1) Anlage 9
nicht aufweichen – Keine einseitigen Eingriffe in die
Finanzierung“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung
von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord-
nung um die Beratung der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines nicht förmlichen Disziplinarverfah-
rens zu erweitern und diese jetzt als Zusatzpunkt 10 auf-
zurufen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? – Das ist
nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Dann rufe ich jetzt Zusatzpunkt 10 der Tagesordnung
auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H.
Carstensen (Nordstrand), Albert Deß, Gerda
Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
WTO-Verhandlungen – Europäisches Land-
wirtschaftsmodell absichern
– Drucksache 15/534 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft (f)
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2453
(A) (C)
(B) (D)
Meyer (Tapfheim), Dr. Georg Nüßlein, Georg
Schirmbeck, Peter Weiß (Emmendingen),
Marco Wanderwitz, Peter Bleser, Elke Wülfing,
Gerald Weiß (Groß-Gerau), Julia Klöckner,
gesordnungspunkt 15 a)
Die Mehrheit unserer Fraktion hat sich für die An-
nahme des Gesetzentwurfes in der Ausschussfassung
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Matthias Sehling, Wolfgang
Zeitlmann, Ilse Aigner, Martin Hohmann,
Hartmut Koschyk, Susanne Jaffke, Michael
Glos, Dr. Peter Ramsauer, Dorothee Mantel,
Norbert Geis, Dr. Ole Schröder, Stephan Mayer
(Altötting), Hubert Deittert, Jochen-Konrad
Fromme, Albrecht Feibel, Beatrix Philipp,
Dr. Michael Luther, Günter Baumann, Arnold
Vaatz, Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen),
Reinhard Grindel, Dr. Klaus W. Lippold (Of-
fenbach), Thomas Strobl (Heilbronn),
Dr. Andreas Schockenhoff, Ursula Lietz, Clemens
Binninger, Christa Reichard (Dresden), Georg
Brunnhuber, Heinz Seiffert, Partricia Lips,
Matthäus Strebl, Barbara Lanzinger, Manfred
Grund, Johannes Singhammer, Daniela Raab,
Monika Brüning, Klaus Hofbauer, Hannelore
Roedel, Christian Schmidt (Fürth), Doris
Maria Michalk, Kristina Köhler (Wiesbaden),
Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg,
Klaus Brähmig, Michaela Noll, Klaus Riegert,
Tanja Gönner, Volker Kauder, Henry Nitzsche,
Veronika Bellmann, Albert Rupprecht (Wei-
den), Dr. Hermann Kues, Erwin Marschewski
(Recklinghausen), Kurt-Dieter Grill, Erika
Steinbach, Dr. Peter Gauweiler, Thomas
Dörflinger und Helmut Rauber (alle CDU/CSU)
zur Abstimmung über den Antrag: Der Weg für
die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Bei-
trittsverhandlungen auf dem Europäischen Rat
von Kopenhagen (Tagesordnungspunkt 4 a)
Dem Beitritt von Estland, Lettland, Litauen, Malta,
Polen, der Slowakischen Republik, Slowenien, der
Tschechischen Republik, Ungarn und Zypern in die Eu-
ropäische Union stimmen wir mit dem vorliegenden An-
trag grundsätzlich zu, denn diese Völker und ihre jungen
Demokratien sind eine Bereicherung für die Europäische
Union. Wir sind aber enttäuscht, dass bei den Beitritts-
verhandlungen die Menschenrechtsstandards des Kopen-
hagener Vertrages nicht die notwendige überragende
Rolle gespielt haben. In diesem Sinne sind die Entrech-
tungsdekrete gegenüber ungarischen und deutschen Ver-
triebenen und Flüchtlingen fortwirkendes Unrecht. In die
EU gehören aber nur Staaten, die die Menschenrechte
umfassend achten. Menschenrechte sind von sich aus
universal angelegt. Rechtsakte, die zu diesen im Gegen-
satz stehen, gehören aufgehoben.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Elke Ferner, Bernhard
Brinkmann (Hildesheim), Ulla Burchardt, Peter
Dreßen, Klaus Hagemann, Erika Lotz, Lothar
Mark, Hilde Mattheis, Dagmar Schmidt (Me-
schede), Jörg Tauss, Gert Weisskirchen (Wies-
loch), Gernot Erler, Anton Schaaf, Christoph
Strässer, Horst Kubatschka, Lothar Binding
(Heidelberg), Reinhold Hemker, Willi Brase,
Helga Kühn-Mengel, Klaus Barthel (Starn-
berg), Florian Pronold, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, René Röspel, Ottmar Schreiner,
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Rüdiger Veit,
Dr. Christine Lucyga, Klaus Kirschner, Heidi
Wright, Angelika Graf (Rosenheim), Jella
Teuchner, Christine Lambrecht, Waltraud
Wolff (Wolmirstedt), Marco Bülow, Anette
Kramme, Heinz Paula und Frank Hofmann
(Volkach) (alle SPD) sowie Thilo Hoppe
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim-
mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Ver-
längerung der Ladenöffnung an Samstagen (Ta-
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Adam, Ulrich CDU/CSU 13.03.2003
Austermann, Dietrich CDU/CSU 13.03.2003
Dr. Göhner, Reinhard CDU/CSU 13.03.2003
Göppel, Josef CDU/CSU 13.03.2003
Götz, Peter CDU/CSU 13.03.2003
Lehn, Waltraud SPD 13.03.2003
Möllemann, Jürgen W. Fraktionslos 13.03.2003
Rühe, Volker CDU/CSU 13.03.2003
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 13.03.2003
Schneider, Carsten SPD 13.03.2003
Seib, Marion CDU/CSU 13.03.2003
Volquartz, Angelika CDU/CSU 13.03.2003
Wettig-Danielmeier, Inge SPD 13.03.2003
Wieczorek (Böhlen),
Jürgen
SPD 13.03.2003
Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 13.03.2003
2454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
(A) (C)
(B) (D)
ausgesprochen. Wir akzeptieren diese Mehrheitsent-
scheidung, obwohl nach unserer Auffassung gewichtige
Gründe gegen eine Änderung der jetzigen Regelung
sprechen: Eine Verlängerung der Ladenöffnungszeiten
schafft nicht mehr Kaufkraft, sondern forciert den Kon-
zentrationsprozess im Einzelhandel.
Lediglich Geschäfte in den Innenstädten und Ein-
kaufszentren auf der grünen Wiese nutzen die bestehen-
den Ladenöffnungszeiten voll aus und werden auch die
neuen Öffnungszeiten ausschöpfen. Die Folge ist, dass
die Konzentration im Einzelhandel zunimmt und die
wohnortnahe Versorgung, insbesondere in ländlichen
Gebieten, in Wohngebieten und außerhalb der 1a-Lagen
abnimmt.
Die Erweiterung der Ladenöffnungszeiten wird die-
sen Konzentrationsprozess zulasten kleiner Familien-
betriebe, kleiner Filialen und kleiner Einzelhändler
weiter forcieren. Für Menschen, die auf eine wohnort-
nahe Versorgung angewiesen sind, wird sich die Situa-
tion weiter verschlechtern. Der Konsum wird zu ande-
ren Zeiten und an anderen Orten stattfinden, sich aber
nicht vermehren.
Eine Verlängerung der Ladenöffnungszeiten schafft
nicht mehr Beschäftigung, sondern reduziert die Voll-
zeitarbeitsplätze und verschlechtert die Arbeitszeiten für
die Beschäftigten.
Die Erfahrungen mit der bisherigen Regelung zeigen,
dass die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze abnimmt, die Zahl
der Teilzeitarbeitsplätze und Mini-Jobs zunimmt, die Ar-
beitszeiten für die Beschäftigten ungünstiger werden,
insbesondere durch den Einsatz von kapazitätsorientier-
ter variabler Arbeitszeit, und damit für Eltern, insbeson-
dere für Mütter, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
zunehmend schwieriger wird.
Wir befürchten eine Verstärkung dieser Entwicklung
und im Ergebnis einen Verlust von existenzsichernden
Arbeitsplätzen im Einzelhandel, eine massive Auswei-
tung der Mini-Jobs und damit einhergehend weitere
Mindereinnahmen bei Steueraufkommen und bei den
Sozialversicherungssystemen. Darüber hinaus wird für
viele Beschäftigte im Einzelhandel die Wochenendarbeit
zunehmen. Davon sind insbesondere Frauen betroffen,
für die es noch schwieriger wird, Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf verwirklichen zu können oder am sozia-
len und kulturellen Leben teilhaben zu können. Darüber
hinaus entstehen gravierende Nachteile für Beschäftigte,
die auf den ÖPNV angewiesen sind.
Fazit: Eine weitere Lockerung der Ladenöffnungszei-
ten wird weder auf den Arbeitsmarkt noch auf das Um-
satzvolumen im Einzelhandel insgesamt positive Auswir-
kungen haben. Wir erwarten, dass auch die Unternehmen
aufgrund der ernsten Lage am Arbeitsmarkt ihre unterneh-
merische Verantwortung wahrnehmen und mit der Locke-
rung der Öffnungszeiten nicht einen weiteren Abbau von
festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein-
leiten.
Wir erwarten von der Bundesregierung eine genaue
Beobachtung der Entwicklung der Arbeitsmarktsitua-
tion und der klein- und mittelständischen Struktur im
Einzelhandel, um auf Fehlentwicklungen reagieren zu
können.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ernst Hinsken, Renate Blank
und Stephan Mayer (Altötting) (alle CDU/CSU)
zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
zes zur Verlängerung der Ladenöffnung an
Samstagen
(Tagesordnungspunkt 15 a)
Ich werde dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 15/396 mit dem Titel „Entwurf eines
Gesetzes zur Verlängerung der Ladenöffnungszeiten an
Samstagen“, dem Gesetzentwurf der FDP-Fraktion auf
Drucksache 15/106 mit dem Titel „Entwurf eines Geset-
zes zur Aufhebung des Ladenschlussgesetzes“, sowie
dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf
Drucksache 15/193 mit dem Titel „Ladenschlussgesetz
modernisieren“, nicht zustimmen.
Begründung: Die im Jahre 1996 vorgenommene No-
vellierung des Ladenschlussgesetzes hat nicht das Er-
gebnis gebracht, das man erwartete. So wurden nicht die
50 000 zusätzlichen Arbeitsplätze, wie vom damaligen
Bundeswirtschaftsminister Rexrodt angekündigt, ge-
schaffen. Im Gegenteil gab es eine Reduzierung um
133 000 Arbeitsplätze. Bei den Vollzeitarbeitsplätzen ist
sogar ein Minus von 175 000 zu verzeichnen. Es soll je-
doch nicht verschwiegen werden, dass im Teilzeitbereich
eine Steigerung, allerdings nur um 4,4 Prozent, zu ver-
zeichnen war.
Zudem ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich
zwischenzeitlich die Einzelhandelsstruktur in der Bun-
desrepublik Deutschland für kleinere und mittlere Be-
triebe weiter verschlechtert hat. Circa 7 000 Betriebe
werden jetzt weniger gezählt als vor sieben Jahren.
Eine weitere Ausweitung der Ladenöffnungszeiten
bringt mit sich, dass vor allem die Supermärkte auf der
grünen Wiese und die Geschäfte in Toplagen positiv be-
troffen sind. Alle übrigen Geschäfte profitieren nicht da-
von und werden mit zusätzlichen Kosten belastet, die sie
gerade in dieser schwierigen Wirtschaftslage nicht so
ohne weiteres verkraften können. Sie sind deshalb der
Gefahr besonders ausgesetzt, nicht mehr mithalten zu
können und somit schließen zu müssen.
Insbesondere negativ betroffen sind Geschäftsinhaber
in der Fläche, denn durch eine weitere Veränderung der
Öffnungszeiten gibt es noch mehr Kaufkraftverlagerung
in größere Einkaufszentren. Eine Eröffnungszeit von
durchschnittlich 74 Stunden pro Woche ist meiner Mei-
nung nach ausreichend.
Ich kann es nicht verantworten, dass unter anderem
durch eine zusätzliche Verlängerung der Ladenöffnungs-
zeiten ein weiterer Rückgang von kleinen und mittleren
Geschäften die Folge sein wird. Aus diesen Gründen
werde ich keiner der drei Vorlagen zustimmen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2455
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Fritz Schösser und Horst
Schmidbauer (Nürnberg) (beide SPD) zur Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur
Verlängerung der Ladenöffnung an Samstagen
(Tagesordnungspunkt 15 a)
Seit vielen Jahren setzten wir uns dafür ein, dass
Menschen sich wohnortnah versorgen können, die In-
nenstädte attraktiv bleiben, Familienbetriebe und Einzel-
händler eine Zukunftschance haben, sozialversiche-
rungspflichtige Vollzeit- und Teilzeitarbeitsplätze
erhalten bleiben und nicht einem ständigen Verdrän-
gungswettbewerb durch geringfügige Beschäftigungs-
verhältnisse zum Opfer fallen, negative Auswirkungen
auf die Beschäftigten im Einzelhandel durch eine kapa-
zitätsorientierte, variable Arbeitszeit vermieden werden
und Eltern Familie und Beruf besser miteinander verein-
baren können.
Die neuerliche Reform des Ladenschlusses, die eine
weitere Verlängerung der Ladenöffnungszeiten vorsieht,
geht in die falsche Richtung. Deshalb lehnen wir eine
weitere Lockerung der Ladenöffnungszeiten ab.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Flächendeckende Versorgung mit Post-
dienstleistungen sicherstellen
– Wettbewerbedingungen bei Vertrieb von
Postdienstleistungen schaffen
(Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord-
nungspunkt 4)
Ulrich Kelber (SPD): Lassen Sie uns zunächst die
Gemeinsamkeiten in dieser Frage betonen: Dieses Parla-
ment will quer durch alle Fraktionen eine günstige Post,
eine kundenfreundliche Post, eine Post mit einem guten
Service und vor allem auch eine ortsnahe Postversor-
gung. Dies alles war in den letzten Jahren weitgehend
der Fall. Dazu haben die Postagenturen viel beigetragen.
Deswegen sieht dieses Parlament, sieht die SPD-Bun-
destagsfraktion die Debatte über die neuen Verträge für
die Postagenturen mit Sorge. Damit das niemand falsch
versteht: Wir sind überzeugt, dass die Liberalisierung
der Post gute Preise und guten Service bei gleichzeitiger
ortsnaher Versorgung erst möglich gemacht hat. Deswe-
gen halten wir an der Liberalisierung fest und werden
diesen Weg weiter gehen. Es gibt dazu keine seriöse Al-
ternative.
Die Liberalisierung hat bereits erste Preissenkungen
ermöglicht: Im Jahr 2003 wurde in Deutschland erstmals
in der Geschichte das Briefporto gesenkt, nachdem die
alte Kohl-Regierung 1997 das Porto noch einmal erhöht
hatte. Inflationsbereinigt ist das Briefporto seit den 90er-
Jahren sogar sehr stark gesunken. Es waren übrigens
auch die geringeren Kosten der Postagenturen gegenüber
den Postfilialen, die dies möglich gemacht haben.
Die Liberalisierung hat zu mehr Service geführt:
Durch die Einführung der Postagenturen haben sich in
vielen Fällen die Öffnungszeiten erweitert. In vielen
Dörfern und kleinen Ortsteilen haben die Postagenturen
die örtliche Nahversorgung stabilisiert, weil der Tante-
Emma-Laden zusätzliche Kunden und Einnahmen ge-
wonnen hat.
Die Liberalisierung hat zu mehr Kundenfreundlich-
keit geführt: Früher hat die Post vermittelt, es sei eine
Gnade, eine Briefmarke kaufen zu dürfen. Jeder hier
wird sich an solche Szenen auf den Postämtern noch er-
innern. Heute wird man als Kunde ernst genommen, ge-
rade auch in den Postagenturen.
Das notwendige Gegenstück zur Liberalisierung ist
die PUDLV: vorgeschriebene Qualität zu einem ange-
messenen und günstigen Preis. Denn der Markt allein
kann zum Beispiel nicht dafür sorgen, dass eine ortsnahe
Versorgung besteht. Der Markt allein kann auch nicht
dafür sorgen, dass Postleistungen auf dem Land genauso
preisgünstig angeboten werden wie in der Stadt. Deswe-
gen ist die PUDLV notwendig.
Die PUDLV, 1999 beschlossen, schreibt der Post AG
12 000 Postfilialen und Postagenturen vor, übrigens
2 000 mehr, als noch die alte Kohl-Regierung wollte.
Deswegen wurde die PUDLV 1999 von CDU/CSU und
FDP auch abgelehnt. Ich betone das noch einmal: CDU/
CSU und FDP haben 1999 abgelehnt, der Post eine hohe
Anzahl von Postfilialen und Postagenturen vorzuschrei-
ben. Viele der Postagenturen, über die wir heute spre-
chen, gäbe es überhaupt nicht, wenn CDU/CSU und
FDP die Mehrheit im Bundestag hätten.
Übrigens haben auch die Bundestagsabgeordneten
von CDU/CSU und FDP, die sich jetzt dreist zu ver-
meintlichen Fürsprechern für die Postagenturen auf-
schwingen wollen, damals gegen eine vorgeschriebene
Anzahl von Postfilialen und Postagenturen gestimmt.
Rainer Funke, FDP, hat am 4. November 1999 ausge-
führt: „In diesem Sinne regelt die PUDLV einfach zu
viel ... Ob es zweckmäßig ist, der Post AG im Einzelnen
vorzuschreiben, wie viele stationäre Einrichtungen – und
zwar Poststellen und Tante-Emma-Läden – vorhanden
sein müssen, kann tunlichst bezweifelt werden.“ Das
Protokoll vermeldet nach diesem Absatz Beifall der FDP
und der CDU/CSU.
Wäre es nach der Opposition gegangen, dann hätten
wir heute überhaupt kein Druckmittel mehr auf die Post AG
in der Hand. Wir hätten keine stringente PUDLV. Nur
über die PUDLV können wir Einfluss in der Frage der
Postagenturen nehmen. Gut, dass wir diese Verordnung
haben. Gut, dass wir von dieser Verordnung jetzt auch
Gebrauch machen können.
Übrigens haben CDU/CSU und FDP in letzter Zeit
grundsätzlich einen Eingriff der Bundesregierung in den
geschäftlichen Betrieb von Telekom und Post abgelehnt.
Das sei schuld am Sturz der Aktienkurse der beiden
2456 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
(A) (C)
(B) (D)
Unternehmen, hat – wie so häufig glatt wahrheitswidrig –
Herr Merz von der CDU behauptet. Er wollte sich bei
den Kleinaktionären lieb Kind machen. Die Wahrhaftig-
keit ist dabei auf der Strecke geblieben.
Heute legt diese CDU/CSU einen Antrag vor, wo die
Bundesregierung zum genauen Gegenteil vom dem auf-
gefordert wird, was Merz, Merkel und Stoiber noch vor
wenigen Wochen wollten, nämlich den direkten Eingriff
der Bundesregierung in den geschäftlichen Betrieb der
Post AG. Diese Form von Populismus finde ich peinlich.
Er hilft den Betreibern der Postagenturen auch überhaupt
nicht. Die Betreiber der Postagenturen werden von
CDU/CSU missbraucht für Angriffe auf die Bundesre-
gierung.
Dabei sind es die Postagenturen, um die es hier geht –
und nicht die Interessen von CDU/CSU. Die Postagentu-
ren benötigen unsere Hilfe. Und die werden Sie auch be-
kommen. Diese Hilfe ist schon unterwegs, nämlich in
Form von zwei Drehschrauben für die Politik: Erstens
prüft das Kartellamt bereits, ob die neuen Verträge ein
Missbrauch von Marktmacht darstellen. Dies ist – das
sollten wir dann auch dazusagen – keine Vorverurteilung
der Deutschen Post AG. Wir fordern die Post AG auf,
diese Prüfung abzuwarten.
Zweitens haben wir der Deutschen Post AG klar ge-
macht, dass wir ohne jeden Abstrich an der Forderung
der PUDLV nach 12 000 Postfilialen und Postagenturen
festhalten. Würden wirklich reihenweise Postagenturen
gekündigt und damit die PUDLV verletzt, dann würden
automatisch Strafen fällig. Wir werden da keine Aus-
nahme für die Post AG machen. Wir prüfen auch, ob das
Strafmaß weiter erhöht werden muss.
Wir fordern CDU/CSU und FDP auf, den offensichtli-
chen Populismus sofort einzustellen. Helfen Sie den
Postkunden und den Betreibern der Postagenturen. Stop-
pen Sie ihre plumpen parteipolitischen Spielchen und
ziehen Sie mit uns an einem Strang! Ihr Antrag ist über-
flüssig. Ihr Antrag ist eine Mischung aus Selbstverständ-
lichkeiten und Unsinn. Die wirklich notwendigen
Schritte nennt er nicht.
An die Adresse der Deutschen Post AG: Ihr müsst die
PUDLV jederzeit und im vollen Umfang erfüllen. Ohne
leistungsfähige Postagenturen, deren Betrieb sich auch
finanziell lohnen muss, wird das nicht möglich sein. Die
Post AG sollte ihren Vorteil der ortsnahen Kundenver-
sorgung, die sie gegenüber der Konkurrenz hat, nicht
mutwillig aufs Spiel setzen.
