Protokoll:
14225

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 225

  • date_rangeDatum: 15. März 2002

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 14:53 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 22326 A Tagesordnungspunkt 13: a) Abgabe einer Regierungserklärung: Internationale Verantwortung – Ent- wicklung stärken . . . . . . . . . . . . . . . . 22325 A b) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Elfter Bericht zur Entwick- lungspolitik der Bundesregierung (Drucksache 14/6496) . . . . . . . . . . . . . 22325 A c) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Dritter Bericht über die Ar- mutsbekämpfung in der Dritten Welt durch Hilfe zur Selbsthilfe (Drucksache 14/6269) . . . . . . . . . . . . . 22325 B d) Antrag der Abgeordneten Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD so- wie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Entwicklungsfinanzierung interna- tional stärken – VN-Konferenz „Financing for Development“ (Drucksache 14/8487) . . . . . . . . . . . . . 22325 B e) Antrag der Abgeordneten Peter Weiß (Emmendingen), Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Reformpolitik und Stabilität in den Transformations- staaten weiter fördern – gegen den Kahlschlag bei der Entwicklungs- zusammenarbeit (Drucksache 14/8109) . . . . . . . . . . . . . 22325 C f) Erste Beratung des von der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Sicherung der öffentlichen Entwicklungshilfe des Bundes (Ent- wicklungshilfesicherungsgesetz) (Drucksache 14/8338) . . . . . . . . . . . . . 22325 D g) Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Politische Stabilisierung der zentralasiatischen Krisenregion (Drucksache 14/8057) . . . . . . . . . . . . . 22325 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Mit der Internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung den Abwärts- trend der Finanzmittel für nachhaltige Entwicklung umkehren (Drucksache 14/8482) . . . . . . . . . . . . . . . 22326 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP: Informationstechnologie in den Mittel- punkt der Entwicklungszusammenarbeit stellen (Drucksache 14/5578) . . . . . . . . . . . . . . . 22326 A Plenarprotokoll 14/225 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 225. Sitzung Berlin, Freitag, den 15. März 2002 I n h a l t : Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesminis- terin BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22326 B Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU . . . . . . . . . 22330 A Gernot Erler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22332 B Joachim Günther (Plauen) FDP . . . . . . . . . . . 22334 B Rezzo Schlauch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22336 B Carsten Hübner PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22337 C Adelheid Tröscher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 22339 A Dr. Christian Ruck CDU/CSU . . . . . . . . . . . 22341 A Detlev von Larcher SPD . . . . . . . . . . . . . 22342 A Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22343 C Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . 22344 D Detlef Dzembritzki SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 22346 C Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . 22347 A Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- logie zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hansjürgen Doss, Friedhelm Ost, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Offensive für die Bauwirt- schaft (Drucksachen 14/6315, 14/8504) . . . . . . . 22349 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Wiesehügel, Dieter Maaß (Herne), weiterer Abgeordneter und der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zukunft der deutschen Bauwirtschaft (Drucksachen 14/7297, 14/8506) . . . . . . . 22350 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Hans-Michael Goldmann, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Mehr Chancen für die Bauwirt- schaft durch weniger Regulierung (Drucksachen 14/7458, 14/8507) . . . . . . . 22350 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 15: Große Anfrage der Abgeordneten Uwe Hiksch, Christine Ostrowski, Rolf Kutzmutz und der Fraktion der PDS: Zukunft der Bauwirtschaft (Drucksachen 14/7135, 14/8498) . . . . . . . 22350 B Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . . . 22350 B Klaus Wiesehügel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 22352 B Gudrun Kopp FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22354 B Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22355 C Rolf Kutzmutz PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22357 B Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär BMWi 22358 C Peter Rauen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 22360 B Dieter Maaß (Herne) SPD . . . . . . . . . . . . . . . 22362 B Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat (Drucksachen 14/8214, 14/8529, 14/8546, 14/8530) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22363 C Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMA . . . . . 22364 A Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . . . . . . . 22365 C Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22367 D Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 22369 A Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22370 A Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22371 C Gerd Andres SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22372 C Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22372 D Franz Thönnes SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22373 B Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . . . . . . . 22374 C Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22376 B Franz Thönnes SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22376 C Klaus Brandner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22377 A Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun (Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Einsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissionen verkürzen – Rahmenbedingungen ver- bessern (Drucksache 14/7159) . . . . . . . . . . . . . 22378 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 2002II b) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem An- trag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun (Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Begrenzung derEinsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissionen (Drucksachen 14/1307, 14/2841) . . . . 22379 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem An- trag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Jörg von Essen, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Einsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissionen verkürzen – Rah- menbedingungen verbessern (Drucksachen 14/4536, 14/6684) . . . . 22379 A Günther Friedrich Nolting FDP . . . . . . . . . . 22379 B Johannes Kahrs SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22380 D Ursula Lietz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 22382 B Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 22385 B Heidi Lippmann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22386 B Ursula Mogg SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22387 A Tagesordnungspunkt 18: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu den Wirkungen der Wohnungsüber- wachung durch Einsatz technischerMit- tel (Art. 13 Abs. 3 bis 5 GG, § 100 c bis 100 f StPO) (Drucksache 14/8155) . . . . . . . . . . . . . . . 22388 B Tagesordnungspunkt 19: a) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Beseitigung der steuerlichen Diskriminierung Alleinerziehender (Drucksache 14/8274) . . . . . . . . . . . . 22388 C b) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der PDS: Gerechtigkeit im Familienlastenaus- gleich herstellen (Drucksache 14/8273) . . . . . . . . . . . . 22388 C Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22388 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22390 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 22391 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (PDS) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertretung in den Aufsichtsrat (Tagesordnungspunkt 15) . . . . . 22392 D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unterrichtung: Erfahrungsbericht der Bundes- regierung zu den Wirkungen der Wohnungs- überwachung durch Einsatz technischer Mittel (Art. 13 Abs. 3 bis 5 GG, § 100 c bis 100 f StPO) (Tagesordnungspunkt 18) . . . . . . . . . . . 22393 A Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD . . . . . . . . . . . . 22393 A Ronald Pofalla CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 22394 B Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 22395 C Jörg van Essen FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22396 C Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22397 A Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 22398 A Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – des Entwurfs eines Gesetzes zur Besei- tigung der steuerlichen Diskriminierung Alleinerziehender – des Antrags: Gerechtigkeit im Familienlas- tenausgleich herstellen (Tagesordnungspunkt 18 a und b) . . . . . . . . . . 22399 A Nicolette Kressl SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22399 B Elke Wülfing CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 22400 D Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 22402 A Ina Lenke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22402 D Anlage 5 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22403 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 2002 III Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 2002
