Protokoll:
14228

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 228

  • date_rangeDatum: 22. März 2002

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:44 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 22597 A Absetzung des Tagesordnungspunktes 20 c 22597 B Tagesordnungspunkt 18: a) Abgabe einer Regierungserklärung: Kioto-Protokoll in Kraft setzen – Un- sere Verantwortung für globalen Kli- maschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22597 B b) Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Marita Sehn, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP: Vereinbarkeit der Selbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft zur Klima- vorsorge mit den flexiblen Instrumen- ten des Kioto-Protokolls sicherstellen (Drucksache 14/8495) . . . . . . . . . . . . . 22597 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Das Kioto-Proto- koll ratifizieren und zum Weltgip- fel 2002 in Johannesburg in Kraft setzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Kioto – Bonn – Marrakesch, ein wichtiger Schritt für die interna- tionale Klimapolitik – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gesetz zur Rati- fizierung des Kioto-Protokolls un- verzüglich vorlegen (Drucksachen 14/8026, 14/8028, 14/7450, 14/8582) . . . . . . . . . . . . . . . . 22597 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll von Kioto vom 11. Dezember 1997 zum Rahmen- übereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (Kioto-Protokoll) (Drucksachen 14/8250, 14/8581) . . . . . . . 22598 A Jürgen Trittin, Bundesminister BMU . . . . . . . 22598 B Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 22600 D Ulrike Mehl SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22602 C Birgit Homburger FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 22604 B Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22606 A Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . 22609 A Dr. Peter Paziorek CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 22610 A Michael Müller (Düsseldorf) SPD . . . . . . . . 22611 D Dr. Christian Ruck CDU/CSU . . . . . . . . . . . 22613 D Tagesordnungspunkt 19: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Angelegenheiten der Plenarprotokoll 14/228 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 228. Sitzung Berlin, Freitag, den 22. März 2002 I n h a l t : neuen Länder zu dem Antrag der Abge- ordneten Günter Nooke, Friedrich Merz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Deutschland 2015 – Aufbau Ost als Leitbild für ein modernes Deutschland (Drucksachen 14/6038, 14/8568) . . . . 22615 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- logie zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Dehnel, Günter Nooke, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Uranerzbergbau-Schäden beseitigen (Drucksachen 14/3373, 14/4689) . . . . 22615 D d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresbe- richt 2001 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit (Drucksachen 14/6979, 14/8620) . . . . 22615 D Günter Nooke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 22616 A Dr. Mathias Schubert SPD . . . . . . . . . . . . . . 22618 C Cornelia Pieper FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22620 A Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22622 C Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 22625 A Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22626 A Rainer Fornahl SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22627 C Peter Rauen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 22628 D Rolf Schwanitz, Staatsminister BK . . . . . . . . 22630 D Manfred Grund CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 22632 D Christian Müller (Zittau) SPD . . . . . . . . . . . . 22634 C Zusatztagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes zu dem Ge- setz zur Modulation von Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (Modulationsgesetz) (Drucksachen 14/7252, 14/7812, 14/8190, 14/8630) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22636 B Zusatztagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Einführung von streckenbezogenen Gebühren fürdie Benutzung von Bundes- autobahnen mit schweren Nutzfahrzeu- gen (Drucksachen 14/7013, 14/7087, 14/7822, 14/8189, 14/8631) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22636 C Tagesordnungspunkt 20: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem An- trag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- scher Streitkräfte an dem NATO- geführten Einsatz auf mazedo- nischem Territorium zum Schutz von Beobachtern internationaler Organisationen im Rahmen der weiteren Implementierung des poli- tischen Rahmenabkommens vom 13. August 2001 auf der Grundlage des Ersuchens der mazedonischen Regierung vom 8. Februar 2002 und der Resolution Nr. 1371 (2001) des Si- cherheitsrates der Vereinten Natio- nen vom 26. September 2001 (Drucksachen 14/8500, 14/8624, 14/8632) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22636 D b) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziie- rungsabkommen zwischen den Euro- päischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien andererseits (Drucksachen 14/7766, 14/8512) . . . . 22637 A d) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Ent- schließungsantrag der Abgeordneten Ina Albowitz, Hildebrecht Braun (Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu dem Antrag der Bundesregierung: Beteiligung bewaff- neter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten Einsatz auf maze- donischem Territorium zum Einsam- meln und Zerstören der Waffen, die durch die ethnisch albanischen be- waffneten Gruppen freiwillig abgege- ben werden (Drucksachen 14/6830, 14/6835, 14/6838, 14/7534) . . . . . . . . . . . . . . . . 22637 B e) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Ent- schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zu dem Antrag der Bundes- regierung: Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten Einsatz auf maze- donischem Territorium zum Einsam- meln und Zerstören der Waffen, die durch die ethnisch albanischen be- waffneten Gruppen freiwillig abgege- ben werden (Drucksachen 14/6830, 14/6835, 14/6839, 14/7535) . . . . . . . . . . . . . . . . 22637 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002II Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD . . . . . . . 22637 D Dr. Christian Schwarz-Schilling CDU/CSU 22639 B Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 22641 B Dr. Christian Schwarz-Schilling CDU/CSU 22642 A Hildebrecht Braun (Augsburg) FDP . . . . . . . 22642 D Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 22644 A Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg 22645 B Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . 22646 D Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . 22647 D Helmut Rauber CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 22648 D Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 22657 C Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22658 A Tagesordnungspunkt 26: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Fortentwick- lung des Finanzplatzes Deutschland (Vier- tes Finanzmarktförderungsgesetz) (Drucksachen 14/8017, 14/8600, 14/8601) 22650 C Nina Hauer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22650 D Leo Dautzenberg CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 22652 A Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22654 A Gerhard Schüßler FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 22655 A Heidemarie Ehlert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 22655 D Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22656 C Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines ... Strafrechts- änderungsgesetzes – Graffiti-Bekämp- fungsgesetz (Drucksache 14/8013) . . . . . . . . . . . . . . . 22660 A Dr. Ulrich Goll, Minister (Baden-Württem- berg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22660 B Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU . . . . . . . . . . 22661 D Tagesordnungspunkt 10: a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs ei- nesGesetzes zur Einführung des Völ- kerstrafgesetzbuches (Drucksache 14/8524) . . . . . . . . . . . . 22663 D b) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs ei- nesGesetzes zurAusführung des Rö- mischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes vom 17. Juli 1998 (Drucksache 14/8527) . . . . . . . . . . . . 22663 D Tagesordnungspunkt 24: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der Bekämpfung von illegaler Beschäfti- gung und Schwarzarbeit (Drucksachen 14/8221, 14/8288, 14/8625) 22664 A Tagesordnungspunkt 25: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres und anderer Gesetze (FSJ- Förderungsänderungsgesetz) (Drucksachen 14/7485, 14/8634 – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres und zur Änderung des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen öko- logischen Jahres (Drucksachen 14/5120, 14/8634) 22664 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Gerhard Schüßler, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Deutschland braucht gesetzliche Rahmenbedin- gungen für einen allgemeinen Frei- willigendienst (Drucksachen 14/7811, 14/8634) . . . . 22664 D Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22665 A Thomas Dörflinger CDU/CSU . . . . . . . . . . . 22666 C Christian Simmert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22668 A Ina Lenke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22668 C Ina Lenke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22669 A Monika Balt PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22670 A Dieter Dzewas SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22670 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 III Tagesordnungspunkt 27: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes (Drucksachen 14/7755, 14/8621, 14/8668) 22672 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Wasserverbandsgesetzes (Drucksachen 14/8223, 14/8615) . . . . . . . 22672 C Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Joachim Stünker, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein- führung der vorbehaltenen Sicherungs- verwahrung (Drucksache 14/8586) . . . . . . . . . . . . . . . 22673 B Tagesordnungspunkt 29: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Wieder- erhebung der Vermögensteuer (Drucksachen 14/6112, 14/7558) . . . . 22673 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Hei- demarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Erbschafts- besteuerung sofort reformieren (Drucksachen 14/7109, 14/7773) . . . . 22673 C Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22673 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22675 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 22677 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Antrag der Bundes- regierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaff- neter deutscher Streitkräfte an dem NATO- geführten Einsatz auf mazedonischem Territo- rium zum Schutz von Beobachtern internatio- naler Organisationen im Rahmen der weiteren Implementierung des politischen Rahmenab- kommens vom 13. August 2001 auf der Grund- lage des Ersuchens der mazedonischen Regie- rung vom 8. Februar 2002 und der Resolution Nr. 1371 (2001) des Sicherheitsrates der Ver- einten Nationen vom 26. September 2001 (Ta- gesordnungspunkt 20 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . 22678 B Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungs- gesetzes – Graffiti-Bekämpfungsgesetz (... StrÄndG) (Tagesordnungspunkt 22) . . . . . . . 22678 C Hermann Bachmaier SPD . . . . . . . . . . . . . . . 22678 C Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22679 B Sabine Jünger PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22679 D Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 22680 B Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Entwurfs eines Gesetzes zur Ein- führung des Völkerstrafgesetzbuches – des Entwurfs eines Gesetzes zur Aus- führung des Römischen Statuts des Interna- tionalen Strafgerichtshofes vom 17. Juli 1998 (Tagesordnungspunkt 10 a und b) . . . . . . . . . . 22681 A Margot von Renesse SPD . . . . . . . . . . . . . . . 22681 A Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . 22681 D Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 22683 A Dr. Edzard Schmidt-Jortzig FDP . . . . . . . . . 22683 D Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 22684 B Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 22684 D Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichte- rung der Bekämpfung von illegaler Be- schäftigung und Schwarzarbeit (Tages- ordnungspunkt 24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22685 D Dieter Maaß (Herne) SPD . . . . . . . . . . . . . . 22685 D Anette Kramme SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22686 C Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) CDU/CSU 22687 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002IV Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 22689 A Dr. Heinrich L. Kolb FDP . . . . . . . . . . . . . . 22689 C Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22690 C Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes – des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- derung des Wasserverbandsgesetzes (Tagesordnungspunkt 27 und Zusatztagesord- nungspunkt 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22691 C Petra Bierwirth SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22691 C Kurt-Dieter Grill CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 22692 D Birgit Homburger FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 22693 B Dr. Bärbel Grygier PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 22693 D Jürgen Trittin, Bundesminister BMU . . . . . . . 22694 B Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung (Tagesordnungspunkt 28) . . . . . . . . . . . . . . . . 22695 A Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22695 A Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 22695 D Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22697 A Jörg van Essen FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22697 D Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 22698 B Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 22699 A Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlungen und der Berichte zu den Anträgen: – Wiedererhebung der Vermögensteuer – Erbschaftsbesteuerung sofort reformieren (Tagesordnungspunkt 29 a und b) . . . . . . . . . . 22699 D Simone Violka SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22699 D Otto Bernhardt CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 22700 D Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 22701 D Gerhard Schüßler FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 22702 B Anlage 9 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22702 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 V Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 Vizepräsidentin Petra Bläss 22675 (C)(A) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22677 (C) (D) (A) (B) Adler, Brigitte SPD 22.03.2002 Altmaier, Peter CDU/CSU 22.03.2002 Barthle, Norbert CDU/CSU 22.03.2002 Dr. Bartsch, Dietmar PDS 22.03.2002 Dr. Bauer, Wolf CDU/CSU 22.03.2002 Bohl, Friedrich CDU/CSU 22.03.2002 Brunnhuber, Georg CDU/CSU 22.03.2002 Bury, Hans Martin SPD 22.03.2002 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 22.03.2002 Herta Edathy, Sebastian SPD 22.03.2002 Ernstberger, Petra SPD 22.03.2002** Fograscher, Gabriele SPD 22.03.2002 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 22.03.2002 Friedhoff, Paul K. FDP 22.03.2002 Friedrich (Mettmann), SPD 22.03.2002 Lilo Friedrich (Altenburg), SPD 22.03.2002 Peter Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 22.03.2002** Ganseforth, Monika SPD 22.03.2002** Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 22.03.2002 Günther (Plauen), FDP 22.03.2002 Joachim Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 22.03.2002 Hedrich, Klaus-Jürgen CDU/CSU 22.03.2002 Heinrich, Ulrich FDP 22.03.2002 Hempelmann, Rolf SPD 22.03.2002 Hermenau, Antje BÜNDNIS 90/ 22.03.2002 DIE GRÜNEN Hinsken, Ernst CDU/CSU 22.03.2002 Dr. Hornhues, CDU/CSU 22.03.2002 Karl-Heinz Dr. Hoyer, Werner FDP 22.03.2002 Irmer, Ulrich FDP 22.03.2002 Kampeter, Steffen CDU/CSU 22.03.2002 Dr. Köster-Loßack, BÜNDNIS 90/ 22.03.2002** Angelika DIE GRÜNEN Koppelin, Jürgen FDP 22.03.2002 Kutzmutz, Rolf PDS 22.03.2002 Dr. Lamers CDU/CSU 22.03.2002* (Heidelberg), Karl A. Lensing, Werner CDU/CSU 22.03.2002 Lippmann, Heidi PDS 22.03.2002 Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 22.03.2002 Erich Dr. Meyer (Ulm), SPD 22.03.2002 Jürgen Michelbach, Hans CDU/CSU 22.03.2002 Mosdorf, Siegmar SPD 22.03.2002 Nolte, Claudia CDU/CSU 22.03.2002 Özdemir, Cem BÜNDNIS 90/ 22.03.2002 DIE GRÜNEN Ostrowski, Christine PDS 22.03.2002 Dr. Pflüger, Friedbert CDU/CSU 22.03.2002 Philipp, Beatrix CDU/CSU 22.03.2002 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 22.03.2002 Raidel, Hans CDU/CSU 22.03.2002** Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 22.03.2002 Roos, Gudrun SPD 22.03.2002 Schlee, Dietmar CDU/CSU 22.03.2002 Schloten, Dieter SPD 22.03.2002** Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 22.03.2002 Schmidt (Hitzhofen), BÜNDNIS 90/ 22.03.2002 Albert DIE GRÜNEN Schmidt (Fürth), CDU/CSU 22.03.2002 Christian Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 22.03.2002 Hans Peter entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Dr. Schockenhoff, CDU/CSU 22.03.2002 Andreas Schröter, Gisela SPD 22.03.2002 Dr. Schuchardt, Erika CDU/CSU 22.03.2002** Schütze (Berlin), CDU/CSU 22.03.2002 Diethard Schuhmann (Delitzsch), SPD 22.03.2002 Richard Schultz (Everswinkel), SPD 22.03.2002 Reinhard Seehofer, Horst CDU/CSU 22.03.2002 Sehn, Marita FDP 22.03.2002 Singhammer, Johannes CDU/CSU 22.03.2002 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 22.03.2002 Dr. Freiherr von CDU/CSU 22.03.2002 Stetten, Wolfgang Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 22.03.2002 Thiele, Carl-Ludwig FDP 22.03.2002 Dr. Thomae, Dieter FDP 22.03.2002 Dr. von Weizsäcker, SPD 22.03.2002 Ernst Ulrich Welt, Jochen SPD 22.03.2002 Wieczorek-Zeul, SPD 22.03.2002 Heidemarie Wittlich, Werner CDU/CSU 22.03.2002 Wolf, Aribert CDU/CSU 22.03.2002 Dr. Wolf, Winfried PDS 22.03.2002 Zapf, Uta SPD 22.03.2002 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO ** für die Teilnahme an der 107. Jahreskonferenz der Interparlamenta- rischen Union Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedoni- schem Territorium zum Schutz von Beobachtern internationaler Organisationen im Rahmen der weiteren Implementierung des politischen Rah- menabkommens vom 13. August 2001 auf der Grundlage des Ersuchens der mazedonischen Regierung vom 8. Februar 2002 und der Resolu- tion Nr. 1371 (2001) des Sicherheitsrates derVer- einten Nationen vom 26. September 2001 (Tages- ordnungspunkt 20 a) Dem Antrag auf Verlängerung des Bundeswehreinsat- zes in Mazedonien stimme ich zu. Durch eigenen Ein- druck vor Ort bin ich der festen Überzeugung, dass dieser Einsatz deutlich länger dauert. Deswegen sollte die Re- gierung mit der mazedonischen Regierung Gespräche führen, um die Einsatzdauer nicht immer um drei Monate zu verlängern. Dies wäre nicht nur für die Planung der be- teiligten Länder, sondern insbesondere auch für die per- sönlichen Planungen der dort jeweils stationierten Solda- ten wichtig. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines ... Strafrechts- änderungsgesetzes – Graffiti-Bekämpfungsge- setz (... StrÄndG) (Tagesordnungspunkt 22) Hermann Bachmaier (SPD): Seit Jahren beschäfti- gen wir uns mit der Frage, welche Mittel wohl am geeig- netsten sein könnten, den rechtswidrigen Graffitiaktivitä- ten zu begegnen. Wer hätte kein Verständnis für den Ärger von Privatleuten, seien sie Eigentümer oder Mieter, deren, Gebäude beschmiert worden sind! Aber auch die Deut- sche Bahn, kommunale Verkehrsunternehmen, die öffent- liche Hand und überhaupt wir alle sind die Geschädigten, wenn man Brücken, Unterführungen, Bushaltestellen, Wartehäuschen, Schulen, Behörden, Züge und Straßen- bahnen unter der Graffitibemalung fast nicht mehr wieder erkennt. Immer wieder haben wir hier im Bundestag und in den dafür zuständigen Fachausschüssen darüber beraten, weiche Mittel wohl am ehesten geeignet sind, den ärger- lichen und illegalen Graffitiaktivitäten zu begegnen. Lange Zeit hielt es ein Teil des Hauses und der Länder für sinnvoll und richtig, mit der Aufnahme des Verunstal- tungsbegriffes entweder in den Tatbestand der Sachbe- schädigung oder in einen eigenständigen Bußgeldtatbe- stand den unliebsamen Sprayereien zu begegnen. Pate gestanden hat dabei natürlich der Glaube, dass man Miss- liebigem am besten dadurch begegnet, dass man das Straf- gesetzbuch ändert. Die Frage, ob dadurch wirklich Ab- hilfe geschaffen wird oder nicht, interessiert dabei meist wenig. Vor allem wurde nicht berücksichtigt, dass Graffiti be- reits strafbar ist. Selbstverständlich liegt eine Sachbe- schädigung vor, wenn Farbaufträge aufgebracht werden, die man nicht entfernen kann, ohne dass man den Unter- grund beschädigt. Das ist bei Graffiti in aller Regel der Fall. Diese Sachbeschädigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet. Nur in wenigen Fällen kann es einmal zu einer stritti- gen Sachfrage werden, ob eine Substanzverletzung im Sinne des Sachbeschädigungstatbestandes vorliegt oder Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222678 (C) (D) (A) (B) nicht. Dann müssen Gutachter eingeschaltet werden. Ich betone aber: Das ist nicht der Normalfall. Der Regelfall ist, dass Graffitisprayer meistens ohne, manchmal auch mit Gutachten verurteilt werden. Das Problem ist also nicht, dass ermittelte Sprayer nicht verurteilt werden kön- nen. Das Problem ist doch in Wahrheit, dass die Sprayer nur selten ermittelt werden. Und daran werden wir mit ei- ner anderen Formulierung des Sachbeschädigungstatbe- standes kaum etwas ändern. Hätte man, wie dies früher immer gefordert wurde, den Straftatbestand der Sachbeschädigung um so genannte Verunstaltungen erweitert, wären übrigens die Probleme nicht geringer geworden. Vielmehr wären weitere Ausle- gungsprobleme entstanden Dieser schillernde und unbe- stimmte Rechtsbegriff hätte dazu geführt, dass Polizei, Beamte, Staatsanwälte und Richter in Zukunft auch noch darüber zu entscheiden gehabt hätten, ob Graffiti an einer Gebäudewand oder einem Eisenbahnwagen verunstalten- der Natur ist oder nicht. Deshalb ist es schon ein Fortschritt, wenn in dem jetzi- gen Antrag des Bundesrates von Verunstaltung nicht mehr die Rede ist. ist sicherlich hilfreich, dass ausschließlich darauf abgehoben wird, ob eine nicht unerhebliche Ver- änderung des Erscheinungsbildes gegen den Willen des Eigentümers oder sonst Berechtigten vorliegt oder nicht. Sicher bringt aber auch die Abgrenzung einer erheblichen von einer unerheblichen Veränderung Auslegungspro- bleme mit sich. Insgesamt halte ich die jetzt vorgelegte Fassung des Straftatbestandes für weniger problematisch als die bishe- rigen Vorschläge. An dem Problem Graffiti werden wir aber auch durch eine Erweiterung des Straftatbestandes der Sachbeschädigung wenig ändern. Die jugendlichen Sprayer wissen auch heute schon, dass sie sich in aller Re- gel strafbar machen. Nicht umsonst verrichten sie ihr Werk im Verborgenen und häufig zu nachtschlafender Zeit. An eine größere Abschreckungswirkung glaube ich nicht – und Sie, wenn Sie ehrlich sind, auch nicht. Wir brauchen Prävention, wir brauchen verstärkte Auf- klärung der Fälle; die Täter müssen tatsächlich gefasst werden; wir brauchen sicherlich auch eine schnelle und sinnvolle strafrechtliche Reaktion und soweit möglich auch zivilrechtlichen Schadensersatz für die Geschädig- ten. Wir werden den mit großer Mehrheit beschlossenen Gesetzesantrag des Bundesrates ernsthaft beraten. Wir alle sollten uns allerdings davor hüten, den Eindruck zu erwecken, als könnten wir durch eine entsprechende Er- weiterung des Straftatbestandes der Sachbeschädigung unliebsame Graffiti aus der Welt schaffen. Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das un- erlaubte Beschmieren und Verschandeln von Häuserwän- den mit so genannten Graffitis ist selten Kunst und meis- tens auch nicht schön. Aber: Es ist immer strafbar und mit schmerzhaften Sanktionen für die Betroffenen verbun- den! Eine Ausweitung des Strafrechts ist deshalb nicht an- gezeigt! Unsere Rechtslage spricht da schon eine eindeu- tige Strafe. Das wissen übrigens auch die Sprayer: Fragen Sie doch einmal die Jugendlichen. Die wissen doch alle, dass ihr Tun nicht legal ist. Deshalb finden auch die meis- ten Spray-Aktionen in der Nacht statt – weil den Kids be- wusst ist, dass das, was sie da tun, prinzipiell verboten ist und man sich dabei lieber nicht erwischen lässt. Bedauerlicherweise diskutieren wir heute bereits zum wiederholten Male in dieser Legislaturperiode eine Straf- rechtsänderung wegen Graffitis. Zuletzt ging es ums „Verunstalten“. Jetzt geht es um einen Passus, der eigent- lich eher die zivilrechtliche Situation zum Ausdruck bringt. Aber genügt dieser Passus überhaupt dem straf- rechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz? Was bedeutet denn eine „nicht unerhebliche Veränderung des Erscheinungs- bildes“? Fällt darunter auch eine Verpackung oder das Plakatieren, selbst wenn man den Originalzustand ohne bleibende Schäden mit Leichtigkeit wieder entfernen könnte? Das geht sicher zu weit. Beim Graffiti ist unsere Rechtslage eindeutig. Graffiti, das sich nicht mal eben mit dem Taschentuch wegwischen lässt, führt zu einer Substanzverletzung und damit zu ei- ner Sachbeschädigung. Denn Farbsubstanzen aus Sprüh- dosen wirken derart massiv auf den Untergrund ein, dass es regelmäßig besonderer Lösungsmittel bedarf, um die aufgesprühte Farbe zu beseitigen. Der 3. Strafsenat des BGH (in Bd. 41, S.55) bejaht ohne ein Wort des Zweifels bei Farbsprühaktionen eine Sachbeschädigung. Ausge- nommen von einer Strafbarkeit werden lediglich völlig unerhebliche Beeinträchtigungen, deren Beseitigung üb- licherweise überhaupt unterbleibt oder ohne ins Gewicht fallenden Aufwand möglich wäre. Hierfür besteht aber zu Recht kein Strafbedürfnis. Aber das Strafrecht ist gar nicht das Wichtigste: Nachhaltig spürbarer sind die zivil- rechtlichen Schadensersatzansprüche, die den Betroffe- nen drohen. Wer sich beim Sprühen erwischen lässt, für den wird’s definitiv teuer, wenn er die Regressansprüche der Ei- gentümer begleichen muss. Machen Sie sich keine Illusionen: Diese kosmetische Änderung im Strafgesetz führt nicht dazu, dass sich die Sprayer nicht mehr mit ihrer Sprühdose nachts auf die Pirsch durch den Kiez begeben. Wer das glaubt, verfällt dem alten Irrtum, dass mehr Strafrecht und höhere Strafen die Leute immer von ihren Schandtaten abhalten würden. Nein, in präventiver Hinsicht ist dieses Gesetz wirkungslos. Es ist eine Luftnummer, weiße Salbe. Solche Gesetze eignen sich allenfalls dazu, den ordnungsliebenden Bürgerinnen und Bürgern etwas vorzugaukeln. Das aber ist unseriös! Das Problem bei der Graffitischmiererei ist nicht die zu milde oder fehlende Sanktionierung, sondern das schwie- rige Habhaftwerden der Täter. Hier muss man ansetzen. Mehr Polizeipräsenz nachts auf den Straßen und öfter mal ein wachsames Auge helfen hier mehr als die plumpe Strafrechtskeule. Sabine Jünger (PDS): Mir fallen wirklich viele Dinge ein, über die man hier einmal debattieren könnte und sollte. Warum wir uns heute allerdings schon wieder mit Graffiti bzw. mit der Strafverschärfung für Graffiti- sprühen beschäftigen sollen, mag mir nicht so ganz ein- leuchten. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22679 (C) (D) (A) (B) Wir haben zu diesem Thema in dieser Legislaturperi- ode schon diverse Initiativen von konservativer Seite be- handelt. Sie sind von uns – und auch von den Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen – im- mer mit den besseren Argumenten zurückgewiesen wor- den. Was also soll dieser neue Versuch, junge Menschen zu kriminalisieren? Weil ich ein geduldiger Mensch und zudem eine An- hängerin der Aufklärung bin, erkläre ich den Kolleginnen und Kollegen zur Rechten und hier links hinter mir gerne noch einmal, warum auch ihre neue Initiative keinen Sinn macht. Sprayer sind größtenteils männliche Jugendliche zwi- schen 12 und 18. Wenn sie beim Sprühen erwischt wer- den, dann hat das jetzt schon heftige Folgen für sie: Wem ein oder mehrere Graffiti nachgewiesen werden können, der muss – auch heute schon – mit deutlichen Konse- quenzen rechnen. Das heißt in der Regel richterliche Er- mahnung, Freizeitarbeiten oder Freizeitarrest. Hinzu kommen Verhöre, Hausdurchsuchungen und der vorpro- grammierte Ärger mit den Eltern, die Beseitigung der Graffiti, die persönliche Haftung für den Schaden und da- mit ein Schuldenberg. Je nach Sachlage gibt es oben drauf noch eine Anklage wegen Sachbeschädigung. Was also soll mit einer Strafverschärfung erreicht werden? Noch drakonischere Strafen bis hin zum Knast? Bei allem Res- pekt: Einige in diesem Hause und auch im Bundesrat soll- ten sich vor Augen führen, dass es bei diesem Thema im Wesentlichen um Jugendliche geht, anstatt hier weiterhin die selbst ernannten Rächer der Häuslebauer zu geben. Unsere Gesellschaft tut sich äußerst schwer damit, Kinder und Jugendliche als eigenständige Wesen zu be- greifen und ihnen eigene Rechte zuzugestehen. Man hört Kindern und Jugendlichen nicht zu und man nimmt sie nicht ernst. Sie dürfen nicht wählen und ihr Mitsprache- recht in Schulen oder in weiten Teilen der Jugendhilfe ist ein Lacher. Hier wäre ein weites Feld zu beackern, sowohl im Bundesrat als auch hier im Hause. Wer das Wahlalter nicht senken will und Jugendliche von wesentlichen Entscheidungen ausschließt, wer Mit- bestimmungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche sogar noch einschränkt, wer Kinder und Jugendliche in politische und ästhetische Schablonen zwängt und deren möglichst effektive Anpassung fordert, der muss schon damit leben können, wenn ihm die eine oder andere poli- tische oder ästhetische Meinungsäußerung dauerhaft von Häuserwänden oder Bahnwaggons entgegenspringt. Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: Der Gesetzentwurf betrifft ein Problemfeld, das uns vor einiger Zeit schon einmal im Be- reich der Gesetzgebung beschäftigt hat. Ich meine die Ge- setzesinitiativen des Bundesrates, der CDU/CSU und der FDP aus dem Jahre 1999. Wie die damaligen Vorschläge zielt auch der nunmehr vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates darauf ab, insbesondere Graffitischmiere- reien und wildes Plakatieren auch dann unter Strafe zu stellen, wenn sie lediglich den Zustand oder das Erschei- nungsbild von Sachen verändern, nicht aber deren Sub- stanz verletzen. Tagtäglich werden wir mit Farbschmierereien und Graffiti konfrontiert, deren Ausmaß zum Teil unerträglich geworden ist. Private und öffentliche Gebäude, Brücken, S-Bahn-Waggons, Straßenbahnwagen sind übersät von Farbschmierereien und eventuell interessanten, aber von den Eigentümern und anderen Berechtigten nicht gewoll- ten Graffitis. Die Schäden für die Betroffenen sind in der Summe gewaltig. Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, ob die gesetzlichen Sanktionen ausreichen. Oder haben die Ge- gebenheiten inzwischen eine Entwicklung genommen, die nun vielleicht doch eine Reaktion im Bereich der Ge- setzgebung erfordert? Zu der Frage, ob und gegebenen- falls unter welchen Voraussetzungen nach geltendem Recht das Anbringen von Graffitischmierereien oder das wilde Plakatieren als Sachbeschädigung oder gemein- schädliche Sachbeschädigung strafbar ist, bestehen nach wie vor unterschiedliche Rechtsauffassungen. Eine dem Gestaltungswillen des Eigentümers zuwider- laufende bloße Veränderung der äußeren Erscheinung und Form einer Sache reicht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für sich allein grundsätzlich nicht aus, um den Tatbestand der Sachbeschädigung zu begrün- den. Die bestimmungsgemäße Brauchbarkeit einer Sache muss beeinträchtigt oder deren Substanz in einem ins Ge- wicht fallenden Umfang verletzt sein. Wird die Substanz der Sache durch den rechtswidrigen Eingriff derart in Mit- leidenschaft gezogen, dass eine Reinigung zwangsläufig zu deren Beschädigung führt, liegt ebenfalls eine Sachbe- schädigung vor. Das mit dieser Konstellation verbundene Problem für die Strafverfolgung kennen wir: Ermittlungs- aufwand und -kosten sind nicht gerade gering. In der gerichtlichen Praxis wird aber auch die Rechts- auffassung vertreten, dass unter bestimmten Vorausset- zungen schon eine Veränderung des Erscheinungsbildes einer Sache, die den Gestaltungswillen des Eigentümers beeinträchtigt, als Sachbeschädigung gewertet werden kann. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sehe ich mit dem Gesetzentwurf die Möglichkeit, nochmals das Für und Wider etwaiger gesetzgeberischer Maßnahmen zu prüfen. Ich begrüße deshalb den Beschluss des Rechtsausschus- ses, zu dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Sachver- ständigenanhörung durchzuführen. Wie Sie wissen, hat die Bundesregierung in ihrer Stel- lungnahme zum Gesetzentwurf darauf hingewiesen, dass dem Begriff der nicht unerheblichen Veränderung des Er- scheinungsbildes gegen den Willen des Eigentümers oder sonst Berechtigten aus strafrechtlicher Sicht durchgrei- fende Bedenken nicht begegnen. Es wäre zu prüfen, in- wieweit die Rechtslage klargestellt wird, die Rechtsan- wendung erleichtert und damit die Rechtssicherheit auf diesem Gebiet verbessert werden könnten. In einem Punkt weiß ich mich einig mit Ihnen: Wir ha- ben zu beachten, dass Akteure des Graffitifarbsprühens vor allem Jugendliche und Heranwachsende sind. Diesem Phänomen dürfen wir vor allem auch deshalb weder aus- schließlich noch in erster Linie mit den Mitteln des Straf- rechts begegnen. Wie sowohl im Gesetzentwurf als auch Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222680 (C) (D) (A) (B) in der Stellungnahme der Bundesregierung hervorgeho- ben wird, kommt den Maßnahmen der Prävention eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, wenn es gelingen soll, das unbefugte Bemalen, Besprühen und Beschmie- ren von Sachen einzudämmen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches – des Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Römischen Staus des Internationalen Strafgerichts- hofes vom 17. Juli 1998 (Tagesordnungspunkt 10 a und b) Margot von Renesse (SPD): Der gerade abgeschlos- sene Tagesordnungspunkt hat uns eine ausführliche Be- schäftigung mit Straftaten beschert, die ganz offensicht- lich unsere Bevölkerung in helle Aufregung versetzen und deren mangelhafte Verfolgung ihr Vertrauen in die Durch- setzung des Rechts erheblich erschüttert. Ich spreche vom Unwesen der Graffiti-Schmierereien. Nun aber soll die Rede sein von Straftaten von solch unglaublicher Grau- samkeit, von solch massenhafter todbringender Wucht, dass die Sprache eigentlich keine Worte hat, um ihnen ge- recht zu werden, die aber gleichwohl in ihrer Bedeutung zu verblassen scheinen, je weiter wir von den Orten ihrer Begehung entfernt sind: von Völkermord, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von Kriegsverbrechen. „Bei uns kann so etwas nicht passieren. So etwas gibt es nur auf dem Balkan, dem ja alles zuzutrauen ist, oder den Ländern, wo extreme Armut jede Brutalität beim Kampf um die eigene Existenzsicherung begünstigt.“ So einfach können wir es uns nicht machen, wenn wir nur ehrlich un- sere eigene deutsche Vergangenheit befragen und die Erin- nerung beschwören, die heute noch unter uns Lebende be- zeugen können. Auch ein Volk wie das unsere mit einer gebildeten Elite, mit einer großen Kultur und bewunderns- werten Leistungen auf jedem geistigem Gebiet stürzte sich kopfüber in den Abgrund bis dahin noch nicht da gewese- ner Verbrechen. Wer, wenn nicht wir, sollte darum wissen, wie leicht Menschen in Versuchung geraten, Macht dann am meisten zu genießen, wenn sie groß genug ist, um an- dere umgestraft quälen und vernichten zu können? Es ist also nicht nur aus formalen Gründen gut und richtig, dass wir unseren Beitrag zum Aufbau einer inter- nationalen Strafrechtspflege mit Weltrechtsprinzip durch die Aufnahme der inzwischen überall als schwerste Straftaten anerkannten Grausamkeiten in unser nationales Recht leisten und damit zum Ausdruck bringen, dass wir unsere eigenen Staatsbürger auf dieses Recht verpflich- ten. Bei uns soll auch niemand Unterschlupf finden, der sich vor der Gerechtigkeit zu verbergen versucht. Als ich vor gut zwei Jahren mit dem Kollegen Hartenbach und der Kollegin Lilo Friedrich beim Interna- tionalen Strafgerichtshof in Tansania war, gehörte für mich zu den stärksten Eindrücken, dass die dortige be- scheidene Bibliothek eine vollständige Dokumentation der Nürnberger Prozesse aufwies und die Urteile über die Gräueltaten, die sich in Ruanda ereignet hatten, gespickt waren mit Zitaten aus den damaligen Entscheidungen zum Dritten Reich. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden die ersten Ansätze einer internationalen Ge- richtsbarkeit, vor der sich die ehemaligen deutschen und die japanischen Machthaber zu verantworten hatten. Die Hoffnung, dass mit ihrer Entmachtung, der Grün- dung der UNO sowie hochherzigen Erklärungen zur Gel- tung der Menschenrechte ein für alle mal Schluss sein werde mit Untaten dieser Größenordnung, hat sich nicht erfüllt. Ja, wir mussten erleben, dass die Sicherheit eines Verbrechers davor, zur Rechenschaft gezogen zu werden, mit Umfang und Ausmaß seines Verbrechens eher zu- nahm. Die internationalen Gerichtshöfe in Tansania und den Niederlanden entwickeln nun endlich weiter, was mit den Nürnberger Prozessen begonnen hatte: ein internatio- nales Recht mit dem Anspruch, weltweit zu gelten. Es sind die Verbrechen der Machteliten, die bei dem vorliegenden Gesetzentwurf gemeint sind. Nur sie, die in kleinen oder größeren Regionen die Möglichkeit haben, Mehrheiten gegen Minderheiten zu hetzen, Milizen zu or- ganisieren, größere Haufen zu bewaffnen, vor allem mit den so gefährlichen Kleinwaffen, können die Gräueltaten begehen, von denen in diesem Gesetzentwurf die Rede ist. Massenmord, planmäßige und massenhafte Vergewalti- gungen, Folter und Erniedrigung jeder Art werden gezielt zur Vernichtung der zu Feinden erklärten Mitmenschen eingesetzt, denen das Menschsein abgesprochen wird. Tä- ter im Sinne dieses Gesetzentwurfs sind diejenigen, die den Hass schüren, die Waffenlieferungen organisieren, den Blutrausch für die Erhaltung ihrer Macht ausnutzen. Hier geht es nicht um den kleinen Einzeltäter, der seine In- strumentalisierung nicht wahrnimmt, sondern um die Drahtzieher, die Kommandanten, die regionalen Fürsten, die eigentlichen Nutznießer solcher kollektiven Aus- brüche. Nirgends auf der Welt sollen sie mehr sicher sein. Wir wollen – nicht zuletzt aus historischer Verant- wortung – bei diesem wichtigen internationalen Projekt zur Durchsetzung des Rechts nicht zurückstehen. Wir werden im Bundestag, in den Ausschüssen, genau zu beraten haben, ob die Tatbestände richtig gefasst wur- den, ob sie all das enthalten, was zu den drei großen Grup- pen von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehört. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass wir angesichts der bereits ergangenen Entscheidungen zu Ruanda und Jugoslawien noch das eine oder das andere zu ergänzen haben. So wie diese bei- den noch arbeitenden internationalen Gerichte sich auf die Urteile von Nürnberg und Tokio gestützt haben, wer- den wir die Weiterentwicklung des internationalen Straf- rechts einbeziehen müssen, die sich inzwischen ereignet hat. Ich bin sicher, dass alle Fraktionen dieses Hauses diese Aufgabe im Bewusstsein unserer gemeinsamen Ver- antwortung erfüllen werden. Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Lassen Sie mich zu Beginn eines feststellen: Der Entwurf eines Gesetzes Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22681 (C) (D) (A) (B) zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches und der Ent- wurf eines Gesetzes zur Ausführung des Römischen Sta- tuts des Internationalen Strafgerichtshofes vom 17. Juli 1998 verdienen – vorbehaltlich einer Detailprüfung – nicht nur von der Zielsetzung, sondern auch von der in- haltlichen Umsetzung her die volle Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Der menschenverachtende Terrorakt des 11. Septem- ber hat uns allen die Notwendigkeit, den Prozess der Er- richtung des Internationalen Strafgerichtshofes weiter zielstrebig fortzusetzen, noch einmal deutlich vor Augen geführt. Gleichwohl sind die beiden Gesetzesvorhaben nicht nur Antwort auf die Ereignisse des 11. September. Sie haben ihre Wurzeln in der erfolgreichen und konse- quenten Außen- und Justizpolitik der Vorgängerregie- rung. Die jetzige Regierung hat gut daran getan, die von der Regierung Kohl angestoßene und mit großem Nach- druck betriebene Entwicklung hin zu einer internationa- len Gerichtsbarkeit, die die kardinale und stets beklagte Schwäche des Völkerrechts, seine mangelnde Durchset- zungskraft, überwinden soll, weiter voranzutreiben. Mit der Einführung des Völkerstrafgesetzbuches und der ent- sprechenden Begleitgesetze bewegen wir uns einen wei- teren großen Schritt auf dieses Ziel zu. Ich glaube, es spricht für Deutschland und für deutsche Politik, dass wir diesen Weg in diesem Haus – jenseits aller innen- und rechtspolitischen Meinungsverschiedenheiten – immer gemeinsam im Konsens beschritten haben. Es ist sehr po- sitiv, dass wir bei solchen Kernfragen der nationalen und internationalen Politik Übereinstimmung haben. Dies galt in der Vergangenheit für die Ratifizierung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes und die Än- derung des Art. 16 Abs. 2 unserer Verfassung und dies gilt auch jetzt für die Einführung des Völkerstrafgesetzbu- ches. Wir nehmen damit nicht nur an einer historischen Entwicklung teil, sondern fördern diese aktiv durch das gute Beispiel Deutschlands. Die Einführung eines Völkerstrafgesetzbuches erfüllt in erster Linie vier eminent wichtige Funktionen: Erstens. Die völkerstrafrechtlichen Normen werden in deutsches Recht transformiert. Hierdurch wird eine deut- sche Strafverfolgung auf Grundlage dieser Normen über- haupt erst möglich gemacht. Zweitens. Strafbarkeits-, Strafzumessungs- und Straf- anwendungslücken werden beseitigt. Auf diese Weise wird eine umfassende und adäquate Bestrafung sämtli- cher Straftatbestände des Statuts unter Erfassung des spe- zifisch völkerrechtlichen Unrechtsgehaltes sichergestellt, die das deutsche Strafrecht bislang nicht leisten kann. Drittens. Mit der Entscheidung gegen Detailerweite- rungen innerhalb des geltenden Strafrechts und für ein weitgehend eigenständiges Regelwerk wird die Rolle des Völkerstrafrechts gegenüber dem allgemeinen Strafrecht verdeutlicht und dessen herausragende Bedeutung für Si- cherheit und Frieden in der Weltgemeinschaft betont. Viertens. Mit Blick auf den Grundsatz der Komple- mentarität, also der Nachrangigkeit der Verfolgung der völkerrechtlichen Straftatbestände durch den Internatio- nalen Strafgerichtshof gegenüber der Verfolgung in den Unterzeichnerstaaten des Statuts, wird eine nahezu deckungsgleiche Verfolgbarkeit in Deutschland herge- stellt. Wo diese Lücken aufweist, liegt dies in der not- wendigen Achtung des Bestimmtheitsgrundsatzes des Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes sowie der dem Inhalt des Statuts als internationalem Kompromiss und Aus- gleich zwischen verschiedenen Rechtsordnungen inne- wohnenden Besonderheiten begründet. Der Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Rö- mischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes vom 17. Juli 1998 flankiert diese erfreuliche Entwick- lung, indem er die Zusammenarbeit zwischen Deutsch- land und dem Internationalen Strafgerichtshof als Voraus- setzung für dessen effiziente Arbeit dezidiert und zusammenhängend regelt. Ich möchte keine Prognose wagen, wie viele Völker- rechtsverbrechen auf Grundlage dieses neu geschaffenen Rechts in Zukunft tatsächlich vor deutschen Strafgerich- ten Verfolgung finden werden. Aber selbst dann, wenn es kein einziges sein sollte, ändert das nichts an der heraus- ragenden Bedeutung dieses Vorhabens für eine gerechte Weltordnung. Denn entscheidend ist bereits die zweifache Signalwirkung, die von dessen Verwirklichung ausgehen wird. Das erste Signal richtet sich an die Staaten, die das Statut noch nicht ratifiziert oder die Voraussetzungen für eine innerstaatliche Verfolgung noch nicht geschaffen ha- ben und wird diese motivieren, es uns gleich zu tun. Das zweite Signal richtet sich an die potenziellen Täter und macht unmissverständlich deutlich: Die Weltgemein- schaft wird Verstößen gegen das Völkerrecht nicht taten- los zuschauen oder diese tolerieren. Wir haben den Willen und das Instrumentarium, diese Verbrechen zu verfolgen. Wer die Regeln des Völkerrechts missachtet, treibt sich selbst in die Isolation und wird – egal, ob in einem Unter- zeichnerstaat oder vor dem Internationalen Strafgerichts- hof – für seine Verbrechen bestraft werden. Heute ist nicht der rechte Zeitpunkt, Kritik an einzel- nen Regelungen der Gesetzentwürfe zu üben. Sicher ist bei dem einen oder anderen Tatbestand fraglich, ob er dem Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes genügt. Lassen Sie mich hier beispielhaft nur § 10 Abs. 1 Nr. 1 des Ent- wurfes nennen. Andere Fragen – wie beispielsweise die Behandlung ehemaliger Mitglieder ausländischer Regie- rungen, die schwerste Völkerrechtsverbrechen begangen haben – sind aus meiner Sicht offen geblieben. Ich bin al- lerdings überzeugt, dass es im parlamentarischen Verfah- ren gelingen wird, die vorhandenen Schwächen der Ent- würfe zu beseitigen. Mit der Einführung des Völkerstrafgesetzbuches und der entsprechenden Begleitgesetze wird Deutschland ei- nen weiteren maßgeblichen Beitrag zur weltweiten Ächtung, Verfolgung und Bestrafung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsver- brechen leisten und das Römische Statut des Internatio- nalen Strafgerichtshofes nach dessen Ratifizierung und der Änderung des Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes wei- ter mit Leben füllen. Sicherheit und Frieden für eine im- mer enger zusammenwachsende Welt sind unser gemein- sames Anliegen. Dessen Realisierung findet heute und in Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222682 (C) (D) (A) (B) Zukunft die volle Unterstützung der CDU/CSU-Bundes- tagsfraktion. Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute ist ein guter Tag: Nachdem Politik und Diplomatie auf der internationalen Ebene erfolgreich für die Zeich- nung des Römischen Statuts gekämpft haben und Deutschland es am 11. Dezember 2000 ratifiziert hat, kön- nen wir heute in erster Lesung über den Entwurf der Bun- desregierung zur Ausführung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes und über das neue Völ- kerstrafgesetzbuch beraten. Mit Letzterem geben wir uns eines der modernsten Völkerstrafgesetzbücher der Welt und haben eine über- zeugende innerstaatliche Ergänzung des Römischen Sta- tuts. Das Völkerstrafgesetzbuch wird es uns ermöglichen, schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch in Deutschland strafrechtlich zu verfolgen. Bislang unterliegen der deutschen Gerichtsbarkeit nur Straftaten, die innerhalb Deutschlands gegen deutsches Recht begangen wurden oder die ein deutscher Staatsan- gehöriger im Ausland begeht und sowohl nach deutschem als auch nach dem dortigen Recht strafbar ist. Das wird jetzt anders: Für schwerwiegende Verstöße gegen das Völkerrecht gilt künftig das Weltrechtsprinzip. Weder muss der Täter Deutscher sein oder hier leben, noch muss die Tat in Deutschland begangen worden sein. Kofi Annan sagte Ende Februar hier vor diesem Haus, dass es nur wenige Nationen gebe, die bessere historische Gründe als die Deutschen hätten, sich für die Sache des Friedens zu engagieren. Er hat Recht. Deshalb begrüße ich es sehr, dass wir uns mit den Gesetzentwürfen so kon- sequent für die Verfolgung von schwersten Menschheits- verbrechen einsetzen. Mitte Februar wurden manche Menschenrechtler von einem Urteil des Internationalen, Gerichtshofs schwer enttäuscht: Im Streit zwischen Belgien und dem Kongo hat der Internationale Gerichtshof entschieden, dass ein belgisches Gericht keinen Haftbefehl gegen den früheren kongolesischen Außenminister wegen Völkermords an den Tutsi erlassen durfte. Heißt das, dass Staatschefs und Minister nicht verfolgt werden dürfen, dass gerade die Haupttäter straffrei ausge- hen? Macht Macht immun? Nein, nicht mehr und immer weniger! Zwar dürfen Einzelstaaten nicht über Mitglieder eines anderen Staates richten, internationale Strafgerichte hingegen sehr wohl. Hierfür spricht auch einiges. Denn die Strafverfolgung von Staatschefs oder Ministern eines souveränen Staats durch einen anderen Einzelstaat kann leicht als Miss- brauch verstanden werden. Außenpolitisch und diploma- tisch könnte es als hegemoniales Signal missverstanden werden, wenn der politischen Elite der Dritten Welt vor europäischen Gerichten der Prozess gemacht wird. Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehören vor ein von den VN legitimiertes Strafgericht. Deswegen wird der internationale Strafgerichtshof so dringend gebraucht. Das wissen wir nicht erst seit dem 11. September. Die schrecklichen Verbrechen in Ruanda und Exjugoslawien wurden zwar mit VN-Sondertribunalen beantwortet. Aber bisher fehlte auf die meisten furchtbaren Verbrechen eine allgemeine Antwort der Staatengemeinschaft. Ein Bei- spiel hierfür ist das Scheitern der Verhandlungen im Fe- bruar zwischen Kambodscha und den Vereinten Nationen um ein Tribunal gegen die Roten Khmer. Ein Internationaler Strafgerichtshof ist überfällig. Aber selbst wenn er – aller Voraussicht nach – nächstes Jahr seine Arbeit aufnehmen wird, sind damit nicht alle Pro- bleme aus dem Weg geräumt. Erstens wird seine Wirk- samkeit auf die Vertragsstaaten beschränkt bleiben. Zwei- tens fehlt eine wesentliche Komponente eines Straf- gerichts: eine zuarbeitende eigene Polizeieinheit. Wie problematisch Gefangennahmen und Überstellungen von Tätern an ein Weltgericht sind, hat uns gerade in jüngster Zeit das Jugoslawien-Tribunal wieder vor Augen geführt. Es ist deshalb regelrecht tragisch, wenn die USA bis- lang die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs nicht unterstützen. Der Internationale Strafgerichtshofs wird aber auf die universelle Anerkennung angewiesen sein. Noch hat er diese Unterstützung nicht, im Gegenteil. Deswegen möchte ich unsere amerikanischen Partner von dieser Stelle aus nochmals auffordern: Helfen Sie mit, die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen weiter voranzubringen! Ich spreche mit Sicherheit im Namen vieler Frauen, wenn ich sage, dass es sich lohnt, sich für die Weiterent- wicklung des Völkerrechts einzusetzen: Zum ersten Mal in der Geschichte des Völkerrechts werden Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei und erzwungene Schwangerschaften als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbre- chen anerkannt und im Statut des Internationalen Strafge- richtshofs einzeln aufgeführt. Angesichts der Gräueltaten auf dem Balkan ist das eine späte Genugtuung für viele Frauen und ein wirklicher Durchbruch in der weltweiten Anerkennung der Menschenrechte von Frauen. Das Auswärtige Amt hat nicht nur bei den schwierigen und zähen Verhandlungen um das Römische Statut großartige Arbeit geleistet. Es setzt diese fort und startet bereits Initiativen, um viele potenzielle deutsche Bewer- berinnen und Bewerben auf Stellenmöglichkeiten ab nächstem Jahr in Den Haag aufmerksam zu machen. Mit dem Völkerstrafgesetzbuch knüpfen wir das Netz enger, um der Menschenrechtspolitik nicht nur mit wohl- klingenden Reden, sondern mit effektiven Instrumenten zur Durchsetzung zu verhelfen. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (FDP): In der Rechts- politik ist aus Sicht der FDP in dieser Legislaturperiode vieles schief gegangen. Dies im Einzelnen darzutun, ist hier natürlich weder Anlass noch Zeit. Für den heutigen Diskussionspunkt nämlich, die Fortentwicklung des in- ternationalen Strafrechts, trifft das gottlob nicht zu. Dies sei ausdrücklich attestiert. Denn hier hat die Regierung die Vorarbeiten liberaler Minister nach anfänglichem Hol- pern – ich denke nur an das unverständliche Gesperre bei der Änderung von Art. 16 Abs. 2 GG – denn doch erfreu- licherweise genutzt. Nach der Ratifizierung des Römi- schen Statutes vom 17. Juli 1998 über einen ständigen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22683 (C) (D) (A) (B) Internationalen Strafgerichtshof kommen nun also der Entwurf eines entsprechenden Umsetzungsgesetzes und der Entwurf eines Gesetzes zur Einfügung des Völker- strafgesetzbuches auf den Weg. Beide Initiativen unter- stützt die FDP mit Nachdruck. Bei dein Gesetzesentwurf zur Ausführung des Römi- schen Statuts geht es vor allem darum, eine enge und ef- fiziente Zusammenarbeit mit dem internationalen Tribu- nal sicherzustellen. Deutschland hat ein spezifsches Interesse daran, dessen Wirken kraftvoll sich entfalten zu lassen und also in jeder Hinsicht zu fördern. Hierfür müs- sen etwa nationale Hoheitsrechte aufgegeben werden, wie bei der Duldung von Verfahrenshandlungen auf deut- schem Territorium. Die Regeln des internationalen Rechtsverkehrs bedürfen einer nachhaltigen Intensivie- rung. Entgegen teilweise geäußerter Kritik halten wir in- soweit die vorgesehenen Zulassungen und Anpassungen nicht für zu weit gehend, und zwar auch, soweit dazu eine gewisse Zentralisierung justizieller Entscheidungen in Deutschland notwendig wird. Das eigentlich Innovatorische, Weiterführende macht allerdings der Gesetzentwurf zur „Einführung des – rich- tig wohl: – eines – Völkerstrafgesetzbuches“ aus. Hier wird das materielle deutsche Strafrecht fortentwickelt. Zugleich erfolgt dadurch aber auch ein Beitrag zu Ausbau und Verdichtung der völkerrechtlichen Normen. Vision ist ja, wenigstens für die schwersten Verbrechen auf interna- tionaler Ebene wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen eine umfassende rechtliche Einfangung zu erreichen, und damit ein Stück Welt-Innenrechtsordnung zu schaffen. Wir Liberalen be- kennen uns zu diesem Ziel ausdrücklich und unterstützen jede vernünftige Anstrengung in diese Richtung, auch und gerade wenn zur endgültigen Zielerreichung noch viel Ar- beit und viele Einzelakte erforderlich sind. Der jetzt un- ternommene Schritt scheint uns jedenfalls eine gelungene Unternehmung auf diesem ebenso steinigen wie lohnen- den Weg. Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Nachdem Deutschland das Römische Statut ratifiziert hat, ist es nach meiner Mei- nung richtig und geboten, seine Bestimmungen in das in- nerstaatliche Recht umzusetzen. Es entspricht dem Rang, den die Materie inzwischen im Völkerrecht einnimmt, ein eigenständiges Völkerstrafgesetzbuch zu schaffen. Auch die Einführung des Weltrechtsprinzips für Verbrechen nach Völkerstrafgesetzbuch ist angemessen. Ich hoffe, dass es nicht bei einem weitgehend symbo- lischen Akt bleibt und dass das Gesetz nicht selektiv an- gewandt wird. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu wei- sen, dass das Völkerstrafrecht entweder wirkungslos bleibt oder gegen die jeweiligen Gegner der USA und der NATO instrumentalisiert wird. Die Ausformulierung der Straftatbestände folgt im We- sentlichen denen des Statuts. Leider werden dabei auch bestimmte Defizite des Statuts fortgeschrieben. Das Verbrechen der Aggression ist im Statut verankert, allerdings ohne formulierten Tatbestand und daher nicht strafbewehrt. Im Entwurf des Völkerstrafgesetzbuchs ist dieses Verbrechen nicht erfasst. Nach meiner Meinung kann und muss die Aggression im Völkerstrafgesetzbuch als Verbrechen definiert und unter Strafe gestellt werden, zumal bereits im StGB – §§ 80 und 80 a – die Vorberei- tung eines Angriffskriegs und das Aufstacheln zu ihm un- ter Strafe steht. Im Entwurf fehlt ebenso wie im Statut ein Straftatbe- stand des Terrorismus. Wäre es nicht angebracht, im Zu- sammenhang mit den Verbrechen gegen die Menschlich- keit völkerrechtlich anerkannte Tatbestandsmerkmale des internationalen Terrorismus aufzunehmen? Es kommen freilich nur die Tatbestände infrage, auf die sich die Staa- tengemeinschaft in verbindlichen Verträgen geeinigt hat. Im Entwurf ist entsprechend dem Statut für das Ver- brechen des Einsatzes von Kindersoldaten eine Alters- grenze von 15 Jahren festgelegt. In dem von Deutschland unterzeichneten Zuatzprotokoll über die Rechte der Kin- der vom Mai 2000 wird die Heranziehung von Menschen unter 18 Jahren zum Kriegsdienst verboten. Der Entwurf sollte sich an dem jüngeren Zusatzprotokoll orientieren und eine Grenze von 18 Jahren bestimmen. Ein deutsches Völkerstrafgesetzbuch sollte angesichts der historischen, moralischen und juristischen Verantwor- tung Deutschlands festlegen, dass die Unterwerfung von Zivilpersonen unter Zwangsarbeit in einem bewaffneten Konflikt ein Kriegsverbrechen ist. In § 12 des Entwurfs wird die Verwendung von chemi- schen und biologischen Waffen unter Strafe gestellt. Es fehlt jedoch – wie auch im Statut – die Strafbarkeit des Einsatzes von Atomwaffen. Ungeachtet gewisser völker- rechtlicher Zweifelsfragen, ob Atomwaffen zu den verbo- tenen Mitteln der Kriegführung gehören, plädiere ich ganz entschieden dafür, dass im Völkerstrafgesetzbuch der Einsatz von Atomwaffen als ein schweres Kriegsver- brechen unter Strafe gestellt wird. Dasselbe gilt für die Verwendung von Laserwaffen und Antipersonenminen, von Streu- und Splitterbomben, wo die Strafbewehrung im Völkerrecht möglicherweise noch nicht allgemein an- erkannt ist. Ich sehe kein juristisches Hindernis, in einem inner- staatlichen Strafgesetzbuch, das der Umsetzung von Völ- kerstrafrecht dient, über den erreichten völkerrechtlichen Standard in bestimmten Punkten hinauszugehen. Das ist politisch geboten und würde das Völkerrecht stärken. Lassen Sie uns darüber nachdenken und beraten. Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: Mit dem Völkerstrafgesetzbuch und Ausführungsgesetz zum Römischen Statut des Inter- nationalen Strafgerichtshofs legt die Bundesregierung zwei wichtige Gesetzentwürfe zur Förderung der interna- tionalen Strafgerichtsbarkeit und der Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts in Deutschland vor. Vor knapp vier Jahren, nämlich am 17. Juli 1998, ist das Statut des künftigen Internationalen Strafgerichtshofs in Rom von 120 Staaten angenommen worden. Der stän- dige Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag wird, wie Sie alle wissen, Gerichtsbarkeit über die schwersten Verbrechen haben, die die internationale Ge- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222684 (C) (D) (A) (B) meinschaft als Ganzes berühren: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Ver- brechen der Aggression. Deutschland gehört zu den Wegbereitern des Internationalen Strafgerichtshofs. Am 27. Oktober 2000 haben Sie fast einstimmig das Vertrags- gesetz zum Internationalen Strafgesetzbuch und eine Änderung des Art. 16 Abs. 2 GG beschlossen und so er- möglicht, dass Deutschland das Statut bereits am 11. De- zember 2000 ratifizieren konnte. Mittlerweile liegen 55 Ratifikationen vor; mit der 60. Ratifikation wird das Statut in Kraft treten. Der Gerichtshof wird daher seine Arbeit voraussichtlich in naher Zukunft – früher als er- wartet – aufnehmen können. Da die Bundesregierung die Errichtung des Internatio- nalen Strafgerichtshofs mit hohem Engagement vorange- trieben hat, wollen wir auch unsere Gesetze bis zur Ent- stehung des Gerichtshofs so schnell wie möglich vollständig auf die internationalen Anforderungen aus- richten. Der Entwurf eines Ausführungsgesetzes schafft die in- nerstaatlichen Voraussetzungen für die Zusammenarbeit der deutschen Strafverfolgungsbehörden mit dem Inter- nationalen Strafgerichtshof. Der Gerichtshof ist auf die Unterstützung der Vertragsstaaten, zum Beispiel durch die Überstellung beschuldigter Personen und die Über- sendung von Beweismaterial, angewiesen. Die im Römi- schen Statut vorgesehene Verpflichtung zur Zusammen- arbeit setzen wir im Ausführungsgesetz durch eine völkerrechts- und gerichtshoffreundliche Ausgestaltung der einschlägigen nationalen Regelungen punktgenau um. Aber auch die Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen vor den deutschen Gerichten bleibt wichtig. Nach dem Grundsatz der Komplementarität, der im Römischen Sta- tut steht, ist ein Verfahren vor dem Internationalen Straf- gerichtshof nur dann zulässig, wenn Staaten nicht willens oder nicht in der Lage sind, eines der vom Statut erfassten Kernverbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Vorrangig sollen also die Vertragsstaaten ihrer Verantwortung für die internationale Strafgerichtsbarkeit gerecht werden. Was wir zur dauerhaften Überwindung der Straflosig- keit von Völkerrechtsverbrechen brauchen, ist ein Zu- sammenwirken von nationalen und internationalen Straf- gerichten. Die Bundesregierung hat daher beschlossen, durch das Völkerstrafgesetzbuch eine neue und bessere Rechtsgrundlage für die Verfolgung von Völkerrechts- straftaten in Deutschland zu schaffen. Mit dem Völker- strafgesetzbuch wird Deutschland ein besonderes Straf- gesetz für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen erhalten. Der heute vorliegende Entwurf geht zurück auf die Arbeit der von der Bundesministerin der Justiz im Jahr 2000 eingesetz- ten Expertenarbeitsgruppe, in der neben den betroffenen Ressorts insbesondere namhafte Wissenschaftler für Straf- und Völkerrecht vertreten waren. Ziel des Entwurfs ist es, das materielle Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland an das Statut des Internationalen Strafge- richtshofes und weiteres allgemein anerkanntes Völker- recht anzupassen. Dem Entwurf kommt insoweit auch eine Vorreiter- und Vorbildfunktion für zahlreiche Staaten zu, die ebenfalls vor der Frage stehen, wie sie das Römi- sche Statut umsetzen. Mit dem Völkerstrafgesetzbuch wird es künftig mög- lich sein, das spezifische Unrecht der Verbrechen gegen das Völkerrecht besser zu erfassen, als dies nach allge- meinem Strafrecht derzeit möglich ist. Neben dem Tatbe- stand des Völkermords, der bereits jetzt im Strafgesetz- buch geregelt ist, werden auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ausdrücklich als Straftatbestände aufgenommen. Zwar sind die Einzeltaten der Völkerrechtsverbrechen wie Mord, Vergewaltigung oder Folter im Wesentlichen schon nach unserem allge- meinen Strafrecht strafbar. Eine gezielte Regelung signa- lisiert jedoch stärker, dass wir diese Taten verfolgen wol- len und werden. Außerdem zeigt sich im Detail doch, dass es für manche speziellen Straftaten des Statuts kein ge- eignetes Pendant im Strafgesetzbuch gibt. Grundlage des Völkerstrafgesetzbuches ist der aktuelle Stand des Völkergewohnheitsrechts. Die Strafbarkeit nach dem Völkerstrafgesetzbuch wird daher teilweise über die bloße Umsetzung der Strafvorschriften des Römischen Statuts hinaus erweitert, soweit es hierfür eine Grundlage im gesicherten Völkergewohnheitsrecht gibt. Beispielsweise werden bei den Kriegsverbrechen insbe- sondere die Strafbarkeiten im internationalen und im nicht internationalen bewaffneten Konflikt vereinheitlicht. Das Völkerstrafgesetzbuch wird so die Entwicklung des hu- manitären Völkerrechts fördern und zu seiner Verbreitung beitragen. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen weiteren wichtigen Aspekt eingehen: Der Entwurf – auch das ist neu – eröffnet die deutsche Gerichtsbarkeit für Völker- rechtsverbrechen auch dann, wenn die Täter weder selbst Deutsche sind noch die Taten in Deutschland oder an deutschen Staatsangehörigen begangen worden sind. Es schafft mithin die Grundlage zur weltweiten strafrechtli- chen Verfolgung von Völkermördern und Kriegsverbre- chern. Der Botschaft des Römischen Statuts, dass sich die Schreibtischtäter und Folterknechte dieser Welt nir- gendwo und zu keiner Zeit mehr sicher fühlen dürfen, kommt künftig durch das Völkerstrafgesetzbuch in Deutschland gewissermaßen Gesetzesrang zu. Ich freue mich außerordentlich, dass diese Anliegen durchweg geteilt werden, und bin zuversichtlich, dass das Völkerstrafgesetzbuch und ebenso das Ausführungsge- setz schon bald verabschiedet werden können. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der Bekämpfung von illegaler Be- schäftigung und Schwarzarbeit (Tagesordnungs- punkt 24) Dieter Maaß (Herne) (SPD): Im Anschluss an diese Debatte werden wir ein Gesetz verabschieden, das illegale Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22685 (C) (D) (A) (B) Beschäftigung und Schwarzarbeit wirksam erschweren wird. Unsere Entscheidung fällt in eine Zeit, in der die Bür- gerinnen und Bürger über Korruption, Bestechung und unlautere Spendenpraxis erschüttert sind. In diese Art von Kriminalität fällt auch Schwarzarbeit und illegale Be- schäftigung. Über die moralische Verwerflichkeit dieses Tuns wird seit langem geredet. Doch die viel beschworenen Selbst- heilungskräfte des Marktes haben bisher diese kriminel- len Machenschaften nicht verhindern können oder wol- len. Wir Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen machen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ernst und sagen illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit rigoros den Kampf an. Schwerpunkte unseres Gesetzes sind: eine verbesserte Kooperation und Koordination zwischen den Behörden, insbesondere des Datenaustausches, die Ausdehnung der Generalunternehmerhaftung auf Sozialabgaben und eine Verschärfung der Sanktionen bei Verstößen von Gesetzen. Nun mögen den Wirtschaftsliberalen unter uns die Be- stimmungen des Gesetzes zu bürokratisch sein. Doch ich sage Ihnen: Wenn wir eine soziale Marktwirtschaft wol- len, müssen wir diesen kriminellen Machenschaften das Handwerk legen, dann muss der Gesetzgeber handeln und dies tun wir. Aber es geht ja nicht nur um die Einhaltung von Regeln um Sozialdumping zu verhindern; es geht in erster Linie um Geld, viel Geld. Wir wissen, 100 000 durch illegal Be- schäftigte verlorene Arbeitsplätze führen zu Steuer- und Beitragsverlusten von circa 1,5 Milliarden Euro und ver- nichten 60 000 legale Arbeitsplätze. Nach Meinung der Sachverständigen kostet die Schwarzarbeit allein auf dem Bau 170 000 Stellen. Unser Kollege Klaus Wiesehügel hat von dieser Stelle aus oft eindringlich auf die Situation am Bau hingewiesen. Wir müssen in unserem Kampf gegen Illegalität von Beschäftigung am Bau und anderswo bei denen ansetzen, die solche Kriminalität organisieren. Denn es geht nicht um die so genannte Nachbarschaftshilfe. Arbeiter aus ar- men Ländern treibt oft die Not zu uns. Sie verdienen nicht das große Geld auf deutschen Baustellen. Ich kann sie deshalb nicht verurteilen. Aber es regt mich als Gewerk- schaftler auf, wenn andere mit kriminellen Handlungen das große Geld an ihnen verdienen. Noch einige Anmerkungen zu dem Antrag der Union. Im Grunde müssten Sie unserem Gesetz zustimmen. Das tun Sie nicht, denn es ist Wahlkampf. Andererseits müssen Sie den Bürgern und Bürgerinnen sagen, dass Sie illegale Beschäftigung nicht wollen. Deshalb fordern Sie in einem eigenen Antrag eine Mel- depflicht des Generalunternehmers bei einer zentralen Meldestelle der Sozialversicherungsträger einzuführen – damit ist die wirksame Haftung weg –, die Verfolgung illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit bei den Behör- den der Zollverwaltung zu konzentrieren und die Bundes- anstalt für Arbeit von dieser Aufgabe zu entbinden, die Unfallversicherung so zu ändern, dass illegal Beschäftigte keine Leistungen erhalten, den Sozialversicherungsaus- weis fälschungssicher zu gestalten. Eine bescheidene Frage: Warum haben Sie diese For- derung nicht schon zu Ihrer Regierungszeit durchgesetzt? Ansonsten besteht Ihr Antrag aus Forderungen, die wir bereits umsetzen, und aus Allgemeinplätzen, die nicht zur Bekämpfung von illegaler Beschäftigung beitragen. Zur FDP ist zu sagen: Ihre Forderung nach einer Sen- kung der Steuern und Abgaben löst nicht das Problem. Il- legale Beschäftigung und Schwarzarbeit sind auch bei ei- ner radikalen Senkung der Steuern und Abgaben immer noch profitabler als legale Arbeit. Wollen Sie, dass die Ar- beitnehmer für einen Hungerlohn und ohne soziale Siche- rung arbeiten? Das wäre nämlich die Konsequenz Ihrer Vorschläge zur Bekämpfung der illegalen Arbeit. Diesen Weg werden die Koalitionsfraktionen nicht ge- hen. Mit uns wird es keinen Abbau sozialer Arbeitneh- merrechte und kein Lohndumping geben. Wenn wir es alle wollen, werden wir auch zum Erfolg kommen und Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung wirksam zurückdrängen. Ich bitte Sie daher, unserem Ge- setzesentwurf zuzustimmen. Anette Kramme (SPD): Illegale Beschäftigung ist ein Krebsgeschwür dieser Zeit, das mit harten Therapien aus- gebrannt werden muss. Das Schwarzarbeitsvolumen hat das unerträgliche Ausmaß von circa 16 Prozent des offiziellen Bruttoin- landproduktes erreicht. Dies entspricht einem Volumen von 336 Milliarden Euro im Jahr 2001. Besonders betrof- fen ist das Baugewerbe. Die Schattenwirtschaft nimmt hier einen Anteil von mittlerweile mehr als 50 Prozent der offiziellen Wertschöpfung ein. Es ist schlimm, dass in der Vergangenheit die Schwarzarbeitsbranche zu den Wachs- tumssiegern gehört hat. Die Folgen von Schwarzarbeit sind klar: Es überleben gerade im Bausektor nur Unternehmen, die mittels Misch- kalkulationen mehr Billigsubunternehmer mit Illegalen beschäftigen, als ihre Mitbewerber einkalkulieren. Durch illegale Beschäftigung werden legale Beschäf- tigungsverhältnisse vernichtet und es wird die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert. Legal beschäftigte Arbeit- nehmer können mit Lohnkurrenzkampf mit den illegalen, die bei den Stundenverrechnungssätzen bis zu 50 Prozent billiger sind, nicht bestehen. Der Leiharbeitsbericht der Bundesregierung geht davon aus, dass in den letzten vier Jahren allein im Baugewerbe deshalb mindestens 170 000 legale Stellen durch diesen Prozess vernichtet worden sind. Die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer verschlech- tern sich stetig, weil viele Unternehmen meinen, nur durch den Bruch von Tarifverträgen und Arbeitsschutz- bedingungen im Wettbewerb bestehen zu können. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222686 (C) (D) (A) (B) Der öffentlichen Hand entgehen an Sozialversiche- rungsabgaben und Steuern durch Schwarzarbeit jährlich mindestens 125 Milliarden Euro. Der Gesetzesentwurf greift zahlreiche Forderungen auf, die von Gewerkschaften und Verbänden des Bauge- werbes und den Baupraktikern seit langem erhoben wer- den. Der Gesetzesentwurf hat deshalb von vielen Sach- verständigen gute Zustimmung erfahren. Wir führen deshalb die verschuldensabhängige Gene- ralunternehmerhaftung ein. Wir wollen keine unüberschaubaren Ketten von Sub- unternehmern mehr, deren Sinn und Zweck ausschließlich darin besteht zu vertuschen und zu verdecken und illegale Beschäftigung zu ermöglichen. Wie häufig haben Gene- ralunternehmer in der Bundesrepublik die Augen fest zu- gedrückt, nur um nicht zu sehen, dass bei ihren Subunter- nehmen illegale Praktiken gang und gäbe sind. Ich sage auch den betroffenen Generalunternehmern ganz klar: Die bloße Vorlage von Freistellungsbescheini- gungen des Finanzamtes reicht nicht aus, um den Exkul- pationsbeweis zu führen. Die Erfüllung steuerlicher Pflichten lässt nämlich nicht den Schluss zu, dass auch die Pflichten nach den Sozialversicherungsgesetzen erfüllt werden. Wir halten die Generalunternehmerhaftung für verfas- sungsmäßig. Im Vorfeld dieses Gesetzes hat es auch in Reihen der SPD Bedenken gegeben. Die Verfassungsjuris- ten des Bundesarbeitsministeriums und des Bundesjustiz- ministeriums haben deshalb besonders sorgfältig geprüft. Nicht umsonst enthält bereits die Gesetzesbegründung eine ausführliche und zutreffende Argumentation. Soweit Sie sich, meine Damen und Herren der Oppo- sition, auf das Rechtsgutachten von Professor Badura be- rufen, so ist dieses bereits deshalb unzutreffend, weil es augenscheinlich falsche Tatsachen für die Bauwirtschaft annimmt. Ein zweiter wesentlicher Punkt unseres Gesetzes ist der weitgehende Ausschluss von schwarzen Schafen der Branche bei öffentlichen Aufträgen immerhin für die be- achtliche Dauer von drei Jahren. Im Zuge der parlamen- tarischen Beratungen haben wir Sorge dafür getragen, dass der Haftungstatbestand sogar nochmals ausgedehnt wird. Ein Unternehmen wird jetzt auch von der Regelung erfasst, soweit sein gesetzlicher oder satzungsgemäßer Vertreter einen Straftatbestand der illegalen Beschäfti- gung verwirklicht hat. Wir wollen drittens, dass den hohen Gewinnchancen bei der illegalen Beschäftigung eine entsprechend hohe Abschreckung gegenübersteht. Schwarzarbeit wird daher mit einem Bußgeld von bis zu 300 000 Euro belegt. Ille- gale Ausländerbeschäftigung ist bereits dann eine Straftat, wenn mehr als fünf Ausländer beschäftigt werden. Viertens: Abschreckung hilft allerdings nur begrenzt. Was wir deshalb weiter machen, ist Folgendes: Wir bauen die Zusammenarbeitshindernisse zwischen den Behörden ab und verstärken den gegenseitigen Informationsaus- tausch. Sogar im Steuerrecht werden die Finanzbehörden verpflichtet, ggf. über die Verhältnisse des Steuerpflichti- gen zu unterrichten. Jeder illegal arbeitende Unternehmer und jeder illegal arbeitende Beschäftigte soll jederzeit fürchten, erwischt zu werden. Lassen sich mich noch ein Wort zur Politik der Oppo- sition sagen: Schwarzarbeit lässt sich nur sehr begrenzt durch niedrige Steuern und Sozialabgaben eindämmen. Illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit werden immer billiger sein als legale Arbeit, mit der Sozialversiche- rungsschutz und sozialstaatliche Leistungen einhergehen. Aber wir berücksichtigen selbstverständlich auch diesen Aspekt. Wir haben deshalb Steuern und Abgaben gesenkt. Das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung be- stätigt: Seit dem Jahr 2000 entwickelt sich die Schatten- wirtschaft zum ersten Mal seit den 80er-Jahren nicht stär- ker als die offizielle Wirtschaft. In der Vergangenheit ist dagegen die Schattenwirtschaft immer stärker angestie- gen als die offizielle Wirtschaft. Das IAW kommentiert diese Entwicklung wie folgt: „Vermutlich ist Hauptursache für das geringere Ansteigen der Schattenwirtschaft in Deutschland die in Kraft getre- tene Steuerreform, die bei der direkten Einkommensteuer, aber auch bei anderen Steuern eine spürbare Entlastung gebracht hat.“ Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Op- position, es ist unangenehm zu hören, dass die rot-grüne Koalition erfolgreich arbeitet, nicht wahr? Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Op- position, es entsteht ein unangenehmer Eindruck. Sie re- den gegen Schwarzarbeit, das ist richtig. Das tun fast alle. Aber wenn es um die effektive Bekämpfung dieses Phä- nomens geht, dann verweigern sie sich. Sie verfahren noch dem Motto „weiter so wie bisher“ und verharren in der Stagnation. Das wird ein guter Tag für die legal arbeitenden Unter- nehmen und für die legal arbeitenden Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen werden. Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Das Problem der illegalen Beschäftigung ist ein Thema, das insbesondere im Baubereich für berechtigten Unmut der Bevölkerung, vor allem der von Arbeitslosigkeit betroffe- nen Bauarbeiter sorgt. Wenn in den Medien Berichte er- scheinen, dass bei fast jeder Razzia auf deutschen Groß- baustellen illegale Beschäftigte entdeckt werden, dann wächst die berechtigte Erwartung an den Staat, dass er handelt. Ich halte dies für umso dringlicher, als nach einer Er- weiterung der Europäischen Union auch das Angebot il- legaler Arbeitskräfte steigen wird. Allein schon die Zu- nahme der wirtschaftlichen, aber auch persönlichen Kontakte wird dazu führen, dass immer mehr Menschen aus den EU-Beitrittsländern ihre Arbeitskraft illegal in Deutschland anbieten. Die Arbeitnehmer in Deutschland haben einen An- spruch darauf, dass sie nicht durch illegale Billigkräfte Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22687 (C) (D) (A) (B) aus ihren Arbeitsplätzen verdrängt werden, und die Bau- unternehmen, die sauber und fair im Markt arbeiten, ha- ben einen Anspruch darauf, dass sie nicht in einem unfai- ren Wettbewerb aus dem Markt gedrängt werden. Es ist deswegen richtig, dass es hohe Strafen gibt; es muss rich- tig wehtun. Nicht der Ehrliche darf der Dumme sein, son- dern der, der das Gesetz verletzt. Allerdings darf es nicht sein, dass der Unternehmer mit Sitz im Ausland faktisch von Strafe verschont bleibt, weil gegen ihn einfach nicht vollstreckt werden kann. Wir brauchen gemeinsame, europaweite Regelungen und am besten mit allen Ländern Vollstreckungsabkommen. Hier wäre ein wichtiger Schwerpunkt, europaweit etwas für die deutschen Interessen zu leisten. Ich halte es für richtig, dass ein Unternehmer von öf- fentlichen Aufträgen ausgeschlossen wird, wenn er Ille- gale beschäftigt – auch bei laufenden Verträgen. Alles, was die Kontrollen der Behörden erleichtert und effizienter macht, muss rasch umgesetzt werden. Die Überwachung der Einhaltung der Gesetze ist Aufgabe des Staates und liegt im Interesse nicht nur der Arbeitnehmer und der Unternehmen, sondern auch der Sozialsysteme, die durch die illegale Beschäftigung erheblich geschädigt werden. 10 000 verlorene reguläre Arbeitsplätze kosten Beitragsausfälle in der Sozialversicherung in Höhe von 110 Millionen Euro und weitere 45 Millionen Euro Steu- erausfälle. Was aber nicht geht, ist, unseren Bauunternehmen, un- serer Wirtschaft weitere immer neue bürokratische Vor- schriften und Belastungen aufzuerlegen. Das aber tun Sie mit der Generalunternehmerhaftung, die Sie einführen wollen. Sie müssen endlich begreifen, dass jede Belas- tung der Unternehmen, die sich an Recht und Gesetz hal- ten, auch den Arbeitnehmern in diesen Betrieben schadet. Es würde völlig ausreichen, eine Meldepflicht des Ge- neralunternehmers gegenüber den Sozialversicherungs- trägern einzuführen. Aber wenn Sie von einem General- unternehmer verlangen, dass er wie ein Bürge für die Sozialversicherungsbeiträge der Subunternehmer haftet, erzeugen Sie Bürokratie und Kosten nicht nur bei den Ge- neralunternehmern, sondern auch bei den Mittelständlern. Denn die Generalunternehmer werden sich so weit wie möglich rückversichern. Das wird sich auch negativ auf die Flexibilität der mit- telständischen Subunternehmer bei der Auftragserfüllung auswirken. Wenn vorher Listen mit Namen der Arbeit- nehmer abgeliefert werden müssen, kann man sie nicht ohne Weiteres austauschen. Auch ein weiterer Subunter- nehmer kann dann nicht ohne Weiteres eingeschaltet wer- den. Betroffen sind davon aber nicht nur die schwarzen Schafe, sondern die große Masse der anständig und fair arbeitenden Unternehmen. Bereits heute klagen viele Mit- telständler darüber, dass sie bei der Bezahlung durch den Generalunternehmer oft lange hingehalten werden – manchmal bis an den Rand des Ruins. Die Generalunter- nehmerhaftung liefert jetzt neue Vorwände und Begrün- dungen für Generalunternehmer, nicht zu bezahlen bzw. einen Teil des Geldes zurückzubehalten. Es ist zu befürchten, dass die Generalunternehmerhaf- tung Auswirkungen auf die Unternehmensstruktur im Baubereich hat. Derzeit ist es relativ einfach für General- unternehmer, Unteraufträge zu vergeben. Wenn eine Ver- komplizierung durch die Generalunternehmerhaftung kommt, besteht nicht zu Unrecht die Befürchtung, dass die Generalunternehmer wieder vieles selbst machen bzw. darauf bestehen, dass ihre Unterauftragnehmer nicht selbst wieder eigene Unterauftragnehmer beauftragen. Insgesamt bedeutet dies eine Auftragsverlagerung zulas- ten der mittelständischen Unternehmen. Unabhängig von all diesen Fragen bedeutet diese Ge- neralunternehmerhaftung eine Kostenerhöhung, die letz- ten Endes an die Subunternehmer, das heißt an die kleinen Betriebe, weitergegeben wird. Hier liegt der große Fehler, den Sie bei all Ihren Gesetzesentwürfen immer wieder machen: Sie erkennen nicht, dass die permanente Kos- tenerhöhung bei den Unternehmen dazu führt, dass da- durch in Deutschland die Schwarzarbeit blüht. Das ist auch bei der Anhörung in der vergangenen Wo- che aufgefallen. Es ist ein unmöglicher Zustand, dass illegal Beschäftigte, wenn sie auf einer Baustelle einen Unfall haben, Ansprüche aus der gesetzlichen Unfall- versicherung haben. Es kann doch nicht sein, dass die Ge- samtheit der Unternehmen in Deutschland immer mehr Geld dafür aufwenden muss, die Unfallfolgen von illegal Beschäftigten, die ohne Arbeitserlaubnis und ohne Auf- enthaltserlaubnis hier arbeiten, zu übernehmen. Bei Ihnen und bei der Gewerkschaft besteht immer noch die Vorstellung, alles, was nicht der Arbeitnehmer bezahlen muss, sondern die Unternehmen bezahlen müs- sen, sei gut und richtig. Genau das ist der große Fehler. All diese Kosten sind als Lohnnebenkosten oder sonstige Kosten arbeitsplatzschädlich. Je höher wir die Lohn- nebenkosten und die Kostenbelastungen für unsere Un- ternehmen machen, umso teurer machen Sie die reguläre Beschäftigung und umso attraktiver machen Sie die Schwarzarbeit. Dieses Gesetz mit Generalunternehmerhaftung reiht sich ein in eine Serie von Kostenerhöhungsgesetzen, von den 630-DM-Jobs über die Scheinselbstständigkeit bis hin zur Betriebsverfassungsgesetzänderung. Rot-Grün er- höht mit ständig neuen Gesetzen die Kosten bei den Un- ternehmen und damit die Kosten für die reguläre Be- schäftigung. Wenn heute ein Facharbeiter im Baubereich fünf bis sechs Stunden arbeiten muss, damit er eine re- guläre und legale Handwerkerstunde bezahlen kann, dann liegt darin die Ursache für die Schwarzarbeit. Wenn Sie noch ein bisschen Kontakt zu den Menschen im Land haben, werden Sie wissen, dass Schwarzarbeit in allen Bereichen des Lebens gang und gäbe ist. Allein im Jahr 2001 ist die Schwarzarbeit um 6,2 Prozent angestie- gen. Der Rest der Wirtschaft ist im gleichen Zeitraum fast nicht gewachsen, die Arbeitslosigkeit dramatisch ange- stiegen. Die beste und einzig wirklich effiziente Möglichkeit, die Schwarzarbeit zu bekämpfen, besteht darin, reguläre, gewerbliche Handwerkerleistungen wieder bezahlbar zu machen. Mit solchen Gesetzen, wie sie Rot-Grün am lau- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222688 (C) (D) (A) (B) fenden Band produziert, erreichen Sie das Gegenteil. Sie weigern sich, dies zur Kenntnis zu nehmen. Solange Rot-Grün in diesem Land regiert und mit wirt- schaftsfeindlichen Gesetzen Probleme lösen will, werden wir immer größere Probleme bekommen. Deshalb gibt es nur einen Weg: Der Regierungswechsel im September muss her, damit es mit der deutschen Wirtschaft und der Schaffung von Arbeitsplätzen wieder aufwärts geht. Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Illegal zu beschäftigen ist kein Kavaliersdelikt. Der faire Wett- bewerb zwischen Unternehmen ist ausgehebelt, die illegal Beschäftigten haben oft zu wenig Lohn und nur schlechte Arbeitsbedingungen und es werden Steuern und Sozial- versicherungsabgaben hinterzogen. Der Gesetzentwurf greift zurückliegende Initiativen des Bundestags und des Bundesrats auf. Das Für und Wider einzelner Details ist im Vorfeld auch mit Arbeitgeber- und Berufsverbänden sowie mit den Gewerkschaften besprochen worden. Der Gesetzentwurf verfolgt drei Ansatzpunkte gegen die gesetzeswidrige Praxis: erstens eine bessere Zusam- menarbeit der bei der Bekämpfung zuständigen Behörden und mehr Befugnisse für die Arbeitsverwaltung. Dabei werden alle Behörden, die bei der Bekämpfung von ille- galer Beschäftigung und Schwarzarbeit zusammenarbei- ten, verpflichtet, Informationen auszutauschen. Zweitens erheblich verschärfte Sanktionen, wenn Unternehmer der illegalen Beschäftigung überführt werden. Drittens die Verstärkung der Verantwortung, die den Auftraggebern im Baugewerbe zukommt. Diese Haftung der Auftragge- ber für die Sozialversicherungsbeiträge, die der Unterauf- tragnehmer für seine Beschäftigten zu leisten hat, ist ver- schuldensabhängig. Das ist für die grüne Bundestags- fraktion ein wichtiges Anliegen. Zu einer Haftung kommt es nur, wenn gegen die übliche Sorgfaltspflicht des „or- dentlichen Kaufmanns“ verstoßen worden ist. Wer im Vorfeld überprüft hat, ob Subunternehmer die Sozialver- sicherungsbeiträge abführen, hat später nichts zu befürch- ten. Als besondere Signalwirkung ist vorgesehen, dass die öffentliche Hand zukünftig Unternehmer, denen Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung nachgewiesen wird, drei Jahre von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausschließen kann. Die verschärften Sanktionen im Gesetz gegen illegale Beschäftigung sollen diejenigen Unternehmen verstärkt zur Kasse bitten, die Arbeitnehmer unter Umgehung der Sozialversicherungspflicht illegal beschäftigen. Der grü- nen Bundestagsfraktion war dabei besonders wichtig, dass das Bußgeld für Handwerker, die ihr Gewerbe be- treiben, ohne in der Handwerksrolle eingetragen zu sein, nicht zusätzlich angehoben wird. Das haben wir durchge- sctzt und damit die geplante Strafverschärfung für eine Gruppe verhindert, die Steuern und Sozialabgaben zahlen und Arbeitsplätze schaffen. In der Europäischen Union ist nur in Deutschland und Österreich der Meisterbrief Vo- raussetzung für eine selbstständige Tätigkeit im Hand- werk. Bündnis 90/Die Grünen wollen die Selbstständig- keit im Handwerk erleichtern und treten daher dafür ein, auch Gesellen die Gründung von Betrieben zu ermögli- chen. Die Bundesregierung hat sich mit den Ländern im Dezember 2000 auf die flexible Anwendung der Hand- werksordnung verständigt, um Selbstständigkeit im Handwerk zu erleichtern und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu entsprechen. Vor diesem Hintergrund wäre die Erhöhung des Bußgeldes von 100 000 auf 300 000 Euro völlig unverhältnismäßig ge- wesen. Dieses Gesetz gehört zu einem Bündel von Maßnah- men, mit denen die rot-grüne Regierung die illegale Be- schäftigung wirksamer als bisher bekämpft. Beispielhaft wären zu nennen das Entsendegesetz, Steuersenkungen und die Stabilisierung der Abgaben, mit denen wir bereits die Rahmenbedingungen verbessert haben. Nicht zu ver- gessen die Reformen auf dem Arbeitsmarkt durch das Job-AQTIV-Gesetz. Aber es geht um große Geldmengen, die den Sozialversicherungen vorenthalten werden. Daher müssen wir auch ordnungspolitisch reagieren. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Es ist zwischen allen Fraktionen unstrittig: Schwarzarbeit und illegale Be- schäftigung führen zu verzerrtem Wettbewerb und betrü- gen die ehrlichen Unternehmen und Betriebe in unserem Land um Aufträge und Arbeit. Wahr ist aber auch: die ein- zige Boombranche unter der rot-grünen Bundesregierung ist die Schattenwirtschaft. Rund 6,5 Prozent Wachstum hat dieser Bereich unserer Volkswirtschaft nach Schät- zungen von Experten im letzten Jahr gehabt. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zielt insbe- sondere auf die illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit in der Bauwirtschaft, einer Branche, die besonders unter rot-grüner Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zu leiden hat. Nur ein paar Zahlen: Auftragseingang 2001 gegen- über 2000 insgesamt: minus 5,1 Prozent, geleistete Ar- beitsstunden: minus 11,9 Prozent, Gesamtumsatz: minus 7,5 Prozent, Beschäftigte: minus 9,1 Prozent. Mit nur noch 954 000 liegt die Zahl der Beschäftigten im deut- schen Baugewerbe erstmals unter einer Million. Und jetzt geht auch noch des Kanzlers Lieblingsunternehmen Holzmann pleite. Das ist die aktuelle Lage in der Bau- branche. Nun frage ich mich: Was hat die deutsche Bauindustrie, was haben Millionen Handwerker Ihnen von der rot-grü- nen Koalition denn angetan, dass Sie diese schon krisen- geschüttelte Branche mit einem solchen existenzvernich- tenden Gesetz überziehen? Ihr Gesetzentwurf ist – anders als Sie behaupten – nicht kostenneutral für die Bauwirtschaft. Und er hat selbstver- ständlich Auswirkungen auf das Niveau der Baupreise. Die Kostenerhöhungen liegen nicht nur im höheren Ver- waltungsaufwand aufgrund zahlreicher Meldepflichten, Prüfungspflichten und Aufbereitungspflichten. Die größte Belastung liegt in der so genannten Generalunternehmer- haftung in § 28 e Absatz 3 a SGB IV, die, trotz der Exkul- pationsmöglichkeit ein immenses Haftungsrisiko darstellt. Unternehmen des Baugewerbes haften nach Ihrer Vor- lage für die Abführung der Sozialversicherungsbeiträge Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22689 (C) (D) (A) (B) nicht nur ihrer Subunternehmer sondern auch für die Sub- unternehmer der Subunternehmer und wiederum deren Auftragnehmer. Unter Umständen haftet ein Bauunter- nehmer für Dutzende von Subunternehmen. Die Last des Beweises, sich von der ordnungsgemäßen Abführung der Sozialversicherungsbeiträge oder zumindest der ord- nungsgemäßen Planung der Abführung überzeugt zu ha- ben, liegt bei den Bauauftraggebern. Die Folgen sind gerade für kleine und mittelständische Unternehmen verheerend. Da eine effektive Kontrolle der Abführung der Sozialversicherungsbeiträge für den Hauptunternehmer nicht möglich ist, wird sich jeder Bau- auftraggeber zukünftig dieses Haftungsrisiko von seinen Subunternehmern absichern lassen, etwa durch Einbehal- tung entsprechender Bestandteile vom Werklohn, um sich vor einer Inanspruchnahme zu schützen. Durch einen sol- chen Einbehalt in Höhe von circa 40 Prozent der Brutto- lohnsumme wird die Liquidität in einer ohnehin eigenka- pitalschwachen Branche weiter strapaziert. Es sind wieder vor allem die kleinen und mittelständi- schen deutschen Baubetriebe betroffen, die Sie schon durch die Bauabzugsteuer in unzumutbarer Weise gefähr- det haben. Die großen Unternehmen der Bauindustrie können sich dieser Risiken durch Verlagerung ihrer Ge- schäftssitze ins Ausland entziehen. Angeschmiert sind wieder einmal gerade die kleinen Handwerks- und Bau- unternehmer, die zu lebenslänglich „Standort Deutsch- land“ verurteilt sind. Besonders skandalös ist auch, dass die öffentliche Hand von dieser Haftung ausgenommen wird. Das führt mit Recht zu Zorn und Wut in der Baubranche. Auch Ihre Ablehnung des fälschungssicheren Sozialversicherungs- ausweises versteht niemand. Statt auf intelligente Lösun- gen setzen Sie auf Kontrollen und Strafe. Mehr fällt Ihnen nicht ein. Neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze wer- den Sie mit diesem Gesetzentwurf garantiert nicht schaf- fen, jedenfalls nicht im Bausektor. Hier ist eher ein mas- siver Abbau an Arbeitsplätzen für deutsche Bauarbeiter zu befürchten. Die Juristen aber werden sich freuen, denn neue Arbeitsplätze entstehen absehbar in den Anwalts- kanzleien. Die Anhörung der Betroffenen in der Baubranche hat eines deutlich gemacht: Dieser Gesetzentwurf wird exis- tenzvernichtende Verwerfungen in der Baubranche auslö- sen. Eine Spirale nach unten wird in Gang gesetzt. Am Ende steht für viele Unternehmen die Insolvenz und der Totalverlust sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze. Das ist rot-grüne Politik im 21. Jahrhundert! Besonders hart trifft es im Übrigen die Bauunterneh- men in den neuen Bundesländern. Die Koalitionsfraktio- nen machen gerade die Erfahrung, dass sie das so ge- nannte Tariftreuegesetz selbst in ihren eigenen Reihen nicht durchsetzen können, weil es massiv die Existenz der ostdeutschen Bauwirtschaft gefährdet. Lernen Sie auch bei diesem Gesetz daraus und stimmen Sie unserem Än- derungsantrag zu! Wir Liberale wollen die Generalunternehmerhaftung, die teuren bürokratischen Auflagen und die nutzlose Ver- schärfung der Bußgeldrahmen streichen. Man muss das Übel an der Wurzel bekämpfen und nicht an den Sympto- men herumkurieren. Das sage ich auch in Richtung der Kollegen von CDU/CSU. Auch Ihr Entschließungsantrag will unter Punkt 3 eine Meldepflicht der Unternehmen an die Sozialversicherungsträger einführen. Auch das ist für uns nicht zustimmungsfähig, weswegen wir uns bei Ihrem Entschließungsantrag der Stimme enthalten werden. Wir Liberale wählen einen gänzlich anderen Ansatz: Wer illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit wirksam bekämpfen will, der muss dafür sorgen, dass legale Arbeit für die Unternehmen billiger wird und dass sich legale Ar- beit für Arbeitnehmer lohnt. Dazu braucht es entschiedene Steuersenkungen, braucht es wirkliche Reformen der So- zialsysteme, braucht es weniger Regulierung des Arbeits- marktes. Die Zeit dieser Koalition läuft ab. Die Menschen wol- len eine bessere Politik, die diese Herausforderungen nach dem 22. September 2002 annimmt. Die FDP ist hierzu bereit und wir freuen uns darauf. Dr. Klaus Grehn (PDS): Angesichts des Themas „Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung“ bin ich ver- sucht, in Abwandlung einer bekannten Volksweisheit fest- zustellen: Was dem einen die schwarzen Kassen, ist dem anderen die Schwarzarbeit. – Aber so einfach ist das Pro- blem nun wirklich nicht. Völlig in Übereinstimmung mit allen anderen Fraktio- nen dieses Hauses erklärt meine Fraktion, dass auch sie die wirksame Bekämpfung von Schwarzarbeit und illega- ler Beschäftigung für dringlich und notwendig erachtet. Diese Ausgangsfeststellung möchten wir ausdrücklich hervorheben, auch um Missverständnissen angesichts un- serer Bewertungen der einzelnen Regelungen vorzu- beugen. Unsere Kritik setzt an dem Grundtenor des Gesetzes an. Sie setzen mit dem Gesetz einen Weg fort, der bisher nicht nur erfolglos war, sondern teilweise konträr zu der Zielstellung verlief. Trotz aller Sanktionen ist das Ausmaß der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung ständig angestiegen und andererseits ist die Schere zwischen fest- gesetzten und realisierten Verwarngeldern ebenso ständig weiter auseinander gegangen. Wie also begründen Sie Ihre Annahme, dass die bloße Verschärfung der Sanktio- nen diese Ergebnisse verändern wird? Wir gehen vielmehr davon aus, dass diejenigen, die sich bisher nicht haben er- wischen lassen und die sich den Sanktionen erfolgreich entzogen haben – das ist im Übrigen der weitaus größere Teil – dies auch in Zukunft erfolgreich tun werden. Wir gehen davon aus, dass ein Weg, der an die Stelle der Verschärfung der Sanktionen zielgenauere Prävention setzt, erfolgreicher wäre und den Differenzierungen in- nerhalb des Problems wesentlich besser Rechnung tragen würde. Dadurch wäre es möglich, die Ursachen von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung wirksamer zu bekämpfen anstatt lediglich ihre Symptome. Zu den Ur- sachen gehören die ständige Ausweitung des Niedrig- lohnsektors genauso wie die hohe Abgabenlast für die Ar- beitnehmer, die zunehmende Armut oder die Spirale des Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222690 (C) (D) (A) (B) ruinösen Wettbewerbs unter den Unternehmen und deren geringe Kapitaldecken, die die zunehmenden Liquiditäts- probleme der Handwerker und der kleinen Unternehmen bewirken. Hier anzusetzen ist mit Sicherheit erfolgrei- cher, als auf verschärfte Sanktionen zu setzen. Wir halten auch die Haftungsregelungen, so wie sie ausgestaltet sind, für nicht hilfreich. Bereits heute ist ab- zusehen, dass diese Regelung mit ihrer Ausgestaltung als selbstschuldnerische Haftung für die Zahlungspflicht der Nachauftragnehmer dazu führt, dass der Hauptauftrag- nehmer diese Haftung durchreicht bzw. im Selbstschutz Sicherheiten hinterlegen lässt. Das wiederum birgt die reale Gefahr, dass die Nachauftragnehmer überfordert sind, mit allen Konsequenzen bis zur Insolvenz. Diese Gefahren werden nicht durch den Vorschlag der CDU/CSU behoben, nach dem die Beiträge vorab an die Kassen zu entrichten sind. Zu viele Handwerker und kleine Unternehmen sind schon heute selbst bei kleineren Aufträgen auf Abschläge durch die Auftraggeber ange- wiesen. Sie alle können bei Strafe der Zahlungsunfähig- keit weder der einen noch der anderen Regelung Folge leisten. Das alles gefährdet in größerem Maße Arbeits- plätze, als die Verfasser des Entwurfes offensichtlich ein- kalkuliert haben. Gleiches gilt für den Ausschluss von öffentlichen Auf- trägen. Auch bei dieser Regelung scheint uns die Wirkung auf die Überlebenschance der davon betroffenen Betriebe nicht beachtet zu sein. Die Folge wäre zunehmende Ar- beitslosigkeit. Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel anführen. Sie schließen auch Unternehmen als juristische Personen von der öffentlichen Auftragsvergabe aus, wenn bei für sie han- delnden Personen die Voraussetzungen nach Art. 9 Nr. 5 § 5 Abs. 1 vorliegen. Unbeantwortet bleibt die Fragen nach den Folgen für die Arbeitnehmer eines so betroffe- nen Betriebes. Ob und inwieweit sich die Hoffnung der Bundesregierung, dass bei der Haftung die Selbstregulie- rung der Wirtschaft die aufgeworfenen Probleme löst, bleibt fragwürdig. Wir halten es auch für notwendig, die Gleichsetzung der Regelungen zur unerlaubten Handwerksausübung mit den Tatbeständen der Schwarzarbeit und illegaler Be- schäftigung angesichts der europäischen Regelungen aus dem Gesetz herauszulösen und den europäischen Rege- lungen Rechnung zu tragen. Nicht zu akzeptieren ist auch die Tatsache, dass ausge- rechnet in der gegenwärtigen Situation die Bundesanstalt für Arbeit weiterhin in diesem Bereich so stark mit art- fremden Aufgaben belastet wird, wo es in ihrer Tätigkeit doch in Übereinstimmung aller Fraktionen verstärkt um Arbeitsvermittlung und die Sicherstellung des Leistungs- bezugs der Arbeitslosen geht. Alles in allem bleibt die Frage offen: Womit begründen Sie die Annahme, dass, nachdem die bisherigen Sank- tionen einen Anstieg von Schwarzarbeit und illegaler Be- schäftigung nicht verhindert, geschweige denn zum Ab- bau beigetragen haben, die Fehlleistungen nun durch höhere Sanktionen aufgehoben werden? Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Än- derung des Wasserhaushaltsgesetzes – des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- derung des Wasserverbandsgesetzes (Tagesordnungspunkt 27 und Zusatztagesord- nungspunkt 6) Petra Bierwirth (SPD): Am 22. Dezember 1992 wurde durch die Vollversammlung der Vereinten Natio- nen der 22. März zum Tag des Wassers ausgerufen. Den Anstoß dazu gab die Lokale Agenda 21, die sich im Ka- pitel 18 mit den Problemen und der Notwendigkeit einer nachhaltigen Wasserwirtschaft auseinandersetzt. Der heutige Tag des Wassers steht unter der Überschrift „Wasser und Entwicklung“ – ein Hinweis auf eines der größten Probleme unseres Jahrhunderts: die ungleiche weltweite Verteilung des Wassers. Auch wenn wir in Eu- ropa von dieser Problematik noch nicht direkt betroffen sind, sind wir aufgefordert, durch unsere Lebensweise dazu beizutragen, dass die lebenswichtige Ressource Wasser geschont wird. Ein Beitrag dazu ist die nun endlich vorliegende EU- Wasserrahmenrichtlinie und der damit beginnende ge- meinsame Weg europäischer Wasserpolitik. Wir alle wis- sen: Flüsse, Seen und Meere halten sich nicht an Ländergrenzen. Verschmutzung bleibt nicht beim Verur- sacher. Anstrengungen, saubere Gewässer zu erhalten, machen wenig Sinn, wenn der Nachbar sich nicht daran hält. Doch wie bei vielen Dingen im Leben wird man erst aus dem Schaden klug. Manchmal bedarf es auch eines Zwangs, um mit den Nachbarn ins Gespräch zu kommen. Die Wasserrahmenrichtlinie ebnet uns diesen Weg. Zukünftig sind die Gewässer mit allen Zuflüssen fluss- gebietsbezogen zu bewirtschaften. Die hydrologischen Bedingungen und nicht mehr Verwaltungs- oder Staats- grenzen sind maßgebend. Die Kriterien für die Beurtei- lung des Gewässerzustandes sind nicht mehr die chemi- schen und physikalischen Parameter, sondern die Gewässerökologie, vor allem die Flora und Fauna. Für das Grundwasser ist Ziel, einen guten chemischen und mengenmäßigen Zustand zu erlangen. Der Weg, um die hier benannten Kriterien umsetzen zu können, sind national und international zu koordinierende Maßnahmeprogramme und Bewirtschaftungspläne. Neu ist auch, dass bei der Erstellung von Bewirtschaftungs- plänen die Öffentlichkeit frühzeitig und kontinuierlich in- formiert und auch angehört werden muss. Ich beurteile diesen Punkt sehr positiv. Längst ist es ja schon gängige Praxis, dass eine breite Öffentlichkeit sich sehr bewusst für Maßnahmen interes- siert, die in ihrem Umfeld passieren, und sich aktiv und konstruktiv einmischt. Aus diesem Grund stellen wir im § 36 b Abs. 5 WHG explizit klar, dass die Länder Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22691 (C) (D) (A) (B) verpflichtet sind, die Öffentlichkeit über das in der Was- serrahmenrichtlinie vorgesehene dreistufige Beteili- gungsverfahren hinaus zu informieren und zu beteiligen. Vor dem Hintergrund der in letzten Jahren zum Teil sehr heftig geführten Liberalisierungs- und Privatisie- rungsdiskussion der deutschen Wasserwirtschaft unter- stütze ich sehr die Forderung nach der Deckung der Kos- ten der Wasserdienstleistungen einschließlich der umwelt- und ressourcenbezogenen Aufwendungen nach dem Verursacherprinzip im Artikel 9 der Wasserrahmen- richtlinie. Hier wird sich sehr schnell die immer wieder geführte Behauptung, dass in Deutschland die Wasser- preise viel höher sind als in anderen EU-Ländern, als völ- lig unbegründet erweisen. Mit der Wasserrahmenrichtlinie ist die Umsetzung ei- nes sehr ehrgeizigen Fristenkonzepts verbunden. Bis 2003 muss die Umsetzung in nationales Recht abge- schlossen sein. Das heißt, dass bis zu diesem Zeitpunkt auch die Bundesländer ihre Landeswassergesetze ent- sprechend den neuen Anforderungen angepasst haben müssen. Bis 2009 sind die Maßnahmeprogramme und Bewirtschaftungspläne zu erstellen und bis 2015 soll das Ziel eines guten Gewässerzustandes umgesetzt sein. Mit der nun vorliegenden Novelle des Wasserhaushaltsgeset- zes gehen wir einen großen Schritt in Richtung Zielmarke 2003. Aufgrund der ausschließlichen Rahmengesetzge- bungskompetenz des Bundes können nur wesentliche Aspekte der Wasserrahmenrichtlinie in die Novelle des WHG übernommen werden. Schwerpunkte sind Rege- lungsaufträge an die Länder wie zum Beispiel zu der Pflicht der Bewirtschaftung der Gewässer nach Flussge- bietseinheiten und der damit einhergehenden nationalen und internationalen Koordinierungs- und Abstimmungs- pflicht, zu der getrennten Regelung der Bewirtschaf- tungsziele und Bewirtschaftungsanforderungen für Ober- flächengewässer und das Grundwasser und zu der rahmenrechtlichen Regelung von Maßnahmeprogramm und Bewirtschaftungsplan, die die bisherigen Planungsin- strumente – Abwasserbeseitigungsplan, Reinhalteord- nung, wasserwirtschaftliche Rahmenpläne und Bewirt- schaftungspläne – ersetzen. Gestern haben wir im Bundestag den Antrag der Re- gierungsfraktionen „Nachhaltige Wasserwirtschaft in Deutschland“ diskutiert und verabschiedet. Eines der wichtigsten wasserwirtschaftlichen Leitprinzipien in Deutschland ist der vorsorgende und flächendeckende Grundwasserschutz. Hierzu gehört auch, dass bei der Ge- wässerbewirtschaftung der Grundsatz der ortsnahen Was- serversorgung im Vordergrund stehen muss. In den Wassergesetzen der Länder Berlin, Baden- Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Thüringen ist der Grundsatz der ortsnahen Wasserversor- gung verankert. Wir haben diese Regelung aufgegriffen und im § 1 Abs. 3 als allgemeinen Regelungsauftrag an die Länder verankert. Völlig außer Frage steht natürlich, dass im Falle von quantitativen oder qualitativen Mängeln beim Grundwasserdargebot oder aus ökonomischen Gründen natürlich auf eine Fernwasserversorgung zurückgegriffen werden kann und muss. Auch ein Zu- sammenschluss zum Beispiel benachbarter Gemeinden zu einem Zweckverband ist mit dieser Vorgabe nicht ausge- schlossen und kann weiter sinnvoll bleiben. Lassen sie mich noch kurz auf einen weiteren wichti- gen Punkt eingehen. Mit der Umsetzung der Wasserrah- menrichtlinie werden auch die Bewirtschaftungsziele für die Gewässer neu definiert. Das heißt, alle Maßnahmen, die Einfluss auf den Zustand eines Gewässers haben kön- nen, müssen sich an den Bewirtschaftungszielen ausrich- ten und diese berücksichtigen. Das trifft auch auf die Bundeswasserstraßen zu. Viele Vorfluter großer Einzugsgebiete sind über weite Strecken Wasserstraßen. Auch hier fordert die Wasserrahmenricht- linie, diese Einzugsgebiete integriert zu betrachten. Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung bekommt hierbei eine neue Verantwortung innerhalb der Wasserwirtschaft. Landesbehörden müssen künftig mit den entsprechen- den Landes- und Bundesbehörden Einvernehmen bei der Bewirtschaftung von Flussgebietseinheiten und bei der Festlegung der Bewirtschaftungsziele und der Maßnah- menprogramme erzielen. Umgekehrt muss aber die Was- ser- und Schifffahrtsverwaltung diese entsprechenden Pläne bei Ausbau- und Unterhaltungsmaßnahmen berück- sichtigen. Aus unserer Sicht ist es deshalb unerlässlich, diesen Fakt auch im Bundeswasserstraßengesetz festzu- schreiben. Wir haben dies über einen Änderungsantrag zum Gesetz auch getan. Die Wasserrahmenrichtlinie macht in ihrem zentralen Erwägungsgrund deutlich: Wasser ist keine übliche Han- delsware, sondern ein ererbtes Gut, das geschützt, vertei- digt und entsprechend behandelt werden muss. – Nach dieser Maxime handeln wir mit der vorliegenden Novelle des WHG, mit unseren Änderungsanträgen, mit unserem Antrag „Nachhaltige Wasserwirtschaft in Deutschland“. Danach müssen wir auch international handeln, sei es, in- dem wir einen Schwerpunkt bei Projekten in der interna- tionalen Zusammenarbeit auf das Wasser legen, indem wir die Rahmenbedingungen für die bessere internatio- nale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wasserwirt- schaft setzen oder indem wir unsere Anstrengungen für den Klimaschutz noch verstärken. National und international stehen wir in der Pflicht, un- sere Wasserressourcen dauerhaft zu schützen und sie, wo nötig, nachhaltig zu nutzen. Die 7. Novelle des Wasser- haushaltsgesetzes, die wir heute verabschieden werden, liefert uns ein gutes Handwerkszeug, um dieses Ziel in Deutschland und Europa zu verwirklichen. Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Die heutige Verab- schiedung des Wasserhaushaltsgesetzes am Tag des Was- sers macht deutlich, welche Bedeutung das Wasser als eine der wichtigsten Grundlagen des Lebens auch in der Gestaltung von Politik hat. Die europäische Wasserrahmenrichtlinie ist der posi- tive Versuch, die Gewässerpolitik in eine gemeinsame Strategie zu stellen, gleichzeitig aber auch dem Vollzug eine gemeinsame Basis zu geben. Sie ist ein Beitrag zur nachhaltigen Wasserwirtschaft. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222692 (C) (D) (A) (B) Die Orientierung an den Grenzen von Gewässerein- zugsgebieten überwindet Verwaltungs- und Staatsgrenzen und ist beredter Ausdruck einer „grenzenlosen“ Gesamt- verantwortung für das Wasser. Es ist ein Weg, der in Deutschland zum Beispiel auch mit der Entwicklung der wasserwirtschaftlichen Rahmenplanung begonnen hat. Dieses Gesetz ist zugleich ein Ausdruck eines tiefgrei- fenden Wandels der Aufgaben der Wasserwirtschaftsver- waltung von einer historisch entstandenen nutzerorien- tierten, eher dienenden Funktion hin zu einer Priorität des Gewässerschutzes und der ökologischen Vernutzung. Die neue Definition von Gewässergüte ist ein deutlicher Aus- druck auch eines neuen Verständnisses. Die beim Bund liegende Verantwortung für die Rah- mengesetzgebung führt dazu, dass viele Konflikte folgen könnten, die sich mit der Umsetzung in Landesrecht er- geben. Deswegen ist unser Appell, dass die gute Vorarbeit zwischen Bund und Ländern für eine „Eins-zu-eins“-Um- setzung von EU- in Bundesrecht letztendlich auch in ei- ner „Eins-zu-eins“-Umsetzung von Bundes- in Landes- recht resultiert. Wir wollen hier insbesondere auch eine Entschärfung der zu erwartenden Konflikte mit der Land- wirtschaft, eine Berücksichtigung der Belange etwa auch der Grundeigentümer. Die besondere Lage entsteht hier unter anderem auch durch eine Verknüpfung von Natur- und Gewässerschutz. Die „Eins-zu-eins“-Umsetzung der Vorschläge der Bund-und-Länder-Arbeitsgruppe ist bedauerlicherweise durch einige wenige, aus der Sicht der CDU/CSU aller- dings wichtige Änderungsanträge von Rot-Grün aufgeho- ben worden. Die faktische Privilegierung des Klima- schutzes, indirekt der Wasserkraft, entspricht nicht dem Bild der Gewässerökologie. Der verfassungsrechtlich be- denkliche Vorrang der ortsnahen Wasserversorgung ist ein Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung und schützt darüber hinaus keineswegs vor Liberalisierung. Ferner er- geben sich aus den Änderungsanträgen mehrere Konflikt- felder speziell für die Landwirtschaft. Diese Aspekte sind der Grund für die Ablehnung des durch Rot-Grün veränderten Gesetzes. Birgit Homburger (FDP): Die Novelle des WHG dient der Umsetzung der EG-Wasserrahmenrichtlinie. Deren Ziel ist es, durch eine umfassende integrierte Ge- wässerbewirtschaftung einen guten ökologischen, chemi- schen und mengenmäßigen Zustand der Gewässer sicher- zustellen. Die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie im Rahmen der Novellierung des WHG erfolgt im Wesentli- chen eins zu eins, was die FDP nicht zuletzt aus Wettbe- werbsgesichtspunkten begrüßt. Mit den von Rot-Grün im Ausschuss vorgelegten Än- derungsanträgen sind wir allerdings nicht vollständig ein- verstanden. Wir hätten uns einerseits gewünscht, dass weitere Änderungswünsche des Bundesrates übernom- men würden. Andererseits ist bei manchen Änderungsan- trägen zu befürchten, dass im Ergebnis bei der Umsetzung auf Länderebene über die Eins-zu-eins-Umsetzung hi- nausgegangen wird. Abzulehnen ist insbesondere der erste von Rot-Grün vorgelegte Änderungsantrag in seiner geänderten Fas- sung. Die Beratung im Umweltausschuss hat gezeigt, dass die ortsnahe Wasserversorgung zwar durchaus sinnvoll sein kann, eine generelle Vorrangregelung jedoch nicht er- forderlich und die von Rot-Grün gewählte Formulierung hinsichtlich ihrer Auswirkungen nicht abzuschätzen ist. Wenn die ortsnahe Wasserversorgung ein wesentliches in- haltliches Anliegen von Rot-Grün ist, wie vorgetragen wurde, stellt sich die Frage, warum dieser Änderungsan- trag zum Änderungsantrag zur WHG-Novelle erst einen Tag vor den Ausschussberatungen vorgelegt und der Vor- rang nicht schon im eigentlichen Gesetzentwurf festge- schrieben wurde. Weiterhin ist für uns wichtig, dass die Regelung des § 18 a Abs. 1 Satz 2 WHG unangetastet bleibt. Bei der letzten Novellierung des WHG ist die FDP vehement dafür eingetreten, die dezentrale Beseitigung von häus- lichem Abwasser zu ermöglichen. Gerade im ländlichen Raum kann dies eine ökologisch und ökonomisch sinn- volle Möglichkeit sein. § 18 a Abs. 1 Satz 2 WHG ist zwar von der jetzigen Novelle nicht ausdrücklich be- troffen. Wir verlassen uns darauf, dass die Auskunft der Bundesregierung zutrifft, dass diese Vorschrift auch nicht durch eine andere Regelung indirekt ausgehebelt wird Wir als Bundesgesetzgeber haben im Bereich des Was- serhaushaltes nur eine Rahmengesetzgebungskompetenz, sodass die eigentlich materielle Umsetzung erst durch die Länderparlamente erfolgen wird. National haben wir im Gewässerschutz schon in der Vergangenheit viel erreicht. Im Gegensatz zu anderen EG-Mitgliedstaaten, wird die Umsetzung in Deutschland im Wesentlichen im adminis- trativen und organisatorischen Bereich erfolgen. An die Landesgesetzgeber möchte ich in diesem Zu- sammenhang die dringende Bitte richten, dass sie sich bei der Anpassung der Landeswassergesetze ebenfalls eng an der Wasserrahmenrichtlinie orientieren und praktikable und unbürokratische Regelungen beschließen. Wenn in den Landeswassergesetzen neue, weiter gehende Anfor- derungen an die Landwirtschaft gestellt werden, so müs- sen auch entsprechende Entschädigungen vorgesehen werden. Dem Entschließungsantrag der Union stimmen wir zu, da er auch unsere Kritikpunkte enthält. Bei der 7. WHG- Novelle werden wir uns aus den genannten Gründen ent- halten. Dr. Bärbel Grygier (PDS): Durch die 7. WHG-No- velle soll die Umsetzung der unfassenden und komplexen Wasserrahmenrichtlinie auf Bundesebene erfolgen. Für mich bedeutet dies einen Schritt nach vorn im Gewässer- schutz. Das Vorhaben wird allerdings durch die föderale Verantwortung der Bundesländer in Fragen der Wasser- wirtschaft erschwert. Abgesehen davon müssen jedoch ei- nige Knackpunkte noch einmal benannt werden. Die Bürger- und Öffentlichkeitsbeteiligung ist weiter- hin nur an den in der Wasserrahmenrichtlinie festgelegten Mindestanforderungen, also an Flusseinzugsgebieten und Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22693 (C) (D) (A) (B) den entsprechenden Maßnahme- und Bewirtschaftungs- plänen, ausgerichtet. Konsequent im Sinne der Aarhus- Konvention wäre aber gewesen, wenn diese Beteiligung auf Teileinzugsgebiete erweitert worden wäre und zu ei- nem früheren Zeitpunkt stattfinden könnte. Eine Bürger- beteiligung, die das Gesamteinzugsgebiet von Oder, Rhein, Donau oder Elbe umfasst, kann die konkreten Be- lange kaum widerspiegeln. Die Umweltverbände hatten eine Beteiligung auf Ebene der Lokalen Agenda vorge- schlagen, um schon im Vorfeld Missverständnisse und Widerstände gegenüber Zustandsverbesserungen von Ge- wässern auszuräumen und realistische Maßnahmepläne zu gestalten. Zudem hebelt das derzeitige Verfahren, die Umset- zungsanforderungen der Wasserrahmenrichtlinie weitge- hend behördenintern auf Länderebene abzustimmen, die Beteiligungsrechte der Umweltverbände nach dem Bun- desnaturschutzgesetz aus. Wir begrüßen dagegen vor dem Hintergrund der Libe- ralisierungsdiskussion ausdrücklich das nun verankerte Bekenntnis zum Vorrang der ortsnahen Wasserversor- gung. Positiv ist außerdem zu vermerken, dass nun bei der Planung von Unterhaltung und Ausbau durch die Bundes- wasserstraßenverwaltung die einschlägigen Bestimmun- gen der Länder zu berücksichtigen sind. Wir hoffen, dass nunmehr verhindert wird, dass das Bundesverkehrsminis- terium Projekte bei Ausbau und Unterhaltung planen kann, die die Erreichung des guten ökologischen Zustands der Gewässer nach den gemäß Landesrecht aufgestellten Bewirtschaftungsplänen durch Anwendung von Bundes- recht verhindern. Die ausdrückliche Widmung der Wasserkraftnutzung als „im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit lie- gend“ ist im WHG entbehrlich. Schließlich hat ja auch das Umweltbundesamt die ökologischen Grenzen der Was- serkraftnutzung herausgearbeitet. Nunmehr hat die Koali- tion die Stellung der Wasserkraft in Abwägung mit den Bewirtschaftungszielen noch etwas verstärkt. Hier wird mit dem Klimaschutz argumentiert. Dies ist ein Tot- schlagargument. Denn in Wirklichkeit geht es ja um den Bau vieler kleiner Wasserkraftwerke, die die Durchgän- gigkeit der Flüsse verbauen und nur einen unwesentlichen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit: Wasser kennt keine Gren- zen – mittlerweile ein lapidarer Satz, könnte man meinen. Die europäische Wasserrahmenrichtlinie hat ihn mit Le- ben erfüllt. Sie ist die Grundlage für eine neue europa- weite Wassersolidarität. Die Novelle des Wasserhaushalt- gesetzes, die heute von Ihnen beschlossen werden soll, ist der erste Schritt zur Umsetzung dieser Richtlinie in Deutschland. Das Datum ist gut gewählt, denn der 22. März ist der Weltwassertag. Er steht unter dem Motto „Wasser für Entwicklung“. Damit ist zwar vorrangig der Schutz von Wasserressourcen in den Entwicklungsländern angespro- chen. Aber auch in Deutschland und Europa gibt es Ent- wicklungspotenzial für den Gewässerschutz, wie die Was- serrahmenrichtlinie zeigt. Die Ende 2000 in Kraft getretene Richtlinie dient der Schaffung eines gemeinsa- men Ordnungsrahmens für die europäische Wasserpolitik. Die Gewässer sollen aufgrund gemeinsamer Absprachen grenzüberschreitend bewirtschaftet werden. Was bedeutet diese Richtlinie für die Gewässerbewirt- schaftung in Deutschland? Zunächst ist festzuhalten, dass die deutsche Wasserwirtschaft in den letzten Jahren und Jahrzehnten gerade im Hinblick auf die Reduktion der Schadstoffbelastung der Gewässer viel erreicht hat. Man denke nur an die Umsetzung einer flächendeckenden fort- schrittlichen Abwasserreinigung. Auf dem Status quo darf man sich nicht ausruhen. Er ist aber eine gute Basis für die Umsetzung der neuen europäischen Vorgaben. Was bringt die Wasserrahmenrichtlinie Neues für die deutsche Wasserwirtschaft? Die deutschen und die euro- päischen Gewässer sind vom guten Zustand, wie er von der Wasserrahmenrichtlinie bis 2015 gefordert wird, zum Teil noch deutlich entfernt, vor allem weil die Richtlinie nicht nur auf die Gewässerchemie, sondern vorrangig auf die Gewässerökologie abstellt. Fauna und Flora in den Gewässern sollen so weit wie möglich dem natürlichen Zustand entsprechen. Hier gibt es noch viel zu tun, wenn man zum Beispiel an die Durchgängigkeit von Gewässern für Wanderfischarten denkt. Viele Gewässer, die früher Laichgewässer dieser Fische waren, sind durch Querbau- werke nicht mehr zugänglich. Gerade für die föderalistisch geprägte deutsche Was- serwirtschaft wird die von der Wasserrahmenrichtlinie ge- forderte grenzüberschreitende Kooperation auch organi- satorisch eine Herausforderung darstellen. Die Gewässer sind künftig in so genannten Flussgebietseinheiten inte- griert zu bewirtschaften. Diese Flussgebietseinheiten um- fassen ein Gewässer von der Quelle bis zur Mündung einschließlich seiner Einzugsgebiete mit dem dazu- gehörenden Grundwasser. Zehn Flussgebietseinheiten liegen ganz oder teilweise auf deutschem Hoheitsgebiet. Acht davon sind international. Der Koordinierungsauf- wand wird beträchtlich sein. Als Beispiel sei die Flussge- bietseinheit Rhein genannt, die zahlreiche deutsche Län- der, EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten umfasst. Die Koordinierungsstrukturen auf nationaler und internatio- naler Ebene werden derzeit intensiv diskutiert. Die Wasserrahmenrichtlinie wird nicht nur Auswir- kungen auf die Wasserpolitik haben. Sie wird sich auch auf andere Politiken auswirken. Betroffen ist zum Bei- spiel noch die Landwirtschaft, da sie zur Belastung der Gewässer durch diffuse Quellen beiträgt. Hier wird etwa die Düngepraxis ein Ansatzpunkt sein. Welche Maßnah- men zur Verbesserung des Gewässerzustands im Einzel- nen erforderlich sein werden, wird die Bestandsaufnahme zeigen, die bis Ende 2004 im Wesentlichen abgeschlossen sein muss. Abschließend möchte ich noch auf einen weiteren neuen Aspekt der Wasserrahmenrichtlinie hinweisen. Sie fordert eine intensive Information und Anhörung der Öf- fentlichkeit. Die Ziele der Richtlinie sollen der betroffe- nen breiten Bevölkerung und den interessierten Verbän- den transparent gemacht werden. Sie sollen an der Umsetzung aktiv beteiligt werden. Hier haben EU, Bund und Länder durch erste Informationsveranstaltungen, In- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222694 (C) (D) (A) (B) ternetseiten und Broschüren bereits einen viel verspre- chenden Anfang gemacht. Sie sehen: Die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie ist der Einstieg in eine nachhal- tige europäische Wasserwirtschaft. Diese Chance gilt es zu nutzen! Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherheitsver- wahrung (Tagesordnungspunkt 28) Joachim Stünker (SPD): Wir bringen heute in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ein. Am 19. Okto- ber des vergangenen Jahres haben wir in diesem Hohen Hause den Gesetzentwurf der CDU/CSU zur nachträgli- chen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungs- verwahrung diskutiert, das heißt zur Anordnung der Un- terbringung in der Sicherungsverwahrung außerhalb eines rechtskräftigen Urteils aufgrund neuerer Erkenntnisse im Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe durch nachträgli- chen Beschluss einer Strafvollstreckungskammer. Gegen diesen Entwurf der Unionsparteien habe ich seinerzeit schwerwiegende verfassungsrechtliche und rechtssystematische Einwände vorgetragen. Ich habe da- rauf hingewiesen, dass die Anordnung der Sicherungsver- wahrung für einen Straftäter nach der Verhängung der le- benslangen Freiheitsstrafe die gravierendste Sanktion ist, die ein Strafgericht verhängen kann. Ich habe darauf hin- gewiesen, dass für jeden Straftäter die rechtsstaatlichen Garantien der Strafprozessordnung gelten müssen. Des- halb dürfen auch einem bereits rechtskräftig Verurteilten durch eine Nachfolgeentscheidung die wichtigsten Ga- rantien eines fairen Hauptverfahrens nicht vorenthalten werden. Diese Garantien sind: mündliche öffentliche Hauptverhandlung, die Beteiligung von Schöffen an der Urteilsfindung, die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, das durch die Möglichkeit der Revision gesicherte Be- weisantragsrecht und die Pflichtverteidigung in der Hauptverhandlung. Diese verfassungsrechtlichen und rechtsstaatlichen Bedenken sind in der Sachverständigenanhörung vom 20. Februar diesen Jahres eindrucksvoll bestätigt worden. Als Ergebnis der Anhörung darf festgehalten werden: Erstens. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung läuft Gefahr gegen das Rückwirkungsverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG zu verstoßen. Zweitens. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung berührt auch das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 103 Abs. 3 GG. Bei ihrer Anordnung würde gegen ei- nen Straftäter durch zwei konstitutive Entscheidungen nacheinander eine Freiheitsentziehung verfügt. Drittens. Der gravierendste Einwand ist aber ihre Un- vereinbarkeit mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Nach der europäischen Men- schenrechtskonvention ist nur die in einer strafrechtlichen Verurteilung angeordnete Sicherungsverwahrung zuläs- sig. Eine bloße Gefährlichkeit hingegen ist kein Grund für eine unbestimmte Freiheitsentziehung. Diese berechtigten Bedenken nimmt der von den Re- gierungsfraktionen jetzt vorgelegte Gesetzentwurf auf. Der Entwurf sieht vor, die zusätzlich erforderlichen Si- cherungen bei einem Täter zu schaffen, bei dem im Zeit- punkt des Urteils des erkennenden Gerichts der Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht mit der erforderli- chen Sicherheit festgestellt werden kann, dieser Hang sich jedoch während des Vollzuges der Freiheitsstrafe nach weiterer psychiatrischer Begutachtung herausstellt. Dem erkennenden Gericht wird daher die Möglichkeit einge- räumt, die Entscheidung über die Anordnung der Siche- rungsverwahrung bereits bei Verurteilung des Täters im Urteil vorzubehalten. Ergibt sich dann nach Teilver- büßung der verhängten Strafe, dass von dem Verurteilten erhebliche Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, so kann die Strafvollstreckungskammer die im Urteil be- reits vorbehaltene Unterbringung in der Sicherungsver- wahrung noch rechtzeitig vor der Strafverbüßung anord- nen. Durch diese Regelung wird die weitere Sicherungs- möglichkeit geschaffen, das erkennbar schwerst gewalt- tätige Straftäter nicht sozusagen sehenden Auges nach endgültiger Verbüßung der verhängten zeitigen Freiheits- strafe aus der Haft entlassen werden müssen. Ich füge aber mit Nachdruck hinzu: Auch diese vorgeschlagene Rege- lung werden wir in einer ausführlichen Sachverständigen- anhörung auf den Prüfstand stellen lassen. Hierbei wird insbesondere die Frage zu erörtern sein, ob die für die An- ordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung not- wendige Prognoseentscheidung wie vorgesehen durch eine Strafvollstreckungskammer vorgenommen werden kann. Die Alternative hierzu wäre das erkennende Ge- richt, das in einer erneuten Hauptverhandlung mit allen strafprozessrechtlichen Garantien zu entscheiden hätte. Wir haben uns im Rechtsausschuss darauf verständigt, diese Anhörung gleich nach Ostern durchzuführen. Wir werden daher den Gesetzesbeschluss noch in dieser Le- gislaturperiode fassen können. Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Zwischen den Regie- rungsfraktionen und dem Bundeskanzler hat sich über diese Legislaturperiode hinweg eine sehr spezifische Ar- beitsteilung entwickelt. Gerhard Schröder als Kanzler ist für die Schlagzeilen und die markigen Sprüche zuständig. Diese Sprüche stehen dann schon mal – und dies ist heute hier kein Einzelfall – in deutlichem Widerspruch zur rea- len Politik der Regierungsfraktionen in diesem Hause. Ich bin mir sicher, dass nicht nur den Familien der Op- fer von Sexual- und Gewaltdelikten das populistische Wort des Bundeskanzlers „Wegschließen – und zwar für immer“ noch im Ohr hallt und unsere Mitbürger auch die entsprechenden fetten Schlagzeilen noch vor ihrem geis- tigen Auge sehen. Nur folgen den markigen, vollmundigen Sprüchen des Kanzlers, die des Öfteren meilenweit von dem entfernt Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22695 (C) (D) (A) (B) sind, rechtlich überhaupt umsetzbar ist, dann erwartungs- gemäß keine – oder zumindest lange Zeit keine – Taten. Dies ändert sich erst dann rasant, wenn ein Wahltermin vor der Tür steht und den Bürgern gegenüber nun ganz schnell die bisherige Untätigkeit kaschiert werden soll. Geradezu ein Paradebeispiel dieses Verhaltensmusters ist die Debatte und die Behandlung der entsprechenden Gesetzentwürfe zur Regelung der nachträglichen Siche- rungsverwahrung. Der Ausgangspunkt all unserer Überlegungen ist dabei eigentlich unstrittig. Das bestehende Strafrecht weist of- fenkundig – und von niemandem bestritten – eine Lücke auf. Nach geltender Gesetzeslage muss im Urteil bereits Sicherungsverwahrung angeordnet worden sein, wenn die Bevölkerung vor einem gefährlichen Hangtäter geschützt werden soll. Nun gibt es zahlreiche Strafprozesse, bei de- nen das Tatgericht keine Sicherungsverwahrung angeord- net hatte und sich erst während der Haftzeit des Täters dessen Gefährlichkeit im Sinne des § 66 StGB heraus- stellte. Nach geltendem Recht müssen wir diese Hangtä- ter vor die Türen der Vollzugsanstalten setzen, obwohl wir ziemlich genau wissen, dass sie mit hoher Wahrschein- lichkeit wieder schwere Delikte begehen werden. Diese erkennbare Lücke müssen wir als Gesetzgeber schließen. Es kann doch einfach nicht richtig sein, dass wir sehenden Auges die Allgemeinheit vermeidbaren Ge- fahren aussetzen, nur weil das erkennende Gericht – was ich ihm gar nicht vorwerfe – zum Zeitpunkt der Urteils- verkündung die Gefährlichkeit des Täters nicht hundert- prozentig feststellen konnte oder wollte. Zukünftig dürfen sich Fälle einfach nicht mehr wie- derholen, wie sie sich exemplarisch im vergangenen Jahr in meinem Wahlkreis abgespielt haben. Wegen gemein- schaftlichen Mordes in vier Fällen verbüßte in der JVA Kassel ein junger Erwachsener eine Jugendstrafe von zehn Jahren. In einem psychiatrischen Gutachten ist in schlüssiger Weise dargelegt worden, dass die Sozialpro- gnose des Verurteilten äußerst negativ ist. Dem Verurteil- ten wurde eine antisoziale Persönlichkeitsstörung attes- tiert. Daher gab es bis zum Endstraftermin keinen offenen Vollzug, keinen Urlaub, keine vorbereitenden Ausgänge. Wegen der mutmaßlichen fortbestehenden Gefährlichkeit des Verurteilten war eine Entlassung eigentlich auch nicht zu verantworten. Da keine Sicherungsverwahrung im Ur- teil angeordnet wurde, musste diese Person im Frühjahr 2001 allerdings entlassen werden. Ich ziehe aus diesem Beispiel, aber auch aus Fällen vergleichbarer Art eine eindeutige Schlussfolgerung für mich und selbstverständlich auch für meine Fraktion: Diesem haltlosen Zustand muss der Gesetzgeber schnell und nachdrücklich entgegenwirken. Wir müssen unser Bundesrecht dahin gehend ändern, dass bis zum Haftende die Unterbringung in der Sicherungsverwah- rung angeordnet werden kann, falls sich erst nach der Ver- urteilung des Täters, also im Vollstreckungsverfahren, seine Gefährlichkeit erweist. Der Anknüpfungspunkt ist dabei eine entsprechende Änderung des § 66 StGB. Nun vertrete ich persönlich diese Erkenntnis heute hier nicht zum ersten Mal. Das gilt erst recht nicht für die CDU/CSU-Fraktion. Auch die unionsgeführten Bundes- länder versuchen seit Jahren, eine Änderung zum besse- ren Schutz der Bevölkerung vor Hangtätern im Bundes- recht zu verankern. Immer wieder wurden sie von den SPD-geführten Ländern ausgebremst. Ich hoffe, dass der Bundesrat die Kraft aufbringen wird, einen Gesetzent- wurf zur Änderung des § 66 StGB einzubringen. Als CDU/CSU-Fraktion haben wir im Oktober letzten Jahres den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und an- deren Straftaten in dieses Haus eingebracht, dessen ab- schließende Lesung in der kommenden Sitzungswoche geplant ist. Ich appelliere an alle Fraktionen dieses Hau- ses, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen, denn die er- forderliche nachträgliche Anordnung der Sicherungsver- wahrung ist in unserem Gesetzentwurf weitaus besser und weitaus umfassender als im vorliegenden Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen geregelt. So bietet die so genannte Vorbehaltslösung, die uns von den Regierungsfraktionen in ihrem Gesetzentwurf offe- riert wird, keinerlei Lösung für die gefährlichen Altfälle, also für solche Hangtäter, die eine Freiheitsstrafe ver- büßen, die vor dem In-Kraft-Treten der angekündigten Neuregelung verhängt worden ist. In den kommenden Jahren sind also Situationen weiterhin möglich, wie ich sie anhand des Kasseler Beispiels geschildert habe. Dies ist eine Lösung mit einer sehr langen, eigentlich fast nicht zu verantwortenden Übergangsfrist. Viel gravierender ist noch die Tatsache, dass dieser Entwurf all diejenigen Fälle ungelöst lässt, in denen an- lässlich der Verurteilung kein Vorbehalt ausgesprochen wird und sich dennoch während der Haft die besondere Gefährlichkeit des Täters herausstellt. Um diesem Di- lemma zu entgehen, könnten die Gerichte quasi automa- tisch und prophylaktisch einen Vorbehalt aussprechen. Ob dies ein wünschbares Verhalten wäre, wage ich allerdings auch zu bezweifeln. Im Übrigen bin ich mehr als irritiert, dass die Vorbe- haltslösung sich nur auf Verurteilungen erstrecken soll, die wegen einer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Straftaten ausgesprochen werden. Damit sind alle gefähr- lichen Hangtäter im Sinne der übrigen Absätze außen vor – eine nicht gerade kleine Gruppe! Wollen die Sozialdemo- kraten wirklich allen Ernstes die Verantwortung dafür übernehmen, dass gefährliche Hangtäter, weil sie zufälli- gerweise nicht unter den Absatz 3 fallen, weiterhin auf die Öffentlichkeit losgelassen werden können? Ich hoffe ja noch darauf, dass dies lediglich ein handwerklicher Feh- ler in der Eile der Gesetzesproduktion war. Bei einer Gesamtwürdigung des vorliegenden Ent- wurfs komme ich daher über ein „besser als nichts“ leider nicht hinaus. Dieser Entwurf ist zu deutlich von dem Bemühen getragen, noch kurz vor dem 22. September schnell etwas vorweisen zu können. Es wäre doch allzu peinlich und allzu offensichtlich, wenn die markigen Sprüche des Kanzlers bei den Regierungsfraktionen völ- lig verhallen würden. Einen konsequenten Schutz der Bevölkerung vor Ge- walt- und Sexualverbrechern, die unter Sicherungsver- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222696 (C) (D) (A) (B) wahrung gehören, bietet nur der Entwurf der CDU/CSU- Fraktion. Ich hoffe, dass wir am 22. September von den Bürgern das Mandat erhalten, dass dieser gute Entwurf auch Gesetzeskraft erhält. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Sicherungsverwahrung ist der schwerwiegendste Ein- griff in die Freiheitsrechte eines Menschen, den unser Strafgesetzbuch vorsieht. Sie ist das eigentliche „Lebens- länglich“. Für den Betroffenen kann es das Weggeschlos- sensein für immer und ewig bedeuten. Deshalb ist die Ver- hängung dieser einschneidenden Maßnahme auch nur zu rechtfertigen, wenn sie zum Schutz der Bevölkerung vor schwerwiegenden Straftaten absolut unerlässlich ist. Mit der vorliegenden Vorbehaltslösung schließen wir eine Gesetzeslücke, die – wenn auch nur in sehr wenigen Fällen – dazu führen könnte, dass Personen selbst dann aus der Strafhaft entlassen werden können, wenn nahezu sicher feststeht, dass sie danach weitere schwere Strafta- ten begehen werden. Mit diesem Gesetzentwurf ist es der Koalition gelungen, sowohl den Schutz der Bevölkerung vor schweren Straftaten zu optimieren als auch dem schweren Eingriffscharakter der Sicherungsverwahrung gerecht zu werden. In materieller Hinsicht grenzen wir den Anwendungs- bereich auf schwere Delikte ein: auf Straftaten gegen das Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder die körperli- che Unversehrtheit. In verfahrensrechtlicher Hinsicht haben wir eine Reihe rechtsstaatlicher Sicherungen eingebaut. Zum Beispiel muss die Entscheidung über die nachträgliche Siche- rungsverwahrung spätestens ein halbes Jahr vor dem Zeit- punkt getroffen werden, zu dem über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung entschieden werden kann. Das ist nur fair: denn ohne so eine zeitliche Beschränkung könnte sich jemand, der wegen einer schweren Straftat verurteilt ist, bis zu seiner Entlassung nicht darauf ein- stellen, ob er in Freiheit entlassen wird oder nicht. Auch die Beiordnung eines Verteidigers für das Verfahren ist unerlässlich. Dieser Entwurf ist der einzige Weg, um die eingangs skizzierte Gesetzeslücke in rechtsstaatlich vertretbarer Weise zu füllen. Wären wir Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, gefolgt, dann hätten wir mit Sicherheit Probleme in Karlsruhe bekommen. Denn Ihre nachträgliche Sicherungsverwahrung wäre schon deshalb verfassungswidrig gewesen, weil im ursprünglichen Ur- teil davon überhaupt keine Rede sein soll. Da fehlt dann jeglicher Zusammenhang zwischen Tat und Sanktion; das Verbot der Doppelbestrafung wird negiert. In der Sach- verständigenanhörung im Rechtsausschuss ist unter ande- rem auch deshalb der Unionsentwurf zu Recht auf harsche Kritik gestoßen. Völlig abwegig ist übrigens der Vorwurf der CDU/CSU, wonach man mit unserer Vorbehaltslösung an die aktuellen Strafgefangenen nicht herankomme Ja, um Himmels willen! Was für ein Rechtstaatsverständnis liegt dieser These eigentlich zugrunde! Mit dieser Einstellung könnten wir ja gleich das Rückwirkungsverbot von Straf- gesetzen abschaffen. Auch der hessische Vorschlag zur Sicherungsverwah- rung war zur Umsetzung nicht geeignet. Hessen hat zwar immerhin unsere Vorbehaltslösung in seinem Entwurf auf- gegriffen. Aber es wäre nicht verhältnismäßig gewesen, die Regelung auf sämtliche Straftaten zu erstrecken. Wir haben auch hier die verfassungskonforme Lösung gefun- den, indem wir explizit auf § 66 Abs. 3 StGB hinweisen. Eines übrigens möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen: Bei der Sicherungsverwahrung handelt es nicht um eine Strafe. Daher muss die Sicherungsverwahrung auch so ausgestaltet werden, dass sie keine über die, reine Si- cherung hinausgehenden Eingriffe mit sich bringt. Der- zeit unterscheidet sich die Sicherungsverwahrung in der Praxis jedoch in der Regel nicht vom normalen Strafvoll- zug. Daher halte ich ein Sicherungsverwahrungsvollzugs- gesetz in nächster Zukunft für erforderlich. Machen wir uns nichts vor: Die strafrechtliche Reak- tion auf bereits geschehene Taten kann den Schutz der Be- völkerung vor Gewalt allein nicht gewährleisten. Wir le- gen deshalb einen Schwerpunkt unserer Politik auf präventive Maßnahmen und auf den Opferschutz. Präven- tion beginnt im Kindesalter. Erst Rot-Grün hat Kindern endlich ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung einge- räumt. Dies ist nicht nur Voraussetzung einer kinder- freundlichen Gesellschaft, sondern auch ein wichtiger Schritt zur langfristigen Gewaltprävention, denn wer als Kind Gewalt erfahren musste, neigt später verstärkt dazu, selbst gewalttätig zu werden. Jörg van Essen (FDP): Zahlreiche spektakuläre Fälle haben in der Vergangenheit gezeigt, dass es in Deutschland ein Defizit im Umgang mit Sexual- und Ge- waltverbrechern gibt. Obwohl alle Fachleute einen Häft- ling negativ beurteilen und mit hoher Sicherheit mit wei- teren schwersten Taten rechnen, müssen diese häufig entlassen werden. Dies ist der Bevölkerung zu Recht nicht zu vermitteln. Die Politik ist hier aufgerufen, den berech- tigten Ängsten und den erheblichen Gefährdungen von Leben und Gesundheit der bedrohten Bürger entschieden entgegenzutreten und Menschen erst gar nicht zu Opfern werden zu lassen. Die Bundesregierung hat lange Zeit tatenlos zugesehen und weder das Problem noch die Ängste in der Bevölke- rung erkannt. Auf diesem Gebiet hat Rot-Grün völlig ver- sagt. Es hätten viele Verbrechen vermieden werden kön- nen, wenn die nachträgliche Sicherungsverwahrung schon vorher möglich gewesen wäre und die Bundesre- gierung die Initiativen der Länder unterstützt hätte. Die Länder Baden-Württemberg und Bayern haben bereits vor Jahren eigene Initiativen hierzu gestartet. Es ist daher bedauerlich, dass die Initiative der Bundesregierung erst jetzt zum Ende der Wahlperiode vorliegt. Bei jeder Diskussion zum Sexualstrafrecht hat die Bundesregierung derartige Pläne brüsk zurückgewiesen. Noch im Herbst letzten Jahres haben Vertreter der Koali- tionsfraktionen im Bundestag die nachträgliche Sicher- heitsverwahrung vehement bekämpft. Der Kollege Beck Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22697 (C) (D) (A) (B) hat damals gesagt, die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung missachte elementare Verfassungs- grundsätze und sei daher abzulehnen. Ebenso argumen- tierte der Kollege Stünker. Er sagte damals, die Anord- nung der nachträglichen Sicherungsverwahrung käme einem Geheimverfahren gleich. Und ich zitiere: „Damit wären wir fast wieder im Mittelalter.“ Nach heutiger Rechtslage hat die Justiz keinerlei Mög- lichkeiten einzugreifen, wenn sich erst im Strafvollzug herausstellt, dass der Verurteilte nach der Entlassung wahrscheinlich wieder rückfällig wird. Oftmals kann die persönliche Entwicklung des Verurteilten erst nach der Einweisung in den Strafvollzug abschließend beurteilt werden. Gerichte müssen daher die Möglichkeit haben, die Rückfallprognose eines Täters auch noch später prü- fen zu können. Hier liegt auch der zentrale Punkt der Diskussion. Es liegen Vorschläge auf dem Tisch zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung mit und ohne Vor- behaltslösung. Das Problem der Vorbehaltslösung liegt darin, dass das Gericht sich bereits bei der Verurteilung mit der besonders hohen Gefährlichkeit des Täters ausei- nander setzen muss. Kann diese Prognose erst während des Strafvollzugs getroffen werden, scheidet die Siche- rungsverwahrung aus. Andererseits müssen wir sehen, dass wir es hier mit ei- nem sehr sensiblen Grundrechtsbereich zu tun haben. Un- abdingbare Voraussetzung ist daher, dass die getroffene Regelung an sehr hohe materielle und verfahrensrechtli- che Voraussetzungen geknüpft sein muss. Dazu gehört für mich zum Beispiel die Anordnung durch die Strafvoll- streckungskammer. Das bedeutet auch, dass wir uns in keinem Fall in einer verfassungsrechtlichen Grauzone be- wegen dürfen. Die Verfassungsgrundsätze des Rückwir- kungsverbots und der Rechtssicherheit müssen gewähr- leistet werden. Dem entspricht eher die Vorbehaltslösung. Es gibt jedoch auch verfassungsrechtliche Gutachten, in denen rechtliche Bedenken gegen die Sicherungsverwah- rung ohne Vorbehalt ausgeräumt werden. Über diese zen- trale Frage müssen wir in den Beratungen sorgfältig dis- kutieren. Die FDPwill die nachträgliche Sicherungsverwahrung und hofft auf eine schnelle Einigung. Wir haben schon lange genug gewartet. Jetzt muss endlich gehandelt und entschieden werden. Die Bürger verlangen dies von uns zu Recht. Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Die Sicherungsverwah- rung ist nichts Neues. Einschlägige Kommentare spre- chen von ihr als der „problematischsten Maßregel des Strafrechts“, der „letzten Notmaßnahme der Kriminalpo- litik“. Nun beraten wir heute über die Ausweitung dieser problematischen Maßregel. Sie soll nach dem Willen der Einreicher des vorliegenden Gesetzentwurfs zukünftig auch nachträglich für potenziell gefährliche Straftäter an- geordnet werden, die sich im Strafvollzug befinden. Die Initiatoren des Gesetzentwurfs wissen natürlich genau um die nicht nur juristischen Probleme, die damit verbunden sind. Nicht nur mir, sondern auch ihnen ist ge- wiss nicht wohl bei der Einführung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung und so wird eine Vorbehaltslö- sung vorgeschlagen. Und selbst die ist – wie mein straf- rechtserfahrener Kollege Stünker ehrlicherweise im Aus- schuss schon bekannt hat – keineswegs eine rechtsstaatlich unbedenkliche Lösung. Was aber veranlasst uns eigentlich, heute darüber zu debattieren? Ist es die Einlösung des Kanzlerwortes vom Wegsperren, ein akutes rechtstatsächliches Problem oder beides? In der Gesetzesbegründung finde ich dazu nichts. Bei der jüngsten Anhörung zu Sexualstraftaten stieß die Initiative der Union, eine nachträgliche Sicherheits- verwahrung anzuordnen, wenn sich ein Sexualtäter bei Verbüßen seiner Haftstrafe als hochgefährlich erweist, bei einigen Experten auf gravierende verfassungsrechtliche Bedenken. Der nun vorgeschlagene Vorbehalt ist ein Kompromiss, doch leider kein idealer. Denn dadurch be- steht ganz praktisch die Gefahr, dass in jedem Verfahren, bei dem geringste Zweifel an der Ungefährlichkeit eines Straftäters auftauchen, ein solcher Vorbehalt ausgespro- chen werden wird. Doch damit nicht genug. Die Krux bei der nachträgli- chen Sicherungsverwahrung besteht ganz grundsätzlich darin, dass, wenn eine nachträgliche Anordnung von Frei- heitsentziehung unter weitgehender Abkopplung von Straftaten aufgrund einer prognostischen Mutmaßung erst einmal akzeptiert wird, dann alsbald die Suche danach einsetzen dürfte, wo man ähnlich weitere Lücken zur Be- friedigung des Sicherheitsbedürfnisses der Bürger schließen kann. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist sowohl aus verfassungsrechtlicher wie menschenrechtlicher Sicht hochproblematisch. Neben der möglichen Doppelbestra- fung und dem Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot stellt sich nicht zuletzt die Frage der Verhältnismäßigkeit der vorgeschlagenen Regelung. Maßregeln sind Maßnah- men der Gefahrenabwehr. Bemessungsgrundlage ist da- her nicht die Schuld, sondern letztlich das Sicherheitsbe- dürfnis. Statt des sanktionslimitierten Schuldprinzips gilt deshalb das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Das Bundesver- fassungsgericht stellt hier bekanntlich wesentlich darauf ab, ob das Maß der den Einzelnen betreffenden Maß- nahme noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht. Und auf diese Frage habe ich keine überzeugende Antwort im Ge- setzentwurf gefunden. Aber fest steht Folgendes: Da es an zuverlässigen Pro- gnosekriterien mangelt, könnte eine unbestimmte Zahl von „falsch negativ“ eingeschätzten Betroffenen – erst einmal untergebracht – kaum eine Chance haben, jemals lebend aus der Sicherungsverwahrung entlassen zu wer- den. Die Einführung der nachträglichen Sicherungsver- wahrung bedeutet damit die Einführung eines tatsächlich lebenslangen Freiheitsentzuges. Abschließend möchte ich Sie noch auf einen offen- sichtlichen Fehler aufmerksam machen. Herr Ströbele steht in der Liste der Initianten. Das kann nicht sein. Denn bei Frau Christiansen hat Kollege Ströbele zum Kanzler- wort geäußert: Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222698 (C) (D) (A) (B) Das halte ich für verfassungsrechtlich nicht haltbar, das ist ein Bruch mit unserem Schuldstrafrecht. Wir dürfen nicht vergessen: Die Sicherungsverwahrung ist eine Maßregel, welche die Nazis 1933 eingeführt haben. Die Formel „für immer“ geht schon gar nicht. Vergessen wir doch um Himmels willen nicht, weil Wahlkampf ist, unseren Rechtsstaat und unser Grundgesetz. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: Es ist wichtig, hart nicht nur ge- gen die Kriminalität sondern auch konsequent gegen die Ursachen der Kriminalität vorzugehen. Kriminalpolitik muss schließlich den Schutz der Bürgerinnen und Bürger und die Belange der Opfer angemessen einbeziehen, das ist nicht weniger wichtig. Der Ihnen heute vorliegende Entwurf der Bundesre- gierung setzt an der Schnittstelle zwischen Bestrafung und Vorbeugung an. Immer wieder hören wir schreckliche Berichte von Sexualverbrechen, vor allem an Kindern. In- zwischen haben die Gerichte eine ganze Menge Möglich- keiten, diese Taten streng zu bestrafen und auch dafür zu sorgen, dass die Täter – wenn nötig – in Sicherungsver- wahrung gelangen, also nicht wieder auf freien Fuß kom- men und ihre entsetzlichen Taten begehen können. So kann seit der letzten Erweiterung der gesetzlichen Mög- lichkeiten zum Schutz vor schweren Sexualstraftaten in 1998 Sicherungsverwahrung bereits bei der ersten Rück- falltat angeordnet werden und ist generell zeitlich unbe- schränkt. Da wir aber in der Pflicht sind, den Schutz der Bevöl- kerung vor schwersten Straftaten ständig zu überprüfen und mögliche Schutzlücken zu schließen, haben wir uns Gedanken über immerhin vorstellbare Fälle gemacht und sind dabei auf folgende Konstellation gestoßen: Es ist denkbar, dass in einzelnen Fällen hoch gefährliche Straftäter aus dem Vollzug der Freiheitsstrafe entlassen werden könnten, deren Gefährlichkeit zum Zeitpunkt des Urteils nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden konnte, während sie zum Zeitpunkt der Entlas- sung aus dem Vollzug feststeht. Ich spreche von „denkbaren Fällen“, weil die vom Bundesministerium der Justiz durchgeführte Länderum- frage das Ergebnis erbracht hat, dass solche Fälle in der Praxis allenfalls – und ich betone nochmals: allenfalls! – vereinzelt vorkommen. Nun gilt auch hier, dass jede Tat eine Tat zu viel ist. We- gen ihrer großen Gefährlichkeit haben die Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch darauf, auch vor solchen „Ausnahmefällen“ geschützt zu werden. Mit unserem Entwurf wollen wir deshalb den Gerich- ten die Möglichkeit geben, in Zweifelsfällen quasi abzu- warten, welche Erfahrungen man im Vollzug mit dem Tä- ter macht. Der Entwurf sieht vor, dass das erkennende Gericht in seinem Urteil die Unterbringung in der Siche- rungsverwahrung vorbehalten kann, und die endgültige Anordnung später erfolgt, wenn nach Teilverbüßung der Strafe die Gefährlichkeit des Verurteilten feststeht. Diese so genannte „vorbehaltene“ Sicherungsverwah- rung enthält also rechtsstaatlich bedenkenfreie Reaktions- möglichkeiten, die unter Umständen besonders für den Umgang mit sehr gefährlichen Tätern benötigt werden. Gerade bei deren Aburteilung wollen wir keine Lücken zulassen, selbst wenn sie eher selten auftauchen. Gegenüber dem Modell der „nachträglichen Siche- rungsverwahrung“ – das der Entwurf der CDU/CSU- Fraktion verfolgt – hat das „Vorbehaltsmodell“ entschei- dende Vorteile. Sie sind auch in der vom Rechtsausschuss durchgeführten Expertenanhörung klar herausgearbeitet worden: Durch den Vorbehalt im Strafurteil wird der Bezug zu der begangenen Tat hergestellt. Die Regelungskompetenz des Bundes folgt daher aus dem Titel „Strafrecht“, während es sich bei der „nachträglichen“ Sicherungsver- wahrung um eine reine Gefahrenabwehrmaßnahme han- delt, für die dem Bund die Gesetzgebungskompetenz fehlt. Die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung durchbricht nicht die Rechtskraft des Urteils, das im Falle des Vorbehalts ja gerade den Weg zur Anordnung der Si- cherungsverwahrung frei gemacht hat. Es besteht auch nicht – wie bei dem Modell der isoliert angeordneten „nachträglichen“ Sicherungsverwahrung – die Gefahr, dass die neue Regelung zur Korrektur des Ur- teils benutzt werden wird. Diese wollen wir nämlich nicht. Vielmehr sollen die erkennenden Gerichte in der Pflicht bleiben, nach den bereits bestehenden rechtlichen Möglichkeiten selbst über die Anordnung der Siche- rungsverwahrung zu entscheiden. Die Vorbehaltslösung ermöglicht, in dogmatisch sau- berer Weise als Grundlage der abschließenden Gefähr- lichkeitsprognose sowohl Umstände der Tat und ihrer Vorgeschichte als auch Erkenntnisse aus dem Strafvollzug zu berücksichtigen, die für sich allein genommen regel- mäßig eine zu dünne Grundlage für eine Kriminalpro- gnose sind. Und schließlich mag das Wissen, unter dem Vorbehalt der Sicherungsverwahrung zu stehen, bei den Verurteilten auch die Bereitschaft wecken, an seiner Resozialisierung aktiv mitzuarbeiten – eine Bereitschaft, die gerade bei vie- len Sexualstraftätern nicht vorhanden ist. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlungen und des Berichtes zu den Anträgen: – Wiedererhebung der Vermögensteuer – Erbschaftsbesteuerung sofort reformieren (Tagesordnungspunkt 29 a und b) Simone Violka (SPD): Indem die PDS-Fraktion ihren Antrag zur Wiedererhebung der Vermögensteuer immer wieder stellt, zugegeben immer mit veränderten Nuancen, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22699 (C) (D) (A) (B) um einen Anschein der Aktualität zu geben, wird er weder besser noch zustimmungsfähiger. Die PDS-Fraktion beklagt in ihrem Antrag, es gebe in Deutschland eine verteilungspolitische Schieflage. Dem muss ich vehement widersprechen; denn es ist ihnen scheinbar total entgangen, dass es die rot-grüne Bundes- regierung mit den sie tragenden Fraktionen war, die die unter der CDU/CSU-FDP-Regierung entstandenen Miss- stände wieder in Ordnung gebracht hat. Uns geht es in der Frage der Besteuerung nicht darum, dass Menschen mit einem hohen Einkommen über die von ihnen geforderte Vermögensteuer zweimal Steuern zahlen müssen, son- dern dass jedes Einkommen nach seiner Leistungsfähig- keit besteuert wird. Aus diesem Grund haben wir 70 steuerliche Sondertat- bestände abgeschafft, deren Nutznießer nur die Bezieher hoher Einkommen waren, die sich dadurch ihrer Steuer- schuld im erheblichen Maße, in vielen Fällen sogar ganz entziehen konnten. Das ist für eine solidarische Gesell- schaft so nicht hinnehmbar. Daher sind wir aktiv gewor- den, um dort wieder ein Gleichgewicht herzustellen. Die Kolleginnen und Kollegen der PDS-Fraktion ge- hen in ihrem Antrag auf diese Fälle ja auch ein und for- dern mit ihrem Gesetz dafür quasi eine nachträgliche Be- steuerung. Aber so kann man das nicht angehen. Zum einen ist überhaupt nicht feststellbar, wer sich dieser le- galen steuersparenden Instrumente bedient hat und wer trotz hohen Einkommens auch hohe Steuern gezahlt hat. Dazu kommt noch, dass sie mit ihrem Gesetzentwurf all jene bestrafen wollen, die sparsam mit ihrem erarbeiteten Vermögen umgehen. Denn jeder, der sein hohes Einkom- men ausgibt und einen luxuriösen Lebensstil vorzieht, wird von ihnen nicht belangt, da eventuell kein Vermögen vorhanden ist, was besteuert werden kann. Sie übersehen auch immer wieder, wenn sie ihre popu- listischen Neidanträge stellen, dass sie verfassungsrecht- lich auf tönernen Füßen stehen. Rechtmäßig erworbenes Vermögen ist bereits versteuert und das Bundesverfas- sungsgericht hat eindeutig die Besteuerung dieses Vermö- gens mit der Konsequenz einer Gesamtsteuerlast aus Ein- kommensteuer und Vermögensteuer von über 50 Prozent für verfassungswidrig erklärt. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Ausdauer sie sich mit ihren Anträgen immer wieder über diese verfassungs- rechtliche Entscheidung hinwegsetzen. Dabei betonen sie doch immer wieder, dass die PDS eine Partei sei, die sich auf den Grundlagen von Verfassung und Grundgesetz be- wege. Mit solchen Anträgen zeigen sie aber, wie weit sie tatsächlich davon noch entfernt sind. Aber das scheint ja in ihren Reihen eh nichts Ungewöhnliches zu sein. Es ist doch ihr Parteimitglied Sarah Wagenknecht, die öffentlich erklärt, Berlins Finanzprobleme können gelöst werden, indem man die Banken quasi enteignet und das Geld zur Schuldentilgung verwendet. Dazu kommt noch, das sie auch das föderale System in der Bundesrepublik Deutschland infrage stellen. Denn in ihrem Antrag schreiben sie den Ländern, denen ja im Falle einer Vermögensteuer die Erträge zufließen würden, vor, wofür sie die Gelder auszugeben haben. Dass eine solche Einflussnahme von Bundesseite überhaupt nicht möglich ist, sollten sie als Bundestagsabgeordnete ja eigentlich wissen. Es ist traurig, dass sie das aber anscheinend noch immer nicht wissen oder aber sich absichtlich unwissend stellen, um stichhaltige Argumente nicht beachten zu müssen. Die PDS sollte doch mal ihren ehemaligen Frak- tionskollegen Gregor Gysi fragen, wie begeistert er wäre, wenn sie ihm vorschreiben, wofür er sein Geld auszuge- ben hat. Ich halte es für wichtig, auch wenn es in den vergan- genen Debatten immer wieder gesagt worden ist, noch einmal explizit darauf hinzuweisen: Die rot-grüne Koali- tion hat nicht die Absicht, die Vermögensteuer wieder ein- zuführen. Wir haben ein gerechteres Steuersystem ver- sprochen und auch dafür gesorgt, dass es umgesetzt wird. Die abgeschafften Sonderabschreibungen erwähnte ich bereits. Dazu kommt eine Steuerreform, die vor allem die unteren und mittleren Einkommen entlastet und im Rah- men der Unternehmensteuerreform die Unternehmen im internationalen Vergleich steuerlich gesehen wieder wett- bewerbsfähig macht. Wir sind kein Land mehr, das allein für sich steht, sondern wir befinden uns im internationa- len Wettbewerb. Wir brauchen attraktive Rahmenbedin- gungen, die Deutschland auch als Wirtschaftsregion at- traktiv machen, wo man gerne investiert und Arbeitsplätze schafft. Die immer schlechter gewordenen Rahmenbedingungen bis 1998 haben wir durch durch- greifende Reformen verbessert und werden das auch zukünftig weiter tun. Es ist völlig absurd, diese Verbesse- rungen jetzt durch eine neue Steuererhöhung wieder zu verschlechtern. Natürlich gibt es noch einige Lücken. Aber da ist es er- forderlich, dass diese im Rahmen von europäischen Re- geln geschlossen werden. Denn ein Alleingang nützt we- nig, sondern zieht eventuell nur noch dringend benötigtes Kapital aus dem Land. Dennoch ist auch heute schon für uns Steuerhinterzie- hung und Steuerflucht nicht hinnehmbar. Daher haben wir auch schon eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, die sich gegen das kriminelle Abwenden von der gesell- schaftlichen Verantwortung richten. Denn es ist ja nicht so, dass dadurch „nur“ der Staat geschädigt wird. Damit wird jeder steuerehrliche Bürger und Unternehmer ge- schädigt, jeder, der als Empfänger auf die staatliche Un- terstützung angewiesen ist, und natürlich das soziale Sys- tem als Ganzes. Es liegt also im Interesse aller, dass auch durch gesetzliche Regelungen solchen Machenschaften das Handwerk gelegt wird. Damit wird das gesellschaftli- che System in der Waage gehalten und nicht mit Neidde- battenanträgen à la PDS. Otto Bernhardt (CDU/CSU): Sowohl die Staatsquote als auch die Steuerquote liegen in Deutschland nicht nur deutlich höher als zum Beispiel in den Vereinigten Staa- ten; vielmehr befinden wir uns auch innerhalb der EU in einer Spitzenposition. Einer der Gründe, warum Deutsch- land erstmalig zum Schlusslicht im Wirtschaftswachstum in Europa geworden ist, liegt in der zu hohen Staats- und Steuerquote. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222700 (C) (D) (A) (B) Was wir brauchen, sind nicht Steuererhöhungen. Da- von haben wir in den letzten Jahren genug hinnehmen müssen. Ich denke nur an die Ökosteuer mit ihren ver- hängnisvollen Auswirkungen – insbesondere auf Niedrig- verdienende, Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, aber auch viele mittelständische Unternehmer – und an die vor wenigen Monaten von der Mehrheit dieses Hau- ses beschlossene Erhöhung der Tabak- und der Versiche- rungsteuer. Vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation hat es in den letzten Monaten weltweit – und ins- besondere auch in Europa – Steuersenkungen und keine Steuererhöhungen gegeben. Einer der Gründe, warum die amerikanische Wirtschaft inzwischen wieder dabei ist, langsam Tritt zu fassen, liegt in den nicht unerheblichen Steuersenkungen, die die Bush-Administration mit breiter Zustimmung der beiden großen amerikanischen Parteien beschlossen hat. Die PDS hat offensichtlich immer noch nicht begriffen bzw. begreifen wollen, dass wir in Deutschland eine so- ziale Marktwirtschaft haben und eine freie Volkswirtschaft im Rahmen einer globalisierten Welt sind. Letztlich unter- streichen beide Anträge – wenn man sie genau liest – die Sehnsucht nach einem System, in dem der Staat alles ma- chen soll, weil er nach dieser Philosophie oder besser Ideologie alles besser kann. Sie von der PDS müssen zur Kenntnis nehmen, dass das System, von dem Sie offen- sichtlich immer noch träumen, weltweit gescheitert ist, während die soziale Marktwirtschaft zum weltweiten Er- folgsmodell geworden ist. Das Thema Wiedererhebung der Vermögensteuer ist nicht neu. Auch eine Reihe von Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern hat sich öffentlich in dieser Richtung geäußert. Jürgen Peters, Vizechef der IG Metall, erklärte am 14. März dieses Jahres: „Es wäre abenteuerlich, ... auf die Erhebung der Vermögensteuer zu verzichten.“ Ich will in diesem Zusammenhang gar nicht mit dem Bundesver- fassungsgerichtsurteil argumentieren und auch nicht mit dem enormen Verwaltungsaufwand. Ich will nur darauf hinweisen, dass eine Vermögensteuer letztlich darauf hi- naus läuft, dass die Spitzensteuerbelastung weiter bzw. wieder steigen würde, und gerade Spitzenverdiener leich- ter als alle anderen die Möglichkeit haben, ihre Aktivi- täten und ihre Einkünfte ins Ausland zu verlagern, und zwar dorthin, wo sie ganz legal weniger Steuern zahlen. Schon heute investiert das Ausland viel zu wenig in Deutschland und Deutsche investieren sehr viel im Aus- land. Die Wiedereinführung einer Vermögensteuer würde diese Entwicklung weiter verstärken. Dies hätte erheb- liche Nachteile, nicht zuletzt für den Arbeitsmarkt in Deutschland. Was sozial klingt, ist nicht immer wirklich sozial. Bei der Erbschaftsteuer heißt die Überschrift fast wert- neutral „reformieren“. Es wird dann Bezug genommen auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Jahre 1995, in dem die Unterschiede bei der Bewertung von Grund- besitz und sonstigem Vermögen im Rahmen der Erbschaftsbesteuerung als verfassungswidrig bezeichnet werden. Die Bedenken des Bundesverfassungsgerichtes haben wir inzwischen bekanntlich ausräumen können. Streng genommen geht es der PDS aber um viel mehr, wenn es zum Beispiel in der Begründung ihres Antrages heißt: „Zugleich lässt sie die Chance für eine umfassende Reform der Erbschaftsbesteuerung verstreichen, die sich nicht nur auf eine Veränderung von Bewer- tungsvorschriften beschränken kann ...“. In der weiteren Begründung wird von „erheblichen Re- serven in Bezug auf die Erzielung von Mehreinnahmen“ gesprochen. Auch hier eine grundsätzliche Bemerkung: Marktwirt- schaft und Erbrecht bedingen einander. Ohne eine ver- nünftige Erbschaftsregelung ist eine soziale Marktwirt- schaft nicht denkbar. Schon heute bereitet die Erbschaftsteuer beim Übergang mittelständischer Firmen auf die nächste Generation große Probleme. Erb- schaftsteuer bedeutet Liquiditätsabzug und verringert die Eigenkapitalquote. Schon heute liegt die Eigenkapital- quote vieler mittelständischer Firmen bei deutlich unter 10 Prozent bezogen auf die Bilanzsumme, und dies ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Basel II, das heißt der geplanten Neuordnung der Eigenkapitalunterlegung für Kreditinstitute im Zusammenhang mit der Kreditver- gabe, eine äußerst problematische Situation, da die Eigenkapitalquote ein wichtiger Parameter für die zukünftige Eigenkapitalunterlegung sein wird. Lassen Sie mich abschließend Folgendes feststellen: Was wir in Deutschland brauchen, sind Steuersenkungen und keine Steuererhöhungen, ist eine Reduzierung und nicht eine Erhöhung der Staatsquote und der Steuerquote Nur so können wir im internationalen Wettbewerb beste- hen und den Arbeitsmarkt nachhaltig entlasten. Alle anderen Fraktionen lehnen die beiden Anträge der PDS ab, wenn es auch einigen Kollegen bei den Sozial- demokraten schwer fällt. Die Unionsfraktionen sagen zu beiden Anträgen aus Überzeugung ein klares Nein. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Beide Anträge der PDS haben in dieser Legislaturperiode keine politische Relevanz mehr. Ende letzten Jahres wur- den auf Initiative des Bundesrates die Regelungen zur Be- wertung des Grundbesitzes für Zwecke der Erb- schaftsteuer und der Grunderwerbsteuer für weitere fünf Jahre verlängert. Damit ist klar, dass die politischen Auseinanderset- zungen um die Fragen der Bewertung für verschiedene Vermögensarten wieder auf die Tagesordnung kommen werden. Ich meine, dass wir bereits in der nächsten Le- gislaturperiode eine verfassungsgerichtlich feste Bemes- sungsgrundlage für die Grunderwerbsteuer sowie die Erb- schaft- und Schenkungsteuer brauchen. Die politische Vertagung löst das rechtliche Problem der ungleichen Be- steuerung von verschiedenen Vermögensarten nicht. Diese Feststellung wird untermauert durch den Be- schluss des Bundesfinanzhofes vom 24. Oktober 2001: „Der BFH hält es verfassungsrechtlich für bedenklich, dass bei Schenken und Erwerben von Todes wegen Betriebsver- mögen, bebauter Grundbesitz, land- und forstwirtschaftli- ches Vermögen und nicht notierte Anteile an Kapitalgesell- schaften im Gegensatz zu anderen Vermögensarten durch Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22701 (C) (D) (A) (B) Freibeträge und Bewertungsabschläge erheblich begüns- tigt werden“, so im „Handelsblatt“ vom 5. Dezember 2001. Am 10. April 2002 wird der BFH nun mündlich über die Frage verhandeln, ob er die Erbschaftsteuer dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen wird. Dass er vorlegen wird, gilt als nahezu sicher. Es ist deshalb zu erwarten, dass die Fragen der Bewertung für verschiedene Vermögensarten erneut vom BVerfG aufge- worfen werden. Bereits im Jahre 1995 hat das BVerfG eine realitätsnähere Bewertung von Immobilienvermögen annäherungsweise zu Verkehrswerten eingefordert. Es ist meines Erachtens eine Illusion, zu meinen, ein verfassungswidriger Zustand könne einfach so beibehal- ten werden. Ziel der verfassungsgerichtlichen Vorgabe ist die Einlösung des Grundsatzes der gleichmäßigen Be- steuerung aller Vermögensarten, die vererbt und ver- schenkt werden. Es ist unhaltbar, dass das Grundvermögen in der Regel nur mit 50 bis 70 Prozent des Verkehrswertes in die Be- messungsgrundlage für die Erbschaftsteuer eingeht. Ich würde es deshalb begrüßen, wenn die durch den ange- sprochenen BFH-Beschluss weiter aufgeworfenen Be- wertungsfragen einer rechtlich tragfähigen Lösung zuge- führt werden. Wir wollen eine Vermögensbesteuerung im Rahmen der Erbschaft- und Schenkungsteuer, die den Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung aller Vermö- gensarten auch wirklich anwendet. Die Bewertungs- grundsätze für Immobilienvermögen sind zu ändern, ohne dass es zu einer Belastung von selbst genutztem Immobi- lieneigentum, also Gebrauchsvermögen, kommt. Omas Häuschen soll auch weiterhin steuerfrei die nächste Ge- neration erreichen! Auch eine Betriebsübergabe an Erben darf die Fortführung des Betriebes nicht gefährden. Die Gleichbehandlung unterschiedlicher Vermögens- arten wird umso offensichtlicher notwendig, wenn be- kannt ist, wie sich das Bruttovermögen der privaten Haus- halte zusammensetzt. Es hatte 1997 einen Bestand von 14 Billionen DM. Davon entfielen auf den Immobilien- bestand im In- und Ausland sowie auf das Gebrauchsver- mögen 9 Billionen DM oder 62 Prozent. Etwa 38 Prozent, also den geringeren Anteil, machte das private Geldver- mögen aus. Dies ist dem Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom Januar 1999 zu entnehmen. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass das Steuersparen mit einer Geldanlage in Grundvermögen oder Immobilien als Betriebsvermögen kultiviert wird. Dass die Rechtsprechung weiter Druck macht, kann ich nur begrüßen. Gerhard Schüßler (FDP): Der Antrag der PDS, der die Wiedererhebung der Vermögensteuer verlangt, zeigt, dass es immer noch viel zu wenig Grundverständnis für die soziale Marktwirtschaft gibt. Beklagt werden die Ent- lastungen bei der Einkommensteuer, gefordert wird staat- liche Umverteilung. Befürchtet wird der Rückgang staat- licher Leistungen. Um das zu verhindern, sollen Ein- kommen- und Vermögensteuer zusammen 60 Prozent der Summe der Einkünfte betragen. Diese Forderung wider- spricht nicht nur dem grundgesetzlich gesicherten Schutz des Eigentums – das Bundesverfassungsgericht hat aus- drücklich festgelegt, dass das Grundgesetz dem Staat nur erlaubt, etwa die Hälfte der Einnahmen wegzusteuern –, sondern belegt darüber hinaus, dass die PDS sich weigert, einige Fakten zur Kenntnis zu nehmen: Unser Einkommensteuersystem ist gekennzeichnet von dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungs- fähigkeit. Dem entspricht es, dass die 10 Prozent der Bür- ger mit den höchsten Einkommen mehr als 50 Prozent des Einkommensteueraufkommens aufbringen. Die 50 Pro- zent der Bürger mit den geringeren Einkommen, zu deren Schutzpatron sich die PDS machen möchte, tragen weni- ger als 10 Prozent zum Steueraufkommen bei. Damit kann unser Einkommensteuersystem alles in allem schlicht und einfach nur als gerecht bezeichnet werden. Kennzeichen der sozialen Marktwirtschaft ist auch die Freiheit des Einzelnen. Auch das will die PDS nicht wahr- haben, wenn sie meint der Staat könnte Geld besser inves- tieren als der einzelne Bürger. Es ist doch aberwitzig zu unterstellen, wie die PDS es tut, dass erzielte Einkünfte in der privaten Schatulle bleiben. Tatsache ist doch vielmehr, dass Kapital wieder investiert wird, sei es in Unterneh- men, sei es in den Wohnungsbau. Dadurch entsteht Wohn- raum und es entstehen – das sollte die PDS endlich einmal zur Kenntnis nehmen – Arbeitsplätze. Aufgabe des Staates in einer sozialen Marktwirtschaft ist die Absicherung des Existenzminimums und die Schaffung von Chancengleichheit für alle. Darunter ist al- lerdings nicht Gleichmacherei zu verstehen. Investitionen sollen sich rentieren, Risiko wird belohnt. Das geht aller- dings nur in einer freien Marktwirtschaft, in der der Staat nicht für alles zuständig ist und umverteilt. Zur Vermögensteuer: Ihre Wiedererhebung ist verfas- sungswidrig, weil sie dem so genannten Halbteilungs- grundsatz widerspricht. Zudem muss auch die PDS zur Kenntnis nehmen, dass der Wegfall der Vermögen- steuer durch eine Anhebung der Erbschaftsteuern und der Grunderwerbsteuern seinerzeit mehr als kompensiert wurde. Vermögen tragen also in erheblichem Umfang zum Steueraufkommen bei. Die FDP ist aus diesem Grund gegen die Wiedererhebung der Vermögensteuer. Anlage 9 Amtliche Mitteilungen Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nachstehenden Vorlage absieht: Finanzausschuss – Zwischenbericht der Enquete-Kommission Globalisierung derWeltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten – Drucksache 14/6910 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Vierzehnter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungs- förderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 200222702 (C) (D) (A) (B) Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2 – Drucksachen 14/7972, 14/8174 Nr. 2 – Finanzausschuss Drucksache 14/7883 Nr. 2.28 Drucksache 14/8081 Nr. 2.15 Drucksache 14/8179 Nr. 2.1 Drucksache 14/8179 Nr. 2.20 Drucksache 14/8179 Nr. 2.25 Drucksache 14/8179 Nr. 2.26 Drucksache 14/8179 Nr. 2.27 Drucksache 14/8179 Nr. 2.62 Ausschuss fürWirtschaft und Technologie Drucksache 14/7883 Nr. 2.17 Drucksache 14/8179 Nr. 1.3 Drucksache 14/8179 Nr. 1.5 Drucksache 14/8179 Nr. 2.2 Drucksache 14/8179 Nr. 2.16 Drucksache 14/8179 Nr. 2.35 Drucksache 14/8179 Nr. 2.46 Drucksache 14/8179 Nr. 2.47 Drucksache 14/8179 Nr. 2.51 Drucksache 14/8179 Nr. 2.53 Drucksache 14/8179 Nr. 2.54 Drucksache 14/8179 Nr. 2.59 Drucksache 14/8179 Nr. 2.61 Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 14/7708 Nr. 2.27 Drucksache 14/8179 Nr. 2.52 Drucksache 14/8179 Nr. 2.55 Drucksache 14/8428 Nr. 2.4 Drucksache 14/8428 Nr. 2.17 Drucksache 14/8428 Nr. 2.18 Drucksache 14/8428 Nr. 2.20 Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Drucksache 14/7409 Nr. 2.2 Drucksache 14/7708 Nr. 2.15 Ausschuss für Tourismus Drucksache 14/5172 Nr. 2.22 Drucksache 14/6908 Nr. 2.1 Drucksache 14/8081 Nr. 2.20 Drucksache 14/8179 Nr. 2.3 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 14/7883 Nr. 2.15 Drucksache 14/7883 Nr. 2.24 Drucksache 14/8081 Nr. 2.21 Drucksache 14/8179 Nr. 2.9 Drucksache 14/8179 Nr. 2.28 Drucksache 14/8179 Nr. 2.34 Drucksache 14/8179 Nr. 2.36 Drucksache 14/8179 Nr. 2.37 Drucksache 14/8179 Nr. 2.38 Drucksache 14/8179 Nr. 2.39 Drucksache 14/8179 Nr. 2.40 Drucksache 14/8179 Nr. 2.41 Drucksache 14/8179 Nr. 2.42 Drucksache 14/8179 Nr. 2.43 Drucksache 14/8179 Nr. 2.44 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. März 2002 22703 (C)(A) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422800000
Guten
Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist
eröffnet.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

4. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem
Gesetz zur Modulation von Direktzahlungen im Rahmen der
Gemeinsamen Agrarpolitik (Modulationsgesetz)

– Drucksachen 14/7252, 14/7812, 14/8190, 14/8630 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Wieczorek

5. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem
Gesetz zur Einführung von streckenbezogenen Gebühren
für die Benutzung von Bundesautobahnen mit schweren
Nutzfahrzeugen
– Drucksachen 14/7013, 14/7087, 14/7822, 14/8189, 14/8631 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm Schmidt (Salzgitter)


6. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des
Wasserverbandsgesetzes
– Drucksache 14/8223 –

(Erste Beratung 221. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbrau-
cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss)

– Drucksache 14/8615 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Franz Obermeier

Außerdem ist vereinbart worden, den Tagesordnungs-
punkt 20 c abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
18. a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung

Kioto-Protokoll in Kraft setzen: unsere Verant-
wortung für globalen Klimaschutz

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Marita Sehn, Hildebrecht Braun

(Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der FDP
Vereinbarkeit der Selbstverpflichtung der
deutschen Wirtschaft zur Klimavorsorge mit
den flexiblen Instrumenten des Kioto-Proto-
kolls sicherstellen
– Drucksache 14/8495 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und

des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Das Kioto-Protokoll ratifizieren und zum
Weltgipfel 2002 in Johannesburg in Kraft
setzen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Dr. Christian Ruck, Cajus Caesar,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Kioto – Bonn – Marrakesch, ein wichtiger
Schritt für die internationale Klimapolitik

– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Homburger, Marita Sehn, Ulrike Flach, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gesetz zur Ratifizierung des Kioto-Proto-
kolls unverzüglich vorlegen

– Drucksachen 14/8026, 14/8028, 14/7450,
14/8582 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Ganseforth
Bernward Müller (Jena)

Dr. Reinhard Loske
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

22597


(C)



(D)



(A)



(B)


228. Sitzung

Berlin, Freitag, den 22. März 2002

Beginn: 9.00 Uhr

ZP 3 Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Protokoll von Kioto vom 11. Dezember
1997 zum Rahmenübereinkommen der Vereinten
Nationen über Klimaänderungen (Kioto-Protokoll)

– Drucksache 14/8250 –

(Erste Beratung 218. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)

– Drucksache 14/8581 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Ganseforth
Bernward Müller (Jena)

Dr. Reinhard Loske
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit hat in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 14/8582 die Anträge der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/8026
sowie der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/7450 mit
einbezogen, über die jetzt ebenfalls abschließend beraten
werden soll. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.
Dann ist so beschlossen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit, Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-

(vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie von Abgeordneten der SPD mit Beifall begrüßt)

wenigen Tagen ist eine riesige Eisscholle, größer als das
Saarland, in der Antarktis abgebrochen und in vielen
Einzelteilen ins Meer gestürzt. Wissenschaftler be-
fürchten, dass dieser Vorgang auf die anhaltende globale
Erwärmung zurückzuführen ist.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Es gibt auch andere Meinungen!)


Egal wie man zu dieser Frage steht, Herr Goldmann:
Unbestreitbar ist, dass der Klimawandel Realität ist. Es
geht also nicht mehr darum, ob er stattfindet, sondern wie
stark er ausfällt. Es geht auch nicht mehr darum, ob der
Meeresspiegel steigt, sondern wie stark dies geschieht.
Wir wollen in Kenntnis dieser Realität diesen Anstieg be-
grenzen. Wir wollen und müssen uns unserer Verantwor-
tung stellen. Für uns ist dies eine Frage globaler Gerech-
tigkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Mit der Ratifikation des Kioto-Protokolls verpflichten
wir Industriestaaten uns zum Handeln. Wir leisten unse-
ren Beitrag zu dem internationalen Ziel, das Kioto-Proto-
koll bis zum Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung
im September in Johannesburg in Kraft zu setzen.

Erstmals wird mit dem Kioto-Protokoll – international
verbindlich – eine absolute Obergrenze für die Emission
von Treibhausgasen festgelegt. Egal wie viel und auf wel-
che Weise irgendetwas produziert wird und wie stark der
Verkehr wächst: Diese Obergrenze muss eingehalten wer-
den. Das ist das historisch Neue. Dazu gehört auch, dass
dieses Ziel verbindlich ist.

Wenn ein Staat diese Grenze nicht einhält, wenn er also
einen Kredit auf die Zukunft unserer Kinder nimmt, dann
wird er nach dem Kioto-Protokoll spürbare Zinsen durch
höhere Reduktionsverpflichtungen zu zahlen haben. Auf
der anderen Seite gilt: Um diese Reduktionsverpflichtun-
gen erfüllen zu können, haben die Staaten eine Reihe von
flexiblen Mechanismen an die Hand bekommen. Mit die-
sem umfassenden Regelwerk stellen wir uns der vermut-
lich größten umweltpolitischen Herausforderung des
21. Jahrhunderts, nämlich den Klimawandel so zu be-
grenzen, dass Mensch und Natur damit leben können.

Das Konzept, das die Bundesregierung hier verfolgt, ist
klar: Wir sind Vorreiter und wir wollen Vorreiter bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dies hat drei Voraussetzungen: Nur wer zu Hause seine
Aufgaben macht, kann international gestalten. Wir wollen
dies auch tun, weil Klimaschutz neue Arbeit und neue Ex-
portchancen schafft, und schließlich weil wir es selbst-
verständlich unseren Kindern und Enkeln schuldig sind.

Klimaschutzpolitik modernisiert unsere Gesellschaft.
Sie ist nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch ein
Gewinn. Aber Vorreiter sind keine Stellvertreter. Alles
Vorreiten hat keinen Sinn, wenn andere nicht mitreiten.
Heute können wir allerdings sagen: Wir sind vorne; aber
wir sind nicht allein. Das Kioto-Protokoll wird bald in
Kraft treten, weil der Ratifikationsprozess überall in
vollem Gange ist. Die EU hat am 4. März 2002 durch ihre
Umweltminister beschlossen, dass die Europäische Ge-
meinschaft das Kioto-Protokoll gemeinsam mit allen Mit-
gliedstaaten bis zum 1. Juni 2002 ratifizieren wird. Der
Termin 1. Juni ist ehrgeizig; aber alle Partnerländer inner-
halb der EU haben bestätigt, dass sie es bis dahin schaffen
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich erwarte, dass die Staaten Mittel- und Osteuropas so-
wie Kanada, Japan und Russland ebenfalls ihren Beitrag
leisten. Russland wird den Vorgang am 29. März im Kabi-
nett beschließen, um die Ratifikation vorzubereiten. Ich
freue mich, dass Kolleginnen und Kollegen aus dem Um-
weltausschuss Anfang April in Moskau für eine rasche Ra-
tifikation werben werden. In Japan sind die Vorbereitun-
gen weit vorangeschritten. Ich rechne in den nächsten
Tagen mit einem Kabinettsbeschluss. Japan hat angekün-




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
22598


(C)



(D)



(A)



(B)


digt, bis zum Juni dieses Jahres ratifizieren zu wollen. Da-
mit wäre die Mehrheit für ein In-Kraft-Treten beieinander.

Aber auch anderswo tut sich etwas: In Kanada kämpft
die Regierung für die Ratifikation, muss sich jedoch noch
dem Widerstand einiger Regionen stellen; wir kennen das,
weil auch wir in der bundesrepublikanischen Gesetzge-
bung gelegentlich ähnliche Probleme haben.

Auch in vielen Entwicklungsländern wird die Ratifika-
tion vorangetrieben. So hat jetzt das südafrikanische Par-
lament der Ratifikation einstimmig den Weg bereitet. Ich
freue mich, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland
einen breiten, parteiübergreifenden Konsens hinsichtlich
dieser Frage haben. Ich bedanke mich ausdrücklich für die
schnelle Behandlung des Gesetzes und die breite Zustim-
mung dafür.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Eine internationale Vorreiterrolle kann nur ausüben,
wer glaubwürdig ist. Glaubwürdigkeit erlangt man im
Allgemeinen durch Handeln. Wir haben im Oktober 2000
ein nationales Klimaschutzprogramm vorgelegt. Nicht
wenige schauen zurzeit etwas neidvoll auf die Bundes-
republik Deutschland. Denn in vielen anderen Staaten
– auch der Europäischen Union – wird erst jetzt, also nach
den Klimakonferenzen mit der nationalen Umsetzung der
Regelungen begonnen.

Das Bündel der Maßnahmen zum Klimaschutz, das wir
eingeleitet haben, kann sich sehen lassen. Ich nenne nur
die Stichworte: das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das
100000-Dächer-Programm, das Kraft-Wärme-Kopplungs-
gesetz, die Ökosteuer, die Energieeinsparverordnung, das
CO2-Gebäudesanierungsprogramm und die Verbändever-einbarungen mit der deutschen Industrie.

Die Erfolge dieser Politik sprechen für sich: minus
18,7 Prozent – das sind über 180 Millionen Tonnen CO2 –zwischen 1990 und 1999. Wir sind lediglich 2,3 Prozent-
punkte vom deutschen Kioto-Ziel entfernt, die Treibhaus-
gasemissionen bis 2012 um 21 Prozent zu reduzieren. Das
Besondere der letzten Jahre ist: Das Einsparen von Treib-
hausgasemissionen hat sich nicht auf Wirtschaft und In-
dustrie beschränkt. Gerade in den letzten vier Jahren ha-
ben wir die Trendwende auch in den Sektoren einleiten
können, die lange Zeit Sorgenkinder gewesen sind. Die
privaten Haushalte haben im Jahre 2000 11,5 Prozent
weniger CO2 emittiert als 1990. Das ist, verglichen mitden Zahlen von 1997, eine Senkung um 18 Prozent-
punkte. Damals lagen sie noch fast 7 Prozent über den
Zahlen von 1990.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Im Jahre 2000 haben wir erstmalig auch den Anstieg
des CO2-Ausstoßes im Verkehrsbereich stoppen können.Er sank sogar um 2 Prozentpunkte. Ich sage mit allem
Nachdruck: In beiden Sektoren gelang dies auch – nicht
ausschließlich – dank der Ökosteuer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Vorreiterrolle bei der Klimaschutzpolitik ist aber
nicht nur gut für die Umwelt, sondern hat sich auch öko-
nomisch gelohnt. Sie schafft Arbeitsplätze in Zukunfts-
industrien und macht damit den Wirtschaftsstandort
Deutschland fit für das 21. Jahrhundert. Beste Beispiele
sind die Zukunftstechnologien im Energiebereich: Wind-
kraft, Photovoltaik, Biomasse und Brennstoffzelle.

Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat allein im Be-
reich der Windkraft eine wirtschaftliche Erfolgsstory ge-
schaffen, die ihresgleichen sucht: Ende 2001 waren
8 700 Megawatt Windkraftleistung in Deutschland instal-
liert. Im letzten Jahr kamen 2 500 Megawatt hinzu. Das
bedeutet, dass innerhalb eines Jahres fast so viel installiert
wurde wie in allen Jahren vor 1998 in der Bundesrepublik
Deutschland insgesamt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deutsche Hersteller im Bereich der Windkraft expor-
tieren ihre Windräder inzwischen in alle Welt. Allein in
der Windenergiebranche werden mehr Menschen be-
schäftigt als in deutschen Atomkraftwerken.

Beispiel Anlagenbau: Heute greifen die USA zur Be-
wältigung ihrer Energiekrise in Kalifornien auf hoch
effiziente Gasturbinen aus Deutschland zurück. Wir-
kungsgrade von mehr als 57 Prozent bei der reinen Strom-
erzeugung und von 90 Prozent bei der gekoppelten Er-
zeugung von Strom und Wärme sind nicht nur ökologisch,
sondern auch ökonomisch Spitze.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Regierung – manche werden sich noch an die De-
batten hier im Hause erinnern – hat diese Technik von der
vormals bestehenden steuerlichen Diskriminierung be-
freit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


An dieser Stelle will ich ausdrücklich darauf hinwei-
sen, dass dies ein Weg ist, der in die Zukunft weist. Das
von meiner Amtsvorgängerin, Frau Merkel, beauftragte
Forschungsinstitut Prognos kommt zu der Aussage, dass
in Deutschland eine Minderung der CO2-Emissionen biszum Jahre 2020 um 40 Prozent – ich füge hinzu: bei
Atomausstieg – nicht nur machbar ist, sondern sogar netto
200 000Arbeitsplätze schafft. Von den positiven Effekten
profitieren der Maschinenbau, das Baugewerbe sowie der
öffentliche Personennahverkehr, die Deutsche Bahn und
der Dienstleistungsbereich insgesamt. Ganz im Gegen-
satz zu einem weit verbreiteten Vorurteil sage ich: Klima-
schutz ist kein Jobkiller. Im Gegenteil: Er ist gut für die
Wirtschaft und in vielen Fällen eine Jobmaschine.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Handel mit Emissionszertifikaten – er wurde in
Europa vielfach gefordert – wird kommen – man muss
sich dieser Realität stellen –, schon allein deshalb, weil
außer Großbritannien, Luxemburg, Schweden und
Deutschland kaum ein Land ohne dieses System seine




Bundesminister Jürgen Trittin

22599


(C)



(D)



(A)



(B)


Verpflichtung aus dem Kioto-Protokoll erfüllen kann und
damit auch die Europäische Union als Ganzes ihren Ver-
pflichtungen nicht nachkommen kann.

Die Europäische Kommission kommt diesbezüglich
übrigens zu folgender Einschätzung: Sie sieht die deut-
sche Industrie aufgrund ihres Know-hows hinsichtlich der
Energieeffizienz als einen der Hauptanbieter von Emissi-
onsgutschriften, das heißt als Nettoverkäufer an. An die-
ser Stelle will ich deutlich sagen, dass dann aber auch si-
chergestellt sein muss, dass die deutschen Vorleistungen
auf dem Gebiet des Klimaschutzes nicht durch die Art der
Umsetzung des Emissionshandels einfach einkassiert
werden. Wie gesagt: Vorreiterrolle: ja, Stellvertreter: nein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich habe zu Anfang meiner Rede gesagt, dass überall
auf der Welt mit Hochdruck an der Ratifikation des
Kioto-Protokolls gearbeitet wird. Das stimmt nicht ganz.
Die nach wie vor traurige Ausnahme bilden die USA.
Das größte Problem hinsichtlich der Umsetzung des
Kioto-Protokolls ist die Tatsache, dass sich der größte
Verursacher von Treibhausgasemissionen einseitig aus
dem Kioto-Protokoll verabschiedet hat. Die USA stoßen
pro Kopf doppelt so viel Treibhausgase aus wie die Eu-
ropäer. Sie sind für 25 Prozent der weltweiten CO2-Emis-sionen verantwortlich. Sollen wir aber, weil sich diejeni-
gen, die für 25 Prozent der Emissionen verantwortlich
sind, verweigern, darauf verzichten, auf 75 Prozent der
Emissionen einen Deckel zu machen? Ich meine, nein.

Wie Sie wissen, hat Präsident Bush im Februar mit dem
US-Klimaschutzprogramm eine Alternative – wie er sie
versteht – zum Kioto-Protokoll vorgelegt. Er hat damit
zwar das Problem anerkannt, in meinen Augen aber nicht
mehr. Die USA bleiben mit ihrem Klimaschutzprogramm
nicht nur weit hinter den Emissionsreduktionen zurück,
die die anderen Industrienationen nach dem Kioto-Proto-
koll erbringen werden, sondern Ziel des Programms ist
auch erheblich weniger als das, was die von den USA un-
terzeichneteKlimarahmenkonvention von 1992 fordert,
nämlich die Treibhausgasemissionen wenn schon nicht zu
senken, dann wenigstens auf dem Niveau von 1990 zu sta-
bilisieren.

Wenn man sich das Programm näher anschaut, stellt
man fest: Lediglich der Emissionsanstieg soll abge-
schwächt werden. Wahrscheinliches Ergebnis ist, dass die
Emissionen in den USA, anstatt – wie in Kioto zugesagt –
gegenüber 1990 um 7 Prozent zu sinken, bis 2012 noch
einmal um 25 Prozent zunehmen werden.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist unerhört!)

Aber über kurz oder lang werden auch in den USA

– auch mit Blick auf Alaska und anderswo – Öl, Kohle
und Gas knapp. Dann haben diejenigen Länder Wettbe-
werbsvorteile, die jetzt schon in energieeffiziente Zu-
kunftstechnologien investieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deswegen setze ich darauf, dass sich bei unseren Part-
nern und Freunden in den USA die Erkenntnis durchset-

zen wird, dass aktiver Klimaschutz nicht nur eine um-
weltpolitische Notwendigkeit ist, sondern auch große
Chancen zur Modernisierung der Industriegesellschaft
bietet. Ziel muss es bleiben, die USAwieder in dieses Sys-
tem zu integrieren.

Kioto hat einen Prozess eingeleitet. Die vereinbarten
Reduktionsverpflichtungen der ersten Verpflichtungspe-
riode reichen aber nicht aus, um den Klimawandel und
dessen Folgen zu verhindern. Wir werden deshalb in den
nächsten Jahren die Verhandlungen aufnehmen, um neue
Reduktionsziele für die Industrieländer zu entwickeln und
erste Verpflichtungen für Entwicklungsländer zu verein-
baren.

Mit der Bewältigung der Herkulesaufgabe, unser Welt-
klima und damit uns und nachfolgende Generationen
wirksam zu schützen, haben wir gerade erst begonnen.
Aber wir haben ein wirkungsvolles Instrument in die
Hand genommen.

Ich freue mich, dass ich an dieser Stelle sagen kann,
dass sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages ge-
meinsam dieser globalen Herausforderung stellen. Beim
Klimaschutz gibt es in der Bundesrepublik Deutschland
einen Konsens für die Zukunft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422800100
Ich
eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Debattenred-
ner hat der Kollege Dr. Klaus Lippold von der CDU/CSU-
Fraktion.

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU) (von
der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
gen! Die Entscheidung von heute hat Bedeutung über den
Tag hinaus. Der Beschluss, das Kioto-Protokoll zu ratifi-
zieren, ist ein Beschluss in Verantwortung für die zukünf-
tigen Generationen, denen wir eine möglichst intakte Um-
welt übergeben wollen und die wir vor den dramatischen
Folgen der zunehmenden Erderwärmung bewahren
wollen.

Ob es das Abschmelzen der Gletscherpole an den bei-
den Polenden ist, ob es darum geht, der Versteppung und
Verwüstung entgegenzuwirken: Dies sind so zentrale Fra-
gen für die kommenden Jahrzehnte, dass wir uns der Mit-
wirkung an einem solchen Entscheid selbstverständlich
nicht verschließen, sondern ihn mittragen werden, weil er
zwingend notwendig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit dem Entscheid heute ist der Prozess nicht abge-
schlossen. Wir müssen weiter daran arbeiten.

Ich will auch deutlich machen, dass es notwendig ist,
dass nicht wir allein so handeln und entscheiden; denn Er-
folge, die zwingend und auch dringend notwendig sind,
werden wir nur erreichen, wenn wir global handeln. Die
Bundesrepublik Deutschland allein wäre dazu nicht in der




Bundesminister Jürgen Trittin
22600


(C)



(D)



(A)



(B)


Lage. Deshalb müssen wir uns in Zukunft stärker, als Sie,
Herr Minister Trittin, es in der Vergangenheit getan haben,
dahin gehend orientieren, internationale Impulse zu ge-
ben, wie dies die Vorgängerregierung gemacht hat.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Hört man sich heute auf dem internationalen Parkett

um, so stellt man fest, dass diese Impulse und dass neue
Ideen fehlen. Wir haben die Einführung einer Klimarah-
menkonvention vorangebracht. Wir haben uns mit der
Rolle der UNEP und der der Commission for Sustainable
Development auseinander gesetzt.

Herr Trittin, warum denken Sie nicht visionär weiter,
wohin die Entwicklung in Zukunft führen muss? Derzeit
gibt es die G 8. Aber die G 8 beschäftigten sich nicht al-
lein mit Umweltschutzfragen; sie tun dies nur am Rande.
Warum erweitern wir die G 8 gerade im Sinne des Einbe-
zugs der Entwicklungs- und Schwellenländer nicht zu
einer G 24? Wir könnten die G 8 bestehen lassen, würden
aber ein zusätzliches Gremium schaffen, in dem die Indus-
trie-, die Schwellen- und die Entwicklungsländer an der
Beantwortung der großen Fragen dieser Welt gemein-
schaftlich zusammenarbeiten und insbesondere den Um-
weltschutz vorantreiben, und das stärker in Verbindung
mit der Armutsbekämpfung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Hierzu gibt es von Ihnen keine innovativen Ideen. Das al-
les sind Positionen, die man von Ihnen erwarten müsste,
wenn Sie über den Tellerrand der Bundesrepublik
Deutschland hinausschauen würden.

Sie haben heute nur mit einem Satz die Entwicklung
innerhalb der EU und insbesondere das Emissions Tra-
ding erwähnt. Es muss deutlich werden, dass auch hier
Initiativen Ihrerseits viel stärker gefragt sind. Denn die
Beschränkung der EU-Kommission auf Emissions Tra-
ding ohne den Einbezug von Clean Development Mecha-
nism und Joint Implementation ist der falsche Weg.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Minister, die entsprechende Richtlinie schädigt in
der jetzt vorliegenden Fassung die Wettbewerbsfähigkeit
der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben das in zwei
kurzen Sätzen erwähnt und damit abgetan.

Ich möchte von Ihnen natürlich auch wissen, wo Ihre
Initiativen in diese Richtung sind, was Sie tun wollen, was
Sie bereits getan haben und ob Sie in absehbarer Zeit Er-
gebnisse vorweisen können, die deutlich machen, dass die
Bundesrepublik nicht durch den Fortschritt bei den Ver-
handlungen auf dieser Ebene geschädigt wird. Wir wollen
Fortschritt, aber keinen Schaden für die Bundesrepublik
Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Minister – damit komme ich zu einem wichtigen

Part –, Sie haben gesagt, wer international etwas bewegen
wolle – das tun Sie nicht –, müsse zu Hause Erfolge vor-
weisen können. Ich sage ganz deutlich: Aufgrund der Art
und Weise, in der Sie diese Frage angesprochen haben,
könnte man Sie zum „Mister Plagiat“ ernennen,


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja!)


und zwar deshalb, weil Sie zu Ihren Erfolgen all das
zählen, was zur Zeit der Vorgängerregierung geschehen
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Susanne Kastner [SPD]: Was für ein Elend!)


Zu den Minderungen der CO2-Emissionen in Höhe von18,7 Prozent, Herr Minister Trittin, sind 17 Prozent von
uns beigesteuert worden. In den drei Jahren Ihrer Verant-
wortung sind Sie gerade einmal für knapp 2 Prozent wei-
terer Minderungen verantwortlich, obgleich wir die An-
fangshindernisse aus dem Weg geräumt haben


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist völlig richtig, was er sagt!)


und jetzt die Zeit wäre, schneller voranzukommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Minister, Sie haben die entscheidenden Akzente
falsch gesetzt. Sie strafen die Menschen ab. Sie kassieren
sie ab


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh, lieber Gott!)


und bitten hinterher bei diesen um Investitionen in Kli-
maschutzanlagen, zum Beispiel im Altbaubestand.

Herr Minister, was Sie hier zur Ökosteuer vorgetragen
haben, ist falsch. Alle Experten bzw. Wissenschaftler be-
scheinigen Ihnen


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Lippold bescheinigt, sonst niemand!)


– Herr Schlauch, Sie haben früher schon einmal interes-
santere Zurufe gemacht; es lohnt sich noch nicht einmal,
darauf einzugehen –,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

dass die Ökosteuer kein Instrument ist, um den Klima-
schutz voranzubringen. Herr Minister, nach wie vor ist es
so, dass die Ökosteuer ein Instrument zum Abkassieren
ist. Wo sind die Summen, die aus der Ökosteuer in Um-
weltinitiativen, in den Klimaschutz fließen? Das alles,
Herr Minister, fehlt. Sie tun nichts anderes, als abzukas-
sieren. Das muss aufhören!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie wollen Sie es denn machen? Legen Sie das auf den Tisch! Was ist denn los?)


– Warten Sie doch einmal ab! Brüllen Sie nicht dazwi-
schen! Hören Sie zu!

Auch im Bereich des Altbaubestandes ist ein Plagiat
festzustellen.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Plagiat?)


Das Zinsbezuschussungsprogramm, das wir eingeführt
haben, haben Sie zwar etwas aufgestockt, aber qualitativ
nicht verbessert. Warum schaffen Sie im Altbaubestand




Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)


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(C)



(D)



(A)



(B)


keine steuerlichen Anreize, zum Beispiel durch Ab-
schreibungsmöglichkeiten im Rahmen der Lohn- und
Einkommensteuer


(Susanne Kastner [SPD]: Schulden machen Sie schon wieder, Herr Lippold! Reine Schuldenmacherei!)


oder durch Absetzungsmöglichkeiten im Rahmen der
Erbschaftsteuer, um in den Altbaubestand Initiativen aus
dem privaten Bereich hineinzulenken? Sie sind nicht be-
reit, sich mit all diesen Positionen gedanklich auseinander
zu setzen;


(Beifall bei der CDU/CSU)

denn Sie sind fixiert auf die Kernenergieproblematik.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fixiert? Die ist längst abgeschafft! Sie sind fixiert!)


Zur Kernenergieproblematik sage ich Ihnen: Wer die
Kernenergie ausgrenzt, wird die mittel- und langfristigen
Entscheidungen für den Klimaschutz negativ beeinflus-
sen. Denn durch die regenerativen Energien gleichen Sie
den Wegfall der Kernenergie nicht aus.

Herr Minister, des Weiteren sage ich: Auch wir wollen
regenerative Energien; wir wollen aber Mechanismen, die
sie innovativ gestalten. Ihre Förderpolitik steht in diesem
Zusammenhang vor dem Scheitern, weil sich hier zwar
quantitativ etwas bewegt, die Zahlen, die Sie nennen, aber
mit Subventionen zulasten der Verbraucher teuer erkauft
wurden. Das verschweigen Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völliger Quatsch! Sie wissen doch gar nicht, was Subventionen sind!)


– Herr Schlauch, Sie haben – das sieht man heute Mor-
gen – einen schlechten Tag. Aus Ihren Zwischenrufen war
bislang nichts Intelligentes herauszuhören.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön, dass Sie einen guten Tag haben! Wollen wir erst mal abwarten, wer heute einen schönen Tag hat!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer steuerli-
che Anreizmodelle gerade auch für die privaten Haus-
halte schafft, der verfehlt sein Ziel


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben!)


– hören Sie doch zu; gerade haben Sie noch gerufen, dass
Sie wissen wollen, wo es langgehen soll – und bringt uns
nicht dahin, wo wir hinwollen. Ich sage noch einmal:
Wenn Sie sich – das wurde zu Recht angesprochen – den
Schwellenländern zuwenden, werden Sie mit unserer Un-
terstützung rechnen können.

Es gibt einen zweiten Punkt. Bei aller Kritik, die ich
wie Sie wegen des Ausstiegs aus dem Protokoll an den
USA übe: Es gibt erste Signale, dass sie sich rückbesin-
nen und die Problematik anders gewichten. Wir sollten

diese Signale nutzen, um in einen erneuten Dialog einzu-
treten. Schlussendlich werden wir die Klimaproblematik
ohne die USA und andere nämlich nicht lösen können.

Herr Minister, bei einem solchen Vorhaben würden wir
Sie unterstützen. Bei den anderen Positionen haben Sie
bedauerlicherweise noch viele Hausaufgaben zu machen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422800200
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ulrike Mehl von der SPD-Fraktion.


Ulrike Mehl (SPD):
Rede ID: ID1422800300
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Herr Lippold, Ihre ersten zwei oder
drei Sätze waren dem Thema angemessen konstruktiv.
Danach folgte leider nur noch kleinkariertes Gezeter. Ich
finde, das ist dem Thema nicht angemessen; aber man
kennt das ja.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Steigern Sie sich jetzt mal!)


Wir ratifizieren heute das Kioto-Protokoll. Das ist sehr
wichtig für den Klimaschutz. Es ist allerdings nur ein
Schritt. Viele mühselige Schritte haben wir bereits hinter
uns. Ich bin sehr optimistisch, dass mit diesem Kioto-Pro-
tokoll weitere große Schritte ausgelöst werden.

Dass wir zu diesem Punkt überhaupt kommen, war
– das wird jeder, der es verfolgt hat, wissen – durchaus
nicht zu jedem Zeitpunkt zu erwarten. Wenn man nämlich
rückblickend die Entstehungsgeschichte betrachtet, sieht
man, dass es zwar gute Ansätze mit großen Startvorberei-
tungen, wie dem Brundtland-Bericht und der Klimarah-
menkonvention 1992, gab, denen dann aber mit einiger
Verzögerung nur kleine Trippelschritte folgten. Wie lang-
wierig und schwierig der Prozess von der Erkenntnis hin
zum Handeln ist, kann man an der Geschichte der Um-
welt- und Klimapolitik ersehen.

Der Club of Rome legte 1972, also vor 30 Jahren, sei-
nen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ vor. 1980
legte Jimmy Carter den Bericht „Global 2000“ vor, der
auch in Deutschland heiß diskutiert wurde. Wenn man
sich in Erinnerung ruft, in welcher politischen Situation
sich die USA damals befanden, reibt man sich heute
manchmal die Augen. Damals waren die USA die Vorrei-
ter in der Umweltpolitik. Sie waren sich ihrer Verantwor-
tung auch gegenüber den Entwicklungsländern sehr be-
wusst.

1987 folgte der Brundtland-Bericht, der zum ersten
Mal den Begriff der nachhaltigen Entwicklung definierte.
Er ist zweifellos ein Meilenstein in der Klimaschutzpoli-
tik. Er war auch eine der Grundlagen für die Konferenz
für Umwelt und Entwicklung in Rio 1992, die die Klima-
rahmenkonvention, die Agenda 21 und die Konvention
zum Schutz der biologischen Vielfalt hervorbrachte. Hier
wurde zum ersten Mal international anerkannt, dass die
Bekämpfung von Umweltzerstörung und Armut durch in-
ternationale Zusammenarbeit erfolgen muss, und es




Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)

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(C)



(D)



(A)



(B)


wurde das Leitziel der nachhaltigen Entwicklung be-
schlossen. Das war die entscheidende Voraussetzung
dafür, dass endlich Bewegung in den Klima- und Natur-
schutz kam.

Diese Ergebnisse, auf die alles aufbaut, hatte man vor
der Konferenz allerdings nicht erwartet. Umso ernüch-
ternder ist es, wenn man einmal die letzten Jahre seit 1992
weltweit betrachtet und Bilanz zieht. Die negativen
Trends, die zur Rio-Konferenz geführt haben, sind unge-
brochen und haben sich teilweise sogar verschärft. Stei-
gende Temperaturen, der Anstieg des Meeresspiegels, das
Absinken des Grundwassers, der Rückgang des arkti-
schen Eises, das Abschmelzen der Inlandgletscher, die
Ausdehnung der Wüsten und die Veränderung der Ver-
breitungsgebiete für Pflanzen und Tiere sind nur einige
Beispiele. Die Folgen sind Ernteausfälle, Wassermangel
und Hungersnöte.

Mittlerweile ist der Zusammenhang zwischen diesem
Effekt und der Konzentrationserhöhung der Treibhaus-
gase wissenschaftlich belegt, zum Beispiel durch das „In-
tergovernmental Panel on Climate Change“. Darüber gibt
es keinen Streit mehr. Trotzdem gab und gibt es langwie-
rige und mühselige Verhandlungen über die Ratifizierung
der Klimarahmenkonvention. Das macht deutlich, wie
schwierig es ist, bei unterschiedlichen Interessenlagen der
einzelnen Staaten zu einer gemeinsamen Position zu kom-
men, die dann allerdings meistens den kleinsten gemein-
samen Nenner darstellt, obwohl die Ursachen und Folgen
bekannt sind. Das gleiche Phänomen kann man bei der
Überfischung der Meere feststellen.

Auf der anderen Seite ist aber festzuhalten, dass man
über die konkreten Auswirkungen der Rio-Konferenz und
der dort unterzeichneten Dokumente selbstverständlich
streiten kann. Aber der von dort ausgesandte Impuls für
die internationalen und nationalen Umweltpolitiken ist
bis heute spürbar. Heute kommt man im Gegensatz zu der
Zeit vor zehn Jahren an den Begriffen Nachhaltigkeit, Kli-
maschutz oder biologische Vielfalt nicht mehr vorbei.

Deswegen möchte ich an dieser Stelle einen Vergleich
bringen, weil diejenigen, die sich in diesem Politikfeld en-
gagieren, manchmal zur Resignation neigen. Es gibt Bei-
spiele, die zum Erfolg geführt haben. Ich möchte hierfür
das Montreal-Abkommen zum Schutz der Ozonschicht
nennen, ein ebenfalls internationales Abkommen, mit
dem es beispielhaft gelungen ist, eine Stoffgruppe, näm-
lich das Ozon abbauende FCKW, weltweit zu reduzieren.
Vor kurzem wurde eine neue Stufe auf dem Weg zum end-
gültigen Ausstieg aus Produktion, Handel und Verbrauch
dieser Stoffe beschlossen.

Noch ist das Ozonloch zwar so groß wie Nordame-
rika, obwohl die Produktion und der Verbrauch von
FCKW bereits um 80 Prozent reduziert und auf wenig
oder nicht ozonschädigende Substanzen ausgewichen
wurde. Wenn aber die Umsetzung des Montreal-Ab-
kommens so weitergeht und auch die restlichen Länder
aus der Produktion und dem Verbrauch aussteigen, wird
bis zum Ende des Jahrzehnts das Einsetzen der Erholung
der Ozonschicht erwartet. Allerdings wird das ein halbes
Jahrhundert dauern.

Auch beim Montreal-Abkommen gab es anfangs viel
Skepsis, ob es wirken würde. Heute wissen wir, dass es
zumindest beachtliche Erfolge gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb ist die Hoffnung durchaus berechtigt, dass das
Kioto-Protokoll ebenso erfolgreich werden kann. Dafür
müssen wir jetzt natürlich die Anstrengungen um die
Umsetzung des Kioto-Protokolls und seine Weiterent-
wicklung genauso beharrlich fortsetzen, damit sich der
Klimawandel nicht ökonomisch und ökologisch zur Ka-
tastrophe entwickelt.

Dafür schaffen wir heute durch das Gesetz zur Umset-
zung des Kioto-Protokolls einen wichtigen Zwi-
schenschritt. Dieser wichtige Schritt heißt allerdings
nicht, dass dann, wenn wir die Startblöcke verlassen und
die ersten Hürden genommen haben, ein bequemer Sonn-
tagsspaziergang vor uns liegt. Das wird wie beim Mont-
real-Abkommen eher ein Langstreckenlauf mit Hinder-
nissen über Berg und Tal.

Wir müssen uns darüber klar sein, dass Klimaschutz
nicht nur eine Aufgabe der Umweltpolitik ist, sondern
dass Klimaschutz in fast alle anderen Politikbereiche ein-
greift.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb ist es nötig, die Instrumente, die es schon gibt,
zügig anzuwenden und weiter auszubauen. Die Bundes-
regierung hat schon viel Vorarbeit zur Umsetzung geleistet:
von der energieeffizienten Altbausanierung bis zur massi-
ven Förderung der erneuerbaren Energien mit dem Ziel ei-
ner Energiewende. Zum anderen müssen die Politiken ins-
gesamt zur Nachhaltigkeit in ihrer Wirkung entwickelt und
neue Instrumente wie der Emissionshandel schnell einge-
führt werden. Oberstes Ziel muss dabei die Reduktion kli-
maschädlicher Gase sein. Es geht nicht darum, mit dem
Emissionshandel eine Lizenz zum Gelddrucken zu erfin-
den und am Emissionshandel ordentlich Geld zu verdienen,
ohne dass die Emissionen an CO2 gesenkt werden.

Herr Lippold, Sie hätten sich über das Vorgehen der
Bundesregierung und den Stand der Verhandlungen sehr
leicht informieren können. Wir haben nämlich in der letz-
ten Sitzung des Umweltausschusses sehr ausführlich da-
rüber geredet. Hätten Sie das Angebot angenommen,
wären Sie jetzt auf dem neuesten Stand.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Beim Emissionshandel geht es darum, kostengünstig
CO2 einzusparen. In diesem Sinne wäre es außerordent-lich zu begrüßen, wenn die Kritiker in der Wirtschaft – es
sind nicht alle, aber es gibt heftige Kritiker in der Wirt-
schaft, allen voran die Führung des BDI – endlich die
Laufschuhe anziehen und sich warm laufen würden, an-
statt ihre Energie mit dem Versuch zu verschwenden, den
Emissionshandel auszubremsen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Ulrike Mehl

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(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn wir in einem gesamtgesellschaftlichen Konsens
die Lösung von Problemen angehen, lassen sich manche
Hürden leichter überwinden. Dabei muss allen klar sein,
dass es noch viele Hürden sein werden und dass wir mit
dem angestrebten Reduktionszeitraum von 2005 bis 2012
durchaus noch nicht am Ziel sein werden. Viele seriöse
wissenschaftliche Institutionen und Gremien – angefan-
gen vom zwischenstaatlichen Ausschuss, den ich vorhin
bereits zitierte, über die Klimaenquete, den Sachverstän-
digenrat für Umweltfragen und den Wissenschaftlichen
Beirat der Bundesregierung „Globale Umweltverände-
rung“ bis hin zum Rat für nachhaltige Entwicklung –
mahnen dringend das Setzen weitergehender Ziele an und
nennen eine Zielgröße von 40 Prozent bei der CO2-Redu-zierung bis zum Jahre 2020.

Wenn man sich ansieht, wie lange es dauert, bis belast-
bare internationale Abkommen zustande kommen, muss
man erkennen, dass wir in absehbarer Zeit diese Diskus-
sion in der internationalen Familie führen müssen. Wenn
wir das kraftvoll gestalten wollen, müssen wir mit gutem
Beispiel vorangehen. Nur dann können wir den anderen
Mitspielern sagen, dass auch sie ihre Hausaufgaben zu
machen haben. Wir können, so glaube ich, auf die Vorrei-
terrolle Deutschlands beim Klimaschutz stolz sein und
werden alles daransetzen, diese Vorreiterrolle zu behalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist auch deshalb wichtig, weil die internationale
Gemeinschaft über kurz oder lang die USA aus ihrer har-
ten Bremserrolle in eine positive Vorwärtsbewegung brin-
gen muss. Ohne aktive Mitarbeit des weltweit größten
Emittenten würde es langfristig nicht möglich sein, unsere
Ziele zu erreichen. Wenn dann irgendwann alle begriffen
haben, dass Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz
keine nostalgischen Spinnereien von großherzigen Gut-
menschen sind, sondern die Voraussetzung für unser aller
Zukunft, dann haben wir den Wettlauf gewonnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422800400
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von der FDP-
Fraktion.


(Horst Kubatschka [SPD]: Jetzt kriegen die Stenografen eine Zulage!)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1422800500
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich von-
seiten der FDP-Fraktion sagen, dass der heutige Tag ein
guter Tag ist, weil wir heute den Beschluss fassen werden,
das Kioto-Protokoll zu ratifizieren. Wir haben das lange
gefordert und sind froh, dass es am heutigen Tag im Deut-
schen Bundestag beschlossen werden wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir hätten uns allerdings gewünscht, dass die Bundes-
regierung früher damit rüberkommt.


(Zurufe von der SPD: Aha!)


Wir haben das in vielen Anträgen immer wieder gefordert.
Um Ihnen meine Position deutlich zu machen, möchte ich
Ihnen vorhalten: Sie haben immer gesagt, es gebe Pro-
bleme, weil die Sache sehr viel komplizierter sei, als man
sich das in der Opposition vorstelle; insofern sei ein ent-
sprechendes Regelwerk nötig. Im Februar dieses Jahres
haben Sie uns dann einen Gesetzentwurf mit drei Artikeln
vorgelegt, der allerdings nicht so kompliziert ist. Das hätte
man also schon früher machen können.


(Ulrich Kelber [SPD]: Weil wir Vorarbeit geleistet haben!)


Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Man hätte in Deutsch-
land früher ein Signal an die Staatengemeinschaft senden
können, wenn wir früher ratifiziert hätten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Allerdings muss ich sagen, Herr Trittin, Sie haben vor-

hin in Ihrer Rede meines Erachtens einen zentralen Punkt
vergessen. Zwischenzeitlich sind wir auf nationaler
Ebene sehr viel weiter gekommen. Mittlerweile geht es
um die Umsetzung des Kioto-Protokolls und darum, wie
sie in Europa gestaltet wird. Dazu liegt inzwischen ein
zweiter Richtlinienentwurf der EU-Kommission vor, zu
dem Sie mit Ausnahme der Äußerung, die Vorleistungen
der deutschen Wirtschaft müssten anerkannt werden, kein
Wort verloren haben. Dabei wäre es dringend notwendig,
zu dem EU-Richtlinienentwurf Stellung zu nehmen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben dazu so schön ausgeführt: Nur wer zu Hause
seine Hausaufgaben macht, kann auf internationaler
Ebene mitgestalten.

Es ist bemerkenswert, wie Sie sich gewandelt haben.
Der Kollege Lippold hat bereits alles Notwendige zu
Ihren Ausführungen zu der Reduktion von Treibhausga-
sen in Deutschland gesagt.


(Widerspruch bei der SPD)

Früher haben Sie das nämlich noch mit dem Argument ge-
geißelt, das sei alles auf die deutsche Einheit zurückzu-
führen. Zurzeit aber wird das, was unter der alten Koa-
lition durchgeführt wurde, einkassiert und für sich in
Anspruch genommen.


(Beifall bei der FDP)

Ein zweiter Punkt, den ich für bemerkenswert halte, ist,

dass Sie über das nationale Ziel der Emissionsmin-
derung, das wir seinerzeit gemeinsam beschlossen haben
und zu dem die FDP nach wie vor steht, kein Wort mehr
verlieren. Da Sie wissen, dass Sie dieses Ziel mit Ihrer Po-
litik nicht erreichen werden, beziehen Sie sich nur noch
auf das, was auf internationaler Ebene gefordert wird, und
tun so, als stünden wir sehr gut da. Ich möchte von Ihnen
wissen, ob Sie noch zu dem nationalen Ziel der Emissi-
onsminderung stehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich noch einen dritten Punkt ansprechen.
Es geht auch darum, die flexiblen Instrumente des Kioto-




Ulrike Mehl
22604


(C)



(D)



(A)



(B)


Protokolls zu nutzen. Auch darauf sind Sie in Ihrer Rede
nicht eingegangen. Das halte ich ebenfalls für bemer-
kenswert. Sie sagten, Glaubwürdigkeit zeige sich durch
Handeln. Aber genau das haben Sie in den letzten Jahren
versäumt.

Ihre Einstellung zu der bevorstehenden Einführung des
Emissionshandels haben Sie mit dem Satz deutlich ge-
macht: Handel wird kommen; man muss sich der Realität
stellen. Das zeigt, dass Sie nicht begriffen haben, welches
Potenzial in ökologischer und ökonomischer Hinsicht in
diesen neuen Instrumenten liegt, Herr Minister. Sie han-
deln so, weil es Ihnen von außen aufgezwungen wird, aber
in Deutschland tragen Sie nichts zu der Umsetzung bei.


(Beifall bei der FDP – Christoph Matschie [SPD]: Frau Homburger, Sie haben im Ausschuss auch nicht zugehört! Sonst wüssten Sie es besser!)


Der Emissionshandel wird 2005 europaweit einge-
führt. Großbritannien, Dänemark und die Niederlande be-
reiten sich darauf vor. In Deutschland herrscht absolute
Fehlanzeige.


(Christoph Matschie [SPD]: Wo waren Sie denn am Mittwoch in der Ausschusssitzung?)


Während die anderen ihre Börsenplätze für den Emis-
sionshandel fit und attraktiv machen, passiert in Deutsch-
land nichts in dieser Richtung.

Ein Antrag der FDP-Bundestagsfraktion liegt heute zur
Mitberatung vor.


(Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]: Sehr guter Antrag!)


Sie sollten diesen Antrag genau lesen, Herr Trittin, weil
darin aufgezeigt wird, wie die flexiblen Instrumente des
Kioto-Protokolls mit der deutschen Selbstverpflichtung
der Industrie zur Reduktion von Klimagasen verknüpft
werden können. Darauf kommt es jetzt an. Wir müssen
weiterkommen, statt ausschließlich über die Ratifizierung
von etwas längst Beschlossenem zu diskutieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir wollen, dass in Deutschland die ökologischen und

ökonomischen Chancen des Emissionshandels genutzt
werden können. Ihrer Äußerung, Frau Mehl, dass es auch
um die Verantwortung gegenüber den Entwicklungslän-
dern geht, ist entgegenzuhalten, dass das Kioto-Protokoll
mit dem Emissionshandel etwas Hervorragendes beinhal-
tet. Wenn der Emissionshandel betrieben wird und ge-
meinsame Projekte mit den Entwicklungsländern durch-
geführt werden,


(Ulrike Mehl [SPD]: Das machen wir doch! Wo ist denn Ihr Problem?)


dann werden diese Länder zukünftig nicht mehr nur Hil-
feempfänger sein, sondern Teilnehmer am Weltmarkt,
weil sie mit den CO2-Zertifikaten selbst etwas zum Han-del beisteuern können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrike Mehl [SPD]: Wir sind doch dabei! Wo ist das Problem?)


Diese Chance müssen wir ihnen endlich bieten. Selbst
ohne die Ratifizierung des Protokolls ist es seit dem
Jahr 2000 möglich, in der konkreten Umsetzung die flexi-
blen Instrumente anzuwenden und schon zum gegenwär-
tigen Zeitpunkt im Vorgriff auf den ersten Verpflich-
tungszeitraum von Kioto solche Emissionszertifikate zu
sammeln. In anderen Ländern geschieht das bereits. In
Deutschland aber sind bisher die Voraussetzungen dafür
nicht geschaffen worden. Wir fordern Sie auf, dies endlich
zu tun und damit auch Chancen für die Entwicklungslän-
der zu schaffen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrike Mehl [SPD]: Sie haben nicht zugehört!)


Sie haben immerhin verstanden, Herr Trittin, dass
Deutschland den Löwenanteil der Verpflichtungen in Eu-
ropa trägt. Wir haben aber Kritik an dem EU-Richtli-
nienentwurf.Dieser Entwurf muss dringend überarbeitet
werden, und zwar deshalb, weil er nicht von vornherein
alle Klimagase einbezieht, nicht alle flexiblen Instru-
mente zulässt und weil er hinsichtlich des Bezugsjahrs für
Deutschland nachteilig ist. Wenn Sie wollen, dass der
Emissionshandel in Deutschland kommt, dann müssen
Sie endlich auf europäischer Ebene aktiv werden und
berechtigte deutsche Interessen durchsetzen, anstatt nur
hier im Plenum zu schwadronieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Das sind aber Allgemeinplätze, Frau Kollegin!)


Herr Kollege Trittin, wir erwarten, dass der Emis-
sionshandel in Deutschland endlich vorbereitet wird.


(Horst Kubatschka [SPD]: Warum haben Sie das nicht im Ausschuss gefordert?)


Sie ziehen sich stets hinter eine Arbeitsgruppe Ihres Mi-
nisteriums zurück. Diese Arbeitsgruppe beschäftigt sich
aber mitnichten mit der Vorbereitung des Emissionshan-
dels, sondern, wie gerade ausgeführt wurde und auch in
der Presse zu lesen war, vor allen Dingen mit der Bewer-
tung des Richtlinienentwurfs. Sie haben in Ihrem Hause
nicht einen einzigen Mitarbeiter, der daran arbeitet, diese
flexiblen Instrumente in Deutschland zu etablieren.

Die Erklärung dafür ist, dass Sie diese Instrumente
nicht wirklich wollen. Wenn Sie weiterhin untätig blei-
ben, dann wird es in Deutschland ein EU-Recht geben,
das auf die deutsche Situation nicht passt, und dann wird
auf Dauer der Emissionshandel scheitern, weil wir in
Deutschland nicht vorbereitet sind. Das aber ist Ihnen
recht, weil dann das Instrument kaputt sein wird und Sie
mit Ordnungsrecht und Ökosteuer weitermachen können.


(Ulrike Mehl [SPD]: Auf jeden Fall können wir weitermachen, das ist wahr!)