Hubertus Heil (SPD): Im ländlichen Raum, den
Kleinstädten und auch in den Stadtteilen von Großstäd-
ten müssen die Bürgerinnen und Bürger auch zukünftig
ein erreichbares Angebot von Postdienstleistungen in
Anspruch nehmen können. Das war immer unsere Posi-
tion, das ist unsere Position und das wird auch immer die
Position der SPD-Bundestagsfraktion sein.
Postdienstleistungen werden in erheblichem Umfang
durch Postagenturen erbracht. Sie sichern die Grundver-
sorgung dort, wo die Post diese oft nicht mehr über ei-
gene Filialen aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen
sicherstellt. Die Postagenturen helfen damit, die nach der
Post-Universaldienstleistungsverordnung bestehende
Verpflichtung der Deutschen Post AG einzulösen, die
Grundversorgung der Bevölkerung mit Postdienstleis-
tungen sicherzustellen. Es existieren derzeit etwa 7 800
Agenturen, in denen circa 21 000 Arbeitsplätze entstan-
den sind.
Zurzeit bemüht sich die Post AG um eine Neuord-
nung ihrer Vertragsbeziehung zu den Agenturnehmern.
Viele Agenturen und ihre Interessensvertretungen emp-
finden die von der Post AG vorgeschlagenen Standard-
verträge als „Knebelverträge“. Einige Postagenturen be-
klagen sogar, dass sie durch die aus diesen neuen
Verträgen resultierenden Umsatzeinbußen in ihrer wirt-
schaftlichen Existenz gefährdet seien.
Die SPD-Bundestagsfraktion beobachtet diese Ent-
wicklung mit großer Sorge und wird darauf dringen, dass
die Post AG die Bestimmungen der Verordnung in vol-
lem Umfang bis Ende April einhalten wird. Dieses ha-
ben uns die Vertreter der Deutschen Post AG gestern in
einem Gespräch und heute nochmals schriftlich zuge-
sagt. Unsere Gespräche mit der Post AG hatten auch
zum Erfolg, dass das Unternehmen zumindest in einigen
Bereichen den Agenturen entgegenkommt.
So wird in der Übergangsphase der Vertragsumstel-
lung den Agenturen im Rahmen eines Verkaufsförde-
rungspakets eine Provision für den Verkauf von wert-
schöpfenden Produkten angeboten, die über 200 Prozent
höher als üblich liegen. Auch wird der Abschluss eines
Postbank-Girokontos oder eines Telekom-ISDN-An-
schlusses mit 50 Euro statt mit 15 Euro vergütet. Flan-
kierend wird diese Maßnahme durch umfangreiche Wer-
bekampagnen begleitet.
Wir Sozialdemokraten konnten erreichen, dass diese
ursprünglich bis September 2003 befristete Aktion für
alle Partner der Post AG, die neue Verträge abschließen,
auf zwölf Monate ab Vertragsumstellung verlängert
wird. Des Weiteren wurden uns zusätzliche Verkaufsför-
derungsmaßnahmen zugesichert. Und schließlich sagte
uns die Post AG zu, eine regelmäßige Überprüfung der
Vergütung im Lichte der Geschäftsentwicklung vorzu-
nehmen, um diese gegebenfalls anzupassen.
Wir erwarten allerdings über diese Zusagen hinaus
von der Post AG, die Neuordnung des Vertragsverhält-
nisses mit den Agenturen so lange auszusetzen, bis die
Prüfung des Bundeskartellamtes abgeschlossen ist.
An den uns vorliegenden Anträgen von CDU/CSU
und FDP irritiert uns, dass diese Parteien der von uns
verschärften PUDLV damals nicht zugestimmt haben,
sich aber heute als Gralshüter dieser Verordnung auf-
spielen. Noch mehr irritiert uns, dass der CSU-Kollege
Singhammer sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, ei-
nen eigenen Antrag zu formulieren. Im Antrag der CDU/
CSU-Fraktion wird wortwörtlich ein Antrag aus einer
Sitzung des Beirates der Regulierungsbehörde für Post
und Telekommunikation wiedergegeben, ohne auf die
Urheberschaft hinzuweisen. Dem ist zu entnehmen, dass
der neue stellvertretende Vorsitzende des Beirates die-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2457
(A) (C)
(B) (D)
sem Gremium keine allzu große Durchsetzungsfähigkeit
einräumt.
Am meisten irritiert uns aber, dass der von CDU/CSU
sonst so viel beschworene ordnungspolitische Kompass
in dieser Frage vollständig abhanden gekommen zu sein
scheint. Im Gegensatz, zu den Bestimmungen des Akti-
engesetzes soll nach Vorstellung der Union der Bund als
Mehrheitsaktionär einen direkten Einfluss auf betriebs-
wirtschaftliche Entscheidungen nehmen.
Ist es nicht immer wieder die Union, die in Bezug auf
die Deutsche Telekom AG zu Recht das Gegenteil er-
wartet?
Populistisch durch jeden Wahlkreis zu ziehen und von
der Bundesregierung Handeln einzufordern, das weder
eine Rechtsgrundlage hat noch der ordnungpolitischen
Vernunft entspricht, mag kurzfristig Effekte erzielen, ist
aber alles andere als hilfreich, um nicht zu sagen däm-
lich. Herr Singhammer macht den Eindruck eines klei-
nen Jungen, der am Rande eines Ozeans steht und den
Versuch unternimmt, durch das Werfen von Kieselstein-
chen den Kurs eines Tankers zu beeinflussen.
Lassen Sie uns lieber die rechtlichen Instrumente nut-
zen, um einen fairen Interessenausgleich zwischen den
berechtigten betriebswirtschaftlichen Interessen der
Post-AG und den Agenturen herbeizuführen.
Erst wenn sich dann zeigen sollte, dass die vorhande-
nen rechtlichen Instrumente zur Durchsetzung der flä-
chendeckenden Umsetzung der Universaldienstverord-
nung nicht ausreichen, werden wir neue schaffen. Dazu
gehören dann auch gegebenenfalls neue Instrumente der
Regulierungsbehörde.
Jetzt aber gilt es, die vorhandenen Mittel auszuschöp-
fen.
Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nicht jeder Mensch chattet im Internet. Ja, es soll sogar
Menschen geben, die überhaupt keinen Computer besit-
zen und keinen Zugang zum Internet haben. Die Post ist
für die Kommunikation immer noch unentbehrlich,
wenn die Oma ihrem Enkel ein Päckchen zum Geburts-
tag schicken will oder die Schülerin ihrem Brieffreund
schreibt oder auch nur – ganz wunderbar altmodisch –
ein Liebesbrief geschrieben und abgeschickt werden
soll. Die Sicherstellung der flächendeckenden Grundver-
sorgung mit Postdienstleistungen gehört zur Daseinsvor-
sorge. Gerade die Menschen, die verstärkt auf die Post
angewiesen sind, sind zum Teil auch körperlich nicht so
mobil, weil sie zum Beispiel noch nicht oder nicht mehr
Auto fahren. Deshalb muss die nächste Postdienststelle
auch in der Fläche für die Menschen erreichbar sein.
Den Umfang dieses Universaldienstes hat die rot-
grüne Bundesregierung in der Post-Universaldienstleis-
tungsverordnung (PUDLV) festgelegt und damit 1998
den massiven Abbau von Postdiensten gestoppt. Die
PUDLV ist das zentrale Instrument zur Sicherung eines
Mindestangebots durch die Deutsche Post und deren
Wettbewerber. In allen Gemeinden mit mehr als 2000 Ein-
wohnern muss eine stationäre Einrichtung vorgehalten
werden. In zusammenhängenden bebauten Gebieten
muss die Einrichtung in maximal 2000 Metern für die
Kunden erreichbar sein.
Die Vorgabe der PUDLV in der seit dem Zweiten Ge-
setz zur Änderung des Postgesetzes vom 30. Januar 2002
gültigen Fassung wird von der Deutschen Post hinsicht-
lich der Anzahl der stationären Einrichtungen erfüllt. Je-
doch ist mit Stand November 2002 die neue Vorgabe von
zusätzlichen stationären Einrichtungen in Gemeinden
mit mehr als 2000 Einwohnern nur etwa zu 75 Prozent
erfüllt und die Verpflichtung zur Schaffung von stationä-
ren Einrichtungen aufgrund des Flächenkriteriums von
80 Quadratkilometern ist bislang nur etwa zu 70 Prozent
erfüllt. Und es gibt Hinweise, dass Postfilialen, die auf-
grund eines Betreiberwechsels oder Personalmangels ge-
schlossen wurden, nicht zeitgerecht wieder geöffnet wer-
den. Aktuell beschäftigt uns die Debatte, dass die Post
den Postagenturen deutlich schlechtere Verträge anbie-
tet. Es existieren 7 800 Agenturen, in denen circa 21 000
Arbeitsplätze entstanden sind. Die neuen Verträge sollen
den wirtschaftlichen Betrieb der Agenturen gefährden.
Und die Post soll ihre Monopolstellung nutzen, um im
Vertriebsbereich zulasten der Agenturen Kosten zu spa-
ren.
Ich sage hier sehr deutlich im Namen der grünen
Fraktion: Wie die Post ihre Verpflichtungen erfüllt, ist
ihre Sache. Wir werden es dem Unternehmen nicht vor-
schreiben. Aber dass sie für die Verbraucher die zwin-
gend erforderliche Versorgung bereitstellen muss, ist auch
klar. Die Post muss die Vorgaben der PUDLV einhalten.
Wir werden aus gegebenem Anlass zudem prüfen, ob die
bestehenden rechtlichen Instrumente ausreichen, einer
möglichen Gefährdung der flächendeckenden Versor-
gung mit Postdienstleistungen entgegenwirken zu kön-
nen. Die Post möchte ich auffordern, die Neuordnung
der Vertragsverhältnisse mit den Agenturen so lange aus-
zusetzen, bis die Prüfung des Bundeskartellamtes abge-
schlossen ist.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung der Anträge:
– GATS-Verhandlungen – Bildung als öffentli-
ches Gut und kulturelle Vielfalt sichern
– GATS-Verhandlungen – Transparenz und
Flexibilität sichern
(Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7)
Ulla Burchardt (SPD): Internationale Handelsver-
einbarungen wie die um GATS haben Auswirkungen auf
nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche und betreffen
letztendlich jeden Einzelnen. Von daher ist es nicht ver-
wunderlich, dass es eine intensive kritische öffentliche
Debatte gibt, in die sich die unterschiedlichsten Gruppen
und Institutionen einbringen.
Man muss ja nicht alle Beiträge und Forderungen gut
und richtig finden, aber für meine Fraktion kann ich
2458 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
(A) (C)
(B) (D)
sagen: Wir begrüßen diese öffentliche Debatte und hal-
ten sie für notwendig. Vor allen Dingen aber halten wir
es für geboten, ja geradezu für unseren Auftrag als Ab-
geordnete, dass sich der Deutsche Bundestag mehr als in
der Vergangenheit in diese Verhandlungsprozesse ein-
bringt und positioniert, also der Bundesregierung einen
klaren Verhandlungsauftrag mit auf den Weg gibt.
Mit der Beschlussfassung über unseren Antrag heute
sind wir sozusagen „just in time“: das Angebot der EU-
Kommission liegt vor, die Bundesregierung wird wie die
anderen Mitgliedstaaten ihre Stellungnahme erarbeiten,
so dass das endgültige Angebot am 30. März steht.
Mit diesem Antrag liegen wir aber nicht nur im Zeit-
plan richtig, sondern auch mit unseren Positionen. Uns
ging und geht es darum, Bildung als öffentliches Gut und
kulturelle Vielfalt zu sichern. Wir sehen keine Notwen-
digkeit für weitergehende Liberalisierungen, halten die
bisherigen für ausreichend, zumals sie weitergehender
sind als die anderer Staaten. Wir wollen mehr Qualitäts-
wettbewerb und mehr Internationalisierung, nur ist
GATS nicht der zielführende Weg. Die einzelnen Forde-
rungen und Begründungen sind in der ersten Lesung und
in der Ausschussberatung hinlänglich dargestellt wor-
den. Ich kann feststellen, dass der Kommissionsentwurf
inhaltlich in Bezug auf Bildung und Kultur unseren Vor-
stellungen entspricht, also kein Angebot enthält. Auszu-
machen bleibt die überfällige Klarstellung des Begriffs
der „governmental services“.
Ein weiteres Kernanliegen betrifft das grundsätzliche
Verhandlungsverfahren. Wir wollen öffentliche Transpa-
renz und die frühzeitige Beteiligung des Bundestages.
Und hierzu kann ich feststellen, dass durch die Initiati-
ven der Koalitionsfraktionen eine neue Sensibilität und
Dynamik für die Parlamentarisierung internationaler
Entscheidungsprozesse angestoßen worden ist. Das ist
gut so, denn Regelungen mit derart weitreichenden Wir-
kungen wie GATS können und dürfen nicht ausschließ-
lich Bürokratien überlassen werden. Das wäre geradezu
antidemokratisch und es gibt überhaupt keinen Grund,
bei internationalen Regelsetzungen prinzipiell anders zu
verfahren als bei innerstaatlichen.
Darüber hinaus hat EU-Kommissar Lamy dankens-
werterweise bei seinem Gespräch mit dem EU-Aus-
schuss betont, wie wichtig öffentliche Transparenz und
Beteiligungen im Hinblick auf den Verhandlungsprozess
seien, um dem Entstehen irrationaler Ängste und Kriti-
ken keinen Vorschub zu leisten.
Nun noch einige Anmerkungen zur Debatten- und
Antragslage. Beim Antrag der FDP-Fraktion handelt es
sich um eine Mogelpackung. Mit der Überschrift haben
sie wortgleich unsere Position übernommen, ihre Fest-
stellungen und Forderungen laufen jedoch genau auf das
Gegenteil hinaus. Sie bedeuten nicht Sicherung sondern
Gefährdung von Bildung als öffentlichem Gut und kultu-
reller Vielfalt. Man findet die altbekannte Variation neo-
liberaler Ideologie, in der der Markt zum Mythos wird
und Liberalisierung als Zaubermittel für mehr Qualität
gilt. Das ist eine Position, die mehr mit Glauben und we-
nig mit adäquater Problemlösung zu tun hat.
Von der Unionsfraktion liegt – obwohl anders ange-
kündigt – bis heute kein Antrag vor. Das ist insofern be-
merkenswert, als mindestens die CDU-regierten Länder
über die BLK eine Position mitformuliert haben, die mit
unserer deckungsgleich ist und auch in den bisherigen
Bundestagsberatungen an wesentlichen Stellen Überein-
stimmung festzustellen war. Auseinandersetzung mit un-
serem Antrag erschöpft sich im Wesentlichen in der Kri-
tik, wir redeten „ja nur Gruppen wie attac nach dem
Munde“ und hätten „zu einer Überschätzung des Themas
in der Öffentlichkeit beigetragen“, deshalb lehnten sie
ihn ab. Dieser Schuss geht nach hinten los: die öffentli-
che Diskussion gab es bereits Monate bevor der Bundes-
tag sich des Themas angenommen hat. Insofern ist Ihre
Kritik ein Zeichen dafür, dass Sie dieses Interesse bis
heute entweder nicht realisieren oder hartnäckig ignorie-
ren.
Dem gegenüber haben wir uns ernsthaft mit den vor-
liegenden Stellungnahmen fachlich relevanter Institutio-
nen und Organisationen befasst, wie denen der Bund-
Länder-Kommission und der Hochschulrektorenkonfe-
renz, dem Wissenschaftsrat und der Gewerkschaft Erzie-
hung und Wissenschaft. Wir haben große Übereinstim-
mung erzielt und in Gesprächen großes Lob und
Zustimmung gefunden.
In der abschließenden Bewertung komme ich zu dem
Ergebnis: Die FDP ist mit ihrer Postition völlig isoliert,
während die CDU/CSU sich offenkundig aus rein takti-
schen Gründen bis heute nicht zu einem Antrag hat
durchringen können. Sie haben jetzt die Chance, sich
von Ihrer entschiedenen Sowohl-als-auch-Position weg-
zubewegen. Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Die Europäi-
sche Kommission bereitet derzeit ihr Verhandlungsange-
bot im Rahmen der Welthandelsrunde WTO für das All-
gemeine Übereinkommen über den Handel mit
Dienstleistungen, GATS, vor. Die Mitgliedstaaten sind
aufgefordert, bis zum 18. März 2003 ihre Stellungnahme
abzugeben, damit die EU-Kommission ihre in der Welt-
handelskonferenz von Doha gegebene Zusage, bis zum
31. März 2003 ein Angebot an die WTO zu machen,
auch einhalten kann.
Das vorläufige Eingangsangebot, Initial Draft Offer,
der Kommission wurde am Freitag, dem 7. Februar 2003
unter strikter Vertraulichkeitsauflage den nationalen Par-
lamenten zugänglich gemacht. Das bedeutet, dass die
Parlamente weder ausreichend Zeit noch die Möglich-
keit zur Beratung in den Ausschüssen, zur Diskussion
mit den Betroffenen sowie einer breiteren Öffentlichkeit
haben. Gerade diese fehlende Transparenz ist angesichts
der Bedeutung der GATS-Verhandlungen gesellschaft-
lich und politisch nicht hinnehmbar.
Der Handel mit Dienstleistungen umfasst bisher etwa
ein Fünftel des Welthandels und soll – wenn es nach dem
Willen der WTO und vieler Interessierter geht – im kom-
menden Jahrzehnt auf 50 Prozent des Welthandelsvolu-
mens wachsen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2459
(A) (C)
(B) (D)
Da das Erbringen von Dienstleistungen in den OECD-
Ländern circa 60 bis 70 Prozent zum jeweiligen BSP
beiträgt, ist klar, dass der hier begonnene Weg einer
deutlichen Ausweitung der Liberalisierung des Dienst-
leistungshandels von einschneidender Bedeutung sein
wird.
Dienstleistungen begleiten uns von der Geburt bis
zum Lebensende. Sie sind nicht nur in der staatlichen
Organisation und öffentlichen Daseinsvorsorge wichtig,
sondern auch einer der wichtigsten Wachstumsbereiche
auf den privaten Märkten.
Für wen, in welchem Umfang, in welcher Qualität
und zu welchem Preis die öffentliche Daseinsvorsorge
zur Verfügung steht, bestimmt in hohem Maße Wohl-
stand und Lebensqualität, Leben und Gesundheit. Sie
prägt auch Chancengleichheit, sozialen Zusammenhalt
und zu einem nicht geringen Teil das, was wir als natio-
nale Identität, kulturelles Erbe, aber auch Heimat defi-
nieren.
Beim GATS geht es dabei nicht nur allein um private
wirtschaftsnahe Dienstleistungen wie Datenverarbei-
tung und Kommunikation, einschließlich Post und Tele-
kombereich, Werbung, Bau, Montage und vieles mehr
und freie Berufe. Es geht auch um Bildung, medizini-
sche und soziale Dienstleistungen vom Krankenhaus bis
zur Altenpflege, Umweltdienste von Wasser und Abwas-
ser bis hin zur Müllabfuhr, Erholung, Kultur und Sport.
Nur die „in Ausübung hoheitlicher Gewalt“ erbrachten
Dienstleistungen sind ausgenommen – aber was die sind,
darüber gibt es keinen weltweiten Konsens – bis auf ei-
nen sehr engen Bereich wie Regierung, Parlament,
Rechtssprechung, Militär und innere Sicherheit. Und
selbst bei den letzten Bereichen gibt es sichtbare Auf-
weichungstendenzen in einer Reihe von Staaten.
Bei den Verhandlungen geht es also auch entschei-
dend darum, was an Leistungen künftig öffentlich er-
bracht wird bzw. erbracht werden darf und welche Krite-
rien außer der reinen Gewinnerzielung Geltung haben
sollen. Gerade in der Daseinsvorsorge, bei den Leistun-
gen, die in unseren Städten und Gemeinden erbracht
werden, sind die Fragen existentiell, wie viel Gestal-
tungsspielraum die öffentliche Hand noch haben wird,
wie viel Zuschüsse noch erlaubt bzw. ob jeder private
Anbieter ebenso Anspruch auf öffentliche Subventionen
hat wie gemeinnützige Organisationen.
Aber es geht beim GATS mit der Gestaltung einer
neuen internationalen Marktordnung für Dienstleistun-
gen nicht nur um eine neue Ordnung des globalen Ar-
beitsmarktes. Es wird auch eine neue globale und soziale
Ordnung vorgezeichnet, die tief in die bisher vorhande-
nen politischen, sozialen und kulturellen Wertvorstellun-
gen und Ordnungssysteme der meisten Nationalstaaten
eingreift und ihre Handlungsspielräume für politische
Gestaltung in der Vergangenheit eingeschränkt hat und
in der Zukunft erheblich einschränken kann.
Die Sorge um diese weltweiten Entwicklungstenden-
zen, das schrittweise Zurückdrängen des öffentlichen
Raums und der demokratischen Entscheidung hat uns
Sozialdemokraten zu diesem Entschließungsantrag be-
wogen und wir wissen, dass viele Abgeordnete aus ande-
ren Fraktionen dieses Hauses unsere Sorgen teilen.