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 2002 Dr. Barbara Höll 22390 (C) (D) (A) (B) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 2002 22391 (C) (D) (A) (B) Altmaier, Peter CDU/CSU 15.03.2002 Dr. Bartsch, Dietmar PDS 15.03.2002 Dr. Bauer, Wolf CDU/CSU 15.03.2002 Beck (Köln), BÜNDNIS 90/ 15.03.2002 Volker DIE GRÜNEN Bernhardt, Otto CDU/CSU 15.03.2002 Berninger, Matthias BÜNDNIS 90/ 15.03.2002 DIE GRÜNEN Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 15.03.2002 Dr. Blank, CDU/CSU 15.03.2002 Joseph-Theodor Bodewig, Kurt SPD 15.03.2002 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 15.03.2002 Böttcher, Maritta PDS 15.03.2002 Bohl, Friedrich CDU/CSU 15.03.2002 Brase, Willi SPD 15.03.2002 Brüderle, Rainer FDP 15.03.2002 Büttner (Ingolstadt), SPD 15.03.2002 Hans Dr. Däubler-Gmelin, SPD 15.03.2002 Herta Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ 15.03.2002 DIE GRÜNEN Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 15.03.2002 DIE GRÜNEN Faße, Annette SPD 15.03.2002 Feibel, Albrecht CDU/CSU 15.03.2002 Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/ 15.03.2002 DIE GRÜNEN Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 15.03.2002 Joseph DIE GRÜNEN Fograscher, Gabriele SPD 15.03.2002 Formanski, Norbert SPD 15.03.2002 Forster, Hans SPD 15.03.2002 Dr. Friedrich CDU/CSU 15.03.2002 (Erlangen), Gerhard Friedrich (Mettmann), SPD 15.03.2002 Lilo Friedrich (Altenburg), SPD 15.03.2002 Peter Fuchs (Köln), Anke SPD 15.03.2002 Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 15.03.2002 Gloser, Günter SPD 15.03.2002 Göllner, Uwe SPD 15.03.2002 Goldmann, FDP 15.03.2002 Hans-Michael Gröhe, Hermann CDU/CSU 15.03.2002 Dr. Guttmacher, FDP 15.03.2002 Karlheinz Haack (Extertal), SPD 15.03.2002 Karl-Hermann Hartnagel, Anke SPD 15.03.2002 Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 15.03.2002 Hempelmann, Rolf SPD 15.03.2002 Holetschek, Klaus CDU/CSU 15.03.2002 Irmer, Ulrich FDP 15.03.2002 Kaspereit, Sabine SPD 15.03.2002 Körper, Fritz Rudolf SPD 15.03.2002 Kolbow, Walter SPD 15.03.2002 Kortmann, Karin SPD 15.03.2002 Dr. Krogmann, Martina CDU/CSU 15.03.2002 Krüger-Leißner, SPD 15.03.2002 Angelika Lamers, Karl CDU/CSU 15.03.2002 Dr. Leonhard, Elke SPD 15.03.2002 Lewering, Eckhart SPD 15.03.2002 Meckel, Markus SPD 15.03.2002 Merten, Ulrike SPD 15.03.2002 Michels, Meinolf CDU/CSU 15.03.2002* Neumann (Bramsche), SPD 15.03.2002 Volker entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 200222392 (C) (D) (A) (B) Nietan, Dietmar SPD 15.03.2002 Ostrowski, Christine PDS 15.03.2002 Dr. Pflüger, Friedbert CDU/CSU 15.03.2002 Philipp, Beatrix CDU/CSU 15.03.2002 Pieper, Cornelia FDP 15.03.2002 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 15.03.2002 Raidel, Hans CDU/CSU 15.03.2002** Rühe, Volker CDU/CSU 15.03.2002 Scherhag, Karl-Heinz CDU/CSU 15.03.2002 Schlee, Dietmar CDU/CSU 15.03.2002 Schloten, Dieter SPD 15.03.2002** Schmidt (Hitzhofen), BÜNDNIS 90/ 15.03.2002 Albert DIE GRÜNEN Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 15.03.2002 Hans Peter Dr. Schockenhoff, CDU/CSU 15.03.2002 Andreas Schönfeld, Karsten SPD 15.03.2002 Schröder, Gerhard SPD 15.03.2002 Dr. Schubert, Mathias SPD 15.03.2002 Schuhmann (Delitzsch), SPD 15.03.2002 Richard Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 15.03.2002 Schultz (Everswinkel), SPD 15.03.2002 Reinhard Schwalbe, Clemens CDU/CSU 15.03.2002 Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 15.03.2002 Christian Seehofer, Horst CDU/CSU 15.03.2002 Siemann, Werner CDU/CSU 15.03.2002 Dr. Solms, Hermann FDP 15.03.2002 Otto Sorge, Wieland SPD 15.03.2002 Dr. Spielmann, Margrit SPD 15.03.2002 Dr. Stadler, Max FDP 15.03.2002 Steinbach, Erika CDU/CSU 15.03.2002 Dr. Freiherr von CDU/CSU 15.03.2002 Stetten, Wolfgang Störr-Ritter, Dorothea CDU/CSU 15.03.2002 Strebl, Matthäus CDU/CSU 15.03.2002 Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 15.03.2002 Thiele, Carl-Ludwig FDP 15.03.2002 Dr. Thomae, Dieter FDP 15.03.2002 Voßhoff, Andrea CDU/CSU 15.03.2002 Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 15.03.2002 Welt, Jochen SPD 15.03.2002 Dr. Westerwelle, Guido FDP 15.03.2002 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 15.03.2002 Wilhelm (Amberg), BÜNDNIS 90/ 15.03.2002 Helmut DIE GRÜNEN Zeitlmann, Wolfgang CDU/CSU 15.03.2002 Dr. Zöpel, Christoph SPD 15.03.2002 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an der 107. Jahreskonferenz der Interparlamenta- rischen Union Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (PDS) zur Ab- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmerver- tretung in den Aufsichtsrat (Tagesordnungs- punkt 15) Mit dem heute beschlossenen Gesetz macht die Regie- rungskoalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ei- nen Schritt zum Ausstieg aus der paritätisch finanzierten, solidarischen Arbeitslosenversicherung. Nach der Teil- privatisierung der Rentenversicherung erfolgt hier ein weiterer Systembruch, der nicht hinnehmbar ist und den ich ablehne. Vor allem auf Druck der Gewerkschaften hat die rot- grüne Koalition zwar einen Teil ihrer Vorhaben zur Priva- tisierung der Arbeitsvermittlung korrigiert. Arbeitslose, die Leistungen von der Bundesanstalt für Arbeit beziehen, müssen nichts mehr aus ihrer Privatschatulle dazusteuern. Dies gilt allerdings nicht für den ganzen „Rest“ an Ar- beitslosen. Das Gesetz lässt also noch jede Menge sozia- len Zündstoff übrig. Die Logik des Vorhabens und ihre Konsequenzen werden dadurch nicht geändert: die wei- tere Privatisierung des Sozialstaats, das Entstehen zweier „Klassen“ von Arbeitslosen. Welche fatalen Auswirkungen damit verbunden sind, lässt sich anhand der konkreten Lage im Osten erahnen. Allein in Sachsen waren im Februar 2002 mehr als 438 000 Arbeitslose registriert – das ist Rekordniveau und bedeutet, dass auf eine freie Stelle 20 arbeitslose Bewer- ber entfallen. Weder die Einführung von Kombilöhnen noch die Privatisierung der Arbeitsvermittlung tragen zur Lösung dieser Probleme bei. Im Gegenteil – unter Bedin- gungen wie in Sachsen führen sie eher dazu, dass eine Vielzahl der Langzeitarbeitslosen in das soziale Abseits gedrängt werden. Das Gesetz zur „Reformierung der Arbeitslosenver- mittlung“ entsolidarisiert und ist daher verantwortungs- los. Deshalb stimme ich gegen dieses Gesetz. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unterrichtung: Erfahrungsbe- richt der Bundesregierung zu den Wirkungen derWohnungsüberwachung durch Einsatz tech- nischerMittel (Art. 13 Abs. 3 bis 5 GG, § 100 c bis 100 f StPO) (Tagesordnungspunkt 18) Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD):Die technische Über- wachung von Wohnräumen oder der polemisch gerne so bezeichnete „große Lauschangriff“ war ein besonders heiß umstrittenes Thema des Bundestages in der letzten Legislaturperiode. Dabei wurde immer wieder übersehen oder verschwiegen, dass es derartige Maßnahmen zur Verhütung von Verbrechen, also zu präventiven Zwecken, längst gab und es insoweit einer neuen verfassungsrecht- lichen Grundlage, die nur für den repressiven Bereich fehlte, nicht bedurfte. In der Bundestagsdebatte vom 9. Oktober 1997 habe ich auf diesen Sachverhalt hingewiesen und gefordert, „dieses als letztes Mittel offenbar unverzichtbare Instru- ment rechtsstaatlich zu kontrollieren und dadurch seine Anwendung einzuschränken“. Diese Forderung konnte in den Verhandlungen mit der damaligen Regierungskoali- tion durchgesetzt werden. In der Bundestagsdebatte vom 16. Januar 1998 habe ich die neuen Einschränkungen der präventiven Wohnraumüberwachung erläutert und neben dem Richtervorbehalt besonders die nunmehr durch die Verfassung vorgeschriebene öffentliche Berichterstattung sowie die auf meinen Vorschlag eingeführte parlamenta- rische Kontrolle hervorgehoben. Ich habe damals festge- stellt: „Diese parlamentarische Kontrolle wird künftig durch Gremien, die von jedem Landtag und dem Bundestag neu einzurichten sind, durchgeführt werden“. In derselben Bun- destagssitzung haben wir die Bundesregierung aufgefordert, spätestens zum 31. Januar 2002 einen detaillierten Erfah- rungsbericht zu den Wirkungen der Wohnraumüberwachung vorzulegen. Dieser Bericht ist Gegenstand der heutigen De- batte. Er wird uns auch in den bevorstehenden Ausschuss- beratungen noch intensiv beschäftigen. Von besonderem Interesse ist die Information, dass in den drei Berichtsjahren von 1998 bis 2000 in insgesamt 70 Verfahren in 78 Wohnungen akustische Wohnraum- überwachungsmaßnahmen angeordnet und vollzogen wor- den sind, und zwar ganz überwiegend wegen des Ver- dachts einer Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz oder eines Tötungsdelikts. Die Zahl legt die Vermutung nahe, dass derartige Maßnahmen, die in der Vergangen- heit häufig mit dem Etikett der Prävention versehen wor- den sein dürften, eine weitaus geringere Rolle spielen, als in den heißen Debatten angenommen worden ist. Der von einigen