Das wollen Sie offensichtlich, Herr Trittin, und deswegen
sagen wir Ihnen sehr deutlich: Sie haben nicht wirklich
ein Interesse daran. Anderenfalls würden Sie sich endlich
bemühen, Deutschland für den Emissionshandel fit zu
machen, der international demnächst stattfinden wird.
Dazu fordern wir Sie auf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)





Birgit Homburger

22605


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422800600
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Loske vom Bündnis 90/
Die Grünen.


Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422800700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Homburger, wenn ich Sie hier als radikal-ökologische
Vorkämpferin für den Klimaschutz erlebe, denke ich im-
mer, ich sei im falschen Film.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bewundere Sie wirklich, wünschte mir aber, dass Sie
Ihren missionarischen Eifer den Herren Westerwelle und
Möllemann angedeihen ließen. Die können es gebrau-
chen; dessen können Sie sicher sein.


(Horst Kubatschka [SPD]: Und dem VCI!)

Hinsichtlich des Emissionshandels, für den Sie Seit‘ an

Seit‘ mit uns so eifrig streiten,

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Vor Ihnen, weit vor Ihnen!)

haben Sie eine falsche Wahrnehmung. Das Hauptproblem
ist der BDI, auf dessen Schoß Sie doch sonst immer sit-
zen.


(Ulrike Flach [FDP]: Sind Sie neidisch?)

Lassen Sie sich in dieser Frage nicht vom BDI irreleiten!

Auch wenn es mir nach der Rede von Herrn Lippold
schwer fällt, möchte ich doch einen kurzen historischen
Rückblick geben; denn es haben in der Tat viele auch aus
diesem Hause am Zustandekommen des Kioto-Proto-
kolls mitgewirkt. So hat Klaus Töpfer 1992 in Rio eine
uneingeschränkt positive Rolle gespielt; das darf und
muss man sagen. Man kann sogar zugeben – auch wenn
es noch schwerer fällt –, dass der ehemalige Bundeskanz-
ler Kohl 1995 einen bedeutenden Anteil daran gehabt hat,
dass die Konferenz nicht vor die Hunde gegangen ist. Als
sie auf der Kippe stand, hat er durch eine fulminante Rede
einen Stimmungswechsel hinbekommen, der dazu führte,
dass wir wenigstens das Berliner Mandat erhielten. Auch
das ist zu würdigen.

Zu würdigen ist aber auch nicht minder das Engage-
ment von Bundeskanzler Schröder 1999 auf der Konfe-
renz in Bonn. Dort hat er das klare Signal gegeben, dass
wir Europäer eine Vorreiterrolle einnehmen wollen, weil
wir an dem Gelingen des Kioto-Protokolls interessiert
sind.

Vor allen Dingen zu würdigen ist die Rolle, die Bun-
desumweltminister Trittin in Bonn und auf der Vertrags-
staatenkonferenz in Den Haag gespielt hat. Dort ist es
erstmals gelungen, dass Europa als eigenständiger Akteur
in der internationalen Klimapolitik mit einer Stimme
sprach, um die Sache gemeinsam mit den Entwicklungs-
ländern zum Erfolg zu führen. Dafür gebührt ihm ohne
Zweifel Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch das Parlament hat seinen Anteil an diesem Er-
folg. In den Enquete-Kommissionen von 1987 bis 1990
und von 1990 bis 1994 haben wir die Vorarbeiten geleis-
tet. Auch können wir stolz darauf sein, dass wir in
Deutschland eine international so anerkannte Klimafor-
schung haben. Ich denke hier an das Potsdam-Institut für
Klimawirkungsforschung, an das Wuppertal-Institut oder
an das Max-Planck-Institut in Hamburg. Wir haben auf
diesem Gebiet eine lebendige Forschungslandschaft, die
es uns ermöglicht, in der internationalen Diskussion eine
Vorreiterrolle einzunehmen.


(Beifall des Abg. Horst Kubatschka [SPD])

Anders als in vielen anderen internationalen Gremien
spielen deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
ler eine wichtige Rolle im Intergovernmental Panel on
Climate Change.

Nicht zuletzt muss die Rolle der Nichtregierungsorga-
nisationen gewürdigt werden. Auch den Umweltverbän-
den gebührt der Dank dieses Hauses. Durch ihr lang an-
haltendes Engagement haben sie es geschafft, das Thema
ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Vor allen Dingen freue ich mich darüber, dass es auch
NGOs wie beispielsweise German Watch gibt, die das
Thema Nord-Süd-Gerechtigkeit in das Zentrum ihrer Ar-
gumentation rücken. Das ist ganz wichtig.

Last, but not least: Seit einigen Jahren vertreten die Ge-
winnerindustrien des Strukturwandels und die Umwelt-
verbände ihre Interessen gemeinsam. Das ist ganz wich-
tig; denn diejenigen, die mit grünen Zielen schwarze
Zahlen schreiben wollen, und diejenigen, die wie die Ver-
sicherungswirtschaft vor den hohen Kosten des Klima-
wandels warnen, waren ein Motor im internationalen Ver-
handlungsprozess. Auch ihnen gebührt unser Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Lippold, diejenigen, die Technologien anzubieten
haben, die Versicherungswirtschaft und andere Branchen,
wissen ganz genau, dass sie bei uns sehr gut, aber bei Ih-
nen sehr schlecht aufgehoben sind, weil Sie sich nur zum
Sprecher der sklerotischen Beharrungskräfte machen.
Diese haben bei uns in der Tat kein gutes Standing.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte das Ganze wie folgt zusammenfassen: All
diesen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gebührt
Dank dafür, dass das Thema Klimapolitik bei uns eine
so große öffentliche Aufmerksamkeit genießt und dass
unsere Zivilgesellschaft in dieser Frage so vital ist. Das
alles ist sehr positiv. Ich neige normalerweise nicht zum
Pathos. Aber ich sage heute: Die Ratifizierung des Kioto-
Protokolls verdient das Attribut historisch. Ich glaube,
über diese Ratifizierung können wir alle froh sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)







(C)



(D)



(A)



(B)


Als wäre das alles nicht genug – eine kleine Anekdote
am Rande, Herr Minister; ich nehme an, das ist Zufall –,
trägt die Drucksache des Entwurfs eines Gesetzes zum
Kioto-Protokoll das Datum 15. Februar. Das ist das Da-
tum meines Geburtstages. Danke schön!


(Birgit Homburger [FDP]: Ich hätte das für Sie auch gemacht!)


– Sie hätten es für mich auch gemacht? Darüber freue ich
mich. Wunderbar!


(Beifall bei der FDP)

– Das heutige Niveau der FDP-Fraktion ist große Klasse.
Ich erinnere Sie nur sicherheitshalber daran: Wir sind
hier nicht im Karnevalsverein, sondern im Deutschen
Bundestag.


(Lachen bei der FDP)

Zur Sache, zum Kioto-Protokoll! Im Umfeld der Bon-

ner Konferenz und in der deutschen Öffentlichkeit hat es
viele Diskussionen über die Frage gegeben: Ist das Kioto-
Protokoll ein Durchbruch oder ist es nichts anderes, wie
manche gesagt haben, als ein Placebo? Ist es nicht eine Art
Abrüstungsvertrag, der aber in Wahrheit zur Aufrüstung
führt? Diesen Fragen sollte man sich ernsthaft stellen. Ih-
rer Beantwortung sollte man sich aus drei Richtungen
nähern, nämlich aus der Richtung des Völkerrechtes, aus
der Richtung der Ökologie und aus der Richtung der Ge-
rechtigkeit. Das führt also zu den Fragen: Ist das Kioto-
Protokoll ein guter Vertrag? Ist es ein ökologisch ziel-
führender Vertrag? Ist es ein gerechter Vertrag?

Aus der Sicht des Völkerrechts kann man, denke ich,
uneingeschränkt sagen: Das Kioto-Protokoll ist ein guter
Vertrag. Er schließt alle Staaten ein. Es gibt eine gemein-
same, wenn auch unterschiedliche Verantwortung. Klar
ist aber, dass das globale Problem des Klimawandels
letztendlich nur von allen Staaten gemeinsam gelöst wer-
den kann. Trittbrettfahren soll ausgeschlossen werden.


(Eva Bulling-Schröter [PDS]: Soll!)

Das ist das erste Ziel des Vertrages.

Das zweite Ziel ist: Die Reduktion aller klimaverän-
dernden Spurengase wird geregelt – mit Ausnahme der
auch die Ozonschicht zerstörenden FCKW-Gase, deren
Reduzierung im Montrealer Protokoll geregelt ist. Inso-
fern erfasst der Vertrag die Problembereiche vollständig.
Die Regelungen des Vertrages bezüglich der Reduktion
des Kohlendioxidausstoßes – Kohlendioxid ist ja be-
kanntlich ein unmittelbares Resultat der Verbrennung fos-
siler Energieträger – werden unsere Art des Wirtschaftens
– darauf hat Minister Trittin schon hingewiesen – sehr
stark verändern; denn im Vertrag wird im Prinzip die
Menge an fossilen Energieträgern festgelegt, die in Zu-
kunft noch verbrannt werden darf. Insofern handelt es sich
um einen sehr weit gehenden Vertrag. Ich glaube, das ist
der eigentliche Quantensprung im internationalen Recht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Neu an diesem Vertrag ist auch, dass ihm ein dynami-
sches, evolutives Konzept zugrunde liegt. Es ist vorgese-

hen, die wissenschaftlichen Fakten regelmäßig zu über-
prüfen, jährlich Vertragsstaatenkonferenzen einzuberufen
sowie – das ist besonders wichtig – die Klimaschutzziele
regelmäßig fortzuschreiben und weiterzuentwickeln. Das
Kioto-Protokoll ist also kein Vertrag, der nur einfach ge-
schlossen und dann umgesetzt wird. Dieser Vertrag setzt
vielmehr einen permanenten Prozess in Gang. Hier hat
man also vom Montrealer Protokoll gelernt, das ja heute
– wie ich finde: zu Recht – als eine der Erfolgsgeschich-
ten der internationalen Umweltpolitik gilt.

Der Vertrag orientiert sich an einem erweiterten
Gerechtigkeitsbegriff. Er enthält zwei Dimensionen der
Gerechtigkeit, nämlich die intergenerative Gerechtigkeit
– Herr Minister Fischer, die Kinderpolitik findet sich also
auch im Kioto-Protokoll wieder; im Prinzip steckt die
Idee dahinter, dass wir die Erde nur von unseren Kindern
geborgt haben; der Gedanke der intergenerativen Gerech-
tigkeit ist also ein zentrales, konstitutives Element dieses
Vertrages – und die internationale Gerechtigkeit. Wenn
die Industrieländer nicht wollen, dass die Entwicklungs-
länder im Zuge ihrer Entwicklung die gleichen energie-
intensiven Umwege gehen, wie wir das getan haben, dann
müssen sie a) eine Vorreiterrolle einnehmen und b) Fi-
nanz- und Technologietransfers leisten. Auch das ist ein
ganz wichtiges Element dieses Vertrages.

Mit dem nächsten Punkt wende ich mich noch einmal an
Ihre Adresse, Frau Homburger. Der Vertrag orientiert sich
auch am Prinzip der kosteneffizienten Erreichung von
Klimaschutzzielen; Stichwort: flexible Mechanismen.


(Birgit Homburger [FDP]: Das ist der Grund dafür, dass wir das vertreten!)


Deswegen ist es umso unverständlicher, dass die Verei-
nigten Staaten, die genau diese flexiblen Mechanismen
wie JI, CDM und Emissionshandel hineingeboxt haben,
just zu dem Zeitpunkt aussteigen, zu dem diese Mecha-
nismen Elemente des Vertrags werden.


(Birgit Homburger [FDP]: Daran bin ich allerdings nicht schuld!)


Insofern ist die Position der USA wirklich sehr kurz-
sichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Birgit Homburger [FDP]: Da ist eher Herr Fischer zuständig!)


Aus der Sicht des Völkerrechts kann man zusammen-
fassend sagen: Dieser Vertrag hat eine sehr gute Architek-
tur. Sie ist ausbaufähig und entwicklungsfähig. Insofern
ist es aus der Sicht des Völkerrechts ein guter, ein bahn-
brechender Vertrag, nachgerade ein Quantensprung.

Aus der Perspektive des Klimaschutzes und der Öko-
logie kann man sagen: Der Vertrag ist nicht hinreichend.
Er ist – das ist ganz klar – bestenfalls ein erster Schritt. Die
Klimaforschung sagt uns: Im Weltmaßstab müssen wir bis
2050 den Ausstoß an klimaverändernden Gasen um
60 Prozent reduzieren, wir Industrieländer sogar um
80 Prozent, weil wir an der Verringerung unseres Überge-
wichts arbeiten müssen. Wir müssen sozusagen Raum
dafür schaffen, dass sich die Entwicklungsländer ent-
wickeln können. Wenn nach dem Kioto-Protokoll bis




Dr. Reinhard Loske

22607


(C)



(D)



(A)



(B)


2012 in den Industriestaaten eine Emissionsminderung
um 2 bis 3 Prozent stattfindet, dann – Frau Mehl hat das
zu Recht gesagt – reicht das nicht aus. Dieser Vertrag
muss weiterentwickelt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Eva BullingSchröter [PDS])


Auf ein Problem müssen wir sehr achten: All die
Schlupflöcher, die in diesen Vertrag hineingeraten sind
– sei es die Senkenproblematik, sei es die Problematik der
heißen Luft; Stichwort Russland –, gefährden die ökolo-
gische Integrität des Protokolls. In der Umsetzung des
Vertrages müssen wir sehr darauf achten, dass das ganze
Regelwerk nicht unterhöhlt wird.

Trotzdem glaube ich – dazu will ich einen historischen
Vergleich heranziehen –, dass dieser Vertrag auch ökolo-
gisch ein großer Schritt nach vorn ist. Wir haben das auch
beim Montrealer Protokoll gehabt. Als es 1987 in Kraft
trat, schrieb eine wichtige Hamburger Wochenzeitung,
dieser Vertrag sei eine Sterbehilfe für die Ozonschicht.
Heute, 15 Jahre später, sagen wir: Es ist der größte Erfolg
in der internationalen Umweltpolitik. Dass das so ist, liegt
natürlich genau an dem Grundkonzept des Montrealer
Protokolls; man konnte es schrittweise verschärfen. Es
gibt den Mechanismus, dass man wissenschaftliche Er-
kenntnisse einfließen lässt. Es ist eine Tatsache, dass die
Sorgen der Menschen zugenommen haben. Es ist eine Tat-
sache, dass es Alternativen gegeben hat. Es ist eine Tatsa-
che, dass es einzelne Staaten und Unternehmen gegeben
hat, die gewillt waren, eine Vorreiterrolle einzunehmen.

Man kann die Verhältnisse des Montrealer Vertrags
nicht 1:1 auf den Kioto-Vertrag übertragen – da bin ich
mir sicher –; aber die Lehren, die wir dabei gewonnen ha-
ben, können wir nutzen. Der wissenschaftliche Sachstand
entwickelt sich weiter. Die Sensibilität der Menschen
steigt. Wir haben ganz klare Alternativen. Stichworte: er-
neuerbare Energien, Energieeffizienz, Energieeinspa-
rung. Das ist die Richtung, in die wir gehen; wir setzen
nicht auf die Atomkraft. Außerdem gibt es Vorreiterstaa-
ten und Vorreiterunternehmen. Solche Staaten brauchen
wir; sonst kommen wir international nicht voran. Dabei
wollen wir ganz vorneweg sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich will jetzt nicht großartig über die nationale Klima-
politik sprechen, aber ich will Herrn Lippold, auch wenn
er gerade telefoniert, doch noch zweierlei sagen.

Erster Punkt. Was die ökologische Steuerreform an-
geht, Herr Lippold, so können Sie sich nicht auf die ge-
samte Wissenschaft beziehen. Die Wissenschaft attestiert
uns, dass die ökologische Steuerreform in ihrer jetzigen
Form einen Beitrag zum Klimaschutz bis 2010 im Um-
fang von 20 bis 25 Millionen Tonnen CO2 leistet – das istsehr viel – und gleichzeitig 250 000 Arbeitsplätze
schafft. – Herr Lippold telefoniert und hört nicht zu,


(Widerspruch des Abg. Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/CSU])


aber das ist sein Problem. Die Ökosteuer ist eine gute
Sache.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zweiter Punkt. Herr Lippold, die Kollegin Hustedt hat
mir gerade verraten, dass Sie in der letzten Legislaturpe-
riode – da war ich noch nicht hier – für die Altbausanie-
rung zuständig waren. Der Ansatz der Bundesregierung
für die Altbausanierung im Rahmen des KfW-Programms
betrug 20 Millionen DM.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lächerlich!)


Heute beträgt er 400Millionen DM. Das ist ein Faktor 20.
Das ist genau der Unterschied zwischen der Qualität Ihrer
Umweltpolitik und der unserer Umweltpolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zu der Frage, ob das ein gerechter Vertrag ist, habe ich
schon einiges gesagt. Ich glaube, dass es ein gerechter
Vertrag ist. Wir haben die Verantwortung. Wir müssen
eine Vorreiterrolle übernehmen. Wenn wir nicht wollen,
dass auch in der Südhemisphäre die energieintensiven
Umwege gegangen werden, dann müssen wir voran-
schreiten.

Abschließend ganz kurz noch zwei Punkte zu Europa.
Ich neige normalerweise nicht zum Pathos, aber ich muss
schon sagen: In dem Moment, als in Bonn Herr Pronk so-
zusagen den Tagungshammer hat niederfahren lassen, hat
mich für den Bruchteil einer Sekunde der Hauch der Ge-
schichte angeweht.


(Zurufe von der PDS: Oh!)

Das gebe ich ganz offen zu. Das lag daran, dass Europa
wirklich erstmalig mit nur einer Stimme sprach. Die Län-
der, die der Europäischen Union beitreten wollen, haben
nämlich mit der EU an einem Strang gezogen. Wir haben
zusammen mit den Entwicklungsländern einen Erfolg er-
zielt, den viele nicht für möglich gehalten hatten.


(Birgit Homburger [FDP]: Das hätte man früher haben können!)


Darauf kann man als Europäer ein wenig stolz sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ein letzter Gedanke zu den Vereinigten Staaten von

Amerika: Man muss ja feststellen, dass ironischerweise
die radikale Verweigerung der Teilnahme am Kioto-Pro-
zess von Präsident Bush dazu geführt hat, dass sich viele,
die in Wahrheit gar nicht wollten, nicht mehr hinter dem
breiten Kreuz der Amerikaner verstecken konnten. Das
hat im Ergebnis einen Einigungszwang auf den Rest der
Welt ausgeübt. Insofern ist Präsident Bush im Grunde ge-
nommen einer der Geburtshelfer für den Kioto-Vertrag.


(Eva Bulling-Schröter [PDS]: Oh! Oh!)

Ich wünsche mir aber, dass die Amerikaner ihre Blocka-
dehaltung aufgeben. Klimaschutz ohne die Vereinigten




Dr. Reinhard Loske
22608


(C)



(D)



(A)



(B)


Staaten ist auf Dauer nicht möglich. Ich hoffe, dass sich
dort über kurz oder lang die Vernunft wieder durchsetzt.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422800800
Das Wort
hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der PDS-Frak-
tion.


(Ulrich Kelber [SPD]: Jetzt gib mal zu, dass wir es gut gemacht haben!)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1422800900
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Kioto-Abkommen wurde
ja von vielen Seiten hoch gelobt; dennoch stellt es aus un-
serer Sicht keinen wirklichen Fortschritt dar. Allerdings
gibt es angesichts der herrschenden Kräfteverhältnisse
keine Alternative. So werden wir zustimmen.


(Beifall des Abg. Ulrich Kelber [SPD])

Gleichzeitig möchte ich aber mit einigen Mythen auf-

räumen. Fakt ist: Von realer Reduzierung der Treib-
hausgase durch die Industriestaaten – auf Deutschland
komme ich gleich noch zu sprechen – kann kaum die Rede
sein. So kann die Aufforstung angerechnet werden. Das
drückt die eingegangenen Reduktionsverpflichtungen;
damit wird das im Kioto-Protokoll vorgesehene Redukti-
onsziel von 5,2 auf schlappe 1,8 Prozent gedrückt. Ginge
es in diesem Stil weiter, so würde die Zielmarke von
Kioto nicht 2012, sondern erst Mitte des Jahrhunderts er-
reicht werden.

Mit den Null-Reduktionszielen für Russland und die
Ukraine sowie den niedrigen Zielen für andere osteu-
ropäische Staaten gegenüber 1990 bleibt zudem das Pro-
blem der heißen Luft: Diese Länder können zusätzliche
Treibhausgase ausstoßen oder ab 2008 entsprechende
Emissionsrechte verkaufen. Schließlich reduzierten sich
bei ihnen die Emissionen durch den wirtschaftlichen Zu-
sammenbruch schon um 15 bis 30 Prozent. Alle westli-
chen Industrieländer, mit Ausnahme von Deutschland,
Großbritannien und Luxemburg, haben dagegen mehr
und nicht weniger Klimagase emittiert. Wer da künftig
mit wem Zertifikate handeln wird, dürfte klar sein.

Die jetzige US-Regierung möchte in den nächsten
zehn Jahren den Ausstoß von Klimagasen um 18 Prozent
reduzieren, allerdings je Einheit Sozialprodukt. Da aber
die US-Wirtschaft zwischen 1992 und 1999 kräftig ge-
wachsen ist und hemmungslos CO2 emittiert hat, ergibtdas Klimaschutzprogramm à la Bush, wenn wir diese Fak-
toren nach Adam Riese zusammenrechnen und das bishe-
rige US-Wirtschaftswachstum für die Zukunft fortschrei-
ben, eine Steigerung des absoluten US-Ausstoßes um ein
Drittel gegenüber 1990. Unsere Berechnungen liegen da-
mit noch höher als die, die vorhin vorgetragen wurden.
Wenn es so käme, könnte man Kioto völlig vergessen. Aus
dem Ziel einer Reduktion um 5 Prozent wird dann eine
Zunahme um 5 Prozent. Ich bezeichne so etwas als Ag-
gression gegen die Weltbevölkerung. Das muss man so

beim Namen nennen und nicht so kleinreden, wie Herr
Loske es hier gemacht hat.


(Beifall bei der PDS)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen eigentlich

vor dem Scherbenhaufen der internationalen Klimapoli-
tik. Es ist wesentlich mehr notwendig; das wissen wir alle.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sonthofen-Strategie!)

Für mich und die PDS ergeben sich vorrangig folgende
Schlussfolgerungen:

Erstens. Wir dürfen das Verhalten der USAnicht durch-
gehen lassen, sondern müssen sie dringend ins Boot der
internationalen Klimapolitik zurückholen.


(Horst Kubatschka [SPD]: Deswegen beschimpfen Sie sie vorher!)


Uneingeschränkte Solidarität ist auch hier absolut nicht
angebracht.


(Beifall bei der PDS)

Herr Kollege Lippold, Sie sprachen von visionärer Poli-
tik. Sie hätten aber lange genug Zeit gehabt, in diesem Be-
reich visionäre Politik umzusetzen; da ist aber nichts pas-
siert.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist richtig!)

Zweitens. Technologie- und Finanztransfers müssen

zum Bestandteil internationaler Klimapolitik werden. Die
in Marrakesch in Aussicht gestellten 419Millionen Dollar
sind hierbei wirklich nur Peanuts. Wenn man bedenkt,
dass der Entwicklungshilfeetat in Deutschland in etwa nur
den Umfang der damaligen Berlin-Hilfe hat, dann erkennt
man, dass es ziemlich düster aussieht.

Drittens. Jeder Emissionshandel mit Osteuropa zieht
global einen zusätzlichen Ausstoß von Treibhausgasen
nach sich. Dies muss unbedingt verhindert werden.

Viertens. Die Anrechnung von Senken – ich denke an
die schwer zu überprüfenden Nettoaufforstungen von
Wäldern – öffnet Manipulationen Tür und Tor. Ich meine:
Damit muss Schluss sein.

Fünftens. Die Europäische Union muss sich ehrgeizi-
gere Ziele setzen. Die 8 Prozent aus der Lastenverteilung
sind zu wenig.

Sechstens – ich komme auf Deutschland zu sprechen –:
Auch in Deutschland muss das Tempo deutlich erhöht
werden; denn wir werden das nationale Klimaschutzziel
von 25 Prozent bis 2005 kaum erreichen. Die CO2-Emis-sionenen steigen mittlerweile schon das zweite Jahr hin-
tereinander an. Das ist bekannt. Momentan liegt der ent-
sprechende Wert zwar bei minus 13,5 Prozent
– temperaturbereinigt ist er höher –; betrachtet man den
Gesamtzeitraum des Rückgangs bis 1999, dann zeigt sich
aber, dass in Deutschland drei Viertel auf die ersten drei
Jahre entfielen – der Osteffekt. Da man sich hier so brüs-
tet, kann ich nur fragen: Handelt es sich um eine sinnvolle
CO2-Einsparung, wenn man eine ganze Industrie plattmacht? Ich denke, das muss man anders machen.


(Beifall bei der PDS)





Dr. Reinhard Loske

22609


(C)



(D)



(A)



(B)


Ob die Lösung aller Probleme im Emissionshandel
liegt, den die FDP vorantreiben will, wage ich zu bezwei-
feln. Für den Handel über die EU-Grenzen hinweg ist er
unserer Überzeugung nach sogar klimaschädlich.

Eines bleibt, egal, welches Instrument letztlich favori-
siert wird: Scharfe absolute Obergrenzen sind notwen-
dig. Diese bedeuten schmerzliche Einschnitte, aber auch
wirkliche Chancen für eine zukunftsfähige Entwicklung.
Nehmen wir unsere Verantwortung wahr!


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422801000
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Peter Paziorek von der
CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU) (von Abgeordneten
der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Kioto-Konferenz war ein
großer Erfolg, da sie in völkerrechtlichen Fragen einen
entscheidenden Durchbruch für den internationalen Kli-
maschutz gebracht hat. Zwar vermindert das Kioto-Proto-
koll nach übereinstimmender Meinung der Klimaforscher
den globalen Temperaturanstieg nur um ein Zehntel Grad;
aber der Signaleffekt des Ergebnisses dieser Konferenz
darf nicht unterschätzt werden. Ebenso darf das völker-
rechtliche Fundament, auf dem wir Klimaschutzpolitik
zukünftig betreiben können, nicht unterschätzt werden.
Nach dem In-Kraft-Treten dieses Protokolls werden wir
flexible Instrumente einsetzen können. Wenn später
größere und wichtigere Schritte auf dem Gebiet des Kli-
maschutzes vollzogen werden, werden sie ihre erste Test-
phase hinter sich haben.

Herr Minister, Sie haben heute aber nichts zu den ak-
tuellen Umsetzungsschritten gesagt, die nach Kioto so-
wohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene
durchgeführt werden müssen. Das ist für die Umweltpo-
litik enttäuschend. Wer Ihre bisherigen Einlassungen zu
diesem Thema kennt, der wird davon allerdings nicht
überrascht sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn man die verschiedenen Stellungnahmen aus dem
Regierungslager verfolgt, wenn man sich Ihre knappen
Aussagen, die Sie vorhin zum Emissionshandel gemacht
haben, anschaut, dann muss man feststellen, dass Sie
– das hängt mit Ihrem Verständnis von Klimaschutzpoli-
tik zusammen – die ökonomischen Schwierigkeiten einer
weiteren, jetzt noch anstehenden CO2-Reduktions-politik – als Umweltpolitiker muss man sagen: leider –
vernachlässigen.

In der zukünftigen, neuen, modernen Umweltpolitik
geht es nicht immer nur darum, zu sagen: Wir wollen da
noch etwas verbessern und dort ein neues Ziel vorgeben.
Nein, in der Umweltpolitik muss man heutzutage sagen,
wie man ein Ziel mit den neuen, modernen Instrumenten
erreichen will, ohne dass der Wirtschaftsstandort
Deutschland und ohne dass der Wirtschaftsstandort Eu-
ropa beeinträchtigt werden. Das ist die spannende Frage
der Umweltpolitik der Zukunft. Sie haben in den vergan-

genen Monaten nichts dazu gesagt, wie man Umwelt-
politik und Wirtschaftspolitik verbinden kann. Auch
heute haben Sie die Chance versäumt, dazu etwas zu sa-
gen. Sie haben es nicht getan, weil Sie für diese entschei-
dende Frage der Zukunft leider kein Konzept haben. In
dieser Frage versagen Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christoph Matschie [SPD]: Dann sagen Sie einmal etwas dazu – Horst Kubatschka [SPD]: Ja, jetzt sind Sie dran!)


– Herr Matschie, schauen Sie sich einmal die Ausgangs-
zahlen an! Die EU hat sich bereit erklärt, bis zum Jahre
2012 bei den Klimagasen eine 8-prozentige Reduktion
vorzunehmen. Deutschland übernimmt im Rahmen des
Burden Sharing fast zwei Drittel dieser Reduktion der
Klimagase in Europa. Die spannende Frage ist, wie wir es
in Deutschland schaffen, dieses umweltpolitisch wichtige
Ziel zu erreichen, ohne dass hier Arbeitsplätze wegfal-
len.


(Christoph Matschie [SPD]: Machen Sie doch einmal Vorschläge!)


Ihr Argument ist immer wieder, Umweltschutzpolitik
schaffe auch Arbeitsplätze. Das ist aber nur die eine Seite
der Medaille. Wenn Sie bei Umweltschutzmaßnahmen
auch die Kostensituation sehen, dann stellt sich die Frage,
wie wir diesen Prozess so gestalten können, dass Deutsch-
land ein interessanter Industriestandort bleibt und den-
noch seinen Beitrag zum Klimaschutz leistet. Dazu haben
Sie hier heute Morgen leider nichts gesagt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Und Sie?)


Es besteht eine große Chance, dieses Problem zu lösen,
da uns das Kioto-Protokoll moderne, flexible Instrumente
anbietet: Clean Development Mechanism, Joint Imple-
mentation und Emission Trading, den Emissionshandel.
Die entscheidende Frage ist: Können wir mit den alten In-
strumenten in der deutschen Umweltpolitik so weiterma-
chen wie bisher? Wir haben in den 90er-Jahren das
Instrument der Selbstverpflichtung hervorragend weiter-
entwickelt. Damit haben wir in der Klimaschutzpolitik
große Erfolge erzielt. Es ist eine historische Wahrheit,
dass Sie dieses Instrument Anfang der 90er-Jahre in die-
sem Hause politisch bekämpft haben. Es ist interessant, zu
sehen, wie sich der Bundesumweltminister in Den Haag,
Bonn und Marrakesch hinstellt, dieses Instrument lobt
und erklärt, gerade mit diesem Instrument seien die Re-
duktionszahlen in Deutschland erreicht worden. Ich sage
noch einmal: Dabei handelt es sich um ein Instrument, das
von Rot und Grün zunächst bekämpft worden ist und das
letztlich wir damals mit unserer parlamentarischen Mehr-
heit hier in Deutschland auf den Weg gebracht haben.

Sie, Kollege Loske, weisen hier auf die Finanzzahlen
in Nebenhaushalten hin, zum Beispiel für den Gebäude-
ansatz bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Wir waren
vor einigen Wochen bei der KfW in Berlin und haben ge-
fragt, wie dieses Programm läuft, wie die Geldmittel ein-
gesetzt werden. Da waren alle von der KfW ganz vor-
sichtig, weil festgestellt werden musste, dass das
Programm nicht läuft. Sie haben es so bürokratisch und




Eva Bulling-Schröter
22610


(C)



(D)



(A)



(B)


kompliziert gestaltet, dass die Bauherren in Deutschland
mit dem Programm im Grunde nichts zu tun haben wol-
len. Sie haben das Programm rein rechnerisch, nominal
aufgelegt und es so kompliziert angelegt, dass Sie damit
im Gebäudebereich nichts bewirkt haben. Aber der Ge-
bäudebereich ist wichtig, denn in diesem Bereich können
wir tatsächlich noch CO2 reduzieren. Hier haben Sie kli-mapolitisch wiederum versagt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christoph Matschie [SPD]: Da haben Sie bei der KfW aber nicht richtig zugehört!)


Klimapolitik ist aus Vorsorgegründen dringend gebo-
ten. Sie muss aber so ausgestaltet werden, dass wirt-
schaftlicher Erfolg und wirtschaftliches Wachstum nicht
verhindert werden. Damit sind wir bei der aktuellen poli-
tischen Bedeutung des Kioto-Protokolls. Wir benötigen
ein Konzept, das Klimaschutzmaßnahmen mit marktwirt-
schaftlichen Instrumenten dahin lenkt, wo die Kosten die-
ser Maßnahmen am niedrigsten sind. Zu dieser ganz ent-
scheidenden modernen Frage der Umweltpolitik haben
wir heute Morgen von der Regierung hier leider nichts
gehört.

Wir brauchen auf internationaler Ebene eine Kombi-
nation von Klimaschutzpolitik, Entwicklungszusam-
menarbeit und Privatinvestitionen; denn nur eine sol-
che Kombination bringt die Chance, die globalen
Herausforderungen des Klimawandels zu bewältigen,
insbesondere durch einen verstärkten Technologietrans-
fer. Technologie- und Kapitaltransfer in die Schwellen-
und Entwicklungsländer ist nach Ansicht der Union ein
erster wichtiger Schritt zu einem guten internationalen
Klimafortschritt. Das müssen wir hier so deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wer sich für den Emissionshandel ausspricht, der

muss wissen, dass er damit für neue und schärfere Ober-
grenzen in der industriellen Produktion plädiert. Sonst
kann es keinen Emissionshandel geben. Neue Obergren-
zen, durch die die Emissionen gesenkt werden sollen, ha-
ben zum Beispiel bei der Strom einsetzenden Industrie
immer zur Folge, dass Auswirkungen auf die verschiede-
nen industriellen Sparten in Deutschland eintreten. Wenn
die Obergrenzen immer weiter abgesenkt werden, kann
das zur Konsequenz haben, dass ganze Industriebereiche
in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht werden, insbe-
sondere die Bereiche, die mit einem hohen Energieeinsatz
Produkte erzeugen.

Vielfach wird das auch von Ihnen bewusst gesagt.
Umweltpolitisch ist der erste Schritt, in der Industrie koh-
lenstoffreiche durch kohlenstofffreie Energieträger zu er-
setzen, auch richtig. Die spannende Frage ist aber: Wie
wollen wir dieses Ziel in der Umweltpolitik erreichen,
ohne dass es zu Einbrüchen in unserer Wirtschaftsstruktur
kommt und ohne dass es nachher auf dem Arbeitsmarkt
große Probleme gibt? Sie sagen ja selbst, dass Sie durch
den Emissionshandel eine solche Verschiebung innerhalb
der Industriestruktur erreichen wollen.

Die Umweltpolitik muss die Antwort darauf geben,
wie wir unser Ziel erreichen können, ohne dass wir die

Menschen in Deutschland in große existenzielle Nöte
bringen.


(Christoph Matschie [SPD]: Erklären Sie uns einmal, wie Sie es machen wollen! Das würde uns interessieren!)


– Herr Matschie, wer national aggressivere Ziele als seine
Nachbarn festlegt – ich denke beispielsweise an EU-Part-
ner wie Frankreich und Spanien –, der entscheidet damit
auch darüber, ob die Wirtschaft und auch die Bürger in
Deutschland stärker belastet werden.

Wir sind für die Ratifizierung des Kioto-Protokolls.
Wir sehen darin eine entscheidende Chance, dass eine
moderne Umweltpolitik gemacht wird. Aber wir müssen
ein Konzept entwickeln, wie wir die entsprechenden In-
strumente nutzen. Nur so kann die Umweltpolitik ihre
Ziele erreichen und Deutschland als Wirtschaftsstandort
dennoch erhalten werden. Dazu haben Sie heute Morgen
leider nichts gesagt.


(Christoph Matschie [SPD]: Sie auch nicht! – Horst Kubatschka [SPD]: Das „auch“ war falsch!)


Der große Nachteil Ihrer gesamten Umweltpolitik ist,
dass Sie nur Ziele vorgeben, ohne zu sagen, wie man sie
tatsächlich erreichen kann.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Birgit Homburger [FDP])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422801100
Das Wort
hat jetzt der Kollege Michael Müller von der SPD-Frak-
tion.


Michael Müller (SPD):
Rede ID: ID1422801200
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Menschheitsherausforde-
rung Klimaschutz zeigt wie kaum eine andere Herausfor-
derung die Dimension der Globalisierung auf. Hans Küng
stellt deshalb zu Recht fest, dass für diese Herausforde-
rung ein globales Ethos notwendig ist. Aber dieses glo-
bale Ethos wird nur gegeben sein, wenn man anfängt,
konkret zu handeln. Es gibt nämlich kein abstraktes
Ethos. Das globale Ethos manifestiert sich vielmehr im
Handeln des Einzelnen, einer gesellschaftlichen Gruppe,
der gesamten Gesellschaft und der Wirtschaft.

Es ist deshalb wichtig, gleich am Anfang zu sagen: Wir
bitten alle, bei der großen Menschheitsherausforderung
Klimaschutz mitzumachen. Das ist für uns kein Thema für
eine vordergründige parteipolitische Auseinandersetzung.
Diese Herausforderung hat eine solche Dimension, dass
ein kleinkarierter Streit vermieden werden muss. Es gibt
keinen anderen Weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Bärbel Grygier [PDS])


Das war der Konsens zu Beginn der 90er-Jahre und dieser
Konsens sollte auch in diesem Jahrzehnt gerade vor dem
Hintergrund des Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung




Dr. Peter Paziorek

22611


(C)



(D)



(A)



(B)


in Johannesburg möglich sein. Wenn es zu einem klein-
karierten Streit kommen würde, könnten wir niemanden
auf der Welt davon überzeugen, dass wir es ernst mit der
Annahme dieser Herausforderung meinen. Deshalb soll-
ten wir trotz aller Unterschiede das Gemeinsame betonen.

Herr Lippold wollte uns weismachen – ich spreche die-
sen Punkt an, weil ich der Meinung bin, dass man dann so
nicht argumentieren sollte –, dass der gesamte Klima-
schutz das Ergebnis der Arbeit der früheren Bundesregie-
rung war. Herr Loske hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass sie auf diesem Gebiet durchaus Verdienste hat. Das
ist keine Frage. Wenn die Erfolge in der Umweltschutz-
politik nur das Verdienst der früheren Bundesregierung
sind und wenn Sie jetzt der Meinung sind, es würde auf
diesem Gebiet nichts mehr getan, dann muss ich aller-
dings fragen: Warum waren Sie beispielsweise gegen die
ökologische Steuerreform?


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Frage können wir Ihnen beantworten! Weil sie der Rentenversicherung nicht hilft, Herr Müller!)


Warum waren Sie gegen das Gesetz zur Kraft-Wärme-
Kopplung? Warum waren Sie gegen die Schritte zum
Ausbau der regenerativen Energien? So, wie Sie jetzt
argumentieren, passt es einfach nicht zusammen. Das ist
der entscheidende Punkt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Loske hat völlig zu Recht auf Folgendes hinge-
wiesen – das muss man zur Kenntnis nehmen –: Nach den
ersten Auswertungen zeigt sich, dass die Ökosteuer so-
wohl beschäftigungspolitisch als auch umweltpolitisch
deutlich erfolgreicher war, als Sie es darstellen. In Wahr-
heit ist es doch so, dass Sie Ihre eigene Vergangenheit ver-
drängen. In den 90er-Jahren waren Sie bei der Ökosteuer
zwar auf dem richtigen Weg. Aber Sie hatten eben nicht
die Kraft, Ihre Ziele durchzusetzen.

Frau Homburger, Ihnen muss ich sagen, dass es auch
nicht zusammenpasst, sich hier einerseits vehement für
den Emissionshandel einzusetzen, aber andererseits zu
verschweigen, dass beispielsweise in der Koalitionsver-
einbarung von Rheinland-Pfalz mit der FDP die Absicht
aufgenommen wurde, dass Rheinland-Pfalz auf jeden Fall
gegen einen Emissionshandel stimmt. Das passt nicht zu-
sammen; Sie müssen schon sauber argumentieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Birgit Homburger [FDP]: Wir haben eine klare Beschlusslage!)


Ich bitte einfach darum, dass man angesichts einer sol-
chen Herausforderung ein Mindestmaß an intellektueller
Redlichkeit bewahrt. Anders funktioniert es nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich glaube, dass in der Frage des Energie- und Res-

sourcenverbrauchs die zentrale Herausforderung für die
Zukunft der Industriegesellschaften liegt. Die hohe Ener-
gie- und Ressourcenabhängigkeit der Industriestaaten ist
das historische Kontinuum der Globalisierung. Eine wirk-
liche Globalisierung mit menschenwürdigem, sozialem

und ökologischem Gesicht ist nur dann möglich, wenn wir
die hohe Abhängigkeit von den Energie- und Ressourcen-
strömen verringern. Es gibt keinen anderen Weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist eine der Schlüsselfragen für die Gestaltung der
Globalisierung. Sie müssen einfach sehen: In den letzten
50 Jahren hat die Menschheit mehr Energie verbraucht als
in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor. Rechnen
Sie das vor dem Tatbestand hoch, dass dieser Energiever-
brauch in Wahrheit zu 72 Prozent auf die Industriestaaten
entfällt.

Wenn man die Entwicklung von 1990 bis 1998 genau
betrachtet, dann erkennt man: Der größte Zuwachs liegt
bei China. Das Bild beginnt sich jetzt zu wenden. China
hat in diesem Zeitraum einen Zuwachs an CO2-Emissio-nen von 21,1 Prozent gehabt. Das heißt, wenn es in den
Industriestaaten, die auch weiterhin beim CO2 dramatischwachsen – es gibt beispielsweise einen Zuwachs von
13,3 Prozent in Kanada und von 11,7 Prozent in den
USA –, nicht zu einem Umbau kommt, dann wird in den
Entwicklungs- und Schwellenländern vor dem Hinter-
grund der globalen Herausforderungen erst recht keine
Möglichkeit gegeben sein, sich ökologisch zu organisie-
ren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Das ist aber die zentrale Herausforderung, vor der wir ste-
hen. Hierbei ist der Einstieg von Kioto ein wichtiger
Punkt.

Wir müssen die Zahlen ernst nehmen, die besagen,
dass aufgrund der nachholenden Industrialisierung, des
Bevölkerungswachstums und des nach wie vor hohen
Energieverbrauchs in den Industriestaaten eine reale
Erhöhung der mittleren Erdtemperatur von 2,5 Grad
bis zum Ende dieses Jahrhunderts wahrscheinlich ist. An-
ders als 1990, als wir die mögliche Bandbreite noch mit
bis zu 4,5 Grad angesetzt haben, besteht jetzt die Gefahr,
dass die Bandbreite sogar bis 5,8 Grad geht. Das wäre das
Vierfache dessen, was die Erde überhaupt verkraften
kann. Deshalb müssen wir den Widerspruch zwischen un-
serem Wissen und unserem Handeln beseitigen. Das geht
nur, wenn Einzelne beginnen; anders geht es nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Um es zusammenzufassen: Wir haben bereits die ers-
ten Alarmsignale. Der Bundesumweltminister hat zu
Recht von dem Abbrechen großer Eisteile in der Antark-
tis gesprochen. Vor kurzem gab es die Alarmmeldung
vom Inselstaat Tuvalu, wo bei Stürmen bereits bis zu
80 Prozent des Landes unter Wasser stehen. Im Augen-
blick verändern wir durch die von Menschen verursach-
ten Klimaveränderungen die Landkarte der Erde. Doch
das dürfen wir nicht.

Wir müssen klar sagen: Die Hoffnung beim Klima-
schutz liegt auf Europa, weil wir – wir bedauern das sehr –,




Michael Müller (Düsseldorf)

22612


(C)



(D)



(A)



(B)


von den USA im Augenblick nicht viel erwarten können.
Das ist unverantwortlich. Die USA haben, wie schon ge-
sagt, einen Zuwachs von 11,7 Prozent. Nach den Angaben
der Internationalen Energieagentur werden die CO2-Emis-sionen in den USA bis zum Jahre 2012 im Trend um
41 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 steigen. Das ist
nicht zu verantworten.

Jetzt hat Präsident Bush einen neuen Vorschlag ge-
macht. Aber auch dieser Vorschlag ist keine Lösung, weil
er nur eine spezifische Reduktion der CO2-Emissionenvorsieht. Denn in Wahrheit würden nach den Untersu-
chungen der amerikanischen Umweltbehörden im Zeit-
raum bis 2012 die CO2-Emissionen in den USAweiter um12 Prozent ansteigen, statt, wie im Kioto-Protokoll vor-
gesehen, um 5,2 Prozent zu sinken.

Bei aller Solidarität mit den USA müssen wir sagen:
Ihr, die USA, müsst, wenn ihr eine neue Weltordnung ha-
ben wollt, dies auch in eurem ökologischen Verhalten zei-
gen, sonst seid ihr nicht glaubwürdig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die amerikanischen Umweltverbände haben die ge-
genwärtige Situation mit Recht als Triumph der Ideologie
über den gesunden Menschenverstand bezeichnet. Die
USA haben, wie kaum ein anderes Land, große Möglich-
keiten. Man muss beispielsweise zur Kenntnis nehmen:
43 Prozent der neu zugelassen amerikanischen PKWs
sind spritfressende Fahrzeuge. Wenn beispielsweise der
Benzinverbrauch nur um 5 Prozent reduziert würde,
würde das eine Verringerung des Verbrauchs von 1,5 Mil-
lionen Barrel Öl pro Tag ausmachen. Das sind riesige
Mengen, deren Einsparung leicht möglich ist. Es wäre ein
moderner Ansatz, mit einer effizienten und umweltscho-
nenden Verkehrspolitik zu beginnen. Ich glaube, dass
dies in der Zukunft das Bild einer modernen Gesellschaft
sein wird:


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vermeidung, Vernunft, schonender Umgang mit der Na-
tur.

Aber auch wir in der Bundesrepublik werden noch
mehr tun müssen – und wir wollen das auch. Ich halte den
Emissionshandel für einen wichtigen Ansatz, vor allem
unter dem Gesichtspunkt, andere europäische Staaten
dazu zu bringen, mehr für den Klimaschutz zu tun. Öko-
nomisch ist dies ein sinnvolles Instrument. Aber es muss
– hier liegt unsere Aufgabe – so ausgestaltet werden, dass
sich nicht Einzelne von ihren Pflichten befreien und die
Lasten auf andere abschieben können. Der Richtlinien-
entwurf lässt in dieser Hinsicht eine ganze Menge zu.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Nein, so, wie er jetzt aussieht, nicht!)


Gemeinsam – Parlament und Regierung – sollten wir
Druck machen, damit dieser Emissionshandel in vernünf-
tiger Weise ausgestaltet wird.

Um auch das gleich zu sagen: Der Emissionshandel ist
aber keine Alternative beispielsweise zur Ökosteuer. Es
kommt vielmehr darauf an, die Instrumente sinnvoll mit-
einander zu verbinden, um so eine möglichst hohe Wirk-
samkeit zu erzielen.

Meine Damen und Herren, bald findet in Johannes-
burg derWeltgipfel zur Nachhaltigkeit statt. Es ist völ-
lig klar: Nachhaltigkeit wird es ohne mehr Klimaschutz
nicht geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber Klimaschutz ist nicht nur wegen der Erderwärmung
notwendig; ein solcher Beitrag bedeutet zudem die große
Chance für eine Modernisierung der Industriestaaten, da-
mit diese im 21. Jahrhundert Nutzer des technologischen
Fortschritts sein können. Die Vergangenheit war geprägt
durch Großkraftwerke mit enormen Leitungssystemen
und Verteilungszentren, die höchst ineffizient und ver-
schwenderisch arbeiteten. Heute sind wir in der Lage,
zum Beispiel durch die Informations- und Kommunikati-
onstechnologie, dezentrale effiziente Strukturen zu ver-
netzen. Wir sind in der Lage, den Sprung ins Solarzeit-
alter zu schaffen. Es ist nicht eine Frage der Möglichkei-
ten; die Frage ist, ob wir den Mut dazu haben. Wir haben
in den letzten Jahren die ersten Schritte in diese Richtung
unternommen. Diese Schritte werden wir im Sinne von
Hans Küng und eines „globalen Ethos“ weiter tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber das alles wird nur gehen, wenn wir in Europa stär-
ker zusammenrücken. Deshalb bedeutet die Vorbereitung
von Johannesburg auch, die europäischen Stärken im
Sinne von mehr Klimaschutz auszuspielen. Nicht alle in
Europa sind dabei auf dem richtigen Weg. Ich sehe mit
großer Sorge, was derzeit in Dänemark passiert,


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!)

wo man von dem bisherigen Kurs, auf erneuerbare Ener-
gien zu setzen, abgeht. Das ist keine gute Entwicklung.
Aber umso mehr kommt es darauf an, dass die wirt-
schaftlich besonders starken Länder in Europa sich ent-
sprechend einsetzen. Deshalb unterstützen wir die Bun-
desregierung. Das sollte das ganze Haus tun:
Bundesrepublik – Vorreiter beim Klimaschutz!

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Bärbel Grygier [PDS])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422801300
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Christian Ruck von der
CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) (von Abgeordneten
der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Diskussion hat, wie schon
in der Vergangenheit, gezeigt, dass wir uns im Ziel einig




Michael Müller (Düsseldorf)


22613


(C)



(D)



(A)



(B)


sind, die Klimaschutzziele für Deutschland und Europa zu
erfüllen und das Kioto-Protokoll rasch in Kraft zu setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb ist das heute auch für uns ein wichtiger Schritt.

Worüber wir uns nicht einig sind, ist die Frage des rich-
tigen Instrumentariums. Bis zu den Wahlen werden wir
uns darüber auch sicher nicht mehr einig werden.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es! Genau! – Horst Kubatschka [SPD]: Aber dann müssen Sie auf unseren Kurs einschwenken!)


Diesen Streit als „kleinkariert“ zu bezeichnen, ist aber,
Herr Müller, so glaube ich, falsch. Denn natürlich gibt es
zwischen uns fundamentale Unterschiede, die durchaus
über das Wohl und Wehe des Klimaschutzprozesses be-
stimmen können.

Unser Vorwurf an Rot-Grün ist, auf einen Nenner ge-
bracht, dass Sie zwar ungeniert die Grundlagen, die noch
die Union im Klimaschutz gelegt hat, als Ihre Erfolge ver-
buchen – mit Ausnahme von Herrn Loske; dafür danke
ich –, aber dort, wo wir richtig angefangen haben, falsch
weitermachen


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und damit das endgültige Erreichen der Klimaschutzziele
in Deutschland mittel- und langfristig aufs Spiel setzen.
Der Grund ist: Ihr Instrumentarium ist ideologiebefrach-
tet,


(Horst Kubatschka [SPD]: Ach nein!)

deshalb widersprüchlich und volkswirtschaftlich zu teuer
– siehe Atomausstieg, siehe Ökosteuer, die eine Renten-
steuer ist, siehe KWK.

Natürlich freuen auch wir uns über neue Arbeitsplätze.
Unser Vorwurf ist aber, dass Sie die neu geschaffenen
Arbeitsplätze zu einem großen Teil subventionieren, was
zu einem Verlust von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen
führt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jetzt könnte der nächste folgenschwere Fehler folgen,

wenn es nicht gelingt, den Richtlinienentwurf der EU zum
Emissionshandel entscheidend zu verändern. Um es klar
zu sagen: Auch wir sehen in dem Emissionshandel eine
viel versprechende Option. Es gibt bereits positive Erfah-
rungen in anderen Ländern und auch bei Firmen wie zum
Beispiel BP. Wie wir gehört haben, haben sie gewaltige
innerbetriebliche Kosteneinsparungen erzielt.


(Birgit Homburger [FDP]: Und Emissionsreduktionen!)


– Emissionsreduktionen und innerbetriebliche Kos-
teneinsparungen.

Aber der bisherige Entwurf – ich glaube, darin sind wir
uns einig – birgt noch erhebliche Risiken. Diese müssen
beseitigt werden, wenn wir Ja sagen sollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


So droht die Abstrafung der deutschen Wirtschaft für ihre
gewaltigen Vorleistungen, die sie bereits erbracht hat;
denn es ist völlig offen, wie der Zertifikatehandel mit an-
deren Instrumenten wie zum Beispiel der freiwilligen
Selbstverpflichtung in Einklang gebracht werden soll. Zu-
dem ist zu befürchten, dass energieintensive Branchen aus
Deutschland ausflaggen und dafür auch noch Emissions-
prämien bekommen. Es würde die deutsche Klimaschutz-
politik ad absurdum führen, wenn wir auf der einen Seite
ein ökologisches Nullsummenspiel hätten und auf der an-
deren Seite auch noch Arbeitsplätze verlieren würden.
Das kann nicht Sinn der Sache sein.

Deutschland und damit die deutsche Wirtschaft trägt
ohnehin schon die Hauptlast in Europa, indem es 75 Pro-
zent der Reduktionsverpflichtungen der EU für den Zeit-
raum zwischen 2008 und 2012 übernommen hat. Wir sind
bisher eines der wenigen Länder, die diese Verpflichtun-
gen ernst nehmen. Andere Länder, zum Beispiel die Nie-
derlande oder Spanien, hinken weit hinter ihren sehr viel
geringeren Verpflichtungen her.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Trittin, die Bundesregierung muss dafür sorgen,
dass Deutschland nicht vom Vorreiter zum Betrogenen
wird. Deshalb muss es zu unseren Zielen gehören, erstens
eine Pilot- und Testphase zur Fehlerminimierung einzu-
führen, zweitens „early actions“ angemessen zu berück-
sichtigen, drittens dafür zu sorgen, dass unsere Unterneh-
men Wahlfreiheit zwischen den einzelnen Instrumenten
bekommen und dass viertens die deutsche Wirtschaft
gleichwertig und alternativ zum Zertifikatehandel in den
Clean Development Mechanism und in Joint Imple-
mentation einsteigen kann.

Gerade diese beiden Instrumente sind aus meiner Sicht
für den langfristigen Erfolg der internationalen Klima-
politik entscheidend, weil sie den notwendigen Kapital-
und Know-how-Transfer in die Entwicklungs- und
Schwellenländer erleichtern. Dadurch können die Men-
schen in den Entwicklungsländern Wohlstand und Wachs-
tum erreichen, ohne dass der Klimaschutz zur Farce wird.
Die Spielräume dort – zum Beispiel über deutsche Mess-
und Filtertechnik – sind ungeheuer groß. Beispielsweise
verlieren China und Indien 50 Prozent ihres Stroms allein
durch Löcher im Verteilersystem. Hier könnten deutsche
Unternehmen in ganz anderer Weise als bisher, und zwar
mit wesentlich geringeren Kosten, ihre Verpflichtungen
erfüllen. Deswegen ist es eine vordringliche Aufgabe,
dass wir mit diesen beiden Instrumenten schnell voran-
kommen. Wir sind weder in Deutschland noch in Europa
so weit, dies zu tun. Das wissen Sie. Auch hier sind Sie,
Herr Trittin, gefordert, in Brüssel Ihre Hausaufgaben zu
machen; denn die EU hat ihren Richtlinienentwurf sehr
viel schneller auf den Tisch gelegt, als wir alle gedacht ha-
ben.

Um eine Klimakatastrophe zu vermeiden, werden die
Anforderungen an unsere Energiepolitik wohl noch sehr
viel größer werden, als sie es bisher schon sind. Wir müs-
sen auch die Vereinigten Staaten ins Boot bringen. Frau
Mehl, in diesem Zusammenhang erinnere ich an das, was




Dr. Christian Ruck
22614


(C)



(D)



(A)



(B)


ein hochrangiger Vertreter vom BDI neulich gesagt hat. Er
hat sich von Bushs Devise distanziert,


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!)

Wirtschaftswachstum gehe vor Klimaschutz. Weiter hat er
gesagt, wir müssten beide Dinge zusammenbringen. Dies
ist auch unsere Haltung.

Herr Trittin, da Sie immer so unqualifiziert über
Bayern reden: Bayern exerziert dies vor. Bayern hat in
Deutschland das höchste Wirtschaftswachstum, die nied-
rigste Arbeitslosigkeit und einen gegenüber dem Bundes-
durchschnitt um 30 Prozent niedrigeren CO2-Ausstoß proKopf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist ein Erfolg! – Zuruf von der SPD: In Franken sieht das anders aus!)


Deswegen kann ich sagen: Die Union handelt pragma-
tisch und Sie handeln ideologisch. Deswegen wird unsere
Klimapolitik erfolgreich sein und Ihre langfristig ökolo-
gisch und ökonomisch in die Sackgasse führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422801400
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8495 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf
Drucksache 14/8582. Unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 14/8026 mit dem Titel „Das Kioto-
Protokoll ratifizieren und zum Weltgipfel 2002 in Johan-
nisburg in Kraft setzen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? –Wer ent-
hält sich? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionfraktionen und der PDS-Fraktion bei Gegen-
stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/8028 mit dem Titel „Kioto –
Bonn – Marrakesch, ein wichtiger Schritt für die interna-
tionale Klimapolitik“. Wer stimmt für diese Beschlussem-
pfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der PDS-Fraktion bei Gegenstimmen
von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der FDP auf Drucksache 14/7450 mit dem Titel
„Gesetz zur Ratifizierung des Kioto-Protokolls unverzüg-
lich vorlegen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist wiederum mit den Stimmen der

Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion bei Gegen-
stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenom-
men.

Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Protokoll von
Kioto vom 11. Dezember 1997 zum Rahmenüberein-
kommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen,
Drucksachen 14/8250 und 14/8581. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenom-
men.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, sich zu erhe-
ben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist einstimmig angenommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b
sowie 19 d auf:
19 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder (17. Ausschuss) zu dem Antrag der
Abgeordneten Günter Nooke, Friedrich Merz,
Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Deutschland 2015 – Aufbau Ost als Leitbild für
ein modernes Deutschland
– Drucksachen 14/6038, 14/8568 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Kaspereit
Günter Nooke

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Wolfgang Dehnel, Günter Nooke, Michael
Stübgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Uranerzbergbau-Schäden beseitigen
– Drucksachen 14/3373, 14/4689 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Ulrich Klinkert

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder (17. Ausschuss) zu der Unterrich-
tung durch die Bundesregierung
Jahresbericht 2001 der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit
– Drucksachen 14/6979, 14/8620 –




Dr. Christian Ruck

22615


(C)



(D)



(A)



(B)


Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Kaspereit
Günter Nooke

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Günter Nooke von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1422801500
Herr Präsident! Sehr
verehrte Damen und Herren! Heute steht der Antrag der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion „Deutschland 2015 –
Aufbau Ost als Leitbild für ein modernes Deutschland“
auf der Tagesordnung. Angesichts der verwirrenden Dis-
kussionen in der SPD vor rund einem Jahr, ob denn nun
der Aufbau Ost bzw. der Osten insgesamt auf der Kippe
stehe oder nicht, hatte die Union einen Gegenentwurf zur
Ratlosigkeit und Konzeptionslosigkeit der Regierungs-
partei bezüglich des Aufbaus Ost präsentiert.

Der Antrag vom Mai 2001 beinhaltet die Bilanz und die
Visionen der Union beim Aufbau Ost. In dem Antrag wird
zum einen auf das hingewiesen, was erreicht wurde, zum
anderen darauf, dass es noch erhebliche Probleme gibt.
Die Schere zwischen Ost und West geht beim Wirt-
schaftswachstum auseinander. Wir haben den Hand-
lungsbedarf in zwölf Punkten zusammengefasst und
diese in dem Antrag formuliert. In diesen Punkten halten
wir ein unmittelbares Regierungshandeln – ein solches
hatten wir erwartet – für erforderlich.

Ich will einige dieser Punkte kurz aufzählen: „Wirt-
schafts- und Forschungsstandort stärken – für eine selbst-
tragende Wirtschaftsentwicklung sorgen“ – das muss un-
ser Ziel bleiben –, „Infrastruktur verbessern –
Voraussetzungen für höhere Produktivität schaffen“ so-
wie planfestgestellte Verkehrsprojekte vorziehen, „Ar-
beitsmarkt- und Tarifpolitik – den Bedingungen vor Ort
anpassen“, „Lohnangleichung im öffentlichen Dienst –
Beamtenbesoldung und Honorare für freie Berufe – Son-
derregelungen Ost abschaffen“, „Stadtsanierung voran-
bringen – Wohnungsleerstand abbauen“, „EU-Osterwei-
terung – die östlichen Bundesländer im Zentrum
Europas“ und nicht zuletzt generell mehr Flexibilität bei
bundesgesetzlichen Rahmenvorgaben, um den spezifi-
schen Problemen der neuen Bundesländer mit spezifi-
schen Antworten und vor Ort tragfähigen Lösungen be-
gegnen zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In diesem Jahrzehnt wird Ostdeutschland durch die
EU-Osterweiterung wieder zur Mitte Europas. Der Wan-
del von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft
wird zu weit reichenden Veränderungen führen. Beides
sind große Herausforderungen; man muss dies als Chance
begreifen. Wir haben daher mit dem Antrag zu einer krea-
tiven Neuausrichtung beim Aufbau Ost aufgefordert.
Der Aufbau Ost ist bei uns in ein Konzept für die Moder-

nisierung in ganz Deutschland bis zum Jahre 2015 einge-
bettet.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christoph Matschie [SPD]: Herr Nooke, was wollen Sie denn neu ausrichten?)


In Ausführung dieses Antrages planen wir zum Bei-
spiel ein Aufbau-Ost-Beschleunigungsgesetz, ein Moder-
nisierungsgesetz für ganz Deutschland, das den neuen
Bundesländern Öffnungsklauseln dafür gibt, Bundesge-
setze befristet außer Kraft zu setzen oder durch eigene
spezifische Landesregelungen zu ersetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christoph Matschie [SPD]: Sie wollen geteilte Lebensverhältnisse in Ost und West!)


Übrigens, falls Sie sich nicht erinnern: Das hat auch
Helmut Schmidt im Oktober in der „Zeit“ geschrieben.
Wir hatten das mit unserem Antrag bereits im Mai vorge-
legt.


(Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor Zeiten schon!)


Wir meinen, dass die Verbreiterung und Vertiefung der
industriellen Basis in den neuen Bundesländern für einen
erfolgreichen Aufbau Ost absoluten Vorrang haben muss.


(Christoph Matschie [SPD]: Das ist ja etwas ganz Neues, Herr Nooke!)


Wenn die Betriebe und Unternehmen in ihrer Flexibilität
und ihrem Reaktionsradius beschnitten sowie die Kosten
in die Höhe getrieben werden, geht das zulasten von Ar-
beitsplätzen. Weniger Regulierung ist notwendig. Wenn
das nicht neu ist, hätten Sie in den letzten dreieinhalb
Jahre nicht das Gegenteil davon machen dürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gerade in den neuen Ländern ist festzustellen, dass

Überregulierung und überbordende Verwaltungsvor-
schriften sowie Auflagen junge und kapitalschwache Un-
ternehmen extrem behindern. Deshalb müssen Möglich-
keiten geschaffen werden, Genehmigungsverfahren nach
dem Vorbild des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs-
gesetzes zu entrümpeln. Überflüssige Vorschriften und
Regulierungen müssen ausgesetzt werden.


(Christoph Matschie [SPD]: Nennen Sie einmal ein paar Beispiele!)


Die Betriebe und Unternehmen brauchen weniger
restriktive Bestimmungen im Arbeitsrecht.


(Christoph Matschie [SPD]: Machen Sie einen konkreten Vorschlag, dann können wir darüber reden!)


Sie haben zum Beispiel das Recht auf Teilzeitarbeit ver-
abschiedet, das dazu führt, dass Frauen nicht mehr einge-
stellt werden. Durch das von Ihnen geschaffene Betriebs-
verfassungsrecht können Sie die Betriebe von außen
regieren. Tun Sie doch nicht so, als ob Sie in den letzten
Jahren etwas in der von mir angesprochenen Richtung ge-
tan hätten!


(Beifall bei der CDU/CSU)





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
22616


(C)



(D)



(A)



(B)


Es kann nicht sein, dass dem Mittelstand die Aufträge
und dem ersten Arbeitsmarkt die Fachkräfte fehlen,
während das Geschäft von Umschulungsträgern boomt,
weil ältere Arbeitslose bis zur Rente permanent umge-
schult werden,


(Sabine Kaspereit [SPD]: Was machen Sie denn mit den älteren Arbeitnehmern?)


wofür die Bundesanstalt fürArbeit offensichtlich genü-
gend Mittel hat. Staatlich subventionierte ABM, die not-
wendig sind – darin besteht kein Zweifel –, dürfen die ge-
werbliche Wirtschaft aber nicht aus dem Markt drängen.

Auch die Verkehrsinfrastruktur muss so ausgebaut
werden, dass sie produktivitätsverbessernd und nicht
-hemmend wirkt.

Die Forschungsstruktur in den neuen Ländern ist
schwach genug. Sie muss endlich gestärkt werden, um
eine innovationsfördernde und flächendeckende Wirkung
zu erzielen. Die Forschungseinrichtungen müssen zum
Kern innovativer Netzwerke werden. Ostdeutsche Unter-
nehmen und Forschungseinrichtungen müssen sich an
bundesweit geförderten Forschungsprojekten beteiligen
können, damit die Einrichtungen endlich selbst Geld ver-
dienen und auf eigenen Füßen stehen können.


(Christoph Matschie [SPD]: Ich habe noch nicht einen neuen Gedanken gehört, Herr Nooke!)


– Hören Sie nur zu! – Leider hat das die Bundesregierung
bei den Projekten im Kommunikations- und IT-Bereich
– dort geht es um die Gelder aus der Versteigerung der
UMTS-Lizenzen – schon durch die Ausschreibungskrite-
rien verhindert.

Die Sozialdemokraten haben sich auf ihrem Ostpartei-
tag in Magdeburg für die Wirtschaftsförderung im Be-
stand ausgesprochen. Das heißt doch: Sie haben den Ver-
such, die Unternehmensdichte in Ostdeutschland zu
verbessern, längst aufgegeben.


(Lachen bei der SPD)

Die Unternehmensdichte dort ist immer noch zu gering,
um die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands wieder auf spür-
baren Wachstumskurs zu bringen.

Auch die Finanzierung der jetzt auf dem Ostparteitag
der SPD von Ihnen, Herr Kanzler, großartig angekündig-
ten Verkehrsprojekte hätten Sie schon eher mit Finanzmi-
nister Eichel vereinbaren können, um damit ein prima
Konjunkturprogramm für die ostdeutsche und mittelstän-
dische Wirtschaft zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP– Christoph Matschie [SPD]: Wir tun was, Herr Nooke!)


Bisher haben Sie als Chefsachenkanzler mit Ihrer Regie-
rungspartei SPD leider nur einen Balken im Auge, nicht
aber den Aufschwung Ost im Blick gehabt.


(Dr. Mathias Schubert [SPD]: Das war jetzt aber sehr holprig!)


Sie haben den Aufbau Ost sich selbst und ein Stück weit
auch der Haushaltssanierung überlassen.

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Tarifpolitik bzw.
die im Antrag geforderte stufenweise Angleichung der
Bezüge im öffentlichen Dienst und bei freien Berufen.
Die von uns initiierte Anhörung – daran will ich noch ein-
mal erinnern – im Ausschuss für Angelegenheiten der
neuen Länder hat unsere Einschätzung voll und ganz be-
stätigt, dass es auf längere Sicht nicht mehr tragbar ist,
wenn ungleiche Gehälter und Einkommen bezogen wer-
den. Dabei muss die Bundesregierung bei den Bundesbe-
diensteten den Anfang machen


(Zuruf des Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– hören Sie gut zu, Werner Schulz! –; denn sie ist schließ-
lich für die Tarifverhandlungen und das Besoldungsrecht
zuständig.


(Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nur Thomas de Maizière genannt!)


Die neuen Ländern sollten dabei nicht überfordert werden
und Öffnungsklauseln für eigene Wege, wie Zu- und Ab-
schläge, erhalten.


(Christoph Matschie [SPD]: Die neuen Länder sind nicht überfordert! Sie sind überfordert, Herr Nooke!)


Nachdem die SPD unsere Forderungen zunächst als
schlicht unbezahlbar und jenseits von Gut und Böse ab-
qualifiziert hat, konnten wir vor knapp zwei Wochen die
Wandlung vom Saulus zum Paulus beobachten. Auf dem
Ostparteitag der SPD hat der Bundeskanzler die von uns
vorgeschlagene Stufenregelung übernommen und erklärt:
Die Angleichung der Bezüge muss bis 2007 abgeschlos-
sen sein. Exakt dieses Datum steht in unserem Antrag.

Auch bei der Stadtsanierung sehen wir großen Hand-
lungsbedarf. Es reicht nicht aus, dass die Regierung
großartige Programme auflegt und über mehrere Jahre ge-
sammelte Summen in Umlauf bringt. Die Programme
sollten solide finanziert werden und keine Umverteilung
nach dem Motto „linke Tasche, rechte Tasche“ sein. Was
beim Programm Stadtumbau Ost passiert, halte ich für
völlig inakzeptabel und eine riesige Mogelpackung. Un-
ser Antrag setzt dagegen: Wir fordern eine Weiterführung
der Investitionsförderung.


(Christoph Matschie [SPD]: Die Städte sehen das ganz anders, Herr Nooke!)


Dies dient als Anreiz für zügige Modernisierung und nutzt
der gewerblichen Wirtschaft. Wenn es der gewerblichen
Wirtschaft gut geht, geht es auch dem Fiskus gut.

Außerdem brauchen wir eine viel unbürokratischere
Altschuldenregelung, zum Beispiel beim Abriss über-
zähliger leer stehender Wohnungen, insbesondere wenn
es sich um nicht sanierte Plattenbauten außerhalb der
Stadtkerne handelt.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Das sind alles Dinge, die in unserem Stadtumbau-Programm stehen!)





Günter Nooke

22617


(C)



(D)



(A)



(B)


Die inhaltlichen Schwerpunkte, die die Union beim
Aufbau Ost setzt, liegen mit diesem Antrag seit Anfang
2001 auf dem Tisch. Die Linie der Union ist klar und kon-
sequent. Die Schwerpunkte wurden vom Bundesparteitag
der CDU im vergangenen Dezember unter der Über-
schrift: „Im Osten was Neues“ beschlossen.


(Christoph Matschie [SPD]: In Ihrer Rede habe ich noch nichts Neues gehört!)


Mit einigen Ergänzungen zur Mittelstandsförderung wur-
den all die Punkte, die ich genannt habe, vom Präsidium
von CDU und CSU als Bausteine für das Wahlprogramm
der Union beschlossen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Antrag belegt, dass wir die Situation schon im Früh-
jahr des vergangenen Jahres richtig erkannt – weil nüch-
tern analysiert – haben. Wir haben immer wieder darauf
hingewiesen, dass es Handlungsbedarf gibt, und haben
diesen auch benannt.

Sie, meine Damen und Herren von der Regierungs-
koalition, haben versucht, uns mit Spott und Häme zu
überschütten.


(Christoph Matschie [SPD]: Wir haben gehandelt!)


Sie haben sich schützend vor Ihren Chefsachenkanzler
gestellt, damit die „ruhige Hand“ nicht die Ärmel auf-
krempeln muss. Frau Kaspereit, auch Sie lachen hier im-
mer. Sie haben uns noch am 26. Februar dieses Jahres im
Ausschuss aufgefordert, unseren Antrag zurückzuziehen,
weil es sich um unbezahlbare Forderungen handele. Ich
glaube, der Widerspruch zu den Aussagen des Kanzlers
und zu dem, was vor 14 Tagen in Magdeburg verkündet
wurde, hielt sich doch in Grenzen.

Dass die Union mit dem Inhalt des Antrages „Deutsch-
land 2015“ richtig liegt, ist offenkundig. Auch die SPD
hat das erkannt; denn sie hat die meisten unserer Forde-
rungen umformuliert und in ihren Antrag an den Bundes-
parteitag übernommen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Wenn Sie sich eher dazu entschlossen und sich nicht an-
gesichts der Bundestagswahl im September dazu ge-
zwungen gesehen hätten – das scheint Sie zu treffen; Sie
schreien so viel –, wäre aus einer gemeinsamen Aktion
eventuell etwas geworden, was bei den Menschen in den
neuen Bundesländern spürbar angekommen wäre. So aber
merkt der Wähler inzwischen, dass Sie beim Aufbau Ost
nur hinterherjagen, statt durch Regierungshandeln die
Rahmenbedingungen aktiv zu gestalten.

Auf die Frage seitens des Allensbacher Instituts: „Wel-
cher Partei trauen Sie am ehesten zu, die Arbeitslosigkeit
zu bekämpfen?“, sagten nach der „FAZ“ von vorgestern
33 Prozent der Befragten: „Der CDU“ und nur noch
18 Prozent: „Der SPD“.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422801600
Herr Kol-
lege Nooke, kommen Sie bitte zum Schluss.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1422801700
Ich bin gleich fertig. –
Das ist ein deutliches Zeichen, dass die Wählerinnen und
Wähler die Schröder-Aussage, er wolle sich an der Zahl
der Arbeitslosen messen lassen, ernst nehmen. Gerade
den Menschen in den neuen Bundesländern hat die SPD
viel versprochen und gerade dort hat sie fast alles gebro-
chen.


(Zuruf von der SPD: Was haben Sie nicht alles im Osten versprochen und gebrochen!)


Die Regierungskoalition steht am heutigen Tage ohne
eigenen Antrag und ohne eigenes Konzept zum Aufbau
Ost da. Sie haben dreieinhalb Jahre vertan und können das
im letzten halben Jahr vor der Wahl nicht mehr aufholen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Nehmen wir also gemeinsam Bundeskanzler Schröder
beim Wort! Angesichts der Arbeitslosenzahlen und der
Wirtschaftsdaten – gerade im Osten Deutschlands –, ist
Rot-Grün es nicht wert, wieder gewählt zu werden.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422801800
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Mathias Schubert von der SPD-
Fraktion.


Dr. Mathias Schubert (SPD):
Rede ID: ID1422801900
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über
einen CDU/CSU-Antrag, dem ein trauriges Schicksal be-
schieden gewesen ist. Der Antrag ist ein Gebilde sich wi-
dersprechender Versatzstücke, die so wirken, als seien sie
per Zufall oder Zuruf zu diesem Sammelsurium geronnen,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

an dessen Ende die christkonservativen Heilsbringer den
Ostdeutschen die Erlösung aus allen Miseren verspre-
chen, wenn sie die Maquiladora-Ansiedlungen Mexikos
als Vorbild nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)


– Das kann man auf Seite 11 nachlesen.
Bevor dieser Antrag nachher in diesem Haus glückli-

cherweise abgelehnt werden wird, hat er nicht nur in wei-
ten Teilen Ostdeutschlands Kopfschütteln ausgelöst; auch
Ihre eigene Parteispitze hat ihn längst kassiert. Es gibt
nämlich seit dem 9. März – Herr Nooke, ich bin ausge-
sprochen dankbar, dass Sie dies angesprochen haben – ein
neues Programm mit dem Titel „Im Osten was Neues“.

Schon der Titel ist im Vergleich zu Remarques „Im
Westen nichts Neues“ stark. Das klingt so nach: „Sprung
auf, Marsch, Marsch“, nach Minenräumung, Geländege-
winnung mit aufgepflanztem politischen Bajonett.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie haben einen Schuss! Ihnen hat es ins Gehirn geregnet!)





Günter Nooke
22618


(C)



(D)



(A)



(B)


Das klingt nach Hurra-Geschrei unter christsozialem
Gamsbart.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es gibt nur ein Problem: Der Oberkommandierende, der
so genannte Kanzlerkandidat, entpuppt sich mehr und
mehr als Pappkamerad, dem nach dem markigen „Sprung
auf“ nur noch laue Luft entweicht. Wenn man sich näm-
lich Ihr Sonderförderprogramm Ost und seinen Verkünder
ansieht, kann man feststellen, dass Sie erstens inhaltlich
und zweitens mit der Person erhebliche Probleme haben.

Was an dem Programm neu sein soll, erschließt sich
dem ostdeutschen Normalbürger nur schwer. Wirklich
neu gegenüber unserer Politik für Ostdeutschland ist das
Maß an inhaltlicher Unkonkretheit, mit der Sie Ihre poli-
tische Werbemelodie pfeifen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dabei wollen Sie nur einen kleinen Teil dessen erreichen,
was wir seit 1998 schon umgesetzt haben.

Ein Beispiel zur Ergötzung: Sie wollen eine Innova-
tionsoffensive durch die Förderung von Netzwerken.
Warum auch nicht? Wir machen das – und zwar mit Er-
folg – mit Inno-Regio seit 1999.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Manfred Grund [CDU/CSU]: Das haben wir auf den Weg gebracht! Sie führen das nur fort!)


Es ehrt den Einfallslosen immer, wenn er sich die besten
Ideen des Kreativen zu Eigen macht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Während IhrPapierchen„ImOstenwasNeues“ inhaltli-

cheLangeweileausdünstet, habenSiebeiderFinanzierung
den Vogel abgeschossen. Zum einen hat Ihr so genannter
KandidatdieVorstellungendes thüringischenMinisterprä-
sidenten imUmfangvon20Milliardennachträglich einge-
sammelt,


(Christoph Matschie [SPD]: Das war aber auch notwendig!)


zum anderen hat er Ihr ganzes Neues für den Osten unter
Finanzierungsvorbehalt gestellt – und unter was für einen:
Privatisierungserlöse des Bundes sollen das Heil bringen.
Wer sich noch erinnert: Der berüchtigte Waigel-Wisch
von 1997 lässt grüßen. Auf einer Dreiviertelseite hatte der
damalige Bundesfinanzminister den Ausverkauf des Bun-
des eingeleitet, um seinen Haushalt mit Hängen und Wür-
gen verfassungskonform zu bekommen.

Wenn Ihr Kandidat in dieselbe Ausverkaufsmentalität
verfällt, dann fügt er der inhaltlichen Einfallslosigkeit
noch die Offenbarung finanztechnischer Unbedarftheit
hinzu.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gerhard Jüttemann [PDS])


Wir jedenfalls werden uns durch Stoiber-Wische den
Aufbau Ost nicht platt machen lassen.


(Widerspruch bei der FDP)


Eines muss man dem so genannten Kandidaten in die-
sem Zusammenhang allerdings lassen: Er ist in einem ge-
wissen Sinne ein echter christlich-sozialer Konservativer.
Er bleibt standhaft bei dem, was er einmal gesagt hat.

Zum Beispiel hat Herr Stoiber zusammen mit den Her-
ren Koch und Teufel 1999 ein Positionspapier zur Reform
des Finanzausgleichs vorgelegt.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Mein Gott, das ist doch lange her!)


An erster Stelle stand darin die Beseitigung des Umsatz-
steuerausgleichs. Das saubere Trio wollte so dem Osten
sein eigenes Steueraufkommen wegnehmen, das den Län-
dern nach der Verfassung allerdings zusteht.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Was sind die Konzepte für den Aufbau Ost der Bundesregierung?)


Das war ein eindrucksvoller Versuch finanzieller Ent-
mündigung, der im Osten jährlich Steuerausfälle in Höhe
von etwa 8,5 Milliarden Euro zur Folge gehabt hätte.

Zu dem Versuch der finanziellen Entmündigung kam
dann auch noch – wir erinnern uns alle daran – der Ver-
such der moralischen Erniedrigung. Seit Anfang 1995 er-
klärt die nunmehr personifizierte K-Frage immer mal
wieder, die Menschen im Osten hätten dankbar zu sein,
die finanziellen Segnungen hätten sich im entsprechenden
Wahlverhalten niederzuschlagen. Ansonsten drohe Lie-
bes-, das heißt: Geldentzug. Wer mit einer solchen Art der
moralischen Erniedrigung arbeitet, hält den mündigen
Bürger offensichtlich für ein rein theoretisches Gebilde.
Solch einem indirekten Lob der Unmündigkeit sollten
nicht nur die Ossis, sondern auch die Wessis im Septem-
ber einen Denkzettel verpassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Bei solchen Offenbarungen des wirklichen Wesens und
Denkens des Herrn Stoiber wundert auch der Versuch des
famosen Kleeblatts Stoiber, Teufel und Koch nicht mehr,
mithilfe des Verfassungsgerichts den Risikostrukturaus-
gleich in der gesetzlichen Krankenversicherung zu be-
seitigen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: So ein Quatsch! Du sollst nicht falsch Zeugnis abgeben!)


Pikanterweise wurde die Klageschrift dem Bundesverfas-
sungsgericht zugestellt, während der so genannte Kandi-
dat seine Antrittsbesuche im Osten zu zelebrieren ver-
suchte.


(Beifall bei der SPD)

Das also heißt „Im Osten was Neues“. Entsolidarisie-

rung lautet die Botschaft, verpackt in langweilige inhalt-
liche Mittelmäßigkeit. Das Neue daran ist der Weg zurück
noch hinter Kohls Aufbau Ost und seine damaligen Ideen:
Entmündigung und Alimentation in Abhängigkeit vom
Wahlverhalten der Ossis.

Meine Damen und Herren, mit einem solchen Selbst-
bildnis und mit so unverblümten Botschaften auch noch




Dr. Mathias Schubert

22619


(C)



(D)



(A)



(B)


Kanzler werden zu wollen zeigt einen Herrschaftszynis-
mus, den selbst bei größtmöglicher Bosheit noch nicht
einmal wir Ihrer Antwort auf die K-Frage unterstellt hät-
ten.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie hätten einen eigenen Antrag machen sollen, Herr Schubert!)


Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Günter Nooke [CDU/CSU]: Das war schon die Abschiedsrede!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422802000
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Cornelia Pieper von der FDP-Frak-
tion.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1422802100
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Kaspereit,
Sie sagen es: Wenn wir den Ministerpräsidenten Höppner
in Sachsen-Anhalt nicht hätten, dann ginge es den Men-
schen dort wesentlich besser.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Meine Damen und Herren, ich erinnere daran, dass der
ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der
gestern 75 Jahre alt geworden ist, Anfang der 90er-Jahre
den sehr guten Vorschlag gemacht hat, ein Niedrigsteuer-
gebiet Ost einzurichten.


(Beifall bei der FDP)

Aber leider haben damals weder unser Koalitionspartner
noch die SPD unseren Vorschlag unterstützt. Ich betone
allerdings ausdrücklich – auch Klaus von Dohnanyi hat
das festgestellt, liebe Frau Kaspereit –: Wenn wir Anfang
der 90er-Jahre ein solches Niedrigsteuergebiet durchge-
setzt hätten, dann gäbe es heute die Probleme in Ost-
deutschland nicht.


(Beifall bei der FDP – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie aber nicht! – Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum hat Herr Möllemann das nicht gemacht?)


– Ich weiß, dass das Sie Thema aufregt. Sie sind ja schon
fast vier Jahre in der Regierung und haben es in der Hand
zu handeln. Sie handeln aber nicht, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition.

Die Negativbilanz der Bundesregierung bei der Wirt-
schafts- und Finanzpolitik setzt sich beim Aufbau Ost
fort.


(Zuruf von der SPD: Das ist falsch, Frau Pieper!)


Da nutzt auch keine Augenwischerei, meine Damen und
Herren von den Koalitionsfraktionen. Sie haben doch mit
Ihrem Bundeskanzler, Herrn Schröder, den Aufbau Ost

zur Chefsache erklärt. Nachdem er Chef war, war aber der
Aufbau Ost nicht mehr seine Sache. Seit vier Jahren de-
battieren wir an dieser Stelle über dieses Thema und es be-
wegt sich nichts – und wenn, dann nur rückwärts.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Spitzenkandidatin der FDP tanzt!)


Deutschland ist in Europa Schlusslicht, was das Wirt-
schaftswachstum anbelangt. Wegen des zu hohen Haus-
haltsdefizits droht dem Finanzminister ein blauer Brief
aus Brüssel.


(Rainer Fornahl [SPD]: Jetzt nicht mehr! Da haben Sie etwas nicht mitgekriegt!)


Die EU mahnt Deutschland zu längst überfälligen Refor-
men im Arbeits- und Sozialrecht, aber auch im Steuer-
recht. Handeln Sie endlich, meine Damen und Herren von
der Regierungskoalition! Die verpassten Reformen in
Deutschland gehen auch zulasten des Aufbaus Ost.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Verhindern Sie das Tariftreuegesetz im Bundesrat, das

dazu führt, dass sich kleine Handwerksbetriebe nicht um
Aufträge in Baden-Württemberg und Bayern bewerben
können, weil sie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
nicht die Tariflöhne zahlen können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christoph Matschie [SPD]: Natürlich können sie das! Bayern hat jetzt schon ein Tariftreuegesetz! Thüringer Firmen arbeiten trotzdem in Bayern! Sie haben ja keine Ahnung!)


Sie schließen kleine Handwerksbetriebe und mittelständi-
sche Betriebe im Osten von diesen Aufträgen aus und
schicken sie damit in die Pleite.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christoph Matschie [SPD]: Passen Sie mal auf, dass Sie nicht mit der FDP in die Pleite laufen!)


Wir brauchen endlich ein Niedrigsteuergebiet in
Deutschland mit einfacheren und niedrigeren Steuersät-
zen. Dafür hat die FDP einen klaren Vorschlag vorlegt:
15 Prozent, 25 Prozent und 35 Prozent.


(Christoph Matschie [SPD]: Ich dachte, es waren 18 Prozent!)


Statt die Steuern für den wichtigsten Arbeitgeber, nämlich
das Handwerk und den Mittelstand, zu senken, subven-
tionieren Sie die großen unrentablen Konzerne, meine
Damen und Herren von der Regierungskoalition.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Noch gestern haben Sie dem Baukonzern Holzmann die
Rettung versprochen, aber auch den Waggonbauern in
Halle-Ammendorf.


(V o r s i t z : Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters)



(Rainer Fornahl [SPD]: Ach du lieber Himmel! Haben Sie was gegen die Rettung von Ammendorf?)





Dr. Mathias Schubert
22620


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich sehe es heute schon kommen, wie es morgen sein
wird: Heute stirbt Holzmann, morgen Waggonbau Am-
mendorf. Das ist Ihre Industriepolitik auch für die neuen
Länder.


(Beifall bei der FDP – Christoph Matschie [SPD]: Wir haben es versucht! Sie machen nicht einmal den Versuch, was zu tun!)


– Handeln Sie doch! Sie haben es in der Hand. Ich habe
es an dieser Stelle schon einmal gesagt: Als Herr Rexrodt
Bundeswirtschaftsminister war,


(Zurufe von der SPD: Oh, oh!)

hat er sich 1994 um Aufträge für Waggonbau Ammendorf
gekümmert.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Was? Das ist doch Blödsinn, was Sie da erzählen, Frau Pieper!)


– In Russland hat er einen Auftrag für Waggonbau Am-
mendorf herein geholt.


(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, tun Sie etwas! Wir brau-

chen für den Osten eine neue Perspektive. Immer mehr
junge Menschen wandern von Ost nach West.


(Klaus Haupt [FDP]: Leider!)

DerWanderungssaldo der neuen Bundesländer ist in je-
dem einzelnen Land negativ, sieht man von der Region in
und um Berlin ab. Während 1997 der Wanderungssaldo
noch rund 10 000 Personen betrug, waren es 1999 bereits
43 600 Personen.


(Klaus Haupt [FDP]: Dramatisch!)

Die Dramatik besteht darin, dass fast 60 Prozent der Ab-
wanderer zwischen 18 und 25 Jahre alt sind.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Junge Frauen!)

Im Zusammenspiel mit den niedrigen Geburtenraten hat
das fatale Auswirkungen auf die strukturschwachen
neuen Bundesländer. Ob man das nun das Ausbluten einer
Region nennt oder nicht, es ändert nichts an der Tatsache,
dass gegen die Folgen dieser Entwicklung etwas unter-
nommen werden muss.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das geht aber nicht, indem man die Abwanderung der
qualifizierten Fachkräfte aus dem Westen in den Osten
subventioniert, sondern indem man in strukturschwache
Regionen investiert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Im Jahr 2001 sind von den nach dem Sozialgesetzbuch III
gezahlten Mobilitätshilfen in Höhe von 102,5 Mil-
lionen Euro allein 84,5 Millionen Euro in die neuen Bun-
desländer geflossen, obwohl die neuen Länder nur 23 Pro-
zent der deutschen Gesamtbevölkerung ausmachen.

Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsko-
alition, haben zusätzlich in das Jugendsofortprogramm
der Bundesregierung Mobilitätshilfen eingestellt und ver-
stärken dadurch den Abwanderungstrend. Schaffen Sie
diese Abwanderungsprämie ab und investieren sie in den

ersten Arbeitsmarkt, vor allem in Forschung und Ent-
wicklung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

An dieser Stelle möchte ich mit Ihrer Genehmigung,

Herr Präsident, den ehemaligen Präsidenten der Leibniz-
Gemeinschaft zitieren:

In Relation zur Bevölkerung gibt es in den neuen
Bundesländern viermal weniger Wissenschaftler als
in den alten Ländern und die Aufwendungen für For-
schung und Entwicklung im Wirtschaftssektor sind
zum Beispiel in Baden-Württemberg zehnmal höher
als in Sachsen und 40-mal höher als in Sachsen-An-
halt.

Hier ist klar aufgezeigt, wo das Problem liegt: Der
Wettbewerb zwischen Industrie, Universitäten und For-
schungsinstituten um begabte Wissenschaftler geht zulas-
ten der neuen Bundesländer. Sie müssen in diesen Kampf
um die Köpfe mit deutlich niedrigeren Gehältern ein-
treten.


(Zuruf von der SPD – Christoph Matschie [SPD]: Wer hat denn den Forschungshaushalt herunter gefahren? Das waren doch Sie! Wir haben den Forschungshaushalt aufgestockt!)


– Hören Sie lieber zu! Dann können Sie noch etwas
lernen!


(Lachen bei der SPD)

Der Braindrain führt nicht nur in das Ausland, sondern
auch von Ost nach West. Hier sind die finanzschwachen
neuen Bundesländer überfordert. Deshalb hat die FDP-
Fraktion bei den letzten Haushaltsberatungen ein Hoch-
schulsonderprogramm mit einer finanziellen Ausstattung
von 200 Millionen Euro vorgeschlagen. Aber Sie, meine
Damen und Herren von der Regierungskoalition, haben es
abgelehnt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christoph Matschie [SPD]: Sie wollen doch immer weniger Steuern einnehmen und mehr Geld ausgeben!)


Aber auch der Bund sollte sich in stärkerem Maße an der
Finanzierung des Hochschulbaus beteiligen und einen
Anteil von 75 Prozent übernehmen. Wir haben vorge-
schlagen, dies aus den UMTS-Erlösen zu finanzieren.
Machen Sie endlich etwas!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn Sie schon nicht auf mich hören, dann hören Sie viel-
leicht auf Erich Kästner, der einmal gesagt hat: „Es gibt
nichts Gutes, außer: Man tut es!“


(Klaus Haupt [FDP]: Rot-Grün ist ein Auslaufmodell! – Rainer Fornahl [SPD]: Genau das machen wir seit 98!)


Nicht Aussitzen, sondern Handeln ist die Aufgabe der Re-
gierung.

Zur Stärkung der Infrastruktur in den neuen Bun-
desländern: Sie regieren zwar schon seit fast vier Jahren.




Cornelia Pieper

22621


(C)



(D)



(A)



(B)


Aber erst jetzt, am Ende Ihrer Regierungszeit, kurz vor
der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt und der Bundes-
tagswahl, wollen Sie die Nordverlängerung der A 14 in
Angriff nehmen und die A 72 – das ist die Verlängerung
der Autobahn zwischen Leipzig und Chemnitz – bauen.


(Dirk Niebel [FDP]: Völlig durchschaubar! – Klaus Haupt [FDP]: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!)


Die Ankündigung, diese Projekte bei Vorlage des Bun-
desverkehrswegeplanes in den vordringlichen Bedarf auf-
zunehmen, bedeutet doch noch lange nicht, dass die Pro-
jekte in absehbarer Zeit auch tatsächlich realisiert werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Damit haben Sie Erfahrungen gesammelt!)


– Das ist so. – Da die Bundesregierung die Investitionen
in den Straßenbau nicht erhöht, müssen Sie die Frage be-
antworten, welches Fernstraßenprojekt wo gestrichen
werden soll.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Rainer Fornahl [SPD]: Da wird keines gestrichen!)


Auch der Ausbau der ICE-Hochgeschwindigkeits-
strecke von Nürnberg über Erfurt, Leipzig und Halle nach
Berlin ist ein Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“. Die
rot-grüne Bundesregierung hat die Finanzierung aber bis
heute aufgeschoben.


(Rainer Fornahl [SPD]: Das Geld liegt bereit! Es kann morgen weitergehen! Das Baurecht ist da!)


Ich erwarte, dass, wenn der Bundeskanzler Autobahnen
und ICE-Strecken verspricht, der Bundesfinanzminister
eine klare Aussage dazu macht und dass die entsprechen-
den Summen etatisiert werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus Haupt [FDP]: So und nicht anders!)


Die FDP schlägt neben Investitionen in Entwicklung
und Forschung selbstverständlich auch eine Mittel-
stands- und Existenzgründeroffensive vor. Wir brau-
chen mehr Unternehmen in den neuen Bundesländern.
Tatsächlich gehen in Ostdeutschland immer mehr Unter-
nehmen Pleite. Davon ist besonders Sachsen-Anhalt be-
troffen. Dort sind in den letzten fünf Jahren 11,4 Prozent
der Unternehmen vom Markt verschwunden. Es muss ins-
besondere mehr als bisher die Eigenkapitaldecke der Un-
ternehmen gestärkt werden. Wir schlagen vor, dass die
Deutsche Ausgleichsbank zur effizienten Mittelstands-
bank des Bundes profiliert wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir brauchen auch dringend eine Fortsetzung der Investi-
tionszulage für die neuen Länder ab 2004, weil sie ganz
wesentlich zur Verbesserung der Liquidität ostdeutscher
Unternehmen beiträgt.


(Christoph Matschie [SPD]: Wir haben die Investitionszulage für die kleinen und mittleren Unternehmen erst erhöht! Wir haben sie mehr als verdoppelt!)


Wir werden das alles umsetzen; denn im Herbst wird
die FDP – Sie werden es erleben – in der Regierungsver-
antwortung sein. Bei Ihnen jedenfalls bewegt sich in Sa-
chen Aufbau Ost überhaupt nichts, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Sie haben doch nichts umgesetzt!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422802200
Als nächster
Redner erhält das Wort der Kollege Werner Schulz für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Pieper, ich bin Ihrer Aufforderung, genau zuzuhören,
nachgekommen. Ich stelle fest: Der Neuigkeitswert Ihrer
Rede lag unter 18 Prozent.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich weiß nicht, wie Sie so Ministerpräsidentin in Sachsen-
Anhalt werden wollen. Ich glaube, Sie hängen sich an den
Running Gag Möllemann heran. Ich befürchte, damit ist
nichts zu holen.

Vor sieben Wochen haben wir die letzte Debatte über
den Aufbau Ost geführt. Wir tun für die Sache wenig
Gutes, wenn wir dem Motto folgen: Der Aufbau Ost
kommt voran, wenn wir nur oft und lang genug über ihn
reden. Wie gesagt: Viel Neues ist hier nicht zu entdecken.

Dafür entdeckt mancher Wahlkämpfer – dafür habe ich
Verständnis – momentan unbekanntes Terrain, ungebun-
dene Wähler – auch das gibt es ja – und lernt enorm dazu,
zum Beispiel dass die „Halloreenkugeln“ richtig „Hallo-
renkugeln“ heißen


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei der SPD)


und dass nicht alles so rund läuft oder gar im Munde zer-
geht wie diese süßen Energiespender, sondern dass der
Osten etwas schwieriger ist.


(Zurufe von der CDU/CSU)

Heute, Herr Faust, liegen glücklicherweise der Jahres-

bericht der Bundesregierung sowie der große Antrag der
Union vor – ein Kontrastprogramm sondergleichen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Und was haben wir von euch? Was tragen Sie vor? – Günter Nooke [CDU/CSU]: Was haben wir von der Regierungskoalition? – Gegenruf des Abg. Rainer Fornahl [SPD]: Unser Regierungsprogramm! Da brauchen wir keine schwammigen Anträge!)


Im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der
deutschen Einheit werden sehr klar ein Zukunftspro-
gramm und ein Strategiewechsel in der Förderpolitik be-
schrieben. In zwölf Kapiteln können Sie nachlesen, wie
wir in den letzten Jahren im Osten vorangekommen sind,
von der Wirtschaftsförderung über den Arbeitsmarkt, den




Cornelia Pieper
22622


(C)



(D)



(A)



(B)


Stadtumbau Ost, Innovationspolitik, regionale Netzwerke
bis hin zu Kultur, Sport und Freizeit,


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das hat bloß keiner gemerkt!)


und wie wir uns das künftig weiter vorstellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU)

– Es freut mich, dass Sie sich so rege an der Debatte be-
teiligen. Das spricht zumindest für eine lebendige Demo-
kratie und dafür, dass Sie mein Beitrag sehr anregt,


(Zuruf von der CDU/CSU: Wir regen uns auf!)

was man von Ihren Beiträgen nicht behaupten kann.


(Beifall des Abg. Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich freue mich darüber, dass heute die abschließende
Beratung des CDU-Antrags stattfindet. Er ist großartig
überschrieben mit „Deutschland 2015 – Aufbau Ost als
Leitbild für ein modernes Deutschland“. Das war offen-
sichtlich auch Edmund Stoiber etwas zu dick aufgetragen;
er hätte lieber Bayern als Leitbild für ein modernes
Deutschland.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Was haben Sie gegen Bayern?)


Deshalb wurden die meisten Forderungen in Wörlitz kas-
siert. Ihr Antrag hat die interne Lesung in Wörlitz nicht
überstanden.


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch, was Sie erzählen!)


Zu dem Schluss kommt man, wenn man sich einmal an-
schaut, welch dünnes Papier von diesem Antrag übrig ge-
blieben ist.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Schlichtweg Lügen! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unter Ihrem Niveau!)


Geblieben sind eine Mittelstandsoffensive, die genialen
Vorschläge, die Infrastruktur auszubauen,


(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


die Forschungslandschaft auszubauen – das ist unglaub-
lich originell – und Vereinfachungen im Bundesrecht vor-
zusehen, ansonsten sehr viele Allgemeinplätze, auf die am
Ende ein Freiheits- und Einheitsdenkmal gestellt wird.
Das ist dieser geniale Antrag von Wörlitz. Die Idee von
der Maquiladora-Industrie taucht nicht mehr auf, Kollege
Schubert. Das hat man bereinigt. Man hat gemerkt, dass
es höchst problematisch wäre, wenn man dabei bliebe.

Dafür gibt es ein geniales Finanzierungskonzept der
Union. Ich war ja gespannt, woher die 20 Milliarden Euro
kommen sollen. Die sind „zerstoibert“. Die sind irgend-
wie völlig weg


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr könnt nicht rechnen!)


oder aus der Thüringer Vogel-Perspektive ganz, ganz
klein geworden. Also, man findet davon nichts mehr.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie wiederholen sich, Herr Schulz! – Gegenruf des Abg. Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss es oft wiederholen!)


Tatsache ist, Herr Grund, dass Ihr Finanzierungskonzept
einfach nicht ausgegoren ist.

Sie sprechen von Privatisierungserlösen. Ich frage
mich: Woher wollen Sie die denn nehmen, nachdem Sie
über die Treuhand alles verscherbelt haben? Woher sollen
denn die Privatisierungserlöse kommen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dann wollen Sie Umschichtungen im Haushalt vor-

nehmen. Ich bin wirklich sehr gespannt, wie Sie das ma-
chen wollen. Den Haushalt haben wir gerade konsolidiert.
Den haben wir in einem wirklich liederlichen Zustand
übernehmen müssen. Wie Sie da noch umschichten wol-
len und Mittel für den Aufbau Ost herausquetschen wol-
len, bleibt Ihr Geheimnis. Ich würde das im Wahlkampf
gern hören.

Dann kommt der größte Clou: Steuereinnahmen durch
Anspringen der Konjunktur. Was Sie uns bisher nir-
gendwo bescheinigt haben, nämlich dass dieses Ansprin-
gen in diesem Jahr stattfindet, bescheinigen Sie uns mit
diesem Antrag von Wörlitz. Ich danke Ihnen ganz herzlich
dafür.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Man muss nur eine andere Politik machen!)


Selbst Sie rechnen also mit einem Aufschwung und wür-
den das Geld am liebsten schon verbraten.

Wir haben in dieser Legislaturperiode einen wirklich
großen Kraftakt geleistet.


(Zurufe von der FDP: Oh! – Gegenruf von der SPD: Den habt ihr ja abgelehnt!)


– Das Protokoll notiert: Anerkennung vonseiten der FDP.
Ich danke Ihnen. – Das ist der Solidarpakt II. Als der
Finanzierungsbedarf von den ostdeutschen Ministerpräsi-
denten öffentlich gemacht worden ist – von fünf seriösen
Instituten ist ein Finanzierungsbedarf von etwa 300 Mil-
liarden DM für die nächsten zehn bis 15 Jahre ermittelt
worden –, wurde er von einigen Ministerpräsidenten, bei-
spielsweise dem von Bayern, vehement bezweifelt. Es
war davon die Rede, dass man nicht bereit ist, für weitere
Milliardengräber im Osten geradezustehen, das Wahlver-
halten der Ostdeutschen auch keinen Grund biete, das
weiter zu unterstützen, und dergleichen mehr. Also satte
Drohungen aus der Staatskanzlei in München.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Der damalige Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt war Stichwortgeber!)


Der jetzige Solidarpakt über 150 Milliarden Euro gibt
den ostdeutschen Gebietskörperschaften eine solide
Finanzgrundlage. Hier wurde eine makroökonomische




Werner Schulz (Leipzig)


22623


(C)



(D)



(A)



(B)


Entscheidung getroffen, die Sicherheit bis 2020 gibt.
Manche westdeutsche Kommune bzw. Stadt würde sich
darüber freuen, eine solch sichere Finanzgrundlage für so
lange Zeit zu haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Klaus Haupt [FDP]: Was machen Sie jetzt?)


– Ich weiß nicht, was Sie jetzt machen, aber ich wollte Ih-
nen gerade sagen, was wir jetzt machen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – HansMichael Goldmann [FDP]: Sie sind schon bei den letzten Minuten! – Zuruf von der CDU/CSU: Redet der eigentlich über den Antrag?)


Die Wirtschaft im Osten – das zeigt gerade die jüngste
Erhebung des Instituts für Wirtschaftsforschung in Hal-
le – entwickelt sich schneller und kommt eher aus der Tal-
sohle heraus als die im Westen. Es ist deutlich zu sehen:
Wenn die Konjunktur anspringt, springt sie zuerst im
Osten an. Das Interessante am Aufbau Ost ist, dass wir seit
1993 im verarbeitenden Gewerbe einen jährlichen Zu-
wachs von 6,8 Prozent – das ist fünfmal so viel wie in den
alten Bundesländern – haben. Dieser Strukturwandel
beim Aufbau Ost ist das eigentlich Interessante.

Nach dem Zusammenbruch und dem Staatsbankrott
haben wir eine einzigartige Deindustrialisierung erlebt; es
sind Betriebe abgewickelt worden und alles ist neu
gegründet worden. In der momentanen Phase der
Reindustrialisierungwerden zweistellige Wachstumsra-
ten in Zukunftsbranchen wie der Elektronik, der Elektro-
technik, der Medizintechnik und dergleichen mehr erzielt.
Das ist hochinteressant. Diese Arbeitsplätze sind sehr
wichtig für den Osten, weil sie zukunftsfähig sind. 1989
gab es 10 Millionen Arbeitsplätze in der DDR. Jeder, der
die Verhältnisse in der DDR kennt, weiß, dass sich dahin-
ter viele unproduktive Tätigkeiten versteckten: die Be-
triebsparteiorganisationen, Herr Claus, die GST-Verant-
wortlichen und dergleichen mehr. Ich würde sagen, dass
deren Arbeit nicht ganz so produktiv war.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben heute 6 Millionen Arbeitsplätze in den

neuen Bundesländern.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Unter 5 Millionen!)

Das Neue daran ist, dass es sich dabei um zukunftsfähige
und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze handelt, Herr
Grund. Die Basis mag ja noch zu schmal sein – da stim-
men wir zu – und die Arbeitslosigkeit ist noch unerträg-
lich hoch – auch darin stimmen wir überein –, aber Sie
müssen Folgendes sehen: Während wir von Ihnen
440 000 ABM-Stellen übernommen haben, ist die Zahl
der ABM-Stellen im Osten heute auf unter 140 000 ge-
sunken. Da trotz Arbeitsplatzabbau in der Bauindustrie
und im öffentlichen Dienst die Arbeitslosigkeit aber
gleich hoch geblieben ist, heißt das, dass sich dahinter ein
ganz dynamisches Wirtschaftswachstum versteckt. Es

sind also jede Menge neue Arbeitsplätze hinzugekom-
men.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auf ein besonderes Phänomen – das Problem beschäf-
tigt uns alle und es ist schwierig, es zu lösen –, auf die Ab-
wanderung bzw. den Weggang junger Leute, möchte ich
noch zu sprechen kommen. Auf der einen Seite sollten wir
daraus kein Drama machen. Wenn ich mich richtig ent-
sinne, haben wir uns damals nicht deswegen gegen die Ab-
riegelung gestemmt, damit jetzt die Jugend ewig drinbleibt,


(Jürgen Türk [FDP]: Das ist ja ein Witz!)

sondern damit sie nicht mehr Botschaften in Budapest,
Prag und Warschau besetzen muss, um aus dem Land he-
rauszukommen. Im Übrigen halte ich es für zynisch, wenn
die PDS von einem Ausbluten der Regionen und von einer
Abwanderung wie 1989 spricht. Das war wirklich ein an-
derer Vorgang. Damals hat die ganze Jugend das Land ver-
lassen, weil sie keine Perspektive mehr sah. Heute gehen
einzelne junge Leute weg, weil sie Perspektiven suchen.

Weil es sich hier aber um ein schwerwiegendes Pro-
blem handelt, stellen wir auf der anderen Seite jede
Menge überbetriebliche Ausbildungsplätze zur Verfü-
gung. Im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit hat mittler-
weile jeder Jugendliche die Chance auf Ausbildung und
Qualifizierung im Osten.


(Gerhard Jüttemann [PDS]: Aber keine Arbeit!)


Dass junge Leute nicht in einer Region bleiben müs-
sen, wo sie keine Weiterbeschäftigung finden


(Zuruf des Abg. Jürgen Türk [FDP])

– auch wenn Sie hereinrufen, wird es nicht besser –, son-
dern sich im ganzen Land umschauen können, war eines
der politischen Ziele von 1989. Das muss man nicht als
Verlust betrachten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir müssen uns darauf einstellen, dass es sehr bald ei-
nen höheren Arbeitskräftebedarf im Osten als momentan
geben wird. In den Betrieben gibt es nämlich eine sehr
verfestigte Arbeitsplatzstruktur.


(Dr. Klaus Grehn [PDS]: Wo laufen sie denn hin, die Arbeitsplätze?)


– Herr Grehn, davon wissen Sie wirklich wenig. Küm-
mern Sie sich um Ihren Verein!


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422802300
Herr Kol-
lege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Büttner?

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ja, gerne.


(Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Arroganz trägt Flügel!)





Werner Schulz (Leipzig)

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(C)



(D)



(A)



(B)


– Wissen hat mit Arroganz nichts zu tun, Frau Fuchs.

(Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Lieber Herr Kollege, das ist Arroganz!)



Hartmut Büttner (CDU):
Rede ID: ID1422802400
Herr
Kollege Schulz, könnten Sie uns einmal erläutern, warum
die Saldozahl der Abwanderer seit dem Regierungs-
wechsel drei Jahre hintereinander dramatisch, und zwar
von damals 10 000Menschen auf derzeit über 60 000 Men-
schen, gestiegen ist, wenn das alles so gut gewesen sein
soll? Können Sie uns einmal erklären, warum die jungen
Leute nach wie vor weglaufen?

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Büttner, ich war gerade dabei, das zu erklä-
ren. Wenn Sie zuhören würden, dann könnten wir uns
ernsthaft darüber verständigen. Wenn Sie den Bericht zum
Stand der deutschen Einheit lesen, dann werden Sie
zunächst einmal feststellen, dass es bei der Abwanderung
ein Nord-Süd-Problem gibt. Die meisten Menschen wan-
dern aus dem Land Niedersachsen ab. Erst dann erschei-
nen in der Statistik ostdeutsche Bundesländer.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist ja wohl nur logisch! Wer ist denn dort an der Regierung?)


– Wollen Sie durch diese Zwischenrufe beweisen, dass
Sie diese Debatte ernst nehmen? – Im Zusammenhang mit
der Abwanderung gibt es auch ein Ost-West-Problem:
Viele junge Leute wandern ab, weil sie in der Regel nach
der Berufsausbildung eine Perspektive, also einen Ar-
beitsplatz, suchen und sich in der Nähe ihres Arbeitsplat-
zes niederlassen. Das Problem ist – das wollte ich Ihnen
gerade erklären –, dass es im Osten nach 1990 überwie-
gend Betriebsneugründungen, zum einen Teil Filialbe-
triebe und zum anderen Teil Zweigbetriebe, also Ableger
von insbesondere westdeutschen Großkonzernen, gab.
Die Besonderheit dieser Betriebe ist aber, dass sie Mitar-
beiter im Alter zwischen Anfang 20 und Mitte 40 einge-
stellt haben. Man hat nicht diejenigen eingestellt, die
50 Jahre oder älter waren. Diese Menschen gingen in den
Vorruhestand oder haben die Altersteilzeitregelung in An-
spruch genommen. Eine ganze Generation ist ausgemus-
tert worden. Wenn Sie so wollen, ist das die Tragik.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Das beantwortet meine Frage nicht!)


Darum gibt es keine natürliche Fluktuation. Es gibt kei-
nen so genannten Altersabgang, der zum Nachrücken
neuer Leute führt. In einigen Jahren wird es im Osten ei-
nen sehr plötzlich auftretenden Arbeitskräftebedarf ge-
ben.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Bis dahin warten wir!)


Das bedeutet, dass sich die Regionen heute darauf vor-
bereiten müssen, dass junge Leute nach Ostdeutschland
kommen und bleiben. Das müssen nicht die gleichen
Menschen sein, die dort groß geworden sind. Das ist auf-
grund der Dynamik der Binnenwanderung in unserem
Land gar nicht erforderlich. Wichtig ist, dass die Regio-

nen ihre Potenziale stärken, indem sie die Lebensbedin-
gungen für junge Leute attraktiver machen und damit
zum Selbstwertgefühl der Menschen in diesen Regionen
beitragen. Wir bestehen also auf der Verbesserung der so
genannten weichen Standortfaktoren: Es sind dies soziale
Infrastruktur, Bildungsmöglichkeiten, Betreuungsmög-
lichkeiten für Kinder, Freizeit- und Kulturangebote, all
das, worauf junge Leute heute Wert legen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


In den ostdeutschen Regionen, in denen man dies berück-
sichtigt, lassen sich Jugendliche nieder und richten ihren
Lebensmittelpunkt ein. Ich will überhaupt nicht bestrei-
ten, dass das ein schwieriger Prozess ist. Man kann das
Problem aber nicht auf die platte Art abtun, wie Sie das
hier versucht haben. Wir müssen gemeinsam an der Lö-
sung dieses Problems arbeiten.

Ich möchte darauf hinweisen, dass das auch mit der
Einwanderungsfrage – sie wird gleichzeitig an anderer
Stelle diskutiert – in Verbindung steht.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Oh!)

Wir haben die Mauer nicht nur als einen Akt der Selbst-
befreiung überwunden, sondern auch, um deutlich zu ma-
chen, dass es sich um ein offenes Land handelt, in das die
Leute auch hineinkommen sollen. Es ist ein Widerspruch,
auf der einen Seite Investitionen hereinholen zu wollen,
auf der anderen Seite die Investoren aber außen vor zu las-
sen. Wer will, dass ausländisches Kapital investiert wird,
der muss auch für die Investoren und deren Mitarbeiter,
die ins Land kommen, offen sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Warum schütteln Sie denn mit dem Kopf? Sie sagen,
die hohe Arbeitslosigkeit und die Abwanderung im Osten
schlössen Zuwanderung aus. Ich halte diese Verknüpfung
für demagogisch und unverantwortlich. Dies ist eine
törichte Vermutung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen vielmehr heute Regelungen für das treffen,
was wir morgen brauchen. Wir brauchen qualifizierte,
neue Arbeitskräfte. Wir müssen für die Bevölkerungsent-
wicklung einiges tun.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Aber nicht so, wie Sie das machen! Das ist eine Katastrophe!)


Herr Büttner, Ihnen möchte ich ferner sagen, dass der
Osten unterproportional wenig Ausländer aufgenommen
und integriert hat. In den neuen Ländern lag der Anteil bei
nur 2 Prozent, während er in den westdeutschen Ländern
im zweistelligen Bereich lag. Das hängt mit der Entwick-
lung in der DDR zusammen. Die PDS könnte sich zu dem
Thema der Einwanderungspolitik bis 1989 einmal äußern.
Wir haben im Grunde noch Restschäden zu beheben.


(Lachen bei Abgeordneten der PDS)

– Aber selbstverständlich. Ich würde, wenn wir einmal
mehr Zeit haben, gerne etwas kritischer mit Ihnen über




Werner Schulz (Leipzig)


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(C)



(D)



(A)



(B)


dieses Kapitel reden, darüber, wie Sie bis 1989 mit Aus-
ländern umgegangen sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Damals hatten sie noch nicht einmal den Status Gastar-
beiter.

Aber meine Redezeit ist leider zu Ende. Ich danke Ih-
nen für die Aufmerksamkeit und die rege Beteiligung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422802500
Für die
Fraktion der PDS spricht die Kollegin Frau Professor
Dr. Christa Luft.


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1422802600
Herr Präsident! Verehrte Kol-
leginnen und Kollegen! Herr Kollege Schulz, Sie haben
gewiss Recht, wenn Sie sagen, Frau Pieper werde be-
stimmt nicht Ministerpräsidentin von Sachsen-Anhalt. Da
stimmen wir überein.


(Cornelia Pieper [FDP]: Nehmen Sie die Wahl schon vorweg?)


Aber Ihnen muss ich sagen: Weil die Bündnisgrünen im
Osten weder präsent noch gefragt sind, müssen Sie offen-
bar in solchen Debatten hier so lautstark und überklug re-
den, wie Sie das eben gemacht haben.


(Beifall bei der PDS)

Sie haben im Osten doch keine Ansprechpartner, die Ihre
klugen Ratschläge und Rezepte aufnehmen würden.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS – Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihren klugen Ratschlägen sind wir zu lange gefolgt!)


Den Menschen in den neuen Bundesländern, vor-
nehmlich den Arbeitslosen, den Jugendlichen, die auf ge-
packten Koffern sitzen, den Handwerksbetrieben, die
keine Aufträge bekommen, nützt der Wettbewerb zwi-
schen den Parteien, der augenblicklich vor der Wahl wie-
der darüber stattfindet, wer die wohlklingendsten Ange-
bote und Zuwendungen verbaler Art für die betreffenden
Schichten hat, nichts. Sie brauchen handfeste Vorschläge,
Maßnahmen zur realen Veränderung ihrer Situation.


(Beifall bei der PDS)

Die Lage im Osten ist zu ernst, als dass sie sich für bil-

lige Wahlkampfattacken eignen würde. Herr Nooke, es
war doch gerade die CDU, die nach 1990 sowohl im Bund
als auch in vier neuen Bundesländern die Regierungen ge-
führt hat und Fehlentwicklungen zu verantworten hat, die
Sie heute – wie ich finde, zu Recht – beklagen.


(Beifall bei der PDS)

Aber ein bisschen Selbstkritik wäre dabei angebracht.

Die neuen Länder sind mit 18 Prozent Anteil an der in
der Bundesrepublik Deutschland lebenden Bevölkerung
aktuell zu 33 Prozent an der Zahl der offiziell Arbeitslo-

sen beteiligt. Das ist eine Katastrophe und das kann man
im zwölften Jahr der deutschen Einheit nicht noch immer
nur auf die Hinterlassenschaften der DDR zurückführen.
Die Arbeitslosen im Osten werden ebenso wie die im
Westen bestimmt mit Begeisterung vom Hocker springen,
wenn sie zur Kenntnis nehmen, dass der neue Präsident
der Bundesanstalt für Arbeit 250 000 Euro im Jahr für
seine Arbeit bekommen soll. Das ist das Doppelte von
dem, was sein Vorgänger bekommen hat. Das ist in der
Öffentlichkeit nicht vermittelbar und das hat, Herr Schulz,
wohl auch nichts mit Arbeitsproduktivität zu tun.


(Beifall bei der PDS – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist aber auch ein Stück Arbeitsbeschaffung!)


Die Unternehmenspleiten im Osten erreichen Rekord-
werte. Seit 1998 schwillt die Abwanderung junger
Leute wieder massiv an und setzt nach der rigiden Indus-
trieabwicklung durch die Treuhand – das muss man sich
einmal in Erinnerung rufen, Herr Schulz – eine zweite
Welle der Entwertung von Sachvermögen in Gang, das
mit viel öffentlichem und auch privatem Geld aufgebaut
worden ist. Gleichzeitig schrumpft der einstige Vorzug
des Ostens, von dem immer alle gesprochen haben, näm-
lich sein qualifiziertes Humankapital. Ich denke, das ist
eine Gefahr für die Zukunft.

Dass das Tor jetzt offen ist, ist zu begrüßen. Aber
warum kommen so wenige in die östliche Richtung durch
das Tor?


(Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen Sie einmal Ihre Partei fragen!)


Das ist doch die Frage. Ein Herunterspielen dieses Pro-
blems ist absolut aberwitzig.

Es herrscht inzwischen Übereinstimmung zwischen
allen Parteien, dass der Nachbau des Westens als Leit-
bild des Ostens gescheitert ist. Wir von der PDS lehnen
aber auch ein anderes Leitbild ab, nämlich das der
CDU/CSU, das sie in ihrem Antrag vorstellt. Danach soll
der Osten die Vorreiterrolle bei der massenhaften Ein-
führung prekärer Jobs, bei der Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes, bei der Herabsetzung sozialer Standards
und bei der Kürzung von Mitwirkungsmöglichkeiten der
Beschäftigten spielen. Auf diese Weise können die
Ostländer nicht zu einer Wachstumsregion ersten Ranges
werden, wie es die CDU/CSU in ihrem Antrag schreibt.

Wir haben ein anderes Leitbild. Wir wollen, dass die
neuen Länder nach den schmerzlichen Umbruchprozes-
sen, von denen keine Familie verschont worden ist, eine
Region mit existenzsichernden und zukunftsfähigen Ar-
beitsplätzen werden, die die Menschen von einer Alimen-
tierung unabhängig machen.


(Beifall bei der PDS)

Fragen wir, was nach der verunglückten „Chefsache

Ost“ des SPD-Kanzlers nun die Union in einem Sonder-
programm als „was Neues“ für den Osten ankündigt,
dann lautet die Antwort: Viel Neues und Eigenes fällt der
Union nicht ein; denn bürokratische Hemmnisse im Bau-




Werner Schulz (Leipzig)

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(A)



(B)


recht und bei Genehmigungsverfahren abzubauen ist eine
bei Helmut Schmidt abgeschriebene Idee.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Aufs Datum gucken!)


Die Angleichung der Ostgehälter im öffentlichen
Dienst an das Westniveau bis 2007 ist – es tut mir Leid –
bei der PDS abgeschrieben. Sie fordert sie nämlich seit
langem und wurde dafür immer des Populismus geziehen.
Vor der Wahl meinen Sie jetzt offenbar, auf diesen Zug
aufspringen zu müssen. Wir werden Sie – ohne Frage –
bei der Erreichung dieses Zieles unterstützen. Aber Sie
müssen noch beweisen, dass Sie es mit Ihrem Vorschlag
ernst meinen. Die Aufstellung des Bundeshaushaltes 2003
steht bevor und bietet die erste Gelegenheit, zu zeigen, ob
Sie zu Ihrem Wort stehen. Auch für die SPD, die die An-
gleichung im gleichen Zeitraum verwirklichen möchte,
gilt: Wir werden Sie darin unterstützen.

Ansonsten gibt es in dem Programm „Was Neues für
den Osten“ – das ist schon gesagt worden – viele unge-
deckte Schecks. Die Finanzierung des Ausbaus der Infra-
struktur wird nicht konkretisiert. Es wird angekündigt,
dass man eine Innovations- und Existenzgründeroffensive
starten wolle. Auch deren Finanzierung bleibt unklar. Sie
jonglieren mit Privatisierungserlösen, die Sie noch gar
nicht haben. Im Übrigen gilt: Jede weitere Privatisierung
engt den Handlungsspielraum der öffentlichen Hände ein.
Damit schränken Sie im Übrigen auch die Demokratie
weiter ein.


(Beifall bei der PDS)

Warum sagen Sie von der Union nicht, dass Sie bei Re-

gierungsübernahme die Steuerfreistellung für Veräuße-
rungsgewinne von Kapitalgesellschaften zurücknehmen?
Damit stünde Ihnen ein großer Milliardenbetrag zur Ver-
fügung, um eine Innovations- und Existenzgründeroffen-
sive zu finanzieren. Warum sagen Sie nicht, dass Sie eine
dreijährige Steuerfreiheit für Existenzgründer auch dann
ermöglichen wollen, wenn diese Unternehmen schon in
den ersten Jahren Gewinne machen? Das würde ihre Li-
quidität erhöhen und damit ihr Überleben ermöglichen.
Warum sagen Sie nicht, dass Sie alles tun werden, um die
schlechte Zahlungsmoral zu bekämpfen? Die schlechte
Zahlungsmoral treibt viele Unternehmen in den Ruin. Es
gibt also viele Möglichkeiten, was man tun könnte.

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Die neuen Bun-
desländer hatten im Unterschied zur alten Bundesrepu-
blik nach 1945, als ein Wirtschaftswunder in Gang gesetzt
wurde, eine völlig andere Ausgangsposition: Sie hatten es
nämlich mit gesättigten Märkten zu tun – im Unterschied
zur alten Bundesrepublik, die auf ungesättigte Märkte ge-
stoßen ist. Auf gesättigten Märkten kann man sich aber
nur etablieren, wenn man technologie- und forschungsin-
tensive Erzeugnisse und innovative Leistungen anbieten
kann. Das setzt aber voraus, dass die ostdeutschen Länder
eine Region mit attraktiven Möglichkeiten für Bildung,
Wissenschaft, Forschung und Kultur werden.


(Beifall bei der PDS)

In diesem Fall werden sich junge Leute dort zu Hause
fühlen und durch ihr Bleiben verhindern, dass die neuen

Länder zu einem Altenheim werden, was der ganzen Bun-
desrepublik Deutschland nicht gut tut.

Es ist also wichtiger, dass das Kapital zur Arbeit geht
und dass die Arbeit nicht ständig dem Kapital hinterher-
läuft. Dafür brauchen wir neue Weichenstellungen, die im
Antrag der CDU/CSU nicht enthalten sind. Auch die SPD
muss auf diesem Gebiet noch einiges leisten.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422802700
Ich gebe
dem Kollegen Rainer Fornahl für die SPD-Fraktion das
Wort.


Rainer Fornahl (SPD):
Rede ID: ID1422802800
Herr Präsident! Meine sehr ge-
ehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute zum zwei-
ten Mal in diesem Jahr über den Aufbau Ost. Das ist eine
gute Gelegenheit, sich den Jahresbericht 2001 zum Stand
der deutschen Einheit einmal anzuschauen. Er ist auf-
schlussreich und sehr interessant und zeigt, welches Ergeb-
nis man mit einem konstruktiven und engagierten Regie-
rungshandeln für die neuen Bundesländer erreichen kann.

Die heute vorliegenden Anträge der Opposition bieten
wenig Anlass, sich intensiv mit ihnen auseinander zu set-
zen. Sie von der Opposition handeln auf diesem Gebiet
schon seit Jahren nach dem Motto „Am Anfang war der
Plan, am Ende war er falsch“. Die Ostdeutschen wissen,
wovon ich rede; sie alle kennen diesen Spruch. Ihre „Ost-
experten“ sind von Berlin über Dresden bis nach Wörlitz
geeiert und geschlingert oder sind, um der FDP die Ehre
zu geben, „getürkt“ und „gepiepert“. Wenn diese Anträge
im Ergebnis ein Konzept für die neuen Bundesländer dar-
stellen sollen, dann sind wir uns, wie ich glaube, darüber
einig, dass das nicht viel taugt. Es ist, wenn ich das ein-
mal vergleichen darf, wie ein Schwamm: Drückt man ihn
aus, kommt nur laue Luft heraus. Das Ganze sind unge-
deckte Schecks, wie Frau Professor Luft schon gesagt hat.
So kommen wir nicht weiter.


(Beifall bei der SPD)

Das Handeln der Regierung und der rot-grünen Koali-

tion seit 1998 ist, wie ich meine, die richtige Antwort auf
die Probleme in den neuen Bundesländern und insbeson-
dere auf die Hinterlassenschaften von Kohl und Co. Erin-
nern wir uns einmal an die 90er-Jahre. Die jahrelange
Deindustrialisierung mit der Zerstörung fast aller indus-
triellen Kerne im Osten ist die entscheidende Ursache
dafür, dass wir heute – das ist hier schon gesagt worden –
eine unerträglich hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Bun-
desländern zu verzeichnen haben. Es ist übrigens auch
gestern in der europapolitischen Debatte – mit Blick auf
Herrn Merz, den Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU –
sehr treffend beschrieben worden, dass die Politik, die
CDU/CSU und FDP in den 90er-Jahren mit Blick auf die
ostdeutsche Industrie gemacht haben, ein industriepoliti-
sches „Meisterstück“ gewesen ist.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Hat es Ihnen ins Hirn reingeregnet? In welchem Jahr leben Sie denn? Da merkt man ganz deutlich: Sie leben in der Steinzeit, guter Mann!)





Dr. Christa Luft

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(B)


– Ich lebe im Jahr 2002. Ich bin Mitglied der Regierungs-
koalition, und zwar des Teils, der sich mit dem Thema
Aufbau Ost konstruktiv und aktiv auseinander setzt und
die richtigen Konzepte umsetzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie haben noch ein halbes Jahr!)


Ich will mich, nach dem Motto „Gesagt – getan“, nun
auf zwei Komplexe unseres Regierungshandelns kon-
zentrieren, und zwar zum einen auf die Infrastruktur und
zum anderen auf den Stadtumbau. Eine gute Infrastruk-
tur ist – das ist schon angesprochen worden – eine ganz
wesentliche Voraussetzung für die Verbesserung der
Standortbedingungen und für Unternehmensansiedlun-
gen. Zur Förderung der Infrastruktur gehört zuallererst
der Solidarpakt II mit der sicheren Finanzierung bis zum
Jahr 2019. Dazu gehört aber auch das Investitionspro-
gramm 1999 bis 2002, von dem immerhin 50 Prozent der
Mittel – das sind fast 20 Milliarden Euro – in die neuen
Länder fließen. Dazu gehört das kürzlich beschlossene
Mobilitätsprogramm 2010, insgesamt finanziert mit
80 Milliarden Euro für die Verkehrsinfrastruktur in
Deutschland, die zu einem großen Teil in die neuen Län-
der fließen. Dazu gehört das Zukunftsinvestitionspro-
gramm, das bis 2007 fortgeschrieben wird und 1,5 Milli-
arden Euro für Schienen und Straßen insbesondere auch
in den neuen Bundesländern enthält. Dazu gehört aber
natürlich auch der neue Bundesverkehrswegeplan, den
wir im nächsten Jahr verabschieden werden; die Vorbe-
reitungen dazu sind weitgehend abgeschlossen. – Diese
Programme ergeben ein solide durchgearbeitetes Konzept
mit einem Schwerpunkt auf den neuen Bundesländern,
durch das sich die Verkehrsinfrastrukturprojekte im Be-
reich der Straße, Schiene und Wasserwege vernünftig ver-
netzt realisieren lassen.


(Beifall bei der SPD)

Dazu gehört insbesondere auch die Zusage von Bun-

deskanzler Gerhard Schröder, zentrale Infrastrukturpro-
jekte jetzt sicher finanziert zu beginnen oder fortzuführen.
Ich erinnere den Bau der A 14 nördlich von Magdeburg,
an die Fortführung der A 72 von Chemnitz nach Leipzig
und insbesondere an den Weiterbau der ICE-Neu-
baustrecke von Nürnberg über Erfurt nach Halle/Leipzig
oder, wie man sagen kann, von Berlin nach München, da-
mit der bayerische Ministerpräsident auch nach dem
22. September mit der Eisenbahn zu seinen Bundesrats-
sitzungen fahren kann.


(Beifall bei der SPD)

Genau das, was ich eben angesprochen habe, ist kon-
struktive und aktive Aufbaupolitik.

Aber auch der Stadtumbau ist eine Hinterlassenschaft
von Kohl und Co. Wir haben 1 Million Arbeitslose auf-
grund einer völlig verfehlten Förder- und Steuerpolitik.
Wir haben das Problem angepackt. Wir haben 1999 die
Lehmann-Grube-Kommission eingerichtet. Uns liegt eine
Analyse der Situation bei der Wohnungswirtschaft vor,
wir haben Vorschläge, wir haben Konzepte. Diese haben
wir mit dem Stadtumbauprogramm umgesetzt. Bund,

Länder und Gemeinden finanzieren insgesamt 3 Milliar-
den DM bis zum Jahr 2009. Die Kommunen nehmen die-
ses Programm außerordentlich gerne an; sie sind begeis-
tert. Es gibt Hunderte von Modellprojekten und erste
erfolgreiche Einzelmaßnahmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Natürlich ist eine Umschichtung der Mittel nicht zu

vermeiden gewesen. Aber wir brauchen keine neuen Woh-
nungen, sondern eine Aufwertung der Stadtquartiere und
eine bessere Lebensqualität der Menschen in den neuen
Bundesländern. Eben dafür wird das Geld ausgegeben.
Das ist die praktische Umsetzung unseres Leitbildes für
Ostdeutschland: der Osten, ein starkes Stück Deutsch-
land! Unsere Politik ist auf die Zukunft gerichtet.


(Beifall bei der SPD)

Noch eines zu Ihrem Kanzlerkandidaten: Herr

Stoiber sagt, er mache den Osten zur „Herzenssache“. Mit
seinen Ideen und Vorschlägen, insbesondere zu dem hier
schon angesprochenen Risikostrukturausgleich, hat er
aber deutlich gemacht, dass dies nicht stimmt. Frei nach
dem Märchen von Wilhelm Hauff, das wir alle kennen,
handelt es sich wohl eher um das „kalte Herz“. Es ist der
kalte Edmund, der hier Kanzler werden will. Er wird es
aber nicht schaffen, keine Bange!

Im Tenor ist die Opposition auf der rechten Seite die-
ses Hauses immer gleich: Sie reden Land und Stimmung
schlecht und demotivieren damit die Menschen in den
neuen Bundesländern. Das ist fatal. Denn die Menschen
in den neuen Bundesländern sind es, die für den Aufbau
Ost gearbeitet haben, arbeiten und noch arbeiten werden.
Wir müssen sie motivieren und unterstützen – wie mit un-
seren Konzepten, unseren Programmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Noch eines will ich Ihnen sagen: Sie kennen alle den
Spruch „Schwarz hören und sehen kommt teuer zu ste-
hen“. Aber Schwarzmalerei bekommt am Ende uns allen
schlecht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422802900
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Peter Rauen.


Peter Rauen (CDU):
Rede ID: ID1422803000
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Von Schönfärberei ha-
ben die Leute in den neuen Bundesländern überhaupt
nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP– HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Faktum ist: In den letzten drei Jahren ist die Wirt-
schaft in den neuen Bundesländern weniger stark ge-
wachsen als in den alten Bundesländern; das war nach der
Wende völlig anders. Wenn das so bleibt, kommen wir




Rainer Fornahl
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dem Ziel, gleiche Lebensverhältnisse herzustellen, nicht
näher; der Unterschied wird sogar noch größer werden.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Wo ist denn der Gartenund Landschaftsgestalter?)


Wir brauchen nicht herumzureden: Das gründet sich auf
Ereignisse, die von dieser Regierung – nicht von irgend-
einer Vorgängerregierung – zu verantworten sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Aufbau selbstständiger Existenzen in den neuen

Bundesländern ist faktisch zum Stillstand gekommen.
Während der Saldo aus Gewerbeanmeldungen und -ab-
meldungen in 1998 noch fast 19 000 betrug, belief er sich
im letzten Jahr gerade noch auf 1 000. In einigen neuen
Bundesländern, zum Beispiel in Sachsen-Anhalt, haben
mehr Firmen dicht machen müssen, als neue hinzuge-
kommen sind. Ohne Unternehmer gibt es aber keine
Arbeitsplätze.

Das Ganze wird flankiert von einem gewaltigen Rück-
gang der Zahl der Erwerbstätigen und einer Arbeitslosig-
keit, die in den neuen Ländern doppelt so hoch ist wie in
den alten. Da gibt es nichts zu beschönigen; das ist die
traurige Wahrheit.

Das ganze Ausmaß der Beschäftigungsmisere wird an
einer Feststellung deutlich, die der Sachverständigenrat in
seinem jüngsten Jahresgutachten getroffen hat: Im Jahre
2000 betrug die Erwerbstätigenquote – also das Ver-
hältnis von Erwerbstätigen zu Erwerbspersonen – in den
neuen Bundesländern gerade noch 78,8 Prozent. Diese
Zahl ist dramatisch; auch hier gibt es nichts zu beschöni-
gen.

Natürlich trifft die Rezession, in der wir uns befinden,
die neuen Bundesländer weit stärker als die alten Bun-
desländer. Denn in Bezug auf die Binnennachfrage kann
man schon seit Anfang letzten Jahres von Rezession spre-
chen, wobei aufgrund der höheren Exportanteile der Wirt-
schaft in den alten Bundesländern einiges noch für etliche
Zeit kaschiert werden konnte. Über diese Fakten kann
man einfach nicht hinweggehen.

Was mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, unter volks-
wirtschaftlichen Gesichtspunkten am meisten Sorge
macht, ist die Tatsache, dass die Lücke zwischen Lohn-
kosten und Produktivität in den letzten drei bis vier Jah-
ren konstant bei 25 Prozent verharrt. Das heißt, die Men-
schen in den neuen Bundesländern sind nicht in der Lage,
die Kosten für Arbeit, insbesondere im Dienstleistungs-
bereich, zu tragen. Wenn diese Lücke nicht geschlossen
wird, kann es nicht zu einem sich selbst tragenden Auf-
schwung kommen.

An dieser Stelle will ich als Mittelständler deutlich sa-
gen: Die Chance sind die Mittelständler, die selbststän-
digen Unternehmen in den neuen Bundesländern.


(Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn die Lohnnebenkosten hoch getrieben, Herr Rauen?)


Der Unternehmer ist nicht dazu da, Arbeitsplätze zu
schaffen. Er ist dazu da, die Wünsche seiner Kunden zu
bezahlbaren Preisen zu erfüllen. Daraus erwachsen dann

Aufträge und daraus wiederum Arbeitsplätze. Deshalb ist
das ungünstige Verhältnis zwischen Produktivität einer-
seits und Lohnkosten andererseits aus meiner Sicht ver-
heerend.


(Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind die Kosten der deutschen Einheit versteckt?)


– Herr Schulz, ich respektiere Ihr Bemühen. Es wäre bes-
ser, Sie würden mir zuhören, statt einfach dazwischen-
zuquatschen.


(Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nur einen Einwand!)


Ich bemühe mich mit Sicherheit genauso wie Sie, hier
eine Lösung zu finden. Ich darf Sie also bitten, mir zu-
zuhören, wie ich auch Ihnen zugehört habe.

Wir wissen seit langer Zeit, dass 10 Prozent der verrin-
gerten Produktivität auf fehlender Infrastruktur basie-
ren. Dieses Problem können die Firmen bzw. die Men-
schen nicht beheben, das muss der Staat tun. Er muss
diese Infrastrukturlücken viel schneller schließen, als es
zurzeit geschieht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christoph Matschie [SPD]: Liefern Sie einmal einen Finanzierungsvorschlag, sonst nützt das alles nichts!)


Ich war vor zwei Abenden in der Altmark, einem dünn
besiedelten Raum. Dort gibt es die gleichen Probleme wie
in vielen anderen dünn besiedelten Räumen auch. Solche
Räume kommen erst dann auf die Beine, wenn sie durch
Autobahnen erschlossen werden. Dies haben wir in mei-
ner Heimat, der Eifel, und auch in der Oberpfalz erlebt.
Das wird in der Altmark genauso sein. Dazu muss aber die
Anbindung an Magdeburg, Schwerin und Hamburg sehr
schnell kommen, sonst kann sich dieser Raum nicht ent-
sprechend entwickeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Menschen, die dort leben, können nicht 20 Jahre war-
ten, bis dies passiert.

Ich habe an dieser Stelle schon öfter darauf hingewie-
sen: Finanzminister Eichel hat den Bundeshaushalt in ers-
ter Linie über die Senkung der Investitionen konsolidiert.
Die Investitionsquote in diesem Jahr mit 10,1 Prozent ist
die niedrigste, die es jemals in Deutschland gegeben hat.
Trotz der UMTS-Milliarden investiert dieser Finanz-
minister in Absprache mit dem Kanzler im Jahre 2002
5 Milliarden Euro weniger als 1998. Man braucht nicht
darum herumzureden: Dadurch sind keine Mittel da, um
die notwendigen Maßnahmen zu finanzieren.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Das ist unrichtig! – Christoph Matschie [SPD]: Sie können noch nicht einmal Statistiken lesen!)


Ich sage es noch einmal sehr deutlich – dies haben auch
die Präsidien der Union gesagt –: Selbst dann, wenn wir
es schaffen, dass die Wirtschaft wieder anspringt, wird
es uns nicht gelingen, die entsprechenden Mittel frei zu




Peter Rauen

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bekommen, um die notwendigen Autobahnen und Ver-
kehrswege schnell zu bauen. Deshalb muss man dafür
privates Kapital mobilisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was getan werden muss, ist klar: Wir brauchen Kon-

zessionsmodelle mit privater Vorfinanzierung in der Pla-
nungs- und Bauphase, um dann, wenn die Maßnahme fer-
tig ist und volkswirtschaftlichen Nutzen bringt, das Geld
zurückzuzahlen.


(Rainer Fornahl [SPD]: Machen wir in einem groß angelegten Programm!)


Ich möchte noch etwas anderes sagen, weil ich schon
seit langem der Ansicht bin, dass wir dies alles ändern
müssen: Wenn ich mich mit Vertretern von Firmen in den
neuen Bundesländern unterhalten habe, die um ihre Exis-
tenz kämpfen, habe ich mir oft die Frage gestellt,


(Christoph Matschie [SPD]: Kommen Sie zu uns und schauen Sie sich an, was wir alles machen!)


ob ich selbst vor 37 Jahren unter diesen Ausgangsvoraus-
setzungen auf die Beine gekommen wäre. Ich fürchte,
nicht. Wir in den alten Bundesländern haben uns mit
wachsendem Wohlstand erlaubt, den Firmen immer mehr
bürokratische Regelungen aufzuerlegen. Nach der
Wende haben wir all das, was wir geglaubt haben, uns an
bürokratischen Regelungen leisten zu können, den neuen
Bundesländern aufgestülpt.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Sie sagen es!)

Wir haben nicht daran gedacht, ob die jungen Unterneh-
men, die noch keine Erfahrung und auch kein Eigenkapi-
tal haben, mit diesen Regulierungen fertig werden kön-
nen.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Das hätten Sie in Ihrer Zeit alles abschaffen können!)


Dazu muss man deutlich sagen: Dabei hat diese Regie-
rung am meisten gefehlt. Ihr habt die von uns eingeführ-
ten Deregulierungen rückgängig gemacht und den Ar-
beitsmarkt weiter reguliert. Das ist für die neuen
Bundesländer natürlich tödlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich bin mir sicher, dass dieses System schnell wieder

umgedreht werden kann. Ich bin dankbar – dazu können
Sie jetzt sagen, was Sie wollen –, dass unsere Präsidien
klar gesagt haben:


(Sabine Kaspereit [SPD]: Das wird nicht richtiger, auch wenn Ihr Präsidium das gesagt hat!)


Wenn wir an die Regierung kommen, werden wir Öff-
nungs- und Experimentierklauseln einführen, damit die-
ses Übermaß an Bürokratie zumindest in den neuen Bun-
desländern beseitigt werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich habe schon vor einiger Zeit mit den Ministern

Fürniß aus Brandenburg und Schommer aus Sachsen ge-
sprochen. Diese haben ganz klar gesagt: Wenn unsere

Länder Experimentierfeld für Deregulierungen wären,
könnten wir viele Probleme selbst lösen, die wir so nicht
lösen können. Wir sollten das ernst nehmen, was diese
Leute sagen.

Wir müssen aber auch die erforderlichen Maßnahmen
ergreifen, um wieder einen funktionierenden Niedrig-
lohnsektor zu schaffen.


(Zuruf von der SPD: Das haben wir doch längst! Der ganze Osten!)


– Nein, nein. – Es ist ein unerträglicher Zustand, dass an-
gesichts von 6 Millionen Menschen in unserem Land, die
offen oder verdeckt arbeitslos sind, im Bundesrat zurzeit
darüber nachgedacht wird, ob wir zur Besetzung von Ar-
beitsplätzen auch im Niedriglohnbereich mehr Zuwande-
rung zulassen sollten. Die in diesem Bereich bestehenden
Arbeitsplätze werden teilweise nicht besetzt, weil sich
netto diese Arbeit für den Einzelnen nicht lohnt.

Es wäre doch besser, wenn wir dieses Geld, anstatt es
in ABM-Organisationen zu stecken, die dann noch in
Konkurrenz zu mittelständischen Firmen treten, in Wirt-
schaftsbereiche investieren würden, in denen noch nicht
so hohe Löhne wie an anderer Stelle gezahlt werden kön-
nen, es also den Menschen gäben, damit sie netto deutlich
mehr von ihrem geringen Lohn zur Verfügung haben.


(Christoph Matschie [SPD]: Haben Sie schon einmal davon gehört, dass es umfangreiche Lohnkostenzuschüsse gibt? Das gibt es alles!)


Damit wäre sehr viel mehr getan als das sinnlose Ver-
schwenden von Geld für die Sanierung des Arbeitsmark-
tes.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christoph Matschie [SPD]: Ich lade Sie einmal ein, in den Osten zu kommen! So eine Arroganz aus dem Westen habe ich schon lange nicht mehr gehört!)


Wenn die Menschen in den neuen Bundesländern eine
Perspektive haben sollen, werden sie noch für eine ganze
Reihe von Jahren auf die finanzielle Solidarität der alten
Bundesländer angewiesen sein. Diese finanzielle Solida-
rität reicht aber nicht aus. Nur wenn wir es schaffen, un-
sere Volkswirtschaft als Ganzes wieder leistungsfähiger
zu machen, wenn wir den Mut haben, durch strukturelle
Reformen die Voraussetzungen für mehr Wachstum und
Beschäftigung zu schaffen, können wir den Menschen in
den neuen Bundesländern die Perspektive auf dauerhafte
Prosperität und wachsenden Wohlstand eröffnen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422803100
Das Wort
hat der Staatsminister im Kanzleramt Rolf Schwanitz.


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1422803200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte
heute ist entstanden, weil die CDU/CSU einen Antrag
zum Aufbau Ost auf die Tagesordnung gesetzt hat.


(Rainer Fornahl [SPD]: Und was für einen!)





Peter Rauen
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Ich hatte gehofft, zu erfahren, worin das neue Konzept der
CDU/CSU im Hinblick auf Ostdeutschland besteht.


(Rainer Fornahl [SPD]: Außer Spesen nichts gewesen!)


Ich kann für mich persönlich nur folgendes Resümee
ziehen: Glatte Fehlanzeige sowohl im Hinblick auf den
Antrag als auch im Hinblick auf die Debatte!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was in dem Antrag steht, ist entweder etwas, was wir
schon tun – ich füge hinzu, dass wir es besser tun, als Sie
es formuliert haben und es wollen –, oder es sind glatte
Luftnummern, also Dinge, die man aus grundsätzlichen
Überlegungen inhaltlich ablehnen muss. Es gibt bei der
CDU/CSU kein Konzept für Ostdeutschland. Das ist einer
der ersten großen Mängel – es gibt zwei –, die in Ihr Kon-
tor schlagen.

Mich erinnert Ihr Vorgehen übrigens immer mehr an
die Marx-Karikatur von Roland Beier aus dem Jahre
1990; ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern. Da
steht der kleine, dicke, knubbelige Marx mit den Händen
in den Hosentaschen, schaut auf die Landschaft und sagt:
„Tut mir leid, Jungs! War halt nur so ‘ne Idee von mir.“
Genau nach diesem Muster – so ist mein Eindruck – funk-
tioniert die programmatische Arbeit der Union.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist das Prinzip von Versuch und Irrtum, das sich of-
fensichtlich seit vielen Wochen durch Ihre programma-
tische Arbeit zieht. Ob es um die Steuerreform, die Neu-
verschuldung, die Ökosteuer, den Atomausstieg oder jetzt
um den Aufbau Ost geht: Überall Versuch und Irrtum!

Ich möchte an Folgendes erinnern – vorhin ist dies an-
gedeutet worden –: Ihr Vorschlag war ein 20-Milliarden-
DM-Programm. Dann gingen Sie in Klausur und dann ka-
men Bedenken: Das Geld haben wir eigentlich schon in
der letzten Legislaturperiode verausgabt. – Also Rückzug
von dieser Forderung. Es wurde von der Tagesordnung
abgesetzt.

Ein zweiter Vorschlag, den ich von Ihnen in den letzten
Wochen gehört habe: mehr Spielräume durch Neuver-
schuldung. Es gebe ein Schlupfloch in der Größenord-
nung von 2,3 Prozent; dieses müsse man aktivieren und
ausschöpfen. Dann gingen Sie in Klausur und dann kamen
die Bedenkenträger: Der Stabilitätspakt stammt von uns.
Dies geht nicht. Schulden haben wir zudem. – Also Rück-
zug von diesem Vorschlag. Er spielt keine Rolle mehr.

Dann kam ein dritter Vorschlag: Man wollte die Inves-
titionszulage kappen, um Investitionen im Hinblick auf
die Infrastruktur fördern zu können. Dann gingen Sie wie-
derum in Klausur. Ich nehme einmal an, dass dann Ihre
Mittelstandsorganisation sagte: Das ist nicht gut; wir sind
eigenkapitalschwach. Wir brauchen diese Hilfen. – Die
FDP hat das heute – das finde ich in Ordnung – richtig
kommentiert. Aber dieser Vorschlag ist noch immer Teil
der Programmatik der CDU/CSU. Sie mildern es offen-

sichtlich ab und sprechen jetzt von Rückzug; Sie nehmen
es wieder heraus.

Man könnte die Beispiele fortführen. Das Prinzip Ver-
such und Irrtum zieht sich bei Ihnen wie ein roter Faden
durch die Programmatik.


(Christoph Matschie [SPD]: Bei denen ist es ein schwarzer Faden!)


Das ist übrigens ein gutes Prinzip für naturwissenschaft-
liche Experimente, aber nicht für die Politik und schon gar
nicht für die Politik in Ostdeutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie sind aus dem Stadium einer programmatischen Selbst-
findungstruppe noch nicht heraus. Mal sehen, wie lange
das bei Ihnen noch dauert. – Das ist der erste Grundman-
gel.

Auch den zweiten Grundmangel will ich nicht unter-
schlagen. Es geht um den Mangel an Solidarität Ihres
Kandidaten gegenüber Ostdeutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie sollten einmal sagen, was Sie machen wollen! Ist doch peinlich! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist die blanke Angst, die da spricht!)


Das ist so, das müssen Sie sich anhören. Dafür gibt es eine
ganze Reihe von Beispielen.

An diesem Punkt möchte ich noch einmal auf den Län-
derfinanzausgleich zurückkommen.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie sind noch an der Regierung! Wir können ja auch wechseln, dann brauchen wir nicht bis September zu warten!)


Man muss es sich einmal auf der Zunge zergehen lassen,
dass Bayern 37 Jahre lang – die Öffentlichkeit sollte das
trotz Ihrer Zwischenrufe ruhig hören – Nehmerland war.
Als die Ostdeutschen 1989 aufgestanden sind und die
friedliche Revolution durchgeführt haben – das war der
erste Schritt zur deutschen Einheit –, wurde Bayern zum
ersten Mal Geberland.

1995 gab es den Einstieg in den gesamtdeutschen Risi-
kostrukturausgleich.


(Zuruf von der CDU/CSU: Warum wohl?)

Zwei Jahre später war Bayern das erste Land, das nach
Karlsruhe rannte, um eine Verfassungsklage einzurei-
chen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was Ihr Bundeskanzler damals gemacht hat, wollen wir hier nicht wiederholen!)


Das haben die Menschen nicht vergessen. Natürlich sagen
Sie immer, dass das mit Ostdeutschland nichts zu tun
habe, dabei gehe es ja nur um Gerechtigkeit usw. Wer das
behauptet, möge sich daran erinnern, was Herr Stoiber




Staatsminister Rolf Schwanitz

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(C)



(D)



(A)



(B)


noch vor einem halben Jahr als bayerisches Modell für die
Reform des Länderfinanzausgleichs vorgeschlagen hat.
Nach diesem Modell würden die neuen Bundesländer
7,8 Milliarden Euro weniger erhalten. So sieht Ihre Be-
troffenheit bezüglich Ostdeutschland aus; das ist Ihre In-
teressenlage.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist keine Vergangenheits-, sondern eine Gegen-
wartsbetrachtung. In der politischen Auseinandersetzung
muss diese erfolgen, weil das Handeln Ihres Kandidaten
entsprechend ist. Das haben wir aktuell beim Risiko-
strukturausgleich auf der politischen Agenda gesehen. Es
ist die Dublette zum Länderfinanzausgleich. Sie wissen
ganz genau, dass die Konsequenzen für die medizinische
Versorgung der Menschen und für die Lohnsituation der
Arbeitnehmer – ein direktes Hineingreifen in die Lohn-
tüte wäre die Folge – in Ostdeutschland katastrophal
wären. Eine Explosion der Lohnnebenkosten – Herr
Rauen, Sie haben davon gesprochen, dass die Kosten der
Arbeit zu hoch seien – wäre die unmittelbare Folge für
den Standort Ostdeutschland.


(Sabine Kaspereit [SPD]: So ist es!)

So handelt Ihr Kandidat aktuell.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich sage Ihnen deswegen: Wir werden Ihnen dabei
helfen,


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Reden Sie einmal über den Aufbau Ost!)


dass diese Unterschiede klar werden; denn die Menschen
müssen wissen, worüber sie im September abstimmen. Da
gibt es klare Alternativen. Der Aufbau Ost – dabei bleibt
es – ist für uns eine gesamtdeutsche Zukunftsaufgabe,


(Zuruf von der CDU/CSU: Erzählen Sie doch einmal, was Sie machen wollen! So ein Geschwafel!)


bei der solche Egoismen überhaupt keine Rolle spielen
dürfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Sie müssen nach vorne schauen!)


Mit dem Solidarpakt II haben wir den Einstieg ge-
macht. Diesen werden wir auch fortsetzen. Es bleibt da-
bei, dass wir die Investitionen in Bildung, Forschung und
Entwicklung sowie Innovationen auf der Grundlage soli-
der Haushaltsfinanzen verstärken werden.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Das ist doch Ratlosigkeit von Ihnen! – Klaus Brähmig [CDU/ CSU]: Sie haben keine neuen Ideen!)


Entgegen dem, was Sie in Ihrem Programm vorschlagen,
darf die Investitionsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft
nicht untergraben werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es bleibt auch dabei, dass wir den Infrastrukturausbau
verstärken


(Abg. Wolfgang Dehnel [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– ich bin gleich fertig, dann können Sie eine Kurzinter-
vention machen –, und zwar – so haben wir es auch ge-
sagt – konkret bezogen auf einzelne Maßnahmen. Wir
werden den Leuten nichts vom Wolkenkuckucksheim er-
zählen.


(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, dies alles werden wir auf

der Grundlage eines soliden Generationenvertrages ma-
chen; denn die faulen politischen Kompromisse, die die
Enkelgeneration bezahlen muss, müssen aufhören.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen dafür arbeiten, dass die Haushaltsfinanzen
gesunden, um nicht zuletzt auch für Ostdeutschland neue
Spielräume zu ermöglichen. Ich glaube, die Alternativen
sind klar. Die Menschen werden die Alternativen im Sep-
tember zu würdigen wissen. Dessen bin ich mir sicher,
Herr Nooke.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Günter Nooke [CDU/CSU]: Das sehen wir am 21. April in Sachsen-Anhalt! Sachsen-Anhalt ist der erste Beweis! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das war eine Nullnummer!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422803300
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Manfred Grund.


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1422803400
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege
Schwanitz hat sich wenig mit dem Bericht der Bundes-
regierung zum Stand der deutschen Einheit, sondern
wie seine Vorredner von der Koalition sehr viel mit der
Unionsfraktion und dem Kanzlerkandidaten beschäftigt.

Herr Kollege Schwanitz, wir sollten bei der Wahrheit
bleiben, insbesondere wenn Sie die Klage der Länder
Bayern und Baden-Württemberg gegen den Länderfi-
nanzausgleich ansprechen.


(Rainer Fornahl [SPD]: Vergessen Sie Hessen nicht, Herr Grund!)


Zu der Zeit, als die beiden Länder gegen die Ausgestal-
tung des Länderfinanzausgleiches geklagt haben, ist das
Land Hessen unter dem damaligen Ministerpräsidenten
Eichel, dem jetzigen Finanzminister, dieser Klage beige-
treten. Allen drei Ländern ging es nicht um den Transfer
von West nach Ost, sondern um die nicht mehr ver-
fassungsgemäße Ausgestaltung dieses Länderfinanz-
ausgleiches. Das Bundesverfassungsgericht hat dieser
Klage Rechnung getragen und uns allen gemeinsam auf-
getragen, den Länderfinanzausgleich neu zu ordnen, was
zur Zufriedenheit aller geschehen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)





Staatsminister Rolf Schwanitz
22632


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich finde es in einem Rechtsstaat sehr bedenklich,
wenn man jemanden, der seine verfassungsgemäßen
Rechte einklagt, beschuldigt, etwas Falsches zu machen,
oder ihm unterstellt, er wolle den neuen Bundesländern
das, was ihnen zusteht, nicht zukommen lassen. Herr Kol-
lege Schwanitz, ich wünsche mir gerade in diesem Punkt
ein bisschen mehr Wahrhaftigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir diskutieren heute eigentlich – das muss ich beto-

nen – in verbundener Debatte die Anträge von CDU/CSU
und FDP über den Aufbau der neuen Bundesländer und
den Jahresbericht 2001 der Bundesregierung zum Stand
der deutschen Einheit. Sie haben nichts Eigenständiges
vorgelegt. Dementsprechend waren, Herr Kollege
Schubert und Herr Kollege Schulz, Ihre Reden angelegt.
Das, was uns in den neuen Bundesländern umtreibt, kann
man durchaus als Sachverhalt auflisten, ohne dabei
schönzufärben oder schwarz zu malen.


(Rainer Fornahl [SPD]: Der Schwarzmaler sind Sie!)


Bei den heutigen Reden hat man den Eindruck, dass
wir offensichtlich nicht nur eine gespaltene Wahrneh-
mung, sondern auch eine gespaltene Wirklichkeit haben.
Wahrscheinlich reden wir von einem gespaltenen Land.


(Rainer Fornahl [SPD]: Sie, ja!)

Insoweit hätte der Bericht zum Stand der deutschen Ein-
heit mit „Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen
Deutschland“ überschrieben sein können. Diese Spaltung
ist nicht mehr allein ein Resultat der Spaltung von vor
1989. Seit 1998 klafft die Schere zwischen Ost und West,
die sich bis zu diesem Zeitpunkt etwas geschlossen hatte
– leider war es nicht genug –, wieder weiter auseinander.

Ich will Ihnen das anhand von zwei Grafiken beweisen,
weil vorhin der Zwischenruf kam: Sie glauben wahr-
scheinlich nur Ihren eigenen gefälschten Statistiken. Die
erste Grafik zeigt die Verteilung der Kaufkraft:
Deutschland ist zwischen Ost und West geteilt. Die letzte
Kaufkrafttabelle aus dem Jahr 2000 zeigte für den Osten
noch eine positivere Entwicklung als die von 2002. Das
heißt, die Kaufkraft in den neuen Bundesländern war
schon höher gewesen.

Ich zeige Ihnen die zweite Tabelle.

(Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Wetterkarte!)

– Es ist nicht die Wetterkarte, Kollege Schulz. Bitte neh-
men Sie das Ganze etwas ernster. – Diese Tabelle zeigt die
regionale Verteilung der Arbeitslosigkeit. Wie man se-
hen kann, ist Deutschland in Ost und West gespalten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD
und den Grünen, der weiße Fleck hier zeigt Ihre „Terra
incognita“, das unbekannte Land. Dieses Land, das Sie
links liegen gelassen haben, sind die neuen Bundesländer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Nach dreieinhalb Jahren rot-grüner Bundesregierung
geht die Schere zwischen Ost und West weiter auseinan-

der. Die Spaltung vertieft sich. Sie haben die neuen Bun-
desländer 1998 in einer besseren Verfassung vorgefunden,
als Sie sie im Jahre 2002 übergeben werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht: Am 21.April die-
ses Jahres wird in Sachsen-Anhalt Schluss mit lustig
sein. Dann steht nämlich das rot-rote Experiment in Sach-
sen-Anhalt zur Wahl und mit großer Wahrscheinlichkeit
zur Abwahl. Die Menschen in Sachsen-Anhalt haben
es nicht verdient, aufgrund der verfehlten Wirtschafts-,
Sozial- und Arbeitsmarktpolitik des Bundes und in Sach-
sen-Anhalt Schlusslicht in Deutschland zu sein. Wo Rot-
Rot draufsteht, ist die rote Laterne drin.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der SPD: Das war aber jetzt kreativ, Herr Kollege! – Lothar Mark [SPD]: Das haben wir in Berlin bei Diepgen gesehen!)


Ich möchte noch etwas zu den Unterschieden sagen.
Wir müssen uns Klarheit über die Ausgangssituation ver-
schaffen, um zu wissen, was wir zu tun haben. Das Wirt-
schaftswachstum schrumpft in den neuen Bundesländern
um 0,3 Prozent. Erstmals seit zehn Jahren geht damit das
Wirtschaftswachstum zurück. Die Schere geht weiter aus-
einander. Die Kluft wird größer. Auch im laufenden Jahr
rechnen die Wirtschaftsforschungsinstitute mit einem
zurückgehenden Wirtschaftswachstum.

Kollege Schulz, Sie haben vorhin gesagt, ein bisschen
Abwanderung, ein bisschen Wanderung hin und her, ein
bisschen Bewegung von Nord nach Süd, von Ost nach
West könne gar nicht schaden, denn irgendwann kämen
die alle mal wieder. Gleichzeitig haben Sie gesagt, trotz
Abwanderung und Rücknahme bei der zweiten Arbeits-
marktpolitik sei die Zahl der Arbeitslosen konstant ge-
blieben. Es kann sein, dass ich falsche Zahlen habe,


(Zurufe von der SPD: Mit Sicherheit!)

aber in diesem Jahr haben wir mit 19,2 Prozent Arbeitslo-
senquote die höchste Arbeitslosigkeit, die wir in den
neuen Bundesländern jemals gehabt haben. Wir haben uns
in der Differenz zu den alten Bundesländern vom 1,8-fa-
chen auf das 2,3-fache hoch bewegt. Die Schere ist also
bei der Arbeitslosigkeit auseinander gegangen; also nichts
von gleich bleibender Arbeitslosigkeit. Kollege Schulz,
schauen Sie sich die Zahlen einmal etwas genauer an.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Was uns gemeinsam am meisten umtreiben muss, ist die
Tatsache, dass auf 1,4 Millionen Arbeitslose in den neuen
Bundesländern gerade einmal 67 500 offene Stellen kom-
men, das heißt, auf jeden 22. Arbeitslosen kommt eine of-
fene Stelle. Wer angesichts dieses Umstandes eine derart
unstrukturierte Debatte über den Abbau der Arbeitsmarkt-
politik am zweiten Arbeitsmarkt lostritt und gleichzeitig
noch stolz darauf ist, das von 450 000 auf 140 000 herun-
tergefahren zu haben, dem fehlt die notwendige Ernsthaf-
tigkeit, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)





Manfred Grund

22633


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Kollege Schwanitz, Sie haben gefragt: Wo sind
Ihre neuen Konzepte? Es sind einige Punkte dabei, die
auch in unserem Antrag stehen. Vieles davon haben wir
schon bis 1998 gemacht. Man muss nicht alles neu erfin-
den, kann es aber konsequenter fortführen und einige Feh-
ler, die Sie in den letzten vier Jahren gemacht haben, ab-
stellen. Ich nenne als Beispiel die Infrastruktur. Nach
wie vor bleiben wir dabei: Ein Vorziehen des Ausbaus der
Infrastruktur wäre eine große Hilfe für Standorte in den
neuen Bundesländern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christoph Matschie [SPD]: Bringen Sie das Herrn Stoiber bei! Der hat das längst abgelehnt!)


Mein Kollege Peter Rauen hat davon gesprochen, dass
ungefähr 15 Prozent der Produktivitätslücke auf eine
mangelnde Infrastruktur zurückzuführen sind. Wir wollen
diese Infrastrukturlücke und damit auch die Produkti-
vitätslücke schneller schließen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie machen es halt nicht, Herr Kollege Fornahl. Sie haben
eines der wichtigsten Infrastrukturprojekte in den neuen
Bundesländern, nämlich die ICE-Trasse von München
über Nürnberg, Erfurt nach Berlin, vor drei Jahren ohne
Begründung gestoppt, sie drei Jahre verzögert und stellen
sich nun als Erfinder des Ganzen hin.

Wenn die Frage gestellt wird, wie das Ganze zu finan-
zieren ist, muss ich Ihnen sagen: Während die ICE-Trasse
in Thüringen gestoppt wurde, wird parallel in derselben
Zeit eine ICE-Neubaustrecke von Frankfurt am Main
nach Köln gebaut. Die Baukosten für dieses Projekt haben
sich verdoppelt und kein Mensch von euch hat gefragt,
woher das Geld kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lothar Mark [SPD]: Das ist doch von Ihnen konzipiert gewesen! Wenn Sie die Kosten zu niedrig ansetzen, ist das Ihre Sache!)


Ausgerechnet in den neuen Bundesländern ist gespart
worden. Wichtig ist also das Vorziehen der Infrastruk-
turmaßnahmen. – Das ist mein erster Punkt.

Zweiter Punkt: Viele Projekte in den Kommunen – da-
von ist heute noch nicht gesprochen worden – liegen auf
Eis und können nicht ausgeführt werden, weil die Kom-
munen in den neuen Bundesländern offensichtlich nur
über ein Drittel bis zur Hälfte der Steuerkraft verfügen,
die die Kommunen in den alten Bundesländern haben.
Eine Investitionspauschale für Infrastrukturmaßnahmen
der Kommunen wäre ein Ansatz, der gangbar und finan-
zierbar ist.


(Rainer Fornahl [SDP]: Die Länder können das doch machen!)


Ich sehe, dass der Präsident mir andeutet, dass meine
Redezeit zu Ende ist. Ich nenne deshalb nur noch ein paar
Stichpunkte: multisektorale Beihilfen, Arbeitsbeschaf-
fungsprogramme für Langzeitarbeitslose und für ältere
Menschen wie die 50-plus-Programme in Sachsen und

Thüringen. Hier ist beispielhaft gezeigt worden, dass man
sich auf Schwerpunktbereiche am Arbeitsmarkt konzen-
trieren und Mittel für Investitionen freisetzen kann. Nicht
umsonst stehen die unionsgeführten Länder Sachsen und
Thüringen besser da, als die von Ihnen geführten Länder.
Wir wollen nach dem 22. September mit den neuen Bun-
desländern den Strukturwandel nach dem Beispiel Bay-
erns und Baden-Württembergs vollziehen. Davor fürch-
ten wir uns nicht. Ihre Zeit geht langsam zu Ende.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1422803500
Als letz-
ter Redner dieser Debatte hat der Kollege Christian
Müller für die Fraktion der SPD das Wort.


Christian Müller (SPD):
Rede ID: ID1422803600
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als letztem Red-
ner in dieser Debatte fällt mir sicherlich die Aufgabe zu,
auf die eine oder andere Argumentation näher einzuge-
hen.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das muss nicht sein!)


Damit komme ich schon zu dem Thema „Scheren und
Weggabelungen“. Diese Bilder werden hier in ausrei-
chendem Maße bemüht. Sie sind aber nach wie vor falsch.
Ich empfehle Herrn Grund, der sehr ausführlich über die-
ses Thema gesprochen hat, dringend, mit solchen Argu-
menten etwas vorsichtiger umzugehen.


(Jürgen Türk [FDP]: Aber es trifft zu!)

Denn man sollte auch einen Blick auf die Zahlen von 1996
oder 1997 werfen, wenn es um die Begründung geht,
wann und wie irgendwelche Scheren auseinander gegan-
gen sind. Dafür gibt es noch andere Interpretationsmög-
lichkeiten, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Herr Rauen hatte – eigentlich zu Recht – dankenswer-
terweise auf die bestehenden Infrastrukturlücken hin-
gewiesen. Das ist nach meinem Dafürhalten ein sehr
wichtiges Thema und wir sind uns wohl alle darüber klar,
dass hinsichtlich der weiteren Entwicklung Ostdeutsch-
lands sehr viel davon abhängt, dass diese Lücken ge-
schlossen werden. Darin sind wir sicherlich einer Mei-
nung. Insofern besteht kein Dissens zwischen uns.

Der Dissens beginnt aber vielleicht an einer anderen
Stelle. Ich darf in diesem Zusammenhang an den alten
Bundesverkehrswegeplan erinnern, der eine riesige An-
zahl von Projekten beinhaltet, die – wie bei näherer Be-
trachtung deutlich wird – nicht vorangekommen sind,
weil entweder die Planungsvorleistungen nicht stimmten
oder möglicherweise die Finanzierung nicht gewährleistet
war.


(Beifall bei der SPD)

Ich erwähne in diesem Zusammenhang, dass wir genau

das auf solide Beine gestellt haben und auch mit unserem




Manfred Grund
22634


(C)



(D)



(A)



(B)


Zukunftsinvestitionsprogramm in diese Richtung zie-
len. Ich bitte um Nachsicht für meine Empfehlung, sich
dieses Programm noch einmal in Erinnerung zu rufen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Welche Projekte im Osten sind denn im ZIP drin?)


Ich meine, wir sind auf dem Weg, die bestehenden In-
frastrukturlücken zu schließen. Das ist eine wichtige und
ernst zu nehmende Aufgabe.

Ich komme nun auf die Rede der Kollegin Pieper zu
sprechen. Sie sind mit einer ausgeprägten Aufforderungs-
rede an uns herangetreten.


(Cornelia Pieper [FDP]: Die tat Not!)

Ich darf vielleicht im Zusammenhang mit der For-
schungsinfrastruktur auf Sie eingehen. In der Debatte
über den vorliegenden Bericht haben Sie offenbar überse-
hen, dass die Bundesregierung in diesem Zusammenhang
eine klare strategische Entscheidung für Bildung und For-
schung getroffen hat, indem sie nämlich den Bundeshaus-
halt im Jahr 2001 – darüber reden wir schließlich – auf
knapp 16 Milliarden erhöht hatte. Das ist ja wohl keine
Kleinigkeit.


(Beifall bei der SPD – Cornelia Pieper [FDP]: Sie haben das Problem nicht verstanden! Das reicht nicht aus!)


Für die neuen Länder werden dafür 3,4 Milliarden bereit-
gestellt.


(Rainer Fornahl [SPD]: Euro!)

Das macht immerhin 21 Prozent des Gesamtetats bei ei-
nem Bevölkerungsanteil von 19 Prozent aus und beweist
sicherlich, dass dieser Schwerpunkt als solcher erkannt
wird.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Die FDP hat ein eingeschränktes Wahrnehmungsvermögen an dieser Stelle!)


Dass die Förderung der regionalen Innovationsbünd-
nisse fortgesetzt wird – darauf hat die Frau Bundesminis-
terin für Forschung in diesen Tagen in ihrer jüngsten Pres-
semitteilung hingewiesen –, macht deutlich, dass es
tatsächlich diese Schwerpunkte sind, die die Politik unse-
rer Bundesregierung bestimmen.


(Dr. Mathias Schubert [SPD]: Genau!)

Wenn Sie das bestreiten, sind Sie nach meinem Dafürhal-
ten auf dem falschen Dampfer.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Des Weiteren hatten Sie angeführt, wir seien gewisser-
maßen diejenigen, die die großen Konzerne subventio-
nierten. Das klingt vielleicht schön, aber die Gewinner der
Steuerreform sind Arbeitnehmer und Familien mit Kin-
dern sowie die mittelständischen Unternehmen. Dabei
handelt es sich nicht um Wahlkampfrhetorik, sondern das
ist eine Tatsache. Von den bisher beschlossenen Steuerre-
formmaßnahmen seit 1998 im Gesamtumfang von rund
57 Milliarden Euro werden die Privathaushalte um
41,7 Milliarden Euro und der Mittelstand um 15,8 Milli-

arden Euro steuerlich entlastet. Die Großunternehmen,
von denen Sie sprachen, belasten wir sogar mit 0,8 Milli-
arden Euro.


(Cornelia Pieper [FDP]: Was ist mit den Alleinerziehenden?)


Im Übrigen hoffe ich, dass auch Sie dafür sind, dass wir
in Deutschland wettbewerbsfähige Unternehmen behal-
ten.


(Cornelia Pieper [FDP]: Holzmann ist kein wettbewerbsfähiges Unternehmen!)


Unter diesem Aspekt sollten Sie vielleicht auch einmal die
Steuerreform sehen.

Enttäuscht bin ich darüber, dass niemand von Ihnen das
Wort Solidarpakt in seiner Rede überhaupt verwendet
hatte. Der Kollege Schulz hat das bereits zu Recht aus-
führlich gewürdigt. Sie müssen zur Kenntnis nehmen,
dass mit der Perspektive bis 2020 und dem Mittelrahmen,
den Sie nachlesen können, zum ersten Mal eine klare An-
passungsperspektive der neuen Bundesländer formulier-
bar geworden ist. Sie können daran mitwirken, dass die
Bundesländer, aus denen Sie kommen, mit den Mittelzu-
weisungen vernünftig umgehen. Sie wissen, dass zur In-
frastrukturausstattung durchaus einige Anmerkungen zu
machen wären.

Abschließend komme ich auf die Entwicklung einer
modernen Wirtschaftsinfrastruktur zu sprechen; dieses
Thema spielt in dem Bericht eine große Rolle. Die
Bauwirtschaft – hier handelt es sich in der Tat um eine
Weggabelung –, die bisher einen wesentlichen Beitrag ge-
leistet hatte, befindet sich in einem schmerzlichen Anpas-
sungsprozess und wird nun durch andere Auftriebskräfte
abgelöst. Das verarbeitende Gewerbe ist jetzt der Träger
der wirtschaftlichen Entwicklung. Sein Anteil am Brut-
toinlandsprodukt lag im letzten Jahr mit 15,2 Prozent
deutlich höher als der des Baugewerbes mit 9,6 Prozent.
Diese Entwicklung führt in die Zukunft; wir müssen sie
auch politisch stärken und unterstützen.


(Beifall bei der SPD)

In diesem Zusammenhang rufe ich unverdächtige Zeu-

gen auf, weil Aussagen ostdeutscher Unternehmer aus der
Industrie, die in Umfragen zum Thema Wettbewerbs-
fähigkeit dokumentiert werden, ganz interessant sind:
Folgt man der Meinung der Unternehmen, dann ist die
ostdeutsche Industrie inzwischen größtenteils durchaus
wettbewerbsfähig. Knapp ein Drittel der Unternehmen
glaubt immerhin einen Vorsprung im Wettbewerb zu ha-
ben. Die meisten meinen, wenigstens ebenso stark wie die
Konkurrenz dazustehen. Vor allen Dingen empfinden sich
die im Fernabsatz engagierten Unternehmen als gut posi-
tioniert. Das heißt, die ostdeutsche Industrie hat große
Fortschritte in der Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähig-
keit gemacht. Natürlich ist auch ihre Konjunkturabhän-
gigkeit in gleichem Maße gewachsen, was sich in diesem
Jahr sehr gut beobachten lässt. Selbst wenn wir die zu
schmale Basis der ostdeutschen Industrie beklagen müs-
sen, gibt es dort doch positive Entwicklungen.


(Beifall bei der SPD)





Christian Müller (Zittau)


22635


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Präsident, ich sehe das rote Licht blinken und
komme zum Schluss. – Summa summarum: Sie kritisie-
ren unseren Jahresbericht, der zugleich ein politisches
Programm für die Zukunft enthält, zu Unrecht, meine Da-
men und Herren. Sie sollten eigentlich Ihre Anträge an die
Ausschüsse zurückverweisen und zum Wiederaufruf vor-
legen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Rainer Fornahl [SPD]: Einstampfen!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422803700
Ich schließe
die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschus-
ses für Angelegenheiten der neuen Länder auf Drucksa-
che 14/8568 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel „Deutschland 2015 – Aufbau Ost als Leit-
bild für ein modernes Deutschland“. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6038 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP angenommen.

Tagesordnungspunkt 19 b: Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/4689 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Uranerzbergbau-Schäden beseitigen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3373 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen gegen die Stimmen von CDU/CSU und PDS bei Ent-
haltung der FDP angenommen.

Tagesordnungspunkt 19 d: Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Angelegenheiten der neuen Länder zu dem Jahresbericht
2001 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Ein-
heit, Drucksachen 14/6979 und 14/8620. Der Ausschuss
empfiehlt, die Unterrichtung durch die Bundesregierung
zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-

(Vermittlungsausschuss)

rektzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen
Agrarpolitik (Modulationsgesetz)

– Drucksachen 14/7252, 14/7812, 14/8190,
14/8630 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Wieczorek

Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Das
ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung ge-
wünscht? – Auch das ist nicht der Fall.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-
schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord-
nung beschlossen, dass über die Änderungen im Deut-
schen Bundestag gemeinsam abzustimmen ist. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungs-
ausschusses auf Drucksache 14/8630? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ange-
nommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlusssempfehlung des Aus-

(Vermittlungsausschuss)

von streckenbezogenen Gebühren für die Be-
nutzung von Bundesautobahnen mit schweren
Nutzfahrzeugen
– Drucksachen 14/7013, 14/7087, 14/7822,
14/8189, 14/8631 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm Schmidt (Salzgitter)


Wird das Wort zur Berichterstattung oder zur Er-
klärung gewünscht? – Das ist nicht der Fall.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-
schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord-
nung beschlossen, dass auch über diese Änderungen im
Parlament gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
auf Drucksache 14/8631? – Gegenprobe! – Enthaltungen?
– Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Fraktion der PDS
angenommen.

Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 20 a und
20 b sowie 20 d und 20 e auf:
a) – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-


(3. Ausschuss)

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem NATO-geführten
Einsatz auf mazedonischem Territorium zum
Schutz von Beobachtern internationaler Orga-
nisationen im Rahmen der weiteren Implemen-
tierung des politischen Rahmenabkommens
vom 13. August 2001 auf der Grundlage des Er-
suchens der mazedonischen Regierung vom
8. Februar 2002 und der Resolution Nr. 1371

(2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Na-

tionen vom 26. September 2001
– Drucksachen 14/8500, 14/8624 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch)





Christian Müller (Zittau)

22636


(C)



(D)



(A)



(B)


Karl Lamers
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Helmut Haussmann
Wolfgang Gehrcke

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 14/8632 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Titze-Stecher
Dietrich Austermann
Antje Hermenau
Dr. Werner Hoyer
Dr. Christa Luft

b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und
Assoziierungsabkommen zwischen den Euro-
päischen Gemeinschaften und ihren Mitglied-
staaten einerseits und der ehemaligen jugosla-
wischen Republik Mazedonien andererseits
– Drucksache 14/7766 –

(Erste Beratung 212. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses (3. Ausschuss)

– Drucksache 14/8512 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Heubaum
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Helmut Haussmann
Wolfgang Gehrcke

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

ordneten Ina Albowitz, Hildebrecht Braun

(Augsburg), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordne-

ter und der Fraktion der FDP zu dem Antrag der
Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedo-
nischem Territorium zum Einsammeln und
Zerstören der Waffen, die durch die ethnisch
albanischen bewaffneten Gruppen freiwillig
abgegeben werden
– Drucksachen 14/6830, 14/6835, 14/6838,
14/7534 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Christian Schmidt (Fürth)

Dr. Helmut Lippelt
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


tion der CDU/CSU zu dem Antrag der Bundesre-
gierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedo-
nischem Territorium zum Einsammeln und
Zerstören der Waffen, die durch die ethnisch
albanischen bewaffneten Gruppen freiwillig
abgegeben werden
– Drucksachen 14/6830, 14/6835, 14/6839,
14/7535 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Christian Schmidt (Fürth)

Dr. Helmut Lippelt
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke

Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Bundesregierung auf Fortsetzung der Beteiligung bewaff-
neter deutscher Streitkräfte am Einsatz in Mazedonien, zu
der ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
vorliegt, werden wir später namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Das Haus ist damit
einverstanden. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne somit die Aussprache und gebe als erstem
Redner dem Kollegen Gert Weisskirchen das Wort für die
SPD-Fraktion.


Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1422803800
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie mussten wir
alle um die Existenz Mazedoniens zittern! So lange ist das
noch nicht her. Noch im Frühjahr des letzten Jahres droh-
ten Morde und brutale Überfälle von politischen Hasar-
deuren den inneren Frieden zu zerbrechen. Zerbrechlich
genug war er allerdings schon zuvor.

Dieses kleine Land mit seiner großen Geschichte fühlt
sich eingezwängt zwischen Bulgarien und Albanien, zwi-
schen Serbien und Griechenland. Lange, allzu lange, ha-
ben die Nachbarn Blicke – begehrliche zumal, skeptische
auch – auf das Land geworfen und die Würde der 2 Mil-
lionen Menschen ist dabei nicht geachtet worden. Wir ha-
ben dazu beigetragen, dass diese Zeit vorbei ist, und das
ist ein gutes Ergebnis.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [FDP] – Hildebrecht Braun [Augsburg] [FDP]: Wo er Recht hat, hat er Recht!)


Von Trauma zu Trauma war dieses kleine Land durch
den Lauf der Geschichte getrieben worden. In das histori-
sche Gedächtnis dort hat sich die Angst eingegraben zu
verschwinden. Die endlosen Kriege, die Zeit der ethni-
schen Säuberungen in vielen Jahrzehnten und Jahrhun-
derten haben – leider – diese Menschen geprägt. Diese
Angst, zu verschwinden, kann immer neu mobilisiert
werden. Leider wird es auch immer wieder politisch Ver-
antwortungslose geben, die diese Angst mobilisieren und
dafür sorgen möchten, dass sich ihre eigene Macht gegen




Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters

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die Interessen des Volkes durchsetzt. Dass das vorbei ist,
ist auch ein Ergebnis, das ich gut finde.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein anderes wird häufig nicht klar genug gesehen. Was
war denn die Zeit vorher, vor 1991, als Mazedonien end-
lich die wirkliche politische Gestalt gefunden hat? Es war
ein schlimmes Erbe, das in vielen Teilen der gesamten Re-
gion leider immer noch lebendig ist. Es war das Erbe Ti-
tos – ethnisch begründete Nationalismen im Innern und
von außen überwölbt von einem Mythos, dem Mythos des
Jugoslawismus. Milosevic war es, der über die Mobili-
sierung virtuos versucht hat, etwas zu retten – vorgeb-
lich –, nämlich den Mythos, aber in einer nationalisti-
schen Gestalt, in der Gestalt Serbiens. Auch das ist zu
Ende. Wir haben dazu beigetragen, dass dies zu Ende ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [FDP])


Lange Zeit, auch in der Zeit nach 1991, sah es so aus,
als wenn Mazedonien ein Modell des inneren Ausgleichs
sein könnte. Auch hoch aufgeladene Konflikte konnten im
Rahmen der politischen Ordnung gehalten werden und
mit den Mitteln des legitimen Streits ausgefochten wer-
den. Als jedoch im Winter des letzten Jahres – daran ist zu
erinnern – Extremisten der UCK begannen, militärische
Gewalt einzusetzen, und die mazedonische Armee unan-
gemessen darauf antwortete, schien die Gefahr zu explo-
dieren. Diese Gefahr konnte nur eingedämmt werden,
weil es eine Koalition der Vernunft im Innern gegeben
hat. Sie hat die internationale Staatengemeinschaft gebe-
ten, eine Koalition der Vernunft von außen zu bilden und
sich mit der Koalition im Innern zu verbinden. Auch das
ist gelungen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es gibt nun
eine Koalition im Innern dieses Landes Mazedonien und
es gibt eine Koalition der Vernunft von außen. Beide ha-
ben sich verbunden. Wenn diese beiden Koalitionen ver-
nünftig miteinander kooperieren, dann – auch das ist eine
Lehre aus diesen Konflikten – hat der Frieden eine
Chance.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Koalition der Vernunft im Innern hat uns in der
Mitte des letzten Jahres gefragt, ob wir bereit sind, den
Menschen in Mazedonien zu helfen. Wir haben nach lan-
gem Ringen – ich sehe hier einige Kolleginnen und Kol-
legen, die auch mit sich selbst gerungen haben – eine ver-
nünftige Antwort auf diese Frage gegeben.

Sieben Monate liegt es nun zurück, dass Mitte August
letzten Jahres in Ohrid das Abkommen verabschiedet
werden konnte. Das war die entscheidende Wende. Dieses
Abkommen hat eine Bresche in die Mauer des Nationa-
lismus geschlagen und es hat den Weg für Reformen frei
gemacht – damit die Demokratie gestärkt wird, damit die
Minderheiten geschützt werden, damit der wirtschaftliche
Aufschwung beginnt, damit Flüchtlinge eine Heimat fin-
den, damit sich die Polizei für die ethnische Verschieden-

heit öffnet und damit sich die Streitkräfte international
einpassen. Dies ist eine Erfolgsgeschichte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das Ziel der Bundesregierung und des gesamten Hau-
ses war es, Mazedonien dabei zu helfen, sich selbst zu sta-
bilisieren. Gelingen wird dies, wenn die Region Südost-
europa zur Ruhe kommt und den eingeschlagenen Weg
der Selbstzivilisation beibehält. Das ist ein ehrgeiziges
Ziel. Wir tragen zu seiner Verwirklichung mit dem Stabi-
litätspakt sowie mit Stabilisierungs- und Assoziierungs-
abkommen bei und eröffnen, gemeinsam mit den regio-
nalen Partnern, eine neue Perspektive.

Die Regierungskoalition hat die Bundesregierung auf-
gefordert, ein umfassendes Rahmenkonzept zur Stabili-
sierung der Region vorzulegen. Das ist geschehen. Die
Mitglieder der EU haben sich darauf verständigt. Diese
Bundesregierung aber hat diese Instrumente erfunden; so
konnte von innen die Situation stabilisiert werden und
Friede Fuß fassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lieber Kollege Rühe, lieber Kollege Lamers, erinnern
Sie sich noch an die Reden, die Sie vor einem Jahr gehal-
ten haben?


(Karl Lamers [CDU/CSU]: Alle richtig!)

Sind denn die apokalyptischen Ereignisse eingetreten, die
Sie hier aufgezeigt haben? Der Frieden hatte eine Chance,
weil die Regierungskoalition und die Regierung richtig
gehandelt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Karl Lamers [CDU/CSU]: Anders als Sie neige ich nicht zur Apokalypse!)


Die dortigen Reformkräfte wurden ermutigt, eine Tür
zum Frieden wurde aufgestoßen. Die Europäische
Union, die NATO, die OSZE und der Europarat arbeiten
eng zusammen. Diese internationalen Organisationen
setzen wechselseitig ihre Fähigkeiten ein, damit die
Menschen in der Region ihren Weg nach Europa finden
können.

Nichts beleuchtet die positive Entwicklung besser als
die gestrige Meldung von Reuters aus Skopje: Die Regie-
rung in Skopje

plant offenbar eine neue Runde zum Einsammeln
illegaler Waffen und will sie mit einem weiteren
Amnestieangebot verbinden.

Ist das nicht eine Erfolgsmeldung aus dieser Region?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Schauen wir uns einmal die Medienberichte genauer
an: Vor einem Jahr waren die Meldungen von apokalypti-
schen Vorstellungen geprägt. Heute fragt man sich, wo die
Berichte der Medien über die Fortschritte des Friedens-
prozesses in Mazedonien bleiben. Es ist auch eine Bring-




Gert Weisskirchen (Wiesloch)

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schuld der Medien, darüber zu berichten, dass der Frieden
einen festen Boden gefunden hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Das interessiert die Medien nicht!)


Wir wissen sehr wohl – lieber Kollege Gehrcke, Sie
werden ja nachher das apokalyptische Bild weitermalen –,
dass es in der Nähe von Kumanovo im Norden, Tetovo im
Nordwesten und Gostivar im Mittelwesten im Dezember
noch Schüsse gegeben hat. Und doch ist das richtig, was
Vlado Popovski, der mazedonische Verteidigungsminis-
ter, sagte. Er erkannte im Dezember nach diesen Ereig-
nissen schon einen „Trend zur Verringerung der Span-
nungen, ein Nachlassen der Energie von Attacken“. Das
ist eine positive Nachricht.

Was ist mit den Ängsten geschehen und was ist aus den
apokalyptischen Bildern geworden, die noch vor wenigen
Monaten bei uns verbreitet wurden? Wir haben doch ge-
spürt, dass man sich nicht nur dort, sondern auch hier Sor-
gen über die weitere Entwicklung dieses Landes macht.
Ein großer Teil der Ängste aber konnte abgebaut werden.
Die beständige Fähigkeit zur inneren Reform der Maze-
donier ist der Schlüssel zum Erfolg und der Grund für die
Festigung des Friedens in dieser Region.

Die Kolleginnen und Kollegen im Parlament in Skopje
– das sollten wir hier einmal deutlich sagen – sind einen
schweren Weg gegangen. Sie haben das Abkommen von
Ohrid durchgesetzt und die Verfassung geändert. Sie ha-
ben sich auf diesem Weg zum Teil fast selbst verleugnet.
Warum haben sie das gemacht? – Weil es einen Unterschied
zwischen tagespolitischem und staatsmännischem Handeln
gibt. Sie haben bewiesen, dass sie den Weg zum Frieden
über die Integration in Europa gegangen sind. Deswegen
werden wir, die SPD-Bundestagsfraktion, den Antrag der
Bundesregierung unterstützen. Mazedonien muss eine
Chance haben, einen festen Platz in der Familie der euro-
päischen Demokratien einzunehmen und zu festigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422803900
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dr. Christian
Schwarz-Schilling.


Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU):
Rede ID: ID1422804000
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Weisskirchen,
Sie brauchen sich gar nicht so zu ereifern.


(Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das macht der immer so! – Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Ich kann nicht anders!)


Dadurch, dass wir als Opposition vernünftigen Vorstel-
lungen dieser Bundesregierung zustimmen, sind wir in ei-
ner ganz anderen Position. Denken Sie einmal an die Ge-
schichte des Balkans in der letzten Dekade! Ich gratuliere
Ihnen zu Ihrer Lernfähigkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die möchte ich Ihnen attestieren.
Diese Debatte über den Balkan ist von einer besonde-

ren Bedeutung, weil die Europäische Union eine ganz an-
dere Verantwortung trägt, als es früher der Fall war. Ich
möchte darauf hinweisen, welche Lektionen wir erst ler-
nen mussten:

Erste Lektion: Europa muss Verantwortung für den
Balkan übernehmen. Das war in der Vergangenheit kei-
neswegs so. Sie wissen, dass Sie schon aufgrund der
lächerlich kleinen Verantwortung, die wir Anfang der
90er-Jahre durch unseren geringen Beitrag zu den Ge-
schehnissen in der Adria geleistet haben, einen riesigen
Verfassungsprozess in Gang gesetzt haben, um selbst die-
sen Beitrag zu verhindern. Damals war bei Ihnen von Ver-
antwortung nichts zu spüren.

Lieber Kollege Fischer, Sie sagen immer wieder: Wir
haben das alles schon vor dem Krieg im Kosovo richtig ein-
geschätzt. Ich muss Ihnen sehr deutlich sagen: Sie haben
Ihre Wende erst nach der Tragödie in Bosnien vollzogen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich erinnere an die Tausende von Toten, an die Zerstörung
von 800 Moscheen und vieler Kulturgüter. All das ist pas-
siert, bevor Sie an die entsprechenden Orte gefahren sind,
um sich das Ganze anzuschauen. Das war kein großes
Kunststück. Man hätte früher eingreifen müssen. Ich gebe
gern zu, dass man das in diesem Hohen Haus vorher ge-
meinsam nicht erkannt hat; aber das gilt für Sie doch ge-
nauso. Daher sollten Sie jetzt nicht immer wieder sagen:
Aber ich habe es schon vorher erkannt. Das ist ein biss-
chen blauäugig.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Warum sind Sie denn aus der Regierung ausgeschieden?)


Zweite Lektion: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlich-
keit und Menschenrechte breiten sich nicht von selbst aus.
Das gilt auch nach dem Zusammenbruch des Imperiums
der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges. Dafür
muss gekämpft werden, und zwar in jeder Generation;
sonst verlieren wir diese Werte.

Dritte Lektion: Wir brauchen Verständnis und Geduld.
Europa hat Jahrhunderte gebraucht, ehe es die Prinzipien
der Menschenrechte und des Rechtsstaats entwickelt und
erhalten hat. Selbst nachdem man Jahrhunderte lang da-
ran gearbeitet hatte, ist im 20. Jahrhundert alles zerstört
worden und wir sind in die Barbarei zurückgefallen. Das
zeigt, wie verantwortungsvoll jede Generation sein muss,
um so etwas zu verhindern.

Ich möchte jetzt auf die Vorlagen eingehen, die sich mit
der Zukunft von Amber Fox und des Gesamtkonzepts für
Südosteuropa beschäftigen. Wir müssen zunächst einmal
die gemeinsame Verantwortung Deutschlands und seiner
europäischen Partner für diese Region intensivieren. Der
Verlängerung der NATO-Operation „Amber Fox“ um drei
Monate und der weiteren Entsendung deutscher Streit-
kräfte nach Mazedonien stimmt die CDU/CSU-Fraktion
selbstverständlich zu. Das möchte ich hier einmal deutlich
erklären.


(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])





Gert Weisskirchen (Wiesloch)


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Diese Operation wird weiterhin als gut, sinnvoll und not-
wendig betrachtet. Sie bekommen jede Unterstützung, die
notwendig ist, um das zum Ausdruck zu bringen. Letztlich
sichern wir damit das Rahmenabkommen vom 13.August
2001. Das wissen wir. Wir wissen auch, dass wir in Ma-
zedonien zum ersten Mal auf dem Balkan präventiv einen
Krieg verhindert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dabei hatten Sie die volle Unterstützung der Opposition,
obwohl es auch bei uns – wie Sie es immer für sich rekla-
mieren – einige gab, die sich schwer getan haben. Ich habe
mich Anfang der 90er-Jahre schwer getan, als es hier noch
sehr wenigen so ging.


(Peter Zumkley [SPD]: Stimmt!)

Gerade weil Deutschland die Führungsrolle über-

nimmt, müssen wir uns auch über die Strategie der Mis-
sion nach dem 26. Juni im Klaren sein. Dafür hat die EU
letzte Woche in der Erklärung des Europäischen Rates
in Barcelona zwar Weichen gestellt; aber das ist noch
immer nicht endgültig in trockenen Tüchern. Das möchte
ich hier einmal sagen; das werden wir noch sehen. Sie ist
sich ihrer Verantwortung für die Stabilisierung, die Aus-
söhnung und den Wiederaufbau Mazedoniens bewusst
– so heißt es – und deshalb bereit, im Anschluss an die
NATO-Mission die militärische Führung zu übernehmen.
Dies entspricht im Übrigen der schon früher gestellten
Forderung der CDU/CSU, eine etwaige Folgemission un-
ter die Führung der europäischen Sicherheits- und Vertei-
digungspolitik zu stellen.

Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, sich in
der EU und bei der NATO nachdrücklich dafür einzuset-
zen, dass eine militärische Führung im Sinne der europä-
ischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zustande
kommt. Wir fordern von der Bundesregierung des Weite-
ren, dass sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt zusammen
mit den EU- und NATO-Partnern die Berlin-plus-Ver-
einbarung für die EU-NATO-Zusammenarbeit mit Le-
ben erfüllt und sie tragfähig macht. Dies entspricht den
Forderungen des Rates von Barcelona, soweit es hier eben
dargestellt wurde.

Bereits im letzten Jahr hat die EU in Laeken die Ein-
satzfähigkeit der europäischen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik erklärt. Das ist ein großer Unterschied zu
dem, was noch vor zwei Jahren war. Da sprachen wir über
die Exitstrategie der Amerikaner und darüber, was über-
haupt zu tun sei. Jetzt sprechen wir nicht von einer Sepa-
rierung von der NATO, sondern davon, dass wir in Europa
eine Prioritätensetzung vorzunehmen haben und Europa
dabei in eine besondere Verantwortung tritt, natürlich in
Zusammenarbeit mit der NATO und nicht etwa getrennt
von ihr. Das ist eine völlig andere Konstellation, die von
Amerika genauso gesehen wird. Auch das ist ein riesiger
Fortschritt gegenüber dem, was vorher war.

Deswegen fordere ich Sie auf, sich den Ent-
schließungsantrag der CDU/CSU anzuschauen, der genau
das zum Gegenstand hat, und uns dabei Ihre Unterstüt-
zung zu verleihen, so wie wir Ihnen die unsere verleihen.

Nun lassen Sie mich etwas über den Bericht der Bun-
desregierung über eine politische und ökonomische Ge-
samtstrategie für die Balkanstaaten und Südosteuropa sa-
gen. Der Stabilitätspakt war sicherlich richtig; die Idee
war gut. Ein Kernelement jeder Strategie für Südosteu-
ropa muss allerdings eine Weiterentwicklungsperspektive
sein. Wir stellen fest, dass es mit der Aussage, Stabilität
erreichen zu wollen, nicht getan ist. Das Kernelement die-
ser Strategie muss sich auf die verschiedenen Bereiche der
militärischen Absicherung, der wirtschaftlichen Stabilität,
der sozialen Mindestversorgung und der entsprechenden
Menschenrechts- und vor allen Dingen der Rechtsstaats-
entwicklung beziehen. Wir stellen fest, dass es in Kroa-
tien, Bosnien, Bulgarien und Albanien noch immer natio-
nalistische Parteien gibt. Dass es diese Parteien noch
gibt, ist nicht das Schlimme; das können wir uns nicht
aussuchen. Aber dass sie noch Macht ausüben, die durch-
aus nicht überall demokratisch legitimiert ist, das müssen
wir uns jeweils genau anschauen. Da müssen wir dann
auch handeln. Dabei sind wir leider Gottes sehr wenig
mutig; das kann man daraus ersehen, dass es zwar rechts-
staatliche Strukturen, aber keine Verurteilung der Kriegs-
verbrecher gibt. Was haben wir denn in Bosnien vom
Jahre 1995 bis zum Jahre 2002 getan, um einen Herrn
Karadzic zu fangen? Jetzt gibt es ein paar Aktionen. Aber
Sie können mir doch nicht sagen, dass 70 000 Soldaten
der SFOR, die es dort einmal gab, nicht in der Lage ge-
wesen wären, die Hauptkriegsverbrecher zu fangen und
nach Den Haag zu überstellen, wenn es den politischen
Willen gegeben hätte. Die unterschiedlichen Interessen
verschiedener europäischer Staaten haben dies verhindert.
Diese traurige Entwicklung zeigt, wie die Situation
tatsächlich ist. In dem Bericht der Bundesregierung ist
von einer Überstellung an Den Haag – mit Ausnahme der
Erwähnung von Milosevic – überhaupt keine Rede. Das
ist ein Zustand, welchen ich sehr bedauere.

Ein weiterer Punkt sind die humanitären Aspekte. Das
Wort „Menschenrechte“ kommt in diesem Bericht über-
haupt nicht vor. Die Menschenrechte sind aber der wich-
tigste Punkt, der geklärt werden muss. Man muss deutlich
sagen, dass es keine wirtschaftliche Erholung ohne rechts-
staatliche und die Menschenrechte beachtende Rahmen-
bedingungen gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Ich glaube Ihnen, dass Sie die Beachtung der Men-
schenrechte durchaus im Kopf haben.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch im Herzen!)


Aber dass Sie vergessen haben, die Menschenrechte in
dem Bericht zu erwähnen, zeigt, wie wenig konkret die-
ses Thema bei der Umsetzung des Stabilitätspaktes prä-
sent ist.

Ich möchte aber auch erwähnen, dass die Leistungen
durchaus beachtlich sind. Wir wissen, wie schwer es war,
die teilweise kriegsbedingten ökonomischen Schwierig-
keiten zu meistern. Wir dürfen uns aber bei unserer Hilfe
für den Balkan nicht unter das Niveau der Hilfe für die
Entwicklungsländer begeben. Wir dürfen den Balkan in




Dr. Christian Schwarz-Schilling
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dem Zeitraum, in dem es eine Annäherung an die EU ge-
ben muss, nicht einem ungewissen Schicksal überlassen.
Wir müssen vielmehr eine klare Konzeption für die lange
Zeit der Überbrückung haben. Allerdings dürfen wir den
Menschen auch keinen Sand in die Augen streuen. Es
wird nicht zwei oder drei Jahre, sondern es wird fünf,
acht, zehn, 15 oder vielleicht sogar 20 Jahre dauern, bis
diese Länder die Chance haben, Mitglied der EU zu wer-
den. Auf die Frage, was während dieser Zeit geschehen
soll, wird in dem Bericht keine Anwort gegeben.

Ich begrüße die Fortschritte, die sich dort zeigen.
Meine Fraktion nimmt den Bericht der Bundesregierung
zur Kenntnis. Aber wir sollten uns einmal vor Augen
führen, was Matthias Rüb in der „FAZ“ vom 20. März
dazu gesagt hat:

Der Erweiterungsprozess der EU bindet, zugegeben,
enorme Mengen politischer, finanzieller und intel-
lektueller Energie. Doch ohne neue Ideen für den
Balkan wird der jüngsten Balkan-Offensive der Eu-
ropäer der Erfolg verwehrt bleiben.

Wir sollten ihn ernst nehmen. Er hat schon öfter Prophe-
zeiungen gemacht, die sich bewahrheitet haben.

Wir werden in Schwierigkeiten kommen, wenn es
nicht ein paar neue Ideen hinsichtlich der Anbindung an
die Europäische Union gibt, die zu einem Mechanismus
der Verknüpfung führen. Lesen Sie einmal nach, woran
Hombach gescheitert ist. Bisher haben wir keinen Me-
chanismus gefunden – auch in dem Bericht der Bundes-
regierung ist keiner erwähnt –, der diese Schwierigkeit
überwindet.

Einen solchen Mechanismus zu finden ist unsere Auf-
gabe. Ich möchte die Bundesregierung darauf festlegen,
dass sie eine solche Aufgabe ernst nimmt.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422804100
Für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht die Kol-
legin Angelika Beer.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422804200
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir ver-
längern heute zum zweiten Mal das Mandat für die Ope-
ration „Amber Fox“, ein Mandat unter NATO-Führung,
an dem wir nicht nur beteiligt sind, sondern bei dem wir
die Funktion der Lead Nation übernommen haben.

Unsere Soldaten in Mazedonien leisten eine wichtige
Arbeit; ich glaube, das sollte man hier erwähnen. Denn
ihre Anwesenheit schafft Vertrauen sowohl bei der Bevöl-
kerung als auch bei jenen, die jetzt den Vertrag von
Ohrid umsetzen müssen. Der ausdrückliche Wunsch der
mazedonischen Regierung, dass Deutschland weiterhin
die Lead-Funktion übernimmt, ist auch ein Beweis dafür,
dass sich das deutsche Kontingent – oft über den eigent-
lichen Auftrag hinaus, die EU-Monitore und die OSZE zu

schützen – vor Ort engagiert und die Aussöhnung der zer-
strittenen Ethnien damit unterstützt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Einsatz in Mazedonien charakterisiert ein wesent-
liches Ziel unserer Außen- und Sicherheitspolitik: Wir
wollen Gewalt verhindern und wollen helfen, an Kon-
flikte zivil heranzugehen und Lösungen zu finden, die die
Konfliktursachen beseitigen.

Lieber Kollege Weisskirchen, ich teile Ihre Euphorie
nicht ganz. Wir müssen zwar erkennen, dass sich Maze-
donien von der Gefahr des Ausbruchs eines Bürgerkriegs
Schritt für Schritt entfernt und das ist gut so.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Genau!)


Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass der politi-
sche Prozess, wenn auch zögerlich, vorankommt.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Eben!)

Wir wissen aber daneben, dass nach wie vor nicht alle Ak-
teure, die an den Auseinandersetzungen beteiligt waren,
bereit sind, diesen konstruktiven Weg tatsächlich und
konsequent bis zum Ende zu gehen. Das Verhältnis zwi-
schen den Ethnien ist nach wie vor angespannt. Ich
glaube, dass die nächsten Monate sehr entscheidend dafür
sein werden, in welchem Maße es gelingt, die Flüchtlinge
zur Rückkehr in dieses Land, in ihre Heimat zu bewegen,
dafür, wann die Volkszählung stattfindet, und dafür, dass
die demokratische Wahl in Mazedonien spätestens im Ok-
tober alle Elemente der Verfassungsänderung mit der
neuen Regierung implementiert.

Parlamentspräsident Andov hat diese Woche Ge-
spräche in Berlin geführt. Er hat, wie ich glaube, in sehr
beeindruckender Weise deutlich gemacht, dass alle im
mazedonischen Parlament vertretenen Parteien willens
sind, die Konsequenzen von Ohrid zu tragen und die Ge-
setze entsprechend umzusetzen. Das erfordert auch von
uns Geduld, weil wir wissen, dass die Erarbeitung von
Gesetzen sicher noch zu dem einen oder anderen Gezerre
in diesem Land führen wird. Ich glaube, es ist ein positi-
ver Schritt, dass es Ali Ahmeti, dem ehemaligen Führer
der UCK, gelungen ist, eine politische Plattform aller al-
banischen Parteien zu gründen und sich so bis zur Wahl
im Oktober in den demokratischen Prozess einzubringen.
Das schafft Stabilität in der Innenpolitik Mazedoniens.

Ich möchte kurz auf den Antrag von CDU/CSU einge-
hen, in dem die Frage aufgeworfen wird, ob nach den kom-
menden drei Monaten die ESVP den Stab von der NATO
übernehmen soll, um dann die weitere Stabilität zu ge-
währleisten; Sie, Herr Schwarz-Schilling, haben das eben
ausgeführt. Ich halte diesen Ansatz im Prinzip für diskus-
sionswürdig, möchte aber darauf aufmerksam machen,
dass heute nicht der richtige Zeitpunkt ist, um über einen
solchen Einsatz politisch zu entscheiden, und zwar aus vie-
len Gründen. Zum einen betreffen sie die Befehlsstruktur,
die Struktur von „Amber Fox“ und KFOR. Die wesentli-
chen Gründe sind aber die Tatsachen, Herr Schwarz-
Schilling, dass Mazedonien ein souveräner Staat ist,


(Peter Zumkley [SPD]: Richtig!)





Dr. Christian Schwarz-Schilling

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dass Mazedonien uns gebeten hat, „Amber Fox“ fortzu-
setzen und die NATO im Land zu belassen, und dass eine
Mandatsveränderung nicht hier im Deutschen Bundestag
beschlossen werden kann, sondern nur im Dialog mit der
Regierung in Mazedonien. Die Instrumentalisierung der
Frage bezüglich der ESVP und deren Leistungsfähigkeit
ist da, wie ich glaube, der falsche Weg. Das würde die
Souveränität Mazedoniens einschränken.


(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch
einen weiteren Punkt ansprechen.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422804300
Frau Kolle-
gin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Schwarz-Schilling?


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422804400
Ja
natürlich.


Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU):
Rede ID: ID1422804500
Ich
möchte Sie, Frau Kollegin, fragen, ob Sie mich vielleicht
missverstanden haben. Ich habe nicht davon gesprochen,
dass wir hier im Bundestag darüber abstimmen; ich habe
vielmehr die Koalition darum gebeten, den Antrag, der die
Bundesregierung auffordert, im Sinne der europäischen
Verteidigungs- und Sicherheitspolitik tätig zu werden, um
nach dem Auslaufen des jetzigen Mandats Ende Juni ent-
sprechende Möglichkeiten der EU zur Verfügung zu ha-
ben, zu unterstützen. Das ist ein kleiner Unterschied.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422804600
Nein,
Herr Kollege, ich habe den Antrag nicht falsch verstan-
den. Dass ein Diskussionsprozess im Rahmen der Euro-
päischen Union hierüber läuft, haben Sie schon darge-
stellt. Es ist bekannt, dass unsere Bundesregierung dort
bestens vertreten ist; der Außenminister wird sich dazu
gleich noch äußern. Es stellt sich aber die Frage, ob wir
auf nationaler Ebene eine Debatte führen dürfen, die über
die Souveränität eines anderen Staates hinweggeht. Das
Gespräch mit Parlamentspräsident Andov – auch ich
selber habe ihn getroffen – in dieser Woche hat gezeigt,
dass Ihre Initiative falsch verstanden worden ist. Er hatte
die Angst, dass eine Verlängerung der Präsenz Deutsch-
lands vollkommen ausgeschlossen sei und die Entschei-
dung gefällt wird, dass entweder die ESVP oder niemand
die internationale Präsenz und Stabilisierung fortführen
wird. Diese Missverständnisse eignen sich nicht in einem
so schwierigen Prozess.

Ich sage es einmal so: Die Operation läuft erfolgreich.
Der Patient ist noch nicht gerettet. Jeder weitere Eingriff
aber wird nur mit Zustimmung des Patienten vorgenom-
men. – Mit dieser Situation sollten wir sensibel umgehen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Verehrte Kollegen, die Bundeswehr ist mit ihren viel-
fältigen Einsätzen, an denen sie heute beteiligt ist, eine
Armee im Übergang. Sie befindet sich in einem Reform-

prozess, der unter Umständen eine Nachsteuerung erfor-
dert. Wir müssen sehen, dass die Bundeswehr bereits
heute mehr leistet, als der Zielstruktur nach von ihr ab-
verlangt werden sollte.

Die Entscheidung der Bundesregierung, in Afghanis-
tan das strategisch-operative Lead bei ISAF nicht zu über-
nehmen, war eine richtige, kluge Entscheidung und kräf-
teorientiert. Mit der Übernahme des taktischen Lead in
Afghanistan haben wir die Verantwortung übernommen,
die wir tragen können, zumal wir unseren Schwerpunkt
auf den Aufbau demokratischer Strukturen in Afghanis-
tan, insbesondere den Aufbau der Polizei, gesetzt haben.

Die Bundeswehr ist bis an die Grenze belastet. Mehr
geht nicht. Wir sollten diese Situation als Atempause nut-
zen, um der Fragestellung zu begegnen, in welchen Fäl-
len wir uns bei Einsätzen in der Zukunft mit wie vielen
Soldaten beteiligen wollen.

Den Kritikern, die den Mazedonien-Einsatz bisher
nicht mitgetragen haben, möchte ich noch einmal sagen:
Unser Konzept ist präventiv orientiert. Die Verteidi-
gungspolitik ist eingebettet in den Rahmen einer präven-
tiven Außen- und Sicherheitspolitik. Der Einsatz in Ma-
zedonien spiegelt eben diese verantwortliche Politik
wider – und das ist gut so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422804700
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Hildebrecht Braun für die Fraktion
der FDP.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1422804800
Herr Präsi-
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vorab die
nahezu selbstverständliche Aussage: Die FDPwird natür-
lich dem Antrag auf Verlängerung des Mandats zustim-
men.


(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Noch vor neun Monaten war die Frage des Einsatzes
der Soldaten in Mazedonien äußerst umstritten. Kanzler
Schröder hätte keine eigene Mehrheit zustande gebracht,
da zu viele seiner eigenen Abgeordneten nicht bereit wa-
ren, den deutschen Beitrag zum Friedenseinsatz in diesem
Land mitzutragen.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: So ist das!)

Er musste sein politisches Überleben durch Stellen der
Vertrauensfrage mit der Entscheidung zum Einsatz in
Mazedonien verbinden, um seine Leute auf Kurs zu brin-
gen. Mittlerweile haben auch diejenigen bei Rot-Grün,
die seinerzeit gezweifelt haben, erkannt, dass der Einsatz
deutscher Soldaten in Mazedonien hilfreich, ja, notwen-
dig ist.

Herr Weisskirchen, Sie glaubten, der Opposition im
Zusammenhang mit den damaligen Entscheidungen vor-
hin noch Vorhaltungen machen zu müssen. Erinnern Sie
sich bitte genau, wie die Situation war: Wir standen ge-
schlossen hinter dem Einsatz in Mazedonien und waren
nur deswegen daran gehindert, dafür zu stimmen, weil wir




Angelika Beer
22642


(C)



(D)



(A)



(B)


einen Persilschein für die Regierung hätten ausstellen
müssen. Sie erinnern sich zur Genüge.


(Beifall bei der FDP – Gernot Erler [SPD]: Er kann Afghanistan und Mazedonien nicht auseinander halten! – Rudolf Bindig [SPD]: Das war Afghanistan! Sie bringen alles durcheinander! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will aber nicht nachtarocken, sondern mich nun-
mehr an die PDS wenden: Diese Partei stellt sich noch im-
mer quer. Auch dazu eine klare und eindeutige Aussage
meinerseits: Wer den Egoismus in der Bevölkerung aus
wahltaktischen Erwägungen heraus fördert und ausnutzt,
handelt nicht sozial, nicht einmal sozialistisch, sondern
mies. Ein solches Handeln ist nicht besser als der Versuch
von Parteien der äußersten Rechten, die latente Auslän-
derfeindlichkeit in unserem Land zu wahltaktischen
Zwecken zu schüren und auszunutzen.


(Beifall des Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP] – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn für eine Debatte hier? Herr Braun, es geht um eine Mandatsverlängerung von „Amber Fox“!)


Meine Damen und Herren von der PDS, Sie wissen
ganz genau, dass viele Menschen in unserem Land nicht
erkennen, dass wir Deutschen – wie auch die anderen
Länder – eine gemeinsame Verantwortung für die Siche-
rung des Friedens in der Welt haben. Dennoch sind Sie
sich nicht zu schade dafür, denen das Wort zu reden, die
sagen: Was scheren uns die Menschen in Mazedonien, im
Kosovo oder in Afghanistan?!


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das ist nicht wahr! – Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das sind böse Unterstellungen!)


Um ein geflügeltes Berliner Wort zu verwenden: Das ist
nicht gut so.


(Beifall bei der FDP)

Über Jahrzehnte glaubte Deutschland unter Hinweis

auf eine unklare Verfassungslage und auf die historischen
Belastungen unseres Landes durch Gräueltaten im Zwei-
ten Weltkrieg, den anderen Ländern die Bürde der Frie-
denssicherung auflasten zu können. Diese Zeit ist vorbei
und ich begrüße dies.

Ich will in diesem Zusammenhang auf zwei Punkte
zu sprechen kommen, die mir wichtig erscheinen. Der
mazedonische Präsident Trajkovski hat namens seiner
Regierung die Bundesrepublik Deutschland nicht nur
gebeten, Soldaten zu schicken, sondern auch, diese
NATO-Operation zu führen. Der Wunsch richtete sich
sehr präzise an die deutsche Bundesregierung und eben
nicht an ein anderes Land. Dies gilt es zu würdigen, denn
es ist noch nicht einmal acht Jahre her, als das Verhältnis
der Menschen auf dem Balkan zu Deutschland primär von
der Erinnerung an schreckliche Geschehnisse im Zweiten
Weltkrieg geprägt war.

Wir glaubten damals auch, dass deutsche Soldaten we-
gen dieser historischen Belastung gar nicht in der Lage

seien, dort Friedensdienst zu leisten, eben weil die Bevöl-
kerung dort mit unserem Land die Vorstellung von äußers-
ter Brutalität, von nationalistischer Überheblichkeit und
von schrecklichen Menschenrechtsverletzungen verband.

Deutsche Soldaten haben nun gerade inBosnien und im
Kosovo in den vergangenen Jahren gezeigt, dass sie ihre
Aufgabe besonders im Schutz der Bevölkerung vor Men-
schenrechtsverletzungen,undzwarohneAnsehungdereth-
nischenZugehörigkeitderzuSchützenden,undinderHilfe
beim Aufbau des Landes sehen. Tugenden wie Pflichtbe-
wusstsein, Dienstbereitschaft, Verlässlichkeit und Diszi-
plin, die man früher oft mit Deutschen verbunden hat, sind
wieder Merkmal der Aufgabenerfüllung durch deutsche
Soldaten geworden.

In dem Landesteil im Kosovo, der den Deutschen in-
ternational zugeordnet wurde, ist die Entwicklung beson-
ders positiv.


(Beifall bei der FDP)

Das Verhältnis der Bevölkerung zu den Soldaten ist wohl
besser als in den anderen Sektoren. Die Aufbauleistungen
unserer Soldaten sind beträchtlich. Diese Aufgabenerfül-
lung deutscher Soldaten hat sich herumgesprochen und
dazu geführt, dass nicht nur der mazedonische Präsident
deutsche Soldaten wünschte, sondern dass auch die af-
ghanische Regierung größten Wert darauf gelegt hätte,
das deutsche Engagement in ihrem Land zu verstärken.


(V o r s i t z : Präsident Wolfgang Thierse)

Ich will dies in aller Öffentlichkeit als eine wunderbare

Entwicklung darstellen. Wir Abgeordneten haben allen
Anlass, stolz darauf zu sein, dass unsere Soldaten das Bild
unseres Landes positiver geprägt haben, als dies Diplo-
maten, Kulturbotschafter, Leute der Wirtschaft oder wer
auch immer in Jahrzehnten zu schaffen vermochten.
Wenn das Bild unseres Landes mit der Aussicht auf Frie-
den verbunden wird, ist das gut. Das Zerrbild des Deut-
schen als Nazibestie kann so überwunden werden.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])

Der Aufenthalt deutscher Soldaten in Mazedonien, die

Führungsfunktionen der NATO innehaben, ist zur Absi-
cherung des Friedensprozesses notwendig, ja unverzicht-
bar. NATO und Vereinte Nationen sind in Mazedonien
wie überhaupt auf dem Balkan nicht nur Gäste, sondern
Mitgestalter einer friedlichen Entwicklung. Der von den
Geberländern ausgeübte finanzielle Druck speziell bei der
Hilfe zur Verbesserung der erschreckenden Zahlungsbi-
lanz Mazedoniens, aber auch die militärische Präsenz er-
möglichten den entsprechenden Einfluss, sodass sich
Volksgruppen aufeinander zu bewegten, sodass die not-
wendigen Verfassungsänderungen verabschiedet wurden,
sodass wenigstens eine teilweise Entwaffnung der albani-
schen Freischärler erzielt wurde und jetzt auch Parla-
mentswahlen im Herbst als sicher erscheinen. Schließlich
konnte die für den inneren Frieden in diesem Land erfor-
derliche Amnestie durchgesetzt werden.

Ich denke aber auch daran, dass der albanische Koordi-
nierungsrat jetzt darangehen kann, eine albanische Univer-
sität aufzubauen. Diese Entwicklung kann nur positiv sein.


(Beifall bei der FDP)





Hildebrecht Braun (Augsburg)


22643


(C)



(D)



(A)



(B)


Frieden und Aufbau auf dem Balkan, eine gute Per-
spektive für die Menschen, die dort in einem der schwie-
rigsten Teile Europas leben: Das ist das, was unsere Sol-
daten im Verbund mit anderen Soldaten leisten. Sie
stützen die Beobachter, die dort dringend notwendig sind,
damit sich dort keine Krisen entwickeln können. Aber
auch ihre bloße Präsenz, ihre optische Präsenz verhindert,
dass es dort zu Provokationen zwischen den Volksteilen
und zu einem Aufschaukeln des Hasses kommt, wie wir
es dort gerade erlebt haben.

Kurz: Was wir dort machen, ist Prävention, ist Frie-
denspolitik im besten Sinne. Deswegen sollte das ganze
Haus diesen Schritt heute unterstützen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Horst Kubatschka [SPD])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422804900
Ich erteile dem Kolle-
gen Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion, das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1422805000
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Den frommen Wunsch, dass
das ganze Haus so entscheidet wie die Mehrheit, werden
wir natürlich nicht erfüllen können.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Warum nicht?)


Ich möchte Sie eingangs darauf aufmerksam machen
– ich finde es schon interessant, dass bisher kein Redner
darauf eingegangen ist –, dass wir diese Debatte genau am
Vorabend des dritten Jahrestages des Beginns des Krieges
gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, in dem es um das
Kosovo ging, führen. Dies war ein Krieg, den ich verfas-
sungs- und völkerrechtlich nach wie vor für nicht legitim
halte. Diesen inneren Zusammenhang sollten wir sehen.


(Beifall bei der PDS)

Dass die Bundesregierung das Engagement in Maze-

donien zum Modell moderner Konfliktbewältigung auf-
blasen wird – so hat es Kollege Weisskirchen hier getan –,
war zu erwarten und ist, wie ich finde, wenig überzeu-
gend. Ich möchte mich weniger mit den Argumenten aus-
einander setzen, die Kollege Hildebrecht Braun hier vor-
gebracht hat. Das alles war so durcheinander und es
stimmte so wenig daran, dass man eigentlich nicht dage-
gen argumentieren kann.

Ich glaube, dass die Argumente des Kollegen
Weisskirchen und anderer einen Bruch in der Logik bein-
halten. Sie betonen zu stark, dass Stabilität eingekehrt ist.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Das nennt er Logik!)


– Herr Außenminister, zu Ihnen komme ich auch noch. –
Dadurch können sie nicht begründen, warum die Trup-
penstationierung verlängert werden soll. Sie machen sehr
deutlich auf die Probleme aufmerksam. Daher müssen sie
auch zugeben, dass mehr Probleme vorhanden sind und

weniger gelöst worden sind, als hier modellhaft präsen-
tiert wird.

Jeder hier weiß doch, dass das eigentliche Problem erst
mit der Endstatusfrage des Kosovo erneut aufbrechen
wird. Jetzt haben wir die Situation, dass das Kosovo völ-
kerrechtlich zu Serbien gehört, faktisch aber bereits wie
ein eigener Staat abgespalten ist. Wenn die Endstatusver-
handlungen beginnen, die Auseinandersetzungen darüber
also geführt werden, dann wird die ganze Debatte um ein
Großalbanien wieder aufbrechen.

Deswegen sollten Sie nicht davon ausgehen, dass sich
hier ein Modell durchgesetzt hat. Die Argumentation der
Bundesregierung erinnert mich immer an den armen
Menschen, der aus dem 20. Stock eines Hochhauses fällt,
am 10. Stock vorbeikommt und sagt: Bislang ist alles gut
gegangen. Die Logik Ihrer Argumentation ist, dass sich al-
les auf einem friedlichen Wege befindet.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Quatsch!)


Dass die Bundesregierung in einem freien Fall ist, das
kann jeder sehen.

Auch ein zweites Argument möchte ich nicht unwider-
sprochen lassen. Hier wird so getan, als ob alle, die im
Hinblick auf die anstehenden Entscheidungen Probleme,
Sorgen und Nöte gehabt haben, falsch gelegen sind. Wenn
diese Probleme nicht eingetreten sind, dann heißt das
nicht, dass die Sorgen darüber unberechtigt waren.

Ich möchte Sie auf Folgendes aufmerksam machen
– die Kollegin Beer von den Grünen hat das besonders be-
tont –: Ich bin gespannt, was passiert, wenn Sie den Be-
schluss Ihres Parteitages, dass künftig hier im Hause für
die Entscheidung über Militäreinsätze im Ausland eine
Zweidrittelmehrheit notwendig ist, dem Bundestag prä-
sentieren.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, auf die PDS können wir verzichten!)


– Ich bin sehr für diesen Antrag. Wenn Sie ihn nicht ein-
bringen, dann bringt ihn meine Fraktion gerne ein. Denn
wir glauben, dass man in dieser Frage die Verantwortung
des einzelnen Abgeordneten erhöhen muss.


(Beifall bei der PDS – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer weiß, was ihr in drei Jahren einbringt!)


– Das werden wir sehen. Das ist ein Wahlkampfantrag. Ich
bin einmal gespannt, wann er auf den Tisch dieses Hauses
kommt.

Wenn die Zweidrittelmehrheit schon gegolten hätte, als
der Mazedonien-Einsatz beschlossen worden ist, hätten
Sie diese Mehrheit nicht erreicht. Sie sollten sich hier also
nicht so aufblasen,


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer bläst sich denn auf?)


sondern sehen, dass Debatten sehr notwendig sind.

(Beifall bei der PDS)





Hildebrecht Braun (Augsburg)

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich möchte Ihnen sagen, was unserer Meinung nach
notwendig wäre. Die Bundesregierung hat sich aus mei-
ner Sicht nicht ernsthaft genug dafür eingesetzt, dass der
NATO-Einsatz in einen VN-Blauhelmeinsatz überführt
worden ist, obwohl, wie ich weiß, der Generalsekretär der
Vereinten Nationen durchaus mit dem zufrieden ist, was
dort erreicht worden ist. Es hätte ein klassischer Blau-
helmeinsatz mit Zustimmung beider Seiten entwickelt
werden können.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist von der Sache her richtig, nur der falsche Helm!)


Natürlich sehe auch ich, dass die Bundesregierung die
Chance genutzt hat, sich erstmalig als Lead Nation zu prä-
sentieren – das war in ihrem Interesse –, um sich stärker
durchzusetzen. Ich weiß auch, dass es in ihrem Interesse
ist, endlich den Einsatz der Europäischen Union und da-
mit der Militärmacht Europa an einem praktischen Bei-
spiel durchzusetzen. Dafür nutzen Sie den Einsatz in Ma-
zedonien.

Nun möchte ich hinzufügen – denn ich kenne die Ar-
gumente des Kollegen Fischer –: Mein Argument gegen
einen europäischen Einsatz wendet sich nicht gegen die
NATO. Mein Argument gegen eine Militarisierung der
Europäischen Union zielt vielmehr darauf ab, endlich aus
dem Zyklus der Militärpolitik herauszukommen.


(Beifall bei der PDS)

Letztendlich will ich Ihnen auch sagen, dass es schon

deswegen kein Modell ist, weil Sie es nicht durchhalten.
Aufgrund der Kosten und Veränderungen, die bei 10 000
Soldaten im Auslandseinsatz auf Sie zukommen – ich
habe leider nicht mehr die Zeit, alle Staaten aufzuzählen,
in denen momentan deutsche Soldaten stationiert sind –,
werden Sie die Wirtschaft unseres Landes und die Haus-
halte deformieren müssen, weil Sie nicht mehr um eine
Erhöhung des Militärhaushaltes herumkommen. Volker
Rühe will dies, ich aber nicht. In dem Dilemma stehen
Sie. Meine Fraktion wird Ihren Antrag ablehnen.


(Beifall bei der PDS – Joseph Fischer, Bundesminister: Mit Haushalt und Berlin wäre ich mal ganz vorsichtig! Schauen Sie sich an, welcher Sozialabbau in Berlin betrieben wird! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat keine Begründung geliefert!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422805100
Ich erteile Bundesmi-
nister Rudolf Scharping das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1422805200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stimme
den Kollegen Weisskirchen, Schwarz-Schilling, Braun
und der Kollegin Beer ausdrücklich zu. Wir können stolz
sein auf das, was wir in Mazedonien erreicht haben und
was die Soldaten leisten.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Das betrifft Brigadegeneral Keerl und seine Soldaten.
Andere Bemühungen müssen wir deswegen nicht
zurücksetzen.

Jeder wird besser verstehen, worüber wir reden, wenn
wir noch einmal die Situation von vor wenigen Monaten
betrachten. Herr Kollege Weisskirchen hat darauf hinge-
wiesen, dass wir vor dem Ausbruch eines Bürgerkrieges
und vor gewalttätigen Auseinandersetzungen standen.
Das ist rund ein Jahr her. Heute schweigen die Waffen.
Die labile Situation ist überwunden. Wir wollen dazu bei-
tragen, dass sie dauerhaft überwunden wurde. Der verfas-
sungsgebende Prozess ist abgeschlossen, die Wiederher-
stellung der Herrschaft des Rechts in Mazedonien ist auf
einem guten Weg und die Rebellenorganisation wurde
aufgelöst. Viele andere Entscheidungen des mazedoni-
schen Parlaments, insbesondere das am 7. März verab-
schiedete Amnestiegesetz, haben zu ganz wesentlichen
Fortschritten geführt.

Vor diesem Hintergrund kann man sagen, dass der ver-
fassungsgebende Prozess vollständig umgesetzt wurde.
Die internationale Staatengemeinschaft hat darauf insbe-
sondere mit den Ergebnissen der Geberkonferenz der Eu-
ropäischen Union und der Weltbank vom 12. März, an der
sich 37 Staaten und 19 internationale Organisationen be-
teiligt haben, positiv reagiert.

In den nächsten Monaten wird es darauf ankommen,
das langsam wachsende Vertrauen zwischen den Bevöl-
kerungsgruppen, also den slawischen und albanischen
Mazedoniern, zu festigen. Ohne dieses Vertrauen in die
Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie, die wirtschaftliche
Stabilität und auch die innere Sicherheit des Landes wer-
den die Risiken wieder auftauchen. Bisher gibt es dafür
keine Anzeichen. Insofern kommt es darauf an, diese um-
fassende Vertrauensbildung auf allen Ebenen zu fördern
und den fragilen Aussöhnungsprozess nicht erneut in Ge-
fahr zu bringen.

Der zweite Hinweis, den ich geben will, hat mit der
Entwicklung in Mazedonien und dem Engagement der
Soldaten, die sich an der Operation „Fox“ beteiligen, zu
tun. Die multiethnische mazedonische Polizei ist im Auf-
bau, und deren Programm zur Rückkehr der Flüchtlinge in
die albanisch bewohnten Gebiete verläuft mit Ausnahme
kleinerer Zwischenfälle bisher positiv. Das gilt auch für
die Rückkehr der etwa 16 000 Vertriebenen in die ehema-
ligen Krisengebiete. Wir müssen allerdings im Auge be-
halten, dass dort ein Potenzial für neue Spannungen liegt,
wenn die vorher Vertriebenen zurückkehren. Wir müssen
verhindern, dass sich ein Sicherheitsvakuum bildet. Dazu
tragen die Europäische Union und die OSZE mit ihren Be-
obachtern sowie die NATO mit der Task Force „Fox“ bei.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden heute über die Verlängerung dieser An-

strengungen um drei Monate abstimmen. Bezogen auf die
innenpolitischen Debatten sollten wir uns vielleicht eines
noch vor Augen führen: Vergegenwärtigen Sie sich ein-
mal, was wir im Juli des vergangenen Jahres hier im
Deutschen Bundestag auf der Grundlage einer Regie-
rungserklärung erörtert haben, welche Formulierungen
dabei gefallen sind und welche Befürchtungen, als es um




Wolfgang Gehrcke

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(C)



(D)



(A)



(B)


„Essential Harvest“ ging – ich will sie nicht zur Seite wi-
schen –, bestanden! Wenn wir uns die Situation heute,
rund neun Monate später, betrachten, stellt sich die Frage,
was von den ganzen Befürchtungen eines dritten Protek-
torates in Mazedonien übrig geblieben ist.

Kann man es ein Protektorat nennen, wenn die maze-
donische Regierung, der mazedonische Staatspräsident
und alle Parteien im mazedonischen Parlament die Fort-
setzung des NATO-Engagements ausdrücklich wünschen
und auch die Fortsetzung der Führung dieses Mandats
durch die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bundes-
wehr befürworten? Ich verstehe das als ein Kompliment
an die Fähigkeiten der Außenpolitik der Bundesrepublik
Deutschland und insbesondere an die Fähigkeiten unserer
Soldaten und ihrer militärischen Führung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)


Es ist richtig, was damals gesagt worden ist: Soldaten
allein können den Frieden nicht erzwingen. Sie schaffen
aber unverzichtbare Voraussetzungen dafür, dass die an-
deren Elemente der Friedenssicherung und der inneren
Stabilität eines Landes überhaupt greifen können.

Es ist über den Einsatz im Kosovo, in Afghanistan und
anderswo gesprochen worden. Man muss sich einmal an-
schauen, was die Bundeswehr darüber hinaus in der Ope-
ration „Enduring Freedom“ und mit ihrer Sicherheitsprä-
senz in Afghanistan geschultert hat. Wir müssen uns
entscheiden, wann wir die innenpolitischen, durch den
vor uns liegenden Septembertermin motivierten Debatten
mit dem Bild in Einklang bringen, das die Bundeswehr
tatsächlich bietet und das auch von unseren Freunden und
Bündnispartnern so wahrgenommen wird.


(Beifall bei der SPD)

Mit Verlaub: Das Engagement in Mazedonien ist in

mehrerer Hinsicht idealtypisch. Es beweist das Verant-
wortungsbewusstsein und die Leistungsfähigkeit der An-
gehörigen unserer Streitkräfte. Es beweist aber nach den
Erfahrungen in Bosnien, im Kosovo und in den vergan-
genen zehn oder zwölf Jahren auf dem Balkan noch etwas
anderes: Auf der Grundlage des Stabilitätspaktes und der
Initiative der Bundesregierung sind die Soldaten mit
ihrem Engagement Gott sei Dank nicht in die Lage ge-
kommen, aktuelle Krisen zu managen oder nachfolgende
Krisen zu bewältigen, sondern sie konnten Krieg und Bür-
gerkrieg präventiv entgegenwirken. Das ist ein ganz enor-
mer Erfolg und ein Lernprozess, den wir nicht vergessen
sollten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit möchte ich zugleich den Hinweis darauf geben,
dass die Soldaten, so notwendig sie zur Schaffung der
Voraussetzungen für eine stabile und friedliche innere
Entwicklung auch sind, auf Dauer keine zivilen Aufgaben
übernehmen sollten und im Übrigen auch nicht könnten.
Ich sage das auch mit Blick auf anstehende Überlegungen
im Zusammenhang mit dem gesamten Balkan, Bosnien
und dem Kosovo.

Hier wird es in den nächsten Monaten darum gehen,
den zivilen Prozess und die militärische Absicherung so
miteinander zu verzahnen, dass die erzielten Fortschritte
auch im zivilen Bereich eine Restrukturierung, eine Kon-
solidierung und letztlich eine Reduzierung des Engage-
ments in Bosnien und im Kosovo möglich machen. Ich
halte das für erreichbar und in der Sache für notwendig.

Zum Schluss: Wir alle wissen, dass die innermazedo-
nischen Konflikte politisch-ethnischer und sozialer Natur
sind. Wir wissen, dass sie nur mit politischen Mitteln und
in einem längerfristigen Prozess überwunden werden
können. Wir wissen, dass der Beitrag der NATO zum
Schutz der internationalen Beobachter und ihre schiere
Präsenz für die Sicherheit und Vertrauensbildung in Ma-
zedonien heute noch unverzichtbar sind. Mit Blick auf
mancherlei andere Bemühungen sage ich: Es ist gut, dass
wir diese hoch integrierten Fähigkeiten politischer wie
auch militärischer Art haben. Das wird auch bei künftigen
Entscheidungen zu berücksichtigen sein.

Vor diesem Hintergrund freue ich mich gerade mit
Blick auf die Angehörigen der Soldatinnen und Soldaten,
die wir in solche Einsätze schicken, dass sich – anders als
im Sommer oder im frühen Herbst des letzten Jahres –
eine sehr breite und von vornherein sichere Mehrheit für
dieses Mandat im Deutschen Bundestag abzeichnet.
Dafür bedanke ich mich auch namens der Bundesregie-
rung ausdrücklich.

In diesen wie auch in allen anderen Fällen kommt es
auf die PDS Gott sei Dank nicht an. Das zeigt im Übrigen
auch die wirklich abstruse Rede des Kollegen Gehrcke.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist eine freundliche Schlussbemerkung: Bleiben Sie
da sitzen. Wir brauchen Sie nicht. Die Einigkeit im Hause
ist groß. Das braucht die Bundeswehr und das ist auch gut
so.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422805300
Ich erteile dem Kol-
lege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1422805400
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! „Frieden muss von in-
nen wachsen“, so war vor einigen Jahren eine Studie der
kirchlichen Hilfswerke überschrieben. Deswegen ist es
richtig, dass man – so wie es der Kollege Weisskirchen ge-
tan hat – herausstellt, welch maßgeblichen Beitrag die in-
ternationale Staatengemeinschaft und dabei vor allem wir
Deutschen mit der Bundeswehr für den Friedensprozess
in Mazedonien geleistet haben und weiterhin leisten. Un-
ser Dank gilt den deutschen Soldaten und der Bundes-
wehr. Genauso ist herauszustellen und anzuerkennen, was
die mazedonischen Politikerinnen und Politiker auf den
Weg gebracht haben und was sie jetzt umsetzen.


(Verena Wohlleben [SPD]: Warum schreien Sie denn so?)





Bundesminister Rudolf Scharping
22646


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn dieser Friede, der von innen wachsen muss,
tatsächlich ein stabiler Friede werden soll, dann ist erfor-
derlich, dass diejenigen, die vielleicht nur aus taktischen
Motiven dem Ohrid-Abkommen und dessen Umsetzung
zugestimmt haben, dies auch zur inneren Überzeugung
werden lassen. Vor allem ist notwendig, die Bevölkerung
etwas davon spüren zu lassen, dass dieser Prozess zu ei-
ner echten Friedensdividende führt, nämlich dazu, dass
sich ihre persönliche und wirtschaftliche Lage in den
kommenden Jahren zunehmend bessert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb ist zu Recht auf die Geberkonferenz vom
März dieses Jahres hingewiesen worden. Fakt ist aber: Die
Bundesregierung, die sich so sehr für ihren Beitrag belo-
bigt, hat bei dieser Geberkonferenz keinen Cent mehr zu-
gesagt, als ohnehin schon vor dem Abkommen von Ohrid
in der Mehrjahresplanung für Mazedonien vorgesehen war.

Aber unabhängig davon, wie hoch die Mittel für Ma-
zedonien sind, müssen sie vor allem eines gewährleisten:
Sie müssen beiden großen Volksgruppen, also den Slawo-
mazedoniern und den Albanern, zu gleichen Teilen zugute
kommen. Es macht uns besondere Sorge, dass offenkun-
dig mit der öffentlichen Hilfe bislang kaum Projekte an-
gegangen und durchgesetzt werden konnten, die dem al-
banischen Bevölkerungsteil tatsächlich den Eindruck
vermitteln konnten, gleichberechtigt zu sein.

Ein Weiteres: Die International Crisis Group hat in ei-
ner Studie unter dem Titel „Mazedoniens Frieden und
nicht die Korruption finanzieren“ die Europäische Union,
die USA sowie die Weltbank ermahnt, eine strikte Kon-
trolle über den immensen Geldfluss an Mazedonien aus-
zuüben. Unser Ziel muss es sein, dass die Mittel, die wir
zur Verfügung stellen, tatsächlich den Menschen zugute
kommen und nicht in einer überregulierten Bürokratie
oder in der Korruption hängen bleiben.

Das Engagement der Bundeswehr im Rahmen des bis-
lang NATO-geführten und hoffentlich künftig unter EU-
Verantwortung stehenden Einsatzes rechnet sich vor al-
lem dann, wenn die Hilfe und Unterstützung des
politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozes-
ses in Mazedonien wie in den anderen Ländern des Stabi-
litätspaktes eine verlässliche Perspektive auch für die
kommenden Jahre hat.

In diesem Zusammenhang möchte ich Sie, verehrte
Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, daran erinnern,


(Verena Wohlleben [SPD]: Nur wenn Sie leiser sprechen!)


dass Sie im August 2001 anlässlich des damals zu ertei-
lenden Mazedoniens-Mandats beschlossen haben, den bi-
lateralen deutschen Beitrag zum Stabilitätspakt für Süd-
osteuropa auch über das Jahr 2003 hinaus fortzusetzen. In
Ihrem Entschließungsantrag heißt es:

Nur rechtzeitige Entscheidungen über die künftige
Ausstattung des Stabilitätspakts schaffen Planungs-
sicherheit und geben wünschenswerte Anstöße für
die anderen Partner des Stabilitätspakts.

Eine ganze Reihe von Abgeordneten der Koalitionsfrak-
tionen haben damals nur wegen dieses Entschließungsan-

trages dem Mazedonien-Mandat zugestimmt. Fakt ist: Die-
ser Entschließungsantrag von Rot-Grün ist bis zum heuti-
gen Tag ohne jede Konsequenz geblieben. Sie haben an-
schließend einen Bundeshaushalt verabschiedet, in dem es
für den Stabilitätspakt null Mark mehr gibt und es vor allen
Dingen null Verpflichtungsermächtigungen gibt. Deshalb
sind bereits jetzt im Rahmen des Stabilitätspakts für Süd-
osteuropa keine neuen Projekte mehr möglich. Damit hat
sich Rot-Grün eigentlich selbst belogen.

Wir fordern, dass das Parlament das, was es mehrheit-
lich beschlossen hat, auch tatsächlich durchführt und dass
der Stabilitätspakt für Südosteuropa fortgeführt wird. Die
dringend angemahnten Perspektiven für die Zukunft des
Stabilitätspakts sind jedenfalls aus Ihrem konkreten Han-
deln bislang nicht zu erkennen. Ich halte es für wichtig,
dass Sie sich heute dazu äußern und Ihre Aussagen auch
konkret umsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, der Kollege Weisskirchen

hat vielleicht in der Darstellung der Perspektiven etwas
übertrieben. Ein schönes deutsches Sprichwort lautet:
Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Was Maze-
donien und Südosteuropa anbelangt, befinden wir uns
hinsichtlich der Friedenssicherung, der Sicherung und
Verwirklichung von Demokratie und vor allen Dingen der
Perspektiven für die Verbreitung von Wohlstand sozusa-
gen immer noch in den frühen Morgenstunden und haben
noch lange nicht den Mittag erreicht. Schaffen wir also die
Voraussetzungen dafür, dass diese Perspektiven mit unse-
rer Hilfe tatsächlich realisiert werden können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422805500
Ich erteile dem Bun-
desminister Joseph Fischer das Wort.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422805600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass wir heute mit Ausnahme einer Fraktion eine so
breite Unterstützung für unseren Antrag über die Verlän-
gerung des Mandats für den friedenserhaltenden Einsatz
der Bundeswehr in Mazedonien bekommen können.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Man sieht Ihnen die Freude nicht an!)


Ich halte es für ein gelungenes Beispiel der Konflikt-
prävention, die es ermöglicht hat – verschiedene Kollegen
haben bereits darauf hingewiesen –, einem ganzen Land
das Drama eines blutigen Bürgerkriegs zu ersparen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Ausführungen des Kollegen Gehrcke hatten weiß
Gott nichts mit Logik zu tun, sondern ausschließlich mit
dem Wahlkampf.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist immer so!)





PeterWeiß (Emmendingen)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich bin sogar der festen Überzeugung, Sie persönlich
wären bereit, zuzustimmen, Herr Gehrcke, wenn dies das
Wahlkampfkonzept Ihrer Partei nicht kaputtmachen
würde. Denn Sie sind viel zu klug, erfahren und auch den
Dingen zugewandt,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist keine Entschuldigung!)


um nicht selbst zu wissen, dass Sie heute schlichten Un-
sinn vorgetragen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Für eine Umstellung auf eine UN-Mission würden Sie
– das wissen Sie auch – zum gegenwärtigen Zeitpunkt in
New York weder im Sicherheitsrat noch unter den Mit-
gliedstaaten auch nur eine unterstützende Stimme finden.
Es gibt keine Alternative zu der Verlängerung des Man-
dats, es sei denn, man wollte den erfolgreichen Prozess
der Prävention und der Stabilisierung des Landes gefähr-
den.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben es mit der Implementierung eines Frie-
densabkommens zu tun, bei der sich viele von uns am An-
fang nicht sicher waren, ob sie wirklich funktionieren
würde, ob auch das Aufeinanderzugehen der beiden
großen ethnischen Gruppen tatsächlich funktionieren
würde und ob die Bildung gemeinsamer Institutionen
wirklich erfolgreich vonstatten gehen könnte. Heute kön-
nen wir feststellen: Das Abkommen ist implementiert.
Uns ist sogar bekannt, dass es entscheidend war, dass die
Amnestiegesetze das Parlament durchlaufen haben. Auch
in diesem Zusammenhang gab es durchaus Fragezeichen.
All dies würde infrage gestellt werden, wenn das Mandat
heute nicht verlängert würde.

Darüber hinaus möchte ich noch eines unterstreichen.
Als es um den Wechsel in der Führung des Mandats ging,
kam ich gerade aus dem Nahen Osten zurück. Ich erhielt
noch spätnachts einen Anruf von Präsident Trajkovski. Er
hat uns nachdrücklich seinen Wunsch übermittelt – auch
im Namen aller im Parlament vertretenen albanischen wie
slawomazedonischen Parteien –, dass Deutschland die
Führungsfunktion, die so genannte Lead-Funktion, bei-
behält. Ein besseres Lob für die Arbeit unserer Soldaten
und den dortigen Kommandeur, Brigadegeneral Keerl,
könnte es wohl nicht geben. Das möchte ich dem Parla-
ment nicht vorenthalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)


Dennoch sind wir noch nicht über den Berg. Ohne je-
den Zweifel ist der endgültige Status des Kosovo eine
ganz wichtige Frage, ebenso die Frage, ob Jugoslawien
fortbestehen wird, ob also Serbien und Montenegro wei-
terhin einen gemeinsamen Staat bilden werden. Auch
müssen die weitere Entwicklung in Bosnien und der Um-
gang mit Kriegsverbrechern in diesem Zusammenhang
gesehen werden.

Machen wir uns eines klar: Seitdem die schmerzhaften
Entscheidungen auch im Kosovo getroffen worden sind,
hat die gesamte Region die Perspektive einer dauerhaften
friedlichen und demokratischen Entwicklung hin zu
einer Integration in die Europäische Union. An dieser
Perspektive werden wir auf allen Ebenen entschlossen
weiterarbeiten, da dies die beste Form von Friedenserhal-
tung und Konfliktprävention ist, wie das Beispiel unseres
eigenen Landes ja gezeigt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es war sehr wichtig, dass jetzt im Kosovo eine Regie-
rung gebildet werden konnte. An dieser Stelle möchte ich
es nicht versäumen, den Sonderbeauftragten von Gene-
ralsekretär Kofi Annan, den uns allen bekannten Michael
Steiner, nachdrücklich dafür zu loben, dass es ihm gelun-
gen ist, diesen wichtigen Schritt im Kosovo zu vermitteln
und durchzusetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt anspre-
chen, nämlich die Überführung in eine ESVP-Operation.
Ich freue mich hier über die breite Zustimmung. Die Dinge
sind in der Europäischen Union sehr weit gediehen. Da wir
aber keine Doppelstrukturen wollen und zugleich den mi-
litärischen Rückhalt und die militärische Tiefe der NATO
brauchen, haben wir die Frage des Verhältnisses zwischen
der ESVP-Struktur und der NATO zu klären. Das ist kein
europäisches Problem, sondern es geht darum, ob Grie-
chenland bereit ist, die mit der Türkei getroffenen Verein-
barungen von Ankara und Istanbul zu akzeptieren. Solange
dieses Problem nicht gelöst ist, wird es zu einer solchen
Überführung nicht kommen können. Aber ich bin optimis-
tisch, dass die spanische Präsidentschaft in ihrem weiteren
Bemühen, diese Problem zu lösen, Erfolg haben wird.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung bittet
Sie um eine Verlängerung des Mandats, damit die erfolg-
reiche Stabilisierung Mazedoniens weitergehen kann. Ich
bedanke mich bei Ihnen schon jetzt namens der Bundes-
regierung für die Zustimmung und werbe bei all jenen, die
sich bisher noch nicht dazu durchringen konnten, um
künftige Zustimmung. Es ist wichtig, dass wir an unseren
Stabilisierungsbemühungen für Mazedonien und die
ganze Region festhalten. Dafür brauchen wir die Verlän-
gerung des Mandats für unsere Soldaten.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422805700
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Helmut Rauber, CDU/CSU-Fraktion.


Helmut Rauber (CDU):
Rede ID: ID1422805800
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass sich der
Saal füllt und so viele Kolleginnen und Kollegen kom-
men, um meiner fünfminütigen Rede zu lauschen.


(Heiterkeit)





Bundesminister Joseph Fischer
22648


(C)



(D)



(A)



(B)


Die CDU/CSU stimmt der Verlängerung des Mandats
zu, weil sie die Ansicht von Bundesaußenminister Fischer
teilt, dass es keine Alternative gibt.


(Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])

Verließen wir dieses Land bzw. diese Region, hätten wir
sehr schnell wieder Verhältnisse wie zu Beginn der 90er-
Jahre, als über 800 000 Flüchtlinge zu uns kamen. Um sie
zu ernähren und unterzubringen, mussten wir jährlich
Kosten in Höhe von etwa 20 Milliarden DM aufbringen.
Die Schutzfunktion für die rund 180 internationalen Be-
obachter jetzt einzustellen, bedeutete, dass die hier bereits
genannten politischen Erfolge der letzten Monate zu-
nichte gemacht würden.

Wie soll es weitergehen? Ich unterstreiche das, was
hier vom Kollegen Schwarz-Schilling gesagt wurde.
Wenn wir es mit der europäischen Sicherheitspolitik ernst
meinen, dann brauchen wir eine Führung unter den Eu-
ropäern; alles andere bedeutete, in die falsche Richtung zu
marschieren. Wir können nicht ständig die GASP be-
schwören und dann wie bei der Bekämpfung des interna-
tionalen Terrorismus das Gegenteil tun.

Ich komme zu einem weiteren Kritikpunkt: Wir brau-
chen mehr Ehrlichkeit und mehr Weitsicht bei der For-
mulierung unserer Mandate. Während der Präsident Ma-
zedoniens davon ausgeht, dass das Mandat noch in diesem
Jahr auslaufen kann, spricht der EU-Sonderbeauftragte
für Mazedonien LeRoy wegen des weit verbreiteten Waf-
fenbesitzes in der Bevölkerung vom Zieldatum 2003.
Wenn wir von der CDU/CSU-Fraktion von Weitsicht
sprechen, dann meinen wir, dass nicht nur die Frage, wie
die Bundeswehr in Konfliktregionen hineinkommt, son-
dern auch die Frage, wann und zu welchen Kosten sie
wieder aus den Konfliktregionen herauskommt, ange-
sprochen werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sind bei den Auslandseinsätzen an einem Punkt an-

gekommen, an dem wir aufpassen müssen, dass wir we-
der die Soldatinnen und Soldaten noch unsere Bevölke-
rung überfordern. Es ist richtig, dass Deutschland als
führende wirtschaftliche und politische Macht nicht weg-
schauen kann, wenn Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ih-
rer Religion, ihrer politischen Gesinnung oder wegen ih-
rer ethnischen Zugehörigkeit verfolgt, misshandelt oder
getötet werden. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen,
dass derzeit in der Welt 815 Millionen Menschen Hunger
leiden und dass es rund 30 Konflikte – es sind überwie-
gend Bürgerkriege – gibt. Deshalb brauchen wir unter
dem Dach der UNO Schlichtungssysteme unter regiona-
ler Beteiligung.

Mir reicht das, was unter dem Begriff „nation building“
auf dem Balkan geschieht, nicht aus. Solange alle
schmerzlichen Entscheidungen in der Region nicht von
gewählten Parlamentariern des Landes, sondern vom Ho-
hen Kommissar getroffen werden, kann sich kein funkti-
onsfähiges System entwickeln.

Zum Schluss möchte ich noch einige Sätze zu dem sa-
gen, was sich auf dem Parteitag der Grünen in dieser
Woche ereignet hat.


(Zuruf von der SPD: Waren Sie dabei?)


Dort erklärte Bundesminister Trittin, dass er beim Ma-
zedonienkonflikt gelernt habe, dass auch Truppen den
Frieden sichern können. Dies ist eine sehr erstaunliche
und eine sehr späte Erkenntnis.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Aber immerhin!)


Historiker sollten einmal der Frage nachgehen, wie der
Jugoslawienkonflikt verlaufen wäre, wenn es anfangs
nicht den massiven Widerstand derer gegeben hätte, die
heute die Bundesregierung stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

SPD und Grüne haben damals – ich sage das besonders an
Ihre Adresse, Herr Bundesminister Fischer – gegen Maß-
nahmen der Konfliktverhinderung und der Konfliktein-
dämmung das Bundesverfassungsgericht angerufen. Es sei
daran erinnert, dass es 1994 darum ging, ob sich die deut-
sche Marine an dem Einsatz zur Kontrolle des Waffen-
embargos in der Adria beteiligen bzw. ob deutsche Piloten
in den AWACS-Flugzeugen mitfliegen dürfen.

Ähnlich absurd war etwas anderes, was sich ebenfalls
auf dem Parteitag der Grünen letzte Woche zugetragen
hat. Wie weit ist es gekommen, wenn schon ein Delegier-
ter aus Bad Kreuznach mit einem nur als bescheuert zu be-
zeichnenden Antrag fast eine Regierungskrise auslösen
kann?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben nichts dazuzulernen. Wir wussten immer, dass
weder Pazifismus noch Wehrlosigkeit ein mörderisches
System, das entschlossen mit Gewalt und Terror gegen
Schwache vorgeht, aus der Welt schaffen können. Wir
wären froh gewesen, wenn Sie sich damals so verhalten
hätten, wie wir es heute tun.

Wir sind unseren Soldatinnen und Soldaten dankbar,
die stellenweise unter schwierigsten Umständen ihren
Dienst verrichten, damit Menschen in Regionen außer-
halb des Bündnisgebietes wieder eine Lebensperspektive
bekommen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422805900
Kollege Rauber, Sie
haben Ihre Redezeit überschritten.


Helmut Rauber (CDU):
Rede ID: ID1422806000
Die Lage in Mazedo-
nien ist nicht stabil. Das hat die Bundesregierung selbst
zugegeben. Wir hoffen, dass alle unsere rund 600 Solda-
tinnen und Soldaten bald wieder gesund nach Hause kom-
men. In diesem Sinne stimmen wir der Verlängerung des
Mandats zu.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422806100
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache
14/8624 zu dem Antrag der Bundesregierung auf Fortset-
zung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte




Helmut Rauber

22649


(C)



(D)



(A)



(B)


an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedonischem
Territorium. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt, den
Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 14/8500 an-
zunehmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Zur
Abstimmung liegt eine Erklärung nach § 31 der Ge-
schäftsordnung des Bundestages vor.

Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, bei der
Stimmabgabe sorgfältig darauf zu achten, dass die Stimm-
karten, die sie verwenden, ihren Namen tragen.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an
den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
stimmung.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Nein, wir sind so
weit. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be-
ginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.1)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die Reihe
der Abstimmungen fort.

Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 14/8637. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 20 b: Wir kommen zur
Schlussabstimmung

über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetz-
entwurf zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsab-
kommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der ehemaligen
jugoslawischen Republik Mazedonien andererseits,
Drucksachen 14/7766 und 14/8512. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
ben. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 20 d: Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen
Ausschusses auf Drucksache 14/7534 zu dem Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP zu dem Antrag
der Bundesregierung zur Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem NATO-geführten Einsatz auf
mazedonischem Territorium zum Einsammeln und Zer-
stören von Waffen. Der Ausschuss empfiehlt, den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
14/6838 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der
beiden anderen Fraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 20 e: Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf
Drucksache 14/7535 zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU zum Antrag der Bundesregierung
zu dem zuvor genannten NATO-geführten Einsatz. Der
Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag der Frak-
tion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6839 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit derselben Mehrheit wie soeben angenommen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes

(Viertes Finanzmarktförderungsgesetz)

– Drucksache 14/8017 –

(Erste Beratung 212. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses

(7. Ausschuss)

– Drucksachen 14/8600, 14/8601 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Nina Hauer
Leo Dautzenberg
Andrea Fischer (Berlin)

Carl-Ludwig Thiele
Heidemarie Ehlert

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Nina Hauer, SPD-Fraktion, das Wort.


Nina Hauer (SPD):
Rede ID: ID1422806200
Herr Präsident! Verehrte Damen
und Herren! Es freut mich, dass wir heute hier das Vierte
Finanzmarktförderungsgesetz verabschieden können. Es
handelt sich um einen weiteren Schritt einer Politik, die
den Finanzplatz Deutschland stärken soll. Es ist eingebet-
tet in verschiedene Vorhaben, die wir zum größten Teil
schon abgearbeitet haben. Ich nenne als Beispiele die
Strukturreform der Bundesbank, das Übernahmegesetz,
die integrierte Finanzaufsicht, die Allfinanzaufsicht und
natürlich auch die Steuerreform. Deutschlands Finanz-
markt ist leistungs- und wettbewerbsfähig. Wir sorgen da-
für, dass das auch so bleibt und wir auch im internatio-
nalen Wettbewerb Schritt halten können.
Wir beobachten einen Strukturwandel des Finanzmarktes.
Die Entwicklungen in der Kommunikationstechnologie
beschleunigen den Handel mit Geld und Wertpapieren,
die Integration des europäischen Finanzmarktes schreitet
voran, Börsendienstleistungen werden immer internatio-
naler abgefragt und Börsen kooperieren sowohl in
Deutschland als auch europaweit immer stärker miteinan-




Präsident Wolfgang Thierse
22650


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Ergebnis Seite 22658 A

der, während zugleich der Wettbewerb zwischen Han-
delssystemen immer größer wird.

Ein starker Finanzmarkt ist für die Finanzierung von
Unternehmen in Deutschland notwendig. Aktienemis-
sionen sind immer noch ein Instrument zur Unterneh-
mensfinanzierung, das in Deutschland zum Teil jetzt erst
richtig von unseren Unternehmen angenommen wird.
Umso wichtiger ist es, dass wir die an den Börsen gelten-
den Regeln weiterentwickeln und voranbringen. Mit dem
vorliegenden Gesetz wollen wir das tun: Wir erleichtern
die Bildung von Qualitätssegmenten im Börsenhandel,
ordnen das Maklerrecht neu und geben den Börsen die
Möglichkeit, die von ihnen eingesetzten Handelssysteme
selber auszugestalten.

Es ist eine falsche Auffassung, zu denken, dass der Fi-
nanzmarkt immer dort am attraktivsten ist, wo er am we-
nigsten geregelt wird; das Gegenteil ist der Fall. Da, wo
Chaos herrscht, werden Anleger und Emittenten verunsi-
chert und sind dann nicht bereit, zu investieren. Deshalb
sorgen wir dafür, dass die Börsenaufsicht gestrafft wird
und die alternativen Handelssysteme in diese Aufsicht mit
einbezogen werden. Diese Regelung ist, wie ich denke,
dringend überfällig. Wir fassen die Vorschriften, die Kurs-
und Marktpreismanipulationen verbieten, neu, erschwe-
ren diese damit und weisen die Aufsicht darüber der von
uns jetzt gegründeten integrierten Finanzaufsicht zu. Es
ist erfreulich, dass wir darüber eine Einigung mit den
Bundesländern erzielt haben.

Ich freue mich darüber, weil es so gelingt, die Aufsicht
konkreter, übersichtlicher und handlungsfähiger zu ma-
chen. Eine solche Aufsicht muss in die Hände des Bundes
und darf allein schon deshalb nicht bei den Ländern blei-
ben, weil Kurse auch aus Bundesländern manipuliert
werden können, die keine eigenen Börsen haben. Eine
Aufsicht auf Länderebene hätte keine Chance, das zu be-
obachten. Ich denke, die EU tut Recht daran zu sagen,
dass die Börsenaufsicht in nationale Hand gehört und
nicht aufgrund von föderalen Strukturen zerstückelt wer-
den darf.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wenn Sie selber daran glauben, dann ist das wohl so!)


Dass wir in diesem Punkt eine Einigung mit dem Bun-
desrat erzielen konnten, ist im Sinne der Börsen und un-
seres Finanzmarktes.

Wir haben die Finanzmarktaufsicht aber auch in die
Lage versetzt, Kursmanipulationen sofort und unmittel-
bar zu sanktionieren. Das ist ein wichtiger Bereich. Es
darf nicht sein, dass dann, wenn ein Manipulationsver-
dacht aufkommt, erst eine Riesenmaschinerie in Gang ge-
setzt werden muss. Die Aufsicht muss selber handeln kön-
nen. Auch das ist im Interesse des Finanzmarkts.

Immer mehr Menschen betreiben ihre Vermögensbil-
dung und auch ihre Altersvorsorge am Kapitalmarkt.
Nicht zuletzt unsere Rentenreform hat dieses Verhalten
aufgegriffen und unterstützt die Vorsorge am Kapital-
markt. Gerade deshalb müssen Verbraucher am Finanz-
markt vor Falschinformationen geschützt werden und
eine gesicherte Rechtsposition erhalten. Ansonsten wären

die Vermögens- und die Altersvorsorge der Menschen ge-
fährdet. Wir sind der Meinung, dass Anleger auch Ver-
braucher sind, die einen Anspruch auf Transparenz und
Rechtssicherheit haben. Dieses Gesetz räumt ihnen dies
ein.

Ich will das an Beispielen darstellen:
Bei Ad-hoc-Mitteilungen soll verhindert werden, dass

überflüssige Mitteilungen veröffentlicht werden. Die Flut
von Informationen soll also eingegrenzt werden. Auf der
anderen Seite muss dafür gesorgt werden, dass falsche
Mitteilungen unverzüglich berichtigt werden, weil sie
dazu führen können, dass Anleger in die Irre laufen und
falsch investieren.

Insider müssen mitteilen, wenn sie Insidergeschäfte
tätigen, damit auch auf diesem Gebiet Transparenz
herrscht.

Wertpapieranalysten sind verpflichtet, Interessenkon-
flikte offen zu legen und mit Sorgfalt zu analysieren. Ich
denke, dass auf diesem Gebiet dringender Handlungsbe-
darf bestand.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer durch unterlassene oder verspätete Veröffentli-
chungen geschädigt wurde, hat jetzt Anspruch auf Scha-
denersatz. Das Zentrale für die Bürgerinnen und Bürger
an diesem Gesetz ist, dass die Anleger als Verbraucher be-
handelt werden und als solche eine Rechtsposition haben.
Wenn durch Falschverhalten der Marktteilnehmer eine
Schädigung eingetreten ist, können sie dagegen klagen.
Das wird unseren Finanzmarkt stärken und dafür sorgen,
dass sich Emittenten und Anleger am Finanzplatz
Deutschland wohl fühlen und investieren.

Mich freut, dass wir dieses Gesetz gemeinsam mit den
Ländern auf den Weg gebracht haben. Es tut mir Leid,
dass sich die CDU/CSU-Fraktion mit ihren Parteifreun-
den in den Ländern leider nicht abgesprochen hat und
dagegenstimmen will.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist eine falsche Darstellung, Frau Kollegin!)


Mit diesem Gesetz sind wir auf dem richtigen Weg, um
den Kapitalmarkt sicherer, vielleicht auch ein bisschen
populärer zu machen. Wir eröffnen damit unserer Wirt-
schaft hinsichtlich der Finanzierung von vorhandenen
und neuen Unternehmungen eine neue Perspektive. Des-
wegen freue ich mich, dass wir die Beratungen über die-
ses Gesetz heute erfolgreich abschließen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Zuverlässigkeit, die wir mit diesem Gesetz schaf-
fen, gilt für beide Marktteilnehmer: sowohl für die Emit-
tenten als auch für die Anleger. In Zukunft werden wir in
diesem Wirtschaftszweig – der Finanzmarkt bedeutet im-
mer auch Arbeitsplätze – einen großen Fortschritt erzielen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Nina Hauer

22651


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422806300
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion.


Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1422806400
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In dem von der rot-grünen
Bundesregierung vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur
weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutsch-
land, dem so genannten Vierten Finanzmarktförderungs-
gesetz, heißt es – ich zitiere –:

Zur Stärkung seiner Leistungsfähigkeit
– also des Finanzplatzes Deutschland –

und zur Sicherung der Marktintegrität bedarf es einer
ständigen Fortentwicklung und Modernisierung der
rechtlichen Vorschriften und ihrer Anpassung an sich
ändernde Rahmenbedingungen.

Was hier so vielversprechend und sehr vollmundig an-
gekündigt wurde, ist jedoch überwiegend misslungen.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Ich möchte klarstellen: Wir brauchen dringend die vierte
Novelle des Finanzmarktförderungsgesetzes, um den Fi-
nanzplatz Deutschland im internationalen Wettbewerb
zu stärken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Von einem leistungsfähigen und ökonomisch gesunden
Finanzmarkt hängen wirtschaftliches Wachstum und
eine Vielzahl von Arbeitsplätzen ab. Jedoch sind die von
den Regierungsfraktionen vorgelegten Regelungen kei-
nesfalls geeignet, diesen hohen Anforderungen zu genü-
gen – im Gegenteil. Frau Kollegin Hauer, Sie haben schon
ausgeführt, was hinsichtlich der Aufsicht, der Verbrau-
cherinteressen und des Marktzugangs geregelt worden ist.
Es ist unbestritten, dass das notwendig ist. Aber es gibt
große, gravierende Mängel, mit denen Sie dieses Gesetz
zusätzlich befrachtet haben, wodurch der Finanzplatz
Deutschland nicht gestärkt, sondern behindert wird.

Auch einige Vertreter von Interessenverbänden haben
im Verlaufe der Anhörungen die Ansicht geäußert, es sei
besser, einen teilweise missglückten Gesetzentwurf anzu-
nehmen als gar keinen, um keinen Reformstau zu verursa-
chen. Diese Auffassung halte ich für grundlegend falsch.
Wenn die Grundbedingungen eines solchen Entwurfes
nicht zustimmungsfähig sind, sollte man ihm auch nicht
zustimmen.

Der Gesetzentwurf – das habe ich betont – enthält
zweifelsohne einige richtige Regelungen, aber entschei-
dend sind die zentralen Punkte. Diese gehen in die falsche
Richtung. Deshalb ist der Entwurf in der Gesamtheit ab-
zulehnen.

Bevor ich auf einzelne gravierende inhaltliche Mängel
eingehe, sollten die verfahrensrechtlichen Schwach-
punkte benannt werden. Allein die Vorgehensweise der
Bundesregierung und der Fraktionen der SPD und der
Grünen auch während des Verlaufs der parlamentari-
schen Beratungen spricht für sich. Schon seit längerem
haben die beteiligten Interessengruppen die Bundesregie-
rung auf die Notwendigkeit der Reform hingewiesen. Der

Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde mehrmals an-
gekündigt. Bei diesen Ankündigungen blieb es aber
zunächst.


(Heinz Wiese [Ehingen] [CDU/CSU]: Das ist immer das Gleiche!)


Diese Vorphase zog sich über mehr als drei Jahre hin. Der
schließlich von der Regierung vorgelegte Entwurf ist mit
seinen über 400 Seiten nur in seiner Quantität beispiel-
haft. Innerhalb von nur anderthalb Tagen mussten wir in
den Beratungen mehr als 90 Umdrucke bewältigen.
Zum Teil liegt das auch daran, dass in den Entwurf Rege-
lungen aufgenommen wurden, die mit dem primären
Regelungsziel, nämlich der Stärkung des Finanzplatzes
Deutschland, nichts zu tun haben. Ich nenne in diesem Zu-
sammenhang nur die Vorschriften zur Geldwäsche-
bekämpfung. Diese Normen werden Kosten in Milliar-
denhöhe verursachen und sind zudem wenig zielführend.

Auch der von der Bundesregierung vorgelegte Zeitplan
war viel zu kurz angesetzt und für uns im Grunde unzu-
mutbar. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren,
dass die Bundesregierung die Reform, nachdem das ge-
samte Reformvorhaben scheinbar ohne erkennbaren
Grund von ihrer Seite unnötig verzögert wurde – das Vor-
verfahren zog sich, wie ich betont habe, über mehr als drei
Jahre hin –, nun im Hauruckverfahren durchzieht. Eine
solch komplexe und anspruchsvolle Materie wie die
grundlegende Umstrukturierung des deutschen Finanz-
marktes kann nicht innerhalb von zwei Monaten mit dem
notwendigen Verantwortungsbewusstsein und der erfor-
derlichen Gründlichkeit abschließend beraten werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dies ist in höchstem Maße unseriös. Aber es scheint Me-
thode dahinter zu stecken, denn bei anderen Gesetzge-
bungsverfahren, etwa im Bereich des Steuerrechts, war
der Ablauf ähnlich.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genauso!)

Die Gesetze, die die Bundesregierung mit ihrer Parla-

mentsmehrheit durchpeitscht, sind mit heißer Nadel ge-
strickt und entsprechend schlecht ist das Ergebnis.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Reparaturbedürftig!)


Zudem zeugt es von mangelnder Professionalität, wenn
Rot-Grün selbst einen Entschließungsantrag mit Absichts-
erklärungen und Prüfaufträgen an die Regierung ein-
bringt, obwohl sie diese Punkte bis zuletzt selbst ins
Beratungsverfahren hätten einbringen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Den haben wir doch zurückgezogen, weil alles drinsteht!)


Dieses Verfahren ist an sich schon ein Treppenwitz der
Geschichte.

Wir beraten zurzeit ja auch Basel II. Wenn man die
Standards des entsprechenden Ratings zum Maßstab neh-
men würde, wäre das eine Sechs.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Dieses Rating gibt es noch gar nicht!)







(C)



(D)



(A)



(B)


– Das hat Sie gerettet, Herr Kollege, dass es dieses Rating
noch nicht gibt, sonst könnte man diesen Maßstab schon
anlegen.

Ein anderer Exkurs sei mir kurz gestattet. Wir behan-
deln zurzeit auch EU-Richtlinien in Brüssel. Es wäre
wichtig gewesen, zumindest das, was noch an Regelungs-
bedarf für die Zukunft besteht, in ein solches
Gesetzgebungsverfahren mit einzubinden. Hier ist im
Vorhinein etwas beschlossen worden, was teilweise durch
die EU-Regelungen konterkariert werden kann.

Ein weiterer Punkt muss betont werden, der ein Bei-
spiel dafür ist, wie die Regierung hier verfährt. Bei der
Vorbereitung der EU-Richtlinien und der Festlegung der
Grundstrukturen des Finanzmarktes auf europäischer
Ebene war unsere Regierung auch von der personellen
Vertretung her mangelhaft vertreten, während andere
Staaten, beispielsweise Großbritannien, gerade bei diesen
Fragen mit mehr als 30 Personen beteiligt waren.


(Zuruf von der CDU/CSU. Die setzen sich dann auch durch!)


Wir haben demnächst über 50 Richtlinien zu erwarten,
die wir hier behandeln müssen. Deshalb ist es wichtig,
dass wir im Vorfeld beteiligt sind. Es ist schon kurios, wie
Kanzler Schröder sozusagen als Elefant im Porzellanla-
den gegenüber den europäischen Partnern aufgetreten ist.
Es wäre angebrachter gewesen, wenn er sich mit den Ver-
antwortlichen in Brüssel zur Vorbereitung der entspre-
chenden Maßnahmen abgestimmt hätte.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich komme nun zu den einzelnen Mängeln des Geset-

zes.
Erstens, zum Börsengesetz. Hier fehlt nach wie vor

eine Legaldefinition von Börse als öffentlicher Auftrag.
Es ist bedenklich, dass selbst die Börsensachverständi-
genkommission nicht dazu geraten hat, eine Definition
aufzustellen. Es wäre aber wichtig, wenn einmal definiert
würde, was der öffentliche Auftrag der Börse ist.

Es gibt neuere Entwicklungen im Bereich von Han-
delssystemen und außerbörslichen Handelsplattformen,
die beobachtet werden müssen. Es ist ferner darauf zu
achten, inwieweit diese Entwicklungen die börsliche
Preisfeststellung beeinflussen werden. Aufgabe des Ge-
setzgebers ist es, den börslichen Preisbildungsprozess zu
definieren. Es muss sichergestellt werden, dass die Liqui-
dität des börslichen Preisfeststellungsprozesses nicht
durch schleichende Verlagerung des Handels unter ande-
rem auf alternative Handelssysteme ausgetrocknet wird.
Interessenausgleich und Chancengleichheit müssen ins-
besondere für die kleinen Anleger gewahrt werden. Das
ist auch unsere Erwartungshaltung an Xetra-Best.

Zweitens, zum Wertpapierhandelsgesetz. Nach dem
Gesetzentwurf soll die Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
tungsaufsicht Leerverkäufe in zur inländischen Börse zu-
gelassenen Aktien untersagen können, wenn eine erhebli-
che Marktstörung droht, die schwerwiegende Gefahren für
die Gesamtwirtschaft oder das Finanzsystem erwarten
lässt. Alle Experten haben in der Anhörung des Finanz-
ausschusses darauf hingewiesen, dass diese Ermächtigung

der Behörde, in bestimmten Marktsituationen Leerver-
käufe zu untersagen, die Stabilität des Finanzmarktes nicht
erhöht. Im Gegenteil: Sie steigert die Unsicherheit der
Marktteilnehmer und mindert die Attraktivität des Finanz-
platzes Deutschland. Man muss daher befürchten, dass
sich die Marktteilnehmer auf andere Märkte in Europa
konzentrieren, wenn Marktsegmente außer Kraft
gesetzt werden. Dies wird Auswirkungen auch auf die
Kassamärkte haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Wülfing [CDU/CSU]: So ist das!)


In diesem Punkt können wir uns durchaus ein Beispiel
an den angelsächsischen Ländern nehmen, die ein effizi-
enteres und differenzierteres System zur Unterbindung
und Rückgängigmachung von Geschäften aufgebaut ha-
ben. Dieses System beinhaltet keine Aussetzung von
ganzen Marktsegmenten.

Drittens, zum Auslandsinvestmentgesetz. Wir haben
eine Ungleichbehandlung für so genannte ausländische
„Weiße Fonds“ durch das Auslandsinvestmentgesetz. Das
von Ihnen beschlossene Halbeinkünfteverfahren soll
nämlich nicht auf diese Fonds angewendet werden.

Viertens, zum Kreditwesengesetz. Der automatisierte
Abruf von Kontoinformationen soll durch die Bundesan-
stalt für Kreditwesen gewährleistet werden. Diese Vor-
schrift ist auf das Schärfste abzulehnen.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: George Orwell lässt grüßen! Überwachungsstaat Deutschland!)


Man muss sich dieses Vorhaben einmal bewusst vor Au-
gen führen. Es werden Daten von über 400 Millionen
Konten auf Abruf bereitgestellt,


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Unglaublich!)

ohne dass darüber die Bank oder der Kunde informiert
wird. Als Alternative haben wir gemeinsam mit dem Zen-
tralen Kreditausschuss einen anderen Vorschlag vorge-
legt. Es ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sinn-
voller, dass die Aufsichtsbehörde anlassbezogen per
E-Mail die Daten abruft. Die Banken müssen dann inner-
halb eines bestimmten Zeitraumes Auskunft erteilen. Das
ist das effektivere und effizientere Instrumentarium. Es ist
auch unserer Rechtsnorm angemessen.

Da meine Redezeit zu Ende geht, will ich nur darauf
verweisen, dass wir noch weitere Vorstellungen hinsicht-
lich der Anpassung der Rechtsnormen für Hypotheken-
banken und für die Geschäfte mit Derivaten haben. Man
kann diese Vorstellungen auch auf öffentliche Pfandbrief-
anstalten erweitern. Das haben Sie abgelehnt.

Ein kleiner Erfolg war, dass Sie unseren Antrag in dem
Punkt akzeptiert haben, in dem es im Rechtsberatungs-
gesetz um die so genannten Asset-Backed-Securities-
Transaktionen geht. Diese sind nun in der Interpretation
des Rechtsberatungsgesetzes abgesichert.

Abschließend verweise ich auf unseren Entschlie-
ßungsantrag, in dem wir unsere Vorstellungen zusam-
mengefasst haben. Dieses Gesetz geht nach unserer
Auffassung in wichtigen Punkten hinsichtlich der Finanz-
marktaufsicht in die richtige Richtung, andere Punkte




Leo Dautzenberg

22653


(C)



(D)



(A)



(B)


konterkarieren das aber. Wir wollen ein Viertes Finanz-
marktförderungsgesetz, das der Förderung des Finanz-
marktes dient und nicht der Verhinderung und Behinde-
rung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Das war keine Triple-ARede!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422806500
Ich erteile das Wort
der Kollegin Andrea Fischer, Bündnis 90/Die Grünen.

Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Dautzenberg, aufgrund meiner Zeit in der Oppo-
sition habe ich viel Verständnis dafür, dass Sie diesem Ge-
setz zu Beginn dieses Wahljahres nicht zustimmen kön-
nen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hat mit dem Wahljahr nichts zu tun!)


Sie haben dafür allerdings nur sehr kleinliche Begrün-
dungen geliefert.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das sind zentrale Punkte!)


Glauben Sie mir, ich verfüge über reichlich Erfahrung,
was umstrittene Gesetze anbelangt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das können wir uns vorstellen!)


Aber angesichts dessen, was ich in der Anhörung des Fi-
nanzausschusses gehört habe, kann ich Ihnen sagen, dass
dieses Gesetz nicht umstritten ist. Alle Fachleute haben
bestätigt, dass wir dieses Gesetz brauchen, haben aber an
bestimmten Punkten Kritik anzubringen gehabt. Deswe-
gen finde ich es erbärmlich, wenn Sie mit Verweis auf ein-
zelne Punkte von dem ganzen Gesetz, das einen Umfang
von 500 Seiten hat und eine sehr große Reichweite besitzt,
behaupten, dass es völlig missraten sei.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: „Einzelne Punkte“?)


Sie wissen genauso gut wie ich, dass es dringend not-
wendig ist, die deutschen Finanzmärkte den international
gültigen Regelungen anzupassen. Daneben besteht ange-
sichts der Ereignisse der letzten ein bis zwei Jahre, durch
die das Vertrauen der Anleger erschüttert wurde, erhebli-
cher Anlass, das Vertrauen wieder herzustellen. Das ist
das Ziel dieses Gesetzes. Es gibt den Anlegern neue Mög-
lichkeiten, ihre Entscheidungen zu überprüfen und sie auf
eine sichere Grundlage zu stellen.

Die Punkte, die Sie, Herr Dautzenberg, aber auch die
Kollegen von der FDP sich zu Eigen machen, sind nicht
geeignet, etwas im Sinne der Kleinanleger zu ändern.
Das Gesetz dient doch ganz wesentlich dazu, dass Klein-
anleger, also Menschen, die nicht den ganzen Tag profes-
sionell die Börse beobachten, sondern einen Teil ihrer Er-
sparnisse anlegen und nur begrenzte Zeit haben, sich
damit zu befassen, verlässlichere Informationen bekom-

men und diese sicherer überprüfen können. Das ist ein
ganz entscheidender Punkt, der auch in der Anhörung eine
zentrale Rolle gespielt hat. Schon heute legen 15 Milli-
onen Menschen in unserem Lande ihr Geld in Aktien an.
In deren Interesse sind viele der neuen Regelungen in die-
sem Gesetz. Das wird von Ihnen in keiner Weise positiv
bewertet. Sie wollen ihnen diese Regelung noch nicht
einmal gönnen, indem Sie gegen dieses Gesetz sind.
Dafür habe ich ganz wenig Verständnis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich habe den Eindruck, dass Sie versuchen, sich hier an
einigen Punkten hochzuziehen, die meines Erachtens
nicht zu den eigentlich wichtigen Regelungen gehören.
Beispielsweise haben wir im Ausschuss lange über die
Frage gestritten, ob sich all diejenigen, die Leerverkäufe
durchführen, von der Regelung abgeschreckt fühlen, dass
die Börsenaufsicht in ganz bestimmten Situationen ein-
greifen kann. Ich halte das für eine realitätsferne Ein-
schätzung. Die Börsenaufsicht wird nur in wirklich extre-
men Situationen einschreiten. Dafür wird der Rest der
Finanzmarktteilnehmer dann auch dankbar sein. Ansons-
ten hat die Börsenaufsicht genau dasselbe Interesse wie
Sie und ich, nämlich sicherzustellen, dass Leerverkäufe
ihre sinnvolle Funktion im Finanzmarkt erfüllen können.

Ich komme zu einem weiteren entscheidenden Punkt.
Wir haben lange und ausführlich mit dem Datenschutz-
beauftragten und mit anderen Fachleuten über die Frage
der Kontendaten und deren Abruf diskutiert. Es werden
nicht die Bewegungsdaten abgerufen, sondern nur die
Stammdaten. Darüber hinaus ist noch eine Reihe von Re-
gelungen getroffen worden, von denen der Datenschutz-
beauftragte gesagt hat, dass die Regelungen in der Weise,
wie sie jetzt bestehen, das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung nicht verletzen und dass sie vor dem
Hintergrund der Sicherheitsmaßnahmen, die wir in den
letzten Monaten aus ernstem Anlass treffen mussten, ge-
rechtfertigt sind. Deswegen ist die diesbezügliche Kritik
weit überzogen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Für mich ist es enttäuschend, wenn in dieser Kritik un-
tergeht, was wir alles erreicht haben. Für einen funktio-
nierenden Finanzmarkt ist es von größter Bedeutung, dass
alle, die sich auf ihm tummeln – seien es die professio-
nellen, seien es die privaten Anleger –, darauf vertrauen
können, dass die grundlegenden Regeln eingehalten wer-
den. Deswegen ist es wichtig, dass wir für einige Fälle, in
denen diese Regeln verletzt werden, sogar Sanktionen
eingeführt haben.

Ich will hier insbesondere nennen, dass wir die Analys-
ten stärker in die Pflicht nehmen. Gerade jene, die mit
ihren Aussagen sehr viele Leute erreichen, sind dazu ver-
pflichtet, Interessenkonflikte auf jeden Fall zu vermeiden.
Wenn sie dies nicht tun, werden sie dafür entsprechend
zur Rechenschaft gezogen. Insgesamt ist es meiner Mei-
nung nach unglaublich wichtig, dass wir bei Falschinfor-
mationen seitens der Unternehmen die Möglichkeit des
Schadenersatzes einführen. In den letzten Monaten gab es




Leo Dautzenberg
22654


(C)



(D)



(A)



(B)


einige einschlägige Prozesse. Wir haben auf diesem Feld
einen ersten Schritt gemacht. Ich will nicht verhehlen,
dass ich weitere Schritte für notwendig halte, nämlich die
Vorstandsmitglieder individuell in die Verantwortung zu
nehmen. Aber für diese Legislaturperiode war ein so kom-
plexer Bereich nicht mehr zu schaffen.

Unter dem Strich kann man sagen: Das heute zu ver-
abschiedende Gesetz ist ein gewaltiger Schritt und dient
sowohl der Stärkung der Finanzmärkte insgesamt als auch
der Stärkung der Verbraucherinnen und Verbraucher,
nämlich denjenigen, die einen Teil ihrer Ersparnisse in
Aktien anlegen. Niemand in diesem Haus hat behauptet,
dass das der allerletzte Schritt ist, den wir tun müssen, um
die Finanzmärkte fit zu machen für die veränderten An-
forderungen. Aber die Tatsache, dass noch weitere
Schritte erforderlich sind, kann uns ja wohl schlecht da-
ran hindern, diesen jetzt notwendigen Schritt zu gehen.
Deswegen ist es gut, dass wir dieses Gesetz heute verab-
schieden werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422806600
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gerhard Schüßler, FDP-Fraktion.


Gerhard Schüßler (FDP):
Rede ID: ID1422806700
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Ziele des vorlie-
genden Gesetzentwurfs werden von der FDP unterstützt.
Gleiches gilt für weite Teile der Umsetzung. Traditionell
ist der Finanzplatz Deutschland nie Gegenstand politi-
schen Streits gewesen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)

Dennoch wird die FDP den Gesetzentwurf ablehnen.

Das hat zunächst etwas mit Inhalten zu tun. Die Regelun-
gen, die angeblich der Geldwäsche dienen sollen, betref-
fen nicht die Förderung des Finanzplatzes und sind schon
deshalb von vornherein abzulehnen. Sie, meine Damen
und Herren von der Koalition, schaffen hier in rechts-
staatlich äußerst bedenklicher Weise den gläsernen Bür-
ger. Dieser soll über höhere Bankgebühren finanzieren,
dass der Staat jederzeit Informationen über seine Konten
abrufen kann. Diese Regelung ist vollkommen unverhält-
nismäßig und daher rechtlich mehr als fraglich. Sie kri-
minalisieren unbescholtene Bürger und unterstellen ihnen
die Absicht der Steuerhinterziehung. Das macht die FDP
auf gar keinen Fall mit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wir auch nicht!)


Auch das Gesetzgebungsverfahren und die Einstel-
lung der Bundesregierung gegenüber dem Parlament sind
scharf zu kritisieren. Die bisherigen Finanzmarktförde-
rungsgesetze waren ebenso wie der vorliegende Entwurf
umfassende Artikelgesetze, so genannte Omnisbusse. Das
lässt sich bei der Fülle der betroffenen Gesetze wohl nicht
immer vermeiden. Vermeiden lässt sich aber ein derart un-
mögliches, weil gedrängtes Verfahren.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Heidemarie Ehlert [PDS])


So hat die Bundesregierung kurz vor der vorgesehenen
abschließenden Beratung im Finanzausschuss an die
100 Änderungsanträge in das Parlament eingebracht, die
den eigenen Gesetzentwurf ergänzen, präzisieren oder
korrigieren sollen. Zwar wurde das Ende der Beratungen
um eine Woche verschoben. Kein Mitglied des Finanz-
ausschusses kann aber von sich behaupten, dass es diese
vielen Anträge hätte gründlich durcharbeiten und sich je-
weils eine Meinung dazu hätte bilden können. Mein Ver-
ständnis als Mitglied dieses Hauses zumindest verbietet
es mir, eine solche Flickschusterei, deren Auswirkungen
man überhaupt nicht abschätzen kann, mitzumachen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es ist mir klar, liebe Kolleginnen und Kollegen von der

Koalition, dass Sie hier eine andere Meinung vertreten
müssen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Freiwillig!)


– Freiwillig, natürlich. Sie haben nur nach massivem
Druck noch einer Woche zusätzlicher Beratungszeit zuge-
stimmt, sonst hätten Sie es gar nicht durchsetzen können.

Es ist aber doch wohl eine Zumutung seitens der Bun-
desregierung, wie selbstverständlich davon auszugehen,
dass die Abgeordneten wichtige Änderungen eines um-
fassenden Gesetzes innerhalb weniger Tage sozusagen
durchwinken. Gesetzgeber ist immer noch der Deutsche
Bundestag und nicht ein Bundesministerium.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir sollten dafür sorgen, dass dies auch außerhalb dieses
Hauses akzeptiert wird. Schließlich trägt dieses Parlament
die Verantwortung.

Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition, mögen blind der von Ihnen gestellten Bundes-
regierung folgen. Die FDP jedenfalls lässt sich nicht als
Stimmvieh missbrauchen. Aus den genannten Gründen
lehnen wir das Gesetz ab.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422806800
Ich erteile der Kolle-
gin Heide Ehlert, PDS-Fraktion, das Wort.


Heidemarie Ehlert (PDS):
Rede ID: ID1422806900
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Es ist sicherlich unstrittig, dass wir
heute über einen Gesetzentwurf abstimmen, der von nicht
unerheblicher Bedeutung für die weitere Entwicklung des
Finanzplatzes Deutschland und seine Wettbewerbsfähig-
keit ist. Es ist aber bedauerlich, dass die Regierung es
nicht vermocht hat, ein solch umfangreiches Gesetz so
vorzulegen, dass angemessene Beratungszeiträume zur
Verfügung stehen. Zeit wäre genug gewesen.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen nicht nur
die börsenrechtlichen Vorschriften, sondern 14 beste-
hende Gesetze sowie die Abgabenordnung geändert wer-
den. Dafür sollte von der Regierung eine solide Vorarbeit
geleistet werden.


(Beifall bei der PDS)





Andrea Fischer (Berlin)


22655


(C)



(D)



(A)



(B)


Das Gegenteil aber war der Fall. Scheinbar in der Hoff-
nung, die Opposition überfahren zu können, wurde keine
ausreichende Beratungszeit eingeräumt. Hinweise der
Sachverständigen in der Anhörung wurden nicht aufge-
nommen. Im Hauruckverfahren wurden wir knapp zwei
Tage vor der entscheidenden Ausschussberatung mit weit
über 90 Umdrucken konfrontiert. Darunter waren auch
Vorschläge des Bundesrates, die bereits bei der Einbrin-
gung des Gesetzes, also rechtzeitig, vorlagen. Ich bin ja
bestimmt gutwillig, aber so ist solides Arbeiten nicht
möglich.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, es
zeugt nicht von einer guten Kinderstube, auf Kritik am
Verfahren mit dem Hinweis zu reagieren, die Opposition
sei zu blöd.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wer hat das denn gesagt?Das kann doch gar nicht sein! – Weiterer Zuruf von der SPD: Zumindest war es eine schlechteBegründung!)


Damit reden Sie das Anliegen des vorliegenden Gesetz-
entwurfes klein. Vielleicht war dies allerdings Absicht,
damit wir nicht so genau hinschauen. Der Teufel steckt
bekanntlich immer im Detail.

So soll heute der automatisierte Abruf von Kontenin-
formationen bei den Kreditinstituten ohne Vorinforma-
tion und ohne Verdacht auf das Vorliegen eines Straftat-
bestandes beschlossen werden. Davon wären rund
400MillionenBankkunden betroffen.Überhaupt nicht ge-
klärt ist die Frage der Kosten dieser Aktion. Sachverstän-
dige sprachenvonKosten inHöhevon1MilliardeEuropro
Jahr. Der zentrale Kreditausschuss sprach von zweistelli-
gen Milliardenbeträgen. Obwohl der Bund zu 40 Prozent
an diesen Kosten beteiligt werden soll, steht davon nichts
im Bundeshaushalt. Deshalb nehme ich an, dass die Kos-
ten letztlich von den Bankkunden getragen werden sollen.
Sie dürfen also auch noch dafür zahlen, dass ihre Konten
abgefragt werden dürfen.

Problematisch ist auch der beabsichtigte Zugriff der
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht auf Be-
standsdaten der Telekommunikation. Abgesehen davon,
dass die Telekom noch nichts von ihrem Glück wusste,
dass sie zur Aufzeichnungspflicht verdonnert werden soll,
ist die Frage der Kostenübernahme hier ebenfalls nicht
geklärt. Symptomatisch für die Diskussionskultur zu die-
sen Fragen war, dass die Bedenken des Datenschutzbe-
auftragten zur Aufzeichnungspflicht der Telekom ein-
fach vom Tisch gewischt wurden.

Ich bezweifle, dass es für den Anleger als Verbraucher
einfacher geworden ist, sich auf dem Kapitalmarkt zu
bewegen. Die Vielzahl von Änderungen hat leider nicht
unbedingt zu Transparenz und auch nicht zur Verbesse-
rung des Verbraucherschutzes geführt. Deshalb wird
sich die PDS bei diesem Gesetzentwurf der Stimme ent-
halten.


(Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422807000
Ich erteile der Parla-
mentarischen Staatssekretärin Barbara Hendricks das
Wort.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1422807100
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Der heute zu verabschiedende
Entwurf eines Vierten Finanzmarktförderungsgesetzes ist
Teil einer umfassenden Strategie der Bundesregierung zur
Modernisierung und Förderung des Finanzplatzes
Deutschland. Wie der Name sagt, ist es offenbar notwen-
dig, diese Gesetze in regelmäßigen Abständen zu überar-
beiten; sonst gäbe es heute kein Viertes Finanzmarktför-
derungsgesetz. Unter Ihrer Verantwortung sind drei
beschlossen worden.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das war doch gut!)


Es wird sicherlich noch ein fünftes geben, weil man nie
alles gleichzeitig regeln kann, sich die Märkte weiterent-
wickeln und sich die Produkte ändern. Dieser Gesetzent-
wurf steht insoweit in engem Zusammenhang mit mehre-
ren anderen Gesetzesinitiativen, die insgesamt das Ziel
haben, die Leistungsfähigkeit und Attraktivität des Fi-
nanzplatzes Deutschland fortzuentwickeln.

Wir verfolgen mit diesem Gesetz drei Hauptziele:Ers-
tens wollen wir den Anlegerschutz durch Erhöhung der
Marktintegrität und der Markttransparenz verbessern.
Zweitens wollen wir die Handlungsmöglichkeiten der
Marktteilnehmer erweitern und flexibilisieren. Und drit-
tens wollen wir Lücken im Abwehrsystem gegen die
Geldwäsche schließen und das Aufspüren von Geldern,
die der Finanzierung terroristischer Vereinigungen die-
nen, erleichtern. – Auf diese Weise – auch der dritte Punkt,
Kollege Dautzenberg, gehört eindeutig dazu – wird die
Funktionsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland ge-
schützt, seine Wettbewerbsfähigkeit gestärkt und die
Funktion des Kapitalmarktes als Motor für Wachstum und
Beschäftigung fortentwickelt.

Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme vom De-
zember 2001 umfangreiche Änderungsvorschläge unter-
breitet. Aber auch bei den Ländern besteht kein Zweifel,
dass das Gesetz für den Finanzplatz Deutschland unver-
zichtbar ist. Auf Initiative meines Hauses haben deshalb
Gespräche mit Vertretern des Länderarbeitskreises mit
dem Ziel stattgefunden, Lösungen insbesondere in der po-
litisch wichtigen Frage der Zuständigkeit im Börsen- und
Wertpapierrecht zu erarbeiten. Hier wurden einvernehm-
liche Lösungen erzielt. Das Ergebnis liegt Ihnen heute zur
Beschlussfassung vor.

Das ist auch der Hintergrund dafür, warum wir dem Fi-
nanzausschuss des Deutschen Bundestages in den letzten
beiden Wochen des Gesetzgebungsverfahrens so umfang-
reiche Änderungen vorgelegt haben. Wenn wir dies nicht im
Vorhinein mit den Ländern abgestimmt hätten, wäre die
Alternative gewesen, dass es zu einem Vermittlungsver-
fahren zwischen Bund und Ländern gekommen wäre. Dann
allerdings wären die Einflussmöglichkeiten des Finanzaus-
schusses des Deutschen Bundestages sehr viel geringer ge-




Heidemarie Ehlert
22656


(C)



(D)



(A)



(B)


wesen. Erfahrungsgemäß kann im Fachausschuss des Deut-
schen Bundestages mit mehr Sachkunde gearbeitet werden
als in den üblichen Nachtsitzungen des Vermittlungsaus-
schusses. Die Art des Verfahrens in diesem Hause ist uns
also besonders entgegengekommen. Sonst hätte es die Än-
derungen zu einem späteren Zeitpunkt geben müssen.

Darüber hinaus ist es Ziel der geplanten Änderungen im
Börsengesetz, den Börsen mehr Flexibilität bei der Gestal-
tung des Börsenhandels zu ermöglichen. Im Wertpapier-
handelsrecht wird der Anlegerschutz durch Erhöhung der
Transparenz und der Marktintegrität verbessert. Im Invest-
mentrecht werden die Geschäftsmöglichkeiten von Kapi-
talanlagegesellschaften erweitert und wird auch der Anle-
gerschutz verbessert. Im Bereich des Kreditwesens bestand
Anpassungsbedarf an die internationalen Aufsichts-
grundsätze für eine wirksame Bankenaufsicht.

Darüber hinaus werden Lücken bei der Abwehr von
Geldwäsche und dem Aufspüren der Finanzströme terro-
ristischer Netzwerke geschlossen. Insbesondere müssen
Banken künftig EDV-gestützte Sicherungssysteme zur
Überprüfung von Geschäftsbeziehungen nach Risiko-
gruppen und Auffälligkeiten vorhalten. Dies geschieht al-
lein bankintern und wird nicht abgerufen.

Außerdem wird der künftigen Bundesanstalt für Finanz-
dienstleistungsaufsicht ermöglicht, bei den Banken in einem
automatisierten Verfahren Kontenstammdaten abzurufen.
Da insbesondere die CDU/CSU und die FDP, aber auch die
PDS gerade noch einmal große Bedenken gegen dieses
Verfahren angemeldet haben, möchte ich im Namen der
Bundesregierung noch einmal betonen: Der Bundesdaten-
schutzbeauftragte ist damit selbstverständlich einverstan-
den. Für die Bürgerinnen und Bürger möchte ich deutlich
machen: Es werden dort keine Kontendaten abgerufen, also
nicht etwa Informationen darüber, wie der Kontostand oder
die Kontobewegungen aussehen. Es wird lediglich die Tat-
sache abgerufen, ob ein Mensch Inhaber eines Kontos ist;
mehr wird dort nicht abgerufen.

Dass ein Mensch Inhaber eines Kontos ist, offenbart er
bei jeder Überweisung und jeder Einzugsermächtigung,
die er, bei welcher Institution auch immer, ausfüllt oder
erteilt. Wir gehen also normalerweise relativ großzügig
mit dem Tatbestand um, dass wir Kontoinhaber sind. Bei
jeder Rechnungsüberweisung wird dies dem Geschäfts-
partner offenbar.

Warum also soll es für den Bürger unannehmbar sein,
dass in Zeiten terroristischer Bedrohung danach gefragt
wird, ob er Inhaber eines Kontos ist und wenn ja, bei wel-
cher Bank es geführt wird? Bei einem konkreten Ver-
dacht kann es dann natürlich geprüft werden. Mehr bein-
haltet diese Maßnahme nicht. Das will ich noch einmal
ganz deutlich machen, damit es nicht zu einer ungebühr-
lichen Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürgern
kommt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass das
Vierte Finanzmarktförderungsgesetz die Attraktivität des
Finanzplatzes Deutschland weiter erhöhen wird. Mit dem

Gesetz verbessert der Staat die Rahmenbedingungen für
die Marktteilnehmer und Börsen. Es ist die wichtigste
Maßnahme zur Stärkung des Anlegerschutzes in Deutsch-
land seit 1994.

Ich bitte deshalb um Ihre Zustimmung zu diesem Ge-
setzentwurf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422807200
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur weiteren
Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland, Druck-
sachen 14/8017, 14/8601 und 14/8600. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stim-
men der CDU/CSU und der FDPbei Stimmenthaltung der
PDS angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmergebnis wie soeben ange-
nommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Finanzausschuss die Annahme einer Entschließung.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie soeben ange-
nommen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 14/8674. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenver-
hältnis abgelehnt.

Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 14/8672 wurde zurückgezogen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme noch
einmal auf Tagesordnungspunkt 20 a zurück und gebe das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem
Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-
geführten Einsatz auf mazedonischem Territorium be-
kannt: Abgegebene Stimmen 510. Mit Ja haben gestimmt
470, mit Nein haben gestimmt 34, Enthaltungen 6. Die
Beschlussempfehlung ist damit angenommen.




Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks

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(C)



(D)



(A)



(B)





Präsident Wolfgang Thierse
22658


(C)



(D)



(A)



(B)


Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 510;
davon

ja: 470
nein: 34
enthalten: 6

Ja
SPD
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel (Berlin)

Klaus Barthel (Starnberg)

Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding (Heidelberg)

Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann (Detmold)

Bernhard Brinkmann

(Hildesheim)


Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner (Ingolstadt)

Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Annette Faße
Lothar Fischer (Homburg)

Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich (Mettmann)

Harald Friese
Anke Fuchs (Köln)

Arne Fuhrmann
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser

Renate Gradistanac
Günter Graf (Friesoythe)

Angelika Graf (Rosenheim)

Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack

(Extertal)

Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Alfred Hartenbach
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller (Lübeck)

Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Walter Hoffmann

(Darmstadt)


Iris Hoffmann (Wismar)

Frank Hofmann (Volkach)

Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung (Düsseldorf)

Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange (Backnang)

Detlev von Larcher

Christine Lehder
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann

(Neubrandenburg)


Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dieter Maaß (Herne)

Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Michael Müller (Düsseldorf)

Jutta Müller (Völklingen)

Christian Müller (Zittau)

Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann (Bramsche)

Gerhard Neumann (Gotha)

Dr. Edith Niehuis
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Christel Riemann-
Hanewinckel

Reinhold Robbe
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Birgit Roth (Speyer)

Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Dagmar Schmidt (Meschede)

Wilhelm Schmidt (Salzgitter)

Dr. Frank Schmidt

(Weilburg)


Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt (Berg)

Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Dr. Mathias Schubert
Brigitte Schulte (Hameln)

Volkmar Schultz (Köln)

Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie Sonntag-
Wolgast

Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl (Amberg)

Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt (Pforzheim)

Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Matthias Weisheit
Gert Weisskirchen

(Wiesloch)


Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek (Böhlen)

Helmut Wieczorek

(Duisburg)


Dieter Wiefelspütz
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer (Karlsruhe)

Engelbert Wistuba
Barbara Wittig




Präsident Wolfgang Thierse

22659


(C)



(D)



(A)



(B)


Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf (München)

Waltraud Wolff

(Wolmirstedt)


Heidemarie Wright
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ilse Aigner
Günter Baumann
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Renate Blank
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brudlewsky
Hartmut Büttner

(Schönebeck)


Cajus Caesar
Peter H. Carstensen

(Nordstrand)


Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Anke Eymer (Lübeck)

Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer (Hamburg)

Axel E. Fischer

(Karlsruhe-Land)


Klaus Francke
Dr. Gerhard Friedrich

(Erlangen)


Dr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)


Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Manfred Grund
Horst Günther (Duisburg)

Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein

Gottfried Haschke

(Großhennersdorf )


Hansgeorg Hauser

(Rednitzhembach)


Helmut Heiderich
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link (Diepholz)

Dr. Manfred Lischewski
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Dr. Martin Mayer

(Siegertsbrunn)


Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Meinolf Michels
Bernward Müller (Jena)

Elmar Müller (Kirchheim)

Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Ronald Pofalla
Marlies Pretzlaff
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard (Dresden)

Katherina Reiche
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Franz Romer

Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Gerhard Scheu
Bernd Schmidbauer
Dr.-Ing. Joachim Schmidt

(Halsbrücke)


Andreas Schmidt (Mülheim)

Michael von Schmude
Reinhard Freiherr von
Schorlemer

Gerhard Schulz
Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-
Schilling

Wilhelm Josef Sebastian
Heinz Seiffert
Dr. h. c. Rudolf Seiters
Bernd Siebert
Werner Siemann
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl (Heilbronn)

Michael Stübgen
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß (Emmendingen)

Gerald Weiß (Groß-Gerau)

Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese (Ehingen)

Hans-Otto Wilhelm (Mainz)

Klaus-Peter Willsch
Bernd Wilz
Matthias Wissmann
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann (Aurich)

Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Angelika Beer
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Ekin Deligöz
Amke Dietert-Scheuer
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer (Berlin)

Joseph Fischer (Frankfurt)


Katrin Göring-Eckardt
Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Kerstin Müller (Köln)

Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Werner Schulz (Leipzig)

Christian Simmert
Christian Sterzing
Jürgen Trittin
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm (Amberg)

FDP
Hildebrecht Braun

(Augsburg)


Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Gisela Frick
Horst Friedrich (Bayreuth)

Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Dr. Helmut Haussmann
Birgit Homburger
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger

Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto

(Frankfurt)


Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Max Stadler
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle

Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen

(Bönstrup)


Manfred Carstens (Emstek)

Willy Wimmer (Neuss)

PDS
Monika Balt
Wolfgang Bierstedt
Petra Bläss

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes –
Graffiti-Bekämpfungsgesetz – (... StrÄndG)

– Drucksache 14/8013 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Einige Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.1)

Ich erteile Dr. Ulrich Goll, Justizminister des Landes
Baden-Württemberg, das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1422807300
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei
der Änderung des Strafgesetzbuches, die der Bundesrat
Ihnen vorschlägt, geht es zwar nicht um schwere Krimi-
nalität, aber um einen im wahrsten Sinne des Wortes deut-
lich sichtbaren Missstand, dem sich die Politik stellen
muss.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


An fast allen Ecken und Enden bzw. an den Wänden
und Verkehrsmitteln in vielen Städten der Bundesrepublik
Deutschland sind Schmierereien zu sehen. Wir würden ei-
nen schweren Fehler begehen, wenn wir sie nur achsel-
zuckend als Ausdruck einer neuen Jugendkultur hinneh-
men würden. Sie müssen ohne Umschweife als das
gekennzeichnet werden, was sie sind, nämlich als Be-
schädigung fremden Eigentums.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das Graffitiproblem ist nicht nur eine quasi private

oder zivilrechtliche Angelegenheit, wie man es manchmal
versucht darzustellen, sondern es ist eine öffentliche An-
gelegenheit. Damit verbindet sich auch eine pädagogische
Frage. Die öffentliche Angelegenheit hat mit dem Sicher-
heitsgefühl der Menschen, aber auch mit der objektiven
Sicherheit zu tun. In den allgegenwärtigen Schmierereien
sehen natürlich viele ein Symbol für den Zerfall von Ord-
nung, einen Vorläufer für weitere Zerstörungen, letztlich
eine Gefährdung ihrer eigenen persönlichen Sicherheit.

Damit liegen sie gar nicht so falsch. Wir wissen zum
Beispiel aus der „broken windows“-Studie: Wenn an ei-
nem Haus eine Scheibe eingeschlagen wurde und damit
eine kleine Beschädigung vorliegt, dann wird auch der
Rest sehr schnell ebenfalls zerstört. Genauso ist es in den
Vierteln, die – ich will es einmal so formulieren – von
links bis rechts voll gemalt sind. Dort entsteht der Ein-
druck, dass man sich nicht mehr darum kümmert und
diese Sache schon aufgegeben hat. Es ist kein Wunder,
dass sich die Menschen dort unwohl fühlen, wo die Ord-
nung augenscheinlich nicht mehr durchgesetzt wird. Sie
suchen solche Bereiche zu meiden. Damit stirbt ein Stück




Präsident Wolfgang Thierse
22660


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 3

Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Dr. Bärbel Grygier
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner

Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel

Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Fraktionslose Abgeordnete
Christa Lörcher

Enthalten
CDU/CSU
Norbert Otto (Erfurt)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Annelie Buntenbach
Winfried Hermann
Monika Knoche
Hans-Christian Ströbele
PDS
Manfred Müller (Berlin)

Heino Wiese (Hannover)


Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des
Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete(r)
Ernstberger, Petra** Fuchtel, Hans-Joachim** Ganseforth, Monika** Dr. Köster-Loßack, Angelika**

SPD CDU/CSU SPD BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Dr. Lamers (Heidelberg), Karl A.* Raidel, Hans** Schloten, Dieter** Dr. Schuchardt, Erika**
CDU/CSU CDU/CSU SPD CDU/CSU

* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung der NATO
** für die Teilnahme an der 107. Jahreskonferenz der Interparlamentarischen Union

Freiheit, sie werden gezwungen, ein Stück Freiheit aufzu-
geben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Aber es geht nicht nur um die Freiheit, sondern es wird
natürlich auch ein Stück Boden im Sinne der notwendigen
Ordnung des Zusammenlebens preisgegeben.

Ich komme zu dem pädagogischen Aspekt, von dem
ich gesprochen habe. Wir müssen uns wirklich fragen: Ist
es sinnvoll, gerade den Jugendlichen zu suggerieren, dass
dieser Vorgang so harmlos ist, dass er eigentlich folgenlos
bleibt? Würde irgendjemand seine Kinder so erziehen?
Was würden Sie dazu sagen, wenn Ihre Kinder zum Bei-
spiel im Haus die neuen Türen bemalen? Ist auch das Aus-
druck von Kunst? Würden Sie hier nicht eingreifen? Ist es
nur dann egal, wenn es um fremde Wände geht? Eigent-
lich ist doch sonnenklar, dass wir damit den Jugendlichen
ein falsches Signal geben, wenn wir die Strafbarkeit die-
ses Handelns nicht ganz einfach klarstellen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Neben diesen Aspekten geht es natürlich auch um ei-

nen wirksamen Schutz des Eigentums. Jährlich müssen
von den Eigentümern mehrstellige Millionenbeträge für
die Beseitigung der Schäden aufgewendet werden. Er-
satzansprüche stehen ihnen zwar theoretisch zu, sind aber
in der Realität nur eine Illusion. Das Kuriose ist: Wenn die
Eigentümer zum Schutz ihrer Wände Maßnahmen ergrei-
fen, die die Beseitigung ihrer Schäden erleichtern, dann
spielen sie den Tätern in die Hände. So hat ein Gericht
festgestellt, dass eine Sachbeschädigung dann nicht vor-
liegt, wenn die Wand mit einem Schutzanstrich versehen
wurde, der ein Ablösen der Farbe ermöglicht, ohne den
Untergrund zu verletzen.

Damit sind wir beim eigentlichen Kern des Problems.
Die Rechtsprechung fordert für die Sachbeschädigung
eine Substanzverletzung. Kann die Schmiererei ohne Ein-
griff in den Haftgrund beseitigt werden, sei der Aufwand
auch noch so groß, dann ist der entsprechende Tatbestand
des Strafgesetzbuches nicht erfüllt. Das versteht kein
Mensch. Das ist nicht vermittelbar. Unsere Polizei hat
wahrhaftig wichtigere Aufgaben, als den Farbentyp, die
Haftfähigkeit des Untergrunds und den Beseitigungsauf-
wand mithilfe von Sachverständigen festzustellen. Das ist
ein großer Unsinn.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Habt ihr keine Häuser? Ihr klatscht gar nicht! – Gegenruf der Abg. Angela Marquardt [PDS]: Ich habe kein Haus!)


Ich weiß, dass manche das Strafrecht nicht für den rich-
tigen Ansatz halten. Das weiß ich aus früheren Debatten,
in denen es darum ging, das Graffitiproblem in den Griff
zu bekommen. Ich aber sehe das aus guten Gründen ganz
anders. Das Strafrecht kann dazu beitragen – ich glaube,
das erkennt jeder, der den Bezug zur Realität noch nicht
verloren hat –, unsere Werteordnung zu verdeutlichen.
Dafür ist das Strafrecht da. Zu dieser Werteordnung
gehört auch, dass man fremdes Eigentum achtet. Das
gehört sogar zu den Grundlagen.

Auch mir ist klar, dass das Strafrecht kein Allheilmit-
tel ist. Sie können die Probleme nicht nur mithilfe des
Strafrechts bewältigen. Es müssen viele andere Anstren-
gungen – auch präventiver oder erzieherischer Art – hin-
zutreten.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Versuchen Sie es doch mal damit!)


Allerdings spielt aber auch das Strafrecht hier eine Rolle.
Deswegen schlägt Ihnen der Bundesrat vor, das straf-
rechtliche Problem dadurch zu lösen, dass eine Tat nach
den §§ 303 und 304 des Strafgesetzbuches auch dann als
Sachbeschädigung geahndet werden kann, wenn das Er-
scheinungsbild einer Sache gegen den Willen des Ei-
gentümers oder sonst Berechtigten nicht nur unerheblich
verändert wird.

Ich freue mich – das geht gerade an die Fraktionen der
SPD und der Grünen –, dass die Bundesregierung in ihrer
Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf gegen diese For-
mulierung keine durchgreifenden Bedenken erhebt.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Ich habe im Bundesrat eine interessante Debatte erlebt, als
ich diesen Gesetzentwurf eingebracht habe.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422807400
Herr Minister, ich
muss Sie unterbrechen. Sie haben Ihre Redezeit schon
überschritten; deswegen müssen Sie die Erzählungen aus
dem Bundesrat beenden.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1422807500

Okay.

Ich habe im Bundesrat mit Interesse festgestellt, dass
Ministerpräsident Clement, der nach mit geredet hat, ge-
sagt hat, er sei meiner Meinung. Deswegen bitte ich Sie
– diese Bitte geht an alle Fraktionen – : Tragen Sie dazu
bei, dass überflüssige Erschwerungen bei der Verfolgung
von Schmierereien beseitigt werden. Die Bevölkerung er-
wartet von uns Politikern, dass wir das Rechtsgefühl mit
der Realität in Einklang bringen. Niemand hätte Ver-
ständnis dafür, wenn man das auf die nächste Legislatur-
periode verschieben wollte.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422807600
Kollege Hermann
Bachmaier von der SPD-Fraktion hat seine Rede zu Pro-
tokoll gegeben.1) Ich erteile nun dem Kollegen Wolfgang
Götzer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1422807700
Herr Präsident!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zum nun-
mehr vierten Mal versuchen CDU und CSU – dabei im-
mer wieder unterstützt von der FDP – Verbesserungen bei




Minister Dr. Ulrich Goll (Baden-Württemberg)


22661


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 3

der Bekämpfung des Graffitiunwesens durchzusetzen.
Fast auf den Tag genau zwei Jahre ist es her, dass wir im
Bundestag zuletzt über dieses Thema diskutiert haben.
Damals ging es um Gesetzentwürfe der CDU/CSU-Frak-
tion, der FDP-Fraktion und des Bundesrates, die alle die
gleiche Zielsetzung hatten, nämlich die Graffitischmie-
rereien durch eine Präzisierung des § 303 Strafgesetz-
buch strafrechtlich besser in den Griff zu bekommen. Alle
diese Gesetzentwürfe wurden von Rot-Grün niederge-
stimmt.

Jetzt liegt eine neue Initiative des Bundesrates vor, und
zwar mit der gleichen Zielsetzung, aber mit einem ande-
ren Formulierungsvorschlag. Wir von der CDU/CSU-
Fraktion hoffen, dass dieser erneute Vorstoß zum besseren
Schutz des Eigentums diesmal eine Mehrheit im Parla-
ment finden wird. Im Übrigen kann es doch wohl nicht
sein, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der rot-grü-
nen Koalition, dass Sie sich den Ansichten und Einsichten
Ihrer Parteifreunde im Bundesrat verschließen, die ja dem
Gesetzentwurf mit großer Mehrheit zugestimmt haben.

Das Problem ist immer noch dasselbe wie vor zwei
Jahren. Allerdings muss man heute feststellen, dass die
Verunstaltungen unserer Großstädte, ganz besonders un-
serer Hauptstadt, durch Graffitischmierereien nicht
zurückgegangen sind, sondern sogar zugenommen haben.
Die Beseitigung kostet private wie öffentliche Eigentü-
mer jedes Jahr rund 250 Millionen Euro. Allein die Rei-
nigung eines S- oder U-Bahn-Waggons kostet an die
15 000 Euro. Egal ob über Mieten oder Steuern: Letztlich
zahlt jeder Bürger dafür mit.

Ich halte es für eine Zumutung für unsere rechtstreuen
Mitbürger, ihnen die Kosten dafür aufzubürden, dass
Häuser oder Fahrzeuge der öffentlichen Hand gereinigt
werden müssen, nur weil offensichtlich einige Leute
nichts besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen, als
fremdes Eigentum zu beschädigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Glauben Sie mir: Ein Großteil unserer Bevölkerung hat

dafür ebenfalls kein Verständnis. Zwei Drittel der Bun-
desbürger lehnen Graffiti eindeutig ab. Die Sachverstän-
digenanhörung im Jahr 1999 hat eindeutig ergeben, dass
das Thema Graffiti gerade in Großstädten zu einem immer
drängenderen Problem wird. Deshalb ist es jetzt endlich
an der Zeit, eine klare Rechtslage zu schaffen, damit Graf-
fitischmierereien strafrechtlich geahndet werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vor zwei Jahren hatten wir eine Ergänzung des Tatbe-

stands der Sachbeschädigung um den Begriff „verun-
stalten“ vorgeschlagen, um so Graffiti eindeutig unter
§ 303 StGB subsumieren zu können. Bisher ist nach stän-
diger Rechtsprechung des BGH bekanntlich die bloße
Veränderung der äußeren Erscheinungsform einer Sache
in aller Regel keine Sachbeschädigung. Vielmehr gehört
zur Tatbestandsverwirklichung nach geltender Rechtslage
eine nicht unerhebliche Verletzung der Substanz, die aber
bei Graffiti nur sehr schwer und meist nur mit aufwendi-
gen Gutachten festzustellen ist.

Damals wurde uns von Vertretern der Koalition entge-
gengehalten, der Ausdruck „verunstalten“ bringe mehr
Unklarheit als Rechtssicherheit. Die seinerzeitige An-
hörung hat uns zwar durchaus darin bestärkt, dass unser
Vorschlag praktikabel und vor allem auch justiziabel ist.
Aber um Ihnen, werte Kolleginnen und Kollegen von der
rot-grünen Koalition, in diesem Verfahren die Zustim-
mung zu erleichtern, hat der Bundesrat auf Initiative Ba-
den-Württembergs einen neuen Entwurf mit einer neuen
Formulierung eingebracht, gegen den Sie eigentlich
nichts einwenden können, wenn Ihnen wirklich daran ge-
legen ist, das Graffitiunwesen besser zu bekämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vorgesehen ist jetzt, in die §§ 303 und 304 des Straf-

gesetzbuchs ein neues Merkmal der Sachbeschädigung
aufzunehmen, nämlich die nicht nur unerhebliche Verän-
derung des Erscheinungsbilds einer Sache gegen den Wil-
len des Eigentümers oder sonstigen Berechtigten. Dieses
Merkmal beinhaltet als Unrechtskern den rechtswidrigen
Eingriff in die Ausübung des Gestaltungswillens.

Es kommt also nicht darauf an, ob eine Substanzver-
letzung der Sache gegeben ist und wie Dritte die Verän-
derung der Sache beurteilen. Fragen, wie tief die Farb-
pigmente in die Substanz des Gebäudemauerwerks
eindringen, ob der Farbanstrich eines Bahnwaggons
durch Lösungsmittel angegriffen wird oder nicht oder ob
geringe oder erhebliche Farbrückstände zurückbleiben,
spielen nach dieser Neufassung keine Rolle mehr und
müssen daher auch nicht mehr ermittelt und vor Gericht
erörtert werden. Teure Sachverständigengutachten wer-
den dadurch überflüssig.

Auch der gern vorgebrachte Einwand, bei Graffiti han-
dele es sich oftmals um Werke von hohem künstlerischen
Rang, läuft dann ins Leere. Denn abgesehen davon, dass
dies in den allermeisten Fällen sehr zweifelhaft ist, kommt
es mit der nun vorgeschlagenen Formulierung nicht auf
die ästhetische Beurteilung durch Dritte an. Vielmehr
muss der Berechtigte davor geschützt werden, dass ihm
eine bestimmte Gestaltung der Sache aufgezwungen wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Nötigung!)

All denen, die die Graffitischmierereien an sich sowie

hinsichtlich ihres Ausmaßes bagatellisieren, sei gesagt:
Rechtstreue Bürger empfinden das immer stärker zuneh-
mende Graffitiunwesen als ein Zeichen des schwindenden
Rechtsbewusstseins und vor allem der geringer werden-
den Bereitschaft zur Achtung fremden Eigentums. Sie
erwarten deshalb, und zwar mit vollem Recht, dass der
Staat keine rechtsfreien Räume entstehen lässt, sondern
Rechtsverstöße in gebotener Weise ahndet.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Gleichgültigkeit gegenüber den Erscheinungsbildern

unserer Großstädte und Ballungsräume bleibt nicht ohne
psychologische und soziale Folgen. Schnell entsteht der
Eindruck von Verwahrlosung und Verfall. Die Hemm-
schwelle für Gewaltanwendung sinkt. In diesem Zusam-
menhang möchte ich – wie es auch Herr Professor Goll
bereits getan hat – an die „broken windows“-Theorie er-
innern, die aber leider keine Theorie mehr ist, sondern




Dr. Wolfgang Götzer
22662


(C)



(D)



(A)



(B)


durch die Realität bestätigt wurde. Wir wissen inzwi-
schen, dass das Hinwegsehen über kleinere Straftaten
über kurz oder lang zum Entstehen schwererer Krimina-
lität beiträgt.

Meine Damen und Herren von der SPD und den Grü-
nen, nach Ihrer Koalitionsvereinbarung wollten Sie „All-
tagskriminalität konsequent, aber bürokratiearm bestra-
fen“.


(Ina Lenke [FDP]: Das ist aber etwas ganz Besonderes!)


Mit der Ablehnung aller bisheriger Gesetzentwürfe zur
Graffitibekämpfung haben Sie auch auf diesem Gebiet ge-
zeigt, was von Ihren Versprechen zu halten ist. Mit Be-
griffen wie „Alltagskriminalität“ und „Bagatelldelikten“
betreiben Sie zudem gezielte Verharmlosung und verwi-
schen so den Unterschied zwischen Recht und Unrecht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das können wir im Interesse unserer rechtsstaatlichen
Ordnung nicht hinnehmen und werden dies auch nicht
tun.

Lassen Sie mich noch etwas zu manchen sozialpädago-
gischen Ratschlägen anmerken, die im Zusammenhang
mit diesem Thema immer wieder auftauchen. Davon ver-
spreche ich mir – jedenfalls was die Präventivwirkung an-
geht –, ehrlich gesagt, nicht viel. Wenn vonseiten der Kom-
munen legale Sprühflächen zur Verfügung gestellt werden,
wird das den Sprayern, die übrigens zunehmend straffer
organisiert sind, nur ein müdes Lächeln entlocken. Der ei-
gentliche Kick besteht doch für die meist jugendlichen
Sprayer gerade darin, sich an unerlaubten Flächen zu ver-
suchen und damit mehr Aufsehen zu erregen.

Halten wir also nochmals fest: Beim Thema Graffiti
geht es nicht um Kunst, Jugendstreiche oder Kavaliersde-
likte, sondern um die Verletzung fremden Eigentums in
Form der Sachbeschädigung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass einige Ver-

treter der rot-grünen Regierungskoalition – und die Ver-
treter der PDS sowieso – ideologisch bedingte Probleme
mit dem Eigentum – zumeist allerdings dem fremden Ei-
gentum – haben, ist bekannt. Allerdings haben einige Alt-
Achtundsechziger zwischenzeitlich durchaus Gefallen an
bürgerlichen Lebensformen gefunden, was unübersehbar
ist, wenn man sich manche Regierungsmitglieder an-
schaut. Deshalb haben wir die Hoffnung, dass diese neu-
erliche Gesetzesinitiative jetzt auch bei den Koalitions-
parteien Zustimmung findet.


(Zuruf von der SPD: Billig, billig, billig! Ich bin zwar 1968 geboren, aber kein Alt-Achtundsechziger!)


– Es ist ja offensichtlich, Herr Kollege, dass einige hier
mehr als bürgerlich geworden sind und ihre Achtunds-
echziger Vergangenheit abgestreift haben.

Der Rechtsausschuss des Bundesrates hat mit 14:2
Stimmen diesem Gesetzentwurf zugestimmt, der Aus-

schuss für Städtebau, Wohnungswesen und Raumordnung
sogar mit 16:0 Stimmen.


(Dirk Niebel [FDP]: Da waren wohl SPD-regierte Länder dabei?!)


– Noch sind die Mehrheitsverhältnisse so, verehrter Herr
Kollege, dass man sagen muss: Ganz offensichtlich haben
auch SPD-regierte Länder mitgestimmt. – Dass allerdings
bei den zwei Gegenstimmen im Rechtsausschuss des
Bundesrates eine von Berlin kam, ist zwar ideologisch
verständlich, politisch aber unverantwortlich, da doch ge-
rade Berlin besonders von den Graffitischmierereien be-
troffen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koali-

tionsfraktionen, die Stellungnahme der Bundesregierung
zu dem Gesetzentwurf, die Sie auf Seite 8 der Drucksache
finden können, müsste Ihnen die Zustimmung eigentlich
leicht machen. Da können Sie nämlich lesen, dass die Bun-
desregierung aus strafrechtlicher Sicht keine durchgrei-
fenden Probleme mit der geplanten Gesetzesänderung hat.


(Dirk Niebel [FDP]: Dann kann es ja nur noch ideologische Gründe geben!)


Der jahrelange Widerstand von Rot-Grün scheint also
zu bröckeln. Deshalb appellieren wir an Sie: Verschließen
Sie sich nicht länger der dringend notwendigen Gesetzes-
änderung zum besseren Schutz des Eigentums.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422807800
Der Kollege Volker
Beck, die Kollegin Sabine Jünger und der Parlamenta-
rische Staatssekretär Dr. Eckhart Pick haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben. Ich schließe damit die Ausspra-
che.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/8013 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 10 a
und 10 b:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-
führung des Völkerstrafgesetzbuches
– Drucksache 14/8524 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aus-
führung des Römischen Statuts des Internatio-
nalen Strafgerichtshofes vom 17. Juli 1998
– Drucksache 14/8527 –




Dr. Wolfgang Götzer

22663


(C)



(D)



(A)



(B)


Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Zu diesen Punkten war eine Redezeit von 30 Minuten
vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen Margot von
Renesse, Dr. Norbert Röttgen, Rita Grießhaber, Professor
Schmidt-Jortzig, Dr. Evelyn Kenzler und Dr. Eckhart Pick
haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)

Damit kommen wir zur Abstimmung. Interfraktionell
wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf Drucksa-
chen 14/8524 und 14/8527 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse sowie an den Auswärtigen Aus-
schuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Erleichterung der Bekämpfung von illega-
ler Beschäftigung und Schwarzarbeit
– Drucksachen 14/8221, 14/8288 –

(Erste Beratung 219. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss)

– Drucksache 14/8625 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Meckelburg

Es liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP
sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.

Es war eine halbe Stunde Debattenzeit vorgesehen. Die
Kolleginnen und Kollegen Anette Kramme, Dieter Maaß,
Dr. Hans-Peter Friedrich, Ekin Deligöz, Dr. Heinrich
Kolb und Dr. Klaus Grehn haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.2)

Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Er-
leichterung der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung
und Schwarzarbeit. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 14/8661 vor, über den
wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungs-
antrag? –


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Zwei Stimmen! Oh Mann!)


Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungs-
antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und PDS gegen die Stimmen der FDP bei Enthal-
tung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der an-
deren Fraktionen angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.

Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/8638 ab. Wer
stimmt für den Entschließungsantrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung
der FDP abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen

der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Förderung eines frei-

(FSJFörderungsänderungsgesetz – FSJGÄndG)

– Drucksache 14/7485 –

(Erste Beratung 208. Sitzung)


– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnde-
rung des Gesetzes zur Förderung eines freiwil-
ligen sozialen Jahres und zur Änderung des
Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen öko-
logischen Jahres
– Drucksache 14/5120 –

(Erste Beratung 177. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(13. Ausschuss)

– Drucksache 14/8634 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Dzewas
Thomas Dörflinger
Ina Lenke
Christian Simmert
Monika Balt

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Gerhard Schüßler, Ina Lenke,
Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Deutschland braucht gesetzliche Rahmenbe-
dingungen für einen allgemeinen Freiwilligen-
dienst




Präsident Wolfgang Thierse
22664


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 4
2) Anlage 5

– Drucksachen 14/7811, 14/8634 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Dzewas
Thomas Dörflinger
Ina Lenke
Christian Simmert
Monika Balt

Zum Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen liegen zwei Änderungsanträge
der Fraktion der PDS sowie je ein Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der PDS vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin Dr. Christine Bergmann.

Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir alle hören
häufig die Klage, junge Menschen seien nicht mehr bereit,
Verantwortung zu übernehmen und sich für das Gemein-
wesen zu engagieren. Meine Erfahrungen sprechen dage-
gen: Junge Menschen wollen sich freiwillig engagieren.
Sie bringen sich ein. Sie wollen mithelfen. Ich denke, das
werden auch diejenigen von Ihnen bestätigen können, die
sich Ende letzter Woche an den Politiktagen in Berlin be-
teiligt haben. 7 000 junge Leute kamen, um sich einzumi-
schen und mitzudiskutieren. Ich möchte mich an dieser
Stelle ganz herzlich bei all denjenigen bedanken, die diese
Veranstaltung aktiv unterstützt haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Angela Marquardt [PDS])


Wir wissen auch, dass 37 Prozent der jungen Menschen
in Deutschland freiwillig engagiert sind. Das ist im Ver-
gleich zu anderen Altersgruppen überdurchschnittlich
viel. Die landläufige Meinung stimmt also nicht. In dieses
Bild fügen sich auch die Erfahrungen ein, die es mit dem
freiwilligen sozialen und dem freiwilligen ökologischen
Jahr gibt. Die Nachfrage ist hier konstant angestiegen. Wir
haben in den vergangenen Jahren die Angebote für junge
Menschen mehr als verdoppelt, und zwar von 7 100 Plät-
zen im Jahr 1993 auf rund 15 000 in diesem Jahr. Das ist
eine gewaltige Steigerung. Über 90 Prozent der Teilneh-
merinnen und Teilnehmer beurteilen die Erfahrungen, die
sie während des freiwilligen Jahres machen, als „sehr gut“
oder „gut“. Das heißt also, die Freiwilligendienste sind
eine Erfolgsgeschichte.

Wir wollen die Attraktivität der Freiwilligendienste
weiter stärken. Deswegen haben wir eine Reform der
Freiwilligendienste vorgelegt, über die wir heute ab-
schließend beraten. Wir wollen damit erstens die Einsatz-
felder ausweiten und zweitens die Freiwilligendienste zu
gleichen Bedingungen auch im nicht europäischen Aus-
land ermöglichen. Wir stärken damit drittens die Funktion
der Freiwilligendienste bei der Berufsorientierung. Es
darf auch nicht vergessen werden: Wir haben die Mittel
für die Freiwilligendienste um zusätzlich 5 Millionen

Euro in diesem Jahr aufgestockt. Es wird also in Zukunft
sehr viel mehr Freiwilligendienste geben.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernen in den
Freiwilligendiensten andere Lebenswelten kennen. Sie
haben dort ihren ersten engen Kontakt mit dem berufli-
chen Alltag. Sie lernen das Arbeitsleben zum Beispiel im
Krankenhaus, auf der Pflegestation, beim Schutz des Wat-
tenmeeres – oder wo auch immer – kennen. Außerdem
machen sie sehr wichtige persönliche Erfahrungen, die
zur eigenen Reifung beitragen und die ihnen Orientierung
geben. Für viele junge Menschen sind die Erfahrungen,
die sie während des freiwilligen sozialen oder des frei-
willigen ökologischen Jahres machen, auch richtungswei-
send für ihre berufliche Zukunft. Die Freiwilligendienste
helfen also auch bei der Berufsentscheidung. Deswegen
ist es wichtig, dass noch stärker berufsorientierende und
berufsqualifizierende Elemente in die Freiwilligendienste
aufgenommen werden. Wir haben deshalb eine Regelung
in den vorliegenden Gesetzentwurf aufgenommen, wo-
nach die Freiwilligen zukünftig ein Zertifikat erhalten sol-
len, mit dem sie ihre erworbenen Kompetenzen und Er-
fahrungen ausweisen können. Dieses Zertifikat soll ihnen
bei ihrem Einstieg in die Ausbildungs- und in die Berufs-
welt helfen.

Mit dem vorliegenden Gesetz erweitern wir auch die
Einsatzfelder für die Freiwilligendienste. Künftig kann
das freiwillige soziale Jahr auch in der Jugendarbeit des
Sports


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– ja, das ist sehr wichtig – oder im Bereich der Kultur und
auch bei Verbänden und Vereinen absolviert werden. In
einem Modellprojekt haben wir und die Jugendlichen be-
reits erste sehr positive Erfahrungen gemacht. Die Ver-
bände sind davon natürlich auch sehr angetan.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr richtig!)


Mit dem vorliegenden Gesetz berücksichtigen wir
auch das große Interesse von Jugendlichen, einen Frei-
willigendienst im Ausland zu absolvieren. Seit 1993
kann der Freiwilligendienst im europäischen Ausland ab-
geleistet werden. Aber auch das Interesse an einem Dienst
im nicht europäischen Ausland, um dort interkulturelle
Erfahrungen zu machen, steigt. Das wollen wir natürlich
unterstützen. Deshalb ermöglichen wir mit dem neuen
Gesetz Freiwilligendienste künftig zu den gleichen Be-
dingungen auch in den außereuropäischen Ländern. Wir
erreichen also endlich die Gleichstellung, die wir alle uns
schon lange wünschen. Wir fördern damit Weltoffenheit
junger Leute und den Dialog zwischen den Kulturen, den
wir in unserer Gesellschaft, wie wir wissen, sehr dringend
brauchen.

Wir stellen diejenigen, die ihr freiwilliges soziales oder
ökologisches Jahr im Ausland ableisten, denen gleich,
die ein solches Jahr im Inland ableisten. Das betrifft die
gleiche Absicherung in der Sozialversicherung und die
Gleichstellung bei der Zahlung von Kindergeld. Das ist
ganz wichtig.




Präsident Wolfgang Thierse

22665


(C)



(D)



(A)



(B)


Bei der Weiterentwicklung der Freiwilligendienste ist
unser Ziel, die Dienste für alle Jugendlichen zugänglich
zu machen und ihnen die Teilnahme durch geeignete An-
gebote zu ermöglichen. Vor allem wollen wir endlich
erreichen, dass Hauptschulabsolventen besser in die Frei-
willigendienste einbezogen werden. Wie wir wissen, ha-
pert es da im Moment noch ganz gewaltig. Deshalb ist
künftig nicht mehr ein Mindestalter, sondern allein der
Schulabschluss Voraussetzung für den Zugang zu den
Freiwilligendiensten.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ab-
schließend noch auf Folgendes hinweisen: Wir wollen
den Zivildienst und die Freiwilligendienste in Zukunft
stärker miteinander verzahnen und damit auch die Frei-
willigendienste stärken. Ich halte das für eine sehr wich-
tige und richtige Entscheidung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb wird das Zivildienstgesetz künftig vorsehen, dass
anerkannte Kriegsdienstverweigerer unter bestimmten
Bedingungen anstelle des Zivildienstes auch ein freiwil-
liges soziales oder freiwilliges ökologisches Jahr neuer
Prägung ableisten können. Hier sind wir also einen wich-
tigen Schritt nach vorn gekommen.

Der vorliegende Gesetzentwurf entwickelt den Frei-
willigendienst für Jugendliche weiter und gibt ihm neue
Impulse. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich
bei all denen bedanken, die hieran sehr konstruktiv
mitgearbeitet haben. Das sind nicht nur die Fraktionen,
sondern natürlich auch die Länder, die Verbände und die
Organisationen. Wir schaffen damit bessere Rahmenbe-
dingungen für freiwilliges Engagement in unserem Land.
Das heißt, wir handeln;


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist es!)


wir reden nicht nur darüber, wie wir freiwilliges Engage-
ment stärken wollen, sondern wir legen auch etwas auf
den Tisch. Wir haben auch Geld dazugepackt und einen
breiten gesellschaftlichen Konsens erzeugt; das ist das,
was wir brauchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir berücksichtigen auch die unterschiedlichen Inte-
ressenlagen von Jugendlichen. Das Gesetz ist ein weiterer
Schritt hin zu guten Bedingungen für das Aufwachsen von
Jugendlichen. Sie alle können sicher sein: Wir werden auf
diesem Weg fortfahren.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422807900
Ich erteile dem Kolle-
gen Thomas Dörflinger, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1422808000
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-

ginnen und Kollegen! Eine Gesellschaft ist im Grunde nur
so gut und so zukunftsfähig, wie der Einzelne oder die
Einzelne bereit ist, sich für das Gemeinwohl zu engagie-
ren. Viele Jugendliche nutzen die Chance, beispielsweise
ein freiwilliges soziales Jahr oder ein freiwilliges ökolo-
gisches Jahr zu absolvieren, und leisten so nicht nur einen
Beitrag zur Weiterentwicklung der Gesellschaft, sondern
auch einen Beitrag zu ihrer Persönlichkeitsbildung. Des-
wegen ist es richtig, dass die Rahmenbedingungen für FSJ
und FÖJ nicht nur im Sinne von Effizienz zusammenge-
fasst, sondern auch verbessert werden; insoweit stimmen
wir überein.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)

Lassen Sie mich noch eine Vorbemerkung machen.

Wenn wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesem
Gesetzentwurf heute zustimmen, dann tun wir das nicht
ohne Bauchschmerzen, und zwar deshalb, weil zwei Aus-
sagen im Grunde exemplarisch dafür stehen, dass Sie
Ihrem eigenen Anspruch aus der Koalitionsvereinbarung
von 1998 nicht gerecht geworden sind.

Im Koalitionsvertrag stand als Vorhaben – ich zitiere –:
Ausbau und rechtliche Absicherung nationaler und grenz-
überschreitender Freiwilligendienste. Das ist eines der
wenigen Vorhaben aus dieser Koalitionsvereinbarung, das
unsere ausdrückliche Zustimmung gefunden hat.

In der Entschließung in der Beschlussempfehlung des
Ausschusses, die wir heute auch behandeln, findet sich
der Satz:

Die Bundesregierung wird aufgefordert zu prüfen,
wie die Rahmenbedingungen insbesondere für län-
ger andauernde Freiwilligendienste ... weiter verbes-
sert werden können.

Wenn es dieses Satzes in der Entschließung bedarf, dann
ist klar, dass der in der Koalitionsvereinbarung von 1998
aufgestellte Anspruch bis heute nicht erfüllt worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie sind auch deswegen zu kurz gesprungen, weil Sie

sich nach unserer Überzeugung nicht die notwendige Zeit
genommen haben, um nach der Anhörung noch einmal in
einen Dialog einzutreten und die etwas komplizierteren
Sachverhalte in diesem Gesetzesvorhaben anhand der
Kritikpunkte und der Anregungen, die seitens der Ver-
bände in der Anhörung geäußert wurden, so zu lösen, dass
sie zukunftsfähig sind.

Ein Weiteres kommt hinzu: Die Enquete-Kommis-
sion, die sich mit dem bürgerschaftlichen Engagement be-
schäftigt, tagt noch. Es hätte durchaus Sinn gemacht,
wenn man die Empfehlungen, die diese Kommission dem
Deutschen Bundestag geben wird, gleich in dieses Geset-
zesvorhaben eingebaut hätte, anstatt möglicherweise nach
einigen Monaten feststellen zu müssen, dass auch hier,
wie schon so oft, Nachbesserungsbedarf besteht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Folgenden positiven Punkt möchte ich nennen, meine

Damen und Herren: Es hat uns gefreut, dass Sie in den
Ausschussberatungen und in den Berichterstatterge-
sprächen dem Vorschlag der CDU/CSU-Bundestagsfrak-




Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
22666


(C)



(D)



(A)



(B)


tion, der sich ja mit den Anregungen, die die Verbände bei
der Anhörung gegeben haben, deckt, nämlich den Dienst
nicht zu stückeln und zu flexibilisieren und eine Block-
bildung innerhalb des freiwilligen sozialen bzw. ökologi-
schen Jahres zuzulassen, gefolgt sind und diesen Punkt
aus dem Gesetzesvorhaben herausgenommen haben.

Die Zustimmung der Union – das sage ich an dieser
Stelle – täuscht nicht darüber hinweg, dass wir drei
grundsätzliche Bedenken haben, die wir auch in unserem
Entschließungsantrag niedergelegt haben.

Der erste Punkt betrifft die Praxis, das freiwillige so-
ziale bzw. ökologische Jahr zukünftig grundsätzlich auf
den Zivildienst anzurechnen, also den ominösen § 14 c Zi-
vildienstgesetz. Es geht nicht nur darum, dass hier eine
Vermengung von Pflicht- und Freiwilligendiensten statt-
findet. Aus diesem Punkt ergibt sich nämlich notwendi-
gerweise auch eine Zuständigkeit des Bundesamtes für
Zivildienst für einen Teilbereich der Freiwilligendienste.
Das wollten beispielsweise die Verbände in den Anhörun-
gen aus gutem Grund ausdrücklich nicht.

Es ergibt sich notwendigerweise auch eine Benachtei-
ligung junger Frauen, weil der zivildienstleistende Mann
im FSJ aufgrund der Mitfinanzierung über den Zivildienst-
etat wesentlich günstiger ist als die junge Frau, die aus-
schließlich unter die Regelungen für ein FSJ bzw. FÖJ
fällt. Unter Punkt fünf Ihrer Entschließung, die wir im
Ausschuss behandelt haben, haben Sie nur eine Hilfskon-
struktion vorgeschlagen – das ist unsere feste Überzeu-
gung –, die dem eigentlichen Anliegen, die Benachteili-
gung junger Frauen zu vermeiden, nicht gerecht wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es kommt hinzu – Stichwort § 14 c Zivildienstgesetz –,

dass notwendigerweise eine unterschiedliche Bewertung
bezüglich der Rentenentgeltpunkte erfolgen muss. Dieser
Widerspruch konnte im Gesetzesentwurf nicht aufgelöst
werden und besteht damit fort.

Zweiter Punkt, der uns kritisch stimmt: Sie verlassen
das Prinzip der geborenen Träger. Es hat mir bis zum heu-
tigen Tag niemand vernünftig erklären können, warum
Sie einen Unterschied zwischen inländischen und auslän-
dischen Trägern machen. Bei den inländischen Trägern
behalten Sie das Prinzip der geborenen Träger bei und
verändern es bei ausländischen Trägern mit der Begrün-
dung, Sie wollten neuen und kleineren Trägern eine
Chance geben. Dieses Ansinnen ist durchaus diskutabel.
Deshalb haben wir Ihnen im Ausschuss vorgeschlagen,
den entsprechenden Passus neu zu fassen und dort eine
Öffnungsklausel einzubauen, nach der auch beim Aus-
landsdienst am Prinzip der geborenen Träger festgehalten
wird, aber zugleich neuen und kleineren Trägern erlaubt
wird, Freiwilligendienste im Ausland anzubieten. Auf
diesen Kompromiss hätten wir uns einigen können. Ich
bedauere, dass das nicht möglich war.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch daran,
dass uns in der Anhörung nahezu unisono von allen Ex-
perten gesagt wurde, dass die Regelungen zur Sozialver-
sicherung, wie sie im Gesetz nun enthalten sind, sich beim
Auslandsdienst als nicht praktikabel erweisen werden.
Das ist ganz eindeutig. Wenn schon die Vertreter der

großen Verbände in Deutschland, die bei der Anhörung
vertreten waren, sagen, sie hätten finanzielle Probleme,
diese Kosten bei Auslandsdiensten zu schultern, muss
man sich doch fragen, wie viel größer die Probleme für
die neuen und kleineren Träger sein werden, die in den
Genuss dieser Regelung kommen sollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte auf die Sozialversicherung und auf den

Auslandsdienst zu sprechen kommen.
Es zeigt sich, dass im Beratungsverlauf schlussendlich

zu wenig Zeit war. Ich will durchaus anerkennen, dass Sie
sehr ordentlich begonnen haben. Das gilt auch für die Be-
richterstattergespräche. Aber je länger die Beratungen
dauerten, desto mehr Tempo haben Sie gemacht. Ich ver-
stehe bis heute nicht, warum darüber unbedingt an diesem
Freitag zu dieser Zeit – man bedenke die Anwesenheit im
Plenum – diskutiert werden muss. Wäre es nicht vielleicht
besser gewesen, noch zwei oder drei Wochen zu warten,
um über diese Gesetzentwürfe zu einem anderen Zeit-
punkt abzustimmen? Dadurch hätten wir uns die Chance
bewahrt, das eine oder andere, zum Beispiel was die So-
zialversicherungspflicht angeht, einzuarbeiten.

Ich habe mit großem Interesse gehört, dass es zur
Sozialversicherungspflicht nicht nur einen Vorschlag
des Deutschen Caritasverbandes – das war ein kompletter
Gesetzentwurf; er lag uns vor –, sondern dass es interes-
santerweise – das erfuhr ich erst vorgestern – auch das
ernsthafte Bemühen der mitberatenden Bundesministe-
rien gab, diese Frage mit dem Bundesministerium zu
klären, bei dem gewissermaßen die Federführung lag,
Frau Ministerin.


(Ina Lenke [FDP]: Ja!)

Das war weder im Ausschuss noch in der Anhörung ein
Thema. Ich sage gern, dass mich Frau Lenke von der FDP
darauf aufmerksam gemacht hat.

Ich fand das sehr interessant. Ich habe mir dann die
Frage gestellt, ob es Ihnen entweder so wichtig war, die
Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs an diesem Freitag
über die Bühne zu bringen und damit diese Anregungen
aus Zeitgründen nicht mehr aufzugreifen, oder ob bei Ih-
nen die Bereitschaft, diese Anregungen aufzugreifen, gar
nicht vorhanden war. Eines von beiden muss stimmen;
denn eine andere Lösung gibt es nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich hätte mir gewünscht, dass wir uns auf der Basis

dessen, was aus den Ministerien kam, und dessen, was der
Caritasverband erarbeitet hat, mit den Verbänden zusam-
mensetzen und der Frage nachgehen: Wie finden wir eine
sozialversicherungsrechtliche Lösung, die dem Anspruch
gerecht wird, sowohl für kleinere und neue Träger als
auch für größere Träger praxistauglich zu sein?

Ich fand in diesem Beratungsverlauf ganz besonders
interessant, dass der im Ausschuss eingebrachte Antrag
von Rot-Grün die Möglichkeit enthält, diesen Gesetzent-
wurf nach einem Jahr zu evaluieren, das heißt auf
Deutsch, ihn dahin gehend zu überprüfen, inwieweit er
sich als praxistauglich erwiesen hat. Wenn man schon




Thomas Dörflinger

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(C)



(D)



(A)



(B)


heute weiß, dass nicht alles, was in diesem Gesetzentwurf
steht, praxistauglich ist, warum macht man es dann nicht
gleich ordentlich?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Warum verweist man vielmehr auf den Ablauf der Zeit-
spanne von einem Jahr, nach der die Bundesregierung in
der Pflicht ist, das ganze Vorhaben neu zu beurteilen?

Meine Damen und Herren von Rot-Grün, die Kri-
tikpunkte, also die Hinweise auf das, was nicht praxistaug-
lich ist, liegen bereits heute auf dem Tisch. Die künftige
Bundesregierung wird nach Ablauf dieser Evaluierungs-
frist in einem Jahr in der Pflicht sein, die notwendigen Än-
derungen vorzunehmen. Ich sichere Ihnen zu: Wir machen
das gerne. Ich hoffe, dass sich die künftige Opposition im
Beratungsverlauf genauso konstruktiv verhält wie die heu-
tige Opposition.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1422808100
Für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Christian Simmert.


Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422808200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Dörflinger, wir warten einmal ab, ob Ih-
nen die Oppositionsbank nicht so gut gefällt, dass Sie dort
vielleicht auch in der nächsten Legislaturperiode sitzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


– Ich weiß: Sie werden nervös. Wir warten einmal ab.
Mit der heute vorliegenden Novellierung der Gesetze

zum freiwilligen ökologischen und zum freiwilligen so-
zialen Jahr setzen wir drei zentrale Punkte zur Stärkung
des freiwilligen Engagements junger Menschen um. Wir
bauen das FSJ und das FÖJ aus, wir sichern junge Men-
schen besser ab und wir öffnen die Freiwilligendienste.
Das sind zentrale Punkte dieser Novellierung.

Das Interesse von Jugendlichen an Plätzen im Freiwil-
ligendienst ist weiterhin groß und wir nehmen dieses In-
teresse der Jugendlichen mit dieser Novellierung sehr
ernst. Mit dieser Novelle geht es uns darum, freiwilliges
Engagement durch den Ausbau des Freiwilligendienstes
attraktiver zu machen. Über den klassischen Einsatz im
sozialen und ökologischen Bereich hinaus kann der frei-
willige Dienst künftig auch in den Bereichen Kultur,
Sport und Denkmalschutz geleistet werden, und zwar so-
wohl im In- als auch im Ausland. Damit kommen wir dem
Interesse der Jugendlichen entgegen, die sich in den ver-
schiedensten Bereichen neu orientieren und Erfahrungen
sammeln möchten, gerade im internationalen Bereich.

Finanziell haben wir bereits im Haushalt 2002 rund
5 Millionen Euro eingestellt, um den Ausbau zu ermögli-
chen. Hier sage ich aber deutlich an die Adresse der Län-
der: Folgen Sie dem Beispiel der rot-grünen Bundesre-

gierung und sorgen auch Sie dafür, dass die Schaffung zu-
sätzlicher Plätze ermöglicht wird.

Wir haben aber auch geregelt, dass junge Menschen in
Zukunft besser abgesichert sind, wenn sie ein FSJ oder
FÖJ leisten. Nicht nur die Schaffung des Kindergeldan-
spruchs für Freiwillige durch das Familienförderungsge-
setz, auch der sozialversicherungsrechtliche Schutz
junger Menschen wird durch diese rot-grüne Novelle in-
nerhalb der EU und im außereuropäischen Ausland ver-
bessert.

Natürlich, Kollege Dörflinger, wir stoßen hier an un-
sere Grenzen, auch die Grenzen des Machbaren. Aber wir
wollen den Schwerpunkt auf den sozialversicherungs-
rechtlichen Schutz des jungen Menschen legen. Gerade
meine Fraktion – das steht in der Entschließung – wird
sich nach wie vor für ein allgemeines Freiwilligengesetz
einsetzen, mit dem genau diese Fragen gelöst werden.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1422808300
Herr Kollege
Simmert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Ina Lenke?


Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422808400

Ja.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1422808500
Herr Simmert, ich frage Sie, weil
Sie immer sehr gut informiert sind: Kennen Sie die Alter-
nativen zur gesetzlichen Sozialversicherung? Es gibt ja
zur gesetzlichen Sozialversicherung nicht nur die Alter-
native gar keine Sozialversicherung, sondern auch andere.
Ich bitte Sie, hier im Plenum zu sagen, ob Sie die anderen
Alternativen kennen, die genauso gut sind.


Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422808600

Frau Kollegin, natürlich kenne ich die Alternativen, die
genauso gut sind, wie Sie das gerade gesagt haben. Aber
der Punkt ist für uns, dass wir uns erst einmal in der Sys-
tematik des Sozialversicherungsschutzes bewegen. Sie
wissen, dass wir diese Frage in unserer Entschließung, der
hoffentlich auch Sie zustimmen werden, über einen Frei-
willigenstatus in einem allgemeinen Freiwilligengesetz
regeln wollen. Wir kennen die unterschiedlichen Rege-
lungen im Sozialversicherungsgesetz. Wir haben uns jetzt
nur auf diese eine konzentriert und werden die anderen
prüfen; deswegen die Entschließung.

Es geht uns aber auch um das Sichtbarmachen von
durch den Freiwilligendienst erworbenen Kompetenzen.
Deshalb wird es in Zukunft eine Bestätigung über die
Tätigkeiten im FSJ oder FÖJ geben. Das ist auch deshalb
gut, weil soziale und ökologische Kompetenz hierdurch
einen stärkeren Stellenwert in unserer Gesellschaft be-
kommen.

Wir sehen durch diese Novelle auch einen ersten
Schritt in Richtung Konversion des Zivildienstes. Wir,
die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, werden si-
cherlich genauso wie die anderen Fraktionen in der nächs-
ten Legislaturperiode über die Abschaffung der Wehr-
pflicht reden müssen und auch reden. Die Öffnung des




Thomas Dörflinger
22668


(C)



(D)



(A)



(B)


FSJ und FÖJ als Alternative zum Zivildienst durch den
neuen § 14 c, der eine Ableistung anstelle des Zivildiens-
tes ermöglicht, ist Bestandteil grüner Vorstellungen hin-
sichtlich des Umbaus des Wehrersatzdienstes. Wir wollen
den Etat des Zivildienstes langfristig zum Ausbau der
Freiwilligendienste und zur Schaffung von Arbeitsplätzen
im sozialen Bereich sichern. Dazu ist der heutige Be-
schluss bei gleichzeitiger Beibehaltung des anderen Diens-
tes im Ausland sicherlich ein guter, wenn auch kleiner An-
fang.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Insgesamt sind in den Neuregelungen des FSJ und FÖJ
nun grüne Vorstellungen umgesetzt: Ausbau und Öffnung
der Freiwilligendienste sowie soziale Absicherung junger
Menschen. Wir freuen uns, dass dies fraktionsübergrei-
fend als richtig angesehen wird.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1422808700
Jetzt hat die Kollegin
Ina Lenke für die FDP-Fraktion das Wort.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1422808800
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Bun-
desregierung ist mit einem Versprechen angetreten, mit
dem Versprechen, eine bessere Förderung von Freiwilli-
gendiensten auf den Weg zu bringen.


(Beifall des Abg. Dieter Dzewas [SPD])

Übrig geblieben sind lediglich die Änderungen zum frei-
willigen sozialen Jahr und zum freiwilligen ökologischen
Jahr und die Erweiterung der Tätigkeiten. Das, lieber Kol-
lege Dzewas, ist zu wenig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Bundesregierung drückt sich in dieser Legislatur-

periode vor einer konzeptionellen Neugestaltung gesetz-
licher Rahmenbedingungen für einen umfassenden
allgemeinen Freiwilligendienst. Der jetzige Gesetzent-
wurf von SPD und Grünen ist ein Minischritt, gerade was
die Grünen anbelangt, Herr Simmert.

Positiv ist, dass das FSJ und das FÖJ nun eine Alterna-
tive zum Zivildienst bieten. Ich finde das sehr gut. Meine
Fraktion wird dieses Vorhaben unterstützen. Aber die jun-
gen Menschen müssen einen Freiraum haben – eine ent-
sprechende Regelung haben Sie in den Beratungen leider
noch kurzfristig geändert –, um ihre Lebensplanung an-
passen und diesen Dienst eventuell abschnittsweise leis-
ten zu können. Das ist, wie gesagt, aufgrund des
CDU/CSU-Antrages mit Ihrer Hilfe gestrichen worden,
was ich sehr bedauerlich finde.

Die Anhörung zu diesem Gesetz war sehr wichtig. In
dieser Anhörung haben die Experten ganz deutlich gesagt,
dass bei dieser Gesetzeskonstruktion nicht mehr Plätze
im Ausland geschaffen werden. Wir sind doch sicher ei-
ner Meinung, dass es angesichts des Interesses junger
Menschen schade ist, ein Gesetz zu verabschieden, mit

dem die Zahl der Plätze im Ausland nicht erhöht wird.
Was soll das eigentlich?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie haben mit Ihren bürokratischen Vorschriften für

den Auslandsdienst – zum Beispiel dass die Fortbildung
in Deutschland stattfinden muss –, die Plätze verteuert
und bürokratisiert. Sie sollten sich diese Vorschrift noch
einmal überlegen.


(Widerspruch des Abg. Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Wenn Sie bei der Anhörung anwesend gewesen wären,
hätten Sie das feststellen können.


(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich war da!)


– Vielleicht waren Sie in diesem Moment nicht da. Wir
beide können diesen Punkt später gerne noch ausdisku-
tieren.

Ich komme auf die Sozialversicherungspflicht zu
sprechen, die den Grünen und der SPD so fürchterlich
wichtig ist. Gerade diese umfassende Sozialversiche-
rungspflicht führt ja dazu, dass die Plätze im Ausland zu
teuer sind und deswegen keine zusätzlichen Plätze zur
Verfügung gestellt werden. Sie haben doch Alternativen,
die die Experten und auch ich in der Anhörung des Aus-
schusses angesprochen haben. Wir können andere Rege-
lungen bei der Rentenversicherung und bei der Pflegever-
sicherung finden.


(Detlef Parr [FDP]: So ist es!)

Bei der Arbeitslosenversicherung ist das ebenfalls mög-
lich. Für die Zeit von zwölf Monaten gibt es andere Mög-
lichkeiten, die für die jungen Leute eine genauso gute Ab-
sicherung darstellen.


(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer soll das aus Ihrer Sicht bezahlen?)


Es sollte geprüft werden, ob es analog zum Status des
Entwicklungshelfers, der auch nicht mit einem „Arbeits-
lohn“ versehen ins Ausland geht, Erleichterungen für die
Träger gibt, sodass mehr Plätze geschaffen werden können.

Ich will weiterhin kritisch anmerken:
Erstens. Freiwilligendienste für Ausländer in Deutsch-

land werden nicht erleichtert.
Zweitens. Die Mobilitätsrichtlinie wird nicht umfas-

send umgesetzt.
Drittens. Ob mit dem Änderungsantrag die Gleichbe-

handlung von Frauen, die in Ihrem Gesetzentwurf fehlte,
stärker berücksichtigt wird, wage ich zu bezweifeln. Es ist
so, dass in Ihrem Ursprungsgesetzentwurf das Gender-
Mainstreaming-Prinzip, auf das Sie so stolz sind, über-
haupt nicht gegriffen hat, sodass Sie in diesem Punkt
nachbessern mussten. Es wundert mich schon sehr, dass
das den Grünen nicht aufgefallen ist, Herr Simmert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich komme nun zu unserem Antrag, den Sie gar nicht

beraten haben und der wahrscheinlich umfassender und
besser ist. Die FDP will gesetzliche Rahmenbedingungen




Christian Simmert

22669


(C)



(D)



(A)



(B)


für einen umfassenden Freiwilligendienst schaffen, insbe-
sondere – das hat Herr Simmert auch schon erwähnt – vor
dem Hintergrund der Diskussion um die Wehrpflicht. Die
FDP will den grenzüberschreitenden Freiwilligendienst
zur Erweiterung der Bildungschancen junger Menschen,
zur Stärkung von Toleranz und Solidarität. Wir wollen zu-
sätzlich, dass der Aufbau der Kooperation gemeinnütziger
Dienste zwischen der Europäischen Union, der EFTAund
den Beitrittsländern sowie den Drittländern unterstützt
wird.

Auch Deutschland und die Bundesregierung haben
sich gegenüber der Europäischen Union verpflichtet, we-
sentlich mehr zu tun, als in Ihrem Gesetz steht. So wird
unser Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der
nächsten Legislaturperiode für bessere Bedingungen von
Jugendlichen, die sich im Ausland engagieren, sorgen
müssen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1422808900
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Monika Balt.


Monika Balt (PDS):
Rede ID: ID1422809000
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Re-
gierungskoalition trat 1998 mit dem Versprechen an, Frei-
willigendienste im In- und Ausland auszubauen. Dieses
Versprechen soll nun, kurz vor Toresschluss, noch einge-
löst werden.

Dass Freiwilligendienste wichtige interkulturelle, öko-
logische und soziale Erfahrungen vermitteln und so in
hohem Maße zur persönlichen Entwicklung der Teilneh-
merinnen und Teilnehmer beitragen, ist bei uns allen un-
umstritten. Dass sich die PDS dagegen ausspricht, Frei-
willige als Ausfallbürgen und als Ersatz für dauerhaft
Beschäftigte zu missbrauchen, wird Sie natürlich nicht
verwundern. Auch ist seit langem bekannt, dass weitaus
mehr junge Menschen bereit sind, sich zu engagieren, als
Einsatzplätze vorhanden sind.

Der vorliegende Gesetzentwurf regelt nur die Freiwil-
ligendienste im Inland. Die Verbesserungen befürwortet
die PDS; sie sind gut. Deshalb stimmen wir diesem Ge-
setzentwurf zu.

Wir kritisieren jedoch, dass auf die besonderen Be-
dürfnisse von Freiwilligendiensten im Ausland nicht aus-
reichend eingegangen wird. Beispielsweise widerspricht
der Zwang, einen gegebenenfalls notwendigen Sprach-
kurs in Deutschland durchzuführen, jeglicher sprachprak-
tischen und pädagogischen Erfahrung.

Ermöglichen Sie den Freiwilligen erstens, die Fremd-
sprache dort zu lernen, wo sie angewandt wird, nämlich in
ihrem Gastland. Stimmen Sie unserem Änderungsantrag
hierzu zu.


(Beifall bei der PDS)

Zweitens. Wir fordern in unserem Änderungsantrag die

Aufnahme eines Kindergeldanspruches für alle Freiwilli-
gen im Ausland.

Drittens. Der Ausgleich weiterer Nachteile, die wir
heute aus Zeitgründen hier nicht besprechen können, ist in
einem umfassenden Aufnahme- und Entsendegesetz für
die nationalen und internationalen Freiwilligendienste
nachzuholen.


(Beifall bei der PDS)

Mit der neu geschaffenen Ausnahmeregelung, die es in

Zukunft ermöglichen soll, ein freiwilliges soziales oder
ökologisches Jahr anstelle des Pflichtdienstes Zivildienst
zu leisten, wird den betroffenen jungen Männern eine
sinnvolle selbst gewählte Alternative eröffnet. Das be-
grüßen wir natürlich sehr.


(Dieter Dzewas [SPD]: Wir auch!)

Diese Regelung ist jedoch mit der akuten Gefahr verbun-
den, dass Frauen benachteiligt werden. Eine staatliche
Förderung ist für sie, im Gegensatz zu wehrpflichtigen
Männern, nicht vorgesehen. Die Bundesregierung muss
sicherstellen, dass die staatlichen Fördergelder von den
Trägern des freiwilligen sozialen und ökologischen Jahres
auch zur Förderung von Frauen verwendet werden kön-
nen und letztendlich auch eingesetzt werden.


(Beifall bei der PDS)

Meine Damen und Herren, im Interesse der jungen

Freiwilligen stimmen wir dem Gesetzentwurf in dieser
Fassung zu. Stimmen Sie im Interesse der jungen Frei-
willigen unseren beiden Änderungsanträgen und unserem
Entschließungsantrag zu.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1422809100
Das war eine zeitliche
Punktlandung.

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dieter
Dzewas von der SPD-Fraktion.


Dieter Dzewas (SPD):
Rede ID: ID1422809200
Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, zunächst einmal richte ich einen herzlichen Dank an
alle Beteiligten an diesem Gesetzgebungsverfahren, an
die Kolleginnen und Kollegen, die mit einer hervorragen-
den Kondition hier zu dieser Zeit an dieser Debatte teil-
nehmen und an alle Besucherinnen und Besucher.

„Was ich kann, ist unbezahlbar!“ – so lautet der Titel
der Kampagne zur Unterstützung des ehrenamtlichen En-
gagements, die im Herbst des vergangenen Jahres vom
Familienministerium gestartet wurde. Auch die Zeit, die
junge Freiwillige im FSJ und FÖJ verbringen, ist ein Eh-
renamt.

In einer Untersuchung aus dem Jahr 1998 wurden
junge Freiwillige über das Ergebnis ihres Engagements
befragt. 78 Prozent der Befragten bemerkten, ihre Selbst-
ständigkeit sei jetzt stärker ausgeprägt. Zwei Drittel nann-
ten die Steigerung ihres Selbstbewußtsseins. Mehr als die
Hälfte sprach von einer Verbesserung der Durchsetzungs-
fähigkeit und Entscheidungsfreudigkeit. Das alles sind
Fähigkeiten, die später im Berufs- wie im Privatleben sehr
gefragt sind. Diese so genannten Sekundärtugenden be-




Ina Lenke
22670


(C)



(D)



(A)



(B)


gleiten die jungen Menschen auch nach ihrer Freiwilli-
genzeit. Angesichts der über 13 200 jungen Menschen, die
die Chance, ein FSJ oder FÖJ abzuleisten, im vergange-
nen Jahr genutzt haben, ist es nur konsequent und richtig
gewesen, dass wir von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
im Jahr 2001, nämlich im Internationalen Jahr der Frei-
willigen, diesen Gesetzentwurf zur Änderung des FSJ-
Förderungsgesetzes auf den Weg gebracht haben.

Die Förderung des freiwilligen Engagements zieht sich
wie ein roter Faden durch diesen Gesetzentwurf. Wir ver-
suchen, sowohl für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
wie auch für FSJ und FÖJ, als Institutionen die Attrakti-
vität zu steigern: Wir erweitern die Einsatzfelder. Wir fle-
xibilisieren die Dauer des FSJ und FÖJ im Inland. Wir
weiten die Förderung auf das außereuropäische Ausland
aus. Wir senken das Eintrittsalter ab. Wir schreiben jetzt
nicht mehr ein bestimmtes Alter fest, sondern wollen, dass
man nach Absolvierung der Vollzeitschulpflicht in dieses
Jahr eintreten kann. Damit geben wir jungen Menschen
insbesondere aus Haupt- und Realschulen die Möglich-
keit, eine FSJ- bzw. FÖJ-Förderung in Anspruch zu neh-
men. Freiwillige können zukünftig ein berufsqualifizie-
rendes Zeugnis erhalten, das später für die weitere
berufliche Laufbahn von Vorteil sein kann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen doch alle:
Solche freiwilligen Dienste sind offensichtlich attraktiv;
verordnete Zwangsdienste dagegen werden oft nur mit
Zähneknirschen absolviert. Was wir gemacht haben, näm-
lich einen § 14 c in das Zivildienstgesetz einzufügen, ist,
Herr Kollege Dörflinger, keineswegs ominös, sondern
pragmatisch. Wir reagieren mit unserem Gesetzentwurf
auf den bestehenden Widerspruch und die Erkenntnis, dass
Freiwilligendienste mit einer anderen Motivation geleistet
werden als Zwangsdienste. Der neue § 14 c des Zivil-
dienstgesetzes ermöglicht es anerkannten Kriegsdienst-
verweigerern, sich statt des Zivildienstes zur Ableistung
eines freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahres zu
verpflichten. Das heißt zum Beispiel: Ein anerkannter
Kriegsdienstverweigerer, der sich zu einem freiwilligen
ökologischen Jahr im Ausland für eine Dauer von zwölf
Monaten verpflichtet, muss keinen Zivildienst mehr ableis-
ten. Weil er so möglicherweise ganz andere Gestaltungs-
spielräume für seine persönliche Entwicklung erhält, ist es,
glaube ich, durchaus sinnvoll, diesen Weg zu eröffnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein deutliches Wort zu den Finanzen: Es gibt überhaupt
keine Ungleichbehandlung. Das, was ein Zivildienstleis-
tender den Staat kostet, stellt der Bund den Trägern zur
Verfügung.

In der Opposition gibt es darüber hinaus – das ist mehr-
fach angesprochen worden – die verschiedensten Beden-
ken, dass angestammte FSJ- oder FÖJ-Plätze jetzt ver-
drängt werden und so beispielsweise junge Frauen
benachteiligt werden könnten. Wir sorgen durch eine ent-
sprechende Durchführungsverordnung dafür, dass für
junge Männer zusätzliche Plätze eingerichtet werden.
Diese Lösung ist sehr vernünftig, zumal man wissen muss
– auch darauf ist mehrfach hingewiesen worden –, dass
wir für diese weiteren Plätze 5 Millionen Euro zusätzlich

zur Verfügung stellen. Natürlich sind wir darauf angewie-
sen, dass die Länder und die Träger auf dieses Angebot
einsteigen. Aber man sieht, dass es uns ernst ist mit der
Schaffung von zusätzlichen Plätzen für das FSJ/FÖJ.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 1993 wurde das frei-
willige ökologische Jahr eingeführt, rund 30 Jahre nach
der Geburt des FSJ. Wir wissen, dass noch heute die Zahl
der Bewerberinnen und Bewerber das Angebot an Plätzen
übersteigt. Auch deshalb ist es ein vernünftiger Weg, zu-
sätzliche Möglichkeiten zu schaffen und das nicht euro-
päische Ausland einzubeziehen. Da wir die Zwölfmonats-
frist berücksichtigen, erwartet die Bundesregierung, dass
nach entsprechender Überprüfung dieses Gesetzes und
unter Berücksichtigung der Empfehlungen der Enquete-
Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engage-
ments“ die Freiwilligendienste zukünftig noch besser und
wirksamer unterstützt werden können.

Dem FDP-Antrag können wir nicht zustimmen: Ich
möchte der Enquete-Kommission zum einen nicht vorgrei-
fen und muss zum anderen feststellen, dass die notwendige
und faire soziale Absicherung der jungen Menschen in
Ihrem Antrag überhaupt nicht berücksichtigt worden ist. Im
Namen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bitte ich des-
halb die Bundesregierung, die entsprechenden Vorschläge
vorzulegen. Frau Lenke, die Schritte, die wir jetzt tun, sind
solide und sicher. Sie wünschen Sprünge. Das aber birgt die
Gefahr des Absturzes. Deshalb: Lassen Sie uns die vorge-
legten Schritte gemeinsam gehen.

Herr Dörflinger, angesichts der Tatsache, dass wir uns
schon in der Diskussion im Ausschuss konstruktiv ergänzt
haben, bitte ich auch heute um Ihre Zustimmung. Dieser
Gesetzentwurf ist aus meiner Sicht zukunftsfähig. Das ist
wichtig; denn junge Menschen sind – das wissen wir alle;
darin sind wir uns auch einig – die Zukunft unseres Lan-
des. Sie verdienen unsere volle Unterstützung. Dies soll-
ten wir mit einer entsprechenden Beschlussfassung hier
im Deutschen Bundestag kenntlich machen.

Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, genauso
wie den Besucherinnen und Besuchern auf der Tribüne, ein
schönes Wochenende und vor allen Dingen schöne Ostern!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1422809300
Bevor es so weit ist,
haben wir noch einiges zu tun.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 14/7485
zur Änderung des Gesetzes zur Förderung eines freiwil-
ligen sozialen Jahres und anderer Gesetze. Unter Nr. 1
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 14/8634 empfiehlt der Ausschuss für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen.

Dazu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der
PDS vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für
den Änderungsantrag auf Drucksache 14/8666? – Gegen-




Dieter Dzewas

22671


(C)



(D)



(A)



(B)


stimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist ge-
gen die Stimmen der PDS abgelehnt.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 14/8675? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen von PDS-
und FDP-Fraktion abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit
einstimmig angenommen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 14/8669. Wer stimmt für diesen Entsch-
ließungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksa-
che 14/8671. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-
Fraktion abgelehnt.

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend empfiehlt unter Nr. 1 Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 14/8634 die Annahme einer
Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Diese Beschluss-
empfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU- und
FDP-Fraktion angenommen.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den vom Bun-
desrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen sozia-
len Jahres und zur Änderung des Gesetzes zur Förderung
eines freiwilligen ökologischen Jahres auf Drucksa-
che 14/5120. Der Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 14/8634, den Gesetz-
entwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der
CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unse-
rer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 14/8634 empfiehlt der Ausschuss für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der FDP auf Drucksache 14/7811 mit dem Titel
„Deutschland braucht gesetzliche Rahmenbedingungen
für einen allgemeinen Freiwilligendienst“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen

von FDP- und PDS-Fraktion bei Enthaltung der
CDU/CSU angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 sowie Zusatzpunkt 6
auf:
27. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-

gierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Ge-
setzes zur Änderung des Wasserhaushaltsgeset-
zes
– Drucksache 14/7755 –

(Erste Beratung 208. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)

– Drucksachen 14/8621, 14/8668 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Kurt-Dieter Grill
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Wasserverbandsge-
setzes
– Drucksache 14/8223 –

(Erste Beratung 221. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft (10. Ausschuss)

– Drucksache 14/8615 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Franz Obermeier

Zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Was-
serhaushaltsgesetzes liegt ein Entschließungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU vor.

Die Kolleginnen und Kollegen Bierwirth, Grill,
Homburger, Dr. Bärbel Grygier sowie der Bundesminis-
ter Trittin haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) – Ich
höre keinen Widerspruch; dann ist das so geschehen.

Wir kommen sofort zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes, Drucksa-
chen 14/7755, 14/8668 und 14/8621. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung gegen die Stimmen der CDU/CSU bei
Enthaltung der FDP angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung




Vizepräsidentin Petra Bläss
22672


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 6

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent-
wurf gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung
der FDP angenommen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 14/8639. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP abgelehnt.

Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Wasserverbandsgesetzes auf Drucksa-
che 14/8223. Der Ausschuss für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksa-
che 14/8615, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Joachim Stünker, Hermann Bachmaier,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
sowie den Abgeordneten Volker Beck (Köln),
Hans-Christian Ströbele, Grietje Bettin, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Einführung der vorbehalte-
nen Sicherungsverwahrung
– Drucksache 14/8586 –
Überweisungsvorschlag::
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Die Kolleginnen und Kollegen Joachim Stünker,
Dr. Gehb, Volker Beck (Köln), Jörg van Essen, Dr. Evelyn
Kenzler sowie der Parlamentarische Staatssekretär Pro-
fessor Pick haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) –
Auch hierzu besteht Begeisterung in der Runde.

Deshalb kommen wir gleich zur Überweisung. Inter-
fraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf
Drucksache 14/8586 an die der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse vorgeschlagen. Abweichend von der Ta-
gesordnung soll der Gesetzentwurf nicht an den Haus-
haltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie mit der
Überweisung einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist
sie so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und 29 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der PDS.
Wiedererhebung der Vermögenssteuer
– Drucksachen 14/6112, 14/7558 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Simone Violka
Heinz Seiffert
Dr. Barbara Höll

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Heidemarie Ehlert, Dr. Christa Luft, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der PDS
Erbschaftsbesteuerung sofort reformieren
– Drucksachen 14/7109, 14/7773 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Heinz Seiffert
Dr. Barbara Höll

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
fünf Minuten erhalten soll. Ich höre keinen Widerspruch. –
Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die
PDS-Fraktion die Kollegin Dr. Barbara Höll.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1422809400
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Ich finde es völlig in Ordnung,
wenn meine Kollegen heute nicht zu diesem Thema spre-
chen. Das ist die Vereinbarung. Allerdings finde ich es
sehr traurig, wenn wir, die PDS, hier in diesem Hohen
Hause inzwischen die Einzigen sind, die noch an eine Re-
formierung der Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung
festhalten.


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Diese Leier kennen wir schon!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie
sollten sich an zeithistorische Dokumente darüber erin-
nern, was alles man von Ihnen im Wahlkampf hören
konnte. Die Grünen forderten 1998 sogar ganz konkret die
Einführung einer Vermögensteuer. Bei der SPD las sich
das so: Große Privatvermögen sollten wieder einen ge-
rechten Beitrag leisten, um Bildung und andere öf-
fentliche Dienstleistungen finanzieren zu können. – Wun-
derschön!

Leider haben Sie sich aber in Ihrer Regierungspolitik
meilenweit davon entfernt. Davon ist nichts übrig geblie-
ben. Im Gegenteil: Die Schere zwischen Armut und
Reichtum in dieser unserer deutschen Gesellschaft hat
sich weiter geöffnet. Nicht umsonst wird inzwischen in
Fachblättern wie zum Beispiel dem „Handelsblatt“ davon




Vizepräsidentin Petra Bläss

22673


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 7

gesprochen, dass Deutschland zur „Steueroase“ mutiert
ist. Im „Spiegel“ ist von einem „Steuerparadies“ die Rede.

Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer zahlt in-
zwischen mehr Lohnsteuer als Großunternehmen wie
Daimler-Benz, das im vergangenen Jahr keine Steuern
gezahlt hat. Meine kleine Schwester arbeitet als
Facharbeiterin – sie ist ausgebildete Meisterin – im Vier-
schichtsystem. Sie hat kein Wochenende. Sie zahlt Monat
für Monat ihre Lohnsteuer. Dem steht gegenüber, dass ein
Konzern wie zum Beispiel VW im Jahre 2001 den Ge-
winn vor Steuern um 37 Prozent steigern konnte. Nach
Steuern ist eine Gewinnsteigerung um rund 144 Prozent
möglich. Sie sollten einmal deutlich machen, wie das ein
Lohnabhängiger realisieren kann!

Finanzminister Eichel hat auf dem Gebiet der Finan-
zierung des Gemeinwesens leider nichts unternommen,
um die Lage der Kommunen, der Länder und des Bundes
zu stabilisieren. In den letzten dreieinhalb Jahren war das
Programm der Bundesregierung von Sozialabbau ge-
kennzeichnet. In der Presse sind neue Diskussionen zu
hören. Stichworte sind: Teilkasko bei Kranken- und Ar-
beitslosenversicherung sowie Ankündigung der Zusam-
menlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Dies
sind weitere Vorboten eines Sozialabbaus.

Schleswig-Holstein musste jetzt das Blindengeld ab-
schaffen. Schulen werden nicht saniert. Stellen in der Ver-
waltung, die eigentlich nötig wären, werden einfach
gekürzt. Selbst der rot-rote Senat in Berlin musste mas-
sive Sparbeschlüsse treffen, um aus der aktuellen Situa-
tion halbwegs herauszukommen.

Es besteht also eine Situation, die als äußerst ernst zu
bezeichnen ist. Hierzu liegen leider keine Antworten von
Ihnen vor. Der ehemalige Staatssekretär im Finanzminis-
terium Claus Noé beurteilte in dieser Woche die Politik
von Herrn Eichel sehr treffend – ich zitiere das aus der
„Frankfurter Rundschau“ vom 18. März 2002 –: „Der
Mann läuft ökonomisch Amok.“ Man kann ergänzen: Das
schließt die Finanzpolitik ein.

Sie haben eine Einkommen- und Unternehmensteuer-
reform verabschiedet, die dazu geführt hat, dass durch die
Körperschaftsteuer im vergangenen Jahr zum ersten
Mal in der Geschichte der Bundesrepublik keine Einnah-
men erzielt wurden. Es gab Ausfälle in Milliardenhöhe.
Bei der Diskussion unserer Vorschläge zu einer Reform
der Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung haben Sie
sich in der Ausschussberatung ganz billig herausgeredet,
und zwar nach dem Motto: Solange die Länder nicht wol-
len, können wir überhaupt nichts tun.

Wer sich halbwegs erinnern möchte, dem wird be-
wusst, dass unser Kanzler Schröder Vorschläge aus den
Ländern zur Reform der Erbschaftsbesteuerung massiv
zurückgepfiffen hat. An anderen Stellen versuchen wir,
als Bundestag – wir sind die Legislative – doch auch, ini-
tiativ zu werden. Durch die Diskussionen wollen wir Ge-
setze ermöglichen, die vorwärts weisen, Perspektiven
eröffnen und ein Gegengewicht zu dem ständigen Sparen
bieten können. Gespart wird an der Substanz und inzwi-
schen auch an der Zukunft unserer Kinder.

Ich nehme einfach eine Zahl: 2,6 Millionen Staatsbür-
gerinnen und Staatsbürger gehören in der Bundesrepublik
Deutschland zur Schicht der vermögenden Personen. Jede
Person aus dieser Schicht verfügt über liquide Mittel
– diese sind also nicht in einem Haus gebunden – in Höhe
von etwa 1,1 Millionen DM, also rund 550 000 Euro. Es
ist doch vernünftig, dass wir eine Vermögensbesteuerung
fordern, sodass diese wieder einen höheren Beitrag zah-
len, nachdem der Spitzensteuersatz durch Sie massiv ge-
senkt wurde und sich diese Leute durch bestimmte Vor-
schriften in den Steuergesetzen arm rechnen konnten,
wodurch sie weniger bzw. gar keine Steuern mehr zahlen
mussten. Wir sprechen von Menschen, bei denen das
wirklich möglich ist. Laut Grundgesetz wären sie in der
Pflicht.

Unsere Vorschläge, die Ihnen in den beiden Anträgen
vorliegen, sind verfassungsfest. Natürlich haben wir die
Urteile des Bundesverfassungsgerichts beachtet. Sie
entsprechen einer modernen Auffassung von Finanz- und
Steuerpolitik, da sie von der Individualisierung des Steu-
errechts ausgehen. Sie sind sozial gerecht, weil natürlich
„Oma ihr klein Häuschen“ keinesfalls besteuert werden
soll. Es handelt sich um reale Finanzierungsquellen. Da-
mit könnte die steuerliche Gerechtigkeit verwirklicht
werden.

Ich verspreche Ihnen, dass wir, die PDS, auch im
nächsten Deutschen Bundestag an diesem Thema festhal-
ten und Sie nicht aus der Pflicht entlassen werden, sich
endlich vorwärts zu bewegen und umzusteuern, sodass
sich die wirklich Vermögenden an der Finanzierung des
Gemeinwesens beteiligen müssen.

Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ebenfalls schöne
Ostern.


(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1422809500
Die Kolleginnen und
Kollegen Simone Violka, Otto Bernhardt, Christine
Scheel und Gerhard Schüßler haben ihre Reden zu Proto-
koll gegeben,1) sodass ich hiermit die Aussprache
schließen kann.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses auf Drucksache 14/7558 zu dem Antrag der
Fraktion der PDS mit dem Titel „Wiedererhebung der
Vermögensteuer“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/6112 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der PDS-Fraktion angenommen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses auf Drucksache 14/7773 zu dem Antrag der
Fraktion der PDS mit dem Titel „Erbschaftsbesteuerung
sofort reformieren“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/7109 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-




Dr. Barbara Höll
22674


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 8

gen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Die Osterpause
liegt vor uns. Ich gehe davon aus, dass sie für uns alle ar-
beitsreich sein wird. Trotz alledem wünsche ich Ihnen und
besonders unseren zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhö-
rern auf der Besuchertribüne ein schönes und vor allem

friedliches Osterfest. Viel Erfolg beim Suchen der Oster-
eier und der anderen Überraschungen, die versteckt wer-
den.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 17. April 2002, 13 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.