Wir wollen deutlich machen: Entscheidungen von
solcher Tragweite können und dürfen nicht hinter ver-
schlossenen Türen der Bürokratien von nationalen Re-
gierungen und der Europäischen Kommission fallen.
Volle Transparenz, eine umfassende Information und
Diskussion der Betroffenen und der breiteren Öffentlich-
keit sind unabweisbar und auch die Anhörung der Be-
troffenen.
Alles andere widerspricht den demokratischen Tradi-
tionen der europäischen Völker. Ich sage es offen: Der
Mangel an Demokratie in der Spitze der Europäischen
Union und die Arroganz der Brüsseler Bürokratie und
ihre Missachtung demokratischer Informations- und Ent-
scheidungsprozesse kann und wird so nicht mehr hinge-
nommen werden. Die Entscheidung des niederländi-
schen Parlaments, heute die des Deutschen Bundestages
und morgen des finnischen Parlaments, die harsche Kri-
tik im französischen Parlament, im britischen Unterhaus
und im Europäischen Parlament machen deutlich, dass
die bisherigen Verfahrensweisen nicht mehr akzeptiert
werden.
Aber es ist nicht nur das Verfahren, das kritisierens-
würdig ist, es gibt auch eine Fülle von schwerwiegenden
Bedenken von Betroffenen, die berücksichtigt oder aber
geklärt werden müssen, bevor die Bundesregierung auf
den von uns in der Entschließung genannten Bereichen
ihre Zustimmung im 133-er Ausschuss erklären kann.
Diese Bedenken wollen wir in einer Anhörung am
7. April zur Kenntnis nehmen, bewerten und dann ent-
scheiden.
Ich wiederhole: Für die Parlamentsmehrheit ist un-
denkbar, dass die Bundesregierung sich vorher festlegt.
Da uns vonseiten der Regierung auch immer versichert
wurde, dass im Verhandlungsverfahren, das Angebot
ständig weiter verändert werden darf, kann es wohl kein
Problem sein, unter anderem in den Bereichen keine An-
gebote zu machen, beispielsweise bei den grenzüber-
schreitenden, zeitlich befristeten Dienstleistungen durch
Personen, in denen das Parlament Bedenken hat bzw.
Klärungsbedarf sieht.
Was ist dabei für uns grundsätzlich wichtig?
Erstens. Wir sehen bei der gegenwärtigen und abseh-
baren Arbeitsmarktlage in Deutschland und Europa
grundsätzlich keinen Bedarf für eine Öffnung der
Dienstleistungsmärkte für Personen. Dies gilt nicht nur
für die Arbeitnehmer, sondern auch für Selbständige, In-
dependent Professionals. Ausnahmen im Bereich von
Managern, Geschäftsreisenden, Wissenschaftlern und
Forschern sowie bei der Weiterbildung im Akademiker-
bereich sind nicht unser Problem.
Zweitens. Wir wollen im Rahmen von allen Handels-
abkommen soziale, ökologische und Verbraucherstan-
dards systematisch einbezogen sehen. Im GATS ist uns
das besonders wichtig. Es kann und darf auf keinen Fall
– über welche Hintertüre auch immer – ein Zwei- oder
Dreiklassensystem von Beschäftigten geben. Das ent-
steht aber fast zwangsläufig, wenn nicht von Anfang an
2460 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
(A) (C)
(B) (D)
klargestellt wird, dass auf unserem Boden das Arbeits-
verhältnis mindestens nach deutschem Recht geregelt ist.
Wenn im Entsendeland Löhne und Rechte besser sind,
will das niemand von uns verwehren. Aber wir wollen
keine Heloten zum Beispiel aus Entwicklungsländern in
der Europäischen Union und in Deutschland, die unter
unsäglichen Arbeitsbedingungen und Minimallöhnen bei
uns arbeiten wie in den Golfstaaten. Das, was sich schon
heute in Deutschland auf vielen Baustellen abspielt, ist
schlimm genug; eine Erweiterung darf es nicht geben.
Und die Gefahr ist nicht gering. Denn in Deutschland
gibt es keine verbindlichen Mindestlöhne wie in anderen
europäischen Ländern und – außer im Baubereich –
keine Entsenderichtlinie, die diese Bereiche verbindlich
regelt.
Drittens. Wir wollen den Bereich der öffentlichen Da-
seinsvorsorge im weiteren Sinne nicht in die Liberalisie-
rung des Dienstleistungshandels einbeziehen. Deswegen
begrüßen wir ausdrücklich, dass die Europäische Kom-
mission in den Bereichen Bildung, audiovisuelle Dienst-
leistungen, Gesundheit sowie Wasser, um nur einige Be-
reiche zu nennen, keine Angebote gemacht hat. Dabei
soll es im Laufe des GATS-Verhandlungsprozesses auch
verbindlich bleiben. Aber ich möchte ausdrücklich beto-
nen, dass wir uns auf Definition der Public Services und
der öffentlichen Daseinsvorsorge einigen, um bei Strei-
tigkeiten im Rahmen der WTO klarzustellen, dass diese
Bereiche allein der politischen Entscheidung der souve-
ränen Staaten vorbehalten sind und bleiben. Das schließt
auch Umweltdienstleistungen und den Verkehrsbereich
mit ein. Für die Entscheidung über Qualität und ihre Si-
cherung und die Frage der Gewährung öffentlicher Sub-
ventionen muss das Gleiche gelten.
Viertens. GATS-Verpflichtungen müssen die Mög-
lichkeit einschließen, Modelle zu erproben und spezifi-
sche Verpflichtungen zu überprüfen und gegebenenfalls
zurückzunehmen, wenn die Erwartungen nicht realisiert
werden können. Vor Übernahme weiterer Liberalisie-
rungsverpflichtungen müssen Folgeabschätzungen
durchgeführt und öffentlich diskutiert werden können.
Wir befinden uns als Deutscher Bundestag erst am
Anfang der Diskussion darüber, wie wir Globalisierung
sozial, ökologisch und fair mitgestalten können. Eine
breite Öffentlichkeit erwartet von uns zu Recht, dass wir
diese Aufgabe nicht rein passiv zur Kenntnis nehmen
oder gar als Notare der Exekutive im abschließenden Ra-
tifizierungsverfahren beglaubigen. Das wird von uns
noch viel Anstrengung, Zeit und auch eine Änderung un-
serer parlamentarischen Arbeitsweise verlangen, damit
wir unserem eigenen Anspruch, Politik auf allen Sekto-
ren der Globalisierung zu gestalten, gerecht werden.
Ein wichtiger Schritt dazu ist heute getan.
Günter Nooke (CDU/CSU): Gestern hat das Europä-
ische Parlament über die Liberalisierung kultureller
Dienstleistungen debattiert. Nach dem die Koalitions-
fraktionen das Thema unbedingt noch auf die Tagesord-
nung setzen wollten, wäre aus Sicht der CDU/CSU-
Fraktion für dieses wichtige Thema auch eine angemes-
sene, offene Plenardebatte notwendig gewesen.
Festzustellen ist zu Beginn, dass bei der Problematik
der GATS-Verhandlungen im Grundsatz bei den Kultur-
politikern aller Fraktionen im Deutschen Bundestag Ei-
nigkeit besteht. Einigkeit besteht darüber, bei den aktuel-
len und künftigen GATS-Verhandlungen „Bildung als
öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt zu sichern“, wie
die Überschrift des Antrags der Koalitionsfraktionen for-
dert.
Die Feststellung der grundsätzlichen Einigkeit ist
nicht unwichtig, und sie macht zweierlei deutlich: Ers-
tens macht sie deutlich, dass die besondere Bedeutung,
aber auch die Problematik, die mit der fortschreitenden
Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen ver-
bunden ist, vom deutschen Parlament gesehen wird.
Zweitens macht sie deutlich, dass das Parlament die Not-
wendigkeit sieht, einen eigenen Standpunkt zu den lau-
fenden Verhandlungen zu formulieren. Das ist nicht we-
nig. Aber es ist eben auch nicht genug. Ich bin zwar
sicher, dass der Antrag der Koalition gut gemeint ist,
aber das reicht nicht.
Denn leider wird der vorliegende Antrag aus einer
Reihe von Gründen den einleitend festgestellten Ge-
meinsamkeiten nicht gerecht. Beim Thema Bildung ist
mir der Antrag viel zu defensiv. Gerade der deutsche Bil-
dungsbereich kann etwas Wettbewerb gut gebrauchen.
Selbst internationale Qualitätsstandards sind ja, seit wir
die Ergebnisse von PISA kennen und wissen, was Ab-
schlüsse von Hochschulen aus aller Welt im Vergleich zu
vielen deutschen Universitäten inzwischen Wert sind,
nicht mehr zu fürchten. Vielleicht kann sogar Wettbe-
werb von außen hier zu sinnvollen Strukturveränderun-
gen in den Bundesländern führen. Aber das ist nur die
halbe Wahrheit: Denn Bildung, insbesondere Schulbil-
dung, hat immer noch einen sehr regionalen Bezug und
steht für Kultur schlechthin. Nähern wir uns allerdings
dem GATS-Thema von der Seite der Kultur, liegen die
Probleme etwas tiefer und wiegen schwerer. Aus kultur-
politischer Sicht liegt das große Manko des vorliegenden
Antrages darin, dass der kulturelle Aspekt der GATS-
Verhandlungen viel zu kurz kommt.
Wie die Bildung entzieht sich die Kultur der reinen
Logik des Handels mit Dienstleistungen. Gleichzeitig
gilt es, bei den konkreten GATS-Verhandlungen zu be-
rücksichtigen, dass Kultur genauso wie Bildung zu den
Kernaufgaben einer demokratischen Gemeinschaft ge-
hört und damit nicht ausschließlich wirtschaftlichen Ge-
sichtspunkten untergeordnet werden kann. Die Struktur
der öffentlich subventionierten Kultur in Deutschland
darf durch die GATS-Verhandlungen nicht generell zur
Disposition gestellt werden.
Im Hinblick auf den Bereich der audiovisuellen und
kulturellen Dienstleistungen ist es von entscheidender
Bedeutung, auf die besondere historisch gewachsene
Struktur und die kulturelle Vielfalt in Deutschland und
den Regionen Europas hinzuweisen.
Aus diesem Grund ist es nicht nur wünschenswert,
sondern unserer Meinung nach auch notwendig, ein Ab-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2461
(A) (C)
(B) (D)
kommen zum Schutz der kulturellen Vielfalt anzustre-
ben, das bei künftigen Liberalisierungsverhandlungen
Standard und Referenzpunkt ist.
Ob das in Form einer völkerrechtlichen Vereinbarung
geschieht, ähnlich zur Biodiversität oder als Klausel „vor
der Klammer“ auch künftiger GATS-Vereinbarungen,
muss geprüft werden. Vielleicht ist sogar beides sinn-
voll. Entscheidend ist vor allem, dass diese Vereinbarung
Referenzpunkt für künftige Liberalisierungsangebote im
Rahmen der GATS-Verhandlungen ist und bindenden
Charakter für die künftigen Stellungnahmen der Betei-
ligten an den Verhandlungen hat.
Der Antrag stellt in der Überschrift eine Verbindung
her zwischen Bildung und Kultur. Das ist der Sache nach
völlig richtig. Aber es muss auch begründet werden,
sonst ist der Zusammenhang bloß zufallig und die spe-
zielle Problematik der Kultur bloß Anhängsel der Pro-
blematik bei der Bildung. Leider bleibt im Antrag der
Zusammenhang zufällig. Das ist nicht ausreichend und
damit für die künftigen Verhandlungen – leider – wert-
los.
Auf folgenden Sachverhalt ist also dezidiert hinzu-
weisen: Erfolgreiche Bildungspolitik trägt auch dazu bei,
dass kulturelle Produktion und kulturelle Wertschöpfung
in ihren unterschiedlichen Ausprägungen nachgefragt
wird und damit ihre Vielfalt erhalten und gesichert wer-
den. Das heißt, dass unsere kulturellen Angebote – ich
spreche ganz betont nicht von „kulturellen Dienstleistun-
gen“! – nur dann auch in kommenden Generationen
nachgefragt, verstanden und weitergegeben werden,
wenn in den Schulen entsprechende Grundlagen für die
Rezeption gelegt werden.
In diesem Zusammenhang ist es besonders bedrü-
ckend festzustellen, dass an den Schulen in Deutschland
immer wieder und als erstes die musisch-kulturellen-Fä-
cher nicht gelehrt werden. Wir brauchen hier eine Kehrt-
wende, wir müssen die musisch-kulturelle Bildung wie-
der in den Vordergrund stellen, vor allem in den Schulen.
Und wir müssen dafür sorgen, dass eine künstlerische
Ausbildung – in den Kunst- und Musikschulen der
Städte und Gemeinden – nicht als Luxus angesehen
wird, sondern als Grundlage zum Verständnis unserer
Kultur. Eine solche Grundlage bildet übrigens auch der
Religionsunterricht.
Wenn wir hier nicht zu einem anderen Verständnis, zu
einem anderen Stellenwert der Kultur in der Gesellschaft
kommen, dann können wir uns künftig die Diskussionen
über die GATS-Verhandlungen zumindest im Kulturbe-
reich ganz sparen.
Soweit ist es noch nicht, die Verhandlungen stehen
nicht vor dem Abschluss, sie stehen am Anfang. Aber ih-
nen liegt das Prinzip der „fortschreitenden Liberalisie-
rung“ zugrunde. Das heißt, dass wir in großen Zeiträu-
men denken müssen.
Das ist eine Fähigkeit, die bei der Bundesregierung
nur sehr rudimentär entwickelt ist. Aber morgen früh
werden wir ja durch den Kanzler vom Gegenteil über-
zeugt werden, wie man seit über zwei Wochen hört.
Der komplizierte Verhandlungsweg der GATS-Run-
den sollte uns andererseits aber auch nicht zu Überreak-
tionen veranlassen oder zu blankem Aktionismus oder
gar blindem Protektionismus führen: Weder das kultu-
relle Erbe des „alten Europa“ noch die föderale Verfas-
sung Deutschlands und auch nicht die Stadttheater sind
in akuter Gefahr, jedenfalls nicht und nicht in erster Li-
nie durch die laufenden Verhandlungen zur Liberalisie-
rung des Handels mit Dienstleistungen.
Allerdings ist die Praxis der Kulturförderung des „al-
ten Europa“ nur schwer kompatibel mit anderen Model-
len, zum Beispiel in den USA. Im Unterschied zu den
USA subventioniert im „alten Europa“ der Staat die Kul-
tur. Und im Unterschied zu den USA stehen im „alten
Europa“ Theater und Opernhäuser mit 300-jähriger Ge-
schichte. Hierüber ist – im Gegensatz zu anderen aktuel-
len Fragen – ein Streit mit den USA nötig und richtig.
Fazit: Die innere Logik von WTO-Verhandlungen,
die immer in Richtung „fortschreitende Liberalisierung“
führt, darf nicht die Identität und die regionalen Zusam-
menhalt stiftende Rolle der Kultur zerstören.
Zum Schluss: Wir fordern die Bundesregierung auf,
bei den GATS-Verhandlungen sicherzustellen, dass die
von den Bundesländern wahrgenommene Kulturhoheit
durch das GATS-Abkommen nicht beeinträchtigt wird,
dass die Regeln zur „Inländerbehandlung“ gemäß
Art. XII des GATS-Vertrages nicht so ausgelegt werden,
dass eine generelle Verpflichtung zur staatlichen Sub-
ventionierung auch privater Anbieter entsteht – die staat-
liche Finanzierung von Bildungs- und Kultureinrichtun-
gen in Deutschland darf keine Subventionsansprüche
ausländischer Anbieter erzwingen – und dass es zu ei-
nem völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz kulturel-
ler Vielfalt als Referenzgröße für weitere Liberalisierun-
gen im Dienstleistungssektor kommt.
Wir begrüßen, dass die Antwort der Staatsministerin
für Kultur und Medien, Christina Weiss, auf diesen Vor-
schlag von uns positiv ist, und damit erheblich weiter
geht als der Antrag der Koalition.
Wir können dem vorliegenden Antrag aus kulturpoli-
tischer Sicht nicht zustimmen, weil er zentrale Forderun-
gen zum Schutz der kulturellen Vielfalt – außer, gut ge-
meint, im Titel – nicht vorsieht; weil er damit den
besonderen Stellenwert der Kultur bei den Verhandlun-
gen nicht annähernd berücksichtigt und so keine Hilfe
bei künftigen Verhandlungen darstellt; weil die Interes-
sen der Kulturverbände und -institutionen nicht ange-
messen vertreten werden und weil die Verbindung der
Problematik bei den GATS-Verhandlungen von Bildung
und Kultur nicht hergestellt wird.
Festzuhalten bleibt, dass Mitglieder der CDU/CSU-
Fraktion im Deutschen Bundestag die Intention des An-
trages im Grundsatz unterstützen und dass wir auch bei
künftigen Diskussionen die Bundesregierung unterstüt-
zen werden, wenn es darum geht, den Schutz der kultu-
rellen Vielfalt einzufordern.
Wir wünschen uns eine Bundesregierung und ein
Wirtschaftsministerium, die diese Positionen in der EU
in den kommenden Verhandlungen offensiv vertreten
2462 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
(A) (C)
(B) (D)
und nicht etwa den Kulturteil zum Beispiel nur Frank-
reich überlassen. Wir wollen wie die Koalitionsfraktio-
nen umfassend informiert werden. Wir werden die Re-
gierung an den Ergebnissen messen.
Ulrike Flach (FDP): Beim Thema „GATS-Abkom-
men“ wird die unterschiedliche Grundphilosophie zwi-
schen SPD/Grünen sowie Teilen der Union und den
Liberalen deutlich: Wir alle wissen, dass unser Bil-
dungssystem derzeit für den internationalen Wettbewerb
nicht ausreichend gerüstet ist. Sie ziehen daraus den
Schluss, einen Schutzzaun zu errichten, um unsere Bil-
dungslandschaft vor dem Eindringen ausländischer An-
bieter zu schützen. Sie tun allerdings nichts, um die
Hochschulen so fit zu machen, dass sie im Wettbewerb
bestehen können.
Wir dagegen gehen den umgekehrten Weg: Wir wol-
len Wettbewerbsdruck erzeugen und damit auch durch-
aus ein Signal setzen, dass die Qualität unserer Bil-
dungsanbieter nicht ausreicht. Deshalb fordern wir in
unserem Antrag, dass zum Beispiel die Akkreditierung
von Studiengängen, Eingangstests für Studierende oder
die Überprüfung von Qualitätsstandards als Angebote
für eine weitere Liberalisierung eingereicht werden sol-
len.
Aber wir lassen die Hochschulen im Wettbewerbs-
druck nicht allein, sondern wir wollen ihnen auch die
Mittel und die rechtlichen Rahmenbedingungen geben,
damit sie die Herausforderungen bestehen können. Wir
wollen ein entrümpeltes HRG, eine Reform der Profes-
sorenbesoldung und ein modernes Wissenschaftstarif-
vertragsrecht für eine autonome und leistungsfähige
Hochschule.
Während Sie Artenschutz betreiben, wollen wir Qua-
litätsverbesserung. Und dabei haben wir die Unterstüt-
zung des Stifterverbandes für die Wissenschaft, der sich
dafür ausspricht, auch ausländischen Hochschulen im
Wettbewerb um staatliche Fördermittel eine Chance zu
geben, wenn die Studiengänge akkreditiert sind, die
Hochschule nach § 70 HRG anerkannt ist und eine Eva-
luierung der Qualität, zum Beispiel durch den Wissen-
schaftsrat, stattgefunden hat.
Jetzt haben Sie vorgestern einen neuen Antrag vorge-
legt, der im Grunde nur zwei Aussagen macht:
Erstens. Die nationalen Parlamente sind nicht ausrei-
chend berücksichtigt worden und es geht alles zu
schnell.
Zweitens. Sie sehen schwerwiegende Bedenken bei
jeder Form der Deregulierung.
Ich finde es wirklich erstaunlich, wie sehr Reden und
Handeln bei Ihnen auseinander klaffen. Morgen wird der
Kanzler in seiner „Ruck-Rede“ für das Aufbrechen von
Traditionskartellen, für Entbürokratisierung und Außer-
kraftsetzen von überflüssigen Vorschriften sprechen.
Hier liegt die rot-grüne Realität vor uns: Sie wollen
keine Öffnung der Dienstleistungsmärkte, der Wasser-
und Abwasserentsorgung, Sie wollen kein Außer-Kraft-
Setzen von Prüfungsvorschriften, Sie wollen kein Auf-
brechen von Tarifkartellen, Sie wollen keine Ausnahmen
beim Arbeitsrecht für Leih- und Entsendefirmen.
Heute Nachmittag erhielt ich eine bemerkenswerte
Mail aus dem BMWA. Andere Kollegen, auch aus der
Regierungsfraktionen, haben diese Mail auch erhalten.
Darin wird völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die
Verabschiedung des Antrages, vor allem der geforderte
„Parlamentsvorbehalt“, zu einer „Lähmung der Hand-
lungsfähigkeit der Gemeinschaft mit unabsehbar nach-
teiligen Auswirkungen auf den Fortgang der gesamten
WTO-Verhandlungen“ führen könnte. Die im Antrag im-
mer wieder genannten „schwerwiegenden Bedenken“
sind gerade nicht erkennbar. Was ist bei Ihnen eigentlich
los? Gibt es denn überhaupt keine Koordination zwi-
schen Regierungsebene und Parlamentsfraktionen?
Wer hat hier eigentlich die Federführung, die sach-
kundigen Experten in den Ministerien oder die Angstma-
cher in der Fraktion?
Wer so denkt, wer solche Anträge schreibt, der er-
weist sich als strukturell unfähig, neue Potenziale zu er-
schließen und neue Dienstleistungsmärkte für Arbeits-
plätze zu nutzen. Geht es uns denn bei 20 Prozent
Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern noch nicht
schlecht genug? Wir werden erleben, wie andere Regio-
nen dieser Welt auch mithilfe von GATS zu dynami-
schen Wirtschaftsräumen werden, während Deutschland
in seiner geschützten, staatlich behüteten Behäbigkeit
beharrt.
Wir lehnen Ihren Antrag ab, denn Sie sehen GATS
nur als Bedrohung. Mit Angst in der Hose kann man
keine Märkte erobern. Die FDP hat keine Angst, sondern
sieht in GATS eine echte Chance für mehr Wettbewerb
und bessere Qualität von Dienstleistungen.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
der Anträge:
– Keine Zustimmung zur Erhöhung der
EURATOM-Kreditinie
– EURATOM-Vertrag nicht aufweichen –
Keine einseitigen Eingriffe in die Finanzie-
rung
(Tagesordnungspunkt 12 und Zusatztagesord-
nungspunkt 8)
Horst Kubatschka (SPD): Der Antrag der Koalition
„Keine Zustimmung zur Erhöhung der EURATOM-Kre-
ditlinie“ hat zwei klare Ziele:
Erstens. Der Anleihehöchstbetrag soll nicht von bis-
her 4 auf 6 Milliarden Euro erhöht werden.
Zweitens. Der Anwendungsbereich von EURATOM-
Darlehen soll nicht erweitert werden.
Die Bundesregierung soll darauf drängen, dass die
entsprechenden Vorschläge der Kommission in Brüssel
im Ecofin-Rat abgelehnt werden. Damit unterstützen wir
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2463
(A) (C)
(B) (D)
die Linie der Bundesregierung, die im EU-Ministerrat
Umwelt am 9. Dezember letzten Jahres erklärt hat, dass
eine Erhöhung der EURATOM-Kreditlinie abgelehnt
wird.
Der EURATOM-Vertrag stammt aus dem Jahre 1957.
Er ist geprägt von der unglaublichen Aufbruchstim-
mung, die damals in Bezug auf die Kernenergie ge-
herrscht hatte. In den 50er- Jahren des letzten Jahrhun-
derts war man fest davon überzeugt, dass alle
Energieprobleme durch die Kernenergie gelöst werden
könnten. Von Entsorgung und seinen Problemen sprach
kaum jemand. Dass Endlager erforderlich sind, die für
eine Million Jahre das radioaktive Material von der be-
lebten Erde abschließen müßten, war damals nicht be-
dacht. Vielmehr träumte man vom Schnellen Brüter und
von einem Fusionsreaktor, der 1985 funktionieren sollte.
Heute wissen wir es besser. Der unglaubliche Opti-
mismus ist verflogen. Spätestens seit Tschernobyl sind
wir grausam aus den Träumen gerissen worden. Seit
1957 hat sich viel verändert. Nur der EURATOM-Ver-
trag ist unverändert geblieben. Er entspricht heute weder
der EU-Wirklichkeit, noch den Erfordernissen einer zu-
kunftsgewandten Energieversorgung:
Erstens. Von 15 Mitgliedstaaten haben sechs nie die
Produktion von Kernenergie aufgenommen. Sie können
sich glücklich schätzen – sie sind frei von atomaren Alt-
lasten. Fünf weitere Staaten haben die strahlende Sack-
gasse Kernenergie erkannt und den Ausstieg beschlos-
sen. Es bleiben also nur vier Staaten, die zurzeit noch auf
Kernenergie setzen. Nur ein Staat – nämlich Finnland –
will neue Atomkraftwerke bauen. Bei der Erweiterung
der Europäischen Union sollen mehr unsichere Atom-
kraftwerke abgerissen als neue errichtet werden.
Zweitens Die EU-Wirklichkeit heißt liberalisierter
Markt. Zusätzliche verbilligte EURATOM-Kredite deh-
nen die erheblichen Wettbewerbsverzerrungen im euro-
päischen Strombinnenmarkt aus. Dem Wettbewerbs-
kommissar müßten eigentlich alle Haare zu Berge
stehen, so groß ist der Sündenfall gegen den liberalisier-
ten Markt.
Der Deutsche Bundestag hat am 14. Dezember 2001
das Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergie-
nutzung verabschiedet. Es ist am 27. April 2002 in Kraft
getreten. Damit hat die rot-grüne Koalition eine Kehrt-
wendung in der Nutzung der Kernenergie vollzogen:
statt Förderung Ausstieg. Wir halten das Risiko der
Kernenergienutzung nur noch für einen begrenzten Zeit-
raum für hinnehmbar.
Es wäre aber eine unehrliche Politik, bei uns auf Aus-
stieg zu setzen und in den Nachbarländern weiter die
Kernenergie zu fördern, also die Risiken dort weiter auf-
rechtzuerhalten. Die Risiken der Kernenergie wollen wir
unserer Bevölkerung nicht zumuten, folglich können wir
auch keine Investitionen fördern, die das Risiko für die
Bevölkerung in anderen Staaten erhöhen. Ich sage es
noch einmal: Dies wäre inkonsequent und unehrlich!
Ich möchte auch auf einen Widerspruch bei den Vor-
schlägen der Kommission hinweisen. Es soll die De-
montage von Atomreaktoren unterstützt werden. Dies
halten wir grundsätzlich für richtig. Die Rückzahlung
der EURATOM-Kredite sollen aus den Betriebsgewin-
nen der Atomkraftwerke zurückgezahlt werden. Ich habe
noch nie gehört, dass beim Rückbau von Atomkraftwer-
ken Betriebsgewinne beim Betreiber der Anlage erzielt
wurden. Diese Kredite könnten also überhaupt nicht zu-
rückgezahlt werden.
EURATOM-Kredite sind also das falsche Instrument.
Außerdem, es besteht bereits ein Instrument zur Förde-
rung der Demontage von Atomreaktoren. Diese Mittel
werden über die Osteuropabank verwaltet.
Für uns in der Koalition ist klar: Die Vorschläge der
Kommission zur Erhöhung der EURATOM-Kreditlinie
gehen in die falsche Richtung. Sie zielen nicht auf das
Gemeinwohl in einer zukunftsgerichteten Europäischen
Union, sie nützen höchstens denjenigen, die von den
kerntechnischen Investitionen profitieren.
Wir müssen unsere Stromerzeugung auf Nachhaltig-
keit umstellen. Das heißt Energie sparen, das heißt Ener-
gieeffizienz, das heißt erneuerbare Energien. Daran muss
und will sich ja auch die Energiepolitik der Gemein-
schaft orientieren. Bloß ist die Meinungsbildung in Eu-
ropa und in seinen Mitgliedsstaaten diesbezüglich noch
nicht abgeschlossen. Um es deutlich zu sagen: Die
Atompolitik in Europa ist heftig umstritten und entwi-
ckelt sich mehr und mehr zu einem Stein auf dem Weg
zu einem gemeinsamen Europa, einem schweren Stein,
den wir wegräumen wollen und müssen.
Wir wollen ein gemeinsames Europa, ein zukunftsge-
richtetes Europa, in dem sich alle Bürgerinnen und Bür-
ger sicher und wohl fühlen können. Dies kann mit immer
mehr Atomkraftwerken nicht gelingen – und auch nicht
mit einer Europäischen Atomgemeinschaft, die seit 1957
unverändert das Ziel hat, „die Voraussetzungen für die
Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie zu schaf-
fen“. Und auch nicht mit immer neuen EURATOM-Kre-
diten.
Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Seit dem Jahr
1957 ist der Vertrag zur Gründung der Europäischen
Atomgemeinschaft, kurz: EURATOM, nahezu unverän-
dert geblieben. Horst Kubatschka hat deutlich gemacht,
wie sich Energietechnik und Energiewirtschaft seitdem
verändert haben – nämlich grundlegend. Das verlangt
auch neue Antworten.
Ich will noch einmal wiederholen, denn so mancher in
diesem Hause scheint einfach nicht zur Kenntnis neh-
men zu wollen, was jeder Bürger sehen kann und was je-
der Experte ohnehin weiß: Die Energiewelt sieht heute
anders aus als vor 50 Jahren. Und sie wird sich in den
kommenden 50 Jahren noch einmal grundlegend ändern.
Die Zukunft heißt Effizienzrevolution, Einsparen, erneu-
erbare Energien.
Wie sonst ist zu erklären, dass die FDP in ihrem An-
trag erklärt, „der EURATOM-Vertrag ist heute in Inhalt
und Aussage aktueller denn je“? Das kann doch nicht
wahr sein. Soll der EURATOM-Vertrag etwa unverän-
dert wie vor nahezu 50 Jahren das Ziel verfolgen, „die
Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen
2464 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
(A) (C)
(B) (D)
Kernindustrie zu schaffen, vorbei am europäischen
Strombinnenmarkt, vorbei an Wettbewerbs- und Chan-
cengleichheit für alle Energieträger, vorbei an den Parla-
menten, vorbei an weiten Kreisen der europäischen Zi-
vilgesellschaft, die die Atomkraft nicht mehr für
verantwortbar halten?
Die FDP fordert bei jeder Gelegenheit mehr Markt,
mehr Wettbewerb. Wo bleibt ihr Credo hier in ihrem An-
trag zu EURATOM? Ich habe den Eindruck: Wenn ihre
Klientel in Atomwirtschaft und Atomforschung es will,
wischen sie ihr am Sonntag so hoch gehaltenen An-
spruch werktags mit einem Federstrich vom Tisch. Zum
Glück wird ihr Antrag unbeachtet in den Archiven ver-
schwinden. Aber ärgerlich ist er doch.
Wir bauen mit Überzeugung und mit Nachdruck an
einem gemeinsamen europäischen Haus. Ende diesen
Jahres werden wir eine europäische Verfassung haben.
In wenigen Jahren wird unser Europa nicht mehr 15,
sondern 25 Mitgliedstaaten haben. Das ist eine großar-
tige Perspektive, alle Parteien im Deutschen Bundestag
wollen eine starke Europäische Union. Aber es ist auch
eine große Herausforderung für uns alle, für unsere Ver-
antwortung, für unser Verständnis von einer gemeinsa-
men Zukunft, jetzt auch die Weichen für mehr Wirt-
schafts- und Lebensqualität und für eine moderne
Energieversorgung zu stellen. Bis die europäische Ver-
fassung steht, bis wir mit dem gemeinsamen Europa ein
gutes Stück weitergekommen sind, haben wir noch viele
Steine aus dem Weg zu räumen. Sie muss allerdings für
die Bürger überzeugend sein.
Der Umbau der Energieversorgung sollte im Interesse
der Natur, der Dritten Welt, der friedlichen Partnerschaft
am besten gemeinsam von allen Parteien im Bundestag
angepackt werden. Wir haben unterschiedliche Auffas-
sungen zur Kernenergie. Das ist unbestritten. Aber der
Koalition zu unterstellen, sie wolle die Verpflichtungen
aus dem EURATOM-Vertrag isoliert aufkündigen, wie
es die FDP in ihrem Antrag tut, das kündigt die Gemein-
samkeit auf. Die Unterstellungen sind schlicht unwahr.
Mit unserem Antrag „Keine Zustimmung zur Erhö-
hung der EURATOM-Kreditlinie“ sprechen wir uns ge-
gen die Vorschläge der Kommission aus, den Höchstbe-
trag für EURATOM-Anleihen um 50 Prozent anzuheben
und den Anwendungsbereich der Darlehen zu erweitern.
Das ist kein Weg in ein modernes Europa, sondern er
führt zurück in die Streitigkeiten, die wir in unserer Ge-
sellschaft – mit Ausnahme der Oppositionsparteien –
überwunden haben.
Wir haben unseren Antrag ausführlich begründet. Er
entspricht unserer Grundlinie, eine sichere Energiever-
sorgung ohne Atomkraft zu organisieren. Wir wollen da-
mit den Vertrag ändern. Dieses Vorgehen entspricht gu-
ter demokratischer Praxis, wie sie in den Europäischen
Verträgen niedergelegt ist. Uns zu unterstellen, wir wür-
den die mit dem EURATOM-Vertrag eingegangenen
Verpflichtungen einseitig aufkündigen, das verlässt gute
demokratische Praxis. Nein, der Antrag entspringt der
Überzeugung, dass wir nicht national aussteigen können,
aber in der EU dann die Atomkraft unterstützen. Sie
würden dieses Verhalten doch – nicht zu Unrecht – als
doppelbödig kritisieren.
Ich appelliere an Ihr europäisches und demokratisches
Gewissen. Lassen Sie solche Unterstellungen, arbeiten
Sie mit uns gemeinsam an den Fundamenten des künfti-
gen Europas, dessen Demokratie wir stärken und dessen
Handlungsfähigkeit wir erhöhen wollen.
Auch auf europäischer Ebene gibt es unterschiedliche
Auffassungen über die Bewertung der Kernenergie.
Aber dies darf keine Rolle für die Verfassungsgrundla-
gen der Europäischen Union spielen. Und dazu gehört
nun einmal der EURATOM-Vertrag.
Wir müssen in den kommenden Wochen und Monaten
eine Lösung für das Verhältnis von EURATOM-Vertrag
und europäischer Verfassung finden. Die Vorschläge der
Kommission zur EURATOM-Kreditlinie sind dazu Wei-
chenstellungen, die nicht hinzunehmen sind. Auch des-
halb lehnen wir sie ab.
Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): Mit welcher Ge-
schwindigkeit Rot-Grün es schafft, ein über Jahrzehnte
aufgebautes internationales Vertrauen und internationale
Glaubwürdigkeit zu verspielen, ist schon atemberau-
bend. Jüngstes Beispiel ist der gestern von den Regie-
rungsfraktionen vorgelegte Antrag zur Ablehnung der
geplanten Erhöhung der EURATOM-Anleihen: Rot-
Grün stellt damit den EURATOM-Vertrag als eine tra-
gende Säule der Europäischen Union zur Disposition.
Rot-Grün nimmt die von der EU-Kommission befürwor-
tete Aufstockung der EURATOM-Anleihen zum Anlass,
den gesamten EURATOM-Vertrag auf den Prüfstand zu
stellen, und riskiert damit erneut erheblichen Schaden
für Deutschland, und zwar sowohl in wirtschafts- und
außen- als auch in sicherheitspolitischer Hinsicht.
In sicherheitspolitischer Hinsicht ist die Fortführung
von EURATOM und der Anleihe zur Verbesserung der
Sicherheitsstandards in Kernkraftwerken weiterhin un-
bedingt erforderlich. Denn was würde geschehen, wenn
durch die EURATOM-Darlehen nicht – wie bisher – ins-
besondere die osteuropäischen Kernkraftwerke auf den
in Westeuropa üblichen Sicherheitsstandard angehoben
würden? Diese Frage ist leicht zu beantworten: Die Re-
aktoren würden mit der bisherigen veralteten Technik
weiterbetrieben werden. Mehr noch: Auch schon im Bau
befindliche Kraftwerksneubauten würden nicht die Si-
cherheitsausstattung erhalten, die technisch möglich
wäre. Daher hat die Europäische Gemeinschaft – nicht
zuletzt aus eigenem Sicherheitsinteresse – die Verant-
wortung übernommen und den Staaten Osteuropas über
die EURATOM-Darlehen eine Möglichkeit gegeben, die
Sicherheit ihrer kerntechnischen Anlagen zu erhöhen.
Demgegenüber spricht Rot-Grün davon, dass der För-
derzweck der EURATOM-Darlehen mit der Zielsetzung
des deutschen Atomausstiegs unvereinbar sei. Der
Atomausstieg finde mit dem Antrag auch in der Europa-
politik seine Umsetzung. Was hat der deutsche Atomaus-
stieg mit der Verbesserung der Sicherheitsstandards aus-
ländischer Kernkraftwerke zu tun? Gar nichts! Rot-Grün
nimmt unter dem Deckmantel des Atomausstiegs einen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2465
(A) (C)
(B) (D)
Verzicht auf den Ausbau der Sicherheit des europäischen
Kraftwerksparks in Kauf. Diese Politik widerspricht den
Sicherheitsinteressen Deutschlands.
Aber das ist nicht das einzig paradoxe an der rot-grü-
nen Kernenergiepolitik. Während in Berlin gebetsmüh-
lenartig der Atomausstieg propagiert wird, werden in
Düsseldorf durch den grünen Minister Vesper eine Milli-
arde Kilowattstunden Atomstrom für die öffentliche
Hand, nämlich das Land und seine Behörden, aus dem
Ausland importiert. Krasser kann man sich den Wider-
spruch zwischen Anspruch und Realität nicht mehr vor
Augen führen.
Die Liste der Widersprüche lässt sich beim Thema
Endlagerung fortführen. Der Bundesumweltminister hat
einen Arbeitskreis Endlagerung ins Leben gerufen. Das
mit hochrangigen Experten besetzte Gremium hat im
Dezember letzten Jahres seinen Abschlussbericht zu die-
sem Thema vorgelegt. Danach führt an einem Endlager-
konzept kein Weg vorbei. Aber anstatt nun zügig zu han-
deln, übt sich der Bundesumweltminister in der „ruhigen
Hand“ und will erst einmal eine über Jahre dauernde ge-
sellschaftspolitische Diskussion über dieses Thema ab-
warten. Über den Atomausstieg wird tatsächlich geredet,
aber bei der gleichzeitig zu lösenden Aufgabe der Endla-
gerung fehlt jedes Handlungskonzept.
Der Versuch, durch die Aufweichung des
EURATOM-Vertrages den Rest der Welt mit den eige-
nen deutschen Atomausstiegskonzepten zu missionieren,
muss scheitern; denn Rot-Grün übersieht die anhalten-
den weltweiten Bestrebungen, die Kernenergie weiterhin
als eine Quelle für die zukünftige Sicherung der Energie-
versorgung zu nutzen. Daher ist der außenpolitische
Schaden erheblich, der mit dieser Haltung der Regie-
rungsfraktionen einhergeht. Anstatt die mittel- und ost-eu-
ropäischen Beitrittsländer bei ihrem wirtschaftlichen
Aufbau zu unterstützen, will Rot-Grün künftig offenbar
allenfalls die Demontage von Atomreaktoren unterstüt-
zen. Dass die EU-Beitrittskandidaten derzeit überwie-
gend keine energiepolitische Alternative zur Kernkraft
haben, interessiert Rot-Grün nicht. Die Staaten sind auf
die Kernkraft angewiesen, nicht zuletzt auch, um die
Ziele des Kioto-Protokolls einhalten zu können.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich sehr ge-
nau an die erst Ende Januar mit einer Delegation der rus-
sischen Staatsduma in Berlin geführten Gespräche. Ge-
meinsam mit den russischen Kollegen fand eine Sitzung
der Ausschüsse für Wirtschaft und Arbeit sowie Umwelt
statt. Zentraler Punkt der Beratungen waren der Klima-
schutz und die Ratifizierung des Kioto-Protokolls durch
Russland, eine Ratifizierung, die wir alle wünschen. Auf
die Frage, wie Russland die nationalen Klimaschutzziele
erreichen will, wurde unmissverständlich klar gemacht,
dass dies nur durch einen Ausbau der Kernenergie in
Russland möglich ist. Gleichwohl wurde Russland bei
der Erreichung der Klimaschutzziele von allen Fraktio-
nen des Deutschen Bundestages Unterstützung zugesi-
chert.
Rot-Grün handelt nun aber genau entgegengesetzt.
Das Einfrieren der EURATOM-Anleihen träfe vor allem
Russland, das zahlenmäßig die meisten Atommeiler mit
veralteter sowjetischer Technik betreibt. Durch die
EURATOM-Darlehen könnte Russland die Sicherheit
und die Effektivität der Kraftwerke steigern und wäre so
in der Lage, den Anteil fossiler Energieträger und damit
den Kohlendioxidausstoß zu reduzieren. Wenn Rot-Grün
aus EURATOM aussteigen will, hätte dies den russi-
schen Vertretern auch mitgeteilt werden müssen. Ver-
trauen und Verlässlichkeit gegenüber internationalen
Partnern wird damit zulasten zweifelhafter nationaler
Alleingänge aufs Spiel gesetzt. Nach dem deutschen
Weg in der Außenpolitik droht offenkundig ein deut-
scher Alleingang in der Energiepolitik. Dies kann nur
zum Schaden des Wirtschaftsstandortes Deutschland
sein. Die Zeche dieser Ausstiegspolitik tragen in einem
zukünftig liberalisierten Energiemarkt Verbraucher und
Unternehmen über international nicht mehr wettbe-
werbsfähige Preise.
Die hier diskutierte Frage der EURATOM-Anleihen
reflektiert damit auch die rot-grüne Wirtschaftspolitik.
Nicht übersehen werden sollte, dass es durch die Umrüs-
tung der Altanlagen auf moderne Standards auch zu ei-
ner Sicherung von deutschen Arbeitsplätzen kommen
kann. Denn die deutsche Kraftwerkstechnologie ist in ei-
nigen Bereichen immer noch führend und durch den Ex-
port von Anlagen werden Arbeitsplätze in Deutschland
erhalten. Zugleich kann die weit fortgeschrittene wissen-
schaftliche Forschung in Bezug auf die Sicherheit von
Kernkraftwerken in Deutschland auf hohem Niveau wei-
terbetrieben werden. Der Erhalt und der Ausbau techno-
logischen Know-hows ist für Deutschland mehr denn je
bedeutsam. Wir sind und bleiben ein rohstoffarmes
Land. Wir verdanken unseren Wohlstand zum großen
Teil der Innovationskraft der Industrie und der internati-
onalen Exportfähigkeit unserer Produkte. Wer dies im
Rahmen der Politik völlig ausblendet, kann und wird
keine Erfolge bei Wachstum und Beschäftigung erzielen.
Von daher ist es auch völlig unvertretbar, aus dem Pro-
zess der Kernfusionsforschung aussteigen zu wollen.
Anders als bei der Kernspaltung könnte mit der Kernfu-
sion eine dauerhaft sichere Energiequelle für die
Menschheit entwickelt werden. Auch von daher ist ein
deutscher Ausstieg aus der Kernfusionsforschung nicht
verantwortbar.
Anstatt den Versuch zu starten, Europa über die Hal-
tung zu den EURATOM-Anleihen das aktuelle deutsche
Verständnis von Energiepolitik aufzwingen zu wollen,
wäre Rot-Grün gut beraten, zunächst die Missstände vor
der eigenen Haustür zu beseitigen. Durch Ökosteuer,
KWK-Abgabe und EEG haben die Stromkosten mittler-
weile wieder das Niveau vor der Liberalisierung erreicht.
Die durch die Marktöffnung entstandenen Preissenkun-
gen gehören durch die Abgabenbelastung und durch die
neuerliche Regulierung und Marktabschottung inzwi-
schen nach weniger als fünf Jahren wieder der Vergan-
genheit an. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Union
setzt sich nachhaltig für erneuerbare Energien als ener-
giepolitische Alternativen ein. Auch eine angemessene
Förderung ist zu sichern. Aber es kann nicht angehen, er-
neuerbare Energien um jeden Preis und ohne Rücksicht
auf die Wettbewerbs- und Marktfähigkeit zu fördern. Die
Förderung der erneuerbaren Energien darf nur befristete
2466 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
(A) (C)
(B) (D)
Anschubfinanzierung sein. Dauersubventionen schaden
dem Standort Deutschland. Sie führen zum Erstarken
von Monopolstrukturen, zu mehr Bürokratie und am
Ende zu immer höheren Kosten.
Der Anteil der Direktinvestitionen aus dem In- und
Ausland sinkt in Deutschland nicht nur aufgrund der ho-
hen Kosten durch die Sozialsysteme. Ein wesentlicher
Punkt sind gerade auch die Energiekosten für die Indus-
trie. Der Industriestrompreis hat in Deutschland nach Er-
folgen der Liberalisierungspolitik der Union Ende der
90er-Jahre inzwischen nach Irland und Italien wieder ei-
nen traurigen Spitzenplatz in Europa erreicht. Aber da-
mit nicht genug: Allen Warnungen und Argumenten zum
Trotz betreibt Rot-Grün den desaströsen Energiekurs
weiter. Die erst im Februar in diesem Hause beratene En-
ergiewirtschaftsnovelle führt in der von Rot-Grün be-
schlossenen Form zu einer weiteren Verstärkung der
Monopolstrukturen. Die Kosten durch das Erneuerbare-
Energien-Gesetz für Industrie und Verbraucher steigen
durch den zunehmenden Ausbau der installierten Leis-
tung insbesondere bei Windkraft derzeit steil an. Allein
zwischen 2001 und 2002 ist eine Verdopplung dieser
Kosten zu verzeichnen. KWK-Abgabe und Ökosteuer
bewirken den Rest.
Durch diese Politik werden die Bedingungen für In-
vestitionen weiter verschlechtert. Dies verhindert nach-
haltig Wachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Die Union setzt alles daran, gegen diese für Deutschland
schädliche Politik vorzugehen. Die Union lehnt daher
auch den jetzigen Antrag, der sich gegen die europäi-
schen Verpflichtungen aus dem EURATOM-Vertrag
stellt ab, ebenso wie das dahinterstehende energiepoliti-
sche Konzept der Regierungskoalition. Die Union tritt
für die Einhaltung der in den Europäischen Verträgen
übernommenen Verpflichtungen ein. Insbesondere ist
der EURATOM-Vertrag kein Auslaufmodell. Er leistet
für die Integration der mittel- und osteuropäischen Bei-
trittsländer einen wichtigen Beitrag. Nicht zuletzt kann
das Ziel der höchstmöglichen Sicherheit der kerntechni-
schen Anlagen in unseren europäischen Nachbarstaaten
durch den Einsatz auch deutscher Hochtechnologie mit-
tels der EURATOM-Anleihen gewährleistet werden.
Eine Abkehr – insbesondere von den sicherheitspoliti-
schen Interessen – ist unverantwortlich und mit der
Union nicht zu machen. Daher lehnen wir den Antrag
von SPD und Bündnisgrünen ab und stimmen dem An-
trag der FDP zu, der inhaltlich unserer Zielrichtung
folgt. Hören Sie im Zeitalter der Globalisierung endlich
auf, mit angeblich neuen deutschen Wegen den Standort
Deutschland von der internationalen Entwicklung abzu-
koppeln! Dieser Weg schadet uns allen.
Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der heute vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen
zur EURATOM-Kreditlinie ist ein klare Ansage:
Deutschland wird gegen die Aufstockung und Auswei-
tung von EURATOM ein Veto einlegen und dafür auch
bei anderen Ländern werben. Da die Entscheidung ein-
stimmig zu erfolgen hat, ist klar, dass es nicht zu einer
Aufstockung kommen wird. Allerdings wird es auch in
dieser Frage keine isolierte deutsche Position geben.
Schaut man sich an, wer in Deutschland noch aktiv auf
Atomenergie setzt, stellt man schnell fest, wo die Min-
derheiten zu finden sind. Und das ist auch gut so! Ich
möchte jedoch betonen, dass es mit dieser Initiative nicht
darum geht, diesen Ländern unsere Erkenntnisse und
Überzeugungen aufzuzwingen. Es wäre allerdings un-
glaubwürdig, im eigenen Land aus der Atomenergie aus-
zusteigen und gleichzeitig den Ausbau dieser Energieform
finanziell den Nachbarländern zu subventionieren. Genau
dies wäre der Fall, wenn wir die Aufstockung der
EURATOM-Kreditlinie von 4 auf 6 Milliarden Euro zu-
stimmen würden. Ich freue mich deshalb sehr, dass wir
mit diesem Antrag eine klare Position benennen und
möchte mich ausdrücklich bei der SPD-Fraktion und
dem Finanzminister für die konstruktive Zusammenar-
beit bedanken.
Aus der Opposition höre ich bereits den Vorwurf, wir
würden mit diesem Antrag die Sicherheit von Atom-
anlagen vor allem in Osteuropa gefährden. Aber genau
das Gegenteil ist der Fall. Sieht man sich bei der
EURATOM-Kreditlinie die Vergabepraxis der vergange-
nen Jahre an oder betrachtet man die aktuelle Antrags-
lage, fragt man sich schnell, wo denn der substanziell si-
cherheitsverbessernde Effekt dieses Instrumentariums
bleibt. In Kozloduj 5 und 6 beispielsweise wird an Reak-
toren russischer Bauart herumgedoktert, die selbst die
Regierung Kohl nach der Wiedervereinigung in Ost-
deutschland aus guten Gründen zurückgebaut hat. Auch
wenn die bulgarischen Einzelmaßnahmen zur Aufrüs-
tung von Teilkompartimenten führt, die Meiler blieben
von jedem „TÜV-Sicherheitstempel“ meilenweit ent-
fernt. Auf ein anderes Beispiel – die Fertigstellung der
beiden ukrainischen Reaktoren K2/R4 – muss ich nicht
weiter eingehen, diese Debatte haben wir ja bereits aus-
führlich in der letzten Legislaturperiode geführt. Es sollte
aber noch erwähnt werden, dass die Ukraine nicht einmal
die Mindestsicherheitskriterien der Osteuropabank erfül-
len konnte. Aus diesem Grund musste die Ukraine Ende
2001 auf die Teilfinanzierung für K2/R4 durch jenes
multitlaterale Finanzinstitut verzichten. EURATOM, das
für dieses Projekt mit 680 Millionen Euro weit mehr
Geld zur Verfügung stellen will, blieb von dieser Ent-
wicklung bislang unbeeindruckt und hält das Geld wei-
terhin bereit.
Der einzige Antrag auf einen EURATOM-Kredit, der
derzeit anhängig ist, ist der Bau des zweiten Reaktors im
rumänischen Cernavoda. Ich habe noch nie verstanden,
was der Neubau eines Reaktors mit der Verbesserung der
nuklearen Sicherheit zu tun haben soll, egal ob er russi-
scher Bauart ist oder wie in diesem Fall kanadischer
Candu-Reaktor.
Was dem Fass aber den Boden ausschlägt, sind die
erst kürzlich bekannt gewordenen Pläne, durch
EURATOM-Gelder die Fertigstellung von fünf russi-
schen Atomreaktoren zu ermöglichen. Unter den ge-
nannten Projekten befindet sich auch das AKW Kursk 5,
ein Reaktor vom Tschernobyltyp. Ein AKW dieser Bau-
art gilt selbst unter Atomhardlinern als „nicht nachrüst-
barer Hochrisikoreakor“; darüber hinaus kann er auch
für die Produktion von waffenfähigem Plutonium einge-
setzt werden.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2467
(A) (C)
(B) (D)
Was ist von dem Vorschlag zu halten, EURATOM-
Gelder auch für die Abschaltung von AKWs zugänglich
zu machen? Auch hier wäre es fatal, der EURATOM-
Kreditlinie eine heilbringende Wirkung beizumessen.
Der Rückbau von AKW ist mit den Statuten der
EURATOM-Kreditlinie kaum zu vereinbaren. Außer-
dem muss bei dieser Fragestellung das Rad ja nicht neu
erfunden werden: Die Osteuropabank verwaltet den ei-
gens für diese Zwecke eingerichteten „Decomissioning
Fund“, der über ausreichend Gelder verfügt.
Sicherheitstechnisch stehen wir ohne die EURATOM-
Kreditlinie deutlich besser da. Aber es gibt noch ein
zweites Problemfeld, das ich in diesem Zusammenhang
ansprechen möchte: den Wettbewerb. Der „neudeutsche“
Begriff des Level Playing Field umschreibt vielleicht am
besten die Wunschvorstellung, in einem liberalisierten
Energiemarkt gleiche marktwirtschaftliche Bedingungen
für die unterschiedlichen Energieanbieter und -formen
zu schaffen. Viele staatliche Subventionen wurden des-
halb im Zuge der europäischen Liberalisierungsbestre-
bungen eingestellt. Dieser Antrag behebt also eine gern
übersehene Schieflage: Eine Kreditlinie reserviert für le-
diglich eine spezielle Form der Energieerzeugung? Gäbe
es ein solches Instrument auf nationaler Ebene, hätte sich
der Wettbewerbskommissar dem längst gewidmet. Nur
der Sonderstatus des EURATOMvertrages verhinderte in
den vergangenen Jahrzehnten hier alle Reformversuche
und somit jegliche Anpassung an die Entwicklung der
Europäischen Union. Damit muss Schluss sein; eine Son-
derwirtschaftszone Atom, finanziert durch den deutschen
Steuerzahler, ist das Letzte was wir fortsetzen wollen.
Cornelia Pieper (FDP): Die europäischen Volkswirt-
schaften, die der künftigen Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union und Russlands eingeschlossen, müssen in
den nächsten zehn Jahren grundsätzliche Entscheidungen
zu ihren Investitionen im Energiebereich treffen. Einer-
seits betrifft das den Ersatz und die Steigerung bisheriger
Kraftwerkskapazitäten, andererseits, vor dem Hinter-
grund eines weltweit wachsenden Energiebedarfs, eine
Entscheidung für bestimmte Energieträger.
Dass dieser Prozess nicht rein rational verläuft, son-
dern von scharfen ideologischen Kämpfen überlagert ist,
führt uns der energiepolitische Alleingang der deutschen
rot-grünen Bundesregierung zur scheinbaren Lösung der
Klima- und Energieprobleme deutlich vor Augen. Ich
bin der festen Überzeugung, dieser Weg ist falsch.
Auch in unserer heutigen Debatte, in der es schein-
bar „nur“ um eine Zustimmung zu einer Erhöhung der
EURATOM Kreditlinie geht, kommen wir nicht umhin,
den Tatsachen ins Auge zu blicken. Wenn wir es zulas-
sen, dass der Ausstieg aus der Kernenergie in Deutsch-
land in den nächsten Jahren in dem von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen geplanten Tempo vonstatten geht,
werden wir ernsthafte Energieprobleme bekommen. Welt-
weit wird der Energiebedarf um 40 Prozent bis 2050 stei-
gen. Heute wird weltweit der Energiebedarf zu 41 Prozent
durch Erdöl, zu 22 Prozent durch Erdgas, zu 16 Prozent
durch feste Brennstoffe – Steinkohle und Braunkohle –,
zu 15 Prozent durch Kernenergie und zu 6 Prozent durch
erneuerbare Energieträger gedeckt. Bei aller Wertschät-
zung für erneuerbare Energien teile ich die Auffassung
der Wissenschaft: Diese Energien, sei es die gewonnene
elektrische Energie aus Windkraftanlagen, aus Fotovol-
taikanlagen, aus Biomasseanlagen usw., werden unseren
Energieverbrauch auch künftig nicht decken können.
Würden wir alle Potenziale ausschöpfen, würden die
Menschen unseres Landes 30 Prozent ihres verfügbaren
Einkommens für Energie ausgeben müssen. Ich rede
heute einmal nicht über die bisherigen Auswirkungen der
so genannten ökologischen Besteuerung von Energie.
Wollen Sie von SPD und Grünen die Menschen unse-
res Landes ausbluten lassen, um sie dann an den Tropf
Ihrer scheinbar sozialen Wohltaten zu hängen? Um allein
die Leistung der deutschen Kernkraftwerke von 23,6 Gi-
gawatt zu ersetzen, bräuchten wir auf 2,2 Millionen Dä-
chern durchschnittlich 20 Quadratmeter Solarmodulflä-
chen – Kosten etwa 20 Milliarden Euro – 5 000 Windräder
vor den Küsten unseres Landes mit jeweils mindestens
2 Megawatt Leistung, Kosten etwa 15 Milliarden Euro.
Allerdings müsste dann immer die Sonne scheinen und
Wind wehen.
Herr Fell hat es an den Reaktionen auf seinen jüngs-
ten Artikel in den „VDI-Nachrichten“ schmerzlich er-
fahren müssen: Wer etwas von der Gesamtproblematik
versteht, kann den idealistischen Heilsbotschaften von
einer Welt der regenerativen Energien nicht folgen. Ich
prophezeie bereits heute: Wir werden uns schneller, als
es uns lieb ist, erneut Gedanken darüber machen, welche
Rolle die Kernenergie bis zur Mitte dieses Jahrhunderts
weiter spielen soll, vor allem vor dem Hintergrund der
Bekämpfung der globalen Erwärmung, der Versorgungs-
sicherheit und der nachhaltigen Entwicklung. Denn bei
all der Euphorie verlieren Sie Ihr umweltpolitisches Ziel,
die Reduzierung von CO2, einem ausgemachten Klima-
killer, aus dem Blickfeld.
Weltweit arbeiten derzeit 436 Kernkraftwerke. Auf le-
diglich 21 haben Sie im eigenen Lande direkten Zugriff.
Die Kernkraftwerke in der europäischen Union decken
35 Prozent unseres Strombedarfs. Da diese Reaktoren,
dank besserer Kenntnisse auf dem Gebiet der Werkstoff-
festigkeit, eine längere Lebensdauer haben als ursprüng-
lich erwartet, ist der Kernenergiesektor wettbewerbsfähig
geworden und die Betreiber erwirtschaften beachtliche
Erlöse. Sie benötigen keine staatlichen Beihilfen mehr
und nehmen im Übrigen keine EURATOM-Darlehen
mehr in Anspruch. Diese Darlehen werden gegenwärtig
zur Modernisierung der Anlagen in den Beitrittsländern
Mittel- und Osteuropas eingesetzt und dringend ge-
braucht. Hier überzeugt mich die Argumentation des An-
trages von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über-
haupt nicht.
Nehmen Sie doch zur Kenntnis, dass sowohl die Bei-
trittsländer Mittel- und Osteuropas als auch Russland auf
die Kernenergie zur Sicherung ihres Energiebedarf set-
zen und sicherlich in Zukunft auch Elektroenergie aus
Kernenergie erzeugen werden. Ich halte die Eröffnung
von Kreditlinien für die Modernisierung von Kernkraft-
werken in Mittel- und Osteuropa, die hauptsächlich rus-
sischer Bauart sind, für außerordentlich wichtig. Hier
2468 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
(A) (C)
(B) (D)
sollten wir auf keinen Fall einen Rückzug der Europä-
ischen Union unterstützen. Das bringen wir auch in un-
serem Antrag zum Ausdruck. Vielmehr müssen wir alles
daran setzen, dass die osteuropäischen Kernkraftwerke
durch den Einsatz deutscher und europäischer Sicher-
heitstechnik sicherer werden.
Es ist doch ein Treppenwitz der Geschichte, wenn ge-
rade Deutschland, was weltweit an der Spitze der Kern-
energieforschung und der Kernenergiesicherheitsfor-
schung stand und auch die Systemführerschaft für
entsprechende Technologien inne hatte, sich von der welt-
weiten Entwicklung abkoppelt und nur noch als Zu-
schauer den Weg ehemaliger deutscher Höchsttechnologi-
eunternehmen auf internationaler Bühne verfolgen kann.
Natürlich müssen wir auch unsere übernommenen
Verpflichtungen gegenüber diesen Ländern erfüllen.
Dass man Reaktoren russischer Bauart sicher machen
kann, zeigt uns die Modernisierung der zwei finnischen
Reaktoren. Mit dem EURATOM-Vertrag haben die Mit-
gliedsländer 1957 eine weitsichtige, von Verantwortung
gezeichnete Politik gemacht. Die Zusammenarbeit hat
sich bis heute bewährt. Schließlich haben wir über den
EURATOM-Vertrag die Normen für den Gesundheits-
schutz und den Strahlenschutz für die gesamte Europä-
ische Union festgelegt und wir regeln über diesen Ver-
trag auch die Verwendung radioaktiver Stoffe in der
Medizin, in der Forschung und natürlich auch in der In-
dustrie. EURATOM sichert natürlich auch die Glaub-
würdigkeit der Europäischen Union im Hinblick auf die
Nichtverbreitung von Kernmaterial. Ein wiedererwa-
chendes Interesse für den EURATOM-Vertrag und die
Tatsache, dass er eine Alternative für die Stromerzeu-
gung bietet, sorgen dafür, dass der Vertrag auch in der ge-
genwärtigen Lage nichts von seiner Aktualität einbüßt.
Das bedeutet für mich auch, dass wir im EU-Konvent
über seine künftige Bedeutung und über neue Formen der
demokratischen Verantwortung des Europäischen Parla-
ments für Fragen der Kernenergie und Kernenergiesi-
cherheit nachdenken müssen.
Ich appelliere an Sie: Erteilen Sie dem Antrag von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine entschiedene Ab-
sage, und unterstützen Sie den von Weitsicht und Verant-
wortung gezeichneten Antrag der FDP.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Für eine nachhaltige Agrarpolitik und einen
gerechten Interessenausgleich bei den lau-
fenden WTO-Verhandlungen
– WTO-Verhandlungen – Europäisches Land-
wirtschaftsmodell absichern
(Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord-
nungspunkt 9)
Dr. Sascha Raabe (SPD): Drei Viertel der Hungern-
den und Armen der Welt leben im ländlichen Raum, täg-
lich sterben 24 000 Menschen an den Folgen von Hun-
ger und Armut. Wenn wir uns das vor Augen führen,
dann wird klar, dass es in dieser Debatte nicht nur um
Agrarhandel und die Absicherung der europäischen
Agrarindustrie geht – so wie die CDU/CSU dies in ihrem
Antrag formuliert, sondern es geht auch um Hunger, es
geht um Menschenwürde und um Entwicklungschancen
für die Menschen in den ärmsten Ländern dieser Welt.