Landesregierungen gegebene Hinweis auf einen „Verunsicherungseffekt insbesondere im Bereich der Or- ganisierten Kriminalität“ lässt unwillkürlich an die Kriegslist von Hannibal denken, der seine zahlenmäßig stark reduzierten Truppen dadurch bedrohlich erscheinen ließ, dass er seine verbliebenen Soldaten mit ihren Schwertern auf die Schilde schlagen und dadurch großen Lärm verursachen und außerdem seine Elefanten gewal- tige Staubwolken aufwirbeln ließ. Möglicherweise ist aber durch die neuen Schranken für die Anordnung und Durchführung von Wohnraumüberwachungsmaßnahmen auch der von mir seinerzeit erhoffte Reduzierungseffekt eingetreten. Ärgerlich bleibt gleichwohl, dass in 41 der insgesamt 70 Fälle die aus der Maßnahme gewonnenen Erkenntnisse nicht für das Ermittlungsverfahren von Be- deutung waren. Das legt den Schluss nahe, dass eine noch sorgfältigere Überprüfung derartiger Maßnahmen als Ul- tima Ratio im Sinne von Art. 13 Abs. 3 GG zu einem wei- teren Rückgang der statistischen Zahlen führen müsste. Dass wir bei der Bewertung der Erfahrungen auf Mut- maßungen angewiesen sind, ist gewiss nicht Schuld der Bundesregierung. Es liegt vielmehr an dem eindeutigen Wi- derwillen verschiedener Landesregierungen, ihre durch die Verfassung festgelegten und für die Staatsanwaltschaften durch § 100 e StPO konkretisierten Berichtspflicht wirklich nachzukommen. Der Bericht der Bundesregierung legt be- redtes Zeugnis dafür ab, dass sie ganz ähnlich wie das vom Bundestag gewählte Gremium nach Art. 13 Abs. 6 GG ei- nen ausdauernden Kampf um die Verbesserung der sehr höf- lich als „weitgehend recht pauschal“ bezeichneten Berichte der Landesjustizverwaltungen geführt hat. Die Folge ist, dass der Strafrechtsausschuss der Justizministerkonferenz erst im November 2001 eine Verbesserung der Erhebungsbö- gen durch Präzisierungen beschlossen hat, die erst für die Berichte ab dem Berichtsjahr 2002 relevant werden. Für den heute vorliegenden Erfahrungsbericht hatte die Bundesregierung den Landesjustizverwaltungen einen Katalog mit zwölf präzisen Fragen vorgelegt, die weitge- hend unbeantwortet geblieben sind. Aus der Erfahrung als Mitglied des Gremiums nach Art. 13 Abs. 6 GG kann ich berichten, dass wir einzelne Landesregierungen immer wieder an ihre verfassungs- rechtliche Berichtspflicht erinnern mussten. Geradezu grotesk ist, dass teilweise die Auffassung vertreten wor- den ist, dass eine auf Länderebene einzurichtende parla- mentarische Kontrolle der präventiven Wohnraumüber- wachung nicht erforderlich sei. Man kann zwar darüber streiten, ob in den Landtagen neue Ausschüsse einzurich- ten waren oder eine Berichterstattung gegenüber beste- henden Ausschüssen, etwa den Innenausschüssen oder ständigen Ausschüssen, dem Verfassungsgebot genügt. Aber Art. 13 Abs. 6 Satz 3 GG schreibt im Anschluss an die Vorschrift über das Bundestagsgremium unmissver- ständlich vor: „Die Länder gewährleisten eine gleichwer- tige parlamentarische Kontrolle“. Ob dieses inzwischen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 2002 22393 (C) (D) (A) (B) vier Jahre nach In-Kraft-Treten der zitierten Regelung im GG geschehen ist, wird den Bundestag und hoffentlich auch die betreffenden Landtage noch beschäftigen. Es ist in hohem Maße bedauerlich, dass einzelne Lan- desregierungen, die sich offensichtlich hinsichtlich der im Lande durchgeführten Überwachungsmaßnahmen nicht in die Karten schauen lassen wollten, darauf hingewiesen wer- den mussten, dass das GG auch in den Bundesländern gilt. Eine unbestreitbare Schwäche der in Art. 13 GG vorge- sehenen öffentlichen Berichterstattung und parlamentari- schen Kontrolle ist es jedoch, dass dadurch eine Einzelfall- bewertung nicht ermöglicht wird. Diese ist aber notwendig, um die Erfahrungen mit der Praxis akustischer Wohn- raumüberwachungen zuverlässig auszuwerten. Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass die Bundesregierung an das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg einen Gutachtenauftrag erteilt hat, der sich auf die Rechtswirklichkeit und die Effizienz der Überwachung nicht nur der Telekommunikation, sondern auch anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen bezieht. Selbstverständlich muss bei der Auswertung von Akten den Erfordernissen des Datenschutzes Rechnung getragen wer- den. Die Anonymisierung persönlicher Daten ist aber kein Hindernis für verlässliche wissenschaftliche Aussagen. Abschließend möchte ich noch auf ein besonderes Är- gernis in der Berichterstattung der Landesjustizverwal- tungen hinweisen. Bekanntlich ist die in § 101 StPO im Einzelnen geregelte Benachrichtigung des Betroffenen selbstverständliche und verfassungsrechtlich gebotene Voraussetzung dafür, Rechtsschutz in Anspruch zu neh- men. Deshalb haben wir festgelegt, dass immer dann, wenn eine Benachrichtigung des Betroffenen nicht binnen sechs Monaten nach Beendigung der Maßnahme erfolgt, es für das weitere Zurückstellen der Benachrichtigung der richterlichen Zustimmung bedarf. Dennoch kommt es im- mer wieder vor, dass die Maßnahme längst abgeschlossen ist, dass sie keine Relevanz für das Verfahren hatte und gleichwohl mit der pauschalen Begründung „andauernder Ermittlungen“ eine Benachrichtigung unterbleibt. In Bay- ern war dieses ausweislich der Berichte für die Jahre 1999 und 2000 eine mehrfach geübte Praxis, ohne dass man sich anscheinend der Mühe unterzogen hat, die gebotene richterliche Entscheidung herbeizuführen. Die im Gesetz festgelegte Frist von sechs Monaten beginnt aber nicht erst nach dem Ende der Ermittlungen, sondern bereits nach Beendigung der Maßnahme. Das im Erfahrungsbericht der Bundesregierung doku- mentierte Verhalten verschiedener Landesjustizverwaltun- gen ist eine wesentliche Ursache dafür, dass heute zu den Erfahrungen mit der Wohnraumüberwachung „noch keine definitiven Aussagen und Schlussfolgerungen“ mög- lich sind. Dieses rechtfertigt den Hinweis an einzelne Lan- desregierungen, die seitens des Gremiums nach Art. 13 Abs. 6 GG brieflich an ihre Pflichten erinnert werden muss- ten, dass der Rechtsstaat nur glaubwürdig ist, wenn seine Organe dieselbe Gesetzestreue üben, die sie von den Bür- gerinnen und Bürgern ganz selbstverständlich verlangen. Ronald Pofalla (CDU/CSU): Der Bericht der Bun- desregierung führt uns zwei Dinge vor Augen: erstens, dass die Einführung des „großen Lauschangriffs“ in der letzten Legislaturperiode eine richtige, sicherheitspoli- tisch vorausschauende Maßnahme war, die durch Erfolg bei der Verbrechensbekämpfung gekrönt ist; zweitens, dass durchaus noch Änderungs- und Verbesserungsbedarf besteht, um die Instrumentarien der Bekämpfung insbe- sondere der organisierten Kriminalität noch zu verfeinern. Doch auch Kritik hinsichtlich des Berichts ist, trotz des durchaus guten Ansatzes, angebracht. So bleibt der Be- richt stellenweise schwammig und geht mit nur kurzen Bemerkungen auf die von der Praxis vorgetragenen Ver- besserungsvorschläge ein; dies wohl vor allem deshalb, weil die Änderungsvorschläge der Praxis der Bundesre- gierung politisch nicht in den Kram passen. Hier muss sei- tens der Bundesregierung wieder einmal Rücksicht vor allem auf den kleine Koalitionspartner der Regierungsko- alition genommen werden, und das wieder einmal auf Kosten der inneren Sicherheit! Dabei geht aus dem Bericht der Bundesregierung klar hervor, dass mit dem „großen Lauschangriff“ kein Schind- luder getrieben worden ist. So sind in den dreieinhalb Jah- ren, die das Gesetz nun schon in Kraft ist, nur um die 100 Wohnungen akustischen Wohnraumüberwachungs- maßnahmen unterzogen worden. Im Berichtszeitraum, von 1998 bis 2000, waren es genau 70 Verfahren, in deren Verlauf 78 akustische Wohnraumüberwachungsmaßnah- men angeordnet und vollzogen wurden. Dies zeigt, dass sich die Staatsanwaltschaften der hohen Hürden dieser Maßnahme durchaus bewusst sind. Kritiker des Lauschangriffes benutzen nun aber gerade diese Zahlen, um die Notwendigkeit dieser Maßnahme in Frage zu stellen. Aber das sind gerade die Kritiker, die in der Vergangenheit vor der massenhaften Zunahme von Lauschangriffen gewarnt haben! Und nun beschweren sie sich, dass die zuständigen Justizbehörden maßvoll und ver- nünftig hiermit umgehen. Wieder einmal verkehrte Welt! Die Befürworter des „großen Lauschangriffes“, zu de- nen ich mich auch zähle, sehen jedoch in der geringen An- zahl der Verfahren mit Wohnraumüberwachungsmaßnah- men vor allem eins: eine unnötige Zurückhaltung aufgrund zu hoher Hürden. Für mich ist die verhältnismäßig ge- ringe Anzahl von Lauschangriffen ein Zeichen dafür, dass hier durchaus noch Bedarf besteht, die Möglichkeiten der Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung und Überführung von Schwerstkriminellen auszuweiten. In der Praxis wird vor allem bemängelt – dies geht auch aus dem Bericht hervor –, dass bei akustischen Wohn- raumüberwachungsmaßnahmen eine Zuordnung des ge- sprochenen Wortes zu den einzelnen Gesprächspartnern oft schwerfällt und so ohne Nutzen für die Ermittler ist. Hier kann nur der „große Spähangriff“, also die optische Wohnraumüberwachung, Abhilfe leisten. Auf diese Weise könnte zweifelsfrei das gesprochene Wort dem Täter zu- geordnet werden und so eine Verbesserung des Beweis- wertes erreicht werden. Ein Umdenken in Sachen „innere Sicherheit“ tut Not. Ge- rade im Hinblick auf global organisierte Kriminalität und auf weltweit operierende Tenoristen ist es nötig, den Strafverfol- gungsbehörden in ausreichendem Maße mit geeigneten ge- setzlichen Maßnahmen beizustehen. Eine solche geeignete Maßnahme wäre zweifelsohne die Erleichterung der An- wendung von akustischen Wohnraumüberwachungsmaß- nahmen wie auch die Einführung optischer Wohnraum- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 200222394 (C) (D) (A) (B) überwachungsmaßnahmen. Auch die Verpflichtung Dritter, zum Beispiel der Telekommunikationsanbieter, zur Ermög- lichung von Wohnraumüberwachungsmaßnahmen sollte zumindest geprüft werden. Durch diese Maßnahme würde ebenfalls die Arbeit der Ermittler erheblich erleichtert. Ein weiterer Punkt ist die Frist des § 100 d Abs. 4 StPO, derzufolge eine Wohnraumüberwachung auf nur vier Wo- chen zu befristen ist. Die Frist beginnt mit dem Erlass der richterlichen Anordnung, sodass es in schwierigen Fällen dazu kommen kann, dass alleine die Installation der Ab- höreinrichtungen diesen Zeitraum in Anspruch nimmt. Der Vorschlag aus der Praxis, die Drei-Monats-Frist des „kleinen Lauschangriffes“ außerhalb der Wohnung auch für den „großen Lauschangriff“ zu übernehmen, erscheint daher sachgerecht. Doch trotz des zum Teil offensichtlichen Änderungs- bedarfs traut sich die Bundesregierung nicht an konkrete Gesetzesinitiativen heran. Doch, meine Damen und Her- ren von der Regierungskoalition, Umdenken tut Not! Glo- bal organisierte Schwerstkriminalität und mit Unterstüt- zung fremder Staaten operierende Terroristennetzwerke bedrohen unser aller Sicherheit! Hier ist kein Platz für im- mer dieselbe alte, ideologisch eingefärbte Jammerei vom bösen Überwachungsstaat. Die zuständigen Behörden ha- ben unser Vertrauen. Sie haben es auch verdient, wie der Bericht meines Erachtens ausdrücklich zeigt. Dass in dem Bericht festgestellt wird, eine abschlie- ßende Beurteilung der Wohnraumüberwachung sei noch nicht möglich, halte ich für Augenwischerei. Auch der Hinweis auf das Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, auf dessen Ergebnisse zunächst gewartet werden soll, ist eine klare Verzögerungstaktik. Die Zurückhaltung bei Fragen der inneren Sicherheit, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ehrt Sie nicht! Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht darauf, dass wir alles Nötige und Mögliche tun, um innere Si- cherheit herzustellen. Das Argument der Einengung bür- gerlicher Freiheiten durch den Überwachungsstaat ist überholt. Nur in Sicherheit hat Freiheit überhaupt einen Nutzen. Und die Freiheit wird keineswegs durch über- handnehmende Kompetenzen der Justizbehörden in der Bundesrepublik bedroht, sondern durch die Feinde des Rechtsstaats, mafiöse Verbrecherbanden und internatio- nal operierende Terroristen. Die Bedenken der Regierung kann ich hier beim besten Willen nicht verstehen. Unverständlich ist auch, warum auch die von der Pra- xis geforderte Angleichung der Straftatenkataloge des „großen Lauschangriffes“ und der Telekommunikations- überwachung mit dem Hinweis auf das noch ausstehende Gutachten des Max-Planck-Instituts lapidar abgelehnt wird. Eine Diskussion um eine Angleichung und eine Er- weiterung der hier aufgezählten Delikte ist dringend ge- boten. So sollte zumindest eine Telefonüberwachung nach § 100 a StPO bei Fällen von Kindesmissbrauch und bei dem Verdacht auf Verbreitung von Kinderpornographie möglich sein. Die reine „Beobachtung der Entwicklung“, wie es in dem Bericht nett umschrieben wird, reicht eben nicht aus. Man muss auch bereit sein, die innenpolitischen Konsequenzen zu ziehen. Der Bericht bestätigt nur, was bereits zu vermuten war: Die Bereitschaft, diese Konsequenzen zu ziehen, ist bei der jetzigen Bundesregierung nicht vorhanden. Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber heute als morgen würde ich den „großen Lauschangriff“ aus dem Grundgesetz und der Strafprozessordnung ver- bannen. Heute wie damals bin ich davon überzeugt, dass die damalige Verfassungsänderung ein schwerer Fehler war. Die Änderung des Art. 13 mit der Erlaubnis zum Ver- wanzen des menschlichen Intimbereichs hat der Rechts- kultur schweren Schaden zugefügt. Wir fordern eine umfassende Reform der gesamten Praxis der technischen Überwachung – einschließlich des „großen Lauschangriffes“. Wenn der Staat zu viel schnüf- feln will, muss ihm das Recht hin und wieder ein Nasen- loch zustopfen. Uns ist natürlich klar, dass die nötige Zweidrittelmehr- heit in Bundestag und Bundesrat für eine Instandsetzung der Verfassung durch Wiedereinsetzung des alten Art. 13 des Grundgesetzes in seinen früheren Stand nicht zu be- kommen ist. Wir beharren aber darauf, dass diese Schnüf- felei im engsten persönlichen Nahbereich so weit wie möglich verschwindet. Angesagt ist die bessere richterli- che Kontrolle. Dies gilt übrigens für die gesamte techni- sche Überwachung: Richter müssen nicht nur anordnen. Sie müssen auch den Verlauf der Verfahrens kontrollieren und für seine Rechtmäßigkeit sorgen. Gerade daran fehlt es im deutschen Recht. Hier sind die USAweiter. Was nun den leidigen „großen Lauschangriff“ angeht, so fordern wir erst einmal die Einhaltung der Berichts- pflichten der Länderbehörden. Selbst das genügt aber nicht; die Berichtspflichten müssen auch erheblich ausge- weitet werden. Es kann doch nicht angehen, dass der Staatsanwaltschaft mit dem Gericht noch freundlich plau- dert, den Angeklagten über den Lauschangriff zu infor- mieren oder auch nicht, während der Betroffene und sein Verteidiger keinen blassen Schimmer haben. Noch ein besonderes Ärgernis will ich anfügen: die faktische Mithaftung der Angehörigen, die selbst munter abgehört werden, obwohl gegen sie keinerlei Verdacht existiert. Wir setzen uns auch dafür ein, die Familie vor dem „großen Lauschangriff“ besser zu schützen und die Verfahrensrechte von Betroffenen und Angehörigen zu stärken. Verteidiger dürfen im Prozess mit gleichen Rech- ten kämpfen wie der Staatsanwalt. Das uns alle betreffende Thema Grundrechtsschutz hät- ten wir besser anhand des ersten Erfahrungsberichts der Bundesregierung hier im Parlament ausführlicher diskutie- renmüssen.DieserBerichtundseineAuswertungverdienen eine große Öffentlichkeit. Er zeigt anschaulich, was Exper- ten uns schon bei derÄnderung desArt. 13 desGrundgeset- zes gesagt haben: Der Lauschangriff führt nicht zu mehr Sicherheit.OhneNotwird stattdessen indasGrundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen. DerBundestag hat anlässlich derBeratung zum„großen Lauschangriff“ in der letzten Wahlperiode die Bundesre- gierung aufgefordert, einen Erfahrungsbericht über die Wohnraumüberwachung bis spätestens 13. Januar 2002 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 2002 22395 (C) (D) (A) (B) vorzulegen. Wenn schon das Recht auf die Unverletzlich- keit der Wohnung angetastet wird, dann muss zumindest eine ausreichende parlamentarische Kontrolle erfolgen. Dazu müssen die Länder, aber auch die Bundesregierung beitragen. Der Bericht sollte ein Element dieser Kontrolle sein. Hier müssen aber auch die Länder mitspielen. Allerdings zweifele ich gerade wegen der dürftigen Länderberichte an der Qualität der Kontrolle. Schon als Mitglied des G-13-Gremiums habe ich Schwierigkei- ten, die Kontrolle auszuüben. Bei Vorstellung des ersten Berichtes gemäß Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes rügte der hessische Datenschutzbeauftragte Prof. Dr. Friedrich von Zezschwitz, dass „der Bericht keine effektive parla- mentarische Kontrolle gewährleistet. Wesentliche Infor- mationen, die wertende Aussagen zur Effizienz der Maß- nahmen und zur Intensität der damit verbundenen Grundrechtseingriffe ermöglichen, fehlen“. Die Qualität der Berichte hat sich auch in den folgen- den Jahren zu meinem größten Missfallen nicht wirklich verbessert. Immer noch wird das Parlament nur spärlich mit Informationen gefüttert. Ich habe – da stehe ich nicht allein – immer weniger Lust, mich dieser Informations- diät auszusetzen. Der informative Kahlschlag der Länder bei der Unterrichtung des Bundes ist eine Zumutung. Ich frage mich ernsthaft, ob wir uns das noch länger bieten lassen können. Ich habe jedenfalls große Schwierigkeiten, meinem gesetzlichen Auftrag als Mitglied des Gremiums nach Art. 13 nachzukommen. DasWenige, was uns an Informationen bleibt, bestätigt unsere Einschätzung in der letzten Legislaturperiode. Der „großeLauschangriff“ greift ohneNot inBürgerrechte ein. Das G-13-Gremium hat in den drei Jahren seines Beste- hens jährlich einen Bericht bekommen, in dem in Tabel- lenform aufgelistet ist, wie wieleWohnraumüberwachun- gen nachArt. 13Abs. 6 des Grundgesetzes vorgenommen worden sind.Alle bisher vorgelegten Berichte hatten eines gemeinsam: Die Hälfte der vorgenommenen Lausch- angriffe waren nicht verfahrensrelevant, führten also nicht zur Überführung eines Täters oder zur Aufklärung einer Straftat.Auch der uns jetzt vorliegende Bericht bietet eine traurige Bilanz:Von den insgesamt seit 1998 durchgeführ- ten 70Verfahren führten 41nichtweiter. Sie lieferten keine Beweise, halfen im Verfahren nicht weiter, führten nicht zurÜberführungdesTäters. In 58Prozent derFällewar der Lauschangriff also überflüssig und das bei Kosten pro Lauschangriff von bis zu 25 000 Euro! Ich denke, dass dieses Ergebnis deutlich vor Augen führt, dass derAngriff auf die Privatsphäre der Bürger und Bürgerinnen teuer ist und nicht zu mehr Sicherheit führt. Ein anderes Ergebnis ist so interessant, dass sogar die Union einmal genau hinschauen sollte: Elektronische Wohnraumüberwachung ist in 90 Prozent der Fälle einge- setzt worden bei Tötungsdelikten und Betäubungsmittel- delikten. Der Katalog der Straftaten, die in § 100 c StPO aufgelistet werden, wird in der Praxis erst gar nicht ausge- schöpft. Die Forderungen der Union, den Lauschangriff auch bei anderen Delikten anzuwenden, geht an der Wirk- lichkeit vorbei. Die Union will hier die Bürgerrechte ohne Not preisgeben, Der Union fällt bei der Kriminalitäts- bekämpfung nur eines ein: Bürgerrechte beschränken! Ginge es nach der Union, hätten wir jetzt nicht nur den „großenLauschangriff“, sondern auch den großen Spähan- griff. Überwachung total also! Das kann nicht mit einem vermeintlichen Recht auf Sicherheit begründet werden. Ich möchte abschließend die FDP an ihre früheren libe- ralen Zeiten erinnern. Burkhard Hirsch, der seinerzeit ge- gen seine Fraktion den „großen Lauschangriff“ abgelehnt hat, schrieb: „Die Behauptung eines Grundrechts auf Sicherheit ist der Versuch, sich im Interesse einer ‚schlag- kräftigen‘ Strafverfolgung vom lästigen Rankenwerk rechtsstaatlicher Begrenzung staatlicher Macht zu be- freien. Es ist die Vorstellung, dass die Bewahrung des Kernbereichs der Privatheit eben nur ein privates Interesse sei und dem öffentlichen Interesse an einem ‚wehrhaften‘ Staat nachgeordnet ist. Es ist das Urbild der wohlmeinen- den Obrigkeit, die nicht zu sehr durch individualistische Eigenheiten in ihrer gemeinnützigen Tätigkeit behindert werden dürfe. Mit der Rechtsordnung des Grundgesetzes ist das nicht vereinbar.“ Diesen Worten möchte ich nichts mehr hinzufügen. Jörg van Essen (FDP): Das Grundrecht auf Unver- letzlichkeit der Wohnung ist wichtig. Es darf daher beim Abhören von Wohnungen keinen Freibrief geben. Jedwe- der Eingriff in ein Grundrecht muss so gering wie mög- lich bleiben. Daher haben wir seinerzeit besonderen Wert auf strenge verfahrensmäßige Sicherungen im Grundge- setz gelegt. So ist das Abhören von Wohnungen nur zur Verfolgung schwerster Straftaten zulässig, die Anordnung einer Überwachung nur durch eine mit drei Richtern be- setzte Strafkammer des Landgerichts und nur für be- grenzte Zeit erlaubt. Zu diesen Sicherungs- und Kontrollmaßnahmen zählt auch der Bericht der Bundesregierung. Der Bericht zeigt, dass die Ängste und Befürchtungen von damals, dass nun die Verwanzung der Republik droht, völlig an der Sache vorbei- gehen. Von 1998 bis Ende 2000 wurden in 70 Verfahren in 78 Wohnungen akustische Wohnraumüberwachungen ange- ordnet. Das zeigt, dass von diesem Instrument sehr verant- wortungsvoll und zurückhaltend Gebrauch gemacht wurde. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass dem 3 353 Verfahren von telefonischen Überwachungs- maßnahmen allein im Jahr 2000 gegenüberstehen. Art. 13 Abs. 6 GG ermächtigt das so genannte Art.-13- Gremium des Bundestages zur Ausübung der parlamenta- rischen Kontrolle. Dieser Kontrolle können wir aber nur dann gerecht werden, wenn wir umfassend unterrichtet werden und uns alle notwendigen Zahlen und Daten zur Verfügung gestellt werden. Dies ist leider nicht der Fall, was sich auch unzweifelhaft aus dem Bericht der Bun- desregierung ergibt. Die Datenlage ist völlig unzurei- chend. Die jährlichen Berichte der Länder geben über- wiegend nackte Zahlen und statistische Aussagen wieder. Vereinzelt machen die Bundesländer überhaupt keine An- gaben über die Verfahren. Die Aussagekraft dieser Daten ist sehr begrenzt und lässt eine sorgfältige Kontrolle nicht zu. Jeder einzelne Eingriff in Grundrechte des Bürgers ist erklärungsbedürftig. Wir waren uns daher seinerzeit da- rüber einig, dass eine rechtliche Überprüfbarkeit der Maß- nahmen garantiert werden muss. Ein wichtiger Bestand- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 200222396 (C) (D) (A) (B) teil ist hier die parlamentarische Kontrolle. Es gebietet al- lein der Respekt vor diesem von der Verfassung ausdrück- lich vorgesehenen parlamentarischen Gremium, dass man uns wichtige Informationen nicht vorenthält, sondern ebendiese umfassend zur Verfügung stellt. Wenn wir un- seren verfassungsgemäßen Kontrollauftrag ernst nehmen, dann müssen wir auch kritisch hinterfragen, warum einige Länder eine hohe Anzahl an Verfahren haben und andere Länder einen geringen, einige Länder sehr erfolgreich sind, andere viele Fehlschläge haben. Insbesondere diese ungleiche Gewichtung ist erklärungsbedürftig. Wiederholt hat das Art.-13-Gremium diese Praxis der Länder beanstandet. Ich habe nun die Hoffnung, dass die Ermahnungen an die Länder Wirkung zeigen, und wir in den folgenden Berichten endlich die detaillierten Infor- mationen bekommen, die uns helfen, zu einer umfassen- den Beurteilung der Sachverhalte zu kommen. Kontrolle kann nur dort verantwortlich ausgeübt werden, wo eine objektive Beurteilung möglich ist. Ulla Jelpe (PDS): Der „große Lauschangriff“ auf pri- vate Wohnungen ist ein schwerer Eingriff in Grundrechte. Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung und auf Schutz der Person und ihrer Privatsphäre wird durch dieseMaßnahme außer Kraft gesetzt. Die PDS hat deshalb dieÄnderungdesGrundgesetzes,mit der diese polizeiliche Maßnahme erstmals erlaubt wurde, 1998 strikt abgelehnt. Der vorliegende Erfahrungsbericht der Regierung über die in den letzten drei Jahren von Polizei und Staatsan- waltschaften vorgenommenen Lauschangriffe auf private Wohnungen bestätigt alle unsere Bedenken. Die bei der Debatte über diese Grundgesetzänderung hier großspurig angekündigten Erfolge gegen das organisierte Verbrechen sind ausgeblieben. Bei einer Vielzahl von Delikten findet der Lauschangriff selbst aus polizeilichen Erwägungen offensichtlich überhaupt nicht statt. Das dokumentiert auch der vorliegende Bericht. In den drei Jahren von 1998 bis 2000, so ist dort zu lesen, haben Polizei und Staatsanwaltschaften in gerade einmal 70 Er- mittlungsverfahren insgesamt 78 Wohnungen und Ge- schäftsräume mit den im „großen Lauschangriff“ erlaub- ten Mitteln abgehört. Zum Vergleich: Wegen schwerer Gewaltkriminalität, also Mord, Totschlag, Raubdelikten und gefährlicher und schwerer Körperverletzung, ermit- teln Polizei und Staatsanwaltschaften jährlich in etwa 180 000 Fällen. Verglichen mit dieser schweren Krimina- lität griffen Polizei und Staatsanwaltschaften also jährlich in weniger als 0,2 Promille aller Ermittlungsverfahren zum Mittel des Lauschangriffs. In 41 dieser 70 Verfahren waren die am Ende gewon- nenen Erkenntnisse, ich zitiere aus dem Bericht, für das Verfahren „nicht ... von Bedeutung“. In mehr als der Hälfte dieser Fälle ist der „große Lauschangriff“ als aus krimi- nalpolizeilicher Sicht völlig wertlos geblieben. Ernüchte- rung scheint sich selbst in Polizei- und Justizkreisen breit zu machen. Das hessische Justizministerium berichtet von 16 Wohnraumüberwachungen seit Sommer 1998. Nur in fünf Fällen seien dabei Informationen von Bedeutung ge- wonnen worden. Das sei, so das Ministerium wörtlich, „ein eher ernüchterndes Bild.“ Wegen einer Vielzahl von Straftaten, die im Katalog des 1998 verabschiedeten Kriminalitätsbekämpfungsgesetzes, mit dem der „große Lauschangriff“ eingeführt wurde, aus- drücklich genannt werden, hat in diesen immerhin nun drei Jahren überhaupt kein Lauschangriff stattgefunden. Ich zi- tiere wieder aus dem vorliegenden Bericht: „Wegen fol- gender Katalogstraftaten wurden ... bislang noch keine Überwachungsmaßnahmen angeordnet: Geld- oder Wert- papierfälschung; Fälschung von Zahlungskarten; schwe- rer Menschenhandel; Straftaten gegen die persönliche Frei- heit; gewerbsmäßige Hehlerei, Bandenhehlerei; Straftaten nach dem Waffengesetz, dem Außenwirtschaftsgesetz und dem Kriegswaffenkontrollgesetz; Straftaten des Friedens- verrats, des Hochverrats ...; Straftaten nach dem Ausländer- sowie dem Asylverfahrensgesetz“. Trotzdem sind die Befürworter des Lauschangriffs zu keiner Korrektur bereit. Stattdessen wird auf Zeit gespielt und abgewiegelt. Wörtlich heißt es in dem Bericht; ich zi- tiere erneut: „Angesichts des geringen Anwendungsgra- des der Maßnahme insgesamt erscheinen Rückschlüsse auf die Erforderlichkeit der Aufnahme dieser Straftaten in den Katalog ... jedenfalls verfrüht.“ Mit anderen Worten: Alles soll so bleiben wie bisher. Mehr noch: Die Landes- justizverwaltungen wollen den Lauschangriff offensicht- lich beibehalten, am liebsten sogar ausweiten. Der Lausch- angriff sei wichtig, so der Bericht – ich zitiere –, „ohne dass dies freilich durch Einzelbeispiele hinreichend be- legt werden kann.“ Dabei nennt der Bericht auf der anderen Seite geradezu groteske Einzelheiten über die Praxis des Lauschangriffs. Das Sächsische Staatsministerium des Innern etwa be- richtet von einem Fall, in dem der „große Lauschangriff“ deshalb eingesetzt wurde, weil – ich zitiere wieder – „der Beschuldigte und seine Mittäter im Rahmen ihrer Akti- vitäten in Bordell- und sonstigen Vergnügungsbetrieben zahlreiche, zum Teil enge Beziehungen zu Angehörigen von Strafverfolgungsbehörden geschaffen hatten. Dies hatte wiederholt zu Informationsabflüssen und Vereite- lung von strafprozessualen Maßnahmen gegen den Be- schuldigten geführt.“ Soll der „große Lauschangriff“ etwa dazu dienen, Kor- ruption und Bestechlichkeit innerhalb von Polizei und Jus- tiz entgegenzuwirken? Ich finde das einen unglaublichen Vorgang. Ebenso sorglos scheinen einige Ermittlungsorgane auch mit dem Zeugnisverweigerungsrecht umzugehen. Ich erinnere daran: Bei der Debatte um die Einführung des „großen Lauschangriffs“ hatten Rechtsanwälte, Ärzte und andere Personen, bei denen der vertrauliche Umgang mit Patienten und Klienten gesetzlich geschützt ist, schon da- mals mit Recht erhebliche Bedenken und Kritik geäußert. Nun erfahren wir aus dem vorliegenden Bericht, dass min- destens in zwei Fällen auch gegen Anwälte und/oder Ärzte Lauschangriffe stattgefunden haben. „Über mögliche Kol- lisionen mit den beruflichen Zeugnisverweigerungsrech- ten wurden keine gesonderten Erkenntnisse mitgeteilt.“ Was heißt das? Soll das bedeuten, dass die beteiligten Stel- len solche Kollisionen noch nicht einmal geprüft haben? Trotz dieser erschreckenden Bilanz erörtert der vorlie- gende Bericht am Ende seitenlang Möglichkeiten und Vorschläge zur Ausweitung des Lauschangriffs. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 2002 22397 (C) (D) (A) (B) In meinen Augen müssen ganz andere Konsequenzen gezogen werden. Die Aufhebung dieses Grundrechts ist unbegründet, unnötig und völlig unverhältnismäßig. Der „große Lauschangriff“ gehört abgeschafft, das Grund- recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung muss wieder hergestellt werden. Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: Die Einführung der Möglichkeit zur akustischen Wohnraumüberwachung hat seinerzeit die Gemüter sehr bewegt. Die einen sahen darin einen unver- hältnismäßigen Eingriff in die Intimsphäre der Bürger, gar eine Bedrohung für den Rechtsstaat, die anderen einen un- verzichtbaren Bestandteil der Strategie zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Die damit verbundenen Änderungen des Grundgesetzes wie auch der Strafpro- zessordnung waren daher das Ergebnis einer intensiven rechtspolitischen Auseinandersetzung, an deren Ende ein Kompromiss stand, der für sich in Anspruch nehmen kann, einer breiten Mehrheit gerecht geworden zu sein. Zu diesem Kompromiss gehörte auch der Berichtsauf- trag des Bundestages an die Bundesregierung zu den Wir- kungen der Wohnungsüberwachung. Durch den heute zu beratenden Bericht ist die Bundesregierung diesem Auf- trag nachgekommen. Die Bundesregierung war dabei allerdings vollständig auf die Mithilfe der Bundesländer angewiesen, da die akustische Wohnraumüberwachung bislang ausschließ- lich von den Strafverfolgungsbehörden der Länder ange- wandt wurde. Im Zuständigkeitsbereich des Bundes ist es dagegen zu keiner einzigen berichtspflichtigen Maß- nahme gekommen. Der Bericht enthält deshalb überwiegend eine zusam- menfassende Darstellung der von den Ländern gelieferten Stellungnahmen. Diese Stellungnahmen waren aber teil- weise recht pauschal, sodass auch in der Gesamtschau verallgemeinernde Schlussfolgerungen nicht möglich wa- ren. Dabei will ich darauf hinweisen, dass die mitunter eingeschränkte Aussagekraft auf ein meiner Ansicht nach sehr wesentliches Ergebnis des Berichtes zurückzuführen ist: Seit In-Kraft-Treten des Gesetzes am 9. Mai 1998 wurden in den Berichtsjahren 1998 bis 2000 nämlich le- diglich in 70 Verfahren akustische Wohnraumüber- wachungsmaßnahmen angeordnet und vollzogen. Hinzu kommt, dass diese Überwachungen – auch aus tech- nischen Gründen – in mehr als der Hälfte der Fälle für die Verfahren keine Relevanz hatten. Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass eine fundierte Bewertung der verfassungsrechtlichen, kriminal- und gesellschaftspoliti- schen Auswirkungen noch nicht möglich ist. Gleichwohl enthält der Bericht Aussagen zu nahezu allen Themen, die uns bei der Beratung des Gesetzes so intensiv beschäftigt haben: Tatverdacht und Anlasstat, Subsidiarität, Zeugnisverweigerungsrechte, technische Realisierung, In- tensität des Grundrechtseingriffs, Benachrichtigungs- und Berichtspflicht der Staatsanwaltschaft, Relevanz der Maßnahme für die Ermittlungsverfahren, für die Bekämp- fung der organisierten Kriminalität sowie finanzieller Aufwand und Nutzen. Ich will mich hier auf einige wenige Resultate be- schränken: So hat sich ergeben, dass nahezu 90 Prozent der Wohnraumüberwachungsmaßnahmen wegen des Ver- dachts von Tötungs- und Betäubungsmitteldelikten ange- ordnet wurden. 41 von 70 Maßnahmen blieben für das Verfahren ohne Bedeutung. Hier spricht allerdings bei al- len Vorbehalten, die auf dem geringen Fallmaterial beru- hen, vieles für die Annahme, dass sich die Zahl der nicht relevant gewordenen Maßnahmen teilweise mit techni- schem Fehlschlagen der Überwachung erklären lässt; im- merhin hat sich mehrfach die technische Umsetzung des Abhörens in Wohnungen als nicht unproblematisch er- wiesen. So kam es zu technischen Übertragungsproble- men und zu Schwierigkeiten bei der Auswertung der Auf- zeichnung aufgrund störender Geräusche. Daneben werden in dem Bericht die in den Länder- berichten enthaltenen gesetzgeberischen Änderungsvor- schläge im Bereich dieses Ermittlungsinstrumentariums dargestellt und bewertet. Die erhobenen Forderungen wurden allerdings regelmäßig nicht mit konkreten Er- mittlungsdefiziten oder anderen rechtstatsächlichen Er- kenntnissen untermauert. Schon aus diesem Grunde sehe ich hier keinen akuten Handlungsbedarf. Andere Forde- rungen sind altbekannt und aus sachlichen Gründen abzu- lehnen. Einige Beispiele: Ich sehe derzeit keinen Bedarf für eine Verlängerung der Vier-Wochen-Höchstbefristung für die Anordnung einer Wohnraumüberwachungsmaßnah- me; gibt es doch im Gesetz die Möglichkeit einer Verlän- gerung der Maßnahme. Auch werden Änderungen des Straftatenkatalogs erst erfolgen können, wenn ein ent- sprechendes Bedürfnis tatsächlich nachgewiesen wurde. Weiterhin ist die gelegentlich vorgetragene Forderung nach der Ermöglichung des so genannten „großen Späh- angriffs“, also der Zulassung auch der optischen Wohn- raumüberwachung, zurückzuweisen: Weder ist für eine derartige Ausweitung der strafprozessualen Eingriffs- norm, die eine Änderung des Grundgesetzes erfordern würde, ein konkretes Bedürfnis dargetan, noch wird sie der Bedeutung der Wohnung für den Bürger als dem Ort gerecht, an dem er frei und unbeobachtet sein kann. Als Fazit nach der Auswertung von knapp drei Jahren großer Lauschangriff kann nur festgehalten werden: Ei- nerseits lässt sich die Erfolgseignung der Maßnahme auf- grund des geringen Fallmaterials abschließend noch nicht bewerten. Andererseits hat die Untersuchung aber jeden- falls keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Straf- verfolgungsbehörden von dem Abhören des Wohnraums in überzogenem Maß Gebrauch gemacht hätten. Mängel im Gesetzesvollzug, die durch Gesetzesänderungen kurz- fristig beseitigt werden müssten, waren nicht erkennbar. Die Bundesregierung wird sich aber mit dieser eher mageren Zwischenbilanz nicht zufrieden geben. Insbe- sondere wird sie prüfen, ob und wie zukünftig eine bes- sere Erfolgskontrolle erreicht werden kann, als dies bisher durch die Berichte der Länder gewährleistet wurde. Zwar haben sich die Länder auch aufgrund der Bemühungen des Justizministeriums bereits zu einer in einzelnen Punk- ten präzisierenden Berichterstattung entschlossen. So werden ab dem Berichtszeitraum 2002 Angaben über ei- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 200222398 (C) (D) (A) (B) nen möglichen OK-Bezug der Maßnahme, über die Gründe des Fehlschlagens der Maßnahme sowie über die Art des überwachten Objektes gemacht. Ob diese Be- richte dann aussagekräftiger sind, bleibt aber abzuwarten. Die bestehende jährliche parlamentarische Kontrolle gemäß Art. 13 Abs. 6 GG muss jedenfalls die Beobach- tung der Entwicklung dieser verdeckten Ermittlungsmaß- nahme effektiv ermöglichen, damit Defizite festgestellt und kurzfristig durch gesetzgeberische Korrekturen be- reinigt werden können. Bei einer abschließenden Bewertung werden auch die Ergebnisse aus dem Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Frei- burg zur „Rechtswirklichkeit und Effizienz der Überwa- chung der Telekommunikation nach den §§ 100 a, 100 b StPO und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen“ zu berücksichtigen sein. Denn dieses Gutachten wird sich auch mit der akustischen Wohnraumüberwachung befas- sen, soweit diese im Zusammenhang mit Telekommuni- kationsüberwachungsmaßnahmen durchgeführt wird. Ich denke, meine Ausführungen haben deutlich ge- macht, dass der Erfahrungsbericht der Bundesregierung nicht mehr als eine erste Zwischenbilanz sein kann. Die weitere Entwicklung werden wir sorgfältig beobachten. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – des Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung der steuerlichen Diskriminierung Alleinerzie- hender – des Antrags: Gerechtigkeit im Familienlasten- ausgleich herstellen (Tagesordnungspunkt 19 a und b) Nicolette Kressl (SPD): Wir alle wissen, dass Fami- lien einen wichtigen Teil des Rückgrats unseres Staates ausmachen. Familien stehen deshalb im Mittelpunkt un- serer Politik und im Mittelpunkt unserer Steuerreform. Seit unserem Regierungsantritt im Jahr 1998 haben wir die Aufwendungen für Familien – nur im Bereich des Fa- milienleistungsausgleichs – um rund 8 Milliarden Euro auf 48,2 Milliarden Euro im Jahr erhöht und gleichzeitig Familien entlastet. Eine durchschnittliche Arbeitnehmer- familie hat heute im Vergleich zu 1998 bereits 1 884 Euro im Jahr mehr zur Verfügung. Das verdanken wir zum einen unserer Kindergelderhöhung von insgesamt rund 80 DM im Monat, zum anderen unserer Steuerreform zu- gunsten kleinerer und mittlerer Einkommensgruppen. Aber weil eine glückliche Familie eben nicht nur durch materielle Verbesserungen entsteht, sondern zugleich auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen müs- sen, haben wir auch hier zukunftsweisende Neuerungen geschaffen, die wir ausbauen werden: Elternzeit für Müt- ter und Väter, Gewaltschutz, Unterhaltsvorschuss für Al- leinerziehende, mehr Chancengleichheit für Frauen im Be- ruf, Verbesserungen beim BAföG oder unsere Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit sind nur einige Beispiele für unsere umfassende Familienförderung. Nach jahrzehntelanger Stagnation unter CDU/CSU und FDP haben wir die Familienförderung wieder belebt und dabei an alle Familienformen gedacht. Für uns galt schon immer: Familie ist da, wo Kinder sind. Deshalb ist es für uns auch unerheblich, ob ein Kind nun mit ein oder zwei Elternteilen aufwächst, solange es dabei glücklich ist. Der Vorwurf, dass unsere Familienpolitik Alleinerzie- hende benachteilige, verkennt diese Tatsache und ver- kennt vor allem auch die Regelungen des Einkommen- steuergesetzes. Im PDS-Antrag stehen Aussagen, die offensichtlich von Unkenntnis geprägt sind: Einmal ganz abgesehen da- von, dass es das große Geheimnis der PDS bleiben muss, was Alleinerziehende ohne Kinder sind (offensichtlich wurde im Antrag geschludert), wird eine Unwahrheit zur Besteuerung von Alleinerziehenden mehrfach wiederholt: Sie würden wie Menschen ohne Kinder besteuert. Das Ur- teilsvermögen der Betreffenden ist entweder von er- schreckender Unkenntnis getrübt oder sie stellen entge- gen besserem Wissen unser Steuerrecht falsch dar. Beide Alternativen sind keine Empfehlungen für eine verant- wortungsvolle Familienpolitik. Das Kindergeld von 300 DM (154 Euro) ist die Vo- rauszahlung für viele kindbezogene Steuerfreibeträge und bei einkommensschwachen Familien gleichzeitig zu ei- nem hohen Anteil Förderung. Kindergeld erhält nur, wer Kinder hat. Schon beim Kindergeld wird also deutlich: Kein Mann und keine Frau mit Kindern – egal in welcher Familienform – wird wie ein Alleinstehender ohne Kinder besteuert. In der Wirklichkeit gibt es für viele Alleinerziehende steuerliche Verbesserungen für das Jahr 2002. Lassen Sie mich kurz erläutern, wie diese Besserstellung aussieht, damit es auch die verstehen, die immer noch behaupten, Alleinerziehende würden wie Singles besteuert: Der Haushaltsfreibetrag wird zum Jahr 2005 hin abge- schmolzen. An einschneidenden Änderungen führt seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1998 auch kein Weg vorbei. Aber er wird lang- sam abgeschmolzen, obwohl wir ihn auch mit sofortiger Wirkung hätten streichen können. Aber wir wollen eben Alleinerziehenden einen sanften Übergang in ein neues und verfassungskonformes System zur Familienförde- rung ermöglichen. In diesem neuen System wird keineswegs der Haus- haltsfreibetrag ersatzlos gestrichen: Mit dem zum 1. Ja- nuar in Kraft getretenen Freibetrag für Betreuung, Erzie- hung und Ausbildung (BEA) von 2 160 Euro pro Kind und Jahr haben wir eine Freibetragsregelung, bei der nicht wie beim Haushaltsfreibetrag die Erwachsenen, sondern die Kinder im Mittelpunkt stehen. Denn der BEA knüpft an die Zahl der Kinder an und nicht an die Zahl der Erwach- senen. Während der Haushaltsfreibetrag eben nur einmal pro Haushalt galt, wird der neue Freibetrag pro Kind be- rechnet. Darüber hinaus besteht durch die Möglichkeit, erwerbsbedingte Betreuungskosten geltend zu machen, ein weiterer steuerlicher Vorteil, der auch dafür steht, wie Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 2002 22399 (C) (D) (A) (B) wichtig uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist. Auch dieser gilt pro Kind und nicht pro Haushalt. Für Alleinerziehende ist also bis 2005 die Situation so, dass sie gleichzeitig den BEAund den – wenn auch abge- schmolzenen – Haushaltsfreibetrag in Anspruch nehmen können. Wir haben dies so entschieden, weil wir diesen Eltern Vertrauensschutz geben wollten. Aus verfassungs- rechtlichen Überlegungen heraus haben wir diese Rege- lung nicht für die „neuen“ Alleinerziehenden in das Ge- setz mit eingezogen, weil insoweit verfassungsrechtlich kein Vertrauen zu schützen war. Dies werden wir aber mit einer gesetzlichen Regelung so bald wie möglich ändern, um steuerliche Unterschiede innerhalb der Gruppe der Al- leinerziehenden zu verhindern. Es werden also – auch rückwirkend – alle Alleinerziehenden die Möglichkeit der Abschmelzung des Haushaltsfreibetrags in Anspruch nehmen können. Noch eine Anmerkung zum Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Durch den Armuts- und Reichtumsbe- richt wird deutlich, dass hier der Schlüssel liegt, um Ar- mut von Kindern zu verringern. Wenn Erwerbstätigkeit durch mangelnde Kinderbetreuungsmöglichkeiten er- schwert wird, dann entsteht ein besonders hohes Risiko der Abhängigkeit von Sozialhilfe. Ich will auch nochmals betonen, wie wichtig die Kinder- gelderhöhung um insgesamt 80 DM jeden Monat für jedes erste und zweite Kind ist. Die Kindergelderhöhung bedeu- tet für die Mehrzahl der Alleinerziehenden einen monatli- chen Gewinn. Die größte Gruppe der Alleinerziehenden bil- den nämlich diejenigen, welche die Einkommensgrenze für Freibeträge nicht oder nicht mehr erreichen. Wer angesichts all dieser zusätzlichen steuerlichen Möglichkeiten, die für alle Erziehenden gelten, behauptet, Alleinerziehende würden wie Singles besteuert, täuscht nicht nur sich selbst, sondern leider auch alle Alleinerzie- henden. Singles bekommen nämlich weder Kindergeld; noch können sie die für Kinder und deren Erziehende gel- tenden Freibeträge in Anspruch nehmen. Familienpolitik durch Verunsicherung mag für manche ein Feld sein, das es zu bestellen gilt – aber nicht für uns. Wir bleiben lieber bei einer ehrlichen Familienpolitik und versprechen nicht, was wir finanziell nicht halten können, und wecken nicht Erwartungen, die nicht erfüllbar sind. Inzwischen konnten wir feststellen, dass ja auch einige Damen und Herren auf den Bänken der Opposition von allzu fantastischen Programmen der Familienförderung Abstand genommen haben: Das nach 16-jähriger fami- lienpolitischer Steinzeit plötzlich hervorgezauberte Fami- liengeld ist allzu offensichtlich nicht umsetzbar. Selbst in den Reihen der bisherigen Verfechter hat man wohl be- griffen, dass auch der Steinzeitmensch nicht gleich Wol- kenkratzer erstellt hat, sondern erst mal klein angefangen und Hütten gebaut hat. Offensichtlich trauen sich die be- treffenden Damen und Herren zwischenzeitlich aber nicht einmal mehr das zu; denn seit der Trennung vom Fami- liengeld sind sie ein konkretes Programm zur Familien- politik schuldig geblieben. Wir wollen hingegen auch künftig eine Familienpoli- tik, die gerecht ist und nicht zulasten der Kinder geht. Da- mit scheidet eine Familienförderung, die dann von der nächsten Generation finanziert werden muss, für uns aus. Wir können nicht einfach Milliardenbeträge verteilen, die wir gar nicht haben. Damit würden wir genau den Kin- dern, die dadurch kurzfristig gefördert würden, dann das Abtragen der Schuldenberge überlassen. Familienförderung ist für uns ein Gesamtkonzept, das wir auch nachfolgenden Generationen gegenüber vertre- ten wollen und müssen. Mit Schnellschüssen mag kurz- fristig, insbesondere vor Bundestagswahlen, etwas ge- wonnen werden; langfristig gesehen bleibt meist die Gerechtigkeit auf der Strecke. Unsere Familienpolitik trägt hingegen zu mehr Ge- rechtigkeit bei. Das soll auch so bleiben. Die Bilanz un- serer dreieinhalb Jahre Familienförderung kann sich be- reits durchaus sehen lassen und braucht den Vergleich zu den 16 Jahren davor keinesfalls zu scheuen. Wir lehnen uns aber nicht zufrieden zurück, sondern wollen weitere Verbesserungen für Kinder und Eltern erreichen. Damit wir unsere Familienförderung weiterentwickeln können, sind die bestehenden materiellen und sozialen Vorausset- zungen für Familien ständig zu verbessern. Kinderbetreuung steht dabei ganz oben auf unserer Prio- ritätenliste: Der BEAund vor allem die erwerbsbedingten Betreuungskosten sind ein erster großer Schritt hin zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Berufs- tätige Eltern werden dadurch bereits heute von den Kos- ten für Betreuung entlastet. Diese beiden Standbeine – materielle Sicherheit von Fa- milien und Vereinbarkeit von Familie und Beruf – werden wir in der nächsten Legislaturperiode ausbauen. Wir wollen dies in einem Gesamtkonzept tun, das die einkommensun- abhängige finanzielle Förderung von Familien und weitere Schritte zu einer verbesserten Situation bei der Kinderbe- treuung verbindet. Selbstverständlich werden wir in diesem Gesamtkonzept die besondere Situation der Alleinerzie- henden durch die Abschmelzung des Haushaltsfreibetrags einbeziehen. Aber deshalb widerstehen wir auch der Versu- chung, jetzt durch hektische Einzelmaßnahmen einzelne Verbesserungen vorzusehen, die dann nicht mit unseren zukünftigen Vorhaben verzahnt sind. Wir wollen beides: materielle Sicherheit für Familien und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Für beide Ziele sehen die Menschen in der SPD die kompetente Kraft – und diesem Vertrauen werden wir auch in Zukunft gerecht werden. Elke Wülfing (CDU/CSU): Es ist schade, dass wir heute nur über einen Gesetzentwurf und einen Antrag der PDS-Fraktion zur steuerlichen Diskriminierung Alleiner- ziehender und zu mehr Gerechtigkeit im Familienleis- tungsausgleich beraten. Wirklich interessant wäre es ge- wesen, wenn die Grünen ihre Gesetzesinitiative zur steuerlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuungs- kosten, die sie im Februar im Internet angekündigt haben, auf den Tisch gelegt hätten. Wie immer haben Frau Scheel und Herr Metzger die Öffentlichkeit genutzt und die „FAZ“ am 12. März über ihre geplante Gesetzesinitiative informiert, statt mit Bundesfinanzminister Eichel und der SPD-Fraktion eine realisierbare Regierungsinitiative zu Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 200222400 (C) (D) (A) (B) starten. In Ankündigungen waren sie ja schon immer groß. Am Ende geben Sie leider immer klein bei. Dabei gäbe es dringend Handlungsbedarf. Denn allen Alleinerziehenden, die nach dem 1. Januar 2002 Kinder bekommen haben, wurde der Haushaltsfreibetrag von 2 900 Euro ersatzlos gestrichen, bei allen anderen wird er schrittweise abgeschmolzen. Damit werden Alleinerzie- hende künftig steuerlich behandelt wie Singles. Die Begründung der Bundesregierung und auch der Grünen, sie hätten durch das Verfassungsgerichtsurteil von 1998 unter Handlungszwang gestanden, ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass ab Jahresbeginn 2000 für alle Eltern Kinderbetreuungskosten in Höhe von 4 000 DM für das erste und 2000 DM für jedes weitere Kind steuermindernd zu berücksichtigen sind, wenn die Regierung keine Rege- lung zustande bringt. Dies sollte nicht nur bei außerhäus- licher Betreuung gegen Entgelt, sondern auch bei eigener häuslicher Betreuung gelten. Zum Haushaltsfreibetrag stellt das Bundesverfas- sungsgericht in der Entscheidung klar, dass kindbedingte Mehrkosten, die sich vorrangig als besonderer Erzie- hungsbedarf darstellen, bei allen Eltern, nicht nur bei Al- leinerziehenden, anfallen. Bei Ehepaaren würden diese Mehrkosten nicht durch das Ehegattensplitting aufgefan- gen, weil die Splittingwirkung ja auch allen kinderlosen Ehepaaren zugute komme. Diesen Haushaltsfreibetrag auf alle Eltern auszudehnen war aber der rot-grünen Bun- desregierung zu teuer. Denn nicht 22 Milliarden DM, wie es nach den ersten Regierungsberechnungen hieß, son- dern nur 7 Milliarden DM wurden ausgegeben, von denen 40 Prozent noch durch den gekürzten Ausbildungsfreibe- trag, den wegfallenden Haushaltsfreibetrag und die Strei- chung der steuerlichen Absetzbarkeit von Haushaltshilfen gegenfinanziert wurden. Mit dem wegfallenden Haushaltsfreibetrag hat die Bundesregierung die Alleinerziehenden jetzt endgültig aufs Abstellgleis manövriert. Damit trifft es mal wieder die finanziell Schwächsten in unserer Gesellschaft. Denn der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat erneut bestätigt, dass sich bei alleinerziehenden Frauen die höchste Armutsgrenze mit stark steigender Tendenz abzeichnet. Damit werden Eineltern-Familien jetzt noch mehr in die Sozialhilfe gedrängt. Auch die Ehepaare können mit dieser Regelung nicht zufrieden sein, denn das Verfas- sungsgericht hat ausdrücklich sowohl außerhäusliche Be- treuung wie auch eigene häusliche Betreuung gemeint und gerade nicht die Streichung des Haushaltsfreibetrages für Alleinerziehende. Diese rot-grüne Bundesregierung ist offensichtlich aber nicht in der Lage, Bundesverfassungsgerichtsurteile wirklich zu lesen bzw. richtig zu interpretieren und sie in Gesetzesform umzusetzen. Verheirateten Eltern den ihnen zustehenden Kinderbetreuungsfreibetrag nicht in voller Höhe zu gönnen und Eineltern-Familien im Regen stehen zu lassen ist unsozial und herzlos. Wenn Sie das getan hät- ten, was das Bundesverfassungsgericht von Ihnen ver- langt hat, brauchte die Halbschwester von Gerhard Schröder als Alleinerziehende jetzt nicht erneut vor das Verfassungsgericht zu ziehen. Der Gesetzentwurf der PDS auf Beseitigung der steuer- lichen Diskriminierung Alleinerziehender greift leider auch zu kurz. Er weist zwar auf die Ungleichbehandlung unter Alleinerziehenden hin, wenn deren Kinder vor oder nach dem 31. Dezember 2001 geboren wurden, nicht aber auf die Tatsache, dass das Verfassungsgericht Verheirate- ten die gleiche Förderung zukommen lassen wollte wie Al- leinerziehenden. Der zweite PDS-Antrag, der uns heute vorliegt, kann auf keinen Fall die Zustimmung der CDU- Bundestagsfraktion finden. Er fordert eine Einkommens- besteuerung unabhängig von der Lebensweise bzw. Le- bensform, das heißt Abschaffung des Ehegattensplittings. Da laufen Sie ja nun total am Bundesverfassungsgericht vorbei, das gerade erneut wieder geurteilt hat, das Ehe- gattensplitting sei zu erhalten, unabhängig davon, ob Kin- der da sind oder nicht. Mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird keine politische Initiative in diesem Hause etwas an Art. 6 Abs. 1 verändern, in dem deutlich steht: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben die beson- dere Schutzwürdigkeit ja nicht nur für die Familie mit Kin- dern anerkannt, sondern auch für die Ehe. Das bedeutet, eine Abschaffung des Ehegattensplittings ist auf der Grundlage des Art. 6 Abs. 1 wohl nicht möglich. Ganz da- von abgesehen würden wir als christlich geprägte Partei, in der die Ehe als eine vor Gott geschlossene Gemeinschaft gilt, einer solchen Initiative nie zustimmen. Denn die auf Dauer angelegte Ehe ist noch immer die beste Grundlage dafür, dass Frau und Mann partnerschaftlich füreinander und als Mutter und Vater für ihre Kinder Verantwortung übernehmen und gemeinsam zur Erziehung, Haushalts- führung und zum Lebensunterhalt beitragen. Deshalb ist der besondere Schutz des Staates, unter den das Grundge- setz Ehe und Familie stellt, nach wie vor gut begründet und für die CDU entscheidender Maßstab ihrer Politik. Nun scheinen ja Wahlkampfzeiten die Zeiten zu sein, in denen zum Beispiel die SPD ihrem schlechten Gewis- sen huldigt. Warum sonst hätte Bundesfamilienministerin Bergmann vor wenigen Tagen mit der Vorstellung einer so genannten Familienstrategie zugegeben, dass die eigent- lichen Verbesserungen für die Familien auf die nächste Legislaturperiode vertagt wurden? Gleichzeitig hat die SPD-Bundesvorsitzende Renate Schmidt nun völlig vage und undifferenziert Ankündigungen über ein neues Kin- derfördergeld für berufstätige Eltern gemacht. Ihre Äuße- rungen werfen anscheinend mehr Fragen auf als Antwor- ten. Wer was bekommt, ist unklar, ebenso der Gesamtumfang der Förderung, von der Finanzierung ganz zu schweigen. Nur berufstätige Eltern sollen in den Ge- nuss der Förderung kommen. Deren Kinder sind aber meist nicht in der Sozialhilfe. Daher geht diese Maß- nahme am Ziel vorbei, alle Kinder aus der Sozialhilfe zu holen. Für Eltern, die ganz in der Sozialhilfe sind, gibt es keinen Anreiz, Arbeit aufzunehmen. Demgegenüber ist die Position der Union klar: Alle Kinder müssen dem Staat gleich viel wert sein. Deswegen setzt die Union auf ein Familiengeld, das die Familien Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 2002 22401 (C) (D) (A) (B) spürbar entlastet, Kinder wirklich aus der Sozialhilfe holt und überdies genügend Lohnabstand schafft, damit sich für viele eine Arbeitsaufnahme wieder lohnt. Die Fa- milienpolitik darf aber nicht nur die finanzielle Situation von Sozialhilfeempfängern und Beziehern kleiner Ein- kommen verbessern. Wir wollen Gerechtigkeit für alle Familien und eine wirksame Familienförderung. Diesem Grundsatz folgt das Familiengeld, das 600 Euro in den ersten drei Jahren betragen soll, das ebenfalls für die Kin- der von drei bis 18 Jahren schrittweise auf 300 Euro er- höht werden soll. Diese Beschlüsse des Bundesparteita- ges der CDU werden wir bei Übernahme der Regierung am 22. September, – dafür haben wir gute Aussichten – in die Tat umsetzen. Rot-Grün hat vier Jahre Zeit gehabt, die Lebenssitua- tion von Familien wirklich zu verbessern. Da sie nur Stückwerk abgeliefert hat, ist es den Familien sicher ganz recht, wenn wir ab dem 23. September eine Familienför- derung vorlegen, die den Namen wirklich verdient. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich glaube auch, dass man Familien noch besser entlasten kann und muss, aber trotzdem rate ich dazu, auf dem Tep- pich zu bleiben: Alleinerziehende mit einem Kind werden bei 25 000 Euro Jahreseinkommen in diesem Jahr um rund 1 200 Euro im Vergleich zu 1998 entlastet, nicht be- lastet. lm Jahr 2005 sind es immerhin noch rund 900 Euro steuerliche Entlastung. Diese Verminderung in der steuer- lichen Entlastung ist auf den stufenweisen Abbau des Haushaltsfreibetrages zurückzuführen. Hier liegt das Pro- blem! Der Haushaltsfreibetrag wurde durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1998 für verfassungswidrig erklärt. Die rot-grüne Koalition konnte das nicht ignorie- ren. Wir haben in zwei Reformschritten den Familienlas- tenausgleich vor dem Hintergrund der Vorgaben durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil rechtzeitig neu geregelt. Die Leistungen für Familien wurden dabei erheblich gesteigert. Allