halte, nicht zu gefährden.

Deutschland ist der bevölkerungsreichste Staat und der
mit Abstand größte Nettozahler der Europäischen Union.
Bei mir in Schwaben gilt – Schwaben ist ja kein unwesent-
licher Teil Europas –: Wer zahlt, schafft an; wer bezahlt,
bestimmt die Richtung. Die Bürgerinnen und Bürger er-
warten, dass die Bundesregierung endlich die berechtigten
deutschen Interessen in Europa und in der Konventsarbeit
durchsetzt. Ich frage Sie: Wo ist Ihr Gesamtansatz, Ihr
Konzept, das die Rolle Deutschlands in der Europäischen
Union beschreibt? Vor Rot-Grün waren wir Deutschen
Motor in Europa. Jetzt sind wir Schlusslicht.


(Widerspruch bei der SPD)


– Ich würde an dieser Stelle auch lieber etwas anderes
erzählen.

Es ist wichtig, dass ein Verfassungsvertrag klare Kom-
petenzabgrenzungen nach dem Subsidiaritätsprinzip ent-
hält. Auch das ist übrigens ein Baustein christlicher Sozi-
allehre. Nun gibt es Aufgaben, die unbestritten der
Gemeinschaft zuzuordnen sind, zum Beispiel die Gemein-
same Außen- und Sicherheitspolitik oder die Stabilität des
Euro. Inzwischen mussten wir erleben, wie Rot-Grün die
gemeinsame Sicherheitspolitik auf dem Wahlkampfaltar
opfert. Wir müssen uns immer wieder anschauen, wie Rot-
Grün wegen seiner kranken Finanzpolitik die Stabilitäts-
kriterien des Euro zu Grabe tragen will.


(Widerspruch bei der SPD – Zuruf von der SPD: Wer hat die Rede aufgeschrieben?)


– Keiner von der SPD. Sie würden nämlich die Realität
nicht so deutlich ansprechen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gesine Lötzsch
Ihr politisches Siechtum in Deutschland darf aber
nicht auch noch den Integrationsprozess in Europa infi-
zieren.

Die strikte Beschränkung der EU auf Kernaufgaben,
die nur gemeinschaftlich lösbar sind, ist gerade im Hin-
blick auf die Osterweiterung notwendig. Ich halte es,
offen gesagt, für illusorisch, eine Vertiefung und eine Er-
weiterung der Europäischen Union vereinbaren zu wol-
len.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


– Im Bereich der Kompetenzen. – Wir brauchen stattdes-
sen eine Rückübertragung von Kompetenzen, insbeson-
dere eine Öffnung hin zu regionalen Eingriffsmöglich-
keiten im Bereich der Struktur- und Agrarpolitik. Nur so
ist die Osterweiterung für Deutschland zu verkraften und
insgesamt zu finanzieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber angesichts des wirtschaftlichen Desasters, das Rot-
Grün anrichtet, spielen für Sie strukturelle Verwerfungen
wohl keine Rolle mehr.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es!)


Die Landwirtschaft, zu der ich heute gar nichts ge-
hört habe, hat Ministerin Künast längst abgeschrieben.
Unsere Bauern wissen: Die Landwirtschaftsministerin
hat keine Kompetenz.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Bauern vielleicht!)


– Sie haben wahrscheinlich keine.

Ich bitte Sie, die Sorgen der Menschen ernst zu neh-
men. Für viele sind die Risiken der Osterweiterung
greifbarer als die Chancen. Für viele steht Brüssel für
Bürokratie. Wenn wir bei diesen Institutionen über den
Doppelhut diskutieren, dann geht ihnen schon lange der
Hut hoch. Nur Transparenz sichert Akzeptanz. Verges-
sen Sie bitte auch nicht die Zuständigkeiten des Deut-
schen Bundestages, also unsere Informations-, Kontroll-
und Mitwirkungsrechte!


(Zuruf von der SPD: Wir sind doch im Parlament!)


– Ich sage ja: unsere Rechte. – Europäisches Recht darf
nicht hinter verschlossenen Türen geschaffen werden.
Ich appelliere gerade an die Kollegen der SPD und der
Grünen: Es ist in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie die
parlamentarischen Kontrollrechte nicht zu sehr aus der
Vogelperspektive der Regierungsfraktionen sehen. Lange
werden Sie das nämlich nicht mehr sein.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503109200


Herr Kollege Nüßlein, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich erlaube mir
für die Zukunft die kleine Anregung, bei der verallge-
meinernden Charakterisierung von Institutionen oder

Personen sich um die Zurückhaltung oder Präzision zu
bemühen, die dem Gegenstand angemessen ist.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Da brauchen wir erläuternde Ausführungen, um das zu verstehen!)


– Die liefere ich, Herr Kollege, gerne nach.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das versteht kein Mensch! Vollkommen deplatzierte Bemerkung!)


Ich schließe damit die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union auf Drucksache 15/451. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung die Annahme des Entschließungsantrags der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/215 zu der Abgabe einer Regierungs-
erklärung durch den Bundeskanzler zu den Ergebnissen
des Europäischen Rates in Kopenhagen am 12. und
13. Dezember 2002. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalition
gegen die Stimmen der Opposition bei einer Enthaltung
angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Nr. 2 der Be-
schlussempfehlung des Ausschusses. Hier geht es um
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
auf Drucksache 15/195 mit dem Titel „Der Weg für die
Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitrittsverhand-
lungen auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der
FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion ange-
nommen.

Ich weise darauf hin, dass zu dem Antrag „Der Weg
für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitritts-
verhandlungen auf dem Europäischen Rat in Kopenha-
gen“ eine Reihe von Erklärungen zur Abstimmung vor-
liegt, und zwar von den Kollegen Sehling, Zeitlmann,
Aigner und zahlreichen anderen Kolleginnen und Kolle-
gen aus der CDU/CSU-Fraktion.1) Diese Erklärungen
werden dem Protokoll beigefügt.

Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europä-
ischen Union empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 15/451 die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/216
mit dem Titel „Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt
Druck auf innere Reformen der Europäischen Union“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU-Frak-
tion angenommen.

1) Anlage 2






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Wir kommen zur Abstimmung über die unter Tages-
ordnungspunkt 4 b sowie unter Zusatzpunkt 1 aufgeführ-
ten Vorlagen. Interfraktionell wird die Überweisung der
Vorlagen auf den Drucksachen 15/548 und 15/577 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache 15/548 zu-
sätzlich an den Haushaltsausschuss überwiesen werden
soll. Besteht darüber Einverständnis? – Das ist offenkun-
dig der Fall. Dann haben wir die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a, 18 b, 10,
17 sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:

18 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ver-
wendung von Verwaltungsdaten für Zwecke der

(Verwaltungsdatenverwendungsgesetz – VwDVG)


– Drucksache 15/520 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Dieter Thomae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Die Kompetenzen des Sports bei Prävention
und Rehabilitation besser nutzen

– Drucksache 15/474 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)

Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

10 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und
Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften
zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter

– Drucksache 15/411 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

17 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuches und anderer Gesetze – Wi-
derruf der Straf- und Strafrestaussetzung –

(...StrÄndG)


– Drucksache 15/310 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

ZP 2a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Melderechtsrahmengesetzes

– Drucksache 15/536 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), Dr. Norbert

Töttgen, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeord-
neten und der Fraktion der CDU/CSU einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbes-
serten Schutz der Privatsphäre

– Drucksache 15/533 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist of-
fensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 c sowie
16 auf. Hierbei handelt es sich um Beschlussfassungen
zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Wir kommen zunächst zu den Beschlussempfehlun-
gen des Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 19 a:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 19 zu Petitionen

– Drucksache 15/482 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 19 mit breiter
Zustimmung angenommen.

Tagesordnungspunkt 19 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 20 zu Petitionen

– Drucksache 15/483 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Damit ist auch die Sammelübersicht 20 mit
breiter Zustimmung angenommen.

Tagesordnungspunkt 19 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 21 zu Petitionen

– Drucksache 15/484 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Damit ist auch die Sammelübersicht 21 ein-
vernehmlich angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(11. Ausschuss)

Dr. Werner Hoyer, Günther Friedrich Nolting,
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Ulrich






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Adam, Ilse Aigner, Dietrich Austermann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Transatlantische Beziehungen stärken – Pots-
dam Center fördern

– Drucksachen 15/194, 15/519 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Arnold
Christian Schmidt (Fürth)


Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/194 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der Opposition ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Fünfter Bericht der Bundesrepublik Deutsch-
land zum Übereinkommen der Vereinten Na-
tionen zur Beseitigung jeder Form von Diskri-
minierung der Frau (CEDAW)


– Drucksache 15/105 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für. wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Es liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann haben wir so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Zu Beginn erteile ich der
Bundesministerin Renate Schmidt das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren! Meine sehr geehrten Damen! Vor 92 Jahren, am
19. März 1911, wurde der erste Internationale Tag der
Frau begangen. Frauen kämpften um ihr Wahlrecht, um
bessere Bezahlung, aber immer auch um friedliche Lö-
sungen bei internationalen Konflikten.

In Deutschland haben wir seit Bestehen der Bundesre-
publik die juristische Gleichstellung von Frauen und
Männern erreicht. Während zum Beispiel noch bis 1957
das Arbeitsverhältnis meiner Mutter ohne ihre Zustim-
mung von meinem Vater hätte gekündigt werden kön-
nen, es eine Schlüsselgewalt des männlichen Haushalts-

vorstands gab und er in Erziehungsfragen das letzte Wort
hatte, sind das – Elisabeth Selbert und ihren Mitstreite-
rinnen sowie auch einigen Mitstreitern sei Dank – die
gewonnenen Schlachten von gestern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die faktische Gleichstellung ist jedoch trotz aller
Fortschritte noch nicht erreicht. Dies belegen die Ab-
stände bei der Einkommens- und Rentenhöhe von
Frauen und Männern genauso wie der zu geringe An-
teil von Frauen in Führungspositionen. Vieles davon
wurde seit 1998 aktiv angegangen. Der Fünfte Staaten-
bericht zum Übereinkommen der Vereinten Nationen
zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der
Frau, CEDAW, zeigt eine gute Bilanz gleichstellungs-
politischer Initiativen. Mit dem Programm „Frau und
Beruf“ und dem „Nationalen Aktionsplan zur Bekämp-
fung von Gewalt gegen Frauen“ hat die Bundesregie-
rung auch international Maßstäbe gesetzt. Aber der Be-
richt zeigt ebenfalls – davor sollten wir nicht die Augen
verschließen – Handlungsnotwendigkeiten für heute
und die nächste Zukunft auf.

Was wurde erreicht? Wir haben heute in Deutsch-
land die am besten gebildete und ausgebildete Frauen-
generation, die es je gab. Junge Frauen haben heute die
jungen Männer bei den Bildungsabschlüssen sowohl in
Quantität als auch in Qualität eingeholt und teilweise
überholt. Das hatte auch Folgen für das Einkommen.
Bei den 20- bis 30-Jährigen liegt das Durchschnittsein-
kommen der Frauen nur noch um 10 Prozent niedriger
als das der Männer; im Gegensatz dazu bestehen bei
den Gruppen höheren Alters Einkommensunterschiede
von 25 bis 30 Prozent.

Daraus und auch aus der Tatsache, dass Frauen bei
Führungsfunktionen nach wie vor einen auch im euro-
päischen Vergleich zu geringen Anteil haben, hat die
Bundesregierung Konsequenzen gezogen, unter anderem
durch die gleichstellungsorientierte Neufassung des Be-
triebsverfassungsgesetzes, nach der Unternehmen und
Betriebsrat bei allen betrieblichen personellen Maßnah-
men auf Gleichstellungsgesichtspunkte zu achten haben.
Wir haben durch das neue Gleichstellungsgesetz für den
öffentlichen Dienst des Bundes, das ich mir in ähnlicher
Form auch für alle Länder wünsche, und durch die Ver-
ankerung des Prinzips einer umfassenden Gleichstellung
beider Geschlechter, des so genannten Gender-Main-
streaming-Prinzips, Instrumente geschaffen, die erste
Früchte tragen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Übrigens: Noch nie haben einer Regierung, sowohl
auf Landes- als auch auf Bundesebene, so viele Ministe-
rinnen angehört wie dieser Bundesregierung.

Wir haben mit der Verbesserung der Anrechnung von
Teilzeitbeschäftigung und der Höhe der Anwartschafts-
zeiten den Einstieg – ich betone: den Einstieg – in eine
eigenständige Alterssicherung von Frauen geschaffen






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Renate Schmidt
und mit dem Gesetz zur sozialen Grundsicherung im Al-
ter insbesondere Frauenarmut im Alter beseitigt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Durch die Flexibilisierung der Elternzeit und den
Rechtsanspruch auf Teilzeitbeschäftigung


(Ina Lenke [FDP]: Das ist gerade das Problem!)


können sich Mütter und Väter besser denn je Familien-
und Erwerbsarbeit teilen.

Darüber hinaus haben wir präventiv durch unseren
auch international beachteten Aktionsplan zur Bekämp-
fung von Gewalt gegen Frauen in diesem Bereich we-
sentliche Erfolge erzielt. Wir werden den Aktionsplan
mit allen betroffenen Institutionen und Nichtregierungs-
organisationen fortschreiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber vor allem die gesetzlichen Maßnahmen haben
Wirkung gezeigt, und zwar umso bessere, je mehr die
Landesregierungen hinter den Intentionen des Gewalt-
schutzgesetzes standen. So wurden in Nordrhein-West-
falen zum Beispiel im ersten Halbjahr 2002 mehr als
2 000 Wohnungsverweisungen des Täters durch die Poli-
zei ausgesprochen und damit 2 000 Müttern und ihren
Kindern der Verbleib in ihren Wohnungen ermöglicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gemeinsame zielorientierte Arbeit führt zum Erfolg.
Im Interesse der Frauen werden wir das auch für die
Gleichstellung in der Privatwirtschaft umsetzen.


(Ina Lenke [FDP]: Ach Gott! Das schafft ihr doch gar nicht!)


Ende 2003 wird die Bilanzierung hinsichtlich der vom
Bundeskanzler mit den Wirtschaftsverbänden abge-
schlossenen freiwilligen Vereinbarung vorgenommen.
Die hochrangige Begleitgruppe ist installiert. Das IAB
liefert uns Zahlen. Ich bin hoffnungsfroh, dass wenigs-
tens einige positive Veränderungen erkennbar werden.

Auf der Ebene der Spitzenorganisationen der Arbeit-
geber, beim DGB, bei vielen Großbetrieben und auch ei-
nigen kleineren und mittleren Betrieben rennt man mit
der Forderung nach frauen- und familienfreundlichen
Arbeitsbedingungen inzwischen offene Türen ein.
Diese Vorbilder werde ich sichtbar machen. Der nächste
Wettbewerb „Der familienfreundliche Betrieb“ wird den
Schwerpunkt „flexible Arbeitszeiten und Kinderbetreu-
ung“ haben.

Vorbildliches betriebliches Verhalten muss sich aber
in der Breite und nach unten fortsetzen. Deshalb werden
wir durch eine von uns in Auftrag gegebene Studie nach-
weisen, dass es sich auch betriebswirtschaftlich lohnt,
die gut ausgebildeten Frauen zu halten, die Inanspruch-
nahme von Teilzeit und Elternzeit für Frauen und Män-
nern zu fördern und nicht zu behindern und – das ist mir
besonders wichtig – Kompetenzen, die in der Familie er-

worben wurden, im Beruf auch positiv zu bewerten und
nicht als Dequalifikation zu erachten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])


Ich werde dazu beitragen, dass diese Erkenntnisse
nicht nur Allgemeingut werden, sondern auch durch lo-
kale Bündnisse für familien- und frauenfreundliche Ar-
beitsbedingungen, zu denen selbstverständlich nicht nur
betriebliche, sondern auch öffentliche Anstrengungen
gehören, umgesetzt werden. Letzteren werden wir mit
unseren beiden Programmen, dem 4-Milliarden-Euro-
Programm für den Ausbau von Ganztagsschulen und
dem 1,5-Milliarden-Euro-Programm zur Verbesserung
der Betreuung der unter 3-Jährigen, Rechnung tragen.

Ich betone nochmals: Dafür gibt es keine Zuständig-
keit des Bundes; es ist eine freiwillige Leistung. Länder
und Kommunen sind schon seit langem in der Verpflich-
tung, das umzusetzen, was im Kinder- und Jugendhilfe-
recht steht, nämlich den bedarfsgerechten Ausbau von
Kinderbetreuungsplätzen zu gewährleisten. Hier wurde
in den letzten drei Jahrzehnten leider zu wenig getan.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke [FDP] – Ina Lenke [FDP]: Gerade Niedersachsen hat enorme Defizite!)


– Frau Lenke, ich mache da keine Unterschiede. Hier ha-
ben sich weder CDU- noch SPD-regierte Länder beson-
ders hervorgetan. Das kann man für alle – mit graduellen
Unterschieden – sagen.

Natürlich weiß ich, dass allein bei Mentalitätsverände-
rungen – auch wenn sie noch so sehr auf harten Fakten be-
ruhen – der Zeitraum bis zur faktischen Gleichstellung
noch einmal mindestens 92 Jahre betragen würde. Dazu
funktioniert Old-Boys‘-Network leider Gottes im Gegen-
satz zu Young-Women‘s-Network einfach noch zu gut.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])


Deshalb brauchen wir natürlich auch gesetzliche Maß-
nahmen.

Die EU-Gleichstellungsrichtlinie, die in meinem
Haus federführend umgesetzt werden wird, bietet uns
eine Reihe von Möglichkeiten. Wir werden sie nutzen
und daraus gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeit-
gebern ein vernünftiges Instrument für die Gleichstel-
lung von Frauen und Männern machen, und zwar über
das hinaus, was wir bereits mit dem neuen Betriebsver-
fassungsgesetz umgesetzt haben. Es wird unter anderem
eine nationale Gleichbehandlungsstelle und in diesem
Rahmen für Fälle von grundsätzlicher Bedeutung ein
Klagerecht geben. Es wird auch Sanktionen geben, die
diesen Namen verdienen.

Diskriminierungen wegen des Geschlechts gibt es nach
wie vor und allenthalben. So hat zum Beispiel das ZEW
in Mannheim ermittelt, dass sich die Inanspruchnahme
von Elternzeit negativer auf das künftige Arbeitseinkom-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Renate Schmidt
men auswirkt als Arbeitslosigkeit von ähnlich langer
Dauer. Ich werde darauf achten, dass mit der richtigen
und notwendigen weiteren Umsetzung des Hartz-Kon-
zepts, nämlich der Zusammenlegung von Arbeitslosen-
und Sozialhilfe, nicht neue mittelbare Diskriminierungen
für Frauen entstehen. Diese Gefahr besteht und wir müs-
sen schauen, dass wir sie abwenden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diskriminierend ist auch, dass es in Deutschland zwar
gleichen Lohn für gleiche Arbeit, nicht aber für gleich-
wertige Arbeit gibt. Zwischenzeitlich gibt es sehr gute
und praktikable Methoden, mit denen Gleichwertigkeit
von Arbeit ermittelt werden kann. Ich werde mich für
Rahmenrichtlinien stark machen – und sie in meinem
Ministerium erarbeiten –, die den Tarifvertragsparteien
helfen können, zu einer geschlechtergerechten Einkom-
mensfindung zu kommen, aber auch helfen, Diskrimi-
nierungstatbestände aufzudecken.

Einkommensunterschiede resultieren neben den häu-
figeren Unterbrechungszeiten und den damit einherge-
henden selteneren Führungspositionen für Frauen – auch
aus dem Berufswahlverhalten von Frauen. Bei den IT-
Ausbildungsberufen verharrt der Anteil der Mädchen bei
unter 14 Prozent. Mit dem neuen Programm „Informati-
onsgesellschaft Deutschland 2006“ wollen wir das än-
dern. Ziel ist die Steigerung des Anteils der Frauen in
diesen Berufen auf 40 Prozent.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der Girls‘ Day, der Mädchenzukunftstag, wird dazu bei-
tragen, das Interesse junger Frauen an angeblich frauen-
untypischen Berufen zu steigern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


An einer weiteren Stelle werden wir tätig werden: Die
Aufteilung der Steuerklassen III und V kann bei Frauen
den Eindruck erwecken, ihre Arbeit sei nichts wert. Wir
werden eine Lösung dieses Problems herbeiführen, und
zwar so, dass das monatlich zur Verfügung stehende Fa-
milieneinkommen nicht geschmälert wird und gleichzei-
tig die derzeit in der Steuerklasse V arbeitende Ehefrau
das ihr zustehende Nettoeinkommen erhält.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gleichstellungspolitik will heute mehr als vor
20 Jahren. Sie will beiden Geschlechtern alle Lebens-
möglichkeiten ohne Diskriminierung eröffnen. Das nennt
man Gender Mainstreaming. Denn auch Männer sind
benachteiligt, auch wenn sie es seltener merken als
Frauen. Wenn 75 Prozent der Männer, so das Ergebnis ei-
ner jüngsten Umfrage, für einen gewissen Zeitraum gerne
teilzeitbeschäftigt wären oder Elternzeit in Anspruch
nähmen, dies aber nur zu einem Bruchteil tun, dann ist
dies auch eine Beschneidung von Lebensmöglichkeiten
aus Angst um den beruflichen Erfolg, aber auch wegen
des Ansehensverlustes bei Kollegen und Vorgesetzten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb werden wir den Begriff Gender Mainstrea-
ming nicht nur als Schlagwort benutzen, sondern Gender
Mainstreaming im öffentlichen Dienst des Bundes prak-
tizieren und in den Köpfen der Verantwortlichen veran-
kern. Dazu werden wir vor allem mit dem Aufbau eines
Gender-Kompetenzzentrums Hilfestellung leisten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Da-
men, Gleichstellungspolitik ist mehr als Familienpolitik
und Familienpolitik ist mehr als Gleichstellungspolitik.
Keiner dieser Politikbereiche darf jemals Anhängsel des
anderen sein oder werden. Politik für Frauen und mit
Frauen ist eine Frage der Gerechtigkeit und darüber hi-
naus immer zugleich gute Familienpolitik, gute Gesund-
heitspolitik, gute Bildungs- und Sozialpolitik, gute Wirt-
schaftspolitik und damit ein Stück Zukunftssicherung für
uns alle: für Männer, für Frauen und natürlich für unsere
Kinder.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503109300


Ich erteile das Wort der Kollegin Maria Eichhorn,
CDU/CSU-Fraktion.


Maria Eichhorn (CSU):
Rede ID: ID1503109400


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Mi-
nisterin, Schönreden hilft nicht. Die Armut der Frauen
hat sich leider nicht verringert. Im Gegenteil: Sie wird
sich verstärken. Das ist für mich die wichtigste Erkennt-
nis aus dem Bericht. Dazu werde ich ganz besonders
Stellung nehmen.

Deutschland ist aus der Balance geraten. Die Schere
zwischen Arm und Reich hat sich in den letzten Jahren
immer stärker geöffnet. Betroffen sind vor allem Er-
werbslose, mittlerweile 4,7 Millionen Menschen, sowie
Familien mit Kindern. Besonders ernüchternd ist die
wirtschaftliche Lage der Frauen in Deutschland. Drei
von vier Frauen zwischen 30 und 59 sind im Alter von
Armut bedroht. Das hat das Deutsche Institut für Al-
tersvorsorge festgestellt. Die Gründe hierfür liegen in
den typisch weiblichen Erwerbsbiographien. Frauen
verzichten wegen der Kindererziehung auf Erwerbstä-
tigkeit oder unterbrechen sie. Sie sind häufiger teilzeit-
beschäftigt, haben die schlechter bezahlten Jobs und
sind öfter von Arbeitslosigkeit betroffen. Die Folge sind
geringere Rentenansprüche, die oft kaum zum Leben
reichen.

1998 erklärte der Bundeskanzler in seiner Regie-
rungserklärung, Frauen dürften nicht dafür bestraft wer-
den, dass Phasen der Kindererziehung und Erwerbsarbeit
einander abwechseln.


(Zuruf von der SPD: Recht hat er!)


Dem ist zuzustimmen. Aber wie sieht die Wirklichkeit
aus? Was der Deutsche Frauenrat bereits im Juni 2000
festgestellt hat, wurde vom Statistischen Bundesamt am






(A) (C)



(B) (D)


Maria Eichhorn
Wochenende bestätigt: Frauen sind die Verliererinnen
der rot-grünen Rentenreform.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie verdienten 2002 immer noch ein Drittel weniger als
Männer. Die Kluft zwischen den Einkommen wird sich
in Zukunft noch vergrößern. Ursache dafür ist die
Riester-Rente.


(Zuruf von der SPD: Ach!)


„Gleichberechtigung Fehlanzeige“, so lautete eine
entsprechende Überschrift in der „Süddeutschen Zei-
tung“. Die Riester-Rente verhindert, dass Frauen und
Männer jemals gleich viel Geld haben werden. Der
Grund liegt in den Produkten der Anbieter. Diese sehen
überwiegend schlechtere Tarife für Frauen als für Män-
ner vor. Wenn ein 30-jähriger Mann und eine 30-jährige
Frau die gleiche Summe in ihre Rentenvorsorge stecken,
erhält der Mann bei einem Versicherungsbeispiel
784 Euro Rente, die Frau jedoch 105 Euro weniger. Das
ist ein Skandal.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Als Begründung wird die statistisch höhere Lebens-
erwartung der Frauen angeführt. Dies bedeutet im Klar-
text: Frauen müssen entweder während ihres Berufs-
lebens mehr für ihre Altersvorsorge sparen oder im Alter
mit weniger Geld auskommen. Dies ist eine Ungleichbe-
handlung sondergleichen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es kann ja wohl nicht sein, dass der Staat eine solche
diskriminierende Altersvorsorge fördert. Die Bundesre-
gierung nimmt dies lediglich bedauernd zur Kenntnis.
Sie akzeptiert also, dass die Frauen die Verliererinnen
der Rentenreform sind.

Nach Meinung der Verfassungsrechtlerin Sacksofsky
ist diese Unterscheidung jedoch ein klarer Verstoß gegen
Art. 3 des Grundgesetzes, wonach niemand wegen sei-
nes Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden
darf. Sie sieht hier eine unmittelbare Diskriminierung,
die das Bundesverfassungsgericht sofort kippen würde.
Aber auch dann, wenn andere Verfassungsrechtler dies
anders sähen, läge immer noch eine mittelbare Diskrimi-
nierung vor, gegen die der Staat vorgehen muss.

Die Bundesregierung kann nicht weiterhin die Hände
untätig in den Schoß legen und sich hinter den Marktge-
setzen verstecken. Sie muss dafür sorgen, dass diese Un-
gleichheit beseitigt wird. Die Privatvorsorge darf Frauen
nicht zusätzlich belasten. Wir brauchen daher Unisex-
Tarife. Die Rentenreform der Bundesregierung ist und
bleibt ein Antifrauenprogramm. Die Renten für Frauen
sind im Durchschnitt von denen der Männer weit ent-
fernt. Hinzu kommt: je mehr Kinder, desto weniger
Rente.

Für uns ist der Ausbau der eigenständigen Alters-
sicherung für Frauen besonders wichtig. Viele Frauen
wollen Beruf und Familie miteinander vereinbaren. Vo-
raussetzung sind flexible Arbeitszeiten, vielfältige quali-
fizierte Angebote zur Teilzeitarbeit und der Ausbau einer
bedarfsgerechten Kinderbetreuung für alle Altersstufen.

Das heißt, wir brauchen ein Konzept, das den Bedürfnis-
sen der Eltern und insbesondere denen der Kinder ge-
recht wird.


(Zuruf von der SPD: So ein Quatsch! Das machen wir doch!)


Dies ist uns besonders wichtig. Sie setzen allein auf
Ganztagsangebote, wir dagegen auf ein vielfältiges Be-
treuungsangebot, das individuelle Erfordernisse berück-
sichtigt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Sie müssen zuhören!)


Viele Frauen unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit, um
sich voll der Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Diese
Frauen brauchen mehr Unterstützung beim Wiederein-
stieg in den Beruf. Es ist einfach nicht hinnehmbar, dass
Mütter nach der Zeit der Familienphase oft nur noch in
schlecht bezahlten, berufsfremden Tätigkeiten unter-
kommen. Dazu müssen aber erst einmal Arbeitsplätze
geschaffen werden. Hier hat die Bundesregierung völlig
versagt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)


Monat für Monat steigen die Arbeitslosenzahlen. Wir
sind sehr gespannt, was der Kanzler morgen dazu sagen
wird. Aber wir brauchen nicht nur Worte, sondern end-
lich Taten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die eigenständige soziale
Sicherung ist ein Teil der Alterssicherung von Frauen.
Genauso wichtig ist die Hinterbliebenenrente. Die Ab-
senkung des Rentenniveaus durch Rot-Grün trifft die
Frauen doppelt: bei ihrer eigenen Rente und bei der Wit-
wenrente. Seit dem letzten Jahr ist die Witwenrente von
60 Prozent auf 55 Prozent abgesenkt. Das entspricht ei-
ner realen Kürzung um 8,3 Prozent. Diese Einschnitte
können auch durch die Zuschläge für Kinder nicht aus-
geglichen werden. Das gesamte Versorgungsniveau sinkt
trotzdem um bis zu 25 Prozent. Das Einfrieren des Frei-
betrags und damit die Abkopplung von der allgemeinen
Einkommensentwicklung konnte die Union im Vermitt-
lungsausschuss Gott sei Dank verhindern.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Für uns steht fest, dass auf absehbare Zeit auf die Wit-
wenrente nicht verzichtet werden kann; denn nach Ex-
pertenberechnungen wird die Rente von Frauen auch in
30 Jahren im Durchschnitt nur etwa die Hälfte der Rente
von Männern betragen. Es ist unhaltbar, dass die Auf-
wertung der Kindererziehungszeiten mit den Kürzungen
bei der Witwenrente finanziert wird. Statt Frauen stärker
zu entlasten, werden sie noch weiter belastet. Das ist un-
sozial und ungerecht, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dies gilt auch für die Förderung der Privatvorsorge,
durch die Gutverdienende bevorzugt werden. Während
eine Verkäuferin mit einem Einkommen von 15 000 Euro
eine Zulage von 155 Euro bekommt, bekommt ihr Chef
mit einem Jahreseinkommen von 50 000 Euro zusätzlich






(A) (C)



(B) (D)


Maria Eichhorn
noch einen Steuervorteil von 650 Euro. Wo ist da Gerech-
tigkeit?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Das sagt die Partei, die immer für die Progression war!)


Die Union hat in ihrer Regierungszeit die Berücksich-
tigung der Kindererziehungszeiten in der Rentenversi-
cherung eingeführt und damit den Grundstein für eine
gerechtere Alterssicherung für Frauen gelegt. Generatio-
nengerechtigkeit und soziale Verträglichkeit, das war
und ist unsere Maxime. Diese sucht man bei Ihnen ver-
gebens. Wir wollen eine Alterssicherung für Frauen, die
Altersarmut verhindert und Ungerechtigkeiten beseitigt.
Ihre Rentenreform ist bereits heute Makulatur. Trotz Re-
form steigen die Beiträge weiter an.


(Zuruf von der SPD: Wie hoch waren sie zu Ihrer Zeit?)


Daher fordern wir: Ändern Sie das Rentengesetz! Sorgen
Sie dafür, dass die Frauen nicht weiter die Verliererinnen
der Rentenreform sind!


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503109500


Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard
Schewe-Gerigk.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Die heutige Debatte über den Fünften Staatenbe-
richt der Bundesregierung zum Übereinkommen zur Be-
seitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau bietet
die Gelegenheit, die Gleichstellungssituation in unserem
Land etwas näher zu beleuchten. Alle vier Jahre muss
Deutschland dem zuständigen UN-Ausschuss über die
Entwicklung der Lebenssituation von Frauen berichten.
Ich freue mich besonders, zu unserer Debatte auch die
Vertreterinnen zahlreicher Frauenverbände zu begrüßen,
die heute auf der Tribüne Platz genommen haben. Herz-
lich willkommen!


(Beifall)


Ihre oft auch kritischen Positionen im Interesse der
Frauen sind uns ein Ansporn für unsere Arbeit.

Das CEDAW-Abkommen zur Beseitigung jeder Form
von Diskriminierung der Frau aus dem Jahr 1979 ver-
pflichtet die Bundesregierung, die Gleichberechtigung
von Mann und Frau in wirtschaftlicher, sozialer, kultu-
reller, bürgerlicher und politischer Hinsicht sicherzustel-
len. Durch die Verabschiedung des Fakultativprotokolls
ist aus diesem CEDAW-Abkommen inzwischen auch ein
rechtlich verbindliches Instrument entstanden. Seit Ja-
nuar 2002 können Frauen im Falle einer Diskriminierung
nämlich individuell Beschwerde bis hin zu den Vereinten
Nationen einlegen. Zurzeit wird in Deutschland das erste
Untersuchungsverfahren durchgeführt. Im Falle von
zehn weiblichen Angestellten in Diplomatenhaushalten
wird auf systematische Benachteiligungen hin geprüft.

Der vorliegende Fünfte CEDAW-Bericht belegt ein-
drucksvoll, welche Fortschritte in den vergangenen vier
Jahren durch die Politik der rot-grünen Bundesregierung
erzielt wurden. Diese Fortschritte waren auch dringend
nötig; denn die von CDU/CSU geführte Regierung – das
belegen die Zahlen – hatte uns 1998 eine eher miserable
gleichstellungspolitische Situation hinterlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Anders, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, kann ich die lange Mängelliste des CEDAW-Aus-
schusses zu den damals überfälligen gleichstellungspoli-
tischen Notwendigkeiten nicht erklären. Stellen Sie sich
die Kritik des Ausschusses wie einen TÜV-Bericht für
die Gleichstellungspolitik vor! Der Ausschuss hat der
damaligen Bundesregierung eine Mängelliste mit mehr
als 28 Punkten zur Erledigung ausgehändigt. Wenn Sie
mir erlauben, im Bild zu bleiben, sage ich: Was die von
CDU/CSU geführte Bundesregierung gleichstellungspo-
litisch hinterlassen hatte, konnte bestenfalls als „nicht
fahrtüchtig“ bezeichnet werden.


(Ina Lenke [FDP]: So ein Quatsch! – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Der Deutsche Frauenrat stellt ein anderes Zeugnis aus! Was haben Sie denn schon getan?)


– Es ist so! Wir haben es leider schriftlich, Frau
Eichhorn.

Die Kritik der Vereinten Nationen an der Gleichstel-
lungspolitik der von CDU/CSU geführten Regierung be-
zieht sich auf zwei zentrale Bereiche – das hört sich an-
ders an als Ihre Rede; die Medaille hat eben zwei Seiten –,
einmal den fehlenden Abbau der systematischen Diskri-
minierung von Frauen, insbesondere im Erwerbsleben,
und zum anderen die mangelhaften Maßnahmen zum
Schutz von Frauen, insbesondere Migrantinnen, vor
Gewalt.

In diesen beiden Bereichen haben wir nachhaltige
Verbesserungen erzielen können. Ich nenne nur einige:
das Elternzeitgesetz, das Teilzeitgesetz, ein Gleichstel-
lungsgesetz für den öffentlichen Dienst, gesetzliche Än-
derungen für die Erwerbsarbeit, das Lebenspartner-
schaftsgesetz, die Verbesserung der rechtlichen und
sozialen Situation von Prostituierten, das Gewaltschutz-
gesetz, der eigenständige Aufenthalt für ausländische
Ehefrauen. Ich könnte diese Liste noch verlängern. Alles
das haben wir in vier Jahren erreicht. Frau Eichhorn, das
sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir sehen es aber auch als unsere Verpflichtung an,
Frauen, die Opfer furchtbarster Menschenrechtsverlet-
zungen, etwa von Verstümmelungen, Vergewaltigungen
in kriegerischen Auseinandersetzungen und Zwangspros-
titution, werden, in Deutschland Schutz zu geben. Da-
rum beinhaltet das Zuwanderungsgesetz – heute Morgen
wurde darüber diskutiert – die Anerkennung ge-
schlechtsspezifischer und nicht staatlicher Verfolgung
nach der Genfer Flüchtlingskonvention.






(A) (C)



(B) (D)


Irmingard Schewe-Gerigk
Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen von der
Opposition, Sie haben es nicht nur während Ihrer Regie-
rungsverantwortung versäumt, etwas zum verbesserten
Schutz der Migrantinnen zu tun, sondern verhindern
noch heute dringend notwendige Reformen. Ihre feh-
lende Zustimmung im Bundesrat kann ich nur als eines
bezeichnen: als verantwortungslos. Das sieht der CE-
DAW-Ausschuss ganz genauso.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Als würde das nicht reichen, haben Sie bereits angekün-
digt, erzielte Verbesserungen der rot-grünen Regierung
wieder rückgängig zu machen. Wir werden es nicht zulas-
sen, dass künftig ausländische Ehefrauen vier Jahre in un-
zumutbaren Ehen verharren, um nicht aus Deutschland aus-
gewiesen zu werden. Das werden Sie nicht erreichen.

Ich will es überhaupt nicht verhehlen: Wir haben noch
unendlich viel zu tun, bevor wir gerade im Erwerbsle-
ben und bei der traditionellen Rollen- und Aufgabenver-
teilung eine faktische Gleichstellung von Frauen und
Männern erreicht haben. Diese Verantwortung nehmen
wir ernst. Das wissen die Frauen; darum haben sie Rot-
Grün wiedergewählt. Wir werden alles dafür tun, dass
die Lohnungerechtigkeit, die im Hinblick auf das durch-
schnittliche Frauen- und Männereinkommen besteht und
30 Prozent ausmacht, bald der Vergangenheit angehört.
Beginnend beim öffentlichen Dienst werden wir die Ta-
rifparteien auf nicht diskriminierende Tarife verpflich-
ten, wie es der Europäische Gerichtshof fordert. Ich freue
mich, dass auch die Ministerin das gerade so formuliert
hat. Die jungen Frauen, die inzwischen bessere Schul-
und Hochschulabschlüsse haben als ihre männlichen
Kollegen, lassen sich nicht länger mit 70 Prozent des
durchschnittlichen Einkommens abspeisen. Frauen wol-
len 100 Prozent. Es ist an der Zeit für Lohngerechtigkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zu Recht mahnt der CEDAW-Ausschuss aber auch
die mangelnden Anreize für die Privatwirtschaft an, ak-
tiv an der Gleichstellungspolitik mitzuwirken. Mit der
Vereinbarung mit den Spitzenverbänden der Privatwirt-
schaft ist ein Anfang gemacht. Das ist zu wenig; das wis-
sen wir. Wir werden die Erfolge prüfen und ich hoffe, es
wird Erfolge geben.


(Ina Lenke [FDP]: Was denn?)


– Dann kommen gesetzliche Regelungen, verehrte Frau
Kollegin. Aber darauf komme ich in den nächsten Sät-
zen zu sprechen. Sie sollten sich also etwas gedulden.

Weitere Maßnahmen wie die Koppelung der Vergabe
von öffentlichen Aufträgen an die Umsetzung der
Gleichstellung und Regelungen für die Privatwirtschaft
müssen bei der Umsetzung von EU-Richtlinien folgen.


(Ina Lenke [FDP]: Müssen nicht!)


Aber auch bei den Reformen des Arbeitsmarktes und der
sozialen Sicherungssysteme muss das Prinzip „Gender
Mainstreaming“ besser als bisher verwirklicht werden.
Ich nenne die für Frauen höheren Beiträge für die private

Altersvorsorge. Ich lasse nicht in meiner Forderung
nach, dass wir hier Änderungen vornehmen müssen. In
diesem Punkt kann ich Ihnen, Frau Eichhorn, zustim-
men; damit habe ich kein Problem.

Die Anmerkung des Ausschusses, stärker die notwen-
dige Verhaltensänderung von Männern in den Blick zu
nehmen, ist Rückenwind für die Position der Grünen.
Damit deutlich mehr Väter schon früh Verantwortung für
ihre Kinder übernehmen, wäre ein kurzer Vaterschaftsur-
laub sicherlich ein sehr guter Anreiz. Auch die Mahnung
des Ausschusses, die Wirkung des Ehegattensplittings
im Hinblick auf die Verfestigung von stereotypen Rollen
zu überprüfen, ist Wasser auf unsere Mühlen. Denn das
Ehegattensplitting und die Steuerklasse V haben sich als
Erwerbshindernisse für Frauen herausgestellt. Das müs-
sen wir ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Maria Eichhorn [CDU/ CSU]: Sie haben aber eine andere Meinung als die Ministerin! – Zuruf der Abg. Ina Lenke [FDP])


– Verehrte Kollegin Lenke, die FDP hat bis vor einem
Jahr in ihrem Programm die Abschaffung des Ehegatten-
splittings vorgesehen. Irgendwann ist Ihnen in den Sinn
gekommen, dass das für einzelne Personen eine Steuer-
erhöhung darstellen könnte.


(Ina Lenke [FDP]: Fragen Sie doch einmal Ihre Ministerin!)


Dann haben Sie es wieder herausgestrichen. Wir befan-
den uns lange in einem Boot.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das hatte die FDP nie in ihrem Programm!)


– Herr Thiele, ich weiß das genau.


(Nicolette Kressl [SPD]: Wahrscheinlich hat es der Herr Thiele wieder herausgenommen!)


Lassen Sie mich mit einem Zitat aus der Begründung
des CEDAW-Abkommens schließen; denn auf die Frie-
denspolitik im Zusammenhang mit Frauen bin ich über-
haupt nicht eingegangen. Wir haben gestern im Rahmen
einer Umfrage zur Kenntnis nehmen können, dass
94 Prozent der Frauen gegen einen Kriegseinsatz sind.
Auch in diesem Zitat aus dem CEDAW-Abkommen
wird auf die Friedenspolitik eingegangen. Dort heißt es:

Voraussetzung für die vollständige Entwicklung ei-
nes Landes, für das Wohlergehen der Welt und für
die Sache des Friedens ist die größtmögliche und
gleichberechtigte Mitwirkung der Frau in allen Be-
reichen.

Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503109600


Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.






(A) (C)



(B) (D)


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1503109700


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
komme gern auf die Rede meiner Kollegin von den Grü-
nen zurück. Sie hat ja auf das Steuerrecht abgehoben. Zu
diesem Bereich können Sie sich ja einmal untereinander
aussprechen. Denn die Ministerin hat, während Sie von
den Grünen gesagt haben, dass Sie in diesem Bereich et-
was tun wollen, in einer Veröffentlichung ausgeführt,
dass das Ehegattensplitting nicht abgeschafft wird.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Recht hat sie! – Zuruf von der CDU/CSU: Das unterstützen wir!)


In den letzten vier Jahren habe ich festgestellt, dass nur
sehr wenige Ideen von den Grünen hier im Bundestag
umgesetzt wurden.


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich freue mich – das möchte ich vorab sagen –, Frau
Ministerin, dass Sie in Ihrer Rede – das haben wir in den
letzten vier Jahren gefordert – darauf eingegangen sind,
dass wir die Lohnsteuerklasse V endlich abschaffen
müssen. Es handelt sich hier um eine faktische Benach-
teiligung, nicht aber um eine rechnerische.


(Renate Schmidt, Bundesministerin: Das ist sie aber schon länger!)


– Nein, das habe ich hier im Bundestag zum allerersten
Mal von Ihnen gehört. Das hat nie auf der Agenda von
SPD und Grünen gestanden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja unglaublich!)


Auch wir werden eigene Vorschläge machen. Dann wol-
len wir einmal sehen, ob es hier im Bundestag eine
Mehrheit zur Abschaffung der Steuerklasse V geben
wird.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das steht im Koalitionsvertrag!)


Meine Damen und Herren, nun möchte ich zum aktu-
ellen Tagesordnungspunkt, dem Fünften Bericht zum
Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung
jeder Form der Diskriminierung der Frau, kommen. Hier
erfüllt die Bundesregierung grundsätzlich ihre Berichts-
pflicht


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber wie, aber wie!)


und legt uns auch eine nützliche Datensammlung vor.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Daten sind
wenig erfreulich. Ihr Bericht verweist auf die vielfältige
Benachteiligung von Frauen in Deutschland und liefert
unzählige Belege dafür. Aus dieser Verantwortung kön-
nen Sie sich nicht stehlen. Denn Sie sind bereits ein hal-
bes Jahrzehnt an der Regierung


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, das ist aber fünf Jahre zu lang!)


und haben Ihre Aufgabe nicht so hundertprozentig erfüllt,
wie die Jubelarien meiner Kollegin von den Grünen, Frau
Schewe-Gerigk, das heute sichtbar machen sollten.

Spannend ist, was in diesem Bericht nicht gesagt
wird,


(Zuruf von der FDP: Ja, das ist richtig!)


was untergeht und was falsch verstanden werden muss.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wohl war!)


So listet die Bundesregierung in ihrer Analyse zwar ge-
wissenhaft die eigenen und fremden Aktivitäten zur Be-
seitigung der Diskriminierung von Frauen auf. Aber auf
bestehende eklatante Defizite kommen Sie, Frau
Schmidt, in Ihrem Bericht nicht zu sprechen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wird einfach ausgeblendet!)


In der Summe entspricht der Bericht der Bundesregie-
rung meines Erachtens somit nicht dem Alltag der
Frauen in Deutschland. Ich meine, er ist geschönt.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig! Leider wahr!)


Deswegen hat die FDP-Fraktion einen eigenen Ent-
schließungsantrag zu dem CEDAW-Bericht einge-
bracht, über den wir ja auch demnächst in einer öffentli-
chen Ausschusssitzung beraten werden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ein guter Ansatz!)


Wir wollen damit in entscheidenden Punkten die wahren
Situationen und Zusammenhänge aufzeigen. In unserem
Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, diese Defi-
zite zügig zu beseitigen.


(Beifall bei der FDP)


Sie haben uns im Boot, wenn Sie darauf liberale, nicht
nur soziale und grüne Antworten geben.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen das Soziale sind Sie scheinbar! Das habe ich schon gemerkt!)


Ich möchte in meinem Beitrag auf die dramatische
Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und in der
Wirtschaft in Deutschland zurückkommen. Bei über
4,7 Millionen Arbeitslosen sind die Chancen für Frauen,
eine unbefristete, existenzsichernde Vollzeitstelle zu fin-
den, so schlecht wie nie. Die Zusammenhänge zwischen
verfehlter Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik und Be-
nachteiligungen von Frauen verschweigt der Bericht ge-
flissentlich;


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist aber offenkundig!)


denn es ist ja ein Bericht der Bundesregierung. Die ge-
stiegene Erwerbstätigenquote von Frauen wird gelobt.
Jedoch wird nicht deutlich gemacht, dass zwar mehr
Frauen arbeiten, aber nur in Teilzeit und nicht in Vollzeit.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oder sie sind geringfügig beschäftigt!)







(A) (C)



(B) (D)


Ina Lenke
Die Bundesregierung fördert diese Entwicklung, in-
dem sie zwar gesetzliche Ansprüche auf Teilzeitbeschäf-
tigung schafft, aber nicht für die nötige Kinderbetreuung
sorgt.

Ich möchte auf die Vorgängerin von Ministerin
Schmidt zu sprechen kommen, die im letzten halben Jahr
der vergangenen Legislaturperiode einen Betreuungsgip-
fel vorgeschlagen hat. Dieser Betreuungsgipfel hat nicht
stattgefunden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum eigentlich?)


Jetzt verspricht uns die neue Ministerin wiederum einen
Betreuungsgipfel. Wollen wir einmal abwarten, was das
Ergebnis dieses Betreuungsgipfels sein wird!


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wird wieder nichts!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503109800


Gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1503109900


Ja, gerne.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber bitte ohne Sprechzettel!)



Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1503110000


Frau Lenke, Sie haben gerade die Situation von
Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die Regelungen zur
Teilzeitarbeit angesprochen. Ich möchte Sie fragen, ob
Sie die Zahlen über die Verteilung von Vollzeitbeschäfti-
gung und Teilzeitbeschäftigung bei Frauen kennen. Wir
haben in der Tat bei den Vollzeitbeschäftigten einen
Rückgang von 98 000 zu verzeichnen, aber auf der ande-
ren Seite – das ist entscheidend – haben wir über
900 000 teilzeitbeschäftigte Frauen mehr. Das heißt also:
neunmal mehr beschäftigte Frauen durch Teilzeitjobs.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sind die geringfügig Beschäftigten darin enthalten? Sie sind darin!)


Von daher war unser Gesetz, mit dem wir die Teilzeitre-
gelung geschaffen haben, durchaus richtig. Kennen Sie
diese Zahlen oder kennen Sie sie nicht? Das würde ich
gerne wissen.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1503110100


Frau Humme, Sie geben mir eine sehr gute Gelegen-
heit darauf hinzuweisen, dass Sie Ihre Statistik bei der
Zahl der geringfügig Beschäftigten geschönt haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)


Früher, als die geringfügig Beschäftigten noch pauschal
Lohnsteuer gezahlt haben, waren sie in dieser Berechnung
nicht enthalten. Ich glaube, 400 000 – Herr Kolb, ist das
so? –, jedenfalls mehrere hunderttausend Beschäftigte,

sind durch die Umstellung von der pauschalen Lohnsteuer
hin zur pauschalen Abführung an die Sozialversicherung
mit in diese Statistik gekommen. Wenn Sie diese Zahlen
herausrechnen, sieht die Statistik längst nicht mehr so gut
aus, wie Sie mir hier weismachen wollen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich will die Diskussion hier nicht verlängern. Wir kön-
nen uns gern im Ausschuss darüber unterhalten. Dann
kann ich Ihnen genau sagen – die Zahlen sind auch in
unserem Antrag enthalten –, dass diese Quoten nur we-
nig gestiegen sind.

Wir sind ja gar nicht so weit auseinander, aber liberale
Ansätze sind halt andere als die der SPD.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Gott sei Dank!)


Wir meinen, es sind auch erfolgreiche Ansätze. Bei uns
wären die Arbeitslosenzahlen nicht so hoch gestiegen
und sie würden nicht noch mehr steigen, wenn wir an der
Regierung wären.


(Nicolette Kressl [SPD]: Wie waren sie denn 1998? – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange war denn die FDP mit in der Regierung?)


Ich meine, dass die Bundesregierung die Entwicklung
hinsichtlich der Teilzeitbeschäftigung fördert, weil die
Kinderbetreuung fehlt. Ich hoffe, dass die Regierung
sich endlich mit den Ländern zusammensetzt und die
Voraussetzungen für vielfältige Formen der Kinderbe-
treuung schafft. Ich denke nicht nur an staatliche Kinder-
betreuung, sondern zum Beispiel auch an Tagesmütter
und private Angebote.


(Kerstin Griese [SPD]: Tun wir doch!)


– Ja, aber in den letzten Jahren ist nichts von Ihnen ge-
kommen, Sie haben nur darüber geredet.

Meine Damen und Herren, die hohe Arbeitslosigkeit
wirkt sich nicht nur materiell auf Frauen aus, jedes Pro-
zent der Arbeitslosigkeit dreht auch das Rad der Gleich-
berechtigung von Frauen wieder ein Stück zurück.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!)


Frau Ministerin, Sie haben am Anfang Ihrer Rede ge-
sagt, dass Sie mit der Situation der Frauen in unserem
Land nicht voll zufrieden sind und dass es noch vieles zu
verändern gibt. Ich denke dabei an die Verfehlungen und
die Untätigkeit Ihrer Regierung in Bezug auf den Ar-
beitsmarkt, die Steuergesetze und die Wirtschaftsgesetze
und nenne als Beispiel den Rechtsanspruch auf Teilzeit-
arbeit. Wenn Frau Schewe-Gerigk jetzt auch noch ein
Gleichberechtigungsgesetz für die Wirtschaft ankün-
digt, kann ich Ihnen nur sagen: Damit werden wir nicht
mehr Frauen in Arbeit bekommen, Frau Schewe-Gerigk.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ich glaube, durch ein solches Gesetz wird es mehr Um-
gehungstatbestände geben, als dass es überhaupt etwas
bringt.






(A) (C)



(B) (D)


Ina Lenke
Ich komme jetzt zu den Frauen als stiller Reserve. Ich
glaube, dass viele Frauen wegen der hohen Arbeitslosig-
keit gar nicht mehr den Mut haben, ihre Arbeitskraft auf
dem Arbeitsmarkt anzubieten. Deshalb tauchen sie in der
Arbeitsmarktstatistik nicht mehr auf. Das wollen wir
nicht. Die nachhaltige Integration von Frauen in allen
gesellschaftlichen Bereichen und besonders in der Ar-
beitswelt ist entscheidend für die Zukunftsfähigkeit un-
seres Landes.

Ich möchte zu einer Gemeinsamkeit zurückkommen.
Wir haben ein gemeinsames frauenpolitisches Ziel und
ich denke, wir sollten trotz unterschiedlicher Ansätze
versuchen, dieses Ziel in der Realität umzusetzen. Die
Potenziale von Frauen – ich komme zum Schluss, Frau
Präsidentin –, ihr Wille und ihre Fähigkeit, ihr Leben ei-
genverantwortlich für sich und die Familie zu gestalten,
müssen durch kluge Politik befördert werden. Ich meine,
durch eine bessere Politik als die jetzige. Geben Sie sich
einen Ruck, sehen Sie sich auch die liberalen Konzepte
an. Ich denke, dann werden wir gemeinsam in diesem
Parlament etwas für Frauen tun können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Fakten von 1998 sprechen aber eine andere Sprache!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503110200


Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Humme.


Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1503110300


Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-
nen! Auch ich möchte es nicht versäumen, die Vertrete-
rinnen der Frauenverbände, die oben auf der Tribüne sit-
zen, herzlich im Bundestag willkommen zu heißen. Ich
hoffe, dass wir ihnen heute eine Diskussion liefern – um
mit dem Schlusswort von Frau Lenke zu sprechen –, aus
der deutlich wird, welche Frauenpolitik hier im Bundes-
tag gemacht wird.

Der Fünfte Staatenbericht, über den wir heute reden,
ist gleichzeitig der erste dieser rot-grünen Bundesregie-
rung. Er stellt eine hervorragende Bestandsaufnahme zu
Beginn der 15. Legislaturperiode dar – kein Schönreden,
wie Sie gerade gesagt haben – und ermuntert uns, unsere
erfolgreiche Gleichstellungspolitik fortzusetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich weiß: Vier Jahre sind nach 16 Jahren gleichstellungs-
politischer Durststrecke äußerst wenig. Wir haben diese
vier Jahre aber genutzt, um umzusteuern und unsere Po-
litik den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen.

2001 waren 931 000 Frauen – das sind fast 1 Million
Frauen – mehr erwerbstätig als 1997. Die Zahl der er-
werbstätigen Frauen hat sich seit der Vorlage des Vierten
Staatenberichts deutlich erhöht; sie liegt jetzt bei
58,8 Prozent. Das zeigt deutlich, dass Frauen eine glei-
che Teilhabe am Erwerbsleben wollen. Die konserva-

tive Politik des Entweder-oder, das heißt, sich zwischen
beruflichem Erfolg und Familienglück entscheiden zu
müssen, hat uns ganz eindeutig in die Sackgasse geführt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])


Ich denke, das ist ein Skandal. Wir wollen das, was in
anderen europäischen Ländern schon selbstverständlich
ist, nämlich die Freiheit, sich für Familie und Beruf ent-
scheiden zu können. Das nenne ich echte Wahlfreiheit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, junge Frauen sind
den Männern bereits eine Nasenlänge voraus, wenn es
darum geht, die Grundlagen für erfolgreiches Berufsle-
ben zu legen. 55 Prozent aller Abiturzeugnisse werden
zum Beispiel an junge Frauen gegeben. Dafür werden
sie mittlerweile auch im Job belohnt; denn Frauen bis
30 Jahre sind – das bestätigt der Bericht – ebenso häufig
in Führungspositionen anzutreffen wie ihre männlichen
Kollegen. Das ist eine kleine Sensation. Also: Alles in
Ordnung in der gleichstellungspolitischen Welt? – Ich
denke: mitnichten. Berufliche Diskriminierung aufgrund
verfestigter Rollenmuster ist für die Mehrheit der Frauen
nach wie vor die bittere Realität. Das sagt uns der Be-
richt ebenfalls. Diese Rollenmuster zu überwinden war
und ist unsere Daueraufgabe.

Vieles von dem, was der CEDAW-Ausschuss noch
1998 in diesem Zusammenhang anmahnte, haben wir
umgesetzt. Ich nenne die Schaffung eines Rechtsanspru-
ches auf Teilzeit, Öffnung der Bundeswehr für Frauen,


(Ina Lenke [FDP]: Das haben wir schon seit langer Zeit gefordert!)


Berücksichtigung der Frauenbelange im Betriebsverfas-
sungsgesetz, Flexibilisierung der Elternzeit sowie die
Schaffung von Programmen zur Förderung der Frauen in
Wissenschaft und Lehre und zur Erweiterung des Be-
rufswahlspektrums von Mädchen. Ich könnte diese Liste
noch beliebig fortführen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie sehen: Der Abbau von Beschäftigungshemmnissen
für Frauen zieht sich wie ein roter Faden durch alle Poli-
tikfelder. Das ist gelebtes Gender Mainstreaming.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Aber es bleibt natürlich noch viel zu tun. Vollzeitbe-
schäftigte Frauen verdienten im Vergleich zu vollzeitbe-
schäftigten Männern im Jahr 2002 ganze 30 Prozent weni-
ger. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Frau
Eichhorn, das ist der eigentliche Grund, warum die Höhe
der Renten so unterschiedlich ausfällt: Es gibt nämlich zu
wenige gut bezahlte, vollzeitbeschäftigte Frauen. Deshalb
gibt es so viele Probleme beim Erwerb eines eigenen Ren-
tenanspruchs. Das Ergebnis heute hat seine Ursache noch in
Ihrer Regierungszeit. Das muss man eindeutig festhalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Christel Humme
Wir werden, was die Entlohnung angeht, mit gutem
Beispiel vorangehen. Denn es gilt, den Bundesangestell-
tentarif auf Fallstricke für Frauen zu untersuchen. Wich-
tig ist – das wurde gerade erwähnt – auch die Überprü-
fung der Steuerklasse V. Wenn vom Bruttoeinkommen
kaum etwas übrig bleibt, ist das für Frauen kein Anreiz
zur Arbeitsaufnahme.


(Ina Lenke [FDP]: So ist es!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, genauso zentral wie
der Abbau von Beschäftigungshemmnissen für Frauen
ist der Abbau von Erziehungshemmnissen für Väter. Be-
ruf und Familie, das muss wie selbstverständlich auch
ein Männerthema sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deshalb gehen wir davon aus, dass die freiwillige Ver-
einbarung zur Förderung der Chancengleichheit von
Frauen und Männern in der Privatwirtschaft, die zwi-
schen der Wirtschaft und der Bundesregierung getroffen
wurde, bis Ende 2003 zu Ergebnissen führt. Auch wir als
Gesetzgeber werden handeln und die EU-Gleichstel-
lungsrichtlinie in nationales Recht umsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber der entscheidende Hemmschuh für die gleiche
Teilhabe von Männern und Frauen am Erwerbsleben ist
nach wie vor, dass Möglichkeiten zur Kinderbetreuung so-
wie Ganztagsschulen fehlen. Darin besteht zwischen uns
Einigkeit, Frau Lenke. Ich bin dankbar, dass die Bundes-
regierung mit den Programmen zum Ausbau von Ganz-
tagsschulen und von Betreuungseinrichtungen für Kin-
der bis zu drei Jahren hier die Weichen richtig stellt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


An dieser Stelle richte ich meinen Dank an die Ministe-
rinnen Renate Schmidt und Edelgard Bulmahn, die ge-
rade diese Programme ganz besonders stark unterstützen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Paradigmen-
wechsel – es ist ja einer – bedeutet für die Zukunft eine hö-
here Frauenerwerbstätigkeit, mehr Beschäftigung im
Dienstleistungssektor und bessere Chancen für Allein-
erziehende, aus der Armutsfalle zu kommen. Vielleicht
werden auch in Deutschland wieder mehr Frauen Ja zu ei-
nem Kind sagen. Nur so gelingt uns eine nachhaltige Lö-
sung der Probleme unserer sozialen Sicherungssysteme
und nur so werden wir, genauso wie in den anderen euro-
päischen Staaten, den demographischen Wandel meistern.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung geht
bei einem konsequenten Ausbau der Bildungseinrichtun-
gen für Kinder von mehr als 100 000 zusätzlichen Ar-
beitsplätzen allein für Erzieherinnen und Erzieher aus.
Sie sehen: Unser Programm für Betreuung ist auch ein
Programm für Bildung und Beschäftigung.

Ich freue mich sehr, dass es auch in den unionsgeführ-
ten Ländern immer mehr Kolleginnen und Kollegen gibt,

die das genauso sehen und deshalb beim Programm zum
Ausbau der Ganztagsschulen mitmachen möchten. Las-
sen Sie uns hier endlich zusammen handeln. Die Frauen
in Deutschland erwarten das von uns.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503110400


Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Grübel.


Markus Grübel (CDU):
Rede ID: ID1503110500


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich rede heute bewusst als männliches Mitglied meiner
Fraktion und offensichtlich auch als einziger Mann über-
haupt in dieser Debatte zum Fünften Bericht.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Für mich ist die Gleichstellung eine Aufgabe, die
Frauen und Männer gleichermaßen betrifft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Bildlich gesprochen: Wenn eine Seite stehen bleibt, wird
es verhältnismäßig schwierig und es wird lange dauern,
bis beide Seiten wieder zusammen sind. Schneller wird
es gehen, wenn beide Seite aufeinander zugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Gleichstellungspolitik ist für mich daher nicht nur Frau-
enpolitik, sie muss auch die Männer gewinnen. Eine gute
Gleichstellungspolitik hat Frauen und Männer im Blick.
Meines Erachtens kommt diese Blickrichtung im vorge-
legten Bericht etwas zu kurz. Ich möchte dies an einigen
Beispielen darstellen:

Bezogen auf den Bereich der Gleichstellung von
Frauen und Männern im Berufsleben wird im Bericht
dargestellt, wie sich der Frauenanteil in so genannten
Männerberufen entwickelt hat. Zum Beispiel wird darge-
stellt, dass sich der Anteil der selbstständigen Unterneh-
merinnen zwar im letzten Jahr nicht erhöht hat, dass er
aber von 1991 bis 2001 um immerhin 2 Prozent auf
28 Prozent gestiegen ist. Meiner Meinung nach fehlt im
Bericht die Betrachtung der anderen Seite. Wie hat sich
die Zahl der Männer in so genannten Frauenberufen ent-
wickelt?

Es ist sicherlich sehr begrüßenswert, dass Mädchen
auch in technische Berufe oder in den naturwissenschaft-
lichen Bereich gehen und dass sie dort gefördert werden.
Doch warum fordert die Gesellschaft männliche Abitu-
rienten nicht in gleichem Maße dazu auf, Sozialpädago-
gik zu studieren oder Grundschullehrer zu werden?


(Beifall bei der CDU/CSU – Christel Humme [SPD]: Gute Frage!)







(A) (C)



(B) (D)


Markus Grübel
Warum machen fast keine jungen Männer, die mit Kindern
gut umgehen können, eine Ausbildung zum Erzieher?


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das möchten wir auch mal wissen!)


Nach wie vor stellen Geschlechterbilder ein großes
Hindernis dafür dar, dass Menschen gemäß ihren Fähig-
keiten und Talenten etwa in Unternehmen oder sozialen
Einrichtungen tätig sind. Potenziale und Kompetenzen
bleiben auf diese Weise ungenutzt.

Die so genannten Männerberufe sind auch aus Sicht
eines Mannes nicht das Maß aller Dinge. Da im Fünften
Bericht nur dargestellt wird, wie viele Frauen in Män-
nerberufe gehen, wird in den Köpfen der Menschen
weiterhin das Vorurteil bestehen bleiben, dass die so ge-
nannten Frauenberufe weniger wert sind. Das hat dann
auch Auswirkungen auf die gleiche Bezahlung von
Frauen und Männern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht aber auch drin!)


Hätten wir in Zukunft mehr Grundschullehrer und Er-
zieher, hätte dies auch noch einen anderen Vorteil für
Jungen und Mädchen: Sie würden mit einem neuen
Frauen- und Männerbild groß werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein stärkeres Engagement von Männern in so genannten
Frauenberufen ist aber auch für viele Frauen eine Heraus-
forderung.


(Lachen der Abg. Christel Humme [SPD])


– Entschuldigung, wenn ich Sie getroffen haben sollte.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Eine Studie aus Schweden hat ergeben, dass männliche
Erzieher überdurchschnittlich oft Mobbing durch Kolle-
ginnen ausgesetzt sind, dass diese Kolleginnen Erzieher
als unmännlich betrachten und ihnen gleichzeitig fach-
liche Kompetenz absprechen. Ich kann Ihnen diese Stu-
die zur Verfügung stellen. Wir müssen also beide Seiten
sehen, um das Ganze zu betrachten.

In dem Teil des Berichts über die Beteiligung von
Frauen am politischen und öffentlichen Leben wird bei-
spielhaft dargestellt, dass der Anteil der Frauen in der
Arbeitsgruppe Frauenhandel sehr groß ist. Dieses Gre-
mium wurde 1997 von der unionsgeführten Bundesre-
gierung eingerichtet. Diese Arbeit ist sehr gut und wich-
tig. Dennoch muss zumindest die Frage erlaubt sein, ob
ein möglichst hoher Frauenanteil wirklich ein Erfolg ist.
Denkbar wäre sicherlich auch, dass es für die Beseiti-
gung von Diskriminierung und für die Gleichstellung gut
wäre, wenn Frauen und Männer in solchen Gremien
gleichermaßen zusammenarbeiten.

Entsprechendes gilt auch für viele soziale Bereiche.
Man kann natürlich den hohen Frauenanteil als Erfolg
darstellen. Man muss aber aus meiner Sicht eher bekla-
gen, dass es viel zu wenig Männer im sozialen Bereich
gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber auch beim zuständigen Bundestagsausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend muss die Frage er-
laubt sein, ob es unter dem Gesichtspunkt der Gleichstel-
lung sinnvoll ist, dass sich zum Beispiel bei den Grünen
dem Thema Familie, Senioren, Frauen und Jugend nur
Frauen widmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch bei der SPD sind die Männer deutlich in der Min-
derheit.


(Ina Lenke ner und Frauen!)


– Die FDP ist bei den ordentlichen und stellvertretenden
Mitgliedern vorbildlich.


(Beifall bei der FDP)


Nach meinem Geschmack werden die Männer in die-
sen Fraktionen zu stark aus ihrer Verantwortung und ih-
rer Mitarbeit entlassen. In der CDU/CSU sind gleichzei-
tig starke Frauen und starke Männer in diesem Bereich
tätig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das zeigt auf, welch hohen Stellenwert die Gleichstel-
lungspolitik für uns Unionsmänner hat.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503110600


Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Winkler?


Markus Grübel (CDU):
Rede ID: ID1503110700


Ja.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503110800


Bitte.


Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503110900


Sehr geehrter Kollege Grübel, ist Ihnen bekannt, dass
die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen seit
etlichen Jahren die Fraktion mit dem höchsten Frauen-
anteil ist, nämlich weit über 60 Prozent, und dies dazu
beitragen könnte, dass in einem Arbeitsgebiet, egal wel-
cher Art, zufällig nur Frauen sind? Würden Sie auch in
Betracht ziehen, eine solche Quote auch in Ihrer Fraktion
anzustreben?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Markus Grübel (CDU):
Rede ID: ID1503111000


Meine erste Anmerkung, Herr Kollege: Die Zahlen
sind, wie sie sind. Meine zweite Anmerkung: Die CDU/
CSU hat eine Frau als Fraktionsvorsitzende und eine
Frau als Bundesvorsitzende. Wenn man sich die Medien-
anteile ansieht, stellt man fest, dass die Frauen dort bei
uns sehr stark vertreten sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eine dritte Anmerkung: Wenn Ihre Fraktion bereits über
einen Frauenanteil von 60 Prozent verfügt, ist es umso
erstaunlicher, dass sich für den Bereich Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend nicht ein Mann findet, der bereit
ist, dort mitzuarbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Allein die zahlenmäßige Überlegenheit müsste es er-
zwingen, dass wenigstens ein einziger Mann das Thema
als so wichtig empfindet, dass er in diesem Bereich mit-
arbeitet.


(Ina Lenke [FDP]: 1 : 0 für Sie!)


Frau Ministerin Renate Schmidt, ich möchte auch et-
was zu Ihrem Ministerium sagen. Der Blick in das Orga-
nigramm zeigt, dass Belange der Gleichstellung in Ihrem
Ministerium reine Frauensache sind. Wenn ich die Na-
men im Organigramm richtig gelesen habe, besteht die
Abteilung 4 ausschließlich aus Frauen. Ich hielte es für
richtig, für diese Aufgabe der Gleichstellung auch Män-
ner zu gewinnen. Ich sehe ein, dass dort Frauen in Füh-
rungspositionen tätig sind, aber es müsste auch möglich
sein, wenigstens einen Mann in der ganzen Abteilung
aufzutreiben, der ein Referat leitet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Wie heißt der Staatssekretär?)


– Die Parlamentarischen Staatssekretärinnen sind sicher-
lich beide Frauen.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass Männer zu leicht
aus der gemeinsamen Verantwortung entlassen werden.
Wir wollen den Bericht am 2. April im Ausschuss disku-
tieren. Die vorläufige Liste der einzuladenden Verbände
zu dieser Sitzung weist alles auf, was in Deutschland im
Bereich von Frauenorganisationen Rang und Namen hat.
Von den Frauenorganisationen der Parteien bis hin zur
eingetragenen Genossenschaft „Weiberwirtschaft“ sind
70 Verbände aufgefordert, an der Sitzung teilzunehmen.
Es mag sein, dass in dieser Runde schnell Einigkeit her-
zustellen ist. Für mich wäre es aber sinnvoll, wenn
Gleichstellungsthemen breiter in die gesellschaftlichen
Gruppen getragen werden, sonst bleiben Gleichstel-
lungspolitikerinnen und -politiker und Frauenverbände
in einer Nische unter sich.

Frauen und Männer sollten sich an der Erziehung der
Kinder und an der Hausarbeit gleichermaßen beteiligen.
Diesen Satz kann mit Sicherheit jeder unterschreiben.
Eltern sollten die Möglichkeit haben, frei zu entschei-
den, wer in welchem Umfang berufstätig und wer für die
Erziehung und Hausarbeit zuständig ist. Voraussetzung

hierfür ist aber auch eine angemessene finanzielle Aus-
stattung der Familien und ein ausreichendes Betreu-
ungsangebot.


(Zuruf von der SPD: Das haben Sie ja vorgemacht!)


Bessere Betreuungsangebote können nur gemeinsam mit
den Kommunen und Ländern erreicht werden. Die Tatsa-
che, dass die Kommunen kein Geld haben, ist das größte
Hindernis bei dem Ausbau der Betreuungseinrichtungen.
Wir dürfen gespannt sein, wann und wie die Bundesre-
gierung hier tätig wird.


(Zuruf von der SPD: Guck einmal in die Verfassung!)


– Die Finanzausstattung ist auch Sache des Bundes.


(Zuruf von SPD: Die Kommunen sind am schlechtesten ausgestattet!)


Bei der Lektüre des umfangreichen Fünften Berichts
der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen
der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau fällt auf, dass ein wichtiger
Bereich fast vollständig fehlt, nämlich das Thema der
Gleichstellung von Frauen und Männern mit Migrations-
hintergrund. Das wundert mich schon allein deshalb,
weil die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung
gleichzeitig Parlamentarische Staatssekretärin im Minis-
terium ist.

Der Botschafter der Türkei hat uns in dieser Woche
eine Broschüre zur Integration der Türken in Deutsch-
land vorgelegt. Dort wird dargestellt, dass bei über
40 Prozent der Ehen die Frau aus der Türkei zugezogen
ist. Dies hat ganz erhebliche Auswirkungen auf die Inte-
gration und die sprachliche Kompetenz insbesondere der
Kinder. Dies hat aber auch ganz erhebliche Auswirkun-
gen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern mit
Migrationshintergrund. Möglicherweise ist das Aus-
druck eines traditionellen Rollenverständnisses junger
türkischer Männer, auch wenn sie schon längere Zeit in
Deutschland leben.

Dieser Bereich sollte von Ihrem Ministerium ausführ-
lich beleuchtet werden.

Abschließend möchte ich klar sagen: Gleichstellung
funktioniert nur, wenn Frauen und Männer gleicherma-
ßen daran arbeiten. Dazu fordern wir Sie alle auf!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503111100


Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1503111200


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor 24 Jahren ist das internationale Übereinkommen zur
Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau in
Kraft getreten. Die Bundesrepublik Deutschland trat ihm
nach nur sechs Jahren bei. Das war am Beginn der Ära
Kohl. Nach Jahren konservativer Frauenpolitik gab es
1998 einen Regierungswechsel. Die Neuen versprachen






(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau
Besserung. Sie verhießen, die Auswirkung aller Gesetze
und Maßnahmen auf die Geschlechter zu prüfen, und sie
gelobten, Benachteiligungen von Frauen zu verhindern
und vorhandene Benachteiligungen abzubauen. Das hat
die PDS begrüßt, weil es modern, europäisch und frau-
enfreundlich ist.

Ich räume gerne ein: Nach fünf Jahren Rot-Grün gibt
es etwas auf der Habenseite: das Gewaltschutzgesetz,
das Kinderrechteverbesserungsgesetz oder die Änderung
des Bundeserziehungsgeldgesetzes. Es geht um weniger
Gewalt gegen Frauen, um mehr Rechte für Kinder und
um Mittel für die Erziehung. Die PDS hat das nicht im-
mer im Detail, aber in der Richtung begrüßt.

Nun komme ich aber zur Sollseite, zu den Defiziten
– sie sind zum Teil gravierend – von Rot-Grün:

Beispiel eins: Lohngleichheit von Frauen und Män-
nern. Noch immer erhalten Frauen keinen gleichen Lohn
für gleiche oder gleichwertige Arbeit. Frauen im Westen
erhalten 75 Prozent und Frauen im Osten 94 Prozent der
vergleichbaren Männereinkommen. Sie werden darauf
verweisen, dass die Differenz abnimmt. Ich sage Ihnen:
Bei gleich bleibender Entwicklung können die Frauen
im Osten in 30 Jahren und die Frauen im Westen in
160 Jahren mit gleichen Löhnen wie ihre Kollegen rech-
nen. Ich finde, das ist etwas sehr spät.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Die Bundesregierung verweist in diesem Zusammen-
hang gerne auf die Tarifautonomie. In anderen Bereichen
tut sie das nicht. Sie haben aber Recht: Auch die Ge-
werkschaften sind für diesen Zustand verantwortlich.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Eines können Sie mir aber nicht erklären: Weshalb sind
im Jahre 13 der Einheit die Frauen im Westen noch im-
mer doppelt diskriminiert?

Zweites Beispiel: Hartz. Ich habe hier schon mehr-
fach darauf hingewiesen, dass die so genannten Hartz-
Regelungen für die neuen Bundesländer, aber auch für
die strukturschwachen Regionen in den alten Bundeslän-
dern Gift sind. Besonders katastrophal sind die Aus-
wirkungen auf Frauen. Das Lohndumping in frauenspe-
zifischen Berufen boomt. Sozialversicherungspflichtige
Teilzeit- und Vollzeitstellen werden durch geringfügige
Beschäftigungsverhältnisse verdrängt.

Dasselbe trifft übrigens auch für die Mittel der Ar-
beitsförderung zu. Sie streichen sie um Milliarden zu-
sammen und wieder sind Frauen im Osten und in struk-
turschwachen Regionen im Westen die ersten Opfer.

Drittes Beispiel: die Gesundheitsreform. Die Debatte
über diese Reform ist im Gange. Ich finde es bemerkens-
wert, dass dabei frauenspezifische Aspekte kaum eine
Rolle spielen, obwohl wir doch in diesem Ressort eine
Ministerin haben. Dabei wäre eine qualitativ bessere
Gesundheitsversorgung von Frauen, insbesondere von
Migrantinnen, dringend geboten. Deshalb sollte die Ver-
sorgung von Migrantinnen möglichst schnell in das Ge-

sundheitssystem integriert und keine Forschung und Er-
probung von Medikamenten erlaubt werden, wenn diese
nicht geschlechtsspezifisch angelegt ist. Außerdem ist
eine Aufklärungskampagne des Gesundheitsministeri-
ums zur Hormonersatztherapie dringend notwendig, um
das ihr innewohnende Risiko der Neuerkrankung an
Brustkrebs zu senken.

Ich gebe zu: Mir fällt es als Mitglied einer parlamen-
tarischen Gruppierung, die zu 100 Prozent aus Frauen
besteht, leicht, mich so zu diesen Themen zu äußern. Wir
sollten aber parteiübergreifend dafür sorgen, dass der
nächste Bericht noch positiver ausfällt. Das gilt insbe-
sondere, wenn wir über den bundesdeutschen Tellerrand
hinausblicken.

Im vergangenen Jahr hat sich die Lage der Frauen in
der Welt verschlechtert. Immer mehr Frauen und Kinder
sind Opfer von Krieg und Gewalt geworden. Auch daran
sollten wir in den aktuellen außen- und innenpolitischen
Auseinandersetzungen denken. Vielleicht sollte Frau
Merkel noch einmal darüber nachdenken, welche Aus-
wirkungen ihre Außenpolitik auf die Lage der Frauen
zum Beispiel im Irak hat.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503111300


Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kerstin Griese.


Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1503111400


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir ziehen heute eine Bilanz der Frauenpolitik und ich
will aus der Sicht der Generation junger Frauen etwas
dazu sagen, was sich verändert hat und was wir von der
Politik erwarten.

1994 lautete das Motto der Aktionen der sozialdemo-
kratischen Frauen: „Die Hälfte des Himmels, die Hälfte
der Erde, die Hälfte der Macht“. Inzwischen haben die
Frauen die Hälfte des Kabinetts erobert. Das ist ein No-
vum. Denn so viel Frauenpower gab es noch nie in einer
Regierung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit der Bundesfrauenministerin Renate Schmidt gibt
es insgesamt sechs Ministerinnen sowie viele Staatsse-
kretärinnen und Staatsministerinnen.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Die Männer glänzen durch Abwesenheit!)


Das begrüße ich deshalb, weil eine Forderung zur selbst-
verständlichen Realität geworden ist: Frauen wollen die
Hälfte der Macht.

Im Parlament ist bei einigen Fraktionen noch Nach-
holbedarf zu verzeichnen. Herr Grübel, ich stimme Ih-
nen zu, dass Frauen und Männer gleichermaßen zu betei-
ligen sind. Ich lade auch alle Männer sehr herzlich in






(A) (C)



(B) (D)


Kerstin Griese
unseren Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und
Jugend ein. Sie lade ich zum Karneval in meinen Wahl-
kreis ein; aber das ist ein anderes Thema.


(Heiterkeit bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503111500


Zu was laden Sie ihn ein?


(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das war sehr ernst, was Herr Grübel gesagt hat!)



Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1503111600


In den Fraktionen des Bundestags sieht es sehr unter-
schiedlich aus. Während der Frauenanteil in der SPD-
Fraktion bei über 35 Prozent liegt, beträgt er in der
CDU/CSU-Fraktion weniger als 23 Prozent und in der
FDP-Fraktion etwa 25 Prozent. Da muss sich schon noch
etwas tun.


(Ina Lenke [FDP]: Wir haben jetzt wieder eine mehr!)


Frauen stellen auch die Hälfte der Wählerschaft. Wir
als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wissen
sehr gut, dass die Frauen die Bundestagswahl entschie-
den haben, indem sie unsere moderne Frauen- und Fami-
lienpolitik den alten Hüten von der Union vorgezogen
haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU)


Der CEDAW-Bericht, den wir heute diskutieren,
mahnt an, dass die Beteiligung von Frauen in der Politik
noch gesteigert werden muss. Denn noch immer gibt es
eine traditionelle Rollenverteilung, die die Ursache für
die geringere Beteiligung von Frauen an politischen Äm-
tern ist. Interessanterweise sind Frauen aber in der Mehr-
heit, wenn es um das ehrenamtliche Engagement geht.
Auch das sollte uns zu denken geben. Ich begrüße es
sehr, dass die Bundesregierung ein Bündel von Maßnah-
men aufgelegt hat, um junge Frauen für politisches En-
gagement zu gewinnen.

Das Problem in unserer Gesellschaft liegt aber noch
an einer anderen Stelle, wie der Prospekt des Bundesver-
bandes der Deutschen Industrie und seines Vorstandes
zeigt, der ausschließlich aus Männern besteht. Insofern
besteht unser Hauptproblem nicht darin, dass im Frauen-
ausschuss des Bundestags so viele Frauen vertreten sind,
sondern darin, wie es in der Führungsebene der deut-
schen Wirtschaft aussieht.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])


Ich möchte noch ein weiteres Motto eines Frauenta-
ges zitieren, weil es sehr aktuell und programmatisch ist.
1988 hat unsere Kollegin Inge Wettig-Danielmeier den
Satz geprägt: „Wer die menschliche Gesellschaft will,
muss die männliche überwinden.“ Ich glaube, darum
geht es. Der heutigen Generation junger Frauen geht es
– das ist für sie ganz selbstverständlich – um ein Mit-

einander von Männern und Frauen, um Gleichberech-
tigung in der Schule, in der Ausbildung und im Studium.
Das ist für uns eigentlich die Grundlage. Das fordern wir
auch für Familie und Partnerschaft ein. Deshalb steht die
individuelle und flexible Lebensplanung im Vorder-
grund. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat eine
neue Dimension erreicht und stellt neue Anforderungen
an die Politik, an die Gesellschaft und insbesondere an
die Männer. Ich bin um jeden froh, der sich damit be-
schäftigt. Es geht um eine menschliche Gesellschaft, um
die Balance von Leben und Arbeit.

Die meisten jungen Frauen nutzen optimistisch ihre
Chancen. Ganz interessant ist, dass viele mit dem Be-
griff „Frauenförderung“ eigentlich nichts mehr anfangen
können; denn sie fühlen sich gar nicht als defizitäres We-
sen, das gefördert werden müsste. Und das ist auch gut
so. Wir machen dieses Selbstbewusstsein junger Frauen
sowie ihre guten Ausbildungs- und Schulabschlüsse zum
Ausgangspunkt unserer modernen und lebensnahen
Frauenpolitik. Frauen – das ist schon von vielen gesagt
worden – machen die besseren Schulabschlüsse. Aller-
dings ist ihr Anteil an denjenigen, die promovieren, nur
noch ein Drittel. Der große Karriereknick kommt bei den
C-4-Professuren; denn dort beträgt der Frauenanteil nur
noch 7,1 Prozent. Ein solcher Knick kommt dann, wenn
jede noch so gut ausgebildete Frau auf dem Arbeitsmarkt
allein auf ihre Gebärfähigkeit reduziert wird und deshalb
noch immer Nachteile erleiden muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb – das ist meine feste Überzeugung – muss sich
in der gesamten Gesellschaft, bei Männern und Frauen,
etwas ändern.

Wir wollen eine menschliche Gesellschaft, die gleiche
Chancen bietet, und zwar sowohl für Frauen auf Karriere
als auch für die neuen Väter auf Familienzeit, die viele
Männer so gerne nehmen wollen, aber tatsächlich sind es
nur 2 Prozent. Das neue Elternzeitgesetz und das Recht
auf Teilzeitarbeit sind gute Schritte in die richtige Rich-
tung. Auch in der Wissenschaft geht es voran. Inzwi-
schen sind ein Viertel der Juniorprofessuren mit Frauen
besetzt. Das ist ein Fortschritt.

Ich bin mir außerdem ganz sicher, dass unser Schwer-
punkt, den wir beim Ausbau von Kinderbetreuungsmög-
lichkeiten gesetzt haben – die Ministerin hat immer wieder
betont, dass sie für Vielfalt ist, dass wir die ganze Band-
breite der Angebote nutzen wollen, von den Tagesmütter-
initiativen über die Einrichtungen der Kirchen und der
Wohlfahrtsverbände bis hin zu den staatlichen Einrichtun-
gen –, ein Riesenschritt für mehr Chancengleichheit von
Frauen und Männern sein wird. Das wird die Praxis jen-
seits aller ideologischen Debatten sicherlich zeigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch auf zwei Bereiche eingehen, in de-
nen wir mit der Frauenpolitik der rot-grünen Koalition
ganz entscheidende Fortschritte zu verzeichnen haben.
Erstens: der Schutz von Frauen vor Gewalt. Hier set-
zen wir Zeichen; denn Gewalt im häuslichen Bereich ist






(A) (C)



(B) (D)


Kerstin Griese
keine Privatsache. Das 2002 in Kraft getretene Gewalt-
schutzgesetz bietet Schutz vor Gewalttaten. Die Gewalt-
opfer – das sind meistens Frauen – haben einen Anspruch
auf Wohnungsüberlassung. Das Gewaltschutzgesetz gibt
das Signal: Das Opfer bleibt, der Täter geht! Ich denke,
das ist das richtige Signal.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens: die Asyl- und Menschenrechtspolitik.
Der CEDAW-Bericht ist das wichtigste internationale
Dokument, in dem klargestellt wird: Frauenrechte sind
Menschenrechte. In dem Bericht wird die Bundesregie-
rung für die Novellierung des Ausländergesetzes gelobt
und es wird angemahnt, wie wichtig es ist, dass sich
Deutschland als Ziel- und Transitland des Menschenhan-
dels damit beschäftigt; denn Menschenhandel ist in ers-
ter Linie noch immer Mädchen- und Frauenhandel. In
dem CEDAW-Bericht wird die Einrichtung der bundes-
weiten Arbeitsgruppe zur Bekämpfung des Frauenhan-
dels gelobt, die Erfolge zu verzeichnen hat.

Ich möchte noch ein aktuelles Thema ansprechen, das
mich sehr schockiert hat. Ich habe gelesen, dass die uni-
onsgeführten Länder die geschlechtsspezifischen Flucht-
ursachen aus dem Zuwanderungsgesetz streichen wol-
len. Ich halte das für einen Skandal.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich appelliere ganz deutlich insbesondere an die Kolle-
ginnen der Opposition: Lassen Sie das nicht zu! Wenn
Sie sich die zurzeit laufende Plakatkampagne gegen die
Beschneidung von Mädchen ansehen, dann wissen Sie
doch, dass frauenspezifische Fluchtursachen grausame
Realität sind. Ich bin mir ganz sicher, dass die deutsche
Gesellschaft in ihrem Bewusstsein längst weiter ist und
dass es eigentlich kaum noch jemanden gibt, der leugnet,
dass frauenspezifische Verfolgung existiert und ein le-
bensbedrohlicher Grund sein kann, ein Land zu verlassen.
Im CEDAW-Bericht werden wir ausdrücklich aufgefor-
dert, den Schutz ausländischer Frauen, insbesondere den
weiblicher Asylsuchender, zu verstärken.

Wir wollen hier keinen Rückschritt. Wir wollen die frau-
enspezifischen Fluchtursachen im Gesetz belassen. Des-
halb sage ich Ihnen: Treten Sie Ihren Männern auf die Füße
– das müssen wir manchmal auch bei unseren machen –, da-
mit diese Errungenschaften für die Frauen nicht den Profi-
lierungskämpfen an der CDU-Spitze zum Opfer fallen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503111700


Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hannelore
Roedel.


Hannelore Roedel (CSU):
Rede ID: ID1503111800


Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frauen im Bundestag und am Rednerpult sind heute

selbstverständlich. Das war nicht immer so. Das Parla-
ment durften Frauen erst 1918 betreten. Heutzutage gibt
es sie, die erfolgreichen Frauen an der Spitze, aber viel
zu wenige. Die Führungspositionen sind nach wie vor
fest in männlicher Hand.

Auch wenn in Deutschland genauso viele Frauen wie
Männer ihr Studium erfolgreich abschließen, stellen
Frauen nur ein Drittel der Doktoranden, ein Fünftel der
Habilitierten und ein Zehntel der Professoren. Nicht nur
hier ist Deutschland wiederum Schlusslicht in Europa.
Dies ist besonders bedauerlich und zeigt auch die Ver-
geblichkeit vieler gut gemeinter Maßnahmen von Rot-
Grün. Denn mit der Regierungsübernahme 1998 kün-
digte die Koalition den Durchbruch in der Gleichstel-
lungspolitik an und erklärte diesen Bereich zum gesell-
schaftlichen Reformprojekt.


(Zuruf von der SPD: Das war auch nötig!)


Die von mir zitierten Zahlen belegen: Viel Lärm um
nichts. Auch die neueste Initiative unserer Bildungs-
ministerin mit den so genannten Juniorprofessuren wird
an diesen Tatsachen wenig ändern. Diese Professur soll
sechs Jahre dauern, erfordert laufend Qualifikations-
nachweise und kann mit knapp 30 Jahren angetreten
werden. Doch gerade in diesem Alter entscheiden sich
die meisten Frauen für Kinder. Damit stellt sich wie-
der die Entweder-oder-Frage. Mit derartigen Junior-Ini-
tiativen ist den Frauen also nicht wirklich geholfen.
Statt mit der Frauenförderung erst im Alter von
30 Jahren zu beginnen, müssen die Weichen früher ge-
stellt und Mädchen bereits in der Grundschule geför-
dert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unabdingbar sind weiterhin Transparenz bei den Ent-
scheidungswegen, eine ausgewogene Zusammenset-
zung in den Entscheidungsgremien und familienfreund-
liche Bedingungen. Aber das alles ist für uns ja nichts
Neues. Schon zu unserer Regierungszeit haben wir An-
fang der 90er-Jahre mit dem Hochschulsonderprogramm
den Grundstein für eine erfolgreiche Frauenförderung
gelegt. Bei Rot-Grün dagegen, die sich, wie von mir ge-
rade erwähnt, die Gleichstellung der Frauen auf die
Fahne geschrieben haben, bleibt dieser Bereich weiter-
hin Baustelle.

Die Situation der Frauen in Wissenschaft und For-
schung ist aber nur ein Teilaspekt der Lebenswirklich-
keit von Frauen. Die größte Diskriminierung für Frauen,
egal welchen Berufs, liegt in der hohen Arbeitslosigkeit
in diesem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])


Über 4,7 Millionen Menschen sind auf der Suche nach
einem Arbeitsplatz und über 2 Millionen von ihnen sind
Frauen. Diese Zahlen sprechen für sich und sind die bit-
tere Konsequenz Ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jetzt, meine Damen und Herren der Koalition, sitzen Sie
hier und erwarten, dass morgen mit der Regierungserklärung






(A) (C)



(B) (D)


Hannelore Roedel
des Kanzlers ein Wunder geschieht, das sämtliche Pro-
bleme löst.


(Ina Lenke [FDP]: Der wird nicht über Frauenpolitik sprechen!)


Wir brauchen jedoch keine Wunder, sondern konkretes
und wirkungsvolles Handeln. Was nützt zum Beispiel
ein Anspruch auf Teilzeit, wenn Frauen nicht einmal
die Einladung zum Bewerbungsgespräch bekommen?
Unternehmen ziehen den Bewerber vor, von dem man
annimmt, dass er keine Wünsche nach Teilzeit äußert. So
bewirken Ihre Schutzgesetze nur eins: nämlich den Ar-
beitsuchenden vor dem Arbeitsplatz zu schützen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])


Die beste Frauenförderung ist eine gute Wirtschaftspoli-
tik. Das zeigt das Beispiel Bayerns, wo so viele Frauen
wie in keinem anderen Bundesland erwerbstätig sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frauen brauchen aber genauso eine gute Familienpo-
litik. Sie aber wollen den Familien durch ewig neue
Steuer- und Abgabenerhöhungen das Leben immer
schwerer machen. Man nehme nur das Beispiel Ehegat-
tensplitting. Auch wenn Ihre Pläne vorübergehend auf
Eis liegen, so ist doch im CEDAW-Bericht die Diskus-
sion aufs Neue angeregt. Das Ehegattensplitting ist aber
für die Union, abgesehen von der verfassungsrechtlichen
Bedeutung, wesentlicher Teil einer modernen Frauen-
und Familienpolitik.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Modern? Das ist altmodisch!)


Warum? – Es entspricht nun einmal genau dem am meis-
ten gelebten Familienmodell. Ohne Kinder gehen beide
Partner einer Berufstätigkeit nach. Mit Kindern wech-
seln Erziehungszeiten und Berufstätigkeit im unter-
schiedlichen Ausmaß einander ab. Ob ein Partner das
Familieneinkommen alleine verdient, beide gleich viel
dazu beitragen


(Zuruf von der SPD: Fragen Sie einmal Alleinerziehende, was die davon halten!)


oder sonst eine Aufteilung gewählt wird – die Jahres-
steuerbelastung des Familieneinkommens ist in allen
denkbaren Varianten die Gleiche. Damit bewirkt der
Splittingvorteil ein indirektes Familiengeld und hono-
riert damit die von einem Partner erbrachte Erziehungs-
leistung als gleichwertig zur Erwerbstätigkeit des ande-
ren Partners.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Damit ist gleichgültig, welches Modell die Eltern nehmen
und wofür sie sich entscheiden, denn dies bedeutet echte
Wahlfreiheit für Erziehung und/oder Erwerbstätigkeit.

Eine vernünftige Frauenpolitik muss Lösungen für die
vielfältigen Lebensentwürfe von Frauen anbieten. Die
Union hat mit dem Programm „Faire Politik für Fami-
lien“ und umfassenden Konzepten wirkliche Alternati-
ven für Deutschland für mehr Dynamik, Wachstum und
Beschäftigung vorgelegt.

Kurz nach dem Internationalen Frauentag liegt es nun
an Ihnen, Frauen endlich die Perspektiven aufzuzeigen,
für die sie schon so lange kämpfen. Margaretha von
Wrangell schrieb dazu 1923 an ihre Mutter:

Ich habe viele Kämpfe in meinem Berufe. Jedoch
weiß ich, wofür ich kämpfe.

Sie muss es wissen; denn sie war vor 80 Jahren die erste
ordentliche Professorin in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503111900


Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/105 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs-
antrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 15/599 und der Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/601 sol-
len an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Errichtung einer Verkehrsinfrastruktur-
finanzierungsgesellschaft zur Finanzierung von
Bundesverkehrswegen

(Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaftsgesetz – VIFGG)


– Drucksache 15/199 –


(Erste Beratung 16. Sitzung)


– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald,
Georg Brunnhuber, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfern-
straßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft

(Bundesfernstraßenfinanzierungsund Managementgesellschaftsgesetz – BFFuMGG)


– Drucksache 15/299 –


(Erste Beratung 19. Sitzung)


Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

(14. Ausschuss)


– Drucksache 15/416 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Georg Brunnhuber
Reinhard Weis (Stendal)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Margrit Wetzel.


Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1503112000


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jeder ruft nach einer Reform und wir machen sie.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Selbst wenn die Opposition versucht, das im Bundesrat
zu verhindern: Wir setzen wichtige Reformen im Ver-
kehrsbereich fort. Auch deshalb verabschieden wir heute
den im vorigen Jahr schon einmal vorgelegten Gesetzent-
wurf, der die Einrichtung einer Verkehrsinfrastruktur-
finanzierungsgesellschaft vorsieht. Dieser Gesetzentwurf
hat den gleichen Wortlaut wie der, den wir im vergange-
nen Jahr eingebracht haben.

Wir sind der Meinung, dass diese Gesellschaft ihre
Arbeit rechtzeitig vor dem 1. September dieses Jahres
aufnehmen können muss. Wir haben über unseren frühe-
ren Entwurf ausführlich diskutiert, wir haben eine Anhö-
rung durchgeführt und wir haben wichtige Elemente aus
den Anregungen der Sachverständigen aufgenommen.
Das Ergebnis, das wir damals erzielt haben, kann sich
heute wirklich sehen lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Denn mit diesem Gesetz organisieren wir den Einstieg in
die Nutzerfinanzierung von Verkehrsinfrastruktur.

Aus den Einnahmen der LKW-Maut soll der größt-
mögliche Teil schnell, transparent und unbürokratisch in
den Ausbau gravierender Engpässe auf den Straßen, auf
den Schienenwegen und auf den Wasserstraßen gelenkt
werden. Das verkehrsträgerübergreifende Bedienen aus
der LKW-Maut und aus den Nutzerentgelten auf Bun-
deswasserstraßen entspricht den Vorstellungen eines ver-
einten und zusammenwachsenden Europas. Auch darü-
ber muss man sich klar sein. Die Bundesfernstraßen
werden forciert ausgebaut und durch die Beseitigung der
Engpässe bei den Schienenwegen und bei den Wasser-
straßen gewinnen wir neue Kapazitäten und entlasten
gleichzeitig die Straßen; das kommt den Straßen letzt-
endlich zugute.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im speziell dafür aufgelegten Anti-Stau-Programm
sind die Projekte, um die es geht, zusammengestellt. Die
Gesellschaft darf keine Kredite aufnehmen, damit – das
ist uns ganz wichtig – kein unkontrollierbarer Schatten-
haushalt des Bundes entsteht. Noch wichtiger ist uns
aber, dass wir für den Ausbau der fünften und sechsten
Fahrstreifen an Bundesautobahnen über das so genannte
A-Modell zusätzliches privates Kapital mobilisieren.
Das heißt, wir stecken mehr Geld in die Verkehrsinfra-
struktur. Das ist neu und das nennen wir Fortschritt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Gründung dieser Gesellschaft ist eine reine Organi-
sationsprivatisierung für nicht hoheitliche Aufgaben des
Bundes. Die Entscheidung über die Projekte bleibt beim
Parlament. Sie werden als Anlage in einer besonderen
Titelgruppe des Bundeshaushaltsgesetzes festgehalten.
Damit und mit der jährlichen Berichtspflicht der
Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft schaffen
wir Transparenz und zugleich auch die Akzeptanz derje-
nigen, die zahlen müssen. Denn dass die verladende
Wirtschaft durch die LKW-Maut höhere Kosten hat,
wird nur akzeptiert, wenn sich zugleich sichtbar etwas
bei den Investitionen bewegt.

Wir regeln über dieses Gesetz außerdem die Zweck-
bindung der Mittel aus der LKW-Maut. Die Zuweisung
erfolgt zwar jährlich; aber wir überwinden die Jährlich-
keit der kameralistischen Haushaltsführung des Bundes,
indem nicht verausgabte Mittel noch im nächsten und
übernächsten Jahr eingesetzt werden können. Wir schaf-
fen damit eine völlig neue Flexibilität, die für Investitio-
nen bei allen drei Verkehrsträgern dringend notwendig
und absolut neu ist. Das ist der Einstieg in eine ganz
wichtige Weiterentwicklung der Finanzierung unserer
Verkehrsinfrastruktur, bei der wir dann hoffentlich zügig
weiterkommen.

Außerdem soll die schlank organisierte Gesellschaft zu
einem Kompetenzzentrum für Privatfinanzierung und
damit für die Mobilisierung privaten Kapitals werden.
Mit der Änderung des Fernstraßenbauprivatfinanzie-
rungsgesetzes haben wir gute Rahmenbedingungen ge-
schaffen, die von den Mitarbeitern der neuen Gesellschaft
kreativ genutzt und mit Leben erfüllt werden sollen. Die
Gesellschaft soll geeignete Betreibermodelle ermitteln.
Sie soll die Vergabe von Konzessionen betreuen, die pri-
vatwirtschaftliche Realisierung von Verkehrsinfrastruk-
turvorhaben vorbereiten, sie durchführen und abwickeln.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bauwirtschaft
brennt darauf, in die dann möglichen Betreibermodelle
der Public-Private-Partnership einzusteigen. Wir stehen
damit am Beginn einer ganz neuen Entwicklung. Das
rechtfertigt, diese Aufgaben aus dem BMVBW auszu-
gliedern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Ich interpretiere den Applaus jetzt so, dass dieser neue
Schritt unterstützt wird, und nicht etwa als Kritik am
BMVBW.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Niemals!)


Das soll damit nicht ausgedrückt werden; ganz im Ge-
genteil: Wenn ein Ministerium selbst auf den Gedanken
kommt, eine völlig neue Aufgabe auszugliedern und da-
mit den Versuch zu unternehmen, Bürokratie abzubauen,


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Das schafft doch noch mehr Bürokratie!)


aus den eingefahrenen Wegen herauszukommen und neue
Chancen zu eröffnen, dann finde ich das in hohem Maße
anerkennenswert. Das verdient unsere Unterstützung. Es
zeigt, dass wir in der Lage sind, aus den Fehlern der






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Margrit Wetzel
Vergangenheit zu lernen; denn unter der Kohl-Regierung
wurden mit Privatfinanzierung schlechte Erfahrungen ge-
macht. Ich erinnere nur an die Konzessionsmodelle der
privaten Vorfinanzierung, die nur kurzfristig scheinbaren
Erfolg hatten und die uns jetzt die Handlungsspielräume
einengen, sodass wir noch jetzt unter ihnen leiden, oder
auch an die Unzulänglichkeiten des Fernstraßenbaupri-
vatfinanzierungsgesetzes, das wir durch entsprechende
Verordnungen erst einmal so modernisieren mussten, dass
es in der Zukunft wahrgenommen werden kann, dass die
Chancen, die darin liegen, überhaupt umsetzbar sind. Ge-
nau das sind die Bereiche, in die die neue Gesellschaft ein-
steigen soll und in denen sie Fortschritte erzielen soll.

Was unterscheidet nun unseren Gesetzentwurf von
dem CDU-Gesetzentwurf?


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Und CSU!)


– Ich bitte um Entschuldigung, Herr Oswald, so viel Zeit
muss sein. – Die CDU/CSU möchte die Mittel aus-
schließlich und vollständig in den – so heißt es wörtlich –
„Unterhalt der Bundesfernstraßen“ lenken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das entspricht weder unseren Vorstellungen noch denen
der Europäischen Union von einer integrierten Verkehrs-
politik. Die Union will, dass die Verkehrsinfrastrukturfi-
nanzierungsgesellschaft Kredite aufnehmen darf. Das
heißt, es werden Schattenhaushalte gebildet. Sie sagen:
Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Denn of-
fenbar haben Sie vergessen, dass Sie uns in der letzten
Legislaturperiode bei der Beratung ebendieses Gesetzes
noch vorgeworfen haben – ich zitiere aus der Beschluss-
empfehlung –:

Mit der jetzt vorgesehenen Gründung der Verkehrs-
infrastrukturfinanzierungsgesellschaft werde allen-
falls ein Schattenhaushalt geschaffen, aber keines
der gesteckten Ziele erreicht.

Da sieht man einmal, wie kurz gedacht die Konzepte
der CDU/CSU – so viel Zeit muss sein; ich betone dabei
bewusst die CSU – sind. Sie sind es, die den Bundesver-
kehrswegeplan als Märchenbuch wie vorher weiter-
schreiben wollen und Schattenhaushalte aufbauen wol-
len. Ich denke, das ist nicht das, was die Bevölkerung
will. Die Menschen wollen Planungssicherheit und Klar-
heit über das, was vor Ort passiert. Sie können im
schlimmsten Fall auch einmal ein Abwarten akzeptieren;
aber sie müssen erfahren, dass sie gegebenenfalls warten
müssen. Diejenigen, die bauen, müssen das einschätzen
können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: So kriegen Sie das Land nie aus der Krise!)


Außerdem handelt es sich bei Ihrem Gesetzentwurf
um einen reinen Ampelverschnitt; denn es ist nichts Ei-
genes enthalten. Man muss sich wirklich einmal das Ver-
gnügen machen, diesen Entwurf zu lesen. Ich kann uns
das nur empfehlen. Die formalen Teile sind aus unserem
Gesetzentwurf abgeschrieben und die politischen aus der
Beschlussempfehlung zum alten Gesetzentwurf der FDP

abgekupfert. Das wird uns heute als CDU-Gesetzentwurf
vorgelegt. Das ist nicht zu fassen.

Kommen wir zu dem zurück, was wir wollen. Wir
wollen, dass die Entscheidung darüber, wo gebaut wird,
im Parlament bleibt. Über die Prioritäten entscheiden wir
und niemand anders. Das ist das originäre Recht des Par-
laments.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es darf keine Schattenhaushalte geben und es wird sie
auch nicht geben. Wir werden aber zusätzliches privates
Kapitel mobilisieren. Die Abwicklung der Engpassbesei-
tigung muss zügig beginnen und transparent und unbüro-
kratisch sein. Das wird die moderne, pfiffige Gesell-
schaft mit dem komplizierten Namen auch leisten. Den
zukünftigen Mitarbeitern dieser Gesellschaft wünsche
ich viel Erfolg. Die Wirtschaft wartet darauf, dass wir
mit dieser Art der Finanzierung anfangen, ebenso warten
die Gemeinden darauf, die an den Engpassstellen liegen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503112100


Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg
Brunnhuber.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Georg Brunnhuber (CDU):
Rede ID: ID1503112200


Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Wir entscheiden heute über zwei Gesetzentwürfe,
über den der Regierungskoalition zum Thema Verkehrs-
infrastrukturfinanzierungsgesellschaft


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Den werden wir annehmen!)


und über den der CDU/CSU zur Bundesfernstraßen-
finanzierungs- und Managementgesellschaft.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Den werden wir ablehnen müssen!)


Ich habe mir aufgeschrieben, wie die Überschrift lau-
tet: Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschafts-
gesetz. Das sind 53 Buchstaben, es ist ein Wortmonster.
Im Grunde genommen ist das auch schon das Bedeu-
tendste, was man über dieses Gesetz sagen kann.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Ihr habt aber erstaunlich viel davon abgeschrieben!)


Sie haben es wieder nicht begriffen. Sie haben wie bei
der LKW-Maut, an der Sie seit dreieinhalb Jahren he-
rumdoktern und nichts zustande bringen,


(Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist diskriminierend gegenüber den Ärzten!)


wiederum aus einer guten Idee Murks gemacht. Auch
hier machen Sie alle Fehler, die man machen kann. Sie






(A) (C)



(B) (D)


Georg Brunnhuber
sind wirklich mit einem großen Genie ausgezeichnet.
Die Fehler, die man machen kann, suchen und finden Sie
und machen sie anschließend auch. Das ist auch hier
wieder der Fall.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eigentlich ist die Überschrift in Ordnung


(Rainer Fornahl [SPD]: Auch der Inhalt!)


und man könnte meinen, Sie wüssten, was Sie wollen.
Die Formulierung in § 1 möchte ich vortragen, damit
man weiß, was Sie gern machen möchten.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Sehr gut!)


Zur Errichtung der Gesellschaft heißt es, dass Aufga-
ben des Bundes der Finanzierung von Neubau, Ausbau,
Erhaltung und Betrieb von Bundesfernstraßen und
Bundeswasserstraßen sowie von Bau, Ausbau und Er-
satzinvestitionen der Schienenwege der Eisenbahnen
des Bundes


(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Warum haben Sie das denn alles abgeschrieben?)


einer Gesellschaft des privaten Rechts in der Rechtsform
einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu übertra-
gen seien. Dieser Text ist absolut in Ordnung.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Darum habt ihr ihn ja auch abgeschrieben!)


Hätten Sie jetzt den Mut gehabt oder die Intelligenz
besessen – das lasse ich offen –, das weiter zu betreiben,
dann hätten Sie nicht in § 2 formulieren dürfen, dass dies
„nach Maßgabe der jährlichen Haushaltsgesetze und
nach den Weisungen des Bundesministeriums für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen“ geschehen soll.
Gleichzeitig stellen Sie fest, dass diese Gesellschaft
nicht berechtigt ist, Anleihen und Kredite aufzunehmen
oder Bürgschaften, Garantien oder ähnliche Haftungen
zu übernehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
meine Damen und Herren von der Regierungsbank, da-
mit haben Sie nichts anderes vor als das, was bisher die
Beamten im Verkehrsministerium gemacht haben, in
eine Gesellschaft vorzulagern. Wahrscheinlich machen
es sogar die gleichen Beamten. Dafür hätten Sie keine
Gesellschaft gebraucht.

Frau Kollegin Wetzel, vielleicht erinnern Sie sich da-
ran: Es gab vor ziemlich genau einem Jahr eine Anhö-
rung. Bei dieser Anhörung waren Sachverständige an-
wesend, nicht einer hat das, was Sie jetzt machen, auch
nur im Ansatz für gut befunden.


(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Auf welcher Veranstaltung waren Sie denn?)


Der Bundesrechnungshof – zumindest auf ihn sollten Sie
hören – hat gesagt: Dieses Gesetz ist so unnötig wie ein
Kropf. – Recht hat er. Dem schließt sich die Opposition
an.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Er hat gesagt: Das ist noch nicht entscheidungsreif! Deshalb haben wir ein Jahr gewartet!)


Wenn Sie gelegentlich wenigstens das tun würden, was
Ihre Kommissionen Ihnen vorschlagen, dann könnte man
noch die Hoffnung haben, dass irgendwann etwas Vernünf-
tiges herauskommt. Sie hatten eine hochrangige Kommis-
sion „Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ eingesetzt.
Sie hat Ihnen genau das vorgeschlagen, was die CDU/
CSU mit ihrem Gesetz umsetzen will.

Ein weiterer Punkt. Herr Klimmt hat am 5. September
2000 die von der Kommission erarbeiteten Vorschläge in
Empfang genommen. Damals war in der Presse, haupt-
sächlich in den Verkehrspublikationen, zu lesen – wir
haben genau aufgepasst –, er werde dafür sorgen, dass
mangels allgemeiner Haushaltsmittel diese Vorschläge
1 : 1 umgesetzt würden. In der Zwischenzeit wissen wir:
Wenn Sie sagen, Sie würden etwas 1 : 1 umsetzen, be-
deutet dies eigentlich, dass die Vorschläge im Papierkorb
landen – siehe Hartz.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Man muss sich fast schon fragen, warum Sie eigentlich
Kommissionen einsetzen, wenn Sie von vornherein wis-
sen, dass das, was dabei herauskommt, von Ihnen in kei-
ner Weise umgesetzt wird.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Man darf sich immer noch Gedanken machen!)


Ich möchte noch einen weiteren Punkt anführen. Bei
der Diskussion über die Verkehrsinfrastrukturfinan-
zierungsgesellschaft muss man natürlich auch darüber
reden, wie Sie mit der LKW-Maut und den entsprechen-
den Verordnungen bisher umgegangen sind. Diese Ge-
sellschaft soll mit den Einnahmen aus der LKW-Maut
sinnvolle Maßnahmen finanzieren. Bis jetzt wurde aber
noch kein Cent eingenommen. Niemand weiß, ob bis
zum 31. August überhaupt Geld fließen wird.


(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Sie haben schon 1991 davon gesprochen und nichts geschafft!)


Seit drei Jahren erklären Sie permanent in diesem Hause
und der gesamten Öffentlichkeit – also nicht nur dem
Transportgewerbe –, dass die Maßnahmen mit Brüssel
hervorragend abgesprochen seien, dass sowohl die
Mauthöhe als auch die Harmonisierungsmaßnahmen be-
züglich des Transportgewerbes in Ordnung seien und
dass alles geklärt sei.


(Bernd Schmidbauer [CDU/CSU]: Alles gelogen! – Siegfried Scheffler [SPD]: Sie lenken ab!)


Jetzt muss man aber feststellen: Nachdem Sie dreiein-
halb Jahre, von denen Sie zwei Jahre prozessieren muss-
ten, in Brüssel verhandelt haben, erklären der Minister
und seine Staatssekretäre, Fürchterliches sei geschehen,
die Verkehrskommission sei gar nicht bereit, über Ihre
Vorschläge zu diskutieren.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)







(A) (C)



(B) (D)


Georg Brunnhuber
Sie will weder über die Mauthöhe – sie wird angefoch-
ten – noch über die Harmonisierungsschritte verhan-
deln. Dazu sage ich Ihnen: Entweder sind Sie unfähig
oder Sie haben uns belogen. Nur eine von diesen Mög-
lichkeiten kann zutreffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das muss heute geklärt werden!)


Dazu hätten wir schon gerne ein Wort von Frau Wetzel
oder vielleicht nachher von einem Vertreter der Regie-
rung gehört.

Im Ausschuss haben Sie gestern den Eindruck er-
weckt, dass Sie zwar nicht wissen, wie es jetzt weiter-
geht, dass Sie aber davon ausgehen, dass die Genehmi-
gung zum 31. August erfolgen wird. Wenn Sie so
weitermachen, bekommen wir in diesem Jahr zwar das
modernste und teuerste Mautsystem der Welt; aber diese
Technik kann nicht eingesetzt werden, weil Sie keine
Genehmigung aus Brüssel für dieses Vorhaben bekom-
men. Das ist ein Armutszeugnis auf der ganzen Linie.
Die gesamte Verkehrspolitik in Deutschland nähert sich
letztendlich langsam dem Chaos, wie wir es in der Wirt-
schafts-, Finanz- und Sozialpolitik dieser Regierung er-
kennen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Sie wissen es wohl besser! Wir bauen und Sie haben Spatenstiche gemacht! Das ist doch kein Chaos!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe Ihnen vor
14 Tagen Folgendes vorgehalten: Wenn Sie eine ver-
nünftige Politik machten


(Peter Letzgus [CDU/CSU]: Das können die nicht!)


und auch nur ein bisschen auf das eingingen, was die
Opposition hier sagt, dann hätten Sie in Brüssel schon
einen Streitpunkt weniger. Sie haben nämlich auch den
Streitpunkt noch nicht ausgeräumt, dass nach Brüsseler
Auffassung das viele Geld, das von LKWs kassiert wird,
nach Abzug der Systemkosten und gewisser Harmoni-
sierungskosten wieder in die Straßenverkehrsinfrastruk-
tur zurückfließen muss. Wenn Sie in Brüssel Erfolg ha-
ben wollen, dann kann ich Ihnen nur empfehlen, sich
unsere Anträge nochmals genau anzusehen. Wenn Sie
intelligent genug sind, sie auch zu verstehen, dann wer-
den Sie ihnen auch zustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Herr Brunnhuber, wir wollen wirklich etwas anderes als Sie! Das wird doch an diesem Punkt deutlich!)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir von der
CDU/CSU-Fraktion haben ernst genommen, was Ihre
Kommissionen von der Pällmann-Kommission bis zur
Infrastrukturfinanzierungskommission vorgeschlagen
haben. Wir haben das, was sie den Ministerien vorge-
schlagen haben, expressis verbis in Vorlagen gegossen.
Eine dieser Vorlagen liegt heute als Gesetzentwurf vor.
Wir können darüber abstimmen. Wenn Sie wollen, dass
in Deutschland wieder ordentlich Straßenbau betrieben

wird, sodass der Autofahrer nicht permanent im Stau
steht, und der Gütertransport auf der Straße vernünftig
organisiert wird, dann stimmen Sie unserem Gesetz-
entwurf heute zu.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die letzte Chance für heute!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503112300


Jetzt hat der Abgeordnete Albert Schmidt das Wort.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Verkehrsministerkonferenz hat bereits im
April 2002 einstimmig, Herr Kollege Brunnhuber, also
einschließlich der Verkehrssenatoren und -minister der
CDU/CSU-geführten Länder, beschlossen, der Bund
möge die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft
möglichst schnell einrichten, damit die Einführung der
LKW-Maut im Jahr 2003 so reibungslos wie möglich er-
folgen könne. Was lernen wir daraus? Inzwischen gibt es
eine Union der Bundesländer, in der vernünftige Leute
sitzen, die wissen, was richtig ist, und die Brunnhuber-
CDU/CSU im Bundestag, die das Gegenteil dessen pro-
pagiert, was die eigenen Kollegen in den Ländern sagen
und wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Georg Brunnhuber [CDU/ CSU]: Das letzte Wort hat die BrunnhuberCDU/CSU!)


Dieselbe Schlachtordnung hatten wir schon gestern im
Ausschuss, als es generell um das Thema LKW-Maut
ging. Ich fürchte, Herr Kollege Brunnhuber, dass Sie den
falschen Kalender benutzen. Sie müssen einmal begrei-
fen, dass die Dinge im Fluss sind, dass sich die europä-
ische Verkehrspolitik und die deutsche Verkehrspolitik
entwickeln und dass über das, was jetzt auf der Tagesord-
nung steht, unter den halbwegs vernünftigen Verkehrs-
politikern dieses Landes weitgehend Konsens besteht.

Nun komme ich zur Sache: Der heute vorliegende Ge-
setzentwurf der Koalition ist mit dem inhaltsgleich, was
wir am 17. Mai 2002 in zweiter und dritter Lesung hier
beraten und beschlossen hatten, was aber der Diskonti-
nuität anheim fiel, weil zwischenzeitlich ein neuer Bun-
destag gewählt wurde. Das, was hier Verkehrsinfra-
strukturfinanzierungsgesellschaft heißt, klingt in der
Tat wie ein bürokratisches Monstrum. In diesem Punkt
gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht, Herr Kollege
Brunnhuber. In Wahrheit ist es aber das Gegenteil davon:
Es ist ein neues, innovatives Finanzierungsinstrument,
das im Gegensatz zu dem, was Sie hier behauptet haben,
die Impulse der europäischen Verkehrspolitik aufgreift,
die besagen, dass zu einer Steuerfinanzierung der Ver-
kehrswege als zweite Säule eine Nutzerfinanzierung tre-
ten müsse und dass die Nettoeinnahmen aus dieser
LKW-Maut gerade nicht, wie Sie es in Ihrem Gesetzent-
wurf von vorgestern wieder verlangen, ausschließlich






(A) (C)



(B) (D)


Albert Schmidt (Ingolstadt)

dem Straßenbau gewidmet werden, sondern für ein inte-
griertes Verkehrssystem verwandt werden, das alle Ver-
kehrsträger gemäß ihren Leistungen entwickelt


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fahrradfahrer!)


und damit auch einen Beitrag zum Abbau der Staus auf
den Straßen leistet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Über jeden LKW, den wir von der Straße bringen, freut
sich doch auch der PKW-Fahrer, weil er endlich eine
freie zweite Spur hat, wenn die rechte Spur schon zu ei-
ner Mauer von LKWs geworden ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Georg Brunnhuber [CDU/ CSU]: Das funktioniert ja nicht! Die Bahn schafft es ja nicht!)


Worum geht es bei dieser Verkehrsinfrastrukturfinan-
zierungsgesellschaft also in Wahrheit? Es geht erstens
um die Herstellung von Transparenz. Es geht darum,
deutlich zu machen, für jeden nachvollziehbar zu ma-
chen, dass die Einnahmen, die aus diesem System gene-
riert werden, netto überwiegend zur Ertüchtigung des
Verkehrsnetzes eingesetzt werden. Es geht zweitens da-
rum, durch diese Transparenz auch Akzeptanz zu schaf-
fen. Natürlich kommt auf viele Transportunternehmen
eine erhebliche Belastung zu. Von daher haben sie auch
Anspruch darauf, verlässlich zu erfahren, dass die Gel-
der reinvestiert werden. Akzeptanz gewinnen wir nur,
wenn wir glaubhaft machen können, dass nicht jedes
Jahr darum gezittert werden muss, ob der Bundesfinanz-
minister das Geld für diesen Zweck einsetzt, dass nicht
jedes Jahr darum gekämpft werden muss, sondern dass
dieses Geld gleichsam mit einem rosa Schleifchen um-
wunden wird, in die Schatulle der Verkehrsinfrastruktur-
finanzierungsgesellschaft gelegt wird und damit dem
Verkehrswegebau gewidmet ist. Wenn Sie das nicht be-
greifen, Herr Brunnhuber, dann weiß ich nicht, wie ich
es Ihnen noch erklären soll.


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Ich begreife es wirklich nicht!)


– Das ist dann Ihr Problem.

Mit diesem Instrument wird natürlich noch ein drittes
Ziel erreicht. Das ist – ich will es gar nicht verschwei-
gen – die Entlastung der öffentlichen Kassen.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Genau!)


Das ist übrigens kein deutsches, sondern ein europawei-
tes Problem. Wir werden uns Verkehrsnetze dieser
Dichte und dieser Qualität auf Dauer nur leisten können,
wenn wir eine zweite Finanzierungssäule einführen.
Dazu brauchen wir diese Gesellschaft.

Jetzt will ich noch sagen, was diese Gesellschaft nicht
darf. Da schließe ich an das an, was die Kollegin Margrit
Wetzel zutreffend ausgeführt hat. Wir als Parlamentarier
– ich hoffe, da sind wir alle im selben Boot oder im sel-
ben Zug oder wie immer Sie es gern hätten – wollen ja
nicht, dass mit einem solchen Instrument, sei es auch in

privater Rechtsform, das Parlament auf kaltem Weg ent-
machtet wird.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Jawohl!)


Deshalb haben wir Folgendes festgehalten:

Erstens. Diese Gesellschaft hat keine Ermächtigung,
selbstständig Kredite oder Anleihen aufzunehmen. Das
heißt, eine Neuverschuldung oder Höherverschuldung
auf diesem Umweg wird es nicht geben.

Zweitens. Sämtliche Projekte, die diese Gesellschaft
entwickelt und umsetzt, müssen in einem Bericht gegen-
über dem Parlament jährlich dokumentiert werden und
der Gesetzgeber selbst, wir hier im Parlament, entschei-
det, welche Projekte mit welcher Priorität realisiert wer-
den. Die Entscheidung darüber, was gebaut wird und
was nicht gebaut wird, bleibt also bei uns und hier gehört
sie auch hin.

Ich fasse zusammen: Die Verkehrsinfrastrukturfinan-
zierungsgesellschaft ist ein innovatives Instrument zur
Einführung einer zweiten Säule der Verkehrsfinanzie-
rung. Das ist der eigentliche Paradigmenwechsel, der
dahinter steckt. Diese Gesellschaft schafft Transparenz
bezüglich der Mittelverwendung. Sie schafft Akzeptanz.
Sie setzt das Prinzip der Verursachergerechtigkeit astrein
um. Sie schafft – letzter Punkt – Flexibilität. Mit dieser
Gesellschaft haben wir zum ersten Mal die Möglichkeit,
Haushaltsreste ins nächste Haushaltsjahr zu übertragen
und dann zu verwenden. Wir entgehen damit ein Stück
weit dem kameralistischen Haushaltsprinzip. Ich ver-
stehe, dass das nicht jedem Bundesfinanzminister ge-
fällt, aber es ist vernünftig, weil es hilft, auf Dauer Pla-
nungssicherheit zu gewährleisten, und das wollen wir.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich darf Sie also bitten, Ihren verstaubten Begriff von
Verkehrsfinanzierung von vorgestern ad acta zu legen,
sich in den Mainstream der deutschen und europäischen
Verkehrspolitik einzureihen und unserem Gesetzentwurf
heute von ganzem Herzen zuzustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Georg Brunnhuber [CDU/ CSU]: Sie müssen das erst noch in Brüssel durchbringen!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503112400


Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Günther.


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1503112500


Frau Präsidentin! Mein sehr verehrten Damen und
Herren! Beide Gesetzentwürfe, die heute debattiert wer-
den, bleiben – Kollege Brunnhuber, das ist unabhängig
von der Zahl der Buchstaben in der Überschrift – eigent-
lich hinter dem zurück, was sie als Ziel vorgeben und was
in der Tat anstrebenswert wäre, nämlich ein echter Ein-
stieg in die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur durch
die Nutzer anstelle der bisherigen reinen Finanzierung
über den Haushalt. Dieses Manko gilt für beide Entwürfe
gleichermaßen. Beide Entwürfe bringen im Endeffekt






(A) (C)



(B) (D)


Joachim Günther (Plauen)

nicht den Einstieg in die Nutzerfinanzierung, wobei der
CDU/CSU-Entwurf weiter geht und zumindest die Kre-
ditfähigkeit der Gesellschaften berücksichtigt.

Warum wollen wir eigentlich – unter den Fachkolle-
gen übrigens fraktionsübergreifend – diese Nutzerfinan-
zierung?

Erstens. Verkehrswege sind in der Volkswirtschaft
entscheidende Produktionsfaktoren und Investitionen in
die Verkehrswege müssen kontinuierlich und ohne Ab-
hängigkeit von Zufälligkeiten der gerade herrschenden
Haushaltslage stattfinden.


(Beifall bei der FDP – Siegfried Scheffler [SPD]: Da hat er Recht!)


Verkehrswegeinvestitionen sind etwas qualitativ ande-
res als konsumtive Ausgaben.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Deshalb gehören sie nicht in den Haushalt.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Da hat er wieder Unrecht!)


Zweitens. Die Nutzungskapazitäten der Verkehrswege
sollten durch ein marktkonformes Anreizsystem opti-
miert werden. Dazu braucht man ein Gebührensystem.

Drittens. Die Summe der für Investitionen zur Verfü-
gung stehenden Mittel soll durch die Beteiligung der
Nutzer, aber auch durch die Beteiligung privaten Kapi-
tals erhöht werden. Das steht ja auch in dem Gesetz-
entwurf der Koalition.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Da steht drin, dass wir beides brauchen!)


Ich zitiere:

Da über eine Mobilisierung privaten Kapitals bei
der Verkehrswegefinanzierung breiter Konsens be-
steht, soll die Gesellschaft auch Aufgaben im Zu-
sammenhang mit der Vorbereitung, Durchführung
und Abwicklung von privatwirtschaftlichen Projek-
ten übernehmen.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Ja, das hat Frau Wetzel gesagt!)


Das ist richtig. Das wollen auch wir. Aber wenn Sie
das wollen, dann sollten Sie dieser Gesellschaft Hand-
lungsspielräume geben.


(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Hat sie doch! – Siegfried Scheffler [SPD]: Die bekommt sie doch!)


– Nein. Der Entwurf der Koalition lässt zum Beispiel bei
der Kreditaufnahme kaum Handlungsspielräume zu.

Frau Wetzel, Sie sagen, es solle keinen Schattenhaus-
halt geben. Sie, Herr Schmidt, sagen, das Parlament
werde sonst ausgeschaltet. Dazu kann ich nur sagen:
Ohne eine flexible Handhabung des Kreditwesens im
Zusammenhang mit privaten Investoren werden solche
Projekte im Endeffekt nicht durchführbar sein.


(Beifall bei der FDP)


Aus dieser Sicht ist Ihr Vorschlag kein ernsthafter
Einstieg in das System der Nutzerfinanzierung. Denn er
führt nicht zu einer Abkoppelung vom Bundeshaushalt.
Die neue Infrastrukturfinanzierungsgesellschaft be-
kommt erstens nicht alle Einnahmen aus der LKW-Maut
und zweitens schon gar nicht – zumindest das wäre not-
wendig – die verbindliche Zuweisung zukünftiger Ge-
bühreneinnahmen. Sie bekommt nur das, was der Fi-
nanzminister ihr Jahr für Jahr zur Verfügung stellt. Er hat
bei der Einnahmenverteilung das letzte Wort.


(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Das ist falsch! – Siegfried Scheffler [SPD]: Das Parlament hat das letzte Wort und nicht der Finanzminister!)


Schon jetzt ist klar, dass er diese Einnahmen auch für
verkehrsfremde Zwecke verwenden wird.

Wir erleben im Zusammenhang mit der LKW-Maut
gerade, dass sich Herr Eichel den Einnahmeverlust aus
der LKW-Vignette – das sind rund 450 Millionen Euro –
mit 750 Millionen Euro aus der LKW-Maut kompensie-
ren lässt – und das für allgemeine, verkehrsfremde Zwe-
cke.

Kurz gesagt, wenn diese Gesellschaft so gestaltet
wird, dann ist sie ein lahmer Gaul und eine ausgelagerte
Abteilung des Verkehrsministeriums, die am Gängel-
band des Finanzministers hängt.

Was wir brauchen, ist eine Finanzierungsgesellschaft,
die von Beginn an unabhängig vom Bundeshaushalt ope-
riert und mittelfristig zu einer Betreibergesellschaft für
die Bundesfernstraßen weiterentwickelt wird. Stattdes-
sen setzen Sie bei der Finanzierungsgesellschaft das fort,
was Sie bei der Maut angefangen haben: Sie verwirren
die Bürger mit inkonsequenten und in sich widersprüch-
lichen Konzepten. Bei der Maut, die normalerweise eine
lupenreine Gebühr mit konsequenter Zweckbindung für
den Verkehrswegebau sein müsste, lassen Sie den Zu-
griff des Finanzministers zu. Die Finanzierungsgesell-
schaft unterstellen Sie in wesentlichen Punkten ebenfalls
den Weisungen des Finanzministers.

Das hat mit einem wirkungsvollen Schritt in Richtung
Nutzerfinanzierung nichts zu tun. Aber da alle so große
Hoffnungen auf den morgigen Tag setzen, geben auch
wir die Hoffnung nicht auf, dass ab Morgen alles besser
und schneller vorangeht. Unter den heutigen Bedingun-
gen müssen wir die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe
aber ablehnen.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503112600


Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung die Parla-
mentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.

A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1503112700


Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Herr Brunnhuber, Sie haben hier wider besseres






(A) (C)



(B) (D)


Pa
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1503112800
dass die EU die Maut infrage stellt.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Er hatte gestern Recht und er hat heute Recht!)


Sie haben davon gesprochen, dass sich Brüssel dazu ge-
äußert habe. Brüssel hat gar nichts gesagt. Die Maut
wird nicht infrage gestellt. Frau Palacio hat ein Interview
gegeben und das ist alles.

Sie kritisieren zum Beispiel das Verkehrsinfrastruk-
turfinanzierungsgesellschaftsgesetz. Ich habe einmal
nachgezählt: Es sind 53 Buchstaben. Ihr Bundesfern-
straßenfinanzierungs- und Managementgesellschafts-
gesetz hat übrigens 63 Buchstaben – und das nur für
einen Verkehrsträger. Wir sind also sehr sparsam mit den
Buchstaben umgegangen.


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Das sind aber zwei Wörter!)


– ich muss dazu sagen: Ich habe den Bindestrich auch
mitgezählt. Sonst wären es 62.

Meine Damen und Herren, der Inhalt des Gesetzent-
wurfes ist ja schon vorgestellt worden. Es handelt sich
nicht um irgendein Gesetz, sondern um einen wichtigen
Baustein eines Konzeptes. Dieses Konzept heißt: nach-
haltige Mobilität durch integrierte Verkehrspolitik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DlE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: In den Worten wart ihr immer gut! Aber in den Taten?)


Bekanntlich lässt sich ja nur steuern, was sich auch be-
wegt. Es gibt ja den Pauschalvorwurf, Verkehrspolitik
sei zu statisch. Wenn ich die Straßen- und Schienenfun-
damentalisten und die Elfenbeinturmwissenschaftler ab-
ziehe, dann bleibt die Frage: Wie zukunftsfähig ist oder
war unser bisheriges System in Bezug auf Finanzierung,
den „Modal Split" und ökologische Aspekte?

Verkehrsinfrastruktur wird nicht um ihrer selbst wil-
len gebaut und unterhalten, sondern um den Mobilitäts-
bedarf der Wirtschaft und die Mobilitätsbedürfnisse der
Menschen zu befriedigen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DlE GRÜNEN)


Dabei gibt es natürliche und politisch gewollte Grenzen.
Kein Land der Welt kann Infrastruktur für die Spitzen-
zeiten vorhalten. Das muss man hier eindeutig sagen.
Wir haben mit verschiedenen Grundsatzentscheidungen
und konkreten Maßnahmen wieder Bewegung in die
deutsche Verkehrspolitik gebracht;


(Zuruf von der CDU/CSU: Um Gottes willen!)


zum Beispiel mit der Entscheidung, Straße und Schiene
finanziell weitgehend gleich zu behandeln,


(Zuruf von der CDU/CSU: ihr habt mittlerweile vier Minister verbraucht!)


mit der Entscheidung, Hinterlandanbindungen für die
deutschen Seehäfen im neuen Bundesverkehrswegeplan
mit besonderer Bedeutung zu versehen, und vor allem

mit der Einführung der LKW-Maut zum 31. August die-
ses Jahres.

In einigen Bereichen sind wir sicherlich zum Vorreiter
in Europa geworden, zum Beispiel in der konsequenten
Umsetzung einer integrierten Verkehrspolitik, in vielen
Bereichen holen wir nur das nach, was andere schon seit
Jahrzehnten machen. Dies tun wir zum Beispiel beim
Einstieg in die ergänzende Nutzerfinanzierung. Die
Feststellung, dass die bisherige alleinige Finanzierung
der Verkehrsinfrastruktur über den allgemeinen Haushalt
an ihre Grenzen stößt, ist keine deutsche Erfindung.

Der vorliegende Gesetzwurf zielt darauf ab, das Ge-
bührenaufkommen aus der LKW-Maut weitgehend der
Finanzierungsgesellschaft für den Bau von Verkehrsin-
frastruktur zukommen zu lassen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Was heißt „weitgehend“?)


Dadurch entsteht eine zweite Säule der Finanzierung.
Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft wird
zunächst das ASP-Programm, das Anti-Stau-Pro-
gramm, finanzieren. Darüber hinaus enthält der Gesetz-
entwurf auch Spielraum für die Durchführung weiterer
verkehrsübergreifender Programme.

Das ASP – das ist das Besondere, das wir auch sehr
bewusst gemacht haben – setzt da an, wo wir das, was
sich wieder bewegt, auch steuern können, nämlich da,
wo es volkswirtschaftlich besonders wertvoll ist und
heute volkswirtschaftlich besonders schädlich und un-
sinnig: beim Stau auf Straße, Schiene und Wasserstraße.
Bezüglich des Staus auf der Straße gibt es folgende
Faustregel: 40 Prozent werden durch erhöhtes Verkehrs-
aufkommen, 40 Prozent durch Unfälle und 20 Prozent
durch Baustellen verursacht. Bei Staus auf der Schiene
und auf der Wasserstraße sind es immer vergeudete Ver-
lagerungspotenziale. Deshalb ist es richtig und volks-
wirtschaftlich sinnvoll, genau hier anzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft
wird noch eine weitere Aufgabe übernehmen – Frau
Wetzel hat das schon gesagt –: Sie soll ein Kompetenz-
zentrum für die Entwicklung und Betreuung von Betrei-
bermodellen werden. Um mit einem anderen Verkehrs-
träger zu argumentieren, sage ich dazu: Es ist höchste
Eisenbahn. Um uns herum wird nämlich nicht nur über-
legt, welche innovativen Möglichkeiten es gibt, neue
Wege aufzuzeigen, um notwendige Investitionen im öf-
fentlichen Bereich zu finanzieren, sondern sie werden im
Ausland teilweise auch schon praktiziert.

Wenn ich zum Beispiel an das Eisenbahnnetz denke,
das Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist, dann stelle
ich fest: Private Investitionen in öffentliche Infrastruk-
turprojekte waren in der Vergangenheit durchaus Teil der
unternehmerischen Initiativen. Im 20. Jahrhundert haben
der Staat und seine öffentlichen Körperschaften diese
Aufgabe weitgehend übernommen. Der Einsatz privaten
Kapitals war nicht nur unüblich, sondern auch durch ge-
setzliche Regelungen blockiert. Er wird heute immer






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens
noch durch gesetzliche Regelungen blockiert. Hier be-
steht Nachholbedarf, wenn wir in Europa wettbewerbs-
fähig werden wollen. Zurzeit sind wir nicht wettbe-
werbsfähig.

Mit der Umsetzung der A-Modelle sind wir sicherlich
auf der Überholspur, aber überholt haben wir noch nicht.
Ich will auch nicht missverstanden werden. Vorhin ist
schon gesagt worden, dass private Investitionen in
Verkehrsinfrastruktur kein Windhundrennen sind. Was
wann, wo und wie gebaut wird, bestimmt der Gesetzge-
ber, und daran wird und darf sich auch nichts ändern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei der Umsetzung unserer Betreibermodelle geht es
auch darum, eine Visitenkarte für unsere Straßenbauer
und für unsere Bauindustrie zu drucken, vor allen Dingen
für die mittelständische Bauindustrie. Die Betriebe bauen
doch phantastische Straßen und wenn es jetzt darum geht
zu beweisen, dass sie diese Straßen auch betreiben und
unterhalten können, haben sie unsere Unterstützung nö-
tig. Deshalb soll die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungs-
gesellschaft auch ein Kompetenzzentrum werden. Ich
möchte gern, dass unsere guten Straßenbauer auch außer-
halb dieses Landes, irgendwo in Europa oder internatio-
nal, Straßen bauen. Ich denke, wir haben auf diesem Ge-
biet einiges vorzuweisen, und mit den A-Modellen
werden wir den Beweis antreten, dass wir es können und
damit auch wettbewerbsfähig sein werden.

Meine Damen und Herren, auf der VMK im April
letzten Jahres – das ist schon angesprochen worden –
wurde der einstimmige Beschluss gefasst, die
Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft rechtzei-
tig zu errichten, damit sie bei Einführung der LKW-
Maut arbeitsfähig ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie
sich diesem Votum anschließen könnten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503112900


Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1503113000


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Staatssekretärin, der Fachmann aus Ihrem Ministerium
hat gestern im Verkehrsausschuss zu LKW-Maut und
Brüssel etwas ganz anderes gesagt, als Sie hier ausführen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Das stimmt nicht! – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Da haben Sie aber nicht richtig zugehört!)


I
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1503113100
Wir haben mit Verkehrsminister
Wissmann im Jahr 1993 die LKW-Gebühr eingeführt.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Jahresvignette!)


Mit Ihrem Gesetz vollziehen Sie nur den Umstieg von
einer zeitbezogenen auf eine streckenbezogene Gebühr.
Aber nicht einmal das bekommen Sie ordentlich hin.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Oh, Sie kapieren ja gar nichts! Du lieber Gott!)


Meine Damen und Herren, das ist die Methode Rot-
Grün: Alle, die nicht Ihrer Meinung sind, erklären Sie,
Frau Staatssekretärin und Herr Kollege Schmidt, für
dumm.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Herr Brunnhuber hat das gemacht!)


Sie fahren das Land in den Ruin und beauftragen später
diejenigen, die man zuvor für dumm erklärt hat, das
Land wieder in Ordnung zu bringen. Das ist die Methode
Rot-Grün!


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, es sollte doch mittlerweile
allen klar und allgemeines Gedankengut sein, dass für
die Gestaltung der Zukunft Deutschlands der Erhalt und
die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur von gro-
ßer Bedeutung sind. 1 Milliarde Euro Investitionen be-
deuten 20 000 Arbeitsplätze. Wir haben auch festge-
stellt und es ist gemeinsames Gedankengut, dass die
bisherige Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur an die
Grenzen des allgemeinen Haushalts stößt und wir eine
Lösung finden müssen. Deshalb wurde die so genannte
Pällmann-Kommission ins Leben gerufen,


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


die den Auftrag hatte, Vorschläge zu unterbreiten, wie
künftig die Finanzierung, der Betrieb und der Unterhalt
von Verkehrsinfrastruktur gehandhabt werden sollen,
also Vorschläge für den Wechsel von der bisher prakti-
zierten Haushaltsfinanzierung in eine Nutzerfinanzie-
rung und natürlich auch für die Gewinnung von privatem
Kapital.

Aus unserer Sicht gehen die Vorschläge der
Pällmann-Kommission in die richtige Richtung und
grundsätzlich sehen wir die Gründung von Verkehrs-
infrastrukturgesellschaften als sinnvoll an. Der vor-
liegende Gesetzentwurf der Regierungskoalition ist
jedoch deutlich der falsche Ansatz,


(Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das ist der integrale Ansatz, der ist besser als der sektorale!)


denn keines der gesteckten Ziele wird erreicht und keine
der Vorstellungen der Pällmann-Kommission wird ver-
wirklicht. Sie errichten eine Gesellschaft mit Geschäfts-
führer und verursachen damit Overhead-Kosten, früher
hat man das Wasserkopf genannt. Es entstehen Kosten,
aber die Gesellschaft hat kein originäres Einnahmerecht.
Das Geld kommt aus dem Bundeshaushalt. Die Gesell-
schaft macht also nur das, was eine Abteilung im Minis-
terium locker hätte machen können. Mit der Gesellschaft






(A) (C)



(B) (D)


Renate Blank
wird ein Schattenhaushalt geschaffen und kein privates
Geld gewonnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Form der Gesellschaft hätten Sie sich sparen kön-
nen. Es wäre auf jeden Fall besser gewesen, wenn der Ver-
kehrsminister mehr Geld für den Straßenbau in den Bun-
deshaushalt eingestellt hätte. Das Gegenteil war aber der
Fall. Sie haben in den Jahren 1999 und 2000 Kürzungen
vorgenommen, die Sie im Jahr 2001 nur aufgrund der
UMTS-Lizenzerlöse zum Teil zurücknehmen konnten. Ich
nenne das Stichwort Zukunftsinvestitionsprogramm.

Ihre ganzen Programme haben aber nichts gebracht.
Die Maßnahmen aus dem Investitionsprogramm, das bis
Ende 2002 angesetzt war, sind noch nicht abgearbeitet.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Wir haben ordentlich mehr investiert als Sie!)


Im Gegenteil: Die Dauer für die Verwirklichung aller
Maßnahmen, die in dem Programm enthalten sind, reicht
wahrscheinlich weit über das Jahr 2010 hinaus.

Die Verwirklichung des Anti-Stau-Programms, das
im Jahr 2000 mit großem Getöse verkündet wurde, sollte
ab Januar 2003 mit den Einnahmen aus der LKW-Maut
begonnen werden. Jetzt soll es die LKW-Maut erst ab
September geben.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Wir machen es ein bisschen spät, aber wir machen es, Frau Blank!)


Technisch ist das sicherlich machbar. Aber Sie haben die
Rechnung ohne den Wirt, das heißt, die zuständige EU-
Kommission, gemacht. Die wird noch großen Ärger in
Bezug auf die Harmonisierung der Wettbewerbsbedin-
gungen für das Transportgewerbe und die Verwendung
der Einnahmen aus der LKW-Maut bereiten.


(Zuruf von der CDU/CSU: Leider!)


Dies könnte die Einführung der LKW-Maut verzögern
bzw. zum Scheitern der Maut führen.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Beim Abwehren werden Sie doch hoffentlich mitmachen!)


Ich frage mich: Hat die Bundesregierung eigentlich
keine Gespräche geführt? War sie so blauäugig, davon
auszugehen, dass alles, was von ihr vorgeschlagen wird,
von der EU-Kommission abgenickt wird? Große und
grobe Fehler sind gemacht worden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Haben Sie eigentlich das Manuskript von Herrn Brunnhuber erwischt? Das haben wir schon vorhin alles gehört!)


Auch bei der Gestaltung des Gesetzes wurden Fehler
gemacht. In der Anhörung zum Entwurf der Bundesre-
gierung in der letzten Legislaturperiode hat sich die
überwiegende Mehrheit der Sachverständigen gegen die
Vorschläge im Gesetz ausgesprochen. Ihr Gesetz ist un-
zureichend und mangelhaft, wie eigentlich alles, was
von dieser Regierungskoalition und dieser Bundesregie-
rung kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie wollen und wollten nicht auf Sachverständige hören.
Auch unsere guten Vorschläge – siehe unseren Gesetz-
entwurf – stoßen auf taube Ohren. Sie sind nach wie vor
beratungsresistent.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte auf einen für das Parlament wichtigen
Kritikpunkt hinweisen. Durch die Festlegung privat zu
finanzierender Projekte durch eine separat von der Bun-
desregierung zu erlassende Rechtsverordnung, die nur
ein Einvernehmen mit den betroffenen Landesregierun-
gen erfordert, wird eine Beteiligung des Parlaments
umgangen. Gutes Beispiel ist die gestrige Diskussion um
die Mautverordnung. Die Beteiligung des Parlaments ist
dabei gleich null. Das kann Ihr Demokratieverständnis
sein, unseres ist es nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bei dieser Problematik haben wir sogar die Verbände,
den Bund Naturschutz und den Verkehrsclub Deutsch-
land, auf unserer Seite. Das können Sie im Wortprotokoll
der Anhörung nachlesen. Dabei stehen diese Verbände
ansonsten weniger auf unserer Seite; sie tendieren eher in
Ihre Richtung. Diese Verbände sagten übereinstimmend,
dass dem Deutschen Bundestag die Entscheidungshoheit
und die Kontrolle darüber entzogen wird, wie die Ver-
kehrsinfrastruktur weiterentwickelt werden soll.

In einem ersten Schritt sollen der Verkehrsinfrastruk-
turfinanzierungsgesellschaft die Einnahmen aus der stre-
ckenbezogenen Autobahnbenutzungsgebühr für schwere
LKW zufließen. Was steckt dahinter? Mit Ihrem Gesetz
wollen Sie durch die Belastung der Straße den gesamten
Verkehrsbereich alimentieren. Wir treten dafür ein, dass
die für die Nutzung der Bundesfernstraßen erhobenen
Abgaben in den Unterhalt der Bundesfernstraßen zu-
rückfließen.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das ist doch Unsinn! – Weiterer Zuruf von der SPD: Wollen Sie den Stau organisieren?)


– Herr Kollege Weis, Unsinn ist das nun wirklich nicht;
denn in Ihrem Vorschlag fließen die Abgaben nicht in
die Straße zurück, sondern gehen an alle Verkehrsträger.

Nach Abzug der Betreiber- und Harmonisierungskos-
ten muss das Geld aus der Straße in die Straße reinves-
tiert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Sie machen Verkehrspolitik von vorgestern!)


Nur so macht die LKW-Maut, die eine Gebühr und keine
Steuer ist, Sinn. Die Gebühr kann so vollständig zweck-
gebunden für den Straßenbau verwendet werden. Dies
könnte – wenn man nur wollte – im Gesetz verankert
werden.


(Zuruf von der SPD: So etwas schreiben wir nicht ins Gesetz! Das heißt: Stau organisieren!)







(A) (C)



(B) (D)


Renate Blank
Was geschieht stattdessen? Es wird keinen müden
Euro mehr für den Straßenbau geben; denn der Straßen-
bauhaushalt wird reduziert und ein Großteil der LKW-
Maut fließt in den allgemeinen Haushalt des Finanz-
ministers. Das ist aus unserer Sicht ein Skandal.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Eine Mogelpackung!)


Nun möchte ich den Kollegen Schmidt, den ich leider
nicht mehr sehe,


(Zuruf von der SPD: Doch, da ist er!)


an seine Aussagen in der Debatte vom 17. Mai 2002 er-
innern. Er führte damals aus, dass die transportierende
Wirtschaft durch die Einführung der LKW-Maut erheb-
liche zusätzliche Kosten zu erwarten habe. Richtig! Die
Akzeptanz der Maut hänge davon ab, dass garantiert
werden kann, dass die Nettoeinnahmen wieder in das
Verkehrsnetz reinvestiert werden. Es war von Ihnen da-
mals nicht gesagt worden, dass sich der Finanzminister
800 Millionen Euro pro Jahr aus der LKW-Maut holen
will.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der CDU/CSU: Pfui!)


Um das sicherzustellen, transparent und umsetzbar zu
machen – das haben Sie damals ausgeführt –, brauche
man die Gesellschaft. So weit Herr Kollege Schmidt.

In diesem Zusammenhang sprachen Sie auch von ei-
ner Zweckbindung. Ihren Aussagen von damals kann
man nur zustimmen. Tatsache ist jedoch, dass der Fi-
nanzminister kassiert und kein Cent mehr – in diesem
Jahr wahrscheinlich weniger und in den nächsten Jahren
trotz der LKW-Maut auch nicht viel – in den Straßenbau
fließen wird. Tja, Herr Kollege Schmidt, Sie haben da-
mals ein wenig vollmundig getönt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503113200


Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das haben wir alles schon zehnmal von Ihnen gehört! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sie redet sowieso schon viel zu lange!)



Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1503113300


Fest steht, dass wir mehr Geld für den Straßenbau benö-
tigen. Es wäre eine Aufgabe des Verkehrsministers, sich
bei seinem Kollegen Eichel durchzusetzen, damit dieser
mehr Geld für die wichtigen Investitionen locker macht


(Zuruf von der SPD: Frau Kollegin Blank, Sie waren schon mal charmanter!)


und nicht die Haushaltsansätze aufgrund der LKW-
Maut-Einnahmen reduziert.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503113400


Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer Ver-
kehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft – 53 Buch-
staben – zur Finanzierung von Bundesverkehrswegen.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/416, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Gibt
es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenom-
men worden.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist damit auch in dritter Lesung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.

Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der
CDU/CSU zur Errichtung einer Bundesfernstraßenfinan-
zierungs- und Managementgesellschaft: Der Ausschuss
für Verkehr, Bau und Wohnungswesen empfiehlt unter
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/416,
den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stim-
men der CDU/CSU abgelehnt worden. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verlängerung der Ladenöffnung an Sams-
tagen

– Drucksachen 15/396, 15/521 –


(Erste Beratung 25. Sitzung)


–Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Rainer
Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung des Ladenschlussgesetzes

– Drucksache 15/106 –


(Erste Beratung 16. Sitzung)


Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss)


– Drucksache 15/591 –

Berichterstattung:
Abg. Wolfgang Grotthaus

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit

(9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Wolfgang
Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU

Ladenschlussgesetz modernisieren

– Drucksachen 15/193, 15/591 –

Berichterstattung:
Abg. Wolfgang Grotthaus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Widerspruch höre
ich nicht. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Wolfgang Grotthaus, SPD.


Wolfgang Grotthaus (SPD):
Rede ID: ID1503113500


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Dieses Thema haben wir in den zurückliegenden
Wochen und Monaten schon zweimal hier im Plenum
behandelt. Wir haben es auch ausgiebig in den zuständi-
gen Ausschüssen diskutiert. Eigentlich könnte man mei-
nen, dass genug darüber geredet worden ist, dass die Si-
tuation geklärt ist und dass man abstimmen sollte. Ich
glaube, dass man trotzdem noch einmal klarstellen
sollte, worum es eigentlich geht.

Uns liegt heute ein Antrag der FDP zur Beratung vor.
Dieser Antrag beinhaltet, dass die Ladenschlusszeiten
gänzlich aufgehoben werden sollen, dass also die Ge-
schäftsinhaber ihre Geschäfte an den Werktagen rund um
die Uhr – von 0 bis 24 Uhr – öffnen können und dass die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wenn die Geschäftsin-
haber dies als notwendig erachten, in dieser Zeit zur Ver-
fügung zu stehen haben.

In dem uns vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Frak-
tion wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Ge-
setzentwurf vorzulegen, der letztendlich genau das Glei-
che wie der FDP-Antrag beinhalten soll, nämlich eine
komplette Freigabe der Ladenöffnungszeiten an den
Werktagen. Nicht unerwähnt will ich eine Bundesratsini-
tiative lassen, in der ebenfalls die vollständige Freigabe
der Ladenöffnungszeiten gefordert wird; hinzu kommt
eine Ergänzung, wonach die Länder in ihrer Hoheit darü-
ber bestimmen dürfen, wie sie die Ladenöffnungszeiten
festsetzen.

Ich will am Anfang sofort deutlich machen: Diesem
Entwurf werden wir, wenn er hier im Plenum behandelt
wird, in keiner Weise zustimmen, weil wir befürchten,
dass es in Bezug auf die Ladenöffnungszeiten zu einem
Flickenteppich in der Republik kommen wird. Dies
könnte dazu führen, dass zum Beispiel in Mainz andere
Ladenöffnungszeiten als in Wiesbaden gelten, womit
sich Käuferströme über Ländergrenzen hinweg entwi-
ckeln, die aus unserer Sicht nicht gewollt sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ihnen liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung
vor. Dieser Gesetzentwurf beinhaltet als wesentlichen
Teil die Verlängerung der Ladenöffnungszeit an
Samstagen von 16 auf 20 Uhr, also eine Erweiterung

der Ladenöffnungszeit um wöchentlich vier Stunden.
Wie ist es zu dieser Initiative gekommen? Es lassen sich
gesellschaftliche Veränderungen beim Käuferverhalten
sowie Arbeitsplatzverluste und Konzentrationen im Ein-
zelhandel feststellen. Hierzu ist anzumerken, dass sich
durch eine Veränderung der Ladenöffnungszeiten die
Konzentrationsbewegungen nicht verändern werden – es
wird zu weiteren Konzentrationen kommen –, dass da-
durch Arbeitsplätze nicht neu entstehen werden – dies
hat uns der Einzelhandelsverband bestätigt –, sondern
dass es im Wesentlichen darum geht, den negativen
Trend zu bremsen oder gänzlich zu stoppen.

Ich will daran erinnern, dass der ehemalige Bundes-
wirtschaftsminister Rexrodt unter der Kohl-Regierung
zum damaligen Zeitpunkt argumentiert hat, man müsse
die Ladenöffnungszeiten gänzlich freigeben, weil damit
133 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten.
Tatsächlich sind in dieser Zeit 50 000 Arbeitsplätze ver-
loren gegangen. Es gibt also eine Facette vieler Ansatz-
punkte im Einzelhandel, die man berücksichtigen muss.
Daher sage ich hier in aller Deutlichkeit: Dies ist nur
eine Facette. Wir werden nachfolgend weitere Facetten
aufgreifen und entsprechende Gesetzentwürfe in den
Bundestag einbringen, um darüber zu diskutieren.

Am Montag haben wir zu dieser Thematik eine Exper-
tenanhörung gehabt. Dabei hat sich ganz klar herausge-
stellt, dass die Mehrheit der Experten den Gesetzentwurf
der Bundesregierung als optimale Zusammenführung der
im Bereich des Einzelhandels vorhandenen Interessen
ansieht. Dies bedeutet für uns, dass der Entwurf der Bun-
desregierung heute eigentlich die einhellige Zustimmung
bekommen sollte. Wir gehen aber davon aus, dass die
Opposition diesem Vorschlag, wie er in der Anhörung
vorgestellt wurde, nicht zustimmen wird. Aber auch wir
haben schon angekündigt, dass wir den Gesetzentwurf
der FDP und den Antrag der CDU/CSU ablehnen wer-
den, weil beide nicht dazu führen, die Interessen des Ein-
zelhandels, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und der Verbraucher auf einen gemeinsamen Nenner zu
bringen.

Wie haben sich die Experten geäußert? Ich will deut-
lich machen, dass insbesondere die christlichen Arbeit-
nehmervertreterorganisationen, die katholische Arbeiter-
bewegung und die evangelische Arbeiterbewegung,
einen zumindest für mich neuen Begriff in die Diskus-
sion eingebracht haben, nämlich den Sozialfaktor Zeit.
Der Sozialfaktor Zeit spielte in der Diskussion eine he-
rausragende Rolle. Es wurde den anwesenden Abgeord-
neten klar gemacht, dass am Wochenende, also auch am
Samstag, das ehrenamtliche Engagement und die Fami-
lie eine entscheidende Rolle spielen. Daher sei es wich-
tig, gerade den Samstag in die Familienplanung und die
soziale Planung einzubeziehen. Deswegen ist deutlich
gemacht worden, dass gerade diese beiden Organisatio-
nen eine 24-stündige Öffnungszeit ablehnen würden.

Daher glauben wir, dass unser Antrag, dem gestern im
Ausschuss mehrheitlich zugestimmt worden ist und der
sich daran nicht orientiert hat, aber durch diese Anhö-
rung eine Zustimmung bekommen hat, den Bedenken
der Vertreter der christlichen Arbeitnehmerverbände,






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Grotthaus
aber auch den Arbeitgeberintentionen und – was uns
sehr, sehr wichtig ist – den Interessen der Arbeitnehmer
im Einzelhandel Rechnung trägt.

Wie haben wir unseren Antrag formuliert? Wir haben
gesagt, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Verkaufsstellen verlangen können, in jedem Kalender-
monat an einem Samstag von der Beschäftigung freige-
stellt zu werden. Wir haben nicht explizit festgeschrie-
ben, dass man freistellen muss. Wir wissen, dass es in
den Betrieben und Geschäften Beschäftigte gibt – im
Wesentlichen sind es Frauen –, die nur am Wochenende
arbeiten wollen. Dann, wenn sie frei haben wollen, mel-
den sie das vorher an. Der Arbeitgeber kann flexibel da-
rauf reagieren. Wir wollten diese Flexibilität in diesem
Gesetzentwurf und ebenso in unserem ergänzenden An-
trag festhalten. Wir haben mit Freude festgestellt, dass
die große Oppositionspartei diesem Antrag zugestimmt
hat.

Ich mache darauf aufmerksam, dass dies für Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer im Einzelhandel eine
Verbesserung ist. Sie haben auf Verlangen frei zu be-
kommen. Ich mache deutlich, dass dies auch für die Ge-
schäfte in Bahnhöfen und für Tankstellen gilt, sodass wir
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesen
Bereichen ebenfalls eine Verbesserung erreicht haben.
Dies ist letztendlich eine Allgemeinverbindlichkeitser-
klärung, an die sich die Tarifvertragsparteien halten müs-
sen.

Dies bedeutet: Die Flexibilität für die Arbeitnehmer
ist vorhanden und die Flexibilität für die Arbeitgeber ist
vorhanden. Von daher haben wir Ihnen mit unserem An-
trag eine entsprechende Verbesserung des Antrags der
Bundesregierung vorgeschlagen.

Das Fazit, das man aus der Diskussion und aus unse-
rem Antrag ziehen kann, lautet: Es gibt gesellschaftliche
Veränderungen in dieser Republik. Diese Veränderun-
gen wollen und müssen wir gemeinsam mitgestalten. Es
gibt widerstreitende Interessen, die zu beachten sind.
Wir glauben, dass wir mit der – je nachdem, aus welcher
Sicht man das sieht; ich sage: minimalen – Verlängerung
der Ladenöffnungszeiten den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern in dieser Republik entgegenkommen. Ich gehe
davon aus, dass wir den Arbeitgeberinnen und Arbeitge-
bern mit der flexibleren Handhabung entgegenkommen
und dass wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
in der Form entgegenkommen, dass wir ein Recht auf
ein freies Wochenende in das Gesetz mit einbringen.

Ich habe vor einigen Minuten gesagt, dass dies eine
Facette ist, um den Einzelhandel zu stärken. Meine Frak-
tion sieht die Notwendigkeit für weitere Diskussionen in
nächster Zeit. Aus unserer Sicht haben wir darüber zu
diskutieren, wie wir den Einzelhandel in den Innenstäd-
ten stabilisieren können und wie wir die Revitalisierung
der Innenstädte zustande bringen. Wir haben einen
übergreifenden Branchendialog zu führen. Dabei wollen
wir auf diesem Weg, den wir jetzt gegangen sind, weiter
gehen. Wir wollen diese Gespräche mit den Einzelhan-
delsverbänden, mit den Gewerkschaften, mit den Kom-
munen, mit den Landesgesetzgebern, also mit allen, die
den Einzelhandel mit stabilisieren können, führen. Wir

gehen davon aus, dass wir weitere Initiativen entwickeln
werden.

Ich sage abschließend: Den Antrag der CDU/CSU
werden wir ablehnen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist ein Fehler!)


Den Antrag der FDP werden wir ebenfalls ablehnen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist ein Doppelfehler!)


Wir sagen der Bundesregierung einen herzlichen Dank
dafür, dass sie im Sinne der von mir Genannten aktiv ge-
worden ist.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503113600


Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartmut
Schauerte.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte genau zuhören, was er sagt! Er neigt zu Verleumdungen!)



Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1503113700


– Aufpassen!

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Im Jahr 2002 waren im deutschen Einzelhandel
durchschnittlich 2,5 Millionen Personen beschäftigt. Das
sind 133 000 Personen weniger bzw. 13 Prozent weniger
Vollzeitarbeitsplätze als zum Zeitpunkt der letzten Ände-
rung des Gesetzes 1996.

Die Umsätze sind seit 1996 rückläufig. Auch die Un-
ternehmenszahlen sind rückläufig; die Verkaufsstellen
sind deutlich reduziert worden. Das alles hat unter dem
geltenden Ladenschlussgesetz stattgefunden.

Der deutsche Einzelhandel befindet sich zurzeit in ei-
ner der schwierigsten Situationen, die er jemals durchlau-
fen hat. Die Erträge sind schlecht und auch im internatio-
nalen Wettbewerb nimmt er eine schlechte Position ein.

Dass all das unter dem geltenden Ladenschlussgesetz
stattgefunden hat, muss zwar nicht heißen, dass es auch
darauf zurückzuführen ist, aber geholfen hat das Gesetz
jedenfalls nicht.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So differenziert habe ich Sie ja lange nicht gehört!)


Im Prinzip hatte es keine Wirkung.

Hängt das, was ich eben beschrieben habe, mit den
Schutzwirkungen des Gesetzes oder mit den in ihm ent-
haltenen Begrenzungen zusammen? Diese Frage werden
wir nicht eindeutig beantworten können. Sehr wahr-
scheinlich würden wir lediglich in einen punktuellen und
interessengesteuerten Streit geraten.






(A) (C)



(B) (D)


Hartmut Schauerte
Jedenfalls hat der deutsche Einzelhandel keinen
Grund, mit der gegenwärtigen Situation und insbeson-
dere der geltenden Rechtslage zufrieden zu sein. Inso-
weit ist es vernünftig, über notwendige Maßnahmen
nachzudenken.

Unserer Meinung nach sollte eine Regelung, bei der
wir nicht mehr nachweisen können, ob sie nützlich ist,
eher entfallen als fortbestehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gudrun Kopp [FDP])


Das ist der Ansatz, den wir in Fällen der Entbürokratisie-
rung und der Deregulierung wählen. Entscheidend
müsste die Frage sein, ob die Regelung hilfreich ist und,
wenn ja, in welcher Form und an welcher Stelle. Dieser
Beweis ist aber nicht zu führen. Man könnte genauso gut
das Gegenteil behaupten. Deshalb halten wir eine Re-
form für notwendig.

Wir haben bei der letzten Reform des Ladenschluss-
gesetzes einer Verlängerung der Ladenöffnungszeiten an
Werktagen bis 20 Uhr zugestimmt. Diese Regelung war
damals heiß umkämpft. Inzwischen hat die Wirklichkeit
gezeigt: Die deutschen Läden schließen in der Regel
zwischen 18 und 19 Uhr, obwohl sie bis 20 Uhr geöffnet
bleiben könnten. Das heißt, wir haben eine zeitliche
Grenze festgesetzt, die in Wirklichkeit keine Rolle spielt
und nicht ausgeschöpft wird. Die Läden schließen in der
Regel früher. Es gibt wenige Fälle, in denen jenseits die-
ser Grenze möglicherweise noch Spielraum für Ge-
schäfte besteht. Selbst wenn wir die Grenze abschaffen,
wird es nur wenige Einzelfälle geben, in denen in diesem
Bereich noch Geschäfte generiert werden können, weil
eine konkrete Nachfrage besteht.

Warum soll das untersagt werden?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gudrun Kopp [FDP])


Warum muss das Vorhaben gestoppt werden? Warum
muss man an dieser Stelle so ängstlich sein? Wir haben
es schließlich mit mündigen Bürgern zu tun. Aus der
Abschaffung der Ladenöffnungszeiten ergibt sich kein
Gebot, die Läden rund um die Uhr zu öffnen. Vielmehr
werden die Nachfrage sowie die geschäftlichen Mög-
lichkeiten und Notwendigkeiten bestimmen, wann die
Läden geöffnet sind. Das wird sich auf eine vernünftige
Weise regulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gudrun Kopp [FDP])


„Markt intern“ hat sich in einem bitterbösen Informa-
tionsbrief gegen diese weitere Liberalisierung ausge-
sprochen. Um deutlich zu machen, wie unlogisch häufig
argumentiert wird, möchte ich einen Punkt daraus anfüh-
ren: Dass der alte Gesetzeszopf weg müsse, sei eine
Lüge; er müsse eigentlich beibehalten werden. Von den
Gegnern werde das Ladenschlussgesetz als Anachronis-
mus dargestellt. Das Gesetz sei erst 1956 in Kraft getre-
ten. Es sei mittlerweile elfmal überarbeitet und insofern
immer wieder modernisiert worden. Vergleiche mit dem
Ausland seien ohnehin nicht möglich.

Beim Vergleich mit dem Ausland wird übersehen,
dass die gesetzestheoretische Freiheit in der Praxis im
Ausland keine längeren Öffnungszeiten bedeutet.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)


Außerhalb der Tourismuszentren schließen die Ge-
schäfte dort häufig früher oder haben aufgrund anderer
Lebensrhythmen ausgedehnte Mittagspausen.

Was hindert uns daran, eine ähnliche Feststellung für
Deutschland zu treffen? Auch bei uns haben sich die Le-
bensgewohnheiten etwas geändert; sie weisen eine grö-
ßere Unterschiedlichkeit auf. Warum können wir diese
Freiheit nicht zulassen?

Ich kann nicht feststellen, dass die Arbeitnehmer in
den ausländischen Einzelhandelsgeschäften brutal aus-
gebeutet oder schlechter behandelt werden als die Ar-
beitnehmer in Deutschland und dass die Umsatzergeb-
nisse des Einzelhandels in den Ländern, in denen die
Ladenschlusszeiten freigegeben sind, schlechter sind
als die des Einzelhandels in Deutschland. Warum müs-
sen wir dann an der bisherigen engen Regelung festhal-
ten?

Die Position der CDU/CSU ist deswegen ganz klar:
Wir wollen die Ladenschlusszeiten grundsätzlich freige-
ben, das heißt, wir wollen keine 20-Uhr-Grenze, auch
nicht am Samstag; denn wir sind uns sicher, dass sich die
Menschen vernünftig verhalten und selber Grenzen fin-
den werden, die ihrem jeweiligen Lebensgefühl entspre-
chen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir wollen aber – das halten wir für richtig und wich-
tig – den Sonntag weiterhin schützen, und zwar zumin-
dest in so starkem Maße wie bisher. Deswegen möchten
wir, liebe Kollegen von der FDP, den Ländern auch nicht
die Möglichkeit geben, eventuell Ausnahmeregelungen
zu beschließen; denn daraus könnten sich neue Risiken
für den Sonntagsschutz ergeben. Lassen Sie mich dazu
ein paar Bemerkungen machen. Zurzeit ist der Sonntags-
schutz bundesgesetzlich geregelt. Er ist eine Konsequenz
aus den Vorgaben unserer heutigen Verfassung, die fest-
legt – das ist aus der Weimarer Reichsverfassung über-
nommen worden –, dass der Sonntag gesetzlich zu
schützen ist. Wenn man den Sonntagsschutz per Bundes-
gesetz beseitigen will, dann muss man zunächst einmal
bedenken, dass der Sonntagsschutz in einigen Bundes-
ländern völlig unzureichend und gänzlich anders gere-
gelt ist. Ich möchte Ihnen ein praktisches Beispiel nen-
nen – ich möchte noch nicht einmal von solch gottlosen
Regierungen wie der in Berlin reden, wo die Regierung
mit dem Schutz des Sonntags macht, was sie will; das
wollen wir nicht zulassen –: Einige Stadtstaaten würden,
wenn sie die Möglichkeit hätten, die Regelung zum
Sonntagsschutz weit öffnen. Ich kann mir gut vorstellen,
welches Theater es zum Beispiel im Speckgürtel gäbe,
wenn es zu einer solchen Öffnung käme. Es wird dann
sicherlich heißen: Wir müssen das Gleiche tun, weil
sonst Kaufkraft abgezogen wird. Ich bin mir sicher, dass
man dann überhaupt keine Grenzen mehr finden wird.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin sehr wohl für






(A) (C)



(B) (D)


Hartmut Schauerte
den Föderalismus. Aber bei Gütern, die über jeden Zwei-
fel erhaben sind und die ich deswegen deutschlandweit
geschützt sehen will – dazu gehört für uns der Sonntag –,


(Beifall bei der CDU/CSU)


möchte ich auf die Möglichkeit der freien Gestaltung für
die einzelnen Länder verzichten. Ich sage deshalb: Nein,
der Sonntag muss weiterhin bundesgesetzlich geschützt
werden. Wir halten an unserer Linie fest, weil sie ver-
nünftig ist.

Ich möchte – das ist schon angesprochen worden –
noch auf einen weiteren Gesichtspunkt eingehen, nämlich
das Cityprivileg, dessen Einführung ständig gefordert
wird. Wir lehnen dieses Privileg ab, weil wir neue Gren-
zen für Quatsch halten. Ich sage Ihnen voraus, dass Sie,
wenn Sie Ihre 20-Uhr-Regelung und die Einführung des
Cityprivilegs an einigen interessierten Standorten – der
Wunsch danach wächst ja ständig – tatsächlich realisie-
ren, über kurz oder lang eine neue Ladenschlussdebatte
führen müssen. Man hat das Cityprivileg aus der Motten-
kiste wieder herausgeholt und argumentiert, dass man
wieder etwas für die Geschäfte in den Innenstädten tun
müsse und dass man deswegen die Geschäfte auf der grü-
nen Wiese schlechter stellen müsse. Wenn dieses Privileg
eingeführt wird, dann werden neue künstliche Grenzen
entstehen. Sie werden damit also nichts weiter als Unsi-
cherheit und neues Theater erreichen. Deswegen ist unser
Ansatz richtig, die Ladenschlusszeiten gänzlich freizuge-
ben, wobei der Sonntag mit aller Konsequenz geschützt
bleibt.

In der Diskussion über das Cityprivileg gibt es außer-
dem ein interessantes „logisches“ Argument. Die Ein-
führung dieses Privilegs wird ja gewünscht, weil man
hofft, durch längere Ladenöffnungszeiten bessere Ge-
schäfte zu machen. Deswegen befürworten die Ge-
schäfte in den Innenstädte das Cityprivileg. Warum sol-
len das aber nur die Großstädte dürfen? Warum sollen,
wenn sie wollen, nicht auch der ländliche Raum und die
kleinen Städte selbstständig über ihre Ladenöffnungszei-
ten entscheiden dürfen?


(Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Schauerte, das ist unsere Position!)


– Nein, das, was Sie vertreten, ist im Grunde ein Groß-
stadtprivileg. Deshalb ist auch die BAG dafür. Hier geht
es ja nicht um einen Kaufhof im ländlichen Raum, son-
dern um Einzelhandelsunternehmen auf der Düsseldor-
fer Kö. Darauf läuft es letztendlich hinaus. Dazu sagen
wir Nein; denn wir halten eine weitere Verschiebung der
Kaufkraftströme vom Land in die Ballungsräume für un-
vernünftig. Wir müssen vielmehr die Versorgung im
ländlichen Raum auf hohem Niveau erhalten. Deswegen
ist das Cityprivileg falsch. Ich sage Ihnen voraus: Sie
werden aufgrund Ihrer Regelung betreffend das Citypri-
vileg eine neue Ladenschlussdiskussion führen müssen.

Wir stehen hier am Vorabend einer Jahrhundertrede
des Bundeskanzlers


(Zuruf von der SPD: Endlich kommen Sie zum Thema!)


und diskutieren über den Ladenschluss. Jetzt sehen wir
uns einmal an, was bei der SPD bezogen auf den Laden-
schluss los ist. Ich habe gedacht, es geht um eine Verlän-
gerung der Öffnungszeiten an Samstagen um vier Stun-
den. Bei uns geht es ja um mehr. Für Sie waren die vier
Stunden unheimlich viel. Sie haben eine Sondersitzung
der Fraktion machen müssen,


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und?)


um die Abweichler, die diesem Gesetzentwurf nicht zu-
stimmen wollten, zur Räson zu bringen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)


Das muss man sich einmal vorstellen. Angesichts dieser
Jahrhundertreform haben Sie heute Morgen eine Sonder-
sitzung der Fraktion gemacht. In dieser Sondersitzung
der Fraktion


(Dr. Rainer Wend [SPD]: Wir wollten uns noch vor dem Frühstück sehen!)


haben 25 Leute gegen den Regierungsentwurf gestimmt
und sie behaupten, das auch durchhalten zu wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssten Ihnen eigentlich den Gefallen tun, eine
namentliche Abstimmung über den Gesetzentwurf zu
fordern.


(Lachen bei der SPD)


Die wäre interessant.


(Dr. Rainer Wend [SPD]: Das müssen Sie Herrn Hinsken gönnen, Herr Schauerte!)


Wissen Sie, warum die interessant wäre? Herr Wend,
stellen Sie sich doch einmal vor: Am Vorabend der Jahr-
hundertrede bekommt der Kanzler bei der Kleinsten der
vorgesehenen Reformen nicht einmal die eigene Mehr-
heit zustande.


(Dirk Niebel [FDP]: Keine eigene Mehrheit!)


Das muss man sich einmal vorstellen. Wie soll das denn
beim Kündigungsschutz, bei der Arbeitsmarkt- oder der
Gesundheitsreform gehen? Wie viele Sondersitzungen
wollen Sie denn noch machen? Wie oft sollen wir Sie
denn mit namentlichen Abstimmungen verschonen, da-
mit Sie nicht unangenehm auffallen?


(Lachen bei der SPD)


Das ist doch wirklich mehr als peinlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Wo ist Ihre Fraktionsführung, wo ist Ihre Geschlos-
senheit? Es wäre hochinteressant festzustellen, wie Sie
nachher tatsächlich abstimmen. Es juckt mich immer
noch, den Antrag auf namentliche Abstimmung zu stel-
len. Das wäre hochinteressant für Sie. Sie würden sich
wundern.


(Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin: Machen Sie es doch! – Zurufe von der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Hartmut Schauerte
Das ist schon ein hochnotpeinlicher Vorgang, wie der
Löwe SPD am Beginn eines Reformprozesses von histo-
rischem Ausmaß dasteht. Er hat keine Mehrheit bei dem
Vorhaben, den Ladenschluss am Samstag um vier Stun-
den zu verlängern. Peinlich, peinlich, peinlich!

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Bravo! Bravo! Bravo!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503113800


Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bünd-
nis 90/Die Grünen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Keine unflätigen Bemerkungen!)



Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503113900


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Thema Ladenschluss beschäftigt uns heute
zum dritten Mal innerhalb der letzten Monate und heute
auch abschließend.


(Klaus Brandner [SPD]: Ladenöffnung, bitte!)


– Auch gerne Ladenöffnung.


(Dirk Niebel [FDP]: Wenn Sie keine Reform machen, kommt das Thema immer wieder!)


Wir machen heute einen weiteren, auch in meinen
Augen kleinen Schritt zur Erweiterung der Laden-
öffnungszeiten am Samstag von 16 auf 20 Uhr.


(Gudrun Kopp [FDP]: Ein Minischritt!)


– Zwischenrufe können Sie sich sparen, Sie kennen
meine Position.


(Dirk Niebel [FDP]: Die kann ich mir nicht sparen! Die sind gut!)


Wir müssen als Regierungskoalition auf die veränderten
Lebens- und Arbeitsgewohnheiten der Menschen reagie-
ren. Insbesondere durch die Reform aus dem Jahre 1996
hat sich gezeigt, dass der Samstag von den Konsumen-
tinnen und Konsumenten bedeutend stärker angenom-
men wird, als das zunächst erwartet wurde. Die logische
Konsequenz daraus ist natürlich eine Verlängerung der
Öffnungszeit am Samstag auf zunächst 20 Uhr.

Ich will ein Thema ansprechen, das auch Herr
Schauerte zur Sprache gebracht hat. Ich bin dabei der
festen Überzeugung, dass wir die Problematik der La-
denöffnungszeiten tiefer diskutieren müssen. Wir müs-
sen einfach einmal sehen, was in unserem Land durch
das Ausräumen der Innenstädte aufgrund des Auswei-
chens auf die grüne Wiese geschieht. Die Zahlen sind
hier in den Debatten bereits genannt worden. Die großen
Discounter auf der grünen Wiese haben nun einmal ge-
genüber den Händlern in unseren Innenstädten ganz be-
deutende Wettbewerbsvorteile. Herr Schauerte, daran
können Sie nicht vorbeireden. Der Wettbewerb ist völlig
verzerrt. Politik muss sich einfach ernsthafte Gedanken
darüber machen, was daran verändert werden kann.

Ich kann noch einen Schritt weiter gehen. Die Perver-
sion sind die Factory Outlet Center. Diese bedeuten ei-
nen Generalangriff auf die deutschen Innenstädte. So ist es
nun einmal. Darauf muss es Reaktionen seitens der Politik
geben. Dort ist die Wettbewerbsverzerrung perfekt.

Was kann noch getan werden, um auf diesem Gebiet
einen gewissen Ausgleich zu schaffen? Was im Raum
steht, ist einfach nur eine zeitliche Differenzierung der
Ladenöffnungszeiten, um den Innenstädten einen gewis-
sen Vorteil zu verschaffen, was auch erreicht würde.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Verfassungsrechtlich!)


– Sie geben mir gerade das Stichwort „verfassungsrecht-
lich“.

Zunächst möchte ich etwas über den Vergleich mit
dem Ausland sagen. Schauen Sie in die Vereinigten
Staaten von Amerika! Dort sind die Innenstädte auf-
grund solcher Center verödet. Bleiben wir in Europa und
schauen wir einmal nach Schweden! In Schweden domi-
nieren drei große Einzelhandelsunternehmen den ganzen
Lebensmittelmarkt. Diese drei Unternehmen machen
90 Prozent des gesamten Umsatzes. Wie sieht es in
Schweden mit den Preisen aus? Zunächst sanken die
Einzelhandels- und Lebensmittelspreise ein gutes Stück.
Dann bildete sich ein Oligopol. Heute ist das Lebensmit-
telpreisniveau in Schweden das höchste in ganz Europa.
Das ist eine Folge der dortigen Verhältnisse.

Herr Schauerte, Sie argumentieren juristisch und sa-
gen, ein solches Cityprivileg lasse sich juristisch nicht
halten. Professor Isensee hat genau das in einem Gutach-
ten bestritten und ist zum gegenteiligen Ergebnis gekom-
men. In einer Expertise des Bundesjustizministeriums
aus dem Jahre 2000 heißt es klipp und klar: Wesentlich
ist, den Gleichheitsgrundsatz des deutschen Grundgeset-
zes zu wahren. Dies geschieht durch die Bewahrung der
Gemeinwohlbelange und durch die Förderung von In-
nenstädten. Die zur Erreichung dieses Ziels eingesetzten
Mittel müssen verhältnismäßig sein und eine Differen-
zierung der Ladenschlusszeiten ist ein solches verhält-
nismäßiges Mittel.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist der Befreiungsschlag!)


Sie argumentieren – das haben Sie auch veröffentlicht –
mit der Abgrenzungsproblematik. Dank des Investiti-
onszulagengesetzes gibt es in diesem Bereich sehr einfa-
che und sehr brauchbare Möglichkeiten. Die bestehen-
den Regelungen, die in Deutschland seit Jahrzehnten
angewandt werden – Stichworte sind das Baugesetzbuch
und die Baunutzungsverordnung –, machen eine glas-
klare Unterscheidung zwischen Innenstadtlagen und La-
gen auf der grünen Wiese möglich. Bereits heute wird
zwischen Gewerbegebieten, Kerngebieten und Mischge-
bieten differenziert. Wir alle kennen diese Begrifflich-
keiten. Diese Regelungen wurden in Deutschland bisher
in 400 000 Fällen angewandt – und das ohne eine ein-
zige Klage. Man sollte in dieser Angelegenheit also nicht
juristisch argumentieren, sondern bestenfalls politisch.


(Gudrun Kopp [FDP]: Verfassungsrechtlich!)







(A) (C)



(B) (D)


Hubert Ulrich
– Ich habe gerade die verfassungsrechtliche Problematik
erläutert, Frau Kopp. Ihr Problem, Frau Kopp, und das
Problem der FDP allgemein ist, dass Sie sich noch nie
für die Klein- und Kleinstbetriebe sowie die mittelstän-
dischen Betriebe interessiert haben. Sie denken nur an
die großen Unternehmen auf der grünen Wiese. Dement-
sprechend ist Ihre Politik seit Jahrzehnten. Das beweisen
Sie auch jetzt wieder durch diesen Zwischenruf.


(Gudrun Kopp [FDP]: Sie pflegen Vorurteile!)


Machen Sie sich einmal Gedanken darüber, warum in
den letzten Jahren gerade im Einzelhandel mehr als
100 000 Arbeitsplätze verloren gingen! Es waren die
großen Unternehmen, die dafür gesorgt haben, dass Ar-
beitsplätze in den Innenstädten abgebaut wurden. Frau
Kopp, die Zahlen sprechen für sich – man muss sich das
immer wieder einmal klar machen –: Der prozentuale
Anteil der Personalkosten im Fachhandel in den Innen-
städten liegt bei 18,5 Prozent; der gleiche Anteil bei den
Verbrauchermärkten auf der grünen Wiese liegt bei
8,6 Prozent. Das ist ein enormer Unterschied.


(Gudrun Kopp [FDP]: Woran liegt das?)


– Das liegt an vielem: Es liegt an der viel größeren und
viel preiswerteren Fläche, die den Unternehmern auf
der grünen Wiese zur Verfügung steht. Man braucht
dort nur „eindimensional“ zu bauen. Man hat dort eine
gute Verkehrsanbindung. Außerdem verfügt man über
zentrale Marketingkonzepte und beim Einkauf beste-
hen große Margen. Es gibt dort eine ganze Reihe von
Vorteilen gegenüber den Anbietern in Innenstädten.
Auch große Kaufhäuser in Innenstädten können diese
Vorteile – das darf man nicht vergessen – nicht wett-
machen.


(Dirk Niebel [FDP]: War es dann doch nicht die FDP? Waren es vielleicht die Umstände?)


Der einzige Weg, den Anbietern in den Innenstädten
einen gewissen Vorteil zu verschaffen, ist nun einmal
eine Differenzierung, wofür ich mich klar ausspreche.
Ich weiß, dass unser Koalitionspartner in dieser Angele-
genheit eine andere Position hat. Trotzdem kämpfe ich
für dieses Ziel. Ich weiß, dass es auch innerhalb der sozi-
aldemokratischen, aber auch innerhalb der christdemo-
kratischen Fraktion eine größere Gruppe von Abgeord-
neten gibt, die das ähnlich sieht. Ich bin der Meinung,
dass wir dieses Thema weiter diskutieren sollten. Ich
halte es für sehr wichtig, auch mit Blick auf die Zukunft,
sich darüber Gedanken zu machen.

Diese Regierung hat neben der weiteren Liberalisie-
rung der Ladenschlusszeiten eine ganze Reihe anderer
Maßnahmen durchgeführt, um dem Einzelhandel und
dem Mittelstand Vorteile zu verschaffen. Die aktuellste
Maßnahme ist die Schaffung des Niedriglohnsektors
im Zusammenhang mit dem Hartz-Konzept.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das waren wir!)


– Für das Hartz-Konzept waren Sie verantwortlich?


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Für den Niedriglohnsektor!)


Allein in diesem Bereich – der von den Grünen und nicht
von der CDU/CSU in die Diskussion gebracht wurde –
wird, so der HDE, mit 100 000 neuen Arbeitsplätzen ge-
rechnet. Dass Sie uns via Bundesrat dabei unter die
Arme gegriffen haben, Herr Schauerte, ist richtig. Aber
die Initiative kam von den Grünen.

Meine Redezeit ist um, ich bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503114000


Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp,
FDP-Fraktion.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1503114100


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Lieber Herr Kollege Ulrich, im Gegensatz zu Ihnen
komme ich aus einem unternehmergeführten mittelstän-
dischen Betrieb.


(Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich auch!)


Versuchen Sie bitte nicht, mir zu erzählen, was Mittel-
stand ist.

Liebe Kollegen und Kolleginnen, bezüglich des The-
mas Reformen gibt es kein Frühlingserwachen. Ich
glaube, dass es hier im Deutschen Bundestag eine neue,
größer werdende Allianz der Regulierungswütigen gibt,
die plötzlich wieder neue Blüten treiben lassen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht nicht nur darum, dass sich die SPD und auch die
Grünen nur trauen, hier einen Gesetzentwurf mit einem
Minischritt von gerade einmal vier weiteren Stunden La-
denöffnungszeit vorzulegen, sondern auch um einen an-
deren Punkt, den ich deutlich erwähnen möchte. Dabei
kann ich leider auch die CDU/CSU-Fraktion nicht her-
auslassen.

Lieber Herr Schauerte, Sie haben vergessen, zu er-
wähnen, wie Sie zu den Punkten Sonderregelungen und
Verbeugung vor den Gewerkschaften stehen und abge-
stimmt haben. Zu unserer großen Überraschung ist jetzt
im Gesetzentwurf der rot-grünen Regierung vorgesehen,
dass die Beschäftigten in den Verkaufsstellen ein ver-
brieftes Recht auf einen freien Samstag einmal im Monat
erhalten sollen. Ich muss Ihnen sagen: Das ist absurd;


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Warum?)


das ist absoluter Unsinn. Ich finde es bedauerlich, dass
die CDU/CSU-Fraktion dem auch noch zustimmt – Sie
bilden eine Koalition der Unbelehrbaren –, weil dadurch
Sondertatbestände geschaffen werden.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Warum ist das falsch?)


– Ich sage Ihnen das sofort. Es ist doch so, dass Sie hier
eine Bevormundung hineinbringen. Sie wissen doch






(A) (C)



(B) (D)


Gudrun Kopp
selber, dass Sie damit in die Tarifhoheit der beiden Part-
ner, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, eingreifen. Sie
müssten eigentlich wissen, dass es aufgrund einer tarif-
vertraglichen Einigung bereits heute eine Fünftage-
woche gibt.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503114200


Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Blank?


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1503114300


Nein, ich gestatte jetzt keine.

Außerdem lassen Sie die Frage offen, wie Sie gegenü-
ber anderen Arbeitnehmern argumentieren wollen, zum
Beispiel in der Gastronomie, in der Freizeitbranche oder
in der Gesundheitsbranche.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Da haben wir den Sonntag auch geregelt! Gucken Sie mal ins Arbeitszeitgesetz, bevor Sie hier reden!)


Dies ist ein weiterer ordnungspolitischer Fauxpas.


(Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Die schwarzen und roten Gewerkschafter kann man einfach austauschen! Alles der gleiche Beton!)


Wir als FDP-Bundestagsfraktion stellen dem ganz
klar unsere Forderung entgegen. Wir wollen die Ab-
schaffung des Ladenschlussgesetzes für Werktage
ohne Wenn und Aber. Wir legen – um Legendenbildung
vorzubeugen – genauso Wert darauf, dass Sonn- und Fei-
ertage verfassungsrechtlich geschützt bleiben, so wie sie
das jetzt sind. Mit einem Unterschied: Wir folgen dem
Subsidiaritätsprinzip und möchten, dass die Länder je
nach kultureller Tradition entscheiden, welche Ausnah-
men gelten.


(Beifall bei der FDP)


Im Übrigen gibt es schon heute, je nach Bundesland
unterschiedliche Feiertage. Das funktioniert hervorra-
gend, wenn man den Menschen ein Stück mehr Eigen-
ständigkeit und weniger Regulierung zutraut. Das sollten
wir hinbekommen.

Ich betone noch einmal, dass der nötige Schutz für
die Mitarbeiter, die betroffen sind, nach wie vor gilt.
Auch wir stehen hinter dem Arbeitszeitgesetz und den
Arbeitsschutzgesetzen. Aber wir legen Wert auf mehr
Eigenständigkeit und weniger staatliche Regelungen.
Wir legen auch Wert auf eine größere Verbraucherorien-
tierung.

Niemand wird gezwungen – auch das hat Herr
Schauerte richtig ausgeführt –, ein Geschäft 24 Stunden
lang zu öffnen. Es geht darum, das nötige Zeitfenster zu
haben, um die eigenen Nischenchancen am Markt zu
nutzen. Das finde ich hervorragend.


(Beifall bei der FDP)


Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt anbringen.
Ich fand bei der Anhörung am vergangenen Montag die

Ausführungen des Rechtswissenschaftlers Professor
Hufen sehr interessant. Er hat angeregt, zu hinterfragen,
ob in einem freiheitlichen Rechtsstaat das Aufrechterhal-
ten von kleinlichen Regulierungen wie im Ladenschluss-
gesetz überhaupt noch verfassungskonform ist. Dieser
Umkehreffekt ist ein Aspekt, den viele in diesem Haus
überhaupt noch nicht bedacht haben. Eigentlich müssten
diejenigen, die nach wie vor regulieren wollen, begrün-
den, weshalb sie das wollen.


(Beifall bei der FDP)


Angesichts der Tatsache, dass wir morgen früh eine so
genannte „Ruckrede“ des Kanzlers hören werden, nach
der sich alles am Standort Deutschland verbessern wird,
muss ich sagen: Ich persönlich habe die Hoffnung aufge-
geben, dass es hier so etwas wie Reformfähigkeit


(Zuruf von der SPD: Sie sind immer hoffnungslos!)


oder einen Aufbruch in die Neuzeit geben wird. Das ist
dramatisch und tragisch; denn spürbare Steuerentlastun-
gen, Reformen bei der Gesundheitspolitik und die Sen-
kung der Abgaben, die den Mittelstand, die Wirtschaft
sowie die Bürger und die Verbraucher belasten, würden
den Mittelstand stabilisieren. Das wäre eine echte Re-
form, die zur Stabilisierung des Wirtschaftsstandorts
Deutschland führen würde. Diese haben wir wahrlich
nötig.

Ich finde es lächerlich und peinlich, dass wir heute ein
weiteres Mal über das Regulierungswerk Ladenschluss
diskutieren. Wir haben eigentlich viel größere Sorgen.


(Klaus Brandner [SPD]: Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass mindestens zehn Abschnitte des Gesetzes gestrichen worden sind?)


Wir sollten das Problem lösen, indem wir auf ein solches
Gesetz verzichten. Das wäre eine hervorragende Nach-
richt. Wir sollten nicht immer wieder neue Gesetze
schaffen, sondern Mut zum Schritt nach vorn haben.


(Klaus Brandner [SPD]: Haben Sie nicht gesehen, wie viel entrümpelt wurde?)


Ich sehe es aber zusammen mit meiner Fraktion rea-
listisch: Es wird noch eine Weile dauern, bis Vernunft,
Sachverstand und ordnungspolitisches Denken und Han-
deln in dieses Haus einziehen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503114400


Das Wort hat der Kollege Max Straubinger, CDU/
CSU-Fraktion.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1503114500


Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kol-
legen! Wir reden heute wiederum über die Ladenöff-
nungszeiten, besser gesagt, über die Ladenschlusszeiten
in unserem Land. Die SPD freut sich, am Vortag der
Rede des Bundeskanzlers noch ein großes Reformprojekt






(A) (C)



(B) (D)


Max Straubinger
präsentieren zu können. Das bedeutet, die Geschäfte
können am Samstag vier Stunden länger öffnen. Das ist
eine großartige Reform. Sie können stolz darauf sein;
denn sie zeigt – das wird auch den Wählerinnen und
Wählern bewusst –, wie reformunfähig SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen mittlerweile geworden sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Derzeit gilt die strenge Ladenöffnungsregelung, nach
der die Geschäfte von 6 Uhr morgens bis 20 Uhr abends
geöffnet sein können.


(Klaus Brandner [SPD]: Sie ist doch nicht streng, sie ist sozial gerecht!)


Diese Möglichkeit wird heute schon von den verschiede-
nen Einzelhändlern nicht genutzt. Der Bäcker öffnet
frühmorgens, wie es für ihn richtig ist, und schließt
wahrscheinlich vor 20 Uhr. Der Textilhändler dagegen
öffnet später und schließt vielleicht um 20 Uhr, in der
Regel aber früher.

Warum ist das so? Es ist deshalb so, weil die unter-
nehmerische Entscheidung es gebietet, über den Grenz-
ertrag nachzudenken, ihn zu bestimmen und darauf letzt-
endlich die Öffnungszeiten abzustimmen.

Ic
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1503114600


Ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Präsidentin:

Ich glaube, wir haben recht daran getan, die Unter-
nehmen des Einzelhandels durch die Erweiterung
des Öffnungsrahmens an Samstagen in die Lage zu
versetzen, sich besser auf Verbraucherwünsche ein-
zustellen und ihre Leistungen dem Bedarf und dem
Kundenaufkommen anzupassen. Ich sage an dieser
Stelle noch einmal: Niemand wird verpflichtet, sein
Geschäft bis 20 Uhr offen zu halten. Jeder soll nach
Maßgabe und geschäftlichem Interesse seinen La-
den offen halten oder ihn schließen, wenn er das für
richtig hält.

Wer sich diesem letzten Satz anschließt, der müsste ei-
gentlich dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion, in dem
eine Abschaffung der Ladenöffnungszeiten von Montag
bis Samstag gefordert wird, zustimmen. Es soll den Ein-
zelhändlern überlassen sein, wann sie ihre Geschäfte öff-
nen und wann sie sie zusperren.

Ich möchte mich auch mit der These befassen, die
längeren Ladenöffnungszeiten würden den Strukturwan-
del und die Unternehmenskonzentration bzw. die Um-
satzkonzentration beschleunigen. Wir sollten uns in
diesem Zusammenhang einmal einige Zahlen zu Gemüte
führen. 1995 gab es in Deutschland laut Auskunft des
HDE 95 Millionen Quadratmeter Verkaufsflächen. Im
Jahr 2002 waren es 110 Millionen Quadratmeter. Das ist
eine Steigerung um knapp 16 Prozent.

Man könnte nun ableiten, dass die Beschäftigung zu-
genommen haben müsste. Das ist aber nicht der Fall. Die
Beschäftigung ist vielmehr massiv gesunken. Das zeigt
sehr deutlich, dass in diesem Bereich die Öffnungszeiten

nichts für die Beschäftigung gebracht haben. Dies
müsste meines Erachtens auch den Vertretern von SPD
und Grünen einleuchten. Letztendlich haben sich einzig
und allein die Finanzkraft und die Marktmacht der ein-
zelnen Handelskonzerne, die sich leider Gottes bei uns
auf acht Unternehmen konzentrieren, durchgesetzt. Das
ist das entscheidende Kriterium und nicht die Frage, ob
in der Woche die Geschäfte eine, zwei oder vier Stunden
länger geöffnet werden können. Es geht darum, den Ver-
braucherinnen und Verbrauchern für sie angenehme Öff-
nungszeiten zu bieten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich glaube, es wäre besser gewesen, dem kleinstruktu-
rierten Handel Nischen zu eröffnen. Bündnis 90/Die
Grünen hat immer wieder davon gesprochen, besonders
die Citylagen zu unterstützen, weil hier abends verstärkt
kulturelles Leben stattfindet. Daher sollte es den Einzel-
händlern dort möglich sein, unter Umständen die Ge-
schäfte länger zu öffnen. Unser Antrag wird dieser Tat-
sache durch die Forderung nach Abschaffung der
Ladenöffnungszeiten von Montag bis Samstag gerecht.

Ich glaube, dass die SPD und die Grünen weiterhin
darauf setzen, dass die Menschen Konsumverzicht üben
sollten, wie es der Fraktionsvorsitzende der SPD,
Müntefering, vorgegeben hat.


(Zurufe von der SPD: Ah! – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Aber nur nachts!)


Das Entscheidende ist: Wenn Sie etwas für den klein-
strukturierten Einzelhandel tun wollen, verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen, dann entlasten Sie die Einzelhandelsunternehmer
von überbordender Bürokratie.


(Klaus Brandner [SPD]: Die Sie produziert haben, Herr Straubinger!)


Dazu trägt die Abschaffung des Ladenschlussgesetzes
bei. Entlasten Sie sie von zu hohen Sozialversicherungs-
beiträgen und von zu hohen Steuerbelastungen! Ich
nenne in diesem Zusammenhang die Abschaffung der
Ökosteuer, die vor allen Dingen bei Altbauten zu höhe-
ren Heizkosten führt. Das würde unsere Einzelhandels-
unternehmen fördern. So könnten Sie tatsächlich etwas
für den Mittelstand tun.

Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gudrun Kopp [FDP] – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Nur Mut, meine Damen und Herren von der SPD!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503114700


Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekre-
tär Gerd Andres.

G
Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1503114800


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Genau einen Monat nach der ersten Lesung des






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Gesetzentwurfs der Bundesregierung wird heute die Än-
derung des Ladenschlussgesetzes im Deutschen Bundes-
tag abschließend beraten.


(Zuruf von der CDU/CSU: Bisher ist alles richtig!)


Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Kolleginnen
und Kollegen, die dazu beigetragen haben, dass der Ge-
setzentwurf so zügig beraten wurde. Ich bedanke mich
auch für eine sehr intensive und inhaltsreiche Diskussion
in der Ausschusssitzung am vergangenen Mittwoch.
Wenn es nicht darum geht, Fensterreden zu halten und
Ideologien vor sich herzutragen, sondern darum, sich mit
Problemen auseinander zu setzen, dann kann man er-
staunliche Erfahrungen mit den Kolleginnen und Kolle-
gen aus der Unionsfraktion, aber auch aus der SPD-
Fraktion machen.

Die Sachverständigenanhörung des Ausschusses für
Wirtschaft und Arbeit am Montag dieser Woche hat er-
neut das weite Spektrum der Positionen zum Laden-
schluss deutlich gemacht. Die Auffassungen reichen von
einer völligen Freigabe der Ladenöffnungszeiten in der
Woche bis hin zur Ablehnung jedweder Änderung des
geltenden Rechts. Diese Positionen kennen wir bereits
seit Jahren; sie hatten daher nur einen geringen Neuig-
keitswert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin seit
1987 Mitglied des Deutschen Bundestages und habe jede
Debatte über Ladenöffnungszeiten miterlebt. Mir ist kein
neues Argument mehr begegnet und mir fällt auch kein
neues Argument mehr ein. Wir alle machen die Erfah-
rung, dass man die Argumente und Positionen nutzt, um
die jeweils eigene ideologische Haltung zu begründen.
Davon sollten wir uns verabschieden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In zwei zentralen Punkten waren aber weitgehend ein-
heitliche Positionen festzustellen: Alle Verbände stimm-
ten darin überein, dass der verfassungsmäßig garantierte
Schutz der Sonn- und Feiertage nicht angetastet werden
dürfe. Weitgehende Einigkeit gab es auch in der Frage
der Bundeseinheitlichkeit. Kein Verband hat sich dafür
ausgesprochen, die Regelung des Ladenschlusses den
Ländern zu überlassen.

Die Anhörung hat daher die Bundesregierung in ihrer
Haltung bestärkt, dass wir auch weiterhin ein bundesein-
heitliches Ladenöffnungsgesetz brauchen. Ein Bundes-
gesetz sichert den Schutz der Sonn- und Feiertage. Die
Bundesregierung ist sich mit nahezu allen Beteiligten
– dem Einzelhandel, den Kirchen und Gewerkschaften –
sowie der Mehrheit der Bevölkerung einig, dass insbe-
sondere die verfassungsrechtlich geschützte Sonn- und
Feiertagsruhe nicht angetastet werden darf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Ladenschlussgesetz enthält klare, einheitliche Re-
gelungen, die an Sonn- und Feiertagen nur einen sehr ein-
geschränkten Verkauf erlauben. Wer dagegen wie die FDP-
Fraktion das Ladenschlussgesetz ganz abschaffen will,


(Gudrun Kopp [FDP]: An Werktagen!)


der nimmt in Kauf, dass die Ladenöffnung an Sonn- und
Feiertagen durch Landesrecht geregelt würde.

Ich möchte keinen Wettbewerb der Länder um die
Frage, wo die Geschäfte sonntags am längsten öffnen
dürfen. Die Folgen sind doch klar – hier unterstütze ich
das, was der Kollege Schauerte gesagt hat –: Man muss
nur an die Stadtstaaten denken, um zu wissen, dass das
Recht zersplittert und der Sonn- und Feiertagsschutz
ausgehöhlt würden. Es geht nicht um das Spiel „Alles
oder nichts“, auch nicht darum, wer die beste marktwirt-
schaftliche Theorie erfunden hat. Es geht um sachge-
rechte, praktikable Lösungen, die die Interessen aller Be-
teiligten widerspiegeln.


(Zustimmung bei der SPD)


Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der
Ladenöffnung an Samstagen setzt die Bundesregierung
auf eine Reform mit einer maßvollen Ausweitung der
Ladenöffnungszeiten. Der Gesetzentwurf ist eine tragfä-
hige Lösung, die den Bedürfnissen der Kundinnen und
Kunden sowie des Einzelhandels gerecht wird. Die Ba-
lance zwischen den Interessen der Geschäftsinhaber, der
Verbraucherinnen und Verbraucher sowie der Beschäf-
tigten bleibt erhalten.

Es ist nicht wegzudiskutieren: Der Samstag ist inzwi-
schen zu einem Haupteinkaufstag geworden. Es gibt
ein Bedürfnis der Verbraucherinnen und Verbraucher,
samstags auch nach 16 Uhr einkaufen zu können.

Der Regierungsentwurf sieht eine Verlängerung der
gesetzlichen Ladenöffnungszeiten an Samstagen bis
20 Uhr vor. Der Einzelhandel kann dann an allen Werk-
tagen von Montag bis Samstag im Zeitraum von 6 bis
20 Uhr öffnen. Wir ermöglichen damit eine zeitgemäße
und bedarfsorientierte Öffnung der Läden.

Seit dem In-Kraft-Treten des Ladenschlussgesetzes
im Jahre 1956 haben sich die wirtschaftlichen und sozia-
len Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik
Deutschland erheblich verändert. Der Gesetzgeber hat
auf diese Veränderung mit einer Überprüfung der Rege-
lung zum Ladenschluss reagiert und das Recht den geän-
derten Realitäten angepasst.

Wir reichen unsere Hand aber nicht für eine Öffnung
rund um die Uhr. Es besteht wenig Bedarf, nachts um
3 Uhr Socken oder Haferflocken zu kaufen, wie es einer
der Sachverständigen am Montag auf den Punkt ge-
bracht hat. Dass aber ein Bedürfnis für eine längere Öff-
nung am Samstag besteht, zeigen auch die Erfahrungen
in Niedersachsen mit den verlängerten Ladenöffnungs-
zeiten während der Weltausstellung EXPO 2000. Die
Verbraucherinnen und Verbraucher haben die verlänger-
ten Öffnungszeiten an Samstagen rege genutzt. Wer sich
heute in Citylagen begibt – wir diskutieren über das
Cityprivileg –, der weiß, dass die Innenstädte bis 16 Uhr
brummen und dass es danach in den Innenstädten leer
wird. Die Menschen stimmen mit ihren Füßen ab. Der
Gesetzgeber muss, finde ich, Schritt für Schritt auf diese
geänderten Bedürfnisse reagieren und entsprechende
Möglichkeiten schaffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Die Ausweitung der gesetzlichen Ladenöffnungs-
zeiten an Samstagen trägt dem veränderten Kauf-
verhalten Rechnung. Durch die Erweiterung des Öff-
nungsrahmens an Samstagen werden die Unternehmen
des Einzelhandels in die Lage versetzt, sich besser auf
die Verbraucherwünsche einzustellen und ihre Leis-
tungen dem Bedarf und dem Kundenaufkommen an-
zupassen.

Der Trend im Einzelhandel zeigt seit Jahren nach un-
ten. Sinkende Umsätze und sinkende Arbeitsplatzzahlen
kennzeichnen die Situation. Ich stimme ausdrücklich der
folgenden Aussage zu: Der Einzelhandel hat nur dann
eine Chance, diesen Abwärtstrend zu stoppen und umzu-
kehren, wenn er sich den Bedürfnissen der Verbraucherin-
nen und Verbraucher öffnet und sich an ihnen orientiert.
Dazu wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ei-
nen Beitrag leisten.

Ich bin davon überzeugt, dass die neue Regelung ei-
nen positiven Impuls für den privaten Konsum geben
wird. Gleichzeitig wird durch die erweiterte Öffnungs-
möglichkeit an Samstagen ein wirksamer Beitrag insbe-
sondere zur Belebung der Innenstädte geleistet.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält eine
maßvolle Anpassung der Ladenöffnungszeiten, die die
veränderten Verbrauchergewohnheiten berücksichtigt
und die Balance zwischen den unterschiedlichen Interes-
sen im Einzelhandel gewährleistet. Wir erhalten den La-
denschluss an den übrigen Werktagen und schützen den
Sonntag weiterhin als Ruhetag.

Ein letzte Anmerkung möchte ich zu dem machen,
was Herr Kollege Schauerte gesagt hat. Wir nehmen
jetzt nicht die Diskussion von morgen vorweg. Herr
Kollege Schauerte, wenn Sie eine namentliche Abstim-
mung wollen – ich finde das schon bemerkenswert –,
dann stellen Sie doch einen Antrag. Daran hindert Sie
doch niemand. Ich weiß allerdings, dass die inhaltli-
chen Positionen Ihres Gesetzentwurfs auch in Teilen Ih-
rer eigenen Fraktion außerordentlich umstritten sind. Es
gibt eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die der
Auffassung sind, dass man in einer ganz anderen Art
und Weise etwas für den Schutz insbesondere des klein-
teiligen Einzelhandels leisten müsste. Wenn Sie also die
Sorge haben, dass wir dieses Gesetz nicht verabschie-
den können, dann beantragen Sie doch eine nament-
liche Abstimmung. Sie werden sehen, was dabei her-
auskommt.

Ich bedanke mich auf alle Fälle für die gute inhaltli-
che Diskussion. Wir sind mit diesem Gesetzentwurf auf
dem richtigen Weg.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503114900


Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Kurt
Segner, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Kurt Segner (CDU):
Rede ID: ID1503115000


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Mehr als 4,7 Millionen Menschen waren im Februar
ohne Arbeit. Das ist die höchste Arbeitslosenzahl wäh-
rend der Amtszeit der rot-grünen Bundesregierung.


(Lothar Mark [SPD]: Bei Ihnen war sie damals höher! – Klaus Brandner [SPD]: 4,9 Millionen bei der CDU/CSU, Herr Kollege!)


Die Unternehmerpleiten erreichen neue Rekordzahlen.
Umsätze brechen auf breiter Front ein. Der Einzelhandel
hat im Jahr 2002 das schlechteste Ergebnis seit 1945 er-
zielt.

Vor diesem Hintergrund sind alle notwendigen Maß-
nahmen zu treffen, die zu mehr Dynamik, mehr Wachs-
tum und mehr Beschäftigung in unserem Land beitragen.
Was wir brauchen, ist wieder mehr Ludwig Erhard: mehr
soziale Marktwirtschaft,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


mehr Freiraum für den Einzelnen und weniger Staat.
Ludwig Erhard schrieb bereits 1957 in seinem Buch mit
dem Titel „Wohlstand für alle“:

Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will
das Risiko des Lebens selber tragen, will für mein
Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du,
Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit dem Gesetzentwurf der rot-grünen Bundesregie-
rung, mit der Verlängerung der Ladenöffnungszeit am
Samstag bis 20 Uhr wird zwar ein kleiner Schritt in die
richtige Richtung gemacht. Doch Sie von der SPD fallen
immer wieder in das alte Gedankengut zurück, alles re-
geln zu wollen. Warum lassen wir den Geschäftsinhaber
nicht selber entscheiden, wann er seinen Laden öffnen
oder schließen möchte?

Auch mit dem Änderungsantrag zur Direktvermark-
tung, den Sie vor circa 48 Stunden eingebracht haben,
waren Sie auf dem richtigen Weg. Aber bereits 24 Stun-
den später hat Sie der Mut verlassen und Sie haben den
eigenen Antrag wieder zurückgezogen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir brauchen ein Ladenschlussgesetz, das sich mit
den veränderten Lebensgewohnheiten und Bedürfnissen
des Kunden deckt. Kleine Mittelständler und Existenz-
gründer haben so die Möglichkeit, Marktnischen leichter
zu besetzen. Auch der Konsument entzieht sich immer
mehr der Bevormundungsrolle des Staates, indem er frei
entscheidet, wann und wo er seine Einkäufe erledigt –
sei es im Bahnhof oder im Flughafen, sei es beim Tank-
stellenshopping oder im Internet. Von dieser Ladenöff-
nungsfreiheit haben zahlreiche Demonstranten von Verdi
an einem Sonntag Gebrauch gemacht, indem sie den De-
monstrationstag als Einkaufstag nutzten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Sehr vernünftig! – Karl-Josef Kurt Segner Laumann [CDU/CSU]: Die haben sich ja gar nicht an den Konsumverzicht gehalten!)





(A) (C)


(B) (D)


– So ist es.

Das bestehende Ladenschlussgesetz erweist sich für
Handel und Dienstleistung als Hemmschwelle. Die Frei-
gabe des Ladenschlusses ist auch im Interesse der Fami-
lie. Auch für den Tourismusstandort Deutschland ist es
ein Schritt in die richtige Richtung. Aber die Neurege-
lung muss auch den sozialen und kulturellen Grundlagen
unseres Landes Rechnung tragen. Deshalb sind die
Sonn- und Feiertage in der jetzigen Form zu wahren.

Mit dem Antrag der CDU/CSU kommen wir folgen-
dem Ziel ein Stück näher: mehr Freiheit und weniger
Bürokratie, mehr Wachstum und Beschäftigung. Aber
dies allein reicht nicht aus. Wir müssen auch dafür sor-
gen, dass die Bürgerinnen und Bürger wieder mehr Geld
in der Tasche haben.

Meine Damen und Herren von der SPD und von den
Grünen, wenn Sie schon nicht Ihrem Gesetzentwurf zu-
stimmen können, dann bitte ich Sie im Interesse unseres
Landes: Stimmen Sie unserem Antrag zu!

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Klaus Brandner [SPD]: Wovon träumen Sie nachts, Herr Kollege?)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503115100


Herr Kollege Segner, Sie hielten gerade Ihre erste
Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen sehr
herzlich dazu und wünsche Ihnen persönlich alles Gute.


(Beifall)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503115200


Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ver-
längerung der Ladenöffnungszeiten an Samstagen,
Drucksachen 15/396 und 15/521. Dazu liegen uns drei
persönliche Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der
Geschäftsordnung vor: die persönliche Erklärung der
Abgeordneten Ernst Hinsken, Renate Blank und Stephan
Mayer, die persönliche Erklärung von Fritz Schösser und
Horst Schmidbauer und die persönliche Erklärung von
36 Abgeordneten der SPD-Fraktion.1) Diese Erklärungen
liegen dem Präsidium schriftlich vor.

Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/591, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Nein! – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie haben keine Mehrheit! – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Das waren da drüben zu viele Gegenstimmen!)


der CDU/CSU und der FDP angenommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Hat Ihnen das ein Beamter eingeflüstert? Das bestimmt doch die Präsidentin!)


Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das deutsche Parlament ist kein Beamtenparlament!)


Wer stimmt dagegen? –


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist die Mehrheit!)


Im Präsidium herrscht über diese Frage keine Einigkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bitte Sie daher, sich zum Hammelsprung aus dem
Plenarsaal zu begeben.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503115300


Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer ihre
Plätze eingenommen? Das ist von hier vorne wegen der
einfallenden Sonne sehr schwer zu erkennen. – Wenn
dies der Fall ist, eröffne ich die Abstimmung.

Sind jetzt alle Kolleginnen und Kollegen im Saal? –
Ich schließe die Abstimmung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe das Ergeb-
nis des Hammelsprungs bekannt. Mit Ja haben gestimmt
279 Mitglieder des Parlaments, mit Nein 224, Enthaltun-
gen gibt es keine.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Blamage! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lächerliche Nummer! – Weitere Zurufe von der SPD)


Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.


(Unruhe)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, da wir noch weitere
Abstimmungen zu diesem Thema haben, möchte ich Sie
bitten, sich in Ihre Fraktionsreihen zu begeben. Wir tun
uns dann mit der Ermittlung der Abstimmungsergeb-
nisse leichter.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Aufhe-
bung des Ladenschlussgesetzes, Drucksache 15/106.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit auf
Drucksache 15/591, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalition, bei Zustimmung
der FDP und bei Enthaltung der CDU/CSU, abgelehnt.1) Anlage 3 bis 5






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksa-
che 15/591 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel „Ladenschlussgesetz modernisieren“. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Bechluss-
empfehlung, den Antrag auf Drucksache 15/193 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalition und einer Stimme
aus der CDU/CSU gegen die Stimmen der CDU/CSU im
Übrigen bei Enthaltung der FDP angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d sowie
Zusatzpunkt 3 auf:

7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

59. Tagung der Menschenrechtskommission
der Vereinten Nationen

– Drucksache 15/549 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung

6. Bericht der Bundesregierung über ihre
Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Be-
ziehungen und in anderen Politikbereichen

– Drucksachen 14/9323, 15/171 Nr. 1, 15/397 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Rudolf Bindig
Hermann Gröhe
Rainer Funke

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN

Menschenrechte als Leitlinie der deutschen
Politik

– Drucksachen 15/136, 15/495 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Rudolf Bindig
Hermann Gröhe
Rainer Funke

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Werner
Hoyer, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP

Menschenrechtsverletzungen in Tschetsche-
nien nicht vergessen

– Drucksachen 15/64, 15/496 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Rudolf Bindig
Melanie Oßwald
Rainer Funke

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, Holger
Haibach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU

Für Menschenrechte weltweit eintreten – die
internationalen Menschenrechtsschutzinstru-
mentarien stärken

– Drucksache 15/535 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.


(Unruhe)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir jetzt in
der Tagesordnung – die ohnehin ziemlich lang ist – wei-
termachen? Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die
bei dem Tagesordnungspunkt nicht zuhören wollen, den
Plenarsaal zu verlassen. – Vielleicht können die Kolle-
ginnen und Kollegen, die in den Gängen und hinten an
der Tür ihre Gespräche fortsetzen, dieses außerhalb des
Saales tun; ich bitte darum.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rudolf Bindig, SPD-Fraktion.


Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1503115400


Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Wir führen diese Menschenrechtsdebatte zu einem
wichtigen Zeitpunkt und in einer schwierigen außenpoli-
tischen Situation. In wenigen Tagen beginnt in Genf die
59. Tagung der Menschenrechtskommission der Verein-
ten Nationen. So mühsam sich die Beratungen in Genf
immer wieder gestalten, weil das Gremium einerseits aus
Staaten besteht, die die Menschenrechte voranbringen
wollen, und andererseits aus Staaten, die Fortschritte
eher verhindern wollen, so unverzichtbar ist doch das
jährliche Treffen.

Die Menschenrechtskommission der Vereinten Na-
tionen ist das wichtigste internationale Gremium, das
sich regelmäßig mit der Lage der Menschenrechte welt-
weit befasst und Menschenrechtsverletzungen durch
Staaten öffentlich kritisiert. Dieses Jahr tagt die Men-
schenrechtskommission unter dem Vorsitz Libyens, das
selbst ein Problemland ist. Die Beratungen fallen in eine
Zeit, in der die internationale Gemeinschaft darum ringt,
den Konflikt mit dem Irak friedlich zu lösen.

Nach wie vor ist die Weltpolitik von den Terroran-
schlägen des 11. September und dem anschließenden
Kampf gegen den internationalen Terrorismus geprägt.
So legitim dieser Kampf auch ist, so problematisch sind
vielerorts seine Auswirkungen auf die Menschenrechte.
Als Menschenrechtler müssen wir klarstellen: Der
Kampf gegen den Terrorismus darf weder zu einer Ein-
schränkung von Grund- und Freiheitsrechten führen noch






(A) (C)



(B) (D)


Rudolf Bindig
darf er als Vorwand für die Unterdrückung innenpoliti-
scher Gegner und für militärische Interventionen dienen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rainer Funke [FDP])


Tief besorgt sind wir darüber, dass einige Staaten die
Anwendung von Folter mit der Begründung rechtferti-
gen, mit den so erlangten Informationen könnten neue
Terroranschläge verhindert werden. Dies widerspricht
völkerrechtlichen Konventionen. Nicht einmal in
Kriegszeiten oder im Falle eines öffentlichen Notstandes
darf das Verbot von Folter eingeschränkt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rainer Funke [FDP])


Das sollten sich auch diejenigen merken, die in Deutsch-
land eine Diskussion zu dem Thema Folter losgetreten
haben. Auch das Verbot von Auslieferungen oder Ab-
schiebungen bei einer drohenden Folter oder Todesstrafe
darf auf keinen Fall mit dem Verweis auf den Kampf ge-
gen den Terrorismus aufgeweicht werden.

Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen haben zur Vorbereitung der 59. Tagung der Men-
schenrechtskommission der Vereinten Nationen einen
gemeinsamen Antrag vorgelegt. Wir wollen darin die
Bundesregierung in ihrem Einsatz für die weltweite För-
derung der Menschenrechte unterstützen. Unsere ent-
scheidenden Forderungen sind:

Erstens. Die Menschenrechtskommission muss bei
der internationalen Staatengemeinschaft nachdrücklich
die Einhaltung der Menschenrechte und des Völker-
rechts – auch im Antiterrorkampf – einfordern.

Zweitens. Die MRK soll als Forum genutzt werden,
um die Implementierung des internationalen Menschen-
rechtsschutzes voranzubringen und möglichst viele Staa-
ten zur Zeichnung und Ratifizierung von Menschen-
rechtsabkommen zu bewegen.

Drittens. Besondere Beachtung bei der Tagung der
Menschenrechtskommission ist der Stärkung der wirt-
schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu schen-
ken, dem Bericht des Sonderberichterstatters gegen Fol-
ter sowie den menschenrechtsverletzenden Praktiken der
Scharia.

Viertens. Besondere Initiativen sollen von der Bun-
desregierung im Verbund mit der Europäischen Union in
Bezug auf die Besorgnis erregende Menschenrechtssitu-
ation in der Volksrepublik China, in Simbabwe, Kolum-
bien und in der Russischen Föderation, speziell in
Tschetschenien, unternommen werden.

Die genannten Länderbeispiele haben wir aus folgen-
den Gründen besonders hervorgehoben: In China hat
sich die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen im
Rahmen der Antikriminalitätskampagne „Hartes Durch-
greifen“ drastisch erhöht. Der Katalog der Straftaten, für
die die Todesstrafe verhängt wird, wurde durch eine
Neudefinition des Tatbestandes „schweres Verbrechen“
erweitert und umfasst auch gewaltfreie Delikte wie Be-
stechung, Veruntreuung, Steuerhinterziehung und Spe-
kulation. Oftmals werden nach Schnellverfahren die Ver-

urteilten sofort hingerichtet. Eine neue negative Qualität
hat auch die Einschränkung der Presse- und Meinungs-
freiheit in China erreicht. Eine eigens eingerichtete Inter-
netpolizei kontrolliert und blockiert den Zugang zum
Internet. In den Provinzen werden Befürworter größerer
kultureller und politischer Autonomie mit Extremismus,
Separatismus und Terrorismus in Verbindung gebracht.
Die Kontrolle Pekings über das öffentliche, kulturelle
und religiöse Leben Tibets bleibt weiterhin erdrückend.

Kolumbien leidet seit Jahrzehnten an gewaltsamen
inneren Konflikten, bei denen paramilitärische Gruppen,
Guerillas und Drogenhändler, aber auch staatliche
Sicherheitsorgane schwerste Verbrechen und Menschen-
rechtsverletzungen begehen. Mit 3 000 Entführungen
und 30 000 Morden pro Jahr herrscht in Kolumbien ein
Klima der Gewalt, in dem sich niemand mehr sicher füh-
len kann und in dem Verbrechen ohne strafrechtliche
Konsequenzen begangen werden können.

Simbabwe ist eines jener Länder in Afrika, deren
Menschenrechtslage sich dramatisch verschlechtert hat.
Diktatur, Korruption, Massenenteignungen von weißen
Farmern und eine ungewöhnlich lange Dürreperiode ha-
ben eine menschenrechtliche und humanitäre Katastrophe
ausgelöst. Die Opposition ist schwersten Menschenrechts-
verletzungen wie Folter und willkürlichen Verhaftungen
ausgesetzt, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind
faktisch aufgehoben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine besondere He-
rausforderung für die Menschenrechtspolitik stellt weiter-
hin der Tschetschenienkonflikt in der Russischen Föde-
ration dar. Ohne Zweifel ist Russland in der Außenpolitik
gegenwärtig ein wichtiger Akteur und Partner. Zusam-
men mit Frankreich, Deutschland und weiteren Ländern
bemüht es sich, den Irakkonflikt ohne einen Krieg zu lö-
sen. Ein solcher Krieg würde Abertausenden von Men-
schen das Leben kosten, also ihr elementares Menschen-
recht, das Recht auf Leben, verletzen. Innenpolitisch
dagegen ist Russland in Tschetschenien selbst tief in ei-
nen Konflikt verstrickt, in dem es immer wieder zu
schwersten Menschenrechtsverletzungen und Verbre-
chen durch die beiden Konfliktparteien, das russische
Militär und die tschetschenischen Kämpfer, kommt.

Kann und darf nun – so stellt sich aus menschenrecht-
licher Sicht die Frage – die positive Rolle Russlands in
der Irakfrage dazu führen, dass über die menschenrecht-
liche Lage in Tschetschenien hinweggesehen wird? Die
Antwort ist glasklar: Menschenrechtsverletzungen kön-
nen und dürfen niemals gegen „positive Taten“ aufgewo-
gen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Massentötungen, außergerichtliche Hinrichtungen, Fol-
ter, Verschwindenlassen, Vergewaltigungen, Plünderun-
gen und Raub müssen als das gesehen werden, was sie
sind: schwerste Menschenrechtsverletzungen, die nicht
relativiert, ignoriert und beschönigt werden dürfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Rudolf Bindig
Diese Auffassung haben wir nicht nur im Koalitionsan-
trag zur Menschenrechtskommission zum Ausdruck ge-
bracht, sondern auch in dem interfraktionellen Antrag
„Achtung der Menschenrechte und des humanitären
Völkerrechts in Tschetschenien“. Hier sind verschiedene
Initiativen zu Tschetschenien gebündelt, welche im
Deutschen Bundestag und in der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates unternommen worden sind.
Darin wollen wir klar machen, dass es auch in Tschet-
schenien keine Alternative zu einem gewaltfreien politi-
schen Prozess gibt.

In diesen Tagen habe ich erneut im Auftrag der Parla-
mentarischen Versammlung des Europarates einen Be-
richt zur menschenrechtlichen Lage in Tschetschenien
erstellt. Der Bericht listet sowohl die schweren Men-
schenrechtsverletzungen auf, welche von den russischen
Sicherheitskräften begangen werden, als auch die Ver-
brechen der tschetschenischen Kämpfer. Die Verbrechen
russischer Militärs an der Zivilbevölkerung können mit
Ort, Zeit und Datum exakt belegt werden. Es ist eine
Chronik des Grauens, von Massakern, Massengräbern,
außergerichtlichen Hinrichtungen, Verschwinden von
Personen, Folter, Vergewaltigung und anderen Men-
schenrechtsverletzungen. Auf tschetschenischer Seite
geht es vor allem um die brutale Geiselnahme in Mos-
kau, den Terroranschlag in Grosny sowie um Entführung
und Tötung moskaufreundlicher Tschetschenen und ih-
rer Familien.

Zwar stellen die russischen Justizbehörden Unter-
suchungen über Menschenrechtsverletzungen an. Leider
muss aber festgestellt werden, dass in den meisten Fällen
die Verantwortlichen nicht ermittelt, geschweige denn
zur Rechenschaft gezogen werden. Ernüchtert bin ich zu
der Erkenntnis gekommen, dass die Anklagebehörden
der Russischen Föderation entweder unwillig oder un-
fähig sind oder dass sie systematisch daran gehindert
werden, diejenigen zu finden und vor Gericht zu brin-
gen, welche für die schweren Menschenrechtsverletzun-
gen verantwortlich sind.

Der Generalsekretär des Europarates hat erst vor we-
nigen Tagen dargelegt, dass sich die Menschenrechts-
situation in Tschetschenien im Jahr 2003 erneut erheb-
lich verschlechtert habe. Die Zahl der Verschwundenen
sei weiter angestiegen. Allein im Januar 2003 seien
63 Fälle von Verschwindenlassen registriert worden. Das
sind zwei Fälle pro Tag.

Angesichts dieser schrecklichen Lage müssen wir un-
missverständlich fordern, dass die Menschenrechtsver-
letzungen in Tschetschenien, die das Ausmaß von Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit angenommen haben,
sofort eingestellt und die Täter zur Verantwortung gezo-
gen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Tschetschenien,
auf der kommenden MRK-Sitzung und in der bilateralen
Außenpolitik – immer muss deutlich werden, dass die
Menschenrechte Leitlinie der deutschen Politik sind und
bleiben.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503115500


Der nächste Redner ist der Kollege Hermann Gröhe,
CDU/CSU-Fraktion.


Hermann Gröhe (CDU):
Rede ID: ID1503115600


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenige Tage vor Beginn der 59. Tagung der
Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in
Genf diskutieren wir heute über Anträge zu ebendieser
Tagung, zur Menschenrechtspolitik insgesamt und zur
Lage in Tschetschenien.

Schaut man sich die Anträge an, so stellt man viele
Gemeinsamkeiten fest, aber auch manchen markanten
Unterschied. Gerade wenn es darum geht, Klartext in Sa-
chen Menschenrechte zu sprechen, ist es gut, wenn wir
dies gemeinsam tun können.


(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der FDP)


Deshalb freue ich mich, dass es zur Lage in Tschetsche-
nien eine von allen Fraktionen gemeinsam getragene und
in der Sache wie in der Sprache sehr deutliche Be-
schlussempfehlung auf der Grundlage eines FDP-
Antrags gibt. Die klare Verurteilung der Menschen-
rechtsverletzungen in Tschetschenien unterscheidet sich
wohltuend von manch fragwürdigem Lob von Kanzler
Schröder für Putins Tschetschenienpolitik.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Frau Kollegin Oßwald wird dazu Weiteres für unsere
Fraktion ausführen. Schon jetzt möchte ich aber Ihnen, Herr
Kollege Bindig, für Ihren besonderen persönlichen Einsatz
im Hinblick auf die Lage in Tschetschenien danken.


(Beifall im ganzen Hause)


Auch die beiden vorliegenden Anträge zur
59. Tagung der Menschenrechtskommission zeichnen
sich durch erfreuliche Gemeinsamkeiten aus. Dies ist zu
begrüßen; denn die Tagung steht vor großen Herausfor-
derungen. Bereits die Tagung im vergangenen Jahr war
in erheblichem Umfang von Konfrontation, Blockbil-
dung und der Solidarisierung von Staaten geprägt, denen
man zu Recht schwere Menschenrechtsverletzungen
vorwerfen muss. Ja, man muss so weit gehen, festzustel-
len, dass das Verhalten einer ganzen Reihe von Mitglied-
staaten der MRK geeignet ist, die Glaubwürdigkeit und
Funktionsfähigkeit der UN-Menschenrechtspolitik ins-
gesamt massiv zu gefährden. Dies gilt vor allem für die
zunehmende Tendenz, die Debatte über bestimmte Län-
derresolutionen erst gar nicht auf die Tagesordnung zu
setzen. Länder wie die Volksrepublik China, die gar
nicht erst bereit sind, die Menschenrechtslage im eige-
nen Land überhaupt zu diskutieren, zeigen damit, dass
ihre Beteuerungen in Sachen Menschenrechte wenig
glaubhaft sind.






(A) (C)



(B) (D)


Hermann Gröhe
Inakzeptabel sind alle Versuche, die Mitwirkungs-
möglichkeiten von Nichtregierungsorganisationen,
zum Beispiel durch Verkürzung von Sitzungszeiten, zu
beschränken; denn die Mitwirkung der Nichtregierungs-
organisationen ist ein wesentlicher Bestandteil der Ar-
beit in Genf. Wir sind diesen Nichtregierungsorganisati-
onen für ihren unermüdlichen Einsatz sehr dankbar.


(Beifall im ganzen Hause)


Die Arbeit der Sonderberichterstatterinnen und Son-
derberichterstatter der Vereinten Nationen, besonders
aber die Arbeit des neuen Hochkommissars für Men-
schenrechte, Vieira de Mello, hat große Anerkennung
und alle nur denkbare Unterstützung verdient. Gerade
weil es zunehmend Versuche von einzelnen Staaten oder
Staatenkoalitionen gibt, die Möglichkeiten der Men-
schenrechtskommission deutlich abzuschwächen, halten
wir es für ein falsches Signal, dass sich die Bundesrepu-
blik Deutschland wie alle EU-Mitgliedstaaten in der
MRK bei der Wahl Libyens zum Vorsitz der Men-
schenrechtskommission enthalten hat. In Libyen selbst
sind grundlegende Freiheitsrechte, beispielsweise die
Meinungs- und Pressefreiheit, massiv eingeschränkt. Mit
dem Verbot der Bildung von politischen Parteien ver-
stößt das Land gegen grundlegende politische Mitwir-
kungsrechte. Der Deutsche Bundestag würde dem guten
Beispiel des Europäischen Parlaments folgen, wenn er
durch Annahme unseres Antrags sein Bedauern über die-
ses Abstimmungsverhalten klar zum Ausdruck bringen
würde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Soweit es um die bedrückende Menschenrechtssitua-
tion in einzelnen Ländern geht, gibt es eine Reihe von
Gemeinsamkeiten zwischen dem Antrag der Unionsfrak-
tion und dem der Koalitionsfraktionen. Leider ist die
Lage in so vielen Ländern kritikwürdig, dass wohl kein
Antrag eine vollständige Aufzählung enthält. Aber es
fällt schon auf, dass der Antrag von Rot-Grün weder die
Lage in Nordkorea noch in Vietnam noch in Kuba über-
haupt erwähnt. Dabei gehört die stalinistische Diktatur in
Nordkorea unstrittig zu den Staaten, in denen die Men-
schen am schlimmsten unterdrückt werden. Menschen-
schindern, die das eigene Volk verhungern lassen, aber
atomare Aufrüstung betreiben, sollten wir gemeinsam
entschieden entgegentreten.


(Beifall im ganzen Hause)


Auch die sich verschärfende Lage ethnischer und religi-
öser Minderheiten in Vietnam verlangt unseren tatkräfti-
gen Einsatz für die Unterdrückten.

Bei Ländern, die sowohl die Regierungskoalition als
auch die Unionsfraktion in ihren Anträgen ansprechen,
bleibt Rot-Grün bedauerlicherweise ebenfalls sehr
schwammig. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die
konkrete Benennung der Instrumente des internatio-
nalen Menschenrechtsschutzes. So fordert der rot-
grüne Antrag die Bundesregierung auf – ich zitiere –,
„auf die Volksrepublik China einzuwirken“, wenn es um
bestimmte Menschenrechtsverletzungen geht. Doch wie
soll das geschehen? Warum bekennt sich Rot-Grün nicht

mehr zur Notwendigkeit einer Länderresolution zur
Lage in China, wie dies im Antrag der Union geschieht?

Auch im Hinblick auf die Lage in Simbabwe spricht
Rot-Grün von einer Verurteilung, ohne eine Resolution,
wie wir sie für geboten halten, konkret zu fordern.

Soweit es um die Kritik an der Menschenrechtssitua-
tion in China geht, ist es mehr als nur bedauerlich, dass
sich die gesamte Europäische Union hinter den USA
versteckt. Auch die Bundesregierung erklärt immer wie-
der, die EU werde eine entsprechende Meinungsbildung
erst nach Vorlage eines Resolutionsentwurfs der USA
herbeiführen können.

Ganz auf der Linie dieser fragwürdigen Zurückhal-
tung liegen die Aussagen zur Lage in China im Men-
schenrechtsbericht der Bundesregierung, der ebenfalls
Gegenstand unserer heutigen Debatte ist und der in an-
deren Teilen durchaus, etwa als Nachschlagewerk zum
internationalen Menschenrechtsschutz, hohe Anerken-
nung verdient.

„Klar verfehlt“, so nennt Amnesty International die
in diesem Bericht enthaltene Bewertung der Menschen-
rechtslage in der Volksrepublik China. Amnesty Interna-
tional fährt fort – ich erlaube mir zu zitieren –:

Zudem erscheint es fast zynisch, wenn von „häu-
figer Verhängung der Todesstrafe“ die Rede ist,
obwohl allein im Zeitraum von April bis Juni ver-
gangenen Jahres im Rahmen einer landesweiten
Kampagne zur Kriminalitätsbekämpfung in der
VR China mehr Menschen exekutiert worden sind
als in den restlichen Ländern der Erde in den ver-
gangenen drei Jahren zusammengenommen.

Die so genannte Administrativhaft, die unbefristete
Inhaftierung in Straflagern ohne richterlichen Beschluss,
die in unserem Ausschuss nach einhelliger Auffassung
zu den drängendsten Problemen der Menschenrechtssi-
tuation in China gehört, wird im Bericht mit keiner Silbe
erwähnt. Wer hier fragwürdig beschönigt oder Kritik bis
zur Unkenntlichkeit diplomatisch verpackt, der verfehlt
den eigenen Anspruch in der Menschenrechtspolitik und
sollte nicht immer wieder so tun, als würden die Men-
schenrechte erst seit der rot-grünen Regierungsüber-
nahme überhaupt ernst genommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie wissen das ja besser; denn der Durchbruch für ei-
nen ständigen Internationalen Strafgerichtshof, den
wir alle voranbringen wollen, wurde mit dem Römischen
Statut im Juli 1998 erreicht und ist ganz maßgeblich dem
beharrlichen Drängen der damaligen Bundesregierung
zu verdanken. Wir wünschen den vor zwei Tagen einge-
führten 18 Richterinnen und Richtern des Internationa-
len Strafgerichtshofs, nicht zuletzt dem deutschen Völ-
kerrechtler Hans-Peter Kaul, viel Erfolg bei ihrer nicht
leichten, aber so wichtigen Aufgabe.


(Beifall im ganzen Hause)


Meinungsverschiedenheiten zwischen der Union und
Rot-Grün werden auch deutlich, wenn man sich den An-
trag „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik“






(A) (C)



(B) (D)


Hermann Gröhe
von Rot-Grün ansieht. Auch wenn dieser Antrag viele
richtige Einzelforderungen enthält, kann er unsere Zu-
stimmung nicht finden. Er ist geprägt von einer einseiti-
gen Betonung der wirtschaftlichen, sozialen und kultu-
rellen Rechte und trägt damit der Unteilbarkeit der
Menschenrechte insgesamt sowie dem unaufgebbaren
Zusammenhang zwischen den bürgerlichen und poli-
tischen Rechten einerseits und den wirtschaftlichen, so-
zialen und kulturellen Rechten andererseits nicht aus-
reichend Rechnung. So werden etwa die massive
Bedrohung der Pressefreiheit in vielen Konfliktregionen
der Welt oder andere Einschränkungen im Bereich der
Meinungsfreiheit – Stichwort: Internet – nicht einmal
erwähnt.

Wenn später einiges im Rahmen des Antrags zur Sit-
zung der Menschenrechtskommission nachgereicht wird,
vermag dies die Schlagseite eines Antrages, der gerade
die Leitlinie darstellen soll, nicht auszugleichen.

Wenn Sie sich in Ihrem Antrag zugute halten, dass Sie
einen eigenständigen Bundestagsausschuss für Men-
schenrechte eingerichtet haben – Sie haben dies 1998 ge-
tan – sowie das Amt eines Menschenrechtsbeauftragten,
kann auch das nicht unkommentiert bleiben. Gewiss, die
Einrichtung eines Menschenrechtsausschusses ist ein
Fortschritt. Aber die Regierung muss ihn auch so behan-
deln. Man kann feststellen, dass Teile der Bundesregie-
rung, allen voran das Bundesinnenministerium – dessen
Abwesenheit auf der Regierungsbank uns nicht über-
rascht; nach dem Hammelsprung sind sie schnell hinfort-
geeilt –, diesen Ausschuss nicht ernst nehmen. Es reicht
nicht, ihn hochzuloben, wenn man gleichzeitig Aus-
schussbeschlüsse zur Erhöhung der humanitären Hilfe
im Haushaltsausschuss gar nicht erst ernst nimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie loben die Einrichtung des Amtes des Men-
schenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt. Aber
der Amtsinhaber weiß bis heute nicht, ob er die Tätigkeit
in dieser Legislaturperiode überhaupt wird fortsetzen
dürfen. Wer den Amtsinhaber schäbig behandelt, sollte
auch nicht die Einrichtung des Amtes mit Selbstlob ver-
sehen.

Es bleibt vieles zu tun – vieles, was wir gemeinsam
tun können, manches, über das wir uns streiten müssen.
Wo dieser Streit Wetteifern um den bestmöglichen
Schutz von unterdrückten Menschen bedeutet, ist es ein
lohnender Streit.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503115700


Nächste Rednerin ist die Kollegin Christa Nickels,
Bündnis 90/Die Grünen.


Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503115800


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die 59. Tagung der Menschenrechtskommission in Genf
findet in einer äußerst kritischen weltpolitischen Situa-

tion statt. Der Boden, auf dem wir so fest und sicher zu
stehen meinten, ist ins Wanken geraten und droht uns
teilweise unter den Füßen wegzubrechen.

Unser Wertefundament muss sich in dieser kritischen
Lage bewähren, sonst wird es uns in Zukunft nicht mehr
tragen können. Diese Werte, in deren Zentrum vor allem
die Menschenrechte als universale und unveräußerliche
Rechte stehen, sind kein Zeichen westlicher kultureller
Überlegenheit. Sie sind in jahrhundertelangen Leidens-
und Unrechtserfahrungen hart erkämpft worden und von
daher zu wertvoll, als dass sie links liegen gelassen wer-
den dürften und wir eine Aushöhlung tatenlos oder ohne
entsprechende Reaktion hinnehmen dürften.


(Beifall im ganzen Hause)


Wo stehen wir heute? Die Geltung der Menschen-
rechte ist heute in einem Ausmaß bedroht, das ich noch
vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte.
Nach dem 11. September und angesichts eines drohen-
den Irakkrieges haben wir berechtigte Verlustängste.
Menschenrechtspolitik bewährt sich in dieser Lage nur
dann, wenn sie strikt unparteiisch und unbestechlich ist.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen zur 59. Sitzung der
Menschenrechtskommission kritisiert deshalb die Re-
lativierung von Menschenrechten im Zuge des Anti-
terrorkampfs ebenso wie Menschenrechtsverletzungen
aufgrund von politischer Instrumentalisierung und men-
schenrechtswidriger Anwendung von islamischem Scha-
riarecht.

Die Aufweichung des Folterverbots und die Ausliefe-
rung oder Abschiebung bei drohender Folter oder Todes-
strafe sind verboten. Die Information über ein Massaker
an kriegsgefangenen Taliban weist auf einen klaren
Verstoß gegen geltendes Völkerrecht hin. In Teilen der
Antiterrorkoalition ist die zunehmende Neigung festzu-
stellen, doppelte Standards anzuwenden und Menschen-
rechte nur noch ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern
sowie denen der Verbündeten zuzugestehen. All das be-
droht das Fundament, auf dem demokratische Zivil-
gesellschaften und die Idee einer Weltvölkergemein-
schaft bis heute gebaut haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Wenn ein Kampf der Kulturen als Kampf zwischen
der muslimisch geprägten Welt und der südlichen Hemi-
sphäre auf der einen Seite und den westlichen Industrie-
staaten auf der anderen Seite tatsächlich ausbricht, dann
hat Osama Bin Laden gewonnen, dann hat er sein Ziel
erreicht. Wenn unter dem Banner des Antiterrorkampfs
Völkerrecht missachtet und gebrochen wird und wenn
der Kampf der Kulturen herbeigebombt wird, dann
macht sich die Antiterrorkoalition zum Erfüllungsgehil-
fen ihres Hauptfeindes und dann zerstört sie auf viele
Jahre hinaus die Chance, die Quellen des Terrorismus
auszutrocknen und dem Weltfrieden ein Stück näher zu
kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Christa Nickels
Wir müssen uns klar machen, was tatsächlich im
Schatten eines möglichen Irakkriegs zu passieren droht.
Alle Krisenherde, die nach dem 11. September vorrangig
hätten angegangen werden müssen, bleiben ungelöst und
drohen zurückzufallen und zu eskalieren: Im Nahen Os-
ten wird sich eine neue Generation von Selbstmordatten-
tätern auf den Weg machen und die „Homelandisierung“
der palästinensischen Gebiete wird weitergehen. Der
Schrecken und das Leid der Zivilbevölkerung in Israel
und in den palästinensischen Gebieten werden sich noch
um eine schreckliche Stufe steigern. Die Kurdenproble-
matik wird mit neuer Gewalt wieder aufbrechen, wie es
sich im Nordirak bereits jetzt andeutet. Der Wiederauf-
bau Afghanistans wird gefährdet. Die Sicherheitslage in
Afghanistan hat sich als Vorbotin im Schlagschatten ei-
nes drohenden Irakkriegs bereits verschärft. Für Tschet-
schenien ist eine friedliche Lösung ferner als je zuvor.

Als Vorsitzende des Menschrechtsausschusses muss
ich mich fragen: Wie lässt sich ein Krieg im Irak recht-
fertigen, für den es keinen zwingenden Grund gibt, der
dort aber unfassbar viel menschliches, humanitäres
Elend zusätzlich schaffen wird? Die Vereinten Nationen
rechnen mit 600 000 bis 1,5 Millionen Flüchtlingen, ei-
ner weiteren Million Binnenflüchtlingen und mindestens
10 Millionen irakischen Menschen, die im Kriegsfall so-
fort vom Food-for-Oil-Programm abgeschnitten wären.
Und was bedeutet ein „schockierender Schlag“, wie US-
Verteidigungsminister Rumsfeld ihn angedroht hat, für
die irakische Zivilbevölkerung?

Es gibt aber noch eine andere Frage, die mich genauso
umtreibt: Was heißt diese Entwicklung für uns selbst? Was
tun wir uns selbst an? Im Schatten des Antiterrorkampfs
verrohen unsere Gesellschaften. Noch als wir Anfang die-
ses Jahres den Antrag zur Sitzung der Menschenrechts-
kommission in Genf erarbeitet haben, der betont, dass Fol-
ter unter keinen Umständen gerechtfertigt ist, hätte ich nie
für möglich gehalten, dass wir mitten in Deutschland eine
Folterdebatte führen müssten – ausgelöst ausgerechnet
vom Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes. Das,
was jetzt passiert, hat mit unserer Art, den Kampf gegen
den Terror zu führen, zu tun und wirft uns im weltweiten
Kampf gegen Folter unglaublich weit zurück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Vor kurzem habe ich als Ausschussvorsitzende einen
Brief an den russischen Botschafter wegen des Tschet-
schenienkonflikts geschrieben. Postwendend kam die
Antwort des Botschafters zurück, er habe den Brief er-
halten, aber er würde doch gerne wissen, was ich denn
zur Menschenrechtslage in Deutschland zu sagen hätte.

Diese Geschichte hat allerdings eine Fortsetzung, die
ich Ihnen auch nicht verschweigen möchte: Herr
Mackenroth hat sich ausdrücklich dafür entschuldigt,
dass er diese unsägliche Debatte losgetreten hat. In einem
Gespräch mit mir hat er zugesagt, dass er sich mit seinem
Verband für eine Kampagne für Menschenrechte und
gegen Folter einsetzen wird. Wenn diese Kampagne
wirklich zustande kommt, dann ist sie ein Beitrag zu ei-
ner absolut notwendigen Aufgabe, die wir alle jetzt zu
leisten haben. Jede Generation muss sich die Menschen-

rechte, die sie besitzt und genießt, wieder zu Eigen ma-
chen, sie erneut für alle befestigen und verteidigen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503115900


Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, FDP-Frak-
tion.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1503116000


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es steht
nicht gut um die Sache der Menschenrechte. Die ganze
Welt schaut wie gebannt auf den Kampf gegen den inter-
nationalen Terrorismus, auf Krieg oder Frieden im Irak,
auf die Bedrohung durch den Islam-Fundamentalismus.
Es ist verständlich, dass dabei die Menschenrechtssitua-
tion in nahezu vergessenen Regionen der Welt hinten he-
runterfällt und dass Länder wie Pakistan, Saudi-Arabien
oder sogar Syrien für den Augenblick ausschließlich als
Partner und Verbündete gesehen werden. Das ist ver-
ständlich, aber auch tragisch und vor allem falsch.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Menschen in Deutschland und in anderen west-
lichen Gesellschaften haben Angst um ihre Sicherheit.
Sie fühlen sich bedroht und sie sind im Streben nach
mehr Sicherheit kurzfristig bereit, Einschränkungen der
Freiheitsrechte in Kauf zu nehmen, die das Wesen ihrer
Gesellschaften ganz wesentlich ausmachen. Das ist viel-
leicht verständlich, aber brandgefährlich. Wer mit der
Rechtsstaatlichkeit spielt, spielt mit dem Feuer.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das gilt natürlich vor allem dann, wenn man in Deutsch-
land mit Blick auf die Kriminalitätsbekämpfung jetzt so-
gar diskutiert, Foltermethoden in Ermittlungsverfahren
einzuführen. Ich kann mich da nur dem anschließen, was
meine Vorredner gesagt haben: Wehret den Anfängen!


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Menschen in Deutschland beobachten genauso
gebannt, wie Bundeskanzler Schröder im Windschatten
des französischen Präsidenten Chirac eine neue Achse
mit Moskau und Peking schmiedet, um den Krieg zu
verhindern. Es ist irgendwie verständlich, dass Herr
Schröder oder Herr Fischer dabei nicht gleichzeitig die
weiter massiven Menschenrechtsverletzungen in Tschet-
schenien oder die Lage in Tibet und die immer zahlrei-
cher werdenden Todesurteile in China in den Mittel-
punkt rückt. Auch das ist verständlich, aber auch
tragisch und mindestens genauso falsch.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Rainer Funke
Die Beachtung der Menschenrechte überall auf der
Welt und der Einsatz für ihre universelle Durchsetzung
sind und bleiben mittel- und langfristig das wichtigste
Mittel, um Demokratie, Frieden und Stabilität internatio-
nal zu gewährleisten und dem internationalen Terroris-
mus seinen Nährboden zu entziehen, genauso wie ver-
meintlich drohenden „Kulturkämpfen“. Das darf nicht
für kurzfristige Allianzen oder vermeintliche Sicher-
heitsgewinne aufs Spiel gesetzt werden.

Deshalb ist es gut und wichtig, dass wir heute zur an-
stehenden 59. Tagung der Menschenrechtskommission
in Genf diese Menschenrechtsdebatte im Deutschen
Bundestag führen. Dieser Tagung kommt angesichts der
weltpolitischen Großwetterlage eine ganz besondere Be-
deutung zu. Wir können nur hoffen, dass ihr Verlauf und
vor allem ihre Ergebnisse in den Medien breiten Nieder-
schlag finden. Es muss natürlich vor allem darauf ge-
drängt werden, dass die Ergebnisse gut und möglichst
konkret sein werden.

Die Menschenrechtskommission spielt über ihre Län-
der- und Themenresolutionen als Hüterin der Menschen-
rechte weltweit eine entscheidende Rolle. Wäre das nicht
so, wären die Bemühungen nicht so groß, unliebsame
Resolutionen zu verhindern. Diese Bemühungen sind der
eigentliche Adelsschlag für die MRK in Genf. Ob es in
diesem Zusammenhang eine glückliche Entscheidung
war, in diesem Jahr mit Billigung der europäischen Län-
der ausgerechnet den Libyern den Vorsitz der MRK zu
übertragen, wage ich an dieser Stelle zu bezweifeln.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zu Tschetschenien ist im letzten Jahr keine Resolu-
tion verabschiedet worden. Auch in diesem Jahr ist die
Chance leider groß, dass entsprechende Versuche schei-
tern werden. Trotzdem: Auch das Scheitern einer entspre-
chenden Resolution würde das Licht der Öffentlichkeit
auf die mehr als bedenkliche Situation vor Ort lenken.

Ich freue mich deshalb, dass es auf Anstoß der FDP-
Fraktion im Ausschuss eine klare Mehrheit für eine ent-
sprechende Beschlussempfehlung gegeben hat und dass
sie heute mit Zustimmung aller Fraktionen verabschiedet
werden kann. Die Situation in Tschetschenien ist bis
heute durch außergerichtliche Hinrichtungen, Folter,
Verschleppungen, Säuberungsaktionen und Vergewalti-
gungen gekennzeichnet. Sie mögen mir verzeihen: Unter
„Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ subsu-
miere ich als Jurist das nicht. Ich danke dem Kollegen
Bindig sehr für seinen Einsatz, den er sowohl in Tschet-
schenien vor Ort als auch in Moskau in dieser Sache ge-
leistet hat.


(Beifall im ganzen Hause)


In diesem interfraktionellen Tschetschenien-Antrag
des Menschenrechtsausschusses fordert der Bundestag
die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass in der
MRK eine Resolution oder zumindest ein Chairman’s
Statement zu Tschetschenien auf die Tagesordnung
kommt. Ich hoffe sehr, dass die Schmiede der deutsch-
russischen Achse im Bundeskanzleramt und im Auswär-
tigen Amt dies zur Kenntnis nehmen, entsprechend han-

deln und beim russischen Präsidenten Putin endlich Bes-
serung einfordern.

Ich hoffe, dass wir in der Lage sein werden, in Genf
auch einen China-Resolutionsentwurf zur Sprache zu
bringen. Dies könnte mit Hilfe der viel gescholtenen
USA gelingen. Ob es dazu kommt, ist allerdings noch
zweifelhaft.

Genauso wichtig wie die Länderarbeit ist die The-
menarbeit der MRK. Am Beispiel der Kinderrechte
verweise ich hier nur auf die Kindersoldaten in vielen
Ländern, die Kinderarbeit sowie den Schutz der Kinder
vor Missbrauch auch und gerade in Ländern der so ge-
nannten Ersten Welt. Kinderrechte sind Menschenrechte;
wir müssen die Rechte der Kleinsten und Schwächsten
auch in unserer Gesellschaft stärker schützen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503116100


Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1503116200


Ja, ich komme zum Schluss.

Meine Damen und Herren, die Regierungsfraktionen
haben den Antrag „Menschenrechte als Leitlinie der
deutschen Politik“ eingebracht. Über manches Detail
und über die manchmal doch übertriebene Rhetorik die-
ses Antrags haben wir uns im Ausschuss gestritten; vie-
les findet aber unsere uneingeschränkte Zustimmung.
Vor allem gilt dies für den Titel des Antrags. Leitlinie
der Politik sollten die Menschenrechte sein: im weltwei-
ten Zusammenleben der Völker, für das Handeln unserer
Regierung und auch für die in Zeiten wachsender Un-
sicherheit nicht ganz einfache Gestaltung unserer Innen-
politik.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503116300


Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Christoph Strässer, SPD-Fraktion.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1503116400


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Als vor einiger Zeit beschlossen wurde, auch in
diesem Frühjahr eine Menschenrechtsdebatte in diesem
Hause zu führen, war wahrscheinlich uns allen nicht
klar, dass diese Debatte geradezu eine makabre Aktuali-
tät auch für die innenpolitische Entwicklung in unserem
eigenen Land gewinnen würde. Die Diskussion über die
Zulässigkeit von Foltermaßnahmen zur Erzwingung von
Aussagen Beschuldigter im strafrechtlichen Ermittlungs-
verfahren ist hier schon angesprochen worden. Ich bin
sehr froh darüber – ich denke, dies gilt für alle – und
hoffe, dass von dieser Debatte ein klares politisches Si-
gnal ausgeht und dieses Hohe Haus einmütig jede Form






(A) (C)



(B) (D)


Christoph Strässer
von Folter und jede Diskussion über die Einschränkung
des Folterverbots entschieden verurteilt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus diesem
Grunde ist es für uns wichtig, dass diese Debatte heute
stattfindet. Auch in unserer eigenen Gesellschaft scheint
es nötig zu sein, die Menschenrechte regelmäßig ins Be-
wusstsein zu rufen. Wir müssen uns ständig in Erinne-
rung rufen, dass wir auf die Umsetzung von Grund- und
Menschenrechten auch in unserem eigenen Land achten
müssen. Anderenfalls laufen wir Gefahr, Menschen-
rechte in guten Zeiten als selbstverständlich und in
schlechten Zeiten als Luxus anzusehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dieser Gefahr müssen wir beharrlich vorbeugen, denn
wie wir aus der Geschichte und leider auch aus dem ak-
tuellen Zeitgeschehen wissen, sind Menschenrechte we-
der selbstverständlich noch Luxus. Sie sind vielmehr die
Basis für unsere Gesellschaft: für das Zusammenleben in
unserem Volk genauso wie für unser Zusammenleben
mit anderen Völkern und Nationen. Sie sind die Grund-
lage für unseren rechtsstaatlich verfassten demokrati-
schen Staat und damit die Legitimation jeglichen Han-
delns von Legislative und Exekutive, gleich welcher
Couleur. Wir dürfen sie unter keinen Umständen und
keinen Interessen opfern.


(Beifall bei der SPD)


Die Koalitionsfraktionen tragen diesem Grundgedan-
ken durch Vorlage des Antrages „Menschenrechte als
Leitlinie der deutschen Politik“ Rechnung. Nun haben
wir uns zwar viel Mühe gegeben, aber an der einen oder
anderen Stelle die Dinge möglicherweise auch nicht so
beurteilt wie Sie, Herr Kollege Gröhe, als Sie es gerügt
haben.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Weil Sie die möglicherweise ungleichgewichtige Be-
rücksichtigung von Rechten angesprochen haben, will
ich nur sagen: Wir haben zum Teil den Eindruck, dass
bestimmte ökonomische und soziale Grundrechte in der
Vergangenheit nicht den Stellenwert eingenommen ha-
ben, den sie verdienen. Deshalb haben wir an dieser
Stelle einen berechtigten politischen Schwerpunkt ge-
setzt. Ich hoffe, dass das in absehbarer Zeit vielleicht
nicht mehr nötig sein wird. Das war der Grund dafür,
dass wir das an dieser Stelle so getan haben.

Wir haben des Weiteren versucht, mit diesem Antrag
die Menschenrechtspolitik, wie sie in dieser Legislatur-
periode auf den Weg gebracht werden soll, komprimiert
darzustellen. Wir haben natürlich auch nicht vergessen,
dass wir noch das eine oder andere Defizit aufzuarbeiten
haben. Dazu werde ich gleich ganz kurz noch etwas sa-
gen.

Der Antrag fußt in wesentlichen Bereichen auf den
Feststellungen im 6. Bericht der Bundesregierung über

die Menschenrechtspolitik. Ich möchte jedenfalls für uns
sagen, dass wir uns für die Vorlage dieses ausführlichen
Kompendiums bei der Bundesregierung ganz ausdrück-
lich bedanken, weil es eine gute Arbeitsgrundlage für die
Menschenrechtspolitik darstellt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe es schon gesagt: Es gibt Defizite, an deren
Beseitigung noch intensiv zu arbeiten ist. Ich denke zum
Beispiel daran, dass – ich freue mich, Herr Kollege
Funke, dass auch Sie die Kinderrechte angesprochen ha-
ben – noch immer nicht der Vorbehalt Deutschlands zu
Art. 22 der UN-Kinderrechtskonvention aufgehoben
wurde, der nun seit immerhin zehn Jahren existiert. Ich
halte es allerdings für einen außerordentlichen Fort-
schritt, dass sich die Bundesregierung den Forderungen
dieses Hauses aus der 14. Legislaturperiode wie auch der
vielen Nichtregierungsorganisationen angeschlossen hat
und endlich die Aufhebung dieses Vorbehalts anstrebt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wer die besondere Schutzbedürftigkeit unbegleiteter
ausländischer Kinder anerkennt – das tun wir –, der darf
sich einer Aufhebung dieses Vorbehalts nicht widerset-
zen. Ich appelliere von dieser Stelle aus ganz klar und
deutlich an die Bundesländer, diesen Schritt endlich kon-
struktiv zu begleiten, damit wir auch insofern den Stan-
dards entsprechen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Am Dienstag dieser Woche hat eine Institution formal
ihre Arbeit aufgenommen, deren Einrichtung einen Mei-
lenstein in der internationalen Umsetzung menschen-
rechtlicher Grundsätze bedeuten kann. Ich meine den
Internationalen Strafgerichtshof, der nach der Vereidi-
gung der Richterinnen und Richter am 11. März in Den
Haag seine Arbeit aufnehmen kann. Das ist deshalb ein
Meilenstein für die Menschenrechtspolitik, weil, wie es
zum Beispiel in der „Berliner Zeitung“ vom 10. März zu
lesen war, ein Menschheitstraum sich zu erfüllen be-
ginnt, der Traum, die schlimmsten Verbrecher, die wo-
möglich einen ganzen Staat zur Verübung ihrer Taten
missbrauchen, zur Rechenschaft zu ziehen.


(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler [SPD])


Es ist gut, dass sich diese Bundesregierung und auch
vorherige Bundesregierungen so vehement für die Eta-
blierung dieser Institution eingesetzt haben. Wir dürfen
nicht akzeptieren, dass das Recht des Stärkeren vor die
Stärke des Rechts gesetzt wird.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir akzeptieren nicht, wenn bestimmte Staaten von an-
deren die Einhaltung von Standards verlangen, ohne
diese für sich selber zu akzeptieren.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])







(A) (C)



(B) (D)


Christoph Strässer
Wir akzeptieren auch nicht, dass Entscheidungen der
Staatengemeinschaft nur dann akzeptiert werden, wenn
sie dem eigenen politischen Kalkül nicht widerspre-
chen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dies ist das Gegenteil einer Verrechtlichung der interna-
tionalen Beziehungen, für die sich die Bundesregierung
in dankenswerter Weise so nachdrücklich einsetzt. Es ist
mehr als bedauerlich, dass die USA als einzig verblie-
bene Weltmacht eine Beteiligung ablehnen und sich auf
diese Weise, wie ich finde, politisch isolieren; wir se-
hen das bei anderen internationalen Abkommen leider
auch.

Ich jedenfalls wünsche den nunmehr eingesetzten
Richterinnen und Richtern und ganz besonders Herrn
Kaul für die Erfüllung ihrer Aufgabe alles erdenklich
Gute. Lassen Sie sich nicht von dem so genannten Inva-
sionsgesetz für die Niederlande beeindrucken, das die
Regierung der USA ermächtigen soll, amerikanische
Staatsangehörige mit Gewalt aus dem Zugriff des Ge-
richts zu befreien! Wer so mit Rechten umgeht, hat,
denke ich, sein Recht verspielt, anderen diese Rechte
vorzuhalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP])


Die Tatsache, dass sich der 6. Menschenrechtsbericht
nicht nur auf die auswärtige Politik erstreckt, gibt ihm
eine neue Bedeutung. Wir wollen die Menschenrechts-
politik weiter stärken und Kohärenz zwischen den ein-
zelnen Politikbereichen herstellen; dazu dient unser An-
trag. Wir halten es für unverzichtbar, dass hierfür im
7. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung an den
Deutschen Bundestag ein nationaler Aktionsplan in
Form eines eigenständigen Kapitels aufgenommen wird,
in dem offene Fragen der Umsetzung der Menschen-
rechte und Strategien zu ihrer Lösung aufgelistet wer-
den. Diese Umsetzung beruht auf einer Empfehlung der
Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993. Auch die-
sen Empfehlungen und Beschlüssen der internationalen
Staatengemeinschaft sollten wir endlich nachkommen,
so wie es der Antrag vorsieht. Ich hoffe, dass die Bun-
desregierung das tut.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vor diesem Hintergrund begrüßen wir, dass die
Bundesregierung die Flüchtlings- und Migrations-
politik an hohen menschenrechtlichen Standards aus-
richten will. Wir wollen dies nicht nur auf internatio-
naler und europäischer, sondern natürlich auch auf
nationaler Ebene umsetzen. Wir wollen die Harmoni-
sierung der europäischen Flüchtlings- und Asylpoli-
tik unter dem Aspekt der Menschenrechte und der
Verwirklichung der Menschenwürde auf der Grund-
lage der Genfer Flüchtlingskonvention betreiben. An-
gesichts der heute Vormittag geführten Debatte be-
tone ich ausdrücklich: Dies schließt unserer Ansicht
nach – das fordern wir in unserem Antrag – die An-

erkennung geschlechtsspezifischer und nicht staat-
licher Verfolgungsgründe ein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


In unserem Antrag fordern wir, die Zeichnung des
Zusatzprotokolls zum Übereinkommen gegen Folter
und andere grausame, unmenschliche oder erniedri-
gende Behandlung oder Strafe zu prüfen, so wie es von
der Generalversammlung der Vereinten Nationen im
vergangenen Jahr in der 57. Sitzungsperiode angenom-
men wurde. Diese Forderung hat durch die fatalen Dis-
kussionen in unserem Land eine nicht vorhersehbare
Aktualität gewonnen, auf die wir alle gerne verzichtet
hätten.


(Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Debatte um die Zulässigkeit von Folter muss
schnell beendet werden, und zwar nicht nur juristisch,
sondern vor allem auch politisch. Die politische Bot-
schaft muss klar sein: Alle Rechtsnormen, Art. 1 unseres
Grundgesetzes, Art. 3 der Europäischen Menschen-
rechtskonvention und Art. 5 der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte, enthalten ein Folterverbot ohne
Wenn und Aber. Dies sind nicht nur rechtliche Normen,
sondern auch Ergebnis eines Politikverständnisses, nach
dem die Wahrung der Würde des Menschen das höchste
Gut ist, das es umfassend zu schützen gilt. Es gibt nicht
„ein bisschen Folter“. Bei den politisch Verantwortlichen
darf es kein Verständnis für solche Maßnahmen geben,
wenn wir nicht einen Dammbruch erleben wollen, des-
sen Folgen wir nicht mehr aufhalten können. Dies ver-
stehe ich als einen Appell an uns selbst.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Als jemand, der neu in diesem Parlament ist und der
an anderen Stellen Dinge erlebt hat, die er sich so nicht
vorgestellt hat, sage ich: Die Zusammenarbeit im Aus-
schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
könnte ein Beispiel für das Verfahren bei Auseinander-
setzungen auch an anderer Stelle in diesem Hohen
Hause sein. Ich freue mich außerordentlich, dass ich in
diesem Ausschuss mitarbeiten darf. Denn dort macht
man parlamentarische Erfahrungen, die sich von dem
unterscheiden, was man in anderen Bereichen erlebt.
Ich wünsche mir, wir könnten diese Art der Zusam-
menarbeit auf alle politischen Diskussionen und Debat-
ten übertragen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Aufruf zur Besserung!)


Ich glaube, das würde zu mehr Streitkultur und zu mehr
politischer Kultur in diesem Hohen Hause führen.

Ich wünsche mir, dass dies stattfindet, und bedanke
mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503116500


Herr Kollege Strässer, ich gratuliere Ihnen im Namen
dieses Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bun-
destag. Herzlichen Glückwunsch!


(Beifall)


Das Wort hat jetzt die Kollegin Melanie Oßwald von
der CDU/CSU-Fraktion.


Melanie Oßwald (CSU):
Rede ID: ID1503116600


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, heute im Plenum meine erste Rede halten zu kön-
nen. Leider bietet das Thema, über das ich sprechen
werde, keinen Anlass zur Freude. In den Vorjahren
scheiterte man in der EU-Menschenrechtskommission
immer wieder daran, das Thema des Tschetschenienkon-
fliktes ernsthaft zu behandeln; das haben wir heute schon
öfter gehört. Der Handlungsbedarf ist jedoch dringender
denn je.

Deshalb fordern wir in unserem Antrag von der Bun-
desregierung: Deutschland muss in Abstimmung mit den
EU-Staaten und den anderen Ländern der westlichen
Staatengruppe gemeinsam darauf hinwirken, dass in ei-
ner Resolution die Menschenrechtsverletzungen von bei-
den Seiten im Tschetschenienkrieg thematisiert werden
und die russische Regierung zu einer ehrlichen politi-
schen Lösung mit internationaler Hilfe gedrängt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Wie Sie vielleicht wissen, habe ich vor zwei Wochen
eine Reise nach Moskau unternommen, um mich vor Ort
über den aktuellen Stand der Tschetschenienproblematik
zu informieren. Nach wie vor stehen sich Befürworter
und Gegner der gegenwärtigen russischen Politik wei-
testgehend unversöhnlich gegenüber. Trotz aller
Bemühungen, wachsende Stabilität und Normalität in
Tschetschenien zu suggerieren, vermittelt die aktuelle
Lageentwicklung ein komplett anderes Bild. Tschetsche-
nien steckt nach wie vor in der Sackgasse eines von bei-
den Seiten brutal geführten Krieges, in dem Moskau un-
verändert auf seiner Macht besteht und sein Vorgehen als
Teil des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus
rechtfertigt. Daher ist die Empörung unter russischen
Menschenrechtsorganisationen sehr verständlich. Ein
Sprecher der Menschenrechtsorganisation Memorial
sagte zu Schröders Tschetschenienpolitik: Entweder ist
Schröder ein Zyniker oder er zeichnet sich durch Inkom-
petenz aus.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herr Schröder ist Sozialdemokrat. Ich frage mich, was
an seiner Haltung zur Tschetschenienpolitik sozial und
demokratisch sein soll.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Vonseiten der Bundesregierung ist es dringend not-
wendig, ihre an sich guten Ansätze in ihrem 6. Bericht
über ihre Menschenrechtspolitik auch tatsächlich zu ver-

folgen. Es muss nach wie vor ein fundiertes Konzept
zum Tschetschenienkonflikt erarbeitet werden. Denn die
Tschetschenienpolitik hat sich von Herbst 1999 bis heute
im Kern nicht verändert.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das überlebt Herr Schröder nicht!)


Obwohl Bundesminister Fischer immer wieder beteuert,
dieses Thema bei russischen Vertretern anzusprechen,
wurde dies offensichtlich nicht in der erforderlichen
Härte unternommen. Ich habe auch noch nie von einer
Erfolgsbilanz gehört. Wahrscheinlich gibt es nichts zu
berichten.

Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe hat einen interfraktionellen Antrag zum Thema
„Menschenrechte in Tschetschenien nicht vergessen“ er-
arbeitet. Ich habe mich – das wurde heute schon öfter er-
wähnt – über die Zusammenarbeit gefreut. Herr Bindig,
ich finde es schade, dass wir uns zwar in großen Teilen
einig sind und auch gemeinsam etwas erreichen wollen,
dass Sie sich aber manchmal mit Ihrer Partei schwer tun,
klare und harte Forderungen zum Konflikt zu formulie-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rudolf Bindig [SPD]: Die Partei unterstützt mich! – Gernot Erler [SPD]: Machen Sie sich keine Hoffnungen!)


Trotz allem konnten wir einige Forderungen durchset-
zen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass nicht nur das
Mandat der OSZE für Tschetschenien verlängert wird.
Vielmehr sollte Deutschland Russland dazu drängen, sol-
che Hilfe auch vonseiten der Vereinten Nationen und des
Europarates zu akzeptieren und nicht blind zu kritisieren.

Menschenrechtsverletzungen müssen konsequent auf-
geklärt, Täter bestraft und eine effektive Verwaltung und
Justiz geschaffen, die humanitäre Situation der tschet-
schenischen Bevölkerung muss verbessert und der Wie-
deraufbau des Landes vorangetrieben werden. Russland
muss den Boden bereiten, damit humanitäre Hilfsorgani-
sationen wieder sicher vor Ort arbeiten können.

Vielleicht kennen Sie das Beispiel Arjan Erkel. Ich
habe Ihnen das entsprechende Flugblatt aus Moskau mit-
gebracht. Er ist Missionschef bei „Ärzte ohne Grenzen“
im Nordkaukasus und wurde vor einem halben Jahr von
Unbekannten entführt. Bisher gibt es von ihm kein be-
wiesenes Lebenszeichen. Ich sage Ihnen: So kann es
doch nicht weitergehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Neueste Meldungen über Terroranschläge in Tschet-
schenien machen zusätzlich deutlich, dass Tschetschenien
keinesfalls, wie in der russischen Öffentlichkeit oft be-
hauptet wird, weitgehend befriedet ist und dass dort in ge-
nau zehn Tagen ein Verfassungsreferendum durchge-
führt werden kann. Ich frage Sie: Ist ein derartiges
Referendum überhaupt demokratisch, wenn ein großer Teil
der Bevölkerung, der sich als Flüchtlinge in Russland






(A) (C)



(B) (D)


Melanie Oßwald
befindet und dort übrigens massiv rassistisch verfolgt wird
– dies hat auch die Menschenrechtsorganisation Memorial
bestätigt –, keine Möglichkeit hat, ohne Lebensgefahr zu-
rückzukehren und mitzuwählen, während in Tschetsche-
nien stationierte Soldaten ein Wahlrecht haben?

Es bestehen erhebliche Zweifel, ob angesichts der
derzeitigen Zuspitzung eine derartige politische Lösung
ohne internationale Hilfe überhaupt möglich ist. Es wun-
dert mich nicht, dass internationale Beobachter – um es
nicht zu legitimieren – eine Begleitung des Referendums
verweigern. Selbstverständlich hat die Russische Föde-
ration das Recht, Terrorismus mit rechtsstaatlichen Mit-
teln zu bekämpfen. Auch hat sie nach der verbrecheri-
schen Geiselnahme Ende Oktober Anspruch auf unsere
Solidarität. Die tschetschenischen Kämpfer sind aber
nicht mit den Terroristen vom 11. September 2001 zu
vergleichen, da sie für komplett andere Ziele kämpfen.

Der Westen muss alles vermeiden, was von Russland
als Blankoscheck für das militärische Vorgehen gegen
die Zivilbevölkerung in der Kaukasusrepublik verstan-
den werden kann. Morde, Folter und Erpressungen bei-
der Konfliktparteien in Tschetschenien, einem Teil Euro-
pas, sind völlig inakzeptabel und verlangen den klaren
Widerspruch unserer Völkergemeinschaft. Der Weg von
der Leisetreterei zur Komplizenschaft ist nicht weit.

Massive Einschränkungen der Pressefreiheit in
Russland zeigen zudem, dass die russische Tschetsche-
nienpolitik auch die demokratische Entwicklung in
Russland dramatisch beeinflusst. Die Möglichkeit, nun-
mehr nahezu jede kritische Berichterstattung zum Kau-
kasuskonflikt in die Nähe des Terrorismus zu rücken und
strafrechtlich zu verfolgen, ist mit unserem Verständnis
von Meinungsfreiheit absolut unvereinbar.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist wichtig, dass Deutschland und seine transatlanti-
schen und europäischen Partner ihre engen Beziehungen
zum russischen Präsidenten und zur russischen
Regierung nutzen müssen, um gerade jetzt auf die Einhal-
tung der Menschenrechte im Tschetschenienkonflikt zu
drängen. Gerade weil der Bundeskanzler ein überdurch-
schnittlich gutes Freundschaftsverhältnis zum russischen
Präsidenten pflegt, wie er immer behauptet, verlange ich
von ihm, sich endlich für eine aufrichtige politische Lö-
sung des Konfliktes in Tschetschenien einzusetzen.

Die Gewalt an der tschetschenischen Zivilbevölke-
rung muss unverzüglich gestoppt werden. Es muss an
Putin appelliert werden, bei der Suche nach einer politi-
schen Lösung für den Tschetschenienkonflikt konse-
quent menschenrechtliche und humanitäre Standards zu
beachten. Dazu möchte ich Sie hiermit auffordern.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503116700


Frau Kollegin Oßwald, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!


(Beifall)


Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Kerstin Müller.

K
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503116800


Meine Damen und Herren! Menschenrechtspolitik ist
für uns Querschnittspolitik. Von dieser Maxime geht der
vorliegende 6. Menschenrechtsbericht der Bundesregie-
rung aus. Das bedeutet, dass Menschenrechtspolitik sich
in allen Politikbereichen widerspiegeln muss. Sie berührt
Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik genauso wie
solche der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik.

Gerade weil die Bundesregierung einen umfassenden
menschenrechtlichen Ansatz verfolgt, gehört dazu auch
der Einsatz für Freiheits- und Bürgerrechte im eigenen
Land und in Europa. Das will ich hier sehr deutlich sa-
gen. Wir sind nur dann glaubwürdig mit diesem umfas-
senden Ansatz, wenn wir auch kritisch fragen: Wie hal-
ten wir es bei uns mit den Menschenrechten? Wie gehen
wir hier mit Flüchtlingen und Minderheiten um? Dem
stellt sich der 6. Menschenrechtsbericht und wir werden
in den 7. Menschenrechtsbericht einen nationalen Akti-
onsplan aufnehmen, wie es der Ausschuss beschlossen
hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, viele von Ihnen haben es
erwähnt: Vor zwei Tagen wurde in Den Haag der Inter-
nationale Strafgerichtshof feierlich eingeweiht. Das ist
ein historischer Meilenstein in der Geschichte des Völ-
kerrechts. Herr Gröhe, vielleicht können wir uns auf Fol-
gendes einigen: Deutschland, das heißt wir und auch die
Vorgängerregierung, hat sich von Anfang an sehr inten-
siv dafür eingesetzt, dass es diesen Gerichtshof gibt. Wir
haben nie einen Zweifel daran gelassen: In einer globali-
sierten Welt muss es doch gerade darum gehen, die Herr-
schaft des Rechts zu stärken und einer Politik entgegen-
zutreten, die auf das Recht des Stärkeren setzt. Das wird
die zentrale Aufgabe dieses Gerichtshofes sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die wirkliche Arbeit beginnt erst und deshalb kommt
es darauf an, die Funktionsfähigkeit und die Effektivität
dieses Gerichtshofes zu stärken. Leider gibt es noch im-
mer Staaten, die dem Gerichtshof ablehnend oder kritisch
gegenüberstehen. Deshalb gilt: Nur mit einer möglichst
universellen Unterstützung durch die Staatengemein-
schaft kann die Arbeit des Gerichtshofs dauerhaft wirk-
lich ein Erfolg werden. Daher möchte auch ich hier noch
einmal ganz klar an alle appellieren, die noch zögern:
Unterstützen Sie die Arbeit des Gerichtshofes. Er wird
für den Schutz der Menschenrechte in der Zukunft ganz
wichtig werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


In der kommenden Woche beginnt die 59. Sitzung der
VN-Menschenrechtskommission. Wo stehen wir am






(A) (C)



(B) (D)


Staatsministerin Kerstin Müller
Vorabend? Natürlich macht uns die Lage der Menschen-
rechte in vielen Staaten große Sorgen. Gewalt, Unterdrü-
ckung und Not sind weiterhin weltweit an der Tagesord-
nung. Vielerorts werden die Menschenrechte massiv
beeinträchtigt, in bewaffneten Konflikten, durch Folter
und Todesstrafe, durch die Verletzung der Rechte von
Frauen, Kindern und Minderheiten und durch die Vor-
enthaltung elementarer sozialer und bürgerlicher Grund-
rechte.

Doch es gibt auch Hoffnung, zum Beispiel in Afgha-
nistan. Zu unseren Prioritäten zählen auch hier unter an-
derem Menschen- und Frauenrechte. Das hat Außenmi-
nister Fischer in der letzten Woche gegenüber seinem
afghanischen Amtskollegen noch einmal sehr deutlich
gemacht.

Ich sehe zum Beispiel ein positives Signal darin, dass
die afghanische Regierung am 5. März das Übereinkom-
men zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung
der Frau, das CEDAW, das heute auch hier im Hohen
Hause diskutiert wurde, ratifiziert hat. Das ist ein positi-
ves Signal. Damit verpflichtet sich die afghanische Re-
gierung, den Grundsatz der Gleichberechtigung in die
Verfassung aufzunehmen und ihn auch umzusetzen. Wir
werden die afghanische Regierung bei dieser Umsetzung
unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)


Mit besonderer Sorge erfüllt uns der nun schon zehn
Jahre andauernde Konflikt in Tschetschenien. Es ist
klar: Es muss eine politische Lösung geben. Diese mah-
nen wir an. Dafür setzen wir uns ein. Das haben die
meisten meiner Vorredner – fast alle haben dieses Thema
angesprochen – zu Recht gefordert. In zehn Tagen findet
in Tschetschenien das Referendum über den Verfas-
sungsentwurf statt. Das könnte vielleicht ein erster
Schritt hin zu einer politischen Lösung sein. Wir wün-
schen uns, auch die Bundesregierung, dass die OSZE
und der Europarat bei dieser Volksabstimmung ange-
messen präsent sein werden, und setzen uns dafür ein,
dass die OSZE ihre Arbeit in Tschetschenien fortsetzen
kann. Das ist sehr wichtig. Das werden wir auf allen
Ebenen deutlich machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Klar ist: Terroristische Anschläge wie die in Moskau
und Grosny sind ohne Wenn und Aber zu verurteilen.
Dennoch muss in diesen Fällen wie auch generell gelten:
Der Schutz der Menschenrechte und die Verhältnismä-
ßigkeit der Mittel müssen auch und gerade beim Kampf
gegen den Terrorismus gewahrt bleiben. Meine Damen
und Herren von der Opposition, das haben die Bundesre-
gierung und der Bundeskanzler deutlich gemacht und
werden es auch weiterhin immer wieder deutlich ma-
chen, öffentlich, aber auch in vielen einzelnen bilateralen
Gesprächen. Es darf keinen Antiterrorrabatt geben. Das
hat Außenminister Fischer immer wieder sehr deutlich
gemacht. Das bleibt unsere Maxime in der Tschetscheni-
enpolitik.

Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, nur an-
dere Staaten hätten Hausaufgaben zu machen. In
Deutschland wurde unlängst die Auffassung vertreten,
dass unter gewissen Umständen eine Lockerung des Fol-
terverbots in Kauf genommen werden könne. Ich
möchte hier in aller Deutlichkeit klarstellen: Nach der
Europäischen Konvention zum Schutz der Menschen-
rechte und Grundfreiheiten und nach den Übereinkom-
men der VN ist der Schutz vor Folter absolut und darf
unter keinen Umständen, auch nicht im Falle eines öf-
fentlichen Notstandes, relativiert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Rainer Funke [FDP])


Das macht auch unsere Verfassung deutlich, ein Blick
hätte genügt. Nach Art. 1 des Grundgesetzes ist die
Menschenwürde unantastbar. Und Art. 1 gilt überall,
auch bei Verhören. Das hat der Bundesinnenminister
heute noch einmal zu Recht gesagt. Deshalb hoffe ich,
dass diese Debatte ein für alle Mal beendet ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich komme zum Schluss. Der vorliegende Koalitions-
antrag „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Poli-
tik“ fasst die aktuellen und zukünftigen Aufgaben der
Menschenrechtspolitik eindringlich zusammen. Ich kann
Ihnen versichern: Die Bundesregierung ist und bleibt
den dort dargelegten Grundsätzen verpflichtet. Konse-
quente Menschenrechtspolitik ist und bleibt die Leitlinie
unseres Handelns.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503116900


Das Wort hat jetzt der Kollege Holger Haibach von
der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Holger Haibach (CDU):
Rede ID: ID1503117000


Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Frau Staatsministerin, wenn Menschenrechte eine
Querschnittsaufgabe sein sollen, dann frage ich mich,
wo die Vertreter der Bundesregierung bei dieser Debatte
sind. Ich sehe nur die Vertreter von zwei Ministerien.
Von den restlichen Ministerien, die das Thema Men-
schenrechte in hohem Maße angeht, wie zum Beispiel
vom Innenministerium oder dem Bundeskanzleramt, ist
niemand zu sehen. Das finde ich beachtlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Das richten Sie an den Falschen! – Rudolf Bindig [SPD]: Wo ist denn Frau Merkel?)

Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503117100

Es tut mir Leid, dass ich auch darüber hinaus Öl ins
Feuer gießen muss. Aber die heutige Menschenrechtsde-
batte hat sehr deutlich eine entscheidende Schwachstelle






(A) (C)



(B) (D)


Holger Haibach
in der Menschenrechtspolitik der rot-grünen Bundesre-
gierung aufgezeigt. Bei der Beobachtung von und der Re-
aktion auf Menschenrechtsverletzungen, die von staatli-
cher Seite motiviert, begünstigt oder zumindest geduldet
werden, geht man ganz offensichtlich sehr einseitig vor.
Das werde ich an drei Beispielen deutlich machen.

Gestern hat Frau Staatsministerin Müller im Aus-
schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe in Be-
zug auf den Irak ausgeführt, die Menschenrechtslage dort
sei besorgniserregend. Dieser Aussage ist in ihrer Deut-
lichkeit nichts hinzuzufügen. Bedauerlich ist allerdings,
dass sich solch eindeutige Aussagen nicht im Reden und
Handeln der Regierungskoalition niederschlagen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Na, na, na!)


Es ist das Recht von Vertretern der Koalition, sich als
Bewahrer des Friedens und der Menschenrechte in der
Welt zu präsentieren und dafür an Demonstrationen teil-
zunehmen. Ob das klug ist, darf mit gutem Recht be-
zweifelt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Mit dieser Meinung stehen Sie ganz einsam da!)


Das, was Sie mit Ihrem Antrag „Menschenrechte als
Leitlinie der deutschen Politik“ vom 3. Dezember und
Ihrem Antrag zur heutigen Debatte getan haben, geht
aber nicht.


(Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie doch mal die epd-Meldung vom Kollegen Gröhe, Herr Haibach! Ich schicke sie Ihnen zu!)


Einerseits haben Sie die Bundesregierung für ihren Ein-
satz dafür gelobt, dass sie auf die Partner der Antiterror-
koalition dahin gehend einwirkt – ich zitiere jetzt Ihren
Antrag –, „dass menschenrechtliche Normen und das hu-
manitäre Völkerrecht in einem Antiterrorkampf beachtet
werden“. Andererseits erwähnen Sie in diesem Antrag
die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die
seit Jahren in den Berichten von Amnesty International
und den Human Rights Watch Reports immer wieder an-
geprangert werden, mit keinem Wort.

In Ihrem heutigen Antrag wird der Irak immerhin an
zwei Stellen erwähnt und an einer Stelle sogar eindeutig
verurteilt. Dass Sie anderen Ländern, wie Russland,
China, Kolumbien oder Simbabwe, ganze Absätze wid-
men – übrigens völlig zu Recht –, zeigt doch, dass es mit
einer ausgewogenen Betrachtungsweise offenbar nicht
ganz so weit her ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Übrigen gibt auch der Menschenrechtsbericht der
Bundesregierung leider wenig Anlass zur Hoffnung.


(Kerstin Müller, Staatsministerin: Immerhin gibt es einen!)


In diesem immerhin über 350 Seiten starken Werk findet
der Irak ganze dreimal Erwähnung. Ich denke, es ist
richtig und wichtig, gerade an dieser Stelle das Bild der
öffentlichen Diskussion in Deutschland einmal zurecht-

zurücken. Sie befassen sich in Ihrem Antrag lange mit
der Frage, was im Kampf gegen den Terror sein darf und
was nicht. Damit bin ich vollkommen einverstanden. Sie
dürfen bei aller berechtigten oder unberechtigten Kritik
an der amerikanischen Haltung aber bitte nie vergessen,
dass es doch Saddam Hussein und nicht George Bush
ist, der die Menschenrechte seit Jahrzehnten mit Füßen
tritt, seine Bevölkerung unterdrückt und seine Nachbarn
mit Krieg bedroht und überzieht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es würde auch von einer verantwortungsvollen Politik
der Bundesregierung zeugen, das bei passender Gelegen-
heit deutlich zu machen. Leider kann ich nicht feststel-
len, dass dies in ausreichendem Maße geschieht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Frau Kollegin Nickels, noch ein Wort zum „Food for
Oil“-Programm: Wenn man sich die Berichte der NGOs
anschaut, erkennt man, dass es zumindest eine sehr
große Unstimmigkeit darüber gibt, ob dieses Programm
so hilfreich war, wie Sie es hier dargestellt haben.


(Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich schicke Ihnen noch einmal unser Ausschussprotokoll!)


Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Beispiel, das
ich ansprechen möchte, dem Iran. Es ist richtig, dass die
vom iranischen Parlament und auch von Staatspräsident
Khatami getragene Politik hoffnungsvolle Ansätze zeigt.
Es ist auch richtig, diese Politik zu fördern und die sie
tragenden Kräfte zu stabilisieren. Dies muss besonders
gegen den Einfluss des Wächterrates geschehen, der nun
wirklich jeden Versuch, Menschlichkeit und Menschen-
rechte im Iran voranzubringen, unterminiert. Es ist wei-
terhin richtig, dies im Rahmen einer abgestimmten euro-
päischen Haltung zu tun. Angesichts der vielfältigen
Menschenrechtsverletzungen darf dies aber nicht dazu
führen, dass wir die Bundesregierung aus ihrer Verant-
wortung entlassen, auch auf bilateraler Ebene alles in ih-
rer Macht Stehende zu tun, um eine Verbesserung der Si-
tuation im Iran zu erreichen. Auch hier vermisse ich
noch entschiedenere Anstrengungen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Frage einer europäischen Haltung bringt mich
zum letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. In Ihrem
Antrag vom 3. Dezember mahnen Sie – ich zitiere noch-
mals – „ausdrücklich die Fortführung der Rechtsstaatsdi-
aloge mit der Volksrepublik China und der Türkei“ an.
Ein Hinweis auf die Türkei fehlt in Ihrem heutigen An-
trag völlig. Sollten Ihnen hier etwa der Bundeskanzler
oder der Bundesaußenminister die Feder geführt bzw.
gerade nicht geführt haben,


(Rudolf Bindig [SPD]: Wir denken selbst!)


weil ein türkischer EU-Beitritt ja offensichtlich zu den
außenpolitischen Lieblingsprojekten dieser beiden Her-
ren zählt? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es aber ganz schlicht!)







(A) (C)



(B) (D)


Holger Haibach
Es ist ja nicht zu bestreiten, dass der türkische Staat
zumindest auf der Verfassungsebene ganz entscheidende
Fortschritte im Bereich der Menschenrechte getan hat.
Es gibt aber doch genauso unbestreitbar immer noch ei-
nen entscheidenden Unterschied zwischen der Verfas-
sungsnorm und der Realität in der Türkei. Die Beispiele,
die wir in letzter Zeit dafür erleben konnten, Prozesse
gegen die Vertreter politischer Stiftungen, die Tatsache,
dass religiöse Minderheiten immer noch an ihrer Religi-
onsausübung gehindert werden, die problematische Ein-
richtung der Gefängnisse des so genannten F–Typs und
die Unterdrückung von Minderheiten insgesamt, zeigen
doch sehr deutlich, wo das Problem liegt.

Es gäbe noch vieles mehr zu nennen. Bei allem Inte-
resse an einer weiteren Einbindung der Türkei in die
Europäische Union darf auch hier nicht nach dem Vogel-
Strauß-Prinzip vorgegangen werden, das ja lautet: Es
kann nicht sein, was nicht sein darf.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die drei genannten Beispiele machen deutlich, dass
wir seitens der CDU/CSU-Fraktion im Vorfeld der Ta-
gung der UN-Menschenrechtskommission mehr von der
Bundesregierung erwarten, als der vorliegende Antrag
der Koalition zu bieten hat. Wir erwarten von der Bun-
desregierung, dass sie bei der bevorstehenden Tagung
die von uns benannten Punkte mit der gleichen Deutlich-
keit und Offenheit vertritt, wie sie die Koalition aufge-
führt hat. Der vorliegende Antrag lässt allerdings be-
fürchten, dass es sozusagen zweierlei Menschenrechte
gibt: solche, die aus übergeordneten Gründen angespro-
chen werden dürfen, und solche, die bedauerlicherweise
gerade nicht passend sind. Auch für die Bundesregie-
rung der Bundesrepublik Deutschland gilt: Die Men-
schenrechte sind unteilbar.

Nochmals: Der Antrag der Koalition ist aus unserer
Sicht zu ungenau und die dadurch unterstützte Politik zu
einseitig. Deshalb werden wir ihn ablehnen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Rudolf Bindig [SPD]: Sie müssen noch viel lernen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503117200


Herr Kollege Haibach, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!


(Beifall)


Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/549 mit dem Titel: 59. Tagung der
Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der CDU/CSU-
Fraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion angenom-
men.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zum
6. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechts-
politik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen
Politikbereichen, Drucksachen 14/9323 und 15/397. Der
Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Berichts der Bun-
desregierung eine Entschließung anzunehmen, die aus
zwei Teilen besteht. Wer stimmt für die Entschließung un-
ter Nr. 1 der Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
CDU/CSU-Fraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion an-
genommen. Wer stimmt für die Entschließung unter Nr. 2
der Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 7 c: Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/495 zu dem
Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen mit dem Titel: Menschenrechte als Leitlinie
der deutschen Politik. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 15/136 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
von CDU/CSU und Enthaltung der FDP angenommen.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 15/496 zu dem Antrag der Fraktion der FDP
mit dem Titel: Menschenrechtsverletzungen in Tschet-
schenien nicht vergessen. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 15/64 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Zusatzpunkt 3: Abstimmung über den Antrag der Frak-
tion der CDU/CSU auf Drucksache 15/535 mit dem Titel:
Für Menschenrechte weltweit eintreten – die internationa-
len Menschenrechtsschutzinstrumentarien stärken. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und
der FDP-Fraktion abgelehnt.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig
Thiele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes

– Drucksache 15/359 –

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist so beschlossen.


(Unruhe)







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser
Aussprache nicht teilzunehmen wünschen, den Saal
möglichst geräuschlos zu verlassen, damit die anderen
der Debatte aufmerksam folgen können.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort für den Antragsteller der Kollege Professor
Dr. Pinkwart von der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Prof. Dr. Andreas Pinkwart (FDP):
Rede ID: ID1503117300


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir stehen am Vorabend einer als groß angekün-
digten Rede. Ein Ruck soll durch unser Land gehen. Ich
denke, angesichts der dramatischen wirtschaftlichen und
finanziellen Lage unseres Landes ist es notwendig, dass
es endlich einen solchen Ruck gibt.


(Beifall bei der FDP)


Aber wir mussten bereits in der Vergangenheit erfah-
ren: Worte ersetzen keine Taten. Meine Erwartungen
sind deshalb weniger auf die Rede selbst als auf die da-
ran hoffentlich folgenden konkreten Schritte gerichtet.
Die mittlerweile meterdicken Gutachten der Sachver-
ständigen weisen hierzu einen klaren Weg. Wirtschaft
und Verbraucher müssen von konfiskatorischen Steuern
und Abgaben und vor allen Dingen von überbordender
Bürokratie befreit werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In Bezug auf den Bürokratieabbau hat sich die Re-
gierung zumindest sprachlich zwischenzeitlich fort-
schrittsgewandt gezeigt. Das sieht man an den Anglizis-
men, die der Superminister neuerdings verwendet. Das
reicht vom „Masterplan“ bis zum „Small Business Act“.
Aber Etiketten allein reichen nicht aus; auch nicht die
Tatsache, dass die Forderungen nach einem Masterplan
„Bürokratieabbau“ den Mitgliedern dieses Hauses mitt-
lerweile offensichtlich leicht über die Lippen gehen.

Wir müssen dem Bürokratieberg in diesem Land kon-
kret zu Leibe rücken, und zwar deshalb, weil die Büro-
kratie die Wirtschaft in unserem Land mit über
30 Milliarden Euro Bürokratiekosten belastet. Das ist
eine wahrlich schwerwiegende Last für dieses Land.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dabei ist es so, dass jede Einzelregulierung für sich
genommen hinnehmbar erscheinen kann. In der Summe
aber – das ist das Fatale – fesseln und knebeln diese Re-
gulierungen unser Land in einer Weise, wie es Gulliver
im Land der Zwerge ergangen ist.


(Carl-Ludwig Thiele[FDP]: Richtig!)


Viele kleine Fesseln hielten ihn am Boden und lähmten
seine Kräfte.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genauso ist das!)


Um wieder auf die Beine zu kommen, musste jede ein-
zelne Fessel gekappt werden. Dies gilt im übertragenen
Sinne auch für die bürokratische Überregulierung der

deutschen Wirtschaft. Dabei kommt es stets dann zum
Schwur, wenn wie heute eine Fessel gekappt werden soll.

Um welche Fessel es sich handelt, will ich Ihnen kurz
erläutern. Es sind die Umsatzsteuervoranmeldungen; das
klingt vergleichsweise harmlos. Sie werden bisweilen
monatlich von den Betrieben erwartet, obwohl in Um-
satzsteuergesetz im Grundsatz eine quartalsweise Rege-
lung vorgesehen ist. Von dieser Quartalsregelung wird
aber stets dann abgewichen, wenn die Umsatzsteuerzahl-
last für das vorangegangene Kalenderjahr mehr als
6 163 Euro beträgt. Dies ist aber tatsächlich schon dann
der Fall, wenn Betriebe weniger als 50 000 Euro Jahres-
umsatz haben. Also sind viele Betriebe – auch die
kleinen – in diesem Land von dieser Regelung berührt.

Welch bürokratischer Aufwand dadurch entsteht, will
ich Ihnen exemplarisch darstellen. In der Regel wird in
der Buchhaltung des Unternehmens oder beim Steuerbe-
rater das Umsatzsteuervoranmeldeformular ausgedruckt,
geprüft, unterschrieben, verschickt, anschließend im Fi-
nanzamt geöffnet, geprüft, digital erfasst, abgeheftet und
dann per Einzugsermächtigung oder Überweisung der
Zahl- oder Erstattungsvorgang ausgelöst. Dies alles ge-
schieht zwölfmal im Jahr plus der jährlichen Umsatz-
steuererklärung.

Würden, wie in unserem Gesetzentwurf vorgesehen,
die Umsatzsteuervoranmeldungen nicht mehr monatlich,
sondern nur noch quartalsweise abgegeben, würde die
Zahl dieser Vorgänge – es sind zig Millionen im Jahr –
um zwei Drittel verringert und damit entsprechend der
Bürokratieaufwand in den Betrieben und in den Finanz-
ämtern um zwei Drittel verkleinert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es handelt sich um eine der Fesseln, die wir schon
längst hätten kappen können. Denn bereits in der vergan-
genen Legislaturperiode lag ein entsprechender Gesetz-
entwurf vor, dem die Fraktionen der SPD, der Grünen
wie auch der PDS aus, wie ich meine, vorgeschobenen
Gründen nicht zugestimmt haben.

Die staatlichen Buchhalter dieser Welt werden mögli-
cherweise auch jetzt wieder anmerken, dass es mittler-
weile Verfahren gibt, die Umsatzsteuervoranmeldung
online abzuwickeln. Aber auch Onlineverfahren müs-
sen von Unternehmen administriert und geprüft werden.
Auch Onlineverfahren verursachen Arbeitsaufwand und
Kosten. Mit einem Onlineverfahren einen überflüssigen
bürokratischen Vorgang zu vereinfachen macht diesen
noch lange nicht sinnvoll.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich erwarte – zumindest lässt das bisherige Verfahren
das erwarten –, dass die Etatisten unter Ihnen in der fol-
genden Diskussion auch das vermeintliche Miss-
brauchspotenzial einer derartigen Regelung in den Vor-
dergrund stellen werden. Wer aber seinen Bürgern und
den Unternehmern misstraut und Kontrolle vor Freiheit
setzt, wird in Deutschland keine Dynamik entfalten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Andreas Pinkwart
Wir brauchen Freiheit, um die wirtschaftlichen Kräfte
zu entfesseln. Helfen Sie daher mit, dass dieser Gesetz-
entwurf in der parlamentarischen Beratung endlich die
notwendige Unterstützung bekommt! Es wäre ein Signal
an die Wirtschaft und an die Menschen im Lande, dass
wir es wirklich ernst meinen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503117400


Das Wort hat jetzt die Kollegin Lydia Westrich von
der SPD-Fraktion.


Lydia Westrich (SPD):
Rede ID: ID1503117500


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Pinkwart, wir kommen jetzt von Ihrer
Ruck-Rede wieder auf den Boden des vorliegenden Ge-
setzentwurfs zurück. Lassen Sie uns also mit Ihrem klei-
nen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Umsatz-
steuergesetzes beschäftigen, der die Abschaffung der
Verpflichtung zur Abgabe der monatlichen Umsatzsteu-
ervoranmeldungen zum Inhalt hat und der nach Ihrer
Meinung zum Abbau der Bürokratie beitragen soll.

Meiner Beobachtung nach gehört er zu dem Sammel-
surium aktionistischer Anträge und Gesetzentwürfe der
FDP, die keinen roten Faden erkennen lassen, sich in ih-
rer Wirkung teilweise widersprechen und das Land und
die Wirtschaft keineswegs voranbringen würden, wenn
wir ihnen zustimmen würden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Bereits Anfang 2001 haben wir bekanntlich den vor-
liegenden Gesetzentwurf schon einmal abgelehnt, weil
er – das sollten Sie endlich zur Kenntnis nehmen – mit
großen Haushaltsrisiken verbunden ist. An dieser Stelle
zeigt sich wieder einmal beispielhaft die Doppelzüngig-
keit der FDP. Einerseits reiten Sie im Finanzausschuss
stundenlang auf dem Stabilitätspakt herum und fordern
ein festes Bekenntnis dazu ein – als ob das notwendig
wäre –, andererseits verteilen Sie aber zumindest verbal
in Ihren Anträgen mit vollen Händen Geld, ohne auch
nur einen Blick auf die Grundsätze der Haushaltsklarheit
und Haushaltswahrheit zu verschwenden.


(Beifall bei der SPD – Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Dazu kann der Bundesfinanzminister viel beitragen!)


Bezeichnenderweise, Herr Meister, steht bei diesem
Gesetzentwurf unter dem Punkt „Kosten“: „Keine“. Die
Wahrheit ist: Schon bei der ersten Einbringung des Ge-
setzentwurfs wurde Ihnen vom Finanzministerium mit-
geteilt, dass bei der Umsetzung des Gesetzentwurfs im
betreffenden Haushaltsjahr einmalig 15 Milliarden Euro
fehlen würden, nicht mitgerechnet die erheblichen Zins-
verluste, die nicht einmalig wären, sondern jährlich wie-
derkehren würden.

Nächste Woche verabschieden wir einen Haushalt mit
vielen schmerzhaften Einschnitten in wichtigeren Berei-

chen. Aber er ist unter Einhaltung der Kriterien des
Stabilitätspaktes solide durchfinanziert. Wenn die Koa-
litionsfraktionen Ihrem Gesetzentwurf zustimmen wür-
den, wären alle Bemühungen um einen sauber finanzier-
ten Haushalt 2003 zunichte. Ich denke, so kann man mit
den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes nicht um-
gehen. Das käme dem Ausstellen ungedeckter Schecks
auf die Zukunft gleich.


(Beifall bei der SPD)


Bei der Opposition ist von verantwortungsvoller Politik
keine Rede mehr. Das bedauere ich sehr. Die Umsatz-
steuer ist eine der Haupteinnahmequellen des Staates.
Selbst die Kommunen, bei denen Sie den Verfall der
Einnahmebasis ständig beklagen, rechnen mit den kon-
stanten Einnahmen aus der Umsatzsteuer. Ich dachte,
wir wären zusammen angetreten, den Missbrauch und
die Kriminalität gerade bei dieser Steuer sehr energisch
zu bekämpfen. Wenn es aber um die Bekämpfung von
Steuermissbrauch und Wirtschaftskriminalität geht,
dann stehen Sie, meine Damen und Herren von der Op-
position – das gilt nicht nur für die FDP, sondern auch
für die CDU/CSU –, wirklich nicht in der ersten Reihe.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich kann mich an keinen Antrag erinnern, den Sie dazu
gestellt haben, geschweige denn an einen, den Sie kämp-
ferisch gleich mehrere Male eingebracht haben. Wenn
Sie das getan hätten, hätten wir vielleicht irgendwann
zugestimmt.

Der Bundesrechnungshof hat ausdrücklich die Ab-
gabe monatlicher Umsatzsteuervoranmeldungen im
Kampf gegen die überbordende kriminelle Energie im
Umsatzsteuerbereich als wirksame Maßnahme empfoh-
len, und zwar generell. Wir halten trotzdem an der 1996
beschlossenen Regelung fest, wonach das Kalendervier-
teljahr der Regelvoranmeldungszeitraum ist, weil erstens
– hier bin ich mit Ihnen einer Meinung – mehr als
50 Prozent der Unternehmen, vor allem die kleineren,
von dieser Vereinfachung profitieren und weil zweitens
die meisten Unternehmen ehrliche Steuerzahler sind, die
wir nicht belasten wollen. Nur bei einer größeren Um-
satzsteuerschuld müssen wir im Interesse der staatlichen
Einnahmen auf der monatlichen Abgabe der Voranmel-
dung an das Finanzamt bestehen. Das schulden wir allen
staatlichen Ebenen, also Bund, Länder und Kommunen.
Dafür erhalten die Unternehmen aber auch zeitnah ihren
Vorsteuerabzug für die getätigten Investitionen.

Das Schlimme an Ihrem Gesetzentwurf ist, dass Sie
die Notwendigkeit der regelmäßigen Einnahmen aus der
Umsatzsteuer genau kennen; denn sonst hätten Sie das
schon 1996, als Sie noch Regierungsverantwortung ge-
tragen haben, gemäß Ihrem heutigen Gesetzentwurf re-
geln können. Davon hätten die Unternehmen also nicht
erst 2001, sondern schon 1996 profitieren können. Aber
damals wollten Sie keine Haushaltsrisiken eingehen. Ich
denke, das ist kein gutes Politikverständnis.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Lydia Westrich
Die Umsatzsteuervoranmeldung ist – das wissen Sie
selber – ein Nebenprodukt der Buchhaltung und ist in
den meisten Fällen per Knopfdruck abrufbar. Auch bei
den Finanzämtern – ich habe mich kundig gemacht –
läuft die Bearbeitung routiniert. Weder die Länder noch
Unternehmerverbände haben die von Ihnen gestellte
Forderung erhoben; denn auch sie sehen keinen Hand-
lungsbedarf. Welche Vereinfachung eine Regelung brin-
gen soll, wonach das Kalenderjahr in vier verschieden
lange Zeiträume – vier Monate, drei Monate, noch ein-
mal drei Monate und dann zwei Monate – eingeteilt
wird, erschließt sich selbst jemandem nicht, der etwas
von Buchhaltung versteht.

Wir werden also wie vor zwei Jahren Ihren heute ein-
gebrachten Gesetzentwurf ablehnen; denn er ist wenig
durchdacht, ohne Notwendigkeit und vor allem nicht
finanzierbar. Verantwortungslose Politik mit nicht kalku-
lierbaren Haushaltsrisiken ist mit uns nicht zu machen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503117600


Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Seiffert von der
CDU/CSU-Fraktion.


Heinz Seiffert (CDU):
Rede ID: ID1503117700


Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Das Steuerrecht in Deutschland ist unter der rot-
grünen Regierung zu einem bürokratischen Monster ver-
kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Es ist zu einem Dickicht geworden, das selbst von den
Steuerfachleuten nicht mehr durchschaut werden kann,
allenfalls vielleicht von Ihnen von Rot-Grün. Gerechter
ist das Steuerrecht durch die von Ihnen zu verantworten-
den Verkomplizierungen auch nicht geworden. Im Ge-
genteil: Was ist denn gerecht daran, dass große Unter-
nehmen, die in Deutschland Milliardengewinne erzielen,
hier keine Steuern zahlen? Daran ist im Übrigen nicht
nur die Konjunktur schuld. Das ist auch Eichels „Leis-
tung“.

Je komplizierter und undurchschaubarer das Steuer-
recht ist, desto mehr Gestaltungsmöglichkeiten bietet es
den Steuerspezialisten der großen, weltweit tätigen Kon-
zerne. Die kleinen und mittleren Unternehmen, die sich
genauso wenig wie der einfache Steuerzahler solche
Spezialisten und Gestaltungskünstler leisten können,
sind die Dummen. Gerade kleine und mittelständische
Betriebe liefern mit erheblichem bürokratischem Auf-
wand monatlich ihre Steuern ab.

Vor diesem Hintergrund ist der Gesetzentwurf, den
die FDP vorgelegt hat, nur zu verständlich. Die Abschaf-
fung der Verpflichtung zur monatlichen Umsatzsteuer-
voranmeldung für Kleinbetriebe ist zumindest sehr über-
legenswert; denn diese Voranmeldung, die den Charakter

einer „richtigen“ Steuererklärung mit allen finanziellen
und juristischen Folgen hat, verursacht sowohl für die
Finanzverwaltung als auch für die Kleinunternehmen ei-
nen ganz erheblichen bürokratischen Mehraufwand.

Insofern ist das Ziel des FDP-Entwurfs, nämlich im
Bereich der Umsatzsteuer für Kleinunternehmen ein
Stück Bürokratie abzubauen, durchaus wohlwollend zu
sehen. In den vergangenen Jahren war doch eine stetige
Zunahme der Bürokratie festzustellen. Dieser kaum
mehr zu bewältigende bürokratische Aufwand trägt ganz
erheblich zum schwachen Wirtschaftswachstum in die-
sem Lande bei. Es ist nur logisch, dass die Bürokratie
besonders die Innovation, die Beweglichkeit und auch
den unternehmerischen Mut des Mittelstandes einengt.
Statt sich überall einzumischen, sollte sich der Staat auf
seine Kernaufgaben konzentrieren und Bürgern und Un-
ternehmen mehr Freiheit und Selbstverantwortung ein-
räumen. Zumindest darin sollten wir uns in diesem
Hause einig sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Derzeit müssen Bürger und Unternehmen allein auf
Bundesebene 2 197 Gesetze mit 47 000 Einzelvorschrif-
ten sowie 3 131 Rechtsvorschriften mit fast 40 000 Ein-
zelvorschriften befolgen. Wer also gesetzestreu sein will,
der muss sich allein auf Bundesebene mit 85 000 gesetz-
lichen Vorgaben auseinander setzen. Das ist übrigens
auch in der letzten Legislaturperiode nicht besser, son-
dern schlimmer geworden. Es waren fast 1 000 neue Ge-
setze und Rechtsvorschriften, die hinzugekommen sind.

Wenn Sie also von Bürokratieabbau reden – der Bun-
deskanzler wird dies ja morgen an dieser Stelle wieder
tun; „wir bauen Bürokratie ab“, wird er sagen –,


(Lydia Westrich [SPD]: Haben wir schon gemacht!)


so ist dies purer Zynismus, Frau Kollegin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nach einer OECD-Studie liegt Deutschland in Sachen
regulatorische und administrative Hemmnisse unter
21 Staaten auf Platz 16. Das sagt doch eigentlich alles.
Das ist die Realität.

Die größten bürokratischen Dummheiten, die Sie in
der letzten Legislaturperiode gemacht haben, haben wir
noch alle im Ohr: das Scheinselbstständigkeitsgesetz, die
Neuregelung der 325-Euro-Jobs – mittlerweile haben Sie
das dank unserer tatkräftigen Hilfe wieder zurückge-
nommen, aber vier Jahre wurden die Menschen schika-
niert –, die Mindestbesteuerung für Unternehmen, die
bis heute in der Praxis nicht anwendbar ist, die Riester-
Rente, deren guter Ansatz durch überzogene Bürokratie
wieder kaputtgemacht worden ist, das Betriebsverfas-
sungsgesetz, Recht auf Teilzeit und schließlich die Bau-
abzugsteuer, bei der wir dummerweise auch noch mitge-
macht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die wollte das Baugewerbe haben! Das war nicht unsere Idee!)







(A) (C)



(B) (D)


Heinz Seiffert
In dieser Legislaturperiode machen Sie gerade so wei-
ter. Das Steuervergünstigungsabbaugesetz schafft doch
nicht mehr Klarheit und mehr Durchschaubarkeit, son-
dern neue Bürokratie. Denken Sie doch nur an die Kon-
trollmitteilungen, die der Minister noch vor wenigen Ta-
gen verteidigt hat!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden dieses Gesetz übrigens morgen im Bundes-
rat stoppen.

Wenn wir das Wachstum in Deutschland beschleuni-
gen und damit die Möglichkeit für mehr Arbeitsplätze
schaffen wollen, dann sollten wir auf drei Prinzipien set-
zen: Freiheit, Eigenverantwortung und Subsidiarität.


(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)


Sie dagegen setzen auf mehr Staat, mehr Misstrauen und
mehr Kontrolle. Dieser Weg führt ins Elend. Die Flut
von Regelungen, Gesetzen und Vorschriften überfordert
Bürger, Unternehmen und Verwaltung gleichermaßen.
Deshalb muss das alles auf den Prüfstand.

Deshalb ist auch der FDP-Entwurf überlegenswert.
Gerade mittelständische und kleine Unternehmen wür-
den sehr davon profitieren, wenn die monatliche Um-
satzsteuervoranmeldung entfallen könnte. Mir scheint al-
lerdings der Gedanke, die monatliche Voranmeldung für
alle Unternehmen wegfallen zu lassen, noch nicht ganz
zu Ende gedacht. Es sind nämlich zwei Faktoren zu be-
denken. Das hat die Frau Kollegin richtig gesagt.

Erstens. Die Umsatzsteuer gehört zu den größten
Steuerquellen des Staates. Wenn die Vereinnahmung der
Umsatzsteuervorauszahlungen nur noch vierteljährlich
erfolgen kann, dann wird dies zwangsläufig bei Bund
und Ländern zu erheblichen Liquiditätsproblemen füh-
ren, zumindest vorübergehend.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig!)


Zweitens. Unternehmen mit Vorsteuerüberhängen,
also Umsatzsteuererstattungsansprüchen, können die
Umsatzsteuer folgerichtig dann auch nicht mehr monat-
lich, sondern nur noch vierteljährlich zurückbekommen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Problem für viele junge Unternehmen!)


Auch das würde mit Sicherheit für viele Liquiditätspro-
bleme bringen.

Wir sollten also den FDP-Entwurf im Ausschuss
sorgfältig beraten. Ich kann der rot-grünen Mehrheit nur
empfehlen, diesen Vorschlag nicht schon wieder nur des-
halb abzulehnen, weil er von der Opposition kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Dieses Verfahren, das Sie fünf Jahre praktiziert haben,
nämlich alles abzulehnen, was von dieser Seite kommt, ist
Deutschland im Übrigen verdammt schlecht bekommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503117800


Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel vom
Bündnis 90/Die Grünen.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503117900


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Seiffert, auch ich finde, dass wir alle in der Verant-
wortung stehen, für Bürokratieabbau zu sorgen.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ihr redet nur davon! – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Warum macht ihr das dann nicht? Wie wäre es, wenn ihr mit gutem Beispiel vorangeht?)


Verantwortlich dafür sind aber eben nicht nur der Bund,
sondern auch die Länder, die Kommunen und vor allem
die Standesorganisationen, Stichwort Handwerksord-
nung. Man muss sich einmal anschauen, wie viel Büro-
kratie sich diese Organisationen selbst schaffen. Darüber
hinaus erwarten sie von der Politik, dass sie für eine
Vielzahl von bürokratischen Regeln sorgt, um bestimmte
Dinge zu organisieren und zu regulieren. Angesichts
dessen muss man sich schon fragen, ob es Sinn macht,
deren Forderung nach Bürokratieabbau wirklich ernst zu
nehmen.

Ich meine, wir alle müssen dafür sorgen, dass es in
diesem Land weniger Bürokratie gibt. Das von Ihnen ge-
nannten Beispiel der Bauabzugsteuer war keine Idee der
rot-grünen Bundesregierung, sondern eine Idee der Bau-
industrie, die sie gemeinsam mit einigen CDU- bzw.
CSU-regierten Ländern entwickelt hat. Das muss man
hier der Klarheit halber einmal sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Pinkwart, leider ist es nicht so, dass die Verab-
schiedung dieses Entwurfs zu einer Win-Win-Situation
führen würde. Es wäre nämlich nicht so, dass dadurch
mehr Bürokratie abgebaut werden könnte und Unterneh-
men Finanzverwaltung zum Nulltarif bekämen. Mit an-
deren Worten: Es wäre nicht so, dass der Staat keine Pro-
bleme hätte und die Unternehmen bürokratisch entlastet
wären.

Die Realität – die Kollegin Westrich hat darauf schon
hingewiesen – ist wirklich anders. Die Umsetzung der
von Ihnen hier eingebrachten Überlegung wäre nicht
kostenfrei zu haben. Wenn wir Ihren Vorschlag ernst
nehmen und umsetzen würden, dann gäbe es im Haus-
halt ein Defizit von 15 Milliarden Euro, weil die entspre-
chenden Mittel erst 2004 und nicht 2003 in die öffentli-
chen Kassen fließen würden. Zusätzlich wäre der Jahr
für Jahr eintretende Zinsaufwuchs zu finanzieren. Das
würde letztendlich eine Verlagerung der Belastung in die
nächsten Rechnungsjahre bedeuten, die nicht akzeptabel
ist.

Da Sie immer wieder sagen, der Stabilitätspakt sei Ih-
nen wichtig – das gilt auch für die FDP – und es gelte,
ihn einzuhalten – die Umsetzung Ihrer Forderungen
würde zwar immer wieder das Gegenteil bedeuten; aber
das macht ja nichts –, möchte ich sogar so weit gehen, zu






(A) (C)



(B) (D)


Christine Scheel
behaupten, dass Ihr Vorschlag aus haushaltspolitischer
Sicht ein getarnter Anschlag auf die Maastricht-Krite-
rien ist,


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Ist das nicht ein bisschen überhöht?)


der unsere Bemühungen, eine vernünftige Haushaltskon-
solidierung vorzunehmen, wirklich völlig konterkariert.
Das wäre das Ergebnis der Realisierung Ihres Vor-
schlags.

Nach Abwägung der Vor- und der Nachteile möchte
ich Ihnen zwei Hauptgründe dafür nennen, die monatli-
chen Umsatzsteuervoranmeldungen nicht völlig abzu-
schaffen:

Erstens. Der Vorschlag der FDP konterkariert die ge-
genwärtigen Anstrengungen von Bund und Ländern, ge-
gen den Umsatzsteuerbetrug durch kriminelle Organi-
sationen verstärkt vorzugehen. Seit dem Jahr 2000 ist ein
ganzes Paket von Maßnahmen wirksam, mit dem wir die
Steuerhinterziehung bei der Umsatzsteuer eindämmen
wollen. In diesem Rahmen geben Unternehmensgründer
im Jahr der Gründung und im ersten Folgejahr, unabhän-
gig von den tatsächlich erzielten Umsätzen, ihre Voran-
meldungen monatlich ab. So kommen die Finanzämter
schneller an Informationen über neue Unternehmen. Auf
diese Weise können sie feststellen, ob es Karussellge-
schäfte gibt. Diesbezüglich gab es in diesem Land Rie-
senprobleme. Wir haben damit angefangen, die mit Um-
satzsteuerbetrug verbundenen Probleme, unter anderem
mit dieser Maßnahme, besser in den Griff zu bekommen.

Zweitens. Würden wir dem Vorschlag der FDP folgen,
würden Existenzgründern und Existenzgründerinnen
– Herr Seiffert hat es angedeutet – Liquiditätsnachteile
entstehen; denn sie könnten ihre Vorsteuerüberhänge erst
später entsprechend geltend machen, obwohl sie die Erstat-
tung der Vorsteuer sehr oft als Anschubfinanzierung benö-
tigen. Diese Regelung kann also Existenzgründern und
Existenzgründerinnen schaden. Auch das muss man sehen.

Abschließend möchte ich einen Punkt ansprechen, bei
dem ich schon ein wenig mit dem Kopf schütteln muss.
Wenn man sich den Gesetzentwurf unter handwerklichen
Gesichtspunkten anschaut, erkennt man, dass er wirklich
kein Meisterwerk ist. Er ist Pfusch. Frau Kollegin
Westrich hat das bereits gesagt und ich greife diese Formu-
lierung gerne auf. Sie streichen § 18 Abs. 2 Satz 2 des Um-
satzsteuergesetzes, beziehen sich aber im folgenden Satz
wieder auf diese Passage, die nach Ihrem Willen überhaupt
nicht mehr existieren soll. Das kann man nicht nachvoll-
ziehen. Man kann sich nur darüber wundern. Aber mit der
Zahl 18 hatten Sie ja schon immer ein Problem und das hat
sich in diesem Gesetzentwurf wieder gezeigt.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503118000


Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Müller von der
CDU/CSU-Fraktion.


Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1503118100


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorlie-
gende Gesetzentwurf der FDP zur Abschaffung der
monatlichen Umsatzsteuervoranmeldung greift ein
Thema auf, das, wie ich meine, zu diskutieren durchaus
wert ist. In den anstehenden Beratungen im Finanzaus-
schuss werden wir ausreichend Gelegenheit haben, darü-
ber zu sprechen und zu diskutieren, ob es unter Berück-
sichtigung vieler Aspekte, die hier schon angesprochen
worden sind, Sinn macht, die geltende Rechtslage zu
verändern.

Frau Westrich, wenn Sie schon in der ersten Lesung
Ihre Ablehnung signalisieren, zeigt mir das, dass Sie an
einer ordentlichen Diskussion kein Interesse haben.


(Beifall bei der SPD – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist eigentlich schon die vierte Lesung!)


Im Übrigen gibt es auch im Bereich der Umsatz-
besteuerung schon heute wesentliche Vereinfachungs-
vorschriften. Ich nenne als Beispiel die Umsatzsteuer-
pauschalierung, die eine wesentliche Verwaltungsver-
einfachung bedeutet. Die Landwirte sparen sich dadurch
den Aufwand der monatlichen Umsatzsteuervoranmel-
dung und die Finanzverwaltung erspart sich die Prüfung
der Steuerbescheide und die Ausdehnung der Betriebs-
prüfung auf die Umsatzsteuer.


(Lydia Westrich [SPD]: Das ist auch richtig!)


Umso weniger verständlich war für mich, dass Sie,
meine Damen und Herren von SPD und Grünen, in der
ursprünglichen Fassung des Steuervergünstigungsabbau-
gesetzes bei dieser Umsatzsteuerpauschalierung eine
Senkung von 9 auf 7 Prozent vorgesehen hatten. Dies
hätte nämlich zu einer deutlichen Mehrbelastung bei den
Steuerpflichtigen und bei den Steuerbehörden geführt.


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: So ist es!)


Es hätte mit ziemlicher Sicherheit auch dazu geführt,
dass die betroffenen Landwirte die Pauschalierung abge-
wählt und zur Regelbesteuerung gewechselt hätten.

Aber, meine Damen und Herren von SPD und Grü-
nen, zumindest in diesem Punkt haben Sie sich aus-
nahmsweise einmal nicht beratungsresistent gezeigt. Das
macht das ganze Gesetz jedoch noch lange nicht besser.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Gesetzentwurf der FDP bringt uns dankenswer-
terweise dazu, heute wieder einmal über das Thema
Bürokratieabbau im deutschen Steuerrecht und über
Steuervereinfachungen zu sprechen. Lassen Sie mich zu-
nächst einmal eines feststellen: Wir von der CDU/CSU
werden jeden Vorschlag mittragen, der eine wesentliche
Vereinfachung bringt und tatsächlich zu einem Bürokra-
tieabbau beiträgt. Es muss sich hierzulande die Erkennt-
nis durchsetzen, dass wir endlich Ernst machen müssen
mit dem Abbau einer erdrückenden Bürokratielast für
Private und Unternehmer. Seit Jahren und Jahrzehnten
wird hierzulande über den Bürokratieabbau diskutiert.
Trotz vielerlei Bemühungen sind Initiativen immer






(A) (C)



(B) (D)


Stefan Müller (Erlangen)

wieder gescheitert und haben nicht zu dem gewünschten
Ergebnis geführt.

Der Kollege Seiffert hat es schon angesprochen: Es
gab auf Bundesebene bis Mitte des vergangenen Jahres
weit über 5 000 Gesetze und Rechtsverordnungen mit
nahezu 90 000 Einzelvorschriften. Dieses Dickicht an
Vorschriften ist schon heute bei weitem nicht mehr zu
übersehen. Gleiches gilt für das deutsche Steuerrecht.

Meine Damen und Herren von Rot-Grün, mit Lippen-
bekenntnissen allein ist es nun einmal nicht getan. Die
öffentlichen Äußerungen und plakativen Sprüche, die
wir von Ihnen immer wieder hören, stehen im Gegensatz
zu dem, was Sie in diesem Hause, soweit ich es nach ei-
nem halben Jahr beurteilen kann, auf den Weg gebracht
haben oder in Zukunft auf den Weg bringen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die von Ihnen im Bundestag beschlossene Besteue-
rung von privaten Veräußerungsgewinnen führt weder
zum Abbau von Steuervergünstigungen noch zu einer
Steuervereinfachung.


(Lydia Westrich [SPD]: Sie bringt Geld!)


– Vielen Dank für den Zwischenruf. Sie bringt Geld; ge-
nau da liegt der Hase im Pfeffer. Ihnen geht es schlicht
und ergreifend darum, Ihre fiskalischen Vorstellungen
voranzubringen. An einer Steuervereinfachung sind Sie
in keiner Weise interessiert.


(Florian Pronold [SPD]: Aus der Steuer werden Ihre Diäten bezahlt!)


Systematisch sind die privaten Veräußerungsgewinne
eine völlige Neuerung, die eine Reihe von Auslegungs-
und Vollzugsschwierigkeiten nach sich ziehen wird. Es
ist doch fraglich, ob wertvolle Teppiche und Antiquitä-
ten, die sich im Gebrauch befinden, Gegenstände des
täglichen Gebrauchs sind oder nicht. Fraglich ist doch
auch, wie deren Veräußerung von der Finanzverwaltung
kontrolliert werden soll.

Nicht fraglich ist jedoch, dass das System der Kon-
trollmitteilungen, das Sie im Steuervergünstigungsab-
baugesetz beschlossen haben und auch bei der Zins-
abgeltungsteuer beabsichtigen einzuführen, zu einer
bürokratischen Belastung par excellence führen wird.
Umso unverständlicher ist es mir, dass wir im Zusam-
menhang mit der Zinsabgeltungsteuer wieder über die
Einführung von Kontrollmitteilungen diskutieren; ich
nehme an, das ist Ihr Lieblingsthema. Die Kontrollmit-
teilungen widersprechen an sich schon der Idee einer
Abgeltungsteuer. Ich hoffe, dass Herr Eichel dies auch
endlich einsieht; von der Bundesregierung hört man ja
fast tagtäglich andere und am laufenden Band auch wi-
dersprüchliche Meldungen.

Ich möchte noch einmal festhalten: Ein Kontrollmit-
teilungssystem für die Erfassung von Erträgen aus
Wertpapieren und Gewinnen wird bei geschätzten
300 Millionen Konten und 16 verschiedenen Datenver-
arbeitungssystemen schlicht und ergreifend nicht zu be-
wältigen sein. Die Pflicht zur Versendung von solchen
Mitteilungen der Banken an die Finanzämter wird die

Kreditinstitute in diesem Land mit einem meines Erach-
tens nicht zu rechtfertigenden bürokratischen Aufwand
und zusätzlich auch noch mit erheblichen Kosten belas-
ten, Kosten, die letztendlich wohl an die Kunden weit-
ergegeben werden. Auch die Banken gehen von einem
immensen Kosten- und Verwaltungsaufwand aus, insbe-
sondere bei der Bereitstellung von neuen EDV-Syste-
men, die notwendig ist, um laufende Depotkontrollen,
die Sie vorsehen und die die Meldepflicht dann auch er-
forderlich machen würde, durchzuführen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Banken sind schon heute zum verlängerten Arm des
Staates geworden. Kein anderer Wirtschaftszweig in die-
sem Land wird meines Erachtens so unverhältnismäßig
zur Klärung insbesondere auch steuerlicher Sachverhalte
herangezogen.

Bürokratieabbau im Steuerrecht kommt aber nicht nur
den Unternehmen zugute, sondern eben auch den Steuer-
behörden und den Arbeitnehmern. Durch eine Vereinfa-
chung ließen sich die Kosten bei allen Betroffenen deut-
lich senken. In diesem Sinne sind wir alle gehalten, dort,
wo es Sinn macht – auch im steuerlichen Bereich –, mit
dem Bürokratieabbau endlich Ernst zu machen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503118200


Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Pronold von
der SPD-Fraktion.


Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1503118300


Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Immer, wenn ich die FDP von Bürokratieabbau re-
den höre, dann fällt mir meine gymnasiale Schulbildung
ein, und zwar Goethes Ausspruch: „Die Botschaft hör’
ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“


(Beifall bei der SPD – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das hat Ihr Lehrer wahrscheinlich auch gesagt!)


Dieser Gesetzentwurf, den Sie hier zum wiederholten
Male vorlegen, ist doch der beste Beweis, dass es Ihnen
mit dem Bürokratieabbau nicht besonders ernst ist;
denn die wortgleiche Wiedereinbringung Ihrer Initiative
hier bedeutet doch nicht den Abbau von Bürokratie, son-
dern die Schaffung von mehr Bürokratie. Zumindest die
Arbeit für die Bundestagsverwaltung nimmt dadurch ei-
nigermaßen zu.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Herr Müller, ich finde es schön, dass Sie hier gesagt
haben: Mit Lippenbekenntnissen allein ist es nicht getan.
Ich würde Ihnen empfehlen, dass Sie sich einmal in der
Frage des Bürokratieabbaus an Ihre Staatsregierung
wenden;


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Tun Sie doch was!)







(A) (C)



(B) (D)


Florian Pronold
denn kein anderes Land hat so viele Gesetze, Verordnun-
gen und Ausführungsbestimmungen wie das Bundesland
Bayern, keine Staatsregierung ist so groß, üppig und
überdimensioniert wie die in Bayern. Wenn Sie Ihre
Hausaufgaben gemacht haben und wieder hierher kom-
men, dann reden wir noch einmal über die Frage von
Lippenbekenntnissen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Birgit Homburger [FDP]: Ausreden!)


Das Ansinnen der FDP ist aber auch inhaltlich abzu-
lehnen. Hier wurden einige Beispiele von angeblichen
Einsparungen gebracht. Ich würde in diesem Zusammen-
hang gern von „Milchmädchenrechnung“ reden, aber
dann müsste ich mich bei den Milchmädchen entschuldi-
gen, dass ich sie in die Nähe der FDP rücke; deswegen
will ich davon nicht sprechen.

Ich fand sehr interessant, Herr Pinkwart, dass Sie ein
Märchen als Beispiel angeführt haben, um hier die Frage
des Bürokratieabbaus zu dokumentieren. Vielleicht ist es
auch ein Märchen, dass Sie es mit dem Bürokratieabbau
ernst meinen; denn in Wirklichkeit haben Sie die Rege-
lung, die Sie jetzt herausnehmen wollen, selber 1996 mit
in dieses Gesetz hineingestimmt. Es ist schon ein biss-
chen merkwürdig, wie Sie hier vorgehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es wurden noch weitere Argumente von meinen Vor-
rednerinnen und Vorrednern, auch von Herrn Meister aus
der CDU/CSU-Fraktion, angesprochen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war Herr Seiffert!)


– Entschuldigung.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das ist keine Beleidigung für mich!)


Es wurde die Relevanz der Umsatzsteuer aufgrund ihres
Volumens angesprochen und die Frage gestellt, welche
Steuerausfälle und Zinsausfälle zumindest vorüberge-
hend eintreten würden, wenn man auf eine vierteljähr-
liche Abrechnung umstellen würde. Auch die Bundes-
länder sind sich, zumindest bezogen auf das Jahr 2000,
einig, dass keinerlei Notwendigkeit besteht, von der jet-
zigen Regelung abzuweichen.


(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)


Letzter Punkt. Für mich ist entscheidend – das hat
auch die Kollegin Westrich angesprochen –, was der
Bundesrechnungshof zu der Frage der effektiveren
Umsatzsteuerkontrolle und zur Betrugsbekämpfung so-
wie zur Feststellung von Unregelmäßigkeiten im Falle
von Unternehmensneugründungen, die von monatlichen
Abgaben weitgehend ausgenommen sind, sagt. Manch-
mal habe ich bei der FDP den Verdacht, dass unter dem
Logo Bürokratieabbau ein Etikettenschwindel erfolgt.
Wo bei Ihnen Bürokratieabbau draufsteht, stecken sehr
oft Forderungen nach Maßnahmen dahinter, die Steuer-
hinterziehungen erleichtern können.


(Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist ein unglaublicher Vorhalt, Herr Kollege!)


Deshalb wird die SPD auch diesmal den Antrag ablehnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503118400


Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/359 an den Finanzausschuss
vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung
von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der

(Kleinunternehmerförderungsgesetz)


– Drucksache 15/537 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Debatte eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für den Antrag-
steller hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von der
SPD-Fraktion.


Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1503118500


Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Da ich beginnen darf, möchte ich Ihnen am Anfang
unser Kleinunternehmerförderungsgesetz kurz erläu-
tern. Vorhin schimmerte durch, dass unsere Gesetze
kompliziert seien und keiner mehr die Steuergesetze ver-
stehen würde.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Deshalb macht ihr jetzt eine Ausnahme!)


Daher möchte ich Ihnen die neuen Regelungen kurz dar-
legen.

Ziel unseres Gesetzes ist – wie von Ihnen allen ver-
langt; wir haben es vorher schon erkannt und viel in die-
ser Richtung getan –


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das sehen die Bürger aber anders!)


der Bürokratieabbau. Das ist vor allen Dingen für
Kleinunternehmen sehr wünschenswert. Deswegen ha-
ben wir dieses Thema angepackt.






(A) (C)



(B) (D)


Ingrid Arndt-Brauer
Schon in der Koalitionsvereinbarung haben wir fest-
gestellt, dass der Mittelstand unnötige Bürokratie zu tra-
gen hat;


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das ist wahr!)


die Eigenkapitalbasis vor allen Dingen bei Existenzgrün-
dern und Kleinunternehmen muss gestärkt werden. Das
ist ein Ziel, das wir mit diesem Gesetz erreichen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bürokratie – das wissen wir alle – ist in einem gewissen
Umfang notwendig und unerlässlich; aber zu viel ist
schädlich. Deswegen versuchen wir ein Mittelmaß zu
finden.

Die wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit ist na-
türlich von den Rahmenbedingungen abhängig. Des-
halb müssen wir schauen, dass wir die Rahmenbedin-
gungen – in diesem Fall die Aufzeichnungs- und
Erklärungspflichten der Unternehmen – verbessern. Bei
kleinen Unternehmen ist es deswegen wünschenswert,
dass sie ihre Erklärungen dem Finanzamt gegenüber
ohne Steuerberater machen. Das ist erstens billiger und
zweitens weniger aufwendig. Deswegen werden in Zu-
kunft die kleinen Unternehmen ihr Betriebsergebnis dar-
legen, ihre Entnahmen aufzeichnen und dann die Be-
triebsausgaben pauschal abziehen. Das bedeutet weniger
Aufzeichnungspflichten und ein vereinfachtes System,
in dem kein Steuerberater mehr notwendig ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dieses erste Gesetzespaket ist ein Einstieg und soll an
unser Hartz-Konzept anschließen. Es soll vor allen Din-
gen Arbeitslose dazu ermutigen, sich mit einer Ich-AG
selbstständig zu machen. Dabei soll der Schutz der So-
zialversicherung erhalten bleiben. Diese Vereinfachung
wird dazu führen, dass auch ganz normale Arbeitnehmer
in die Selbstständigkeit hineinfinden können.

Außerdem heben wir die Buchführungspflichtgren-
zen an, was zur Folge hat, dass auch gewerbliche Unter-
nehmen sowie Land- und Forstwirte nur eine Einkom-
mensüberschussrechnung erstellen müssen, wenn sie
unter den vorgesehenen Grenzen bleiben. Wir haben
diese Grenzen massiv angehoben: die Umsatzgrenze von
bisher 260 000 Euro auf 350 000 Euro, die Wirtschafts-
wertgrenze von bisher 20 500 Euro auf 25 000 Euro und
die Gewinngrenze von bisher 25 000 auf 30 000 Euro.
Dies wird bei vielen Betrieben zu weniger Aufwand füh-
ren, weil sie keine Buchführung im bisherigen Sinne
vorhalten müssen. Freiberufler sind davon ohnehin be-
freit. Für die anderen bringt dies ebenfalls Vorteile.

Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir zum Zweiten
die Finanzausstattung der Unternehmen verbessern, in-
dem wir auch in Deutschland das Instrument der Ver-
briefung einführen. In anderen Ländern ist es schon
heute üblich, dass Kreditinstitute ihre Liquidität verbes-
sern, indem sie Kreditforderungen und damit verbun-
dene Risiken verbriefen und mittels Zweckgesellschaf-
ten am Kapitalmarkt platzieren. Mit diesem Instrument
werden wir dafür sorgen, dass mehr Kapital für Unter-

nehmen zur Verfügung steht, sich die Eigenkapitalbasis
der Banken verbessert und dadurch auch eine bessere
Refinanzierung der Unternehmen zu gewährleisten ist.

Damit werden wir den Nachteil beseitigen, dass diese
Zweckgesellschaften, sofern sie überhaupt vorhanden
waren, für die auf die Fremdmittel zu zahlenden Entgelte
Dauerschuldzinsen zahlen mussten. Dies wird künftig
nicht mehr der Fall sein. Indem sie wie Banken behan-
delt werden, werden diese Zweckgesellschaften zuguns-
ten der kleinen Unternehmen und der gewerblichen Be-
triebe entscheidende Impulse auslösen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Umgehungs- und Missbrauchsmöglichkeiten, die wir
in der Steuergesetzgebung häufig zu erwarten haben,
werden wir dadurch vermeiden, dass der begünstigte Ge-
werbebetrieb nachweisen muss, dass die übertragenen
Forderungen oder Kreditrisiken den im Gesetzentwurf
genannten Anforderungen entsprechen. Das heißt, es
darf nur das Kapital angegeben werden, das ausgeliehen
wird; andere betriebliche Transaktionen werden in der
Form nicht berücksichtigt.

Das Ganze hat natürlich finanzielle Auswirkungen.
Wenn wir Kleinunternehmen fördern wollen, geht es
nicht ohne Geld. Im Jahr 2003 wird der Bund Steuermin-
dereinnahmen in Höhe von 264 Millionen Euro zu ver-
zeichnen haben; bis zum Jahr 2006 wird sich dies auf bis
zu 390 Millionen Euro aufbauen. Das sollte uns dies
aber wert sein; denn wir wollen im Rahmen unseres
Hartz-Konzepts die kleinen Unternehmen fördern und
ihnen helfen, nach und nach zu größeren Unternehmen
zu werden. Diese Förderung des Mittelstands dürfte in
unser aller Interesse sein.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503118600


Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Michelbach von
der CDU/CSU-Fraktion.


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1503118700


Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt keinen Zweifel, die verfehlte Wirtschafts- und
Finanzpolitik von Rot-Grün hat uns in die schwerste
Strukturkrise seit Jahrzehnten geführt. Wie sind die Er-
gebnisse nach 142 Tagen der zweiten Schröder-Regie-
rung? An jedem dieser 142 Tage sind 100 Unternehmen
pleite gegangen; in diesem kurzen Zeitraum wurden fast
15 000 Existenzen vernichtet, so viele wie noch nie.
Damit hat die Schröder-Regierung das Vertrauen des
Mittelstandes gänzlich verspielt. Angesichts dessen hilft
auch keine neue Ankündigungswelle mehr. Vertrauen
und Glaubwürdigkeit sind weg. Es nützt dann auch
nichts, wenn Sie immer wieder neue Programme auf-
legen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Hans Michelbach
An jedem dieser 142 Tage sind 6 000 Menschen ar-
beitslos geworden. Am Ende dieser 142 Tage waren es
Hunderttausende mehr als im Oktober 2002. Das ist na-
türlich eine so negative Bilanz in der Wirtschafts- und
Finanzpolitik, wie wir sie noch nicht hatten.


(Zurufe von der SPD: Doch!)


Rot-Grün hat darauf bisher nur eine Antwort: eine neue
Welle von Steuererhöhungen und immer neue Flick-
schusterei mit Einzelgesetzen statt eine zielführende Ge-
samtkonzeption für den Mittelstand. Wenn Sie Vertrauen
gewinnen wollen, dann müssen Sie mit einem Ge-
samtansatz, mit einer ordnungspolitischen Leitlinie vor-
gehen und dürfen nicht mit immer neuen Programmen
und einer Programmvielfalt kommen. Ich erinnere an Ihre
Programmwut und die vielen nutzlosen großen Ankündi-
gungen, die wir in diesem Hohen Hause schon gehört ha-
ben. Ich zähle einmal auf: JUMP-Programm – Fehlan-
zeige –,


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war erfolgreich, aber wirklich! Keine Ahnung!)


Job-AQTIV-Programm – Fehlanzeige; fünf Millionen
Arbeitslose –, Ich-AG-Programm, die Wunderwaffe,
„Kapital für Arbeit“-Programm, „Masterplan Bürokra-
tieabbau“-Programm, Förderbankneustrukturierungspro-
gramm. Morgen werden wir sicherlich in großen Tönen
von dem Bundeskanzler-Kreditprogramm hören.

Heute geht es um die neue Programmwunderwaffe,
das Kleinunternehmerförderungsgesetz, das weit hinter
den Notwendigkeiten für den Mittelstand zurückbleibt.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie mäkeln an allem herum!)


Damit können wir sicherlich Entbürokratisierung errei-
chen, aber auch hierbei gibt es wieder Halbherzigkeit
und insbesondere Etikettenschwindel.

Das alles ist ein praxisfernes Nullsummenspiel für
den Mittelstand. Herr Clement macht gewissermaßen je-
den Tag neue Lockvogelangebote, aber es gibt keinen
neuen Umsatz beim Mittelstand. Neue Lockvogelange-
bote, aber nichts dahinter! Für den Mittelständler zählt
aber nun einmal, wenn er etwas in der Kasse hat. Nur
dann kann er seine Mitarbeiter bezahlen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


Von diesen undurchdachten Ankündigungsprogram-
men und Scheinreformen von Rot-Grün hat der Mittel-
stand wirklich genug. Machen Sie einen Kurswechsel!
Wir brauchen den Kurswechsel. Kreativ und zielführend
sind Sie bisher immer nur bei der Etikettierung. Nir-
gendwo ein Gesamtkonzept, nur Etikettenschwindel, nur
Halbherzigkeiten und Unzulänglichkeiten!

Mit dem Entwurf eines Kleinunternehmerförderungs-
gesetzes werden – wir haben es gerade gehört – weder
wesentliche Investitionsanreize noch Arbeitsplätze noch
Wachstum in ausreichendem Maß geschaffen. Der Mit-
telstand braucht zielführende Reformen statt immer
mehr fragwürdiger Programme. Rot-Grün hat in der

Wirtschafts- und Finanzpolitik keinen Ansatz, keine Ge-
samtkonzeption, keine steuerrechtlichen Prinzipien,
keine ordnungspolitische Leitlinie. Statt ein Gesamtkon-
zept für mehr Wachstum und Beschäftigung vorzulegen,
streuen Sie mit dem Entwurf eines Kleinunternehmerför-
derungsgesetzes den Bürgern sowie natürlich auch de-
nen, die an eine neue Existenz als Existenzgründer
glauben, Sand in die Augen. Sie haben schon wieder ei-
nen großen Fehler gemacht, indem Sie bei den Existenz-
gründern Glaubwürdigkeit verlieren. Sie schaffen kein
Vertrauen. Das ist das große Problem, das ich auch bei
diesem Gesetzentwurf sehe.

Auf der einen Seite will sich Rot-Grün für dieses neue
Gesetz, das eine Entlastung von sage und schreibe
30 Millionen Euro für Kleinunternehmer vorsieht, gera-
dezu feiern lassen; auf der anderen Seite wollen SPD
und Grüne mit dem Steuervergünstigungsabbauge-
setz, das morgen im Bundesrat zur Abstimmung steht,
bei Bürgern und Unternehmen fast 16 Milliarden Euro
abkassieren. Das merkt man doch: 30 Millionen und
16 Milliarden, das passt wirklich nicht zusammen. Für
wie dumm halten Sie den Mittelstand eigentlich? Der
kann doch 30 Millionen und 16 Milliarden Euro deutlich
unterscheiden. Damit entspricht die angekündigte Ent-
lastung nicht einmal 2 Prozent des Volumens des Steuer-
vergünstigungsabbaugesetzes.

Wenn es um das vorliegende Gesetz geht, müssen Sie
sich auch Beispiele anschauen, die aufgrund dieser Be-
stimmungen gebildet werden.

Beispiel eins. Im Hinblick auf die Betriebsausgaben-
pauschalierung sollten Sie sich einmal fragen, wie viele
Selbstständige überhaupt eine Umsatzrendite von
50 Prozent aufweisen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)


Ehrlich gesagt, ich kenne niemanden. Meine Damen und
Herren von Rot-Grün, ich sage Ihnen: 99,99 Prozent al-
ler mittelständischen Unternehmen weisen nach meinem
Dafürhalten nur eine Umsatzrendite von 1 bis 10 Prozent
aus. Wo sollen denn da die 50 Prozent herkommen, die
Sie als Parameter ansetzen? Wie kommen Sie eigentlich
dazu, dass ein Selbstständiger 50 Prozent Gewinn hat?
Sie haben nicht die geringste Ahnung davon, wie es in
der mittelständischen Wirtschaft bzw. bei einem Mittel-
ständler zugeht. Deswegen ist Ihr Ansatz völlig verfehlt.

Beispiel zwei: Fraglich ist auch, wie der pauschale
Betriebsausgabenabzug zu einem Abbau von Bürokra-
tie führen soll. Bei einem Teil der Gewerbetreibenden
besteht schon heute keine Buchführungspflicht. Diese
sind lediglich verpflichtet, den Überschuss der Einnah-
men gegenüber den Ausgaben aufzuschreiben. Das kann
zur Not handschriftlich auf einem Blatt Papier erfolgen.
Die Grenze, ab der eine Pflicht zur Buchführung besteht,
müsste, wenn Sie wirklich eine Entbürokratisierung auf
breiter Front wollen, bei einem Umsatz von mindestens
500 000 Euro und einem Gewinn von 50 000 Euro fest-
gelegt werden. Wenn Sie in diesem Zusammenhang 30,
25 oder 20 Prozent der Mittelständler erfassen wollen
und nicht nur 0,1 Prozent, dann müssen Sie springen und
für den Mittelstand etwas tun. Sie dürfen also nicht nur






(A) (C)



(B) (D)


Hans Michelbach
den Teller mit der Wurst zeigen und diesen dann sofort
zurückziehen und schließlich Überregulierungen und
weiteren Unsinn schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], zu Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP] gewandt: Sie haben wegen der Wurst geklatscht!)


Man erkennt: Aufgrund zu niedriger Schwellenwerte
gibt es für die größte Zahl der Mittelstandsunternehmen
weder den hoch gepriesenen Entbürokratisierungs- noch
einen Vereinfachungseffekt.

Beispiel drei: Der Umsatzschwellenwert von
17 500 Euro pro Jahr müsste auf 50 000 Euro erhöht wer-
den, sollte das Gesetz einen Sinn machen. Nach Einschät-
zung der Bundesregierung verursacht die geplante Neu-
regelung Steuerausfälle von etwa 30 Millionen Euro.
Angesichts eines so geringen Finanzvolumens scheint die
Bundesregierung wohl nicht an ernsthaften Reformen in-
teressiert zu sein. Angesichts der Tatsache, dass Sie
Kleinunternehmern bis zu einem Umsatzschwellenwert
von 17 500 Euro Versprechungen machen, muss ich Sie
fragen: Denken Sie inzwischen bei den Wörtern „Klein-
unternehmer“ bzw. „Mittelständler“ an Almosenempfän-
ger? Es ist doch eine Schande, wenn einem Existenzgrün-
der aufgrund dieses Gesetzes gesagt wird, er sei zwar ein
Kleinunternehmer, aber sein Umsatz dürfe 17 500 Euro
nicht übersteigen, damit er Ihrem Gesetz zur Entbürokra-
tisierung gerecht werden kann. Das sind doch Widersprü-
che, die deutlich gemacht werden müssen.

Es ist Zeit für einen klaren Kurswechsel. Wir von der
Union wollen diesen Kurswechsel erzwingen. Dazu wird
eine nationale Kraftanstrengung der ökonomischen Ver-
nunft benötigt. Dazu braucht es insbesondere eine klare
Mittelstandspolitik mit einem Gesamtkonzept und nicht
Ihre Programmwut. Es liegt zwar ein Ansatz in die rich-
tige Richtung vor; aber er bedeutet wieder nur Halbher-
zigkeit für den Mittelstand. Das werfen wir Ihnen bei
diesem Gesetzentwurf vor.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503118800


Das Wort hat jetzt der Kollege Hubert Ulrich vom
Bündnis 90/Die Grünen.


Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503118900


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sprechen heute in erster Lesung über den
Entwurf eines Kleinunternehmerförderungsgesetzes.
Der Hintergrund für diese Maßnahme ist die schlichte
Notwendigkeit, zum einen im Rahmen der Maßnahme
der Ich-AG und all dessen, was damit zusammenhängt,
Existenzgründungen in Deutschland und zum anderen
den bestehenden Klein- und vor allen Dingen Kleinstbe-
trieben das Bestehen auf dem Markt zu erleichtern. Das
Kleinunternehmerförderungsgesetz basiert auf der be-
reits bestehenden Kleinunternehmerregelung. Es ist eine

Weiterführung bzw. – auch das kann man sagen – eine
Verbesserung.

Herr Michelbach, Sie haben gerade einige Zahlen ge-
nannt. Wenn Sie sich das, was zwischen der SPD und
den Grünen vereinbart worden ist, genauer anschauen
würden, dann wüssten Sie, dass wir im nächsten Jahr mit
den 35 000 Euro, die wir bereits vereinbart haben, von
dem, was Sie gerade gefordert haben, nämlich einen
Schwellenwert von 50 000 Euro, gar nicht so weit ent-
fernt sein werden. Wir bewegen uns also in genau diese
Richtung und erfüllen an dieser Stelle somit auch Ihre
Forderungen.

Das Kleinunternehmerförderungsgesetz ist ein weite-
rer Meilenstein in den Bemühungen, die Rahmenbedin-
gungen der kleinen und mittelgroßen Betriebe in
Deutschland zu verbessern. Dies ist ja nicht die erste
Maßnahme, die die rot-grüne Bundesregierung durch-
führt. Ich darf an eine wichtige Maßnahme dieser Bun-
desregierung aus der letzten Wahlperiode erinnern: die
Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommen-
steuer bei Personengesellschaften.

Dies war, gerade für dieses Segment von Unterneh-
merinnen und Unternehmern, ein großer Wurf. Sie war
eine Verbesserung für das Heer von Personengesell-
schaften gegenüber den Kapitalgesellschaften. Auch darf
man nicht die beiden wirklich großen Bemühungen und
Erfolge dieser Bundesregierung aus der letzten Wahlpe-
riode vergessen. Dies war das bisher größte Förderpro-
gramm für den Mittelstand, das in Deutschland durchge-
führt wurde: die große Steuerreform.


(Lachen des Abg. Hartmut Schauerte [CDU/ CSU])


– Ja, Herr Schauerte, wenn Sie sich an den Kopf fassen,
dann muss ich Sie wohl einmal an Ihre Steuersätze aus
dem Jahre 1998 erinnern: Sie waren bei einem Spitzen-
steuersatz von 53 Prozent. Wir sind bei 48,5 Prozent.
Der Eingangssteuersatz lag bei 26 Prozent, heute liegt er
bei 19,9 Prozent. Wir werden den Eingangssteuersatz auf
15 Prozent und den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent
senken. Das ist eine wirkliche Steuerreform, die unterm
Strich bis zum Jahre 2006 zu einer Steuerersparnis in
Höhe von 62 Milliarden Euro führen wird.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das hätten Sie schon 1996 haben können!)


Das ist eine Leistung, die die frühere liberal-konserva-
tive Koalition nie zu Wege gebracht hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Bedanken Sie sich bei Herrn Lafontaine, dass Sie das nicht schon seit 1996 haben konnten!)


Heute geht es auch um Bürokratieabbau. Auch hier
muss ich mir zunächst einmal folgende Frage stellen:
Wer hat denn die ganze Bürokratie, mit der wir uns heute
herumschlagen, aufgebaut?


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)







(A) (C)



(B) (D)


Hubert Ulrich
Es war doch 16 Jahre lang die CDU und sage und
schreibe 29 Jahre lang die FDP! Heute tut die FDP so,
als hätte sie damit überhaupt nichts zu tun und als sei sie
die Wirtschaftspartei, die Bürokratie abbaut. Sie haben
sie aber aufgebaut. Wir können den Schutt jetzt wieder
wegräumen. So sieht es doch real aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh, oh!)


An dieser Stelle muss ich einmal ein Lob für Bundes-
wirtschaftsminister Clement loswerden.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Oh, der hat doch noch gar nichts getan!)


– Herr Clement hat nichts getan? Er setzt an genau dem
Segment unserer Wirtschaft an, an dem man ansetzen
muss und in dem sich 70 Prozent unserer Arbeitsplätze
befinden: im Mittelstand.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das hätte er doch in Nordrhein-Westfalen machen können!)


Dort versucht er – er tut dies gegen große Widerstände,
was man an dieser Stelle auch einmal honorieren sollte –,
Maßnahmen durchzusetzen, die Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, in Ihrer eigenen Regierungs-
zeit nie durchgesetzt hätten, und er wird es auch schaf-
fen.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Oh, oh! Warte erst einmal ab!)


Ich möchte jetzt gar nicht auf alle Einzelheiten eingehen,
da ich dafür nicht genug Zeit habe.

Das Kleinunternehmerförderungsgesetz setzt an zwei
zentralen Punkten an. Der erste Punkt ist der Bürokratie-
abbau. Ich möchte jetzt nicht noch einmal auf die Einzel-
heiten eingehen, da sie bereits dargestellt wurden. Der
zweite wichtige Punkt ist die Verbesserung von Kredit-
möglichkeiten. Die Verbriefung, die jetzt von der rot-
grünen Koalition umgesetzt wird, ist, gerade mit Blick
auf Basel II und die damit zusammenhängenden Kredit-
schwierigkeiten der kleinen und mittelgroßen Betriebe,
ein sehr wichtiger und richtiger Schritt.

Was ich allerdings – das sage ich ganz offen – an die-
ser Stelle nicht verstehen kann, ist der Widerstand der
CDU und insbesondere der Widerstand des Herrn Merz.
Der Presse habe ich entnommen, dass sich Herr Merz
über diese Maßnahme ein bisschen lustig macht, indem
er sagt, dass sie nichts bringen wird, da sie nur für die
ganz kleinen Betriebe gelten wird. Aber diese Verniedli-
chung verdeutlicht ja die Denkweise des Herrn Merz
oder vielleicht sogar das fehlende Gefühl für die Klein-
betriebe. Man muss sich einfach klar machen: Aus
Kleinbetrieben werden, zumindest teilweise, irgendwann
einmal Großbetriebe.


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Oder sie gehen in die Insolvenz!)


Wenn ich das nicht einsehe und diese Betriebe nicht för-
dere, dann habe ich in dieser Wirtschaft einiges nicht
verstanden.

Aber das „Handelsblatt“ vom 20. Januar dieses Jahres
hat, glaube ich, über die Wirtschaftskompetenz des
Herrn Merz und der gesamten CDU/CSU-Fraktion ein
gutes und treffendes Urteil abgegeben. Im „Handels-
blatt“ hieß es nämlich, dass im Jahre 2003 ein neuer In-
solvenzrekord Deutschland erschüttern werde. Doch
eine Megapleite werde in den Statistiken fehlen: der
wirtschaftspolitische Bankrott der CDU/CSU. Diese
Aussage trifft den Nagel auf den Kopf.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Wer regiert denn? – Das war ganz knapp daneben!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503119000


Das Wort hat jetzt der Kollege Carl-Ludwig Thiele
von der FDP-Fraktion.


Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1503119100


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Herr Ulrich, ich glaube
schon, dass die derzeitige wirtschaftliche Situation nicht
ausschließlich auf das Verhalten von Herrn Merz zurück-
zuführen sein kann, denn noch ist die Regierungsverant-
wortung nicht übernommen. Noch liegt sie bei Ihnen
und das war bedauerlicherweise in den letzten vier Jah-
ren auch schon der Fall. Das muss schnellstmöglich ge-
ändert werden, damit es mit unserem Land wieder auf-
wärts geht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Mit diesem Gesetz setzt Rot-Grün die Flickschusterei
am deutschen Steuerrecht fort. Morgen will der Kanz-
ler seine Regierungserklärung abgeben und einschnei-
dende Reformen verkünden. Die Hoffnungen – das darf
man in diesem Zusammenhang nicht verkennen – auf
durchgreifende Reformen beziehen sich auch und gerade
auf die Steuerpolitik. Deshalb darf es gerade in der Steu-
erpolitik nicht mit einem Kleinklein weitergehen. Folg-
lich ist dieses Gesetz ein viel zu kurzer Wurf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir brauchen nicht zusätzliche steuerliche Ausnah-
men und Sonderregelungen. Wir dürfen nicht in diesem
Kleinklein weitermachen. Wir brauchen einen größeren
Wurf, einen größeren Ansatz und eine Reform, die den
Namen Steuerreform tatsächlich verdient. Die Steige-
rung in der Steuerpolitik lautet doch: kompliziert, kom-
plizierter, rot-grün.

Mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz haben Sie
das Vertrauen der Bürger in eine planbare und verlässli-
che Steuerpolitik grundlegend und nachhaltig geschä-
digt. Wir brauchen eine grundlegende Steuerreform und
deshalb setzt sich die FDP nach wie vor für ein einfache-
res und gerechteres Steuersystem mit weniger Ausnah-
men und erheblicher Senkung der Steuersätze ein. Nach
Vorstellung der FDP soll es nur noch eine Einkunftsart
geben. Der Eingangssteuersatz soll 15 Prozent betragen,






(A) (C)



(B) (D)


Carl-Ludwig Thiele
dann folgen 25 Prozent und der Spitzensteuersatz von
35 Prozent.

Am Tag vor der vom Bundeskanzler selbst so apostro-
phierten Ruckrede, von der ein Aufbruchsignal für unser
Land ausgehen soll, erleben wir hier wieder klassische
klein-kleine Politik.


(Beifall der Abg. Cornelia Pieper [FDP])


Es erstaunt schon sehr, dass einen Tag vor der Befassung
des Bundesrates mit dem Steuervergünstigungsabbauge-
setz von Rot-Grün nunmehr ein neues Steuervergünsti-
gungsgesetz vorgelegt wird, in dem neue Vergünstigun-
gen enthalten sind. Wahrscheinlich werden diese
Vergünstigungen, sollten sie je Gesetz werden, in einem
nächsten Steuervergünstigungsabbaugesetz von Ihnen
wieder gestrichen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quark!)


Auf der einen Seite wollen Sie die Bürger und die Steu-
erpflichtigen durch das Steuervergünstigungsabbauge-
setz mit mehr als 15 000 Millionen Euro pro Jahr zusätz-
lich belasten.


(Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin: Wie bitte?)


– 15 000 Millionen Euro, Frau Staatssekretärin, sind
15 Milliarden Euro.


(Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin: Ich habe „Billionen“ verstanden!)


–Nein, das war ein Verständnisfehler. – Auf der anderen
Seite versuchen Sie, mit diesem Gesetz öffentlich den
Eindruck zu erwecken, als käme nun endlich der steuer-
politische Durchbruch für kleine Unternehmen in un-
serem Lande. Das ist genauso, als wenn Sie auf einen
Bauernhof gehen und ein Schwein wegnehmen und an-
schließend derjenige, dem Sie vorher das Schwein ge-
nommen haben, noch Danke schön dafür sagen soll, dass
Sie ihm ein Kotelett zurückgeben. Das kann nicht funk-
tionieren.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Witz ist aber auch uralt!)


– Ja, aber es ist leider Ihre Politik, Frau Scheel. Inso-
fern ist das leider gar kein Witz, sondern es ist die Rea-
lität. Es zeigt, wie Rot-Grün Steuerpolitik betreibt.
Diese Realität werden wir weiter kritisieren und wollen
wir verändern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Steuerpflicht ist an dieser Stelle auch nicht das
erste Problem; denn die meisten Existenzgründer haben
zunächst erheblich mehr Kosten als Einnahmen. Insofern
bezweifle ich auch, dass der errechnete steuerliche Aus-
fall für Existenzgründer tatsächlich in der von Rot-Grün
vorgesehenen Größenordnung eintritt.

Man muss sich natürlich fragen: Nutzt dieses Gesetz
oder ist es lediglich weiße Salbe? Sind die Steuern tat-
sächlich das Problem oder ist es nicht vielmehr die Büro-
kratie? Wir brauchen Bürokratieabbau, dort muss an-

gesetzt werden. Das würde den Existenzgründern
erheblich mehr helfen als dieses Gesetz.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihnen ist ja auch bewusst, dass Sie mit dieser neuen
steuerlichen Ausnahmebestimmung zu Missbrauch
förmlich einladen. Gleichzeitig mit der Schaffung dieser
steuerlichen Ausnahme erklären Sie, dass der Gesamtbe-
trag der Einkünfte 35 000 Euro und im Falle der Zusam-
menveranlagung 70 000 Euro nicht übersteigen soll. In
Ihrer Begründung weisen Sie zutreffend darauf hin, dass
die Begrenzung dazu dienen soll, unerwünschte Gestal-
tungen durch die Verlagerung von Einkünften zu vermei-
den. Das wird Ihnen aber nur begrenzt gelingen, weil
hier wirklich ein Steuerschlupfloch geschaffen wird.
Sie werden noch erleben, wie Steuerfindige dieses
Schlupfloch nutzen werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Trotz des Versuchs, die Missbrauchsmöglichkeiten,
die sich natürlich durch diese neue Ausnahmeregelung
ergeben, wieder einzugrenzen, schaffen Sie genau das
Gegenteil dessen, was Sie an anderer Stelle fordern. Sie
verkomplizieren unser Steuerrecht, statt es zu vereinfa-
chen. Auch an dieser Stelle doktern Sie ausschließlich an
Symptomen herum, anstatt eine mutige und klare Re-
form zu beschließen. Wir brauchen mehr Mut und eine
andere Denkweise der Regierung als die ausschließlich
fiskalische Sichtweise des Finanzministers.

Es ist kennzeichnend, dass Rot-Grün in der Debatte
zu diesem wie auch zum vorigen Tagesordnungspunkt
ausschließlich von einem Stabilitätspakt spricht. Es han-
delt sich aber um einen Stabilitäts- und Wachstums-
pakt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dass Sie mit Ihrer Politik das Wachstum in Deutschland
so abwürgen, ist ein Zeichen für Hoffnungslosigkeit.
Dem werden wir entschieden entgegentreten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503119200


Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Dr. Barbara Hendricks.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1503119300


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für
die Bundesregierung zählt die Verbesserung der Förde-
rung von Kleinunternehmern und Existenzgründern
zu den Prioritäten, um Wachstum und Beschäftigung zu
sichern und zu stärken. Mit diesem Gesetz leisten wir
dazu einen Beitrag, der – das sage ich besonders in Rich-
tung der Opposition – nicht unterschätzt werden sollte.
Wir verbessern einerseits die Finanzierungsbedingun-
gen, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen,
und stärken die Eigenkapitalbasis von Existenzgründern.
Andererseits bauen wir unnötige Bürokratie ab und sor-
gen für eine spürbare Vereinfachung des Steuerrechts.






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
Mit diesem Gesetz werden auch die ersten Teile des
von der Bundesregierung am 26. Februar dieses Jahres
beschlossenen Sofortprogramms zum Bürokratieabbau
umgesetzt. Die Bedeutung dieses Sofortprogramms
brauche ich eigentlich nicht zu betonen. Es wurde hier
mehrmals davon gesprochen, es müsse uns ein großer
Wurf gelingen. Ich weiß nicht, was genau man sich da-
runter vorstellen soll. Bei Hunden spricht man bei sieben
Welpen auf einmal von einem großen Wurf. Allerdings
muss auch bei einem solchen Wurf jeder dieser Welpen
für sich lebensfähig sein. So gibt es auch im Rahmen des
Sofortprogramms einzelne Projekte, die in dieses Pro-
gramm hineinpassen. Dazu zählt auch das Programm
zum Bürokratieabbau.

Überflüssige Bürokratie beeinträchtigt gravierend die
Möglichkeit zur Entfaltung produktiver oder innovativer
Tätigkeiten. Umfang und Komplexität rechtlicher Rege-
lungen sowie ihre häufigen Änderungen erschweren es
gerade den kleinen Unternehmen, den Überblick über
die vielfältigen Rechte und Pflichten zu behalten sowie
den damit verbundenen Anforderungen gerecht zu wer-
den. Das Gleiche gilt in besonderem Maße für Existenz-
gründer, die ihre Aufmerksamkeit und Energie in der
Startphase ganz anderen Dingen widmen sollten und
wollen.

Deshalb ist die rasche Umsetzung unseres Sofortpro-
gramms zum Bürokratieabbau so wichtig. Die Bürokratie
ist – darauf hat schon der Kollege Ulrich hingewiesen –
in der Bundesrepublik Deutschland schließlich nicht erst
in den letzten vier Jahren,


(Zurufe von der CDU/CSU)


sondern über Jahrzehnte hinweg aufgebaut worden. Wir
haben über diese lange Zeit gemeinsam zu deren Aufbau
beigetragen, deswegen sollten Sie uns nun auch bei ih-
rem Abbau helfen. Es sollte sich niemand einen schlan-
ken Fuß machen. Es darf niemand behaupten, auf der
Ebene von Bund und Ländern hätten nur bestimmte
Mehrheiten zum Aufbau beigetragen und andere Mehr-
heiten nicht.

Durch das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistun-
gen am Arbeitsmarkt, in dem die ersten Teile des so ge-
nannten Hartz-Konzeptes umgesetzt werden, sollen
Existenzgründer besonders gefördert werden. Es wurden
deshalb durch Änderungen im Dritten, Vierten und
Sechsten Buch Sozialgesetzbuch gezielt Anreize ge-
schaffen, durch die Arbeitslose verstärkt zur Gründung
selbstständiger Existenzen im Rahmen der so genannten
Ich-AG angeregt werden sollen. So wird der Übergang
in die Selbstständigkeit zeitlich befristet sozial flankiert,
indem die Gründerinnen und Gründer einer solchen Ich-
AG in den Schutz der Sozialversicherung einbezogen
bleiben und Fördermittel bekommen. Zudem wird der
Schritt in die Selbstständigkeit durch den so genannten
Existenzgründungszuschuss gefördert.

Zur weiteren Förderung dieser neuen Form der
Selbstständigkeit sind darüber hinaus Vereinfachungen
des Steuerrechts erforderlich. Dazu haben wir heute Vor-
schläge vorgelegt. Nach den Empfehlungen der Hartz-
Kommission werden für die steuerliche Behandlung der

Ich-AG unkomplizierte, leicht zu handhabende Regelun-
gen benötigt. So fühlen sich gerade Existenzgründer
vielfach dadurch belastet, dass nach den geltenden Be-
stimmungen des Steuerrechts bereits bei geringen Ein-
nahmen bzw. Umsätzen umfassende Aufzeichnungs-
und Erklärungspflichten bestehen. Schon zur Erfül-
lung der elementaren Buchführungspflichten muss viel-
fach die Hilfe von Steuerberatern hinzugezogen werden.

Beim bisher geltenden Recht bezüglich der Buchfüh-
rungspflichten haben wir in den letzten Jahren nichts ge-
ändert. Wir verändern es erst jetzt, und zwar zum Positi-
ven. Die bisher bestehenden Regelungen sind auf Ihre
Verantwortung zurückzuführen. Durch sie entstehen
Kosten, die die zumeist ohnehin geringen Gewinne der
Existenzgründer zusätzlich schmälern.

Das gilt in gleichem Maße natürlich auch für eine
Vielzahl bereits bestehender Klein- und Kleinstunterneh-
men, für die deshalb ebenfalls ein Bedarf an Vereinfa-
chungen besteht. Ich spreche hier ausdrücklich von
Klein- und Kleinstunternehmen und wende mich an den
gerade telefonierenden Kollegen Michelbach. Es geht
hier nicht um das, was wir im eigentlichen Sinne unter
Mittelstand verstehen. Der Mittelstand in der Bundesre-
publik Deutschland ist groß und vielfältig; die Definitio-
nen sind unterschiedlich. Es geht stattdessen um die
Gründung von Klein- und Kleinstunternehmen, aus de-
nen, wie wir hoffen, mit unserer gemeinsamen Unter-
stützung größere Unternehmen werden können.

In dem Gesetzentwurf haben wir deshalb eine verein-
fachte Gewinnermittlungsmöglichkeit für Existenz-
gründer und Kleinunternehmer verankert. Nach der Ver-
einfachungsregelung darf der Kleinunternehmer die
Hälfte seiner Betriebseinnahmen pauschal als Be-
triebsausgaben abziehen. Selbstverständlich gehen wir
dabei von der Annahme aus, dass dieser Kleinstunter-
nehmer seinen Umsatz letztlich durch seine eigene Ar-
beitskraft und ohne weitere größere Kosten erzielt. Nur
dann ist das natürlich interessant. Sobald er Kosten in
größerem Umfang hat, ist er natürlich an Abschreibun-
gen und am Vorsteuerabzug interessiert und wird selbst-
verständlich für die normale Besteuerung optieren.

Es geht um diejenigen – dies sage ich ein wenig
untechnisch –, die für sich allein herumpuzzeln und mit
der Arbeit beginnen, aus der, wie wir alle hoffen, einmal
mehr wird. Für die Zeit, in der sie damit beginnen, sich mit
ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten am Markt zu behaup-
ten, wollen wir ihnen diese Erleichterung geben. Einen
größeren Anspruch verbinden wir damit ja gar nicht. Wir
sagen nicht, dass das eine Mittelstandsförderung ist. Das
hat niemand von uns behauptet. Es geht – ich sage es noch
einmal – darum, diejenigen, die allein aufgrund ihrer
Fähigkeiten und Fertigkeiten anfangen wollen, zu arbei-
ten, in der Anfangsphase von bürokratischen Hemmnis-
sen zu befreien. Die vereinfachte Gewinnermittlung, bei
der pauschal angenommen wird, dass die Hälfte des Um-
satzes Kosten sind, ist selbstverständlich eine große Er-
leichterung.

Das geht natürlich auch mit der Umsatzsteuerrege-
lung, die im geltenden Recht eine Umsatzsteuerbefrei-
ung bei einem Umsatz von bis zu 16 600 Euro vorsieht,






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
einher. Kollege Michelbach, daher kommt auch die
Grenze. Wir sprechen von 17 500 Euro und heben damit
die Grenze nach dem geltenden Recht etwas an. Das dür-
fen wir ohne die Genehmigung der EU. Wir dürfen aber
keine Umsatzsteuerbefreiung in jeder denkbaren Höhe
durchführen. Das müssten wir uns von der EU-Kommis-
sion genehmigen lassen.

Wirklich bürokratieentlastend und helfend ist das nur,
wenn die vereinfachte Gewinnermittlung mit der Um-
satzsteuerfreiheit einhergeht. Deshalb orientieren wir
uns auch an den Freigrenzen im Umsatzsteuerrecht. Das
ist also nicht willkürlich. Eine richtige Bürokratieentlas-
tung gibt es natürlich nur, wenn die Umsatzsteuer gar
nicht anfällt und die Einkommensbesteuerung sehr ver-
einfacht wird. Wir behaupten nicht, dass dies eine Mit-
telstandsförderung im engeren Sinne ist. Es geht darum,
diejenigen, die mit der Arbeit beginnen und mit ihren
eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten neu am Markt
sind, zu stärken. Das ist der entscheidende Punkt.

Es wird immer wieder gesagt, dass es in vielen Län-
dern der Welt eine sehr viel höhere Selbstständigen-
quote als in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Das
liegt natürlich daran, dass der Maronenverkäufer oder
der Schuhputzer in Portugal als selbstständig gelten. Sol-
che Tätigkeiten gibt es in der Bundesrepublik Deutsch-
land gar nicht. Ich will jetzt nicht sagen, dass zukünftig
Maronenverkäufer oder Schuhputzer gefördert werden
sollen. Darum geht es mir wirklich nicht.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ein Schuhputzerförderungsgesetz!)


Wir werden aber mit diesen Ländern verglichen und uns
wird immer wieder vorgehalten, es gäbe dort eine hö-
here Selbstständigenquote als in der Bundesrepublik
Deutschland. Dabei vergisst man, zu erwähnen, dass es
sich dabei um Menschen handelt, die für sich alleine
eine nicht viel Geld bringende Tätigkeit ausüben und
gleichwohl als Selbstständige in der Statistik stehen –
auch in Südeuropa.

Ich will noch die Anhebung der Buchführungs-
pflichtgrenzen erwähnen. Herr Kollege Michelbach, Sie
haben das eben kritisiert. Immerhin gehen wir von den
Grenzen aus, die Sie in Ihrer Gesetzgebungsverantwor-
tung gesetzt haben. Wir heben sie an. Auch hier gibt es
eine Erleichterung.

Die Standardisierung der Einnahmenüberschussrech-
nung – das will ich noch sagen – ist von großer Bedeu-
tung. Auch dies wird nicht nur den an der Wirtschaft
Beteiligten, sondern auch der Finanzverwaltung sehr
helfen.

Ein Wort noch zur Stärkung der Unternehmensfinan-
zierung: Wir schaffen eine Gewerbesteuererleichterung
im Bereich der so genannten Zweckgesellschaften, die
zum Beispiel eine Verbriefung von Krediten vorneh-
men. Das ist natürlich ein etwas anderes Feld, das nichts
mit der Kleinstunternehmensförderung im engeren Sinne
zu tun hat. Dies ist ein wirklich innovatives Instrument.
Das erwähne ich deshalb, weil Sie uns immer vorwerfen,
wir hätten keine Ideen, sondern würden immer nur auf
alten Pfaden wandeln. Bisher findet Verbriefung in der

Bundesrepublik Deutschland nicht statt, sondern kam
ausschließlich im Ausland zur Anwendung. Wir sorgen
dafür, dass die Zweckgesellschaften bei der Gewerbe-
steuer mit Banken gleichgestellt werden. Damit wird
Verbriefung zum ersten Mal in der Bundesrepublik
Deutschland stattfinden. Lediglich die Kreditanstalt für
Wiederaufbau hat mit diesem Instrument schon seit eini-
gen Jahren Erfahrungen sammeln können.

Die Verbriefung führt zu einer Eigenkapitalstärkung
der in der Bundesrepublik Deutschland tätigen Banken
und infolgedessen zur Möglichkeit der Ausreichung wei-
terer Kredite. Dies wird dem Mittelstand in seiner Ge-
samtheit und nicht nur den Kleinstunternehmen zugute
kommen. Ich glaube nicht, dass die Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition diesen Gesetzentwurf ab-
lehnen werden. Ich bin sicher, dass sie ihm zustimmen
werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503119400


Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von
der CDU/CSU-Fraktion.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Mach uns wach!)



Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1503119500


Herzlichen Dank.

Ich möchte vorweg drei kurze Bemerkungen machen,
die sich insbesondere an Sie richten, Herr Ulrich. Erste
Bemerkung: Wenn Sie unsere Steuerreform, die im Prin-
zip richtig war, nicht blockiert hätten, dann hätten wir
vier Jahre früher eine Steuerreform mit vernünftigen
Steuersätzen gehabt und alles wäre deutlich besser.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Das war der Redebaustein Nr. 1, vielfach einsetzbar!)


Zweite Bemerkung: Da Sie von Größenordnungen ge-
redet haben, möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie es
mit Ihrer Regierungskunst fertig gebracht haben, in zwei
Jahren 50 Milliarden Euro an die Großkonzerne dieses
Landes zurückzugeben.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alte Guthaben!)


Damit haben Sie nahezu alle Haushalts- und Finanzpla-
nungen zunichte gemacht. Eine solche Größenordnung
habe ich mir vorher nicht vorstellen können. Dies ist der
eigentliche steuerpolitische Skandal der zurückliegen-
den vier Jahre.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dritte Bemerkung: Sie haben dafür geworben, Minister
Clement einmal zu loben. Ich kenne ihn aus Nordrhein-
Westfalen sehr gut. Er galt als Mann der 100 Baustellen.
Freunde von ihm haben darauf hingewiesen, dass es kein






(A) (C)



(B) (D)


Hartmut Schauerte
Richtfest gegeben hat. Kritiker behaupten, dass er bei sei-
nen 100 Baustellen schon über das Schnurgerüst gestol-
pert ist. Sie werden erleben, dass er über Ankündigungen
im Wesentlichen nicht hinauskommt; denn den Beweis
des Gegenteils ist er bisher schuldig geblieben.


(Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hartz ist bereits umgesetzt!)


– Wer hat Ihnen denn das Hartz-Konzept nahe gebracht?
Es müsste eigentlich Karl-Josef-Laumann-Konzept hei-
ßen. Wo sind wir denn hier?


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Einzige, was beim Hartz-Konzept funktioniert – wir
haben uns gerade die erste Zwischenbilanz von der Bundes-
anstalt für Arbeit zeigen lassen –, sind die Minijobs. Offen-
sichtlich berechtigen diese Sie zu den schönsten Hoffnungen.
Ihr wärt doch kein Jota weitergekommen, wenn wir es euch
nicht vorgemacht hätten. Den Unsinn mit den 400-Euro-
Minijobs, dem vollen Sozialbeitragssatz auf Einkommen bis
800 Euro und das Scheinselbstständigengesetz habt ihr end-
lich wieder rückgängig gemacht. An dieser Stelle kann es
also besser werden. Herzlichen Glückwunsch!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auf die aktuelle katastrophale Lage antworten Sie mit
diesem Programm. Wenn jemand Angst vor der Lösung
schwieriger Aufgaben hat, dann beschäftigt er sich mit
den kleinen Aufgaben. Genau das ist es, was Sie hier
machen. Sie trauen sich nicht an die wirklichen Fragen
heran, sondern doktern daher an relativ kleinen Weh-
wehchen herum, obwohl das ganze Wirtschaftshaus lich-
terloh brennt.

Sie kommen mir wie eine Feuerwehrtruppe vor, der es
angesichts eines brennenden Hauses mit viel Mühe ge-
lungen ist, Frau Dr. Hendricks, ein Glas Wasser zu orga-
nisieren, um wenigstens den Eindruck des Löschens zu
erwecken. Mehr ist das, was Sie jetzt tun, nicht. Das hilft
aber nicht wirklich. Deswegen muss es jedoch nicht
falsch sein. Wenn der Hunger groß ist, dann hilft auch
ein Brotkrümel, aber er verbessert die Ernährungslage
nicht nachhaltig und grundsätzlich. Aus diesem Handeln
kann nichts werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ihr Tun ist eher propagandistisch gemeint als in der Sub-
stanz wirklich hilfreich. Zudem ist es eine Beschäftigung
von Parlamentariern. Sie werfen uns den kleinstmögli-
chen Knochen hin, damit wir an ihm herumnagen. Aber
bei den wirklich notwendigen Aufgaben haben Sie die
Waffen gestreckt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es kann natürlich sein, dass morgen das Wunder von der
Spree passiert: Aus Schröder wird ein mutiger Visionär.
Bisher lässt Ihr Wirken aber nur eine bedauerliche Bi-
lanz zu.

Zur Sache: Die Richtung ist in Ordnung, aber mit mini-
malem Bewegungsfortschritt. Wir werden über vieles re-
den können, zum Beispiel über die Größenordnungen. Ich

darf daran erinnern, dass die Ansätze bei der Umsatzsteuer
in der letzten Legislaturperiode schon deutlich waren. Wir
hatten in der letzten Legislaturperiode 40 000 Euro und
400 000 Euro beantragt, nicht 30 000 und 350 000 Euro,
wie Sie es jetzt machen. Insoweit haben wir schon in der
letzten Legislaturperiode die Richtung vorgegeben. Uns
scheinen diese Grenzen noch zu niedrig zu sein.

Ich sage Ihnen – damit bin ich im Prinzip schon am
Ende meiner Rede –: Dieses Programm wird kein Be-
freiungsschlag für den Mittelstand sein. Es wird kein
Ruck durch unser Land gehen, sondern es wird nur
tröpfchenweise dem einen oder anderen helfen können.
Im Übrigen ist das, was Hans Michelbach im Einzelnen
als Kritik vorgetragen hat, richtig.

Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung zum
Thema Banken und Mehrwertsteuerregelung für die As-
set-Backed-Security-Finanzierung machen. Das ist eine
überfällige, notwendige Sache, die wir nur begrüßen
können. Das zeigt wieder einmal, dass wir in vielen Fäl-
len inländische Produktionen nicht halten können, weil
unser Steuerrecht nicht so flexibel ist wie in den Ländern
um uns herum. Das ist also eine Hilfe.

Ich bin auch dankbar, dass wir von dem Weg ab sind,
dass allein die IKB das machen soll. Das ist eigentlich
nicht die zentrale Aufgabe der IKB, sondern das ist die
normale Aufgabe des deutschen Kreditgewerbes. Es
muss steuerlich in die Lage versetzt werden, dies unter
europäischen Wettbewerbsbedingungen zu organisieren.
Der Schritt kann also nur breite Zustimmung finden.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das freut uns!)


Je schneller das gelingt, umso besser; denn wir brauchen
im Mittelstand auch diese Art der Finanzierung.

Ich denke, wir werden im Bundesrat – das Ganze ist
ja zustimmungspflichtig – sorgfältig beraten. Wir wer-
den über Einzelheiten und über Verbesserungen in der
einen oder anderen Struktur beraten. Es mag sein, dass
wir am Ende zustimmen werden. Ich kann das noch
nicht übersehen, weil wir nicht wissen, was Ihnen dazu
noch einfällt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine gewisse positive Tendenz ist bei uns vorhanden.
Aber halten Sie den Ball bitte schön flach. Es ist ein Mi-
niprogramm; das denkbar kleinste Programm zur Lö-
sung eines erstaunlich großen Problems.


(Zuruf von der CDU/CSU: Es soll ja auch nichts kosten!)


Wir werden uns nicht verweigern. Aber das ist allenfalls
ein zarter Hauch vom Anfang gründlicher Reformen, zu
denen Sie immer noch keinen Mut haben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503119600


Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/537






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 4
auf:

14 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann,
Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU

Flächendeckende Versorgung mit Postdienst-
leistungen sicherstellen

– Drucksache 15/466 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Birgit Homburger, Rainer Brüderle, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb von
Postdienstleistungen schaffen

– Drucksache 15/579 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Allerdings wollen eine Reihe von Kolleginnen und
Kollegen ihre Reden zu Protokoll geben. Es handelt sich
um die Kollegen Ulrich Kelber und Hubertus Heil von
der SPD-Fraktion und die Kollegin Michaele Hustedt
von Bündnis 90/Die Grünen1). Die Kollegen von CDU/
CSU und FDP wollen allerdings reden. Ich weiß nicht,
ob der Wunsch in Anbetracht der geringen Zuhörerzahl
immer noch besteht.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja!)


– Also, Sie bestehen darauf. Das ist Ihr gutes Recht.

Dann gebe ich das Wort als erstem Redner dem Kolle-
gen Johannes Singhammer von der CDC/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1503119700


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Dieser Tagesordnungspunkt schließt nahtlos an den
vorhergehenden an. Wir wollen, dass 7 000 private mit-
telständische Postagenturen Existenzsicherheit erhalten
und dass vonseiten der Deutschen Post AG mit den pri-

vaten Postagenturbetreibern fair und partnerschaftlich um-
gegangen wird. Wir wollen, dass die Deutsche Post AG
als Privatunternehmen weiterhin Gewinn machen kann.
Wir wollen aber auch, dass die Menschen in Deutsch-
land weiterhin flächendeckend mit Postdienstleistungen
versorgt werden.

Nun ist bekannt, dass derzeit viele Tausende Agentur-
betreiber in großer Sorge sind. Bürgermeister und Land-
räte fürchten um die Postversorgung in Gemeinden und
Kreisen. Postagenturverträge werden in großem Um-
fang gekündigt. Innerhalb von zwei Wochen sollen sich
Postagenturbetreiber für einen geänderten Vertrag ent-
scheiden.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Unerhört ist das!)


Viele befürchten hinsichtlich der flächendeckenden Ver-
sorgung weiße Flecken auf der Landkarte.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Zu Recht! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Unmöglich, dass auf der Regierungsbank niemand zuständig ist!)


Viele private Postagenturbetreiber empfinden die neuen
Vertragsbedingungen, die ihnen präsentiert werden, als
wesentlich ungünstiger. Viele Landräte und Bürgermeis-
ter befürchten deshalb, dass eine schlechtere Versorgung
droht.

Die größten wirtschaftlichen Einbußen erwarten die
einzelnen privaten Postagenturbetreiber durch folgende
Regelungen: Es soll eine Vergütungsreduktion um 25
bis 30 Prozent erfolgen. Die Kündigungsfristen der Ver-
träge sollen von bisher zwölf und mehr Monaten auf ma-
ximal sechs Monate verkürzt werden. Damit geht eine
entsprechende Planungs- und Investitionsunsicherheit
einher.

Gravierende Änderungen drohen bei der Vergütungs-
struktur. Künftig sollen 80 Prozent auf pauschale Ver-
gütung und nur noch 20 Prozent auf einen leistungsbezo-
genen Anteil entfallen. Bisher war das Verhältnis exakt
umgekehrt.

Der Vorsitzende des Verbandes der Postagenturunter-
nehmer, Herr Modery, rechnet im Schnitt nur noch mit
einem Stundenlohn von 4,50 Euro in diesen privaten
Agenturen. Die finanziellen Einbußen werden von der
Deutschen Post AG nicht bestritten. Von ihrer Seite heißt
es:

Die Grundvergütung hat sich als zu hoch erwiesen.
An die Stelle der transaktionsabhängigen Bezahlun-
gen tritt nunmehr eine pauschale Vergütung für die
einfachen Serviceleistungen. Aus der Umstellung
resultiert insgesamt zunächst eine individuelle Ab-
senkung der bisherigen Vergütung.

Wir befürchten nun, dass bei einem Drittel der priva-
ten Postagenturen die bestehenden Verträge nicht mehr
verlängert werden, weil sie sich als nicht mehr rentabel
erweisen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: 1)







(A) (C)



(B) (D)


Johannes Singhammer
Unterstützt wird diese Befürchtung durch große Werbe-
anzeigen, mit denen die Post AG zusammen mit einer
Versandhauskette letztlich eine andere Vertragsgestal-
tung mit Verdienstmöglichkeiten von nur 400 Euro – das
entspricht den Minijobs, über die wir eben gesprochen
haben –, also auf einem niedrigeren Niveau, durchzuset-
zen versucht.

Das Postgesetz sieht in Verbindung mit der Post-Uni-
versaldienstleistungs-Verordnung, die die frühere Bun-
desregierung unter dem damaligen Postminister
Wolfgang Bötsch seinerzeit durchgesetzt hat


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und die sich insgesamt als erfolgreich erwiesen hat, vor,
bundesweit mindestens 12 000 stationäre Einrichtungen
zu betreiben, von denen nach geltender Gesetzeslage bis
zum 31. Dezember 2007 mindestens 5 000 Einrichtun-
gen mit unternehmenseigenem Personal betrieben wer-
den müssen. Mindestens 7 000 private Partner müssen
gefunden werden, die die Postagenturen betreiben. Zu-
dem haben wir festgelegt, dass eine lückenlose Flächen-
deckung zu gewährleisten ist.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben das festgelegt? Sie haben dagegen gestimmt!)


– Wir haben die Rahmenbedingungen geschaffen.

Selbstverständlich kann die Deutsche Post AG im
Rahmen ihrer unternehmerischen Freiheit neue vertragli-
che Vereinbarungen eingehen. Das ist ihr gutes Recht.
Wir sind zwar für Vertragsfreiheit, aber wir wollen, dass
das Prinzip der Flächendeckung nicht gefährdet wird.

Jetzt kommen wir zu dem entscheidenden Punkt. Die
Bundesregierung als Mehrheitsaktionär der Deut-
schen Post AG muss zu ihrer politischen Verantwortung
stehen und ihren Einfluss als Eigentümer geltend ma-
chen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir
betonen in diesem Zusammenhang, dass es nicht darum
geht, plötzlich das Aktienrecht zu ändern und entspre-
chende Änderungen hinsichtlich des Einflusses der Ei-
gentümer vorzunehmen. Die Bundesregierung steht aber
als Mehrheitsaktionär der Deutschen Post AG in der Ver-
antwortung. Selbst Bundeswirtschaftsminister Wolfgang
Clement hat das in einem Schreiben an den bayerischen
Wirtschaftsminister vom 31. Januar dieses Jahres einge-
räumt:

Im vorliegenden Fall müssen die Verträge jedoch so
gestaltet werden, dass die Deutsche Post AG ihre
rechtlichen Verpflichtungen einer flächendeckend
angemessenen und ausreichenden Versorgung mit
Postdienstleistungen auch erfüllen kann.

Damit hat er Recht und dafür verdient er Beifall.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Gewerkschaften, denen viele Kollegen der Op-
position angehören, verlangen im Übrigen Ähnliches,
wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Erst vor

wenigen Tagen, am 11. März dieses Jahres, empörte sich
die bei Verdi für den Bereich Post zuständige Gewerk-
schaftsfunktionärin, Frau Sigrud Schmid, dass der Bund
als Mehrheitsaktionär nicht darauf dränge, dass die Post
in Sachen Übernahme der Auszubildenden vorbildlich
agiere. Die Eigentümerverantwortung des Bundes kann
nicht je nach Laune wahrgenommen werden, sondern
muss konsequent für alle Geschäftsbereiche gelten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Deutsche Post zu privatisieren war richtig. Wir
können stolz sein, dass die Deutsche Post AG ein er-
folgreiches Unternehmen ist, das nach einem aktuellen
Bericht der EU-Kommission – er ist erst vor wenigen
Tagen erschienen – als Universaldienstleister im europä-
ischen Bereich bei der Rentabilität an der Spitze liegt
und mit 2 038 Millionen Euro Gewinn im Jahr 2000 weit
vor allen anderen Postunternehmen in der Europäischen
Union lag.

Allerdings darf die Deutsche Post AG – jetzt kommt
die Verpflichtung, die sich daraus ergibt – ihre Mono-
polstellung nicht ausnutzen. Wir wollen, dass sie ihre
Verantwortung auch gegenüber den mittelständischen
Betrieben wahrnimmt und ihnen ein fairer und gerechter
Partner ist. Aktive Mittelstandsförderung in diesem Be-
reich heißt für uns ganz konkret, dass die 7 000 kleinen
und mittelständischen Postagenturen einen Anspruch ha-
ben, dass ihre Interessen auch auf der Eigentümerseite
der Deutschen Post AG vertreten werden. Deshalb hat
die Bundesregierung die Verpflichtung, dafür zu sorgen,
dass die Deutsche Post AG zu einem klaren Kurs
kommt, der sich an einer fairen und partnerschaftlichen
Geschäftspolitik orientiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Deutsche Post AG braucht angesichts ihrer star-
ken Stellung auch einen starken Verhandlungspartner.
Ich meine – so steht es auch in unserem Antrag –, ein
solch starker Partner könnte beispielsweise der Verband
der Postagenturunternehmer oder der Hauptverband des
Deutschen Einzelhandels sein. Mit solchen Vertragspart-
nern kann die Deutsche Post AG auf gleicher Augen-
höhe über die Vertragsmuster und die inhaltliche Ausge-
staltung der neuen Verträge verhandeln. So wäre echte
Partnerschaft möglich. Wenn das alles nicht zur Durch-
setzung des von uns festgelegten Flächendeckungsprin-
zips und der von mir skizzierten Forderungen führen
sollte, dann müssten als allerletzte Lösung Bußgelder
verhängt werden.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir wollen ein
Miteinander und kein Gegeneinander. Wir wollen eine
erfolgreiche Post und viele erfolgreiche mittelständische
Postagenturen. Wir haben unseren Antrag so konzipiert,
dass es eine gute Zukunft für alle Beteiligten gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503119800


Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der
FDP-Fraktion.






(A) (C)



(B) (D)


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1503119900


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ausgangs-
punkt unserer heutigen Debatte ist ja der überfallartige
Versuch der Deutschen Post AG, die bisherigen Agentur-
verträge, mit denen es eigentlich keine Probleme gab,
zulasten der zumeist mittelständischen und kleineren
Unternehmen zu verändern. Dieser Versuch findet seinen
Ausdruck in einem 39-seitigen Vertrag, den man den
Kleinunternehmen mit der Aufforderung übergeben hat:
Ihr müsst diesen Vertrag spätestens in zwei Wochen un-
terschrieben haben!


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: So ist es! Knebelverträge sind das!)


Dieses Vertragswerk trägt auch noch den schönen Titel
Partnervertrag.


(Birgit Homburger [FDP]: Unglaublich!)


Von partnerschaftlichen Verhältnissen kann überhaupt
keine Rede sein. Wenn Sie, meine Damen und Her-
ren von den Koalitionsfraktionen, mit Ihren Partnern,
auf welchem Gebiet auch immer, so umgehen wür-
den, wie die Deutsche Post AG mit ihren Agenturen
umgeht,


(Birgit Homburger [FDP]: Das tun die doch ständig!)


dann sind Sie bald in allen Lebensbereichen allein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Genau das will offensichtlich die Post AG auch sel-
ber. Wir müssen auch befürchten, dass die Post AG diese
Politik umsetzt. Denn wenn man einseitig als Monopo-
list den Partner zu knebeln und in seiner wirtschaftlichen
Existenz niederzumachen versucht, dann wird man als-
bald allein dastehen und die bisherigen Dienstleistungen
der Agenturen nicht mehr in Anspruch nehmen können.
Gerade da sind wir als Politiker gefragt, obwohl die
Post AG inzwischen privatisiert ist


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Genau!)


und in der Rechtsform der Aktiengesellschaft an der
Börse notiert ist. In diesem Fall ist nämlich die Versor-
gung der Bevölkerung mit den Postdienstleistungen ge-
fährdet,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


und das zu einer Zeit, in der die Deutsche Post AG die
Zahl ihrer eigenen Filialen immer weiter zurückführt.


(Unruhe)


– Darf ich einmal Ihren Redefluss etwas unterbrechen,
Herr Kollege?


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503120000


Herr Kollege Dreßen, würden Sie, wenn Sie schon
hier sind, dem Redner das Gehör schenken? – Vielen
Dank.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1503120100


– Nicht nur das, er sollte auch nicht so laut reden, dass
man sein eigenes Wort nicht mehr versteht.

Hier zeigt sich, wie Recht die FDP damit hat, dass sie
seit Jahren fordert, dass das Briefpostmonopol der Deut-
schen Post AG aufgegeben werden muss.


(Beifall bei der FDP)


Nur ein Monopolist wie die Deutsche Post AG kann
sich in so erdrückender Weise gegenüber den vermeint-
lich kleinen Vertragspartnern verhalten und Geschäftsbe-
dingungen diktieren. Die Postagenturen werden, wenn
die Verträge umgesetzt werden, 25 bis 30, zum Teil so-
gar mehr Prozent ihrer Einkünfte verlieren und sie müs-
sen dafür sogar noch mehr Dienstleistungen erbringen.

Nun wird man der FDP entgegenhalten wollen, dass die
Deutsche Post AG als privates Unternehmen jetzt dem
Aktiengesetz unterliegt und der Vorstand deshalb unter-
nehmerisch und unabhängig handeln darf. Das ist richtig,
aber der Bund hat noch die Mehrheit am Unternehmen
und somit auch in Person des Herrn Wirtschaftsministers,
der immerhin durch seinen Parlamentarischen Staats-
sekretär vertreten ist – darüber freuen wir uns sehr –, über
die Regulierungsbehörde, über den Aufsichtsrat oder die
Hauptversammlung die Möglichkeit, doch Einfluss auf
das Unternehmen zu nehmen. Dieses ist auch notwendig.


(Ulrich Kelber [SPD]: Keine Ahnung von Aktienrecht!)


Hier zeigt sich einmal mehr, dass es nicht allein darauf
ankommt, eine private Rechtsform zu schaffen, sondern
dass Privatisierung auch bedeuten muss, dass das Unter-
nehmen voll dem Wettbewerb ausgesetzt wird. Privati-
sierung und Wettbewerb müssen Hand in Hand gehen.

Jetzt zeigt sich, dass es ein Fehler war, die von An-
fang an bestehende Forderung der FDP auf Aufhebung
des Postmonopols abzuweisen und dieses Postmonopol
sogar noch bis zum Jahr 2007 zu verlängern, was Sie vor
kurzem getan haben.


(Beifall bei der FDP – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das war ein Riesenfehler!)


Die Deutsche Post AG missbraucht ihre Marktmacht.
Deswegen ist es auch folgerichtig, dass das Bundeskar-
tellamt im Wege seiner Missbrauchsaufsicht das Ver-
triebssystem der Post AG überprüft, damit der Eintritt
großer wirtschaftlicher Schäden zulasten der Postkunden
infolge monopolistischer Verhaltensweise vermieden
werden kann.

Die Bundesregierung sollte entweder über ihren Ein-
fluss als Hauptaktionär oder über die Regulierungsbe-
hörde darauf hinwirken, dass diese Knebelverträge zwi-
schen der Deutschen Post AG und den Postagenturen bis
zum Abschluss der Prüfung durch das Kartellamt nicht
in Kraft treten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Insoweit haben wir ausdrücklich auf unseren Antrag zu
verweisen, der sich etwas von dem CDU/CSU-Antrag
unterscheidet.






(A) (C)



(B) (D)


Rainer Funke
Meine Damen und Herren, die Zeit drängt. Die Regie-
rung ist im Interesse der mittelständischen Wirtschaft
und der Postkunden aufgefordert, schnell zu handeln.
Bitte tun Sie endlich etwas für die Postkunden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503120200


Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Börnsen von
der CDU/CSU-Fraktion.


(Unruhe)



Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1503120300


Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen!


(Ulrich Kelber [SPD]: Diesmal ist es aber Ihr Kollege, der die Unruhe ausgelöst hat!)


– Ich finde, dieser Anlass ist schon ernst genug, um ver-
antwortungsvoll darüber zu diskutieren, wie sich die
Post in der Frage der Vertragsneugestaltung verhält.

Der bürgernahe Bundespräsident Walter Scheel hat
das Lied von der Post populär gemacht:

Hoch auf dem gelben Wagen
Sitz ich beim Schwager vorn.
Vorwärts die Rosse traben,
Lustig schmettert das Horn.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der FDP)


– Denen, die jetzt lachen, darf ich nur sagen: Wenn die
letzte Strophe kommt – auch die werde ich noch vortra-
gen –, dann wird einigen das Lachen im Halse stecken
bleiben.

In einer optimistischen Aufbruchstimmung dürften
sich die 7500 Postagenturbetreiber befunden haben, die
dort, wo die Post ihr Filialnetz rigoros ausdünnte, den
Postdienst übernommen haben. Besonders im ländlichen
Raum wurde damit nicht nur ein Kahlschlag verhindert;
mit dem Einstieg der privaten Anbieter verbesserte sich
vielmehr auch der Service: längere Öffnungszeiten und
freundlichere Bedienung. Außerdem wurde und wird die
Möglichkeit von den Bürgern als Vorteil empfunden, die
Post dort zu erledigen, wo auch andere Dienstleistungen
in Anspruch genommen werden können.

Sicherlich war die Skepsis zu Beginn der neuen
Postepoche groß, Brief- und Paketdienste durch Fach-
fremde in Anspruch zu nehmen; doch die Akzeptanz
wuchs mit der Qualität der Agenturen. Auch wenn Seni-
oren und Mitbürger ohne Auto im ländlichen Raum wei-
tere Wege akzeptieren mussten, hat sich das weitma-
schige Agentursystem bewährt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jetzt will es der Postvorstand offensichtlich zerschla-
gen, denn eine Reduzierung der Vergütung um 25 bis
35 Prozent raubt fast jeder zweiten Postagentur die Exis-
tenzgrundlage. Wie in frühkapitalistischen Zeiten presst

jetzt ein Staatsmonopolist die abhängigen Kleinunter-
nehmen aus. Der Mittelstand wird wieder einmal getrof-
fen. Mit rüden und rücksichtslosen Methoden ist die Post
dabei, Tabula rasa im Vertriebssystem zu machen. Dazu
sollte es nicht kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Verantwortlich für diesen Schritt, der zusätzliche Ar-
beitslosigkeit und Existenzvernichtung bedeutet, ist der
Vorstand der Deutschen Post AG, dem unter anderem
Walter Scheuerle, Sozialdemokrat und Gewerkschafts-
mitglied, angehört. Mitverantwortlich für die Verelen-
dung einer ganzen Branche und für weniger Bürgerser-
vice ist auch der Aufsichtsrat, in dem unter anderem
Herr Staatssekretär Manfred Overhaus einen wichtigen
Platz einnimmt.

Der Hauptverantwortliche für den „Anti-Agentur-
Kurs“ ist jedoch die rot-grüne Bundesregierung mit Fi-
nanzminister Hans Eichel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie ist der Mehrheitseigner. Hans Eichel ist der eigentli-
che Boss der Post. Er duldet, dass demnächst Tausende
von Postagenturen geschlossen werden. Er akzeptiert da-
mit, dass die Post als Staatsmonopolist gegen sämtliche
Grundsätze der Marktwirtschaft verstößt. Sein fehlendes
Handeln hat dazu beigetragen, dass Brüssel wegen uner-
laubter Quersubventionierung mit Strafgebühren bei
der Post eingreifen musste. 900 Millionen Euro mussten
zurückgezahlt werden. Jetzt sollen die Kleinunterneh-
men vor Ort für diese Strafgebühren aufkommen. Die
Post entpuppt sich als ganz dreister Riese.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es sind Hans Eichel und Bundeskanzler Gerhard
Schröder gewesen, die 2001 die endgültige Privatisie-
rung der Post verhinderten und sich für die Fortsetzung
des Staatsmonopols einsetzten. Ich wiederhole: Es ist die
rot-grüne Bundesregierung als Hauptaktionär, die die
Umsetzung der neuen Knebelverträge zulässt und Tau-
senden von mittelständischen Betrieben die Existenz-
grundlage nimmt. Jedoch propagiert man gleichzeitig die
Neugründung von Unternehmen durch subventionierte
Ich-AGs. Fragwürdiger und widersprüchlicher kann eine
Wirtschaftspolitik wirklich nicht sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Glauben Sie das eigentlich, was Sie da sagen?)


Alles Handeln unterliegt den Zielen, Global Player
Nummer eins bei den Postdienstleistungen und außerdem
Dividendenkönig zu werden. Es sieht ganz danach auch,
dass diese Strategie auf dem Rücken von Kleinunterneh-
mern und Mitarbeitern umgesetzt werden soll. Vergessen
Sie nicht: Allein in den letzten zehn Jahren mussten
140 000 Postbedienstete entlassen werden. Das passiert,
wenn man Global Player Nummer eins werden will.


(Widerspruch bei der SPD)


– Was haben Sie denn dagegen getan?


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

Deshalb sind unsere Forderungen: erstens Stopp al-
ler Neuverträge, zweitens Anerkennung des Verbandes
der Postagenturbetreiber als eigentlichen Verhandlungs-
partner, drittens Vorlage eines zeitnahen Gutachtens über
die tatsächliche Lage der Agenturen, viertens eine wei-
tere Sonderprüfung des Bundeskartellamtes zum Geba-
ren der Post, fünftens eine Garantie, dass es nicht im
kommenden Jahr eine neue Welle von Verträgen gibt.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und sechstens? Was ist mit sechstens?)


Jetzt nimmt man den Agenturen die Luft zum Atmen.
Einige Postshops liegen schon jetzt im Minus.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503120400


Herr Kollege Börnsen, ich muss Sie jetzt einmal un-
terbrechen, weil der Kollege Kelber Ihnen gern eine
Zwischenfrage stellen möchte. Genehmigen Sie das?


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1503120500


Ich bin dazu nicht bereit, Herr Kelber.


(Heiterkeit bei der SPD)


Wissen Sie, weshalb? Die Reaktion Ihrer Kollegen ist
ganz typisch: Man lacht und freut sich bei diesem
Thema. Haben Sie in den letzten Wochen und Monaten
einmal die Agenturbetreiber besucht?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Ja!)


Wissen Sie, wie denen zumute ist?


(Erneute Zurufe von der SPD: Ja!)


Denen steht das Wasser bis zum Hals. 30 Prozent weni-
ger Einkommen, weniger Dienstleistung für ihre Mitar-
beiter – meinen Sie, darüber kann man noch lachen? Ich
schäme mich für die Leute, die sich darüber vergnügen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Diese Friss-oder-stirb-Strategie kann man nicht dul-
den, gerade von Ihrer Seite nicht.

Die Dividende für die Aktionäre wurde auf 40 Cent
erhöht. Damit bekommt der Hauptanteilseigner, die Bun-
desregierung, satte 223 Millionen Euro in den Haushalt.
907 Millionen Euro musste die Post wegen unrechtmäßi-
ger Quersubventionen an die Bundesregierung zurück-
zahlen. Damit erhielt Minister Eichel von der Post im
vergangenen Jahr 1,13 Milliarden Euro. Da kann man
schon mal ein Auge zudrücken, wenn die Post Stellen
streicht, Filialen auflöst und Agenturen und ihre mittel-
ständischen Betreiber in den Ruin treibt – so ein bissiger
Pressekommentar. Wir stehen als Union an der Seite der
Opfer dieser neuen Poststrategie.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


„Knebelverträge“ ist noch die zahmste Formulierung bei
diesen Attacken.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Unsozial!)


Ein Kurswechsel ist machbar; Sie haben ihn in der
Hand, Sie können ihn veranlassen bzw. dazu beitragen,
denn Sie stellen die Bundesregierung. Sie wissen, dass
die rot-grüne Regierung, der Hauptanteilseigner, Ein-
fluss nehmen kann. Sie lassen nichts zu. Handeln Sie!
Dann haben die Postagenturen eine Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Vergessen Sie nicht: Durch die Fortsetzung des
Monopols – im Jahr 2001 beschlossen, 2003 aufgege-
ben, erst für 2007 anvisiert – wurden fast 600 Unterneh-
men, die sich damals auf das Anbieten von Postdienst-
leistungen eingestellt haben, ins Aus gestellt.
20 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten entlas-
sen werden, weil das Staatsmonopol gegen das Gesetz,
gegen das, was das Parlament im Grunde genommen ge-
wollt hat, fortgesetzt wurde. Das sind auch Ihre Arbeits-
losen und das ist absolut unvertretbar.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Herr Börnsen, es ist schon peinlich! – JochenKonrad Fromme [CDU/CSU]: Das war Kurspflege zugunsten des Bundeshaushalts, nichts anderes!)


Die Postagenturen, denen das Wasser jetzt bis zum
Hals steht, die Frust erleben durch die derzeitige Be-
handlung, die im Grunde genommen eine Abkehr der
Politik erfahren, haben nur dann eine Zukunft, wenn Sie
bereit sind, unserem Antrag zuzustimmen und bei dem
mitzumachen, was unser Antrag bedeutet, nämlich eine
Umkehr in den Vertragsverhandlungen, wenn Sie mithel-
fen, die Post in die Lage zu versetzen, fair mit diesen
Partnern umzugehen, die bisher auch fair mit den Bür-
gern umgegangen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503120600


Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Ulrich Kelber, SPD-Fraktion.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1503120700


Lieber Kollege Börnsen, der Antrag Ihrer Fraktion
war so sachfremd und so populistisch, dass wir uns ent-
schieden hatten, nicht zu reden. Auf die Unverschämt-
heiten jedoch, die Sie hier herausposaunt haben, bedarf
es drei kurzer Anworten:

Erstens zum Thema Aktienrecht: Sie sind in Ihrer
fünften Legislaturperiode. Bitte informieren Sie sich ein-
mal über ein solch grundlegendes Recht, das der Bun-
desregierung sogar verbietet, sich als Hauptaktionär in
das Geschäft der Post AG einzumischen, wenn sie nicht
schadenersatzpflichtig werden will.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU)


Zweitens. Schauen Sie sich einmal über Ihre linke
Schulter um, dann sehen Sie den sehr geschätzten Kol-
legen Bötsch dort sitzen, der die entscheidenden Rechts-
grundsätze, die auch zu den Rationalisierungen und






(A) (C)



(B) (D)


Ulrich Kelber
Liberalisierungen geführt haben, als Minister umgesetzt
hat. Aufgrund dieser Rechtsgrundsätze haben wir in die-
sem Jahr zum ersten Mal in der Geschichte der Bundes-
republik eine Portosenkung erreicht. Sie sollten nicht an-
deren vorwerfen, was aus Ihrer eigenen Fraktion
gekommen ist.

Dritter und letzter Punkt. Sie können mir vielleicht
bestätigen, ob ich das als jemand, der damals dem Bun-
destag noch nicht angehört hat, im Protokoll richtig
nachgelesen habe: Am 4. November 1999 ist darüber
diskutiert worden, ob der Post vorgeschrieben wird,
mehrere tausend Postagenturen zu betreiben.

Der Kollege Funke hat die Post-Dienstleistungsverord-
nung deswegen abgelehnt; er hat gesagt: Es ist falsch, so
etwas vorzuschreiben. Das Protokoll vermerkte dazu
Beifall von FDP, CDU und CSU. Erklären Sie das ein-
mal. Die meisten der Postagenturen, über die wir uns
heute unterhalten, gäbe es gar nicht, wenn Sie damals die
Mehrheit gehabt hätten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer [CDU/ CSU]: Unsinn!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503120800


Einen Moment, Herr Börnsen. Mir liegt der Wunsch
nach einer weiteren Kurzintervention des Kollegen
Rainer Funke vor. Anschließend gebe ich Ihnen die Ge-
legenheit, zu antworten. Herr Funke, bitte.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1503120900


Zu der Frage des Aktienrechts, – damit da keine
Missverständnisse entstehen –: Natürlich muss sich der
Vorstand am Aktiengesetz orientieren. Hier ist es aber
so, dass wir einen regulierten Markt haben; die Post un-
terliegt der Aufsicht durch die Regulierungsbehörde. In-
soweit hat der Bundeswirtschaftsminister, der ja die
Dienstaufsicht über diese Behörde hat, auch Einfluss auf
das Marktverhalten der Deutschen Post AG.


(Zurufe)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503121000


Entschuldigen Sie, das Wort hat der Kollege Funke.
Wenn Sie ihn ausreden lassen würden, würde das schnel-
ler vorübergehen.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1503121100


Des Weiteren hat der Bund sowohl als Hauptaktionär
als auch im Wege der Aufsicht, vertreten durch Staatsse-
kretär Overhaus, der die Post schon seit vielen Jahren
begleitet hat


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Ewige!)


– nicht nur zum Vorteil der Post; das muss ich auch sa-
gen –, hinreichende Möglichkeiten – das gilt auch noch
für die Regierung Kohl; da war er auch schon im Auf-
sichtsrat –, auf die Post AG einzuwirken, damit die

Agenturverträge nicht so gestaltet werden, wie sie den
Agenturen von der Post AG aufgedrückt werden sollen.

Im Übrigen habe ich mit angeregt, dass sich das Bun-
deskartellamt einmal ansieht, wie diese Verträge zum
Nachteil der Postagenturen und der Postkunden ausge-
legt werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kolber [SPD]: In Ihrem Antrag steht aber etwas anderes als das, was Sie jetzt gesagt haben!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503121200


Das Wort hat jetzt der Kollege Börnsen zur Erwide-
rung.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1503121300


Ich habe jetzt, glaube ich, ein Dutzend Postagenturen
in ländlichen Regionen


(Zuruf von der SPD: Nur?)


und habe erfahren, dass immer nur in Einzelverhand-
lungen mit den Agenturbetreibern gesprochen wird. Der
eine muss 11 Prozent mehr bezahlen, der andere 28 Pro-
zent, der nächste 35 Prozent, dem Vierten ist der Compu-
ter gestrichen worden, dem Fünften wird mitgeteilt, er
müsse jetzt seine Pakete selbst weiterfahren. Mit den
Agenturbetreibern, die im Grunde genommen hilflos
sind, wird in einer Art und Weise umgegangen, dass man
wirklich zornig wird. Darauf hat auch eine ganze Reihe
Ihrer Kollegen mit Wut und Ärger reagiert.

Ich möchte Ihnen dazu meinen Standpunkt darlegen.
Sie haben die Möglichkeit – Rainer Funke hat das ganz
klar gesagt –, zu handeln. Warum sitzt denn eigentlich
Ihr Staatssekretär aus dem Bundesfinanzministerium im
Aufsichtsrat der Post?


(Ulrich Kelber [SPD]: Der Aufsichtsrat darf nicht in das operative Geschäft eingreifen! – Gegenruf des Abg. Rainer Funke [FDP]: Das ist doch nicht wahr!)


Sie wissen doch ganz genau, welche Möglichkeiten es
gibt. Sie wissen auch, dass Sie dem Image der Post und
der Sache selbst schaden, wenn Sie weiter so verfahren.

Ich nehme Ihren Hinweis auf den Kollegen Wolfgang
Bötsch gerne auf. In seiner Zeit ist mit den Mitarbeitern
und Kunden noch fair umgegangen worden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Als die Post in Brüssel in Bedrängnis kam, ist er von
Hauptstadt zu Hauptstadt gereist, um klar zu machen, wo
die Interessen der Post eigentlich liegen. Er hat mit Er-
folg die Sache der Post vorangetrieben.

Die Post verfolgt im Moment die Strategie – genau das
ist das Problem –, Tausende von Postagenturen Zug um
Zug dichtzumachen, um in Zukunft mit einem ganz gro-
ßen Betreiber – vielleicht heißt er sogar Quelle – flächen-
deckend das Geschäft zu machen. Dann ist in der Fläche
keine Postagentur mehr zu finden. Das ist leider das






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

eigentliche Ziel. Wir sollten gemeinsam dafür eintreten – Sie
sind letzten Endes selbst mit dabei gewesen –, dass wir ein
flächendeckendes Netz an Postagenturen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das flächendeckende Netz ist vorgeschrieben! Kapieren Sie das doch endlich einmal!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503121400


Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/466 und 15/579 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Zusatzpunkte 5 bis 7 auf:

ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt,
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck (Köln),
Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

GATS-Verhandlungen – Bildung als öffent-
liches Gut und kulturelle Vielfalt sichern

– Drucksachen 15/224, 15/506 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Ulla Burchardt
Thomas Rachel
Ursula Sowa

ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

GATS-Verhandlungen – Transparenz und Fle-
xibilität sichern

– Drucksache 15/576 –

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann

(Homburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der FDP

GATS-Verhandlungen – Bildung als öffent-
liches Gut und kulturelle Vielfalt sichern

– Drucksache 15/580 –

Ich höre, dass zu diesem Tagesordnungspunkt alle
Reden zu Protokoll gegeben werden sollen.1) Ich ver-
zichte auf das Verlesen der Namen der Redner. Sie kön-
nen dem Protokoll entnommen werden.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-

abschätzung auf Drucksache 15/506 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „GATS-Verhandlungen – Bildung als öf-
fentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/224 an-
zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
angenommen.

Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/576
mit dem Titel „GATS-Verhandlungen – Transparenz und
Flexibilität sichern“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist
mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.

Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 15/580 mit dem Titel „GATS-Verhand-
lungen – Bildung als öffentliches Gut und kulturelle
Vielfalt sichern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung
der CDU/CSU und Zustimmung der FDP abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zu-
satzpunkt 8 auf:

12 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Angelica Schwall-Düren, Michael Müller

(Düsseldorf), Horst Kubatschka, weiterer Abge-

ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab-
geordneten Michaele Hustedt, Rainder
Steenblock, Christine Scheel, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN

Keine Zustimmung zur Erhöhung der EURA-
TOM-Kreditlinie

– Drucksache 15/575 –

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia

(Homburg)

der FDP

EURATOM-Vertrag nicht aufweichen – Keine
einseitigen Eingriffe in die Finanzierung

– Drucksache 15/578 –

Auch hier sollen mit Ihrem Einverständnis alle Reden
zu Protokoll genommen werden.2)

Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/575
mit dem Titel „Keine Zustimmung zur Erhöhung der
EURATOM-Kreditlinie“. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.

Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 15/578 mit dem Titel „EURATOM-Vertrag

1) Anlage 7 2) Anlage 8






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
schäftsordnung

Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines nicht förmlichen Disziplinarverfahrens

– Drucksache 15/607 –

Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
empfiehlt auf Drucksache 15/607, die Genehmigung zu
erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatz-
punkt 9 auf:

11 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Reinhold Hemker, Dr. Sascha Raabe, Matthias
Weisheit, weiterer Abgeordneter und der Fraktio-
nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN

Für eine nachhaltige Agrarpolitik und einen
gerechten Interessenausgleich bei den laufen-
den WTO-Verhandlungen

– Drucksache 15/550 –

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden; ich verzichte darauf, die Namen der Redner vor-
zulesen. Daher kommen wir gleich zu den Überweisun-
gen. Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/550 und 15/534 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 14. März 2003, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.