Hohe Exportsubventionen und handelsverzerrende
Direktzuschüsse der Industrieländer zerstören die Märkte
für Kleinbauern in den Entwicklungsländern. Gleichzei-
tig gehen den Entwicklungsländern durch die Importzölle
der Industrieländer circa doppelt so viele Einnahmen ver-
loren, wie sie durch die öffentliche Entwicklungszusam-
menarbeit erhalten. Diese ungerechte Welthandelsord-
nung führt zu ländlicher Armut und zum Niedergang der
Landwirtschaft in vielen Entwicklungsländern.
Es gibt aber noch einen weiteren Effekt: Der Anbau
von Coca- und Mohnpflanzen ist für viele Kleinbauern
oftmals der einzige Ausweg, um die Familie zu ernäh-
ren. Mit dem Drogenhandel werden dann wiederum
Guerrilla-, Mafia- und Terrororganisationen finanziert,
was zur Destabilisierung ganzer Länder und – wenn ich
an Südamerika denke – auch ganzer Kontinente führen
kann.
Somit fällt die Ungerechtigkeit der Weltmarktord-
nung am Ende dann wieder auf uns zurück. Es ist also in
unserem eigenen Interesse bei der Reform des Welthan-
delssystems auch für die Entwicklungschancen der ar-
men und ärmsten Länder einzutreten.
Auch die heute Vormittag geführte Debatte über ein
Zuwanderungsgesetz und die Frage von Flüchtlingen
und armutsbedingter Migration ist nicht von der Frage
nach fairen Lebensbedingungen in allen Teilen dieser
Welt zu trennen. Deshalb muss die Globalisierung fair
gestaltet und die WTO-Runde, wie in Doha angekündigt,
tatsächlich zu einer Entwicklungsrunde werden. Wenn
wir das Ziel, die Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren,
erreichen wollen, müssen wir jetzt handeln.
In unserem Antrag haben wir wichtige Vorschläge
formuliert, um die Armutsspirale zu stoppen. Exportsub-
ventionen und handelsverzerrende Direktzuschüsse der
Industrieländer für die Landwirtschaft müssen abgebaut
werden. Dadurch werden zum einen wertvolle Mittel für
die notwendige Unterstützung einer ökologischen und
nachhaltigen Landwirtschaft bei uns frei. Zum anderen
können wir mit einem Teil der frei werdenden Mittel
auch die Entwicklungsländer in die Lage versetzen, ihre
Landwirtschaft nachhaltig zu reformieren. Ziel ist es,
nicht die Agrarindustrie, sonder die kleinen und mittle-
ren bäuerlichen Betriebe bei uns und in den Entwick-
lungsländern zu stärken.
Zur besonderen Unterstützung von Kleinbauern in
Entwicklungsländern wollen wir den bevorzugten Markt-
zugang von Produkten aus fairem Handel erreichen.
Allerdings kann eine Ausweitung des Marktanteils fair
gehandelter Produkte nur dann gelingen, wenn das Be-
wusstsein der Verbraucher für die Problematik hierzu-
lande geschärft wird. Deshalb ist es außerordentlich zu
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2469
(A) (C)
(B) (D)
begrüßen, dass die Bundesregierung öffentlichkeitswirk-
same Kampagnen zugunsten des fairen Handels auswei-
tet. Ich erinnere zum Beispiel an die vor wenigen Wochen
stattgefundene „Transfair goes global“-Kampagne an-
lässlich der Einführung des neuen Fair Trade Logos.
Neben dem Abbau von Importzöllen insbesondere für
weiterverarbeitete Produkte dürfen auch keine neuen
nichttarifären Hindernisse für die Entwicklungsländer
entstehen. Deshalb müssen wir die Entwicklungsländer
durch technische und finanzielle Hilfe aktiv unterstüt-
zen, damit sie unsere ökologischen und gesundheitlichen
Standards erfüllen können.
Mit der Aufnahme einer „development box“ im
WTO-Abkommen soll die Ernährungsbasis in den Ent-
wicklungsländern gestärkt und die Bedingungen für die
Entwicklung des ländlichen Raumes verbessert werden.
Hierzu zählt auch, den Entwicklungsländern das Recht
zuzugestehen, ihren eigenen Agrarsektor insbesondere
im Bereich der Grundnahrungsmittel durch Außenschutz
und interne Stützung schützen und fördern zu können.
Ich will zum Schluss noch einmal auf die Frage der
Kohärenz unserer Politik eingehen. Denn wie die Debatte
heute zeigt, dürfen wir nicht durch falsche Weichenstel-
lungen in der Handelspolitik die Ziele der Entwicklungs-
politik gefährden. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat diesen
vernetzten Ansatz, wonach alle Ressorts in ihren Ent-
scheidungen die Wirkungen für die Entwicklungsländer
berücksichtigen sollen, zur Leitlinie unserer Entwick-
lungspolitik gemacht.
Deshalb haben wir in der Koalition unseren Antrag
eng zwischen den Fachleuten für Landwirtschaft und
Entwicklungspolitik abgestimmt. Das hätte dem Antrag
der Opposition vielleicht auch ganz gut getan. Ich finde
nämlich keinen einzigen Namen eines Entwicklungspo-
litikers der Union auf diesem Antrag. Es reicht eben
nicht, sich nur im Entwicklungsausschuss für die armen
Länder stark zu machen, sondern gerade auch in Han-
delsfragen entscheidet sich, ob wir die große Kluft zwi-
schen Nord und Süd überwinden können.
Entwicklungsländer wollen keine Almosen – Nah-
rungsmittelhilfe, um Überschüsse loszuwerden, ist meist
sogar kontraproduktiv –, sondern sie wollen in der Lage
sein, selbstständig ihre Lebensgrundlage zu erwirtschaf-
ten. Dies geht nur mit einer gerechten Welthandelsord-
nung und einer fairen Ausgestaltung der Globalisierung.
Dies ist wiederum nur durch eine kohärente Entwick-
lungspolitik zu erreichen. Deshalb bitte ich um Zustim-
mung zu diesem Antrag.
Reinhold Hemker (SPD): Die Bemühungen Deutsch-
lands im Rahmen des Strukturwandels in den ländlichen
Regionen sind Teil einer Entwicklung, die zu einem glo-
balen Agrarkonzept führen muss. Dabei muss deutlich
sein: Die Prinzipien der Kohärenz und Komplementari-
tät sind richtungsweisende, globale Elemente einer ge-
samtpolitischen Ausrichtung der EU. Dieser Ausrich-
tung ist auch Deutschland verpflichtet.
Die laufenden WTO-Verhandlungen – nicht nur bezo-
gen auf den Agrarteil in Kombination mit der Ernäh-
rungswirtschaft – legen wesentliche Bedingungen für
diese Entwicklung fest. Und unsere Landwirte und
Landwirtinnen leisten in den verschiedenen Regionen
Deutschlands schon jetzt mit einer standortgerechten
und auch ökologischen Produktionsweise einen Beitrag
dazu. Es geht darum, im Sinne des Dreiklangs der Nach-
haltigkeitskozeption die ökonomischen Kriterien mit
dem Aufbau und Ausbau der Produktion, die ökologi-
sche Notwendigkeit für die Bewahrung der Schöpfung
und die sozialen Ziele der Sicherung der Lebensverhält-
nisse bei der Schaffung und dem Erhalt der Ernährungs-
sicherheit zu berücksichtigen.
Wenn deutlich ist, dass zum Beispiel durch die Ex-
portsubventionierung von Milchpulverprodukten die
Entwicklung einheimischer Märkte, wie beispielsweise
in Tansania und Jamaika geschehen, behindert wird,
dann muss man das im Kontext Ihrer Forderung nach
„Beibehaltung der Mengensteuerung bei Milch und Zu-
cker als vorhandenes Instrument zur Stabilisierung des
Weltmarktes“ bewerten. Dabei ist klar, dass es nicht von
heute auf morgen möglich ist, bisherige Regelungen zu
beenden.
Das Gleiche gilt für den Zuckerbereich, wo natürlich
gegenüber dem Harbinson-Entwurf daraufhin gearbeitet
werden muss, dass es zu einer Differenzierung etwa zwi-
schen „kleinen“ Zuckerproduzenten wie zum Beispiel
Mauritius oder auch Kuba und den großen am Zucker-
markt beteiligten Ländern wie Brasilien kommen muss.
Hier wird es – das sage ich auch mit Blick auf diese For-
derung in Ihrem Antrag – natürlich zu Übergangs- und
auch Sonderregelungen für besonders schutzbedürftige
kleinere, arme Länder kommen müssen, wie es sie in der
Vergangenheit bereits gegeben hat.
Das gilt auch für den Rindfleischbereich, wobei hier
klar sein muss: Deutschland wird sich mit seiner heuti-
gen Produktionsweise und den damit verbundenen Men-
gen in Zukunft nicht mehr so am Weltmarkt beteiligen
können, wie es zurzeit noch geschieht.
Welche Wege beschritten und welche Methoden im
Übergang praktiziert werden müssen, wird auch im Zu-
sammenhang der EU-Agrarreform noch unter quantitati-
ven und qualitativen Aspekten zu entscheiden sein. Ich
nenne nur Stichworte wie Mutterkuhhaltung, Entkopp-
lung und damit Einzelelemente im Rahmen des Struktur-
wandels. Dazu gehören sicher auch andere Bewirtschaf-
tungsformen auf den Flächen, wo heute noch die
Grundlagen für die Zuckerproduktion vorhanden sind.
Es geht also auf der einen Seite um eine Neuorientie-
rung der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion
im Sinne einer nachhaltigen Produktion sowie den damit
verbundenen Umwelt- und Qualitätskriterien, die ja auch
im CDU-Antrag angesprochen sind, sowie auf der ande-
ren Seite um die Förderung der Entwicklungsziele der
Entwicklungsländer wozu Sascha Raabe noch etwas sa-
gen wird.
Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung – Frau
Ministerin – unter Einbeziehung des europäischen Mo-
dells einer flächendeckenden, multifunktionalen und da-
mit standortgerechten Landwirtschaft auf einen fairen
2470 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
(A) (C)
(B) (D)
Ausgleich bei den laufenden WTO-Agrarverhandlungen
hinwirken wird. Dann wird es im September in Cancun
zu einem angemessenen Ergebnis kommen. Ich freue
mich auf die Fachdiskussionen auf der Basis der vorlie-
genden Anträge.
Albert Deß (CDU/CSU): Laut rot-grüner Koalitions-
vereinbarung will sich die Bundesregierung in den lau-
fenden WTO-Verhandlungen betont uneigennützig ge-
ben: Danach muss die neue Welthandelsrunde zur
„Entwicklungsrunde“ werden und die „Einkommen der
Entwicklungsländer müssen sich verbessern“. Von den
Interessen der deutschen Wirtschaft, geschweige der
deutschen Landwirtschaft, ist in dieser Positionsaussage
mit keinem Wort die Rede. Auch wir halten eine stärkere
Berücksichtigung der Entwicklungsländer, vor allem der
ärmsten, für dringend notwendig, fordern aber im Inte-
resse der europäischen und deutschen Landwirtschaft
eine gerechte Lastenteilung insbesondere unter den ent-
wickelten Industrieländern. Wir können nur hoffen, dass
diese WTO-Passage in der Koalitionsvereinbarung – wie
andere vorher – Makulatur bleibt und die Bundesregie-
rung nach ihrer Arbeitsmethode „Versuch und Irrtum“
noch den richtigen Weg findet.
Wenig Klarheit zum deutschen Interessenstandpunkt
in den WTO-Agrarverhandlungen bringen auch die ent-
sprechenden Aussagen im Agrarbericht 2003 der Bun-
desregierung vom 5. Februar dieses Jahres. Umso dring-
licher ist eine Klärung der deutschen Haltung. Denn Ende
März sollen in Genf für die laufende WTO-Runde, die
wegen der scharfen Interessengegensätze und des daraus
folgenden Disputes in der Öffentlichkeit häufig nur als
Agrarverhandlung wahrgenommen wird, wichtige Wei-
chen gestellt werden: Die über 140 Teilnehmerstaaten ha-
ben sich auf der Ministerkonferenz im November 2001 in
Doha/Katar auf einen straffen Zeitplan geeinigt. Danach
sollen bis Ende März 2003 die so genannten Modalitäten
festgelegt werden, also Grundsätze über Verfahren und
Umfang der Verpflichtungen des angestrebten neuen
WTO-Agrarübereinkommens.
Diese „Modalitäten“ sind der Dreh- und Angelpunkt
der WTO-Agrarverhandlungen, weil sie bestimmen, wie
das endgültige Ergebnis der aktuellen Agrarhandels-
runde aussehen wird. Deswegen ist es so wichtig, dass
wir heute über Stand und Perspektiven der WTO-Agrar-
verhandlungen und insbesondere über die Vorschläge zu
den „Modalitäten“ diskutieren.
Der erste Entwurf eines solchen Modalitäten-Papiers,
das der Vorsitzende des WTO-Agrarausschusses, Stewart
Harbinson, Mitte Februar in Genf vorlegte, kann nur als
unausgewogen und einseitig zugunsten von Ländern mit
großen Ausfuhrinteressen zurückgewiesen werden. Den
Vorteil eines solchen Verhandlungsschemas hätten vor
allem die exportorientierten Staaten der Cairns-Gruppe,
die USA und weit fortgeschrittene Entwicklungsländer.
Die im Kapitel Marktzugang vorgeschlagenen Zoll-
senkungsraten von 40 bis 60 Prozent über fünf Jahre
würden in der EU bei wichtigen Produkten wie Zucker,
Milch und Rindfleisch fast jeglichen Außenschutz weg-
nehmen und dort Produktionseinschränkungen erzwingen.
Die im EG-Vertrag festgelegte Gemeinschaftspräferenz
würde dadurch unterhöhlt. Die EU-Zuckermarktordnung
mit ihrem bewährten Quotensystem würde sozusagen
durch Druck von außen gekippt. Die Deutsche Gesell-
schaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) hat erst
kürzlich in einer Studie festgestellt, dass die ärmsten
Länder der Welt bei einer Liberalisierung des Weltzu-
ckermarktes zu den größten Verlierern zählen würden.
Hingegen würde der EU-Vorschlag einer durchschnittli-
chen Zollsenkung um 36 Prozent wie in der Uruguay-
Runde zu einer gerechteren Verteilung der Lasten unter
den Industrieländern führen und den Zugang von Dritt-
ländern zum EU-Markt noch weiter verbessern. Die EU
ist ja bereits der weltweit größte Importmarkt von land-
wirtschaftlichen Erzeugnissen (2001: 60 Milliarden Dol-
lar) und importiert insbesondere aus den Entwicklungs-
ländern mit 38 Milliarden Dollar im Jahr 2002 mehr als
die USA, Kanada, Australien und Neuseeland zusam-
men. Beim verbesserten Marktzugang für Entwicklungs-
länder unterscheidet die EU in ihrem Verhandlungsange-
bot mit Recht nach dem Grad der Entwicklung und
schlägt deshalb für Importe aus den am wenigsten entwi-
ckelten Ländern Zollfreiheit vor.
Bei den Exportsubventionen hat die EU mit Vorlage
ihres WTO-Angebots Ende Januar 2003 einen weitrei-
chenden Vorschlag gemacht, nämlich Abbau aller For-
men von Ausfuhrsubventionen um 45 Prozent. Demge-
genüber sieht das Harbinson-Papier die Reduzierung der
Exportsubventionen in einem Zeitraum von fünf bis
neun Jahren und schließlich die Abschaffung vor. Der
wettbewerbsverzerrende Charakter der anderen Formen
der Ausfuhrförderung zum Beispiel der Exportkredite
der USA, der Nahrungsmittelhilfe und der Tätigkeit von
Staatshandelsunternehmen, die ein Exportmonopol be-
treiben, wird vom WTO-Vorschlag kaum ins Visier ge-
nommen. Die technischen Eingrenzungsformeln lassen
zu viel Schlupflöcher offen, als dass von einer Gleichbe-
handlung der EU-Erstattungen und der Exportförde-
rungsmaßnahmen anderer WTO-Länder wie zum Bei-
spiel der USA gesprochen werden könnte. Die US-
Exportkredite müssen aber den gleichen mengen- und
wertmäßigen Abbauschritten unterworfen werden wie
die EU-Beihilfen.
Auch sollte die EU prüfen, ob nicht die interne Men-
gensteuerung bei Milch und Zucker mithilfe des Quoten-
systems dadurch erhalten werden kann, dass sie gegen-
über den WTO-Partnern auf Exportförderung verzichtet
und die Produktion auf den EU-Binnenmarkt be-
schränkt. Denn Freihandel soll ein Instrument zur Wohl-
standssteigerung sein, nicht aber eine Ideologie. Wo die-
ses Instrument nicht zu angemessenen Erzeugerpreisen
und stabilen Märkten führt, sollten durch die ordnende
Hand der großen Welthandelspartner stabilere und ge-
rechtere Lösungen gefunden werden. Welch schlimme
Auswirkungen die Freihandelsideologie für Millionen
von Kleinbauern und Landarbeitern in den Entwick-
lungsländern hat, zeigt zum Beispiel der sprunghafte
Preisverlauf auf den Weltmärkten für Kaffee, Kakao und
Baumwolle.
Im Bereich der internen Stützung soll nach dem Mo-
dalitäten-Papier von Harbinson die so genannte green
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2471
(A) (C)
(B) (D)
box grundsätzlich beibehalten werden. Danach wären
staatliche Hilfen, die nicht an die Produktion gebunden
sind und den Handel nicht verzerren, wie zum Beispiel
Ausgleichszahlungen für Umweltauflagen oder für be-
nachteiligte Gebiete, weiterhin grundsätzlich erlaubt.
Diese Position ist nach der Logik der Handelsliberalisie-
rung eine pure Selbstverständlichkeit und kann nicht als
großes Entgegenkommen gefeiert werden. Ein Fort-
schritt aber ist es, wenn Ausgleichszahlungen für Tier-
schutzauflagen ebenfalls in die green box einbezogen
werden sollen. Dagegen ist jedoch im bisherigen WTO-
Vorschlag zu kritisieren, dass die Ausgleichszahlungen
für Agrarumweltprogramme und Tierschutz nur teil-
weise als zulässig angesehen werden.
Ebenfalls kritisch zu hinterfragen sind die bis jetzt be-
kannt gewordenen WTO-Vorschläge im Bereich der bis-
lang bedingt erlaubten staatlichen Direktzahlungen, die
als so genannte blue-box-Maßnahmen bezeichnet wer-
den, und der abzubauenden produktionsgebundenen di-
rekten Stützungsmaßnahmen der so genannten yellow
box. Die Deckelung des Stützungsniveaus in der blue
box auf dem Durchschnittsniveau der Jahre 1999 bis
2001 würde für die EU die Zulässigkeit der Getreideaus-
gleichszahlungen ausschließen, die durch die Agenda
2000 hinzukamen. Zu begrüßen ist, dass die staatlichen
Zahlungen im Rahmen der so genannte de-minimis-Re-
gelung abgebaut werden sollen. Von diesem Schlupfloch
haben bislang die USA stark profitiert, da Agrarsubven-
tionen von weniger als 5 Prozent des Wertes der Erzeu-
gung bei der Berechnung der Senkungsverpflichtungen
nicht angerechnet wurden. Über diese Ausnahmerege-
lungen zahlen die USA derzeit 8 Milliarden Dollar jähr-
lich an wettbewerbsverzerrenden Agrarsubventionen.
Deswegen muss die EU ihre Forderung nach Beseiti-
gung dieses Schlupfloches mit Nachdruck weiterverfol-
gen. Nur so können für alle Industrieländer gleiche Wett-
bewerbsbedingungen geschaffen werden.
Nicht hinnehmbar in den bisher bekannt gewordenen
WTO-Vorschlägen ist schließlich für die EU das fast völ-
lige Fehlen ihrer nicht handelsbezogenen Anliegen. Mit
Ausnahme der schwachen Berücksichtigung der Aus-
gleichszahlungen für Tierschutz fehlt jeglicher Hinweis
auf geographische Ursprungsbezeichnungen, das Vorsor-
geprinzip im Verbraucherschutz und verbesserte Kenn-
zeichnungsmöglichkeiten. Die EU muss ihr volles Ver-
handlungsgewicht einsetzen, um Fördermaßnahmen zum
Schutz der Umwelt, der traditionellen Landschaften, der
Tiere, der biologischen Vielfalt sowie für die ländliche
Entwicklung und für die Lebensmittelsicherheit in vol-
lem Umfang in die Kategorie der zulässigen öffentlichen
Hilfen, das heißt in die green box, zu bringen. Nur so
kann es gelingen, das europäische Agrarmodell einer
multifunktionalen und wettbewerbsfähigen Landwirt-
schaft durchzusetzen. Die europäische Landwirtschaft
soll nicht nur Lebensmittel und Rohstoffe produzieren,
sondern auch die Kulturlandschaft erhalten und pflegen,
Boden, Wasser und Luft schützen sowie die Artenvielfalt
bewahren.
Die EU-Kommission hat das WTO-Modalitäten-Papier
zu Recht als unausgewogen und unzureichend kritisiert.
Wir unterstützen diese Kritik, müssen aber hinzufügen,
dass die EU-Kommission ihre Verhandlungsposition ins-
besondere gegenüber den USA und der Cairns-Gruppe
durch die kürzlich vorgestellten Vorschläge für eine wei-
tere, die dritte Reform der gemeinsamen Agrarpolitik
nach der Reform von 1992 und den Agenda-2000-Be-
schlüssen von 1999 selbst schwächt. Sie wiederholt da-
mit denselben taktischen Fehler wie in der Uruguay-
Runde, wo auch parallel zu den Handelsverhandlungen
von der damaligen EU-Kommission eine EU-Agrarre-
form betrieben wurde. Zwar hat die EU zu Recht Ende
Januar 2003 in Genf ein konkretes Angebot für die
WTO-Agrarverhandlungen in den Bereichen Marktzu-
gang, Exportförderung und interne Stützung vorgelegt.
Damit konnte sie vermeiden, als Bremser in den WTO-
Verhandlungen dazustehen, die sich ja auch noch auf an-
dere große Sektoren wie den Handel mit gewerblichen
Gütern und Dienstleistungen erstrecken. Diese nach au-
ßen gerichtete Position wird aber unterhöhlt, wenn man
fast zeitgleich intern für die gemeinsame Agrarpolitik
eine so tiefgreifende Reform in Angriff nehmen will, wie
sie in den Legislativvorschlägen der EU-Kommission
vom 22. Januar 2003 enthalten ist. Die internen EU-Re-
formvorschläge mit dem Kernstück der „Entkoppelung“
und den über die Agenda-Beschlüsse hinausgehenden
Stützpreissenkungen bei Getreide und Milch werden von
den WTO-Verhandlungspartnern stillschweigend als
vorgezogene Zugeständnisse wahrgenommen, für die sie
kaum mehr eine Gegenleistung erbringen wollen. Eine
taktisch kluge Verhandlungsführung hätte es bei einem
Verhandlungsangebot auf der Grundlage der Agenda-
Beschlüsse belassen. Wenn dann im Laufe der Verhand-
lungen zusätzliche Zugeständnisse nötig werden sollten,
reichte es aus, diese Kompromisse nach Verhandlungs-
ende durch eine Anpassung der gemeinsamen Agrarpoli-
tik umzusetzen. Dieser Meinung war EU-Kommissar
Fischler selbst noch vor einiger Zeit. So erklärte er auf
der Konferenz Agra-Europe am 29. Juni 1999 in Brüssel,
dass durch die Agenda-Beschlüsse die EU für die weite-
ren WTO-Verhandlungen gerüstet und ein Konsens für
das europäische Agrarmodell erreicht sei, das nunmehr
konsolidiert werden müsse.
Ich kann mich nur der massiven Kritik des französi-
schen Staatspräsidenten Chirac zu den kürzlich vorge-
legten EU-Reformvorschlägen anschließen, der auf der
Eröffnung der Internationalen Landwirtschaftsmesse in
Paris am 22. Februar dieses Jahres wörtlich erklärte – ich
zitiere die Übersetzung in der Zeitschrift „Agra-Eu-
rope“: „Ich habe nicht verstanden, warum Kommissar
Dr. Fischler mit einer Dickköpfigkeit, die bester Absicht
würdig wäre, es für notwendig befunden hat, neue Vor-
schläge zu unterbreiten und die Entscheidung des Euro-
päischen Rates in beeindruckender Weise zu ignorieren.“
Chirac fuhr dann fort, dass die Initiative der EU-Kom-
mission missraten sei, da sie gegen die Brüsseler Gipfel-
beschlüsse verstoße, sie sei zugleich vergeblich, da sie
keine Chance habe, angenommen zu werden. Die
Agenda-Beschlüsse seien auf dem EU-Gipfeltreffen im
Oktober 2002 bestätigt worden, sodass jegliche Ände-
rung vor 2006 ausgeschlossen sei.
Ich hoffe, dass diese deutliche Aussage des französi-
schen Staatspräsidenten auch von den WTO-Partnern
2472 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
(A) (C)
(B) (D)
verstanden wird. Sie sollen sich keine Hoffnung machen,
dass die Kommissionsvorschläge zur Reform der ge-
meinsamen Agrarpolitik bereits vorgezogene EU-Zuge-
ständnisse bedeuten, die nicht mehr durch Gegenleistun-
gen honoriert werden müssten. Die europäischen und
damit auch die deutschen Landwirte haben also einen
Anwalt in Paris. Bei der eigenen rot-grünen Bundesre-
gierung sind die Anliegen der deutschen Landwirte we-
der bei der Diskussion um die erneute EU-Agrarreform
noch bei den laufenden WTO-Verhandlungen gut aufge-
hoben. Frau Künast hat an den EU-Reformvorschlägen
wenig auszusetzen und begrüßt sie grundsätzlich. In
gleicher Weise verkennt die rot-grüne Bundesregierung
auch ihre Aufgaben in der derzeitigen WTO-Runde, wie
die blutleeren Aussagen zu den WTO-Verhandlungen im
rot-grünen Koalitionsvertrag beweisen.
Frau Künast, die sich so gern des guten Einverneh-
mens mit ihrem französischen Kollegen Gaymard rühmt,
sollte dann aber auch dessen gutes Beispiel in der Inter-
essenvertretung nachahmen. So reiste der französische
Landwirtschaftsminister Gaymard Ende Januar 2003 für
zwei Tage nach Washington und traf mit allen amerika-
nischen Gesprächspartnern zusammen, die im Agrar-
und Handelsbereich wichtig sind, nämlich mit der ameri-
kanischen Landwirtschaftsministerin Ann Veneman,
dem US-Handelsbeauftragten Robert Zoellick, der für
die USA die WTO-Verhandlungen führt, mit dem Präsi-
dentenberater für Agrarfragen, Chuck Conner, sowie mit
zuständigen Senatoren und Kongressabgeordneten. In
diesen Gesprächen konnte er für die Erhaltung des euro-
päischen Agrarmodells und die Durchsetzung der nicht
handelsbezogenen Aspekte in den WTO-Verhandlungen
werben. Leider werden wir bei Frau Künast vergeblich
auf einen solchen Einsatz für die europäischen und deut-
schen Agrar- und Verbraucherschutzinteressen warten
müssen. Denn wer wie Frau Künast – und das auch noch
entgegen der ausdrücklichen Bitte des Bundeskanzlers
an die Mitglieder seines Kabinetts – auf Demonstratio-
nen hinter Transparenten und Schildern herläuft, auf de-
nen der amerikanische Präsident diffamiert wird, dürfte
sich schon schwer tun, einen Gesprächstermin beim
Handelsattaché der amerikanischen Botschaft in Berlin
zu bekommen.
Die CDU/CSU-Fraktion wird aber nicht ablassen, die
deutschen Bauern darüber aufzuklären, dass die Ein-
fluss- und Einwirkungsmöglichkeiten der rot-grünen
Bundesregierung gegenüber unserem wichtigsten über-
seeischen Handelspartner durch grob fahrlässige Brüs-
kierung gegen Null tendieren und wer dafür die Verant-
wortung trägt. Die Folgen werden leider auch die
deutschen Landwirte zu tragen haben. Doch werden wir
alles in unserer Macht Stehende tun, der deutschen
Land- und Ernährungswirtschaft auch in und nach den
laufenden WTO-Verhandlungen eine Perspektive zu er-
halten.
Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU): Haben
Sie schon einmal davon gehört, dass es einen freien
Weltmarkt für Kulturlandschaften gibt? Haben Sie schon
einmal davon gehört, dass Kulturlandschaften, dass
Standards für Umwelt- und Verbraucherschutz an den in-
ternationalen Börsen gehandelt werden?
Europa steht heute für ein Modell einer umwelt-
freundlichen, nachhaltigen multifunktionalen und flä-
chendekkenden Landwirtschaft mit hohen Standards in
den Bereichen Gesundheits-, Tier- und Umweltschutz.
Unsere Landwirtschaft ist es, die den ländlichen Raum
seit Jahrhunderten prägt und gestaltet und zu ihrer wirt-
schaftlichen und kulturellen Stabilisierung beiträgt. Es
liegt an uns, besonders an der Bundesregierung, dieses
Modell jetzt und heute zu verteidigen und abzusichern.
Seit letztem Monat liegen die Vorschläge des Vorsit-
zenden der WTO-Agrarverhandlungsgruppe, Steward
Harbinson, in der aktuellen WTO-Runde auf dem Tisch.
Dieses Papier hat den Europäern sozusagen die Schuhe
ausgezogen. Ein Aufschrei aller Agrarminister durchfuhr
Europa. So voller Eintracht hat man die Ministerrunde
lange nicht mehr erlebt. Diese Harbinson-Vorschläge
kommen den Forderungen der so genannten Cairns-
Gruppe und den USA deutlich mehr entgegen als der eu-
ropäischen Landwirtschaft. Die Vorschläge sind unaus-
gewogen. Sollten sie so durchkommen, geht es um Sein
oder Nicht-Sein der europäischen Landwirtschaft.
Die WTO-Agrarverhandlungen wurden entsprechend
Art. 20 des Übereinkommens über die Landwirtschaft
Anfang 2000 aufgenommen. Nach den Beschlüssen der
Ministerkonferenz in Doha im November 2001 zum
Agrarhändel gab es klare Leitlinien. Die WTO-Mitglie-
der waren gehalten, ihre Verhandlungsvorschläge im
Agrarbereich bis Ende des Jahres 2002 vorzulegen. Die
Kommission ist dieser Verpflichtung im Januar 2003
nachgekommen. Bis Ende März sollen nun die so ge-
nannten Modalitäten eines neuen WTO-Agrarüberein-
kommens im September 2003 festgelegt werden.
Die EU ist der zweitgrößte Agrarexporteur der Welt.
Der Zugang zu internationalen Märkten ist für sie von
großer Bedeutung. Der amerikanische Markt für Milch-
produkte ist beispielsweise für die Exporte der EU noch
verschlossen. Japan lässt noch nicht so viel Schweine-
fleisch auf seinen Markt, wie die EU liefern könnte. Die
EU-Exporte an verarbeitenden Nahrungsmitteln werden
immer noch durch viele hohe Zölle behindert. Der
Schutz und die Anerkennung von Produkt- und Her-
kunftsangaben sind in der WTO noch unbefriedigend ge-
regelt.
Die EU hat aber auch Vorleistungen erbracht und in
der Vergangenheit selbst den Liberalisierungsprozess
durch den Abbau von Zöllen und des Außenschutzes be-
sonders unterstützt: Nach den Vereinbarungen der Uru-
guay-Runde sind im Zeitraum 1995/96 bis 2000/2001
der Außenschutz von Agrarprodukten um insgesamt
36 Prozent, die subventionierten Exporte mengenmäßig
um 21 Prozent, budgetmäßig um 36 Prozent sowie die
internen Stützungsmaßnahmen um 20 Prozent zurückge-
führt worden.
Die EU wird sich nun einer weiteren Öffnung der ei-
genen Märkte im Rahmen der laufenden WTO-Verhand-
lungen auch nicht verschließen. Die Kommission muss
sich allerdings den Vorwurf gefallen lassen, mit ihrem
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2473
(A) (C)
(B) (D)
weit gehenden Fischler-Vorschlag an die WTO Herrn
Harbinson zu seinen erstaunlichen Thesen ermutigt zu
haben. Nach Überlegungen der EU-Kommission sollen
– an die Vereinbarung der Uruguay-Runde anknüpfend –
die Importzölle auf landwirtschaftliche Erzeugnisse in
der laufenden WTO-Runde durchschnittlich um 36 Pro-
zent, die Ausgaben für Ausfuhrerstattungen um 45 Pro-
zent und die interne handelsverzerrende Agrarstützung
um weitere 55 Prozent reduziert werden.
Der Vorschlag beinhaltet auch spezifische Maßnah-
men, den Entwicklungsländern deutlich bessere Bedin-
gungen einzuräumen: zollfreier Zugang aller Agraraus-
fuhren ohne Mengenbeschränkung für die ärmsten
Länder der Welt. Die Kommission schlägt einen Zollsatz
Null für mindestens 50 Prozent aller Agrareinfuhren der
Industrieländer aus Entwicklungsländern vor sowie eine
so genannte Box Ernährungssicherheit, um eine Förde-
rung der Entwicklung zu ermöglichen und die für die Le-
bensmittelversorgung wichtigen Anbaukulturen durch
besondere Schutzklauseln zu erhalten. Besonders betont
der Vorschlag noch einmal die wichtige Rolle nicht han-
delsbezogener Anliegen wie Umweltschutz, Entwick-
lung des ländlichen Raumes und Tierschutz.
Die Vorschläge der Kommission gehen in einigen Be-
reichen über die Möglichkeiten der Agenda 2000 hinaus.
Die Kommission hat zu früh Verhandlungsspielräume
aufgegeben. Es war abzusehen, dass mit diesem konkre-
ten Angebot der Kommission die Richtung eines weite-
ren Abbaus der Tarife vorgezeichnet war, ohne dass ein
nennenswerter Fortschritt bei den nicht handelsbezoge-
nen Aspekten als Ausgleich für die vielfältigen, Kosten
verursachenden Auflagen, denen die europäischen Bau-
ern unterliegen, absehbar war. Zudem scheinen die
WTO-Verhandlungspartner die neuen EU-Reformvor-
schläge des Kommissars Franz Fischlers zur Landwirt-
schaft als gegebene Zugeständnisse hinzunehmen, für
die sie keine Gegenleistung erbringen wollen.
Der freie Welthandel, Abbau von Zöllen und anderer
Handelshemmnisse, die Verflechtung der Weltwirtschaft
zur Förderung des Wohlstands in der Welt sind Ziele der
Welthandelsorganisation. – Ziele, die es zu unterstützen
gilt. Aber ich muss es deutlich sagen: Der Liberalisie-
rungsprozess muss unter fairen Bedingungen erfolgen.
Ich möchte einige Eckpunkte des Harbinsons-Papiers
nennen, die eine Gefahr für unser europäisches Land-
wirtschaftsmodell bedeuten würden:
Erstens. Kapitel Marktzugang: Der Außenschutz der
gemeinsamen Agrarpolitik wird durch das Harbinson-
Papier infrage gestellt. So sollen besonders hohe Ein-
fuhrzölle in einem rasanten Tempo bis zu 60 Prozent
vermindert werden. Hiervon wären insbesondere Zucker,
Milch und Rindfleisch betroffen.
Ich möchte die Konsequenzen an einem Beispiel
deutlich machen: Zucker. Zucker, der nicht aus AKP-
Ländern kommt, wird zurzeit von der EU mit einem
Wertzoll von rund 180 Prozent belegt und müsste nach
dem Harbinson-Vorschlag innerhalb von fünf Jahren auf
72 Prozent vermindert werden. Sollte dieser Vorschlag
so realisiert werden, wird von der Zuckermarktordnung
in Europa nichts übrig bleiben. Der EU-Vorschlag würde
dagegen eine Senkung der Zölle von 36 Prozent bedeu-
ten. Dies würde den Zugang von Drittländern zum EU-
Markt erleichtern, auf der anderen Seite aber auch zu ei-
ner fairen Lastenverteilung der Industrieländer führen.
Der Zollabbau darf beim EU-Außenschutz nicht weiter-
hin einseitig zulasten der EU gehen.
Zweitens. Kapitel Exportsubventionen: Das Harbinson-
Papier sieht zunächst eine Reduzierung in einem Zeit-
raum von fünf bis neun Jahren vor und schließlich ihre
Abschaffung. Bei den Exporthilfen sollten allerdings alle
Formen wie Exportkredite, Nahrungsmittelhilfen, Staats-
handelsunternehmen gleichwertig mit einbezogen wer-
den, um wettbewerbsverzerrende Entwicklungen zu un-
terbinden. So müssen zum Beispiel die US-Kredite den
gleichen mengen- und wertmäßigen Abbauraten unter-
liegen wie die Exportbeihilfen der Europäischen Union.
Drittens. Kapitel Interne Stützung: Mit größter Sorge
müssen die WTO-Vorschläge zur so genannten Blue Box
betrachtet werden. Diese betrifft die Direktbeihilfen der
Landwirte der EU. Hier ist ein Abbau um 50 Prozent in-
nerhalb von fünf Jahren vorgesehen. Die Folgen für die
landwirtschaftlichen Betriebe wäre verheerend. Der Ab-
bau der in der Gelben Box zusammengefassten Preisstüt-
zungsmaßnahmen um 60 Prozent ist ebenso abzulehnen.
Damit wird dem unterschiedlichen Grad an handelsver-
zerrender Wirkung nicht ausreichend Rechnung tragen.
Völlig unberücksichtigt blieben zudem die von Kommis-
sion gemachten jüngsten Reformvorschläge für weitere
Getreide- und Milchsenkungen sowie die von der EU
verfolgten handelsbezogenen Anliegen wie der Schutz
von geographischen Ursprungsbezeichnungen oder die
Verankerung des Vorsorgeprinzips im Verbraucherschutz.
Der Entwurf stellt, die gemeinsame Agrarpolitik in
weiten Bereichen grundsätzlich infrage. Die EU könnte
die vorgeschlagenen Senkungsverpflichtungen weder
mit der geltenden gemeinsamen Agrarpolitik erbringen
noch auf Grundlagen der von der EU-Kommission neu
vorgelegten Vorschläge zur Halbzeitbewertung der
Agenda 2000. Letztendlich würden die Harbinson-Vor-
schläge dazu führen, dass viele Betriebe in der EU nicht
mehr existenzfähig wären und aufgeben müssten. Eine
flächendeckende Landbewirtschaftung wäre nicht mehr
möglich, die ländlichen Räume nicht mehr lebensfähig.
Insgesamt würde mit dem Vorschlag von Harbinson die
Gestaltung einer nachhaltigen und wettbewerbsfähigen
Landwirtschaft, die unter hohen Standards im Umwelt-,
Tier- und Verbraucherschutz wirtschaftet, verhindert.
Das Harbinson-Papier soll in den folgenden Wochen
überarbeitet werden. Es muss daher auf jeden Fall ver-
hindert werden, dass sich die Kommission in den Ver-
handlungen der folgenden Wochen auf einen Kompro-
miss zulasten der Landwirte einläßt.
Die Bundesregierung steht hier in einer öffentlichen
Verantwortung. Nun ist die Frau Ministerin Künast und
ihr Einsatz gefragt. Im Länderbeobachterbericht zum Rat
aus Brüssel, wo die Harbinson-Vorschläge zur Diskus-
sion standen, konnte man leider folgendes über die deut-
sche Ministerin lesen:
2474 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
(A) (C)
(B) (D)
„Frau Künast, die, wie ihre Vorredner, einige Haupt-
kritikpunkte an dem Harbinson-Papier ansprach, gab
aber auch (vorsichtig) zu bedenken, die Landwirtschaft
sei nur einer von mehreren Bereichen bei den WTO-Ver-
handlungen, man müsse eine Balance finden zwischen
der Liberalisierung und den berechtigten, mittelfristigen
Anliegen der Gesellschaft.“
Eine solche Aussage kann man wohl nicht als verant-
wortungsvolles Handeln für die deutsche und europäi-
sche Landwirtschaft bezeichnen.
Die Franzosen zeigen da einen ganz anderen Einsatz.
Der französische Landwirtschaftminister Herve Gaymard
wies das Harbinson-Papier als „inakzeptabel und völlig
unausgeglichen“ zurück. Das nenne ich einen klaren
Standpunkt.
Die Landwirtschaft darf in den WTO-Verhandlungen
nicht als Wechselgeld für die Interessen anderer Ressorts
benutzt werden. Das europäische Landwirtschaftsmodell
steht auf dem Spiel. Es ist von größter Dringlichkeit,
dass das hohe europäische Niveau des Gesundheits-,
Tier- und Umweltschutzes in dem neuen Welthandelsab-
kommen integriert wird. Das heißt auch, dass die in die
EU importierten Produkte unseren Standards entspre-
chen oder verständlich gekennzeichnet werden. Die hö-
heren Kosten für strengere europäische Produktions-
standards müssen zudem in der WTO ausgleichsfällig
werden.
Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass die Interessen
der Entwicklungsländer verstärkt berücksichtigt werden
müssen und ihnen eine Präferenzbehandlung in einer fai-
ren Welthandelsordnung zusteht. So muss zum Beispiel
garantiert werden, dass die Agrarproduktion in den Ent-
wicklungsländern nicht durch subventionierte Agrarex-
porte in diese Länder gefährdet wird. Auf der anderen
Seite muss der unterschiedliche Entwicklungsgrad ein-
zelner Länder berücksichtigt werden. Geschieht dies wie
im Harbinson-Papier nicht, werden Schwellenländer mit
extrem kostengünstigen Produktionsweisen bevorteilt,
die Umwelt-, Tierschutz- und Sozialstandards keine Be-
achtung schenken.
Ich fordere den Einsatz der Regierung für die Land-
wirtschaft und den ländlichen Raum auf internationalem
Parkett.
Das Engagement für die heimische Landwirtschaft ist
ja durchaus begrenzt: Die starken Einkommensrück-
gänge in der Landwirtschaft können doch nur als Resul-
tat der rot-grünen Politik gewertet werden.
Rot Grün beschränkt ihre Politik auf 3 Prozent der
Ökobetriebe und plant dann an 97 Prozent der restlichen
Landwirtschaft vorbei. Rot- Grün projiziert in der Öf-
fentlichkeit Schwarz-Weißgemälde mit Schlagwörtern
wie „Klasse statt Masse“ und propagiert damit eine
Agrarpolitik, die ausschließlich auf Marktnischen setzt.
Sie vernachlässigen damit den Rest der Landwirtschaft
und das Problem ihrer internationalen Wettbewerbsfä-
higkeit. Im Koalitionsvertrag .wird von einer wettbe-
werbsfähigen Landwirtschaft gesprochen. Rot-Grün be-
lastet sie dann, aber mit immer mehr Steuern, Auflagen
und Bürokratie. So werden Arbeitsplätze und die Exis-
tenzen vieler Unternehmen in der Land und Forstwirt-
schaft gefährdet. Die rot-grüne Politik der nationalen Al-
leingänge verursacht gerade diese Entwicklung. Die
deutsche Landwirtschaft ist aber nur dann wettbewerbs-
fähig, wenn sie sich auch im Kostenwettbewerb interna-
tional behaupten kann.
Liberalisierung, Globalisierung sind immer nur Mittel
zum Zweck. Der Erhalt unserer Kulturlandschaft und
hohe Standards sind aber Werte, die unseren ganzen Ein-
satz fordern. Für unsere Kinder soll das Leben und Wirt-
schaften auf dem Hof im Dorf, Ackerbau, bestellte Fel-
der und Viehzucht nicht zu Bilder aus Büchern
vergangener Tage werden.
Landwirtschaft wird auch mit agriculture übersetzt.
Verantwortungsvolles Händeln ist gefragt: für ein euro-
päisches Landwirtschaftsmodell, zur Zukunftssicherung
der landwirtschaftlichen Betriebe und für den Erhalt der
Kulturlandschaft in Deutschland.
Thilo Hoppe (Bündnis 90/Die Grünen): Was wir hier
zu nächtlicher Stunde diskutieren, ist kein Randthema
sondern betrifft das wichtigste Menschenrecht überhaupt
– das Recht auf Leben, auf Überleben, das Recht auf
ausreichend Nahrung.
Es ist ein Skandal ersten Ranges, dass mehr als 800
Millionen Menschen auf dieser Welt dieses elementare
Menschenrecht vorenthalten wird. Mehr als 800 Millio-
nen Menschen hungern, nicht etwa weil die Äcker dieses
begrenzten Globus nicht mehr hergeben, nicht weil es
weltweit zu wenig Nahrungsmittel gibt, sondern weil et-
was faul ist im internationalen Agrarhandel, in den
Strukturen der Weltwirtschaft, und hinzu kommen kata-
strophale Fehlentscheidungen, „bad governance“ einzel-
ner Regierungen. Simbabwe ist dafür ein besonders
krasses Beispiel.
Diese Fehler, die auf das Konto von einigen unfähi-
gen Regierungen im Süden gehen, dürfen aber nicht dar-
über hinwegtäuschen, dass die meines Erachtens größten
Ursachen für den Hunger in der Welt eher bei uns zu su-
chen sind. Sie lagen früher im Kolonialismus und sie lie-
gen heute in den ungerechten Strukturen der Weltwirt-
schaft.
Die reicheren Länder dieser Welt, die 27 OECD-Staaten, sub-
ventionieren ihre Landwirtschaft jährlich mit weit mehr als
300 Milliarden Dollar. Ich hatte bei meiner Rede im No-
vember ein Zahlenspiel mit der subventionierten europä-
ischen Kuh angeführt. Ich muss das korrigieren. Meine
Zahlen waren nicht korrekt. Die wahren Werte sind noch
krasser. Laut Weltbank wurde im letzten Jahr jede Kuh
in Europa mit 2,5 Dollar pro Tag subventioniert – wäh-
rend die Hälfte der Menschheit mit weniger als 2 Dollar pro Tag
auskommen muss.
Besonders verheerend für die Entwicklungsländer
wirken sich die Exportsubventionen im Agrarbereich
aus. Ich will das mit einem Beispiel illustrieren, das mir
in Brasilien begegnete: Da gibt es einen Ort mit dem Na-
men Withmarsum – ich hätte glauben können, wieder in
meiner ostfriesischen Heimat angelangt zu sein – einen
Ort, geprägt von deutschen Auswanderern, in dem es
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2475
(A) (C)
(B) (D)
noch eine gut funktionierende bäuerliche Landwirtschaft
gibt – nein gab, muss man jetzt bald sagen. Dort sind
schwarzbunte Kühe zu sehen, die eine qualitativ hoch-
wertige Milch geben, mit der der regionale Markt be-
dient wird.
Die Region könnte sich für Renate Künasts Wettbe-
werb „Regionen aktiv“ bewerben. Doch in letzter Zeit
wird auch in Withmarsum der Markt überschwemmt mit
H-Milch – gemixt aus brasilianischem Leitungswasser
und Milchpulver aus der Europäischen Union, hoch sub-
ventioniert und deshalb extrem billig, sodass die With-
marsumer Bauern nicht mehr mithalten können und bald
vor dem Ruin stehen.
Und ähnliche Vorgänge sind überall in der so genannten
Dritten Welt zu sehen. Auch das, was mit Projekten der
Entwicklungszusammenarbeit aufgebaut wird – funktio-
nierende ländliche Strukturen, die der Versorgung der Be-
völkerung mit Grundnahrungsmitteln dienen –, wird durch
Dumping aus Europa oder den USA wieder zerstört.
Es gibt – und jetzt werden wir hoffentlich bald sagen
können: es gab mit Blick auf die europäische Entwick-
lungs- und Agrarpolitik ein erhebliches Kohärenzprob-
lem: Was die eine Hand aufbaute, wurde von der anderen
wieder eingerissen.
Ich bin deshalb sehr froh, dass es gelungen ist, Agrar-
und Entwicklungspolitiker an einen Tisch zu bekommen.
Der Antrag, der heute eingebracht wird, ist ein Plädoyer
für eine nachhaltige Agrarpolitik, die dem Umwelt- und
Landschaftsschutz gerecht wird, den Verbraucherschutz
berücksichtigt und weltweit zur Ernährungssicherheit,
zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung, beiträgt.
In der WTO wird ein neues Agrarabkommen verhan-
delt. Die Vorschläge, die bisher auf dem Tisch liegen – be-
sonders der Vorschlag des WTO-Landwirtschaftssekre-
tärs Stuart Harbinson –, gehen in die falsche Richtung,
weil sie sowohl die Agrarwende in Europa, den Trend
hin zu einer nachhaltigen, umweltgerechten Landwirt-
schaft, gefährden – als auch, weil sie den berechtigten
Interessen der Entwicklungsländer nicht gerecht werden.
Wir wollen, dass sich Deutschland aktiv dafür ein-
setzt, dass sich auch die Europäische Kommission bei
den WTO-Agrarverhandlungen noch weiter bewegt und
einen überzeugenden Beitrag zur Überwindung des Hun-
gers leistet. Die Kernforderungen unseres Antrags, bei
dem Agrar- und Entwicklungspolitiker an einem Strang
ziehen: drastischer Abbau der Agrarexportsubventionen
(und zwar mit der Perspektive „auf null“), Schaffung an-
derer Förderkulissen, die sich nicht handelsverzerrend
auswirken. Wenigstens ein Teil der durch den Wegfall
der Agrarexportsubventionen frei werdenden Gelder soll
in die Entwicklungszusammenarbeit fließen – und zwar
in die Stärkung der Landwirtschaft und die Weiterverar-
beitung von Agrarprodukten in den Ländern, die am
meisten unter Hunger zu leiden haben. Ja zu einer „deve-
lopment box“ für die Entwicklungsländer, damit diese
im Hinblick auf die Ernährungssicherung ihre Märkte
schützen können vor dumping. Und schließlich: substan-
zielle Öffnung unserer Märkte für Agrarprodukte aus
den Entwicklungsländern.
Wir möchten, dass sich die EU in diesem Sinne enga-
giert und mit dazu beiträgt, dass die so genannte Doha-
Runde wirklich zu einer Entwicklungsrunde wird. Es
geht uns um eine Agrarwende weltweit, die sowohl un-
sere Landwirtschaft als auch die Landwirtschaft in den
Ländern des Südens auf eine solide Grundlage stellt –
die sowohl hier als auch dort die Bauern in die Lage ver-
setzt, das „täglich Brot“ zu liefern und die Menschen mit
ausreichender und gesunder Nahrung zu versorgen.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Das Ergebnis
der WTO-Verhandlungen gestaltet wichtige Bereiche des
Agrar-Welthandels für die kommenden Jahre. Die Ver-
antwortung aller Teilnehmer ist groß und sollte getragen
werden vom gemeinsamen Interesse an einer einer glo-
balen Entwicklung, die allen Menschen Zukunftsper-
spektiven bietet.
Im Interesse einer friedlichen und nachhaltigen Ent-
wicklung weltweit wollen wir einerseits erreichen, dass
Rahmenbedingungen erhalten werden, die eine flächen-
deckende Landwirtschaft in Europa ermöglichen, und
andererseits wollen wir den Entwicklungsländern den
Zugang zu unseren Märkten öffnen und verhindern, dass
in den ärmsten Ländern der Welt die eigenen bäuerlichen
Strukturen durch subventionierte Importe zerstört wer-
den. Dies ist ein äußerst schwieriger Balanceakt.
Wir wollen den Hunger in der Welt mindern, das
Recht auf Nahrung verwirklichen helfen, den Entwick-
lungsländern mehr Chancen für Entwicklung durch Auf-
bau einer eigenen Landwirtschaft geben. Gleichzeitig
müssen wir dafür Sorge tragen, dass der Strukturwandel
in unserer Landwirtschaft sich nicht weiter beschleunigt
und mehr Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen ver-
nichtet, als neue in den verschiedenen Wirtschaftsberei-
chen geschaffen werden.
Die Landwirtschaft wird, mit wenigen Ausnahmen,
weltweit subventioniert. Das ist keine Entschuldigung
für weitere Subventionen, aber dies muss beachtet wer-
den, wenn an die eigene Landwirtschaft die Forderung
gerichtet wird, auf staatliche Hilfen völlig zu verzichten.
Die WTO-Verhandlungen brauchen einen fairen Aus-
gleich der teilweise sehr unterschiedlichen Interessen der
145 WTO-Staaten. Nach Auffassung der FDP sollten
folgende Ansätze verfolgt werden: Die Öffnung der
Märkte soll einen besseren Wettbewerb ermöglichen und
den Entwicklungsländern Zugang zu unseren Märkten
verschaffen. Die EU will ihre hohen Standards in der Le-
bensmittelsicherheit, im Umweltschutz und im Tier-
schutz sichern; die Entwicklungsländer brauchen
Schutzräume, um durch Verbesserung ihrer wirtschaftli-
chen Strukturen die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte
zu erhöhen.
Dies bedeutet für die WTO-Verhandlungen: Die han-
delsverzerrenden Exportsubventionen, Schutzzölle,
Marktbeschränkungen müssen sukzessive abgebaut wer-
den. Dies muss für alle gelten, auch die von den USA
unter dem Deckmantel der „De-Minimis-Regeln“ einge-
führte Agrarförderung. Um die Europäischen Interessen
durchzusetzen, braucht die EU eine starke Position. Da-
2476 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
(A) (C)
(B) (D)
her sollten wir bei der Reform der Agenda 2000 keine
Vorleistungen erbringen, die bei den WTO-Verhandlun-
gen nicht angerechnet werden. Das bedeutet, dass eine
Beschlussfassung über die Fischler-Vorschläge erst er-
folgen kann, wenn die WTO-Verhandlungen abgeschlos-
sen sind. Die Harbinson-Vorschläge sind unausgewogen
und daher ungeeignet, bei den WTO-Verhandlungen als
Grundlage zu dienen. Ihre Umsetzung wäre das Ende der
flächendeckenden, multifunktionalen Landwirtschaft in
Europa. Wir brauchen Sonderregelungen für Entwick-
lungsländer, die sich an deren Entwicklungsstand orien-
tieren.
Das Ergebnis der WTO-Verhandlungen wird an die
Zukunft der Agrarförderung in Europa besondere Anfor-
derungen stellen, denen die Reform der Agenda 2000
gerecht werden muss.
Die FDP ist darauf vorbereitet. Wir haben mit unse-
rem Modell einer Kulturlandschaftsprämie einen Vor-
schlag zur Diskussion gestellt, der die Agrarförderung
auf eine neue Grundlage stellt: Die staatliche Förderung
der Landwirtschaft wird von der Produktion entkoppelt
und vermeidet damit die Nachteile des bestehenden Sys-
tems, die Leistungen der Landwirtschaft in der Kultur-
landschaftspflege werden honoriert, die hohen europäi-
schen Standards in der Lebensmittelsicherheit, im
Umweltschutz und im Tierschutz finanziell abgegolten.
Die Kulturlandschaftsprämie ist der Grünen Box zuzu-
rechnen und unterliegt damit nicht den Abbauverpflich-
tungen, die für die Blaue Box gelten. Gleichzeitig ge-
winnen Landwirte ein Stück Unabhängigkeit von
politischen Entscheidungen – dem größten Risiko, dem
landwirtschaftliche Unternehmer heute begegnen müs-
sen.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung
und Landwirtschaft: Die WTO-Agrarverhandlungen
sind in eine entscheidende Phase getreten. Bis Ende
März 2003 sollen in Genf die Grundsatzentscheidungen
über die weiteren Liberalisierungsverpflichtungen im
Landwirtschaftsbereich fallen. Die Agrarverhandlungen
sind Teil der laufenden Welthandelsrunde. Diese ist ex-
plizit als eine so genannte Entwicklungsrunde – Doha
Development Agenda – vereinbart worden. Noch ist of-
fen, ob sie diesem Anspruch auch gerecht wird. Klar ist
allerdings, dass die Agrarverhandlungen als ein Schlüs-
selthema für Erfolg oder Misserfolg der gesamten Runde
anzusehen sind.
Aus meiner Sicht müssen deshalb zwei Ziele gleich-
rangig im Mittelpunkt der Verhandlungen stehen:
Zum Einen geht es darum, die internationale Agrarpo-
litik und den Agrarhandel kohärent zu den Zielen einer
Neuorientierung der Landwirtschaft und der Lebensmit-
telproduktion in Europa zu organisieren. Die Ergebnisse
dürfen also nicht dem widersprechen, was wir bei uns
und in Europa auf den Weg gebracht haben oder bringen
wollen. In den Mittelpunkt der deutschen und europäi-
schen Agrarpolitik rücken dabei mehr und mehr die ge-
sellschaftlichen Anforderungen an die Landwirtschaft
für Tier- und Umweltschutz, für Verbraucherschutz und
Qualitätsproduktion sowie für die Entwicklung ländlicher
Räume. So ist eine Stärkung des Verbraucherschutzes er-
forderlich, ich nenne nur die Stichworte „klare Regeln
zum Vorsorgeprinzip“ und „stringente Kennzeichnungs-
regeln mit Auskünften über Produktionsprozesse“.
Zum Anderen müssen die Ergebnisse der Agrarver-
handlungen in Einklang mit den Bemühungen der Staa-
ten stehen, ihre Entwicklungsziele zu erreichen. So muss
das Recht auf Nahrung sowie das Ziel, die Zahl der Hun-
gernden bis zum Jahr 2015 mindestens zu halbieren,
durch die Beschlüsse im Rahmen der WTO befördert
werden.
Die Stichworte, um eine erfolgreiche Verhandlung zu
führen, sind hierbei folgende:
Das Ergebnis der Verhandlungen muss zu einem ge-
rechten Interessenausgleich zwischen Nord und Süd bei-
tragen, muss zu einer vermehrten Marktöffnung auch für
Agrarprodukte aus Entwicklungsländern führen, um
neue Einkommensmöglichkeiten für diese zu schaffen,
muss zum Abbau von Agrarexportsubventionen und ver-
gleichbaren Förderinstrumenten von Industrieländern
beitragen, muss besondere Regeln schaffen zum Schutz
des ländlichen Raums in Entwicklungsländern, Stich-
wort „Development Box“. Dies gilt vor allem für die
ärmsten Entwicklungsländer. Doch auch Schwellenlän-
der werden, angesichts gewaltiger Handelsbilanzdefizite
zu ihren Ungunsten, hart für ihre Interessen streiten. Wer
hier nicht kompromissfähig ist, nimmt in Kauf, das die
ganze WTO-Runde zum Scheitern verurteilt ist.
Der Bundeskanzler hat in Johannesburg die Bedeu-
tung der WTO-Verhandlungen in seiner Rede aufgegrif-
fen und Folgendes gesagt:
„Mindestens so wichtig wie Finanzmittel ist der freie
und ungehinderte Zugang der Entwicklungsländer zu
den Weltmärkten. Dazu gehört ausdrücklich auch der
Abbau von marktverzerrenden Subventionen im Agrar-
bereich.“
Deshalb müssen Exportsubventionierungen der In-
dustrieländer zügig reduziert werden mit dem Endziel ei-
ner kompletten Abschaffung. Wenn wir eine doppelte
Agrardividende erzielen wollen, tun wir gut daran, die
frei werdenden Mittel auch für die Förderung ländlicher
Entwicklung in Entwicklungsländer einzusetzen.
Die Äußerungen des französischen Staatspräsidenten
Chirac, der in diesem Zusammenhang auf dem Afrika-
Gipfel ausdrücklich auf die Problematik der Exportstüt-
zungen der entwickelten Länder, so auch der EU, hinge-
wiesen hat, sollten eine Ermunterung sein, dieses Instru-
ment ebenso zu verhandeln wie den Abbau von
ähnlichen Instrumenten, von den Exportkrediten bis zu
problematischen Formen der Nahrungsmittelhilfe. Wir
alle wissen, dass Dumping von Agrarprodukten mithilfe
unterschiedlicher Instrumente erfolgen kann.
Ein EU-Vorschlag auf dem kommenden G-8-Gipfel
zur Bekämpfung des Hungers böte hier die Chance einer
doppelten Dividende: einerseits der Abbau von Agrarex-
porterstattungen und zum Anderen die Stärkung der Ent-
wicklungshilfe für die besonders vom Hunger betroffe-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003 2477
(A) (C)
(B) (D)
nen ländlichen Räume in Entwicklungsländern. Wie
Kompromisse bei den Agrarverhandlungen aussehen
können, steht noch in den Sternen. Der vorliegende Vor-
schlag – das so genannte Harbinson-Modalitäten-Papier –
ist trotz einiger guter Ansätze jedenfalls nicht ausrei-
chend, weder bezogen auf die Landwirtschaft in Ent-
wicklungsländern noch auf eine multifunktional ausge-
richtete Landwirtschaft in Deutschland und Europa. Der
Entwurf wird dem Leitbild einer global nachhaltigen
Entwicklung der Landwirtschaft nicht gerecht. Er ge-
fährdet das europäische Modell einer multifunktionalen,
flächendeckenden Landwirtschaft. Die von der EU ver-
folgten nicht handelsbezogenen Anliegen werden völlig
unzureichend reflektiert, zum Beispiel die Verankerung
des Vorsorgeprinzips und der Tierschutz. Der Gedanke,
Umweltschutz und moderne Agrarpolitik miteinander zu
verknüpfen, fällt hinten runter.
Während er auf der einen Seite deutliche Einschnitte
bei Zöllen, Exportsubventionen und Stützungsmaßnah-
men vorgesehen sind, was unvermeidlich und richtig ist,
sind auf der anderen Seite die Forderungen an die USA
oder andere Industrieländer mehr als moderat ausgefallen.
Die Sonderregelungen für Entwicklungsländern sind
grundsätzlich zu begrüßen, auch wenn sie im Detail
noch nicht genügend im Hinblick auf den unterschiedli-
chen Entwicklungsgrad der Länder differenziert sind.
Bei aller Skepsis gegenüber dem vorliegenden Ent-
wurf müssen wir jedoch bedenken, dass es einen Erfolg
der gesamten WTO-Runde nur dann geben kann, wenn
alle Beteiligten – also auch die EU – im Agrarbereich
nicht unerhebliche Zugeständnisse machen. Wir müssen
also weiter konstruktiv an einer Einigung arbeiten.
Die Bundesregierung setzt sich für einen Erfolg der
WTO-Verhandlungen ein. Die Verhandlungen müssen
aber zu einem ausgewogenen Ergebnis führen. Am Ende
der WTO-Verhandlungen muss eine Balance zwischen
Handelsliberalisierung und berechtigten wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Anliegen aller WTO-Partner ge-
funden werden. Wir wollen ein Verhandlungsergebnis
erzielen, das unseren gemeinsamen Leitvorstellungen ei-
ner global nachhaltig wirtschaftenden Landwirtschaft
unter Berücksichtigung aller berechtigten handels- und
nicht handelsbezogenen Anliegen gerecht wird.
31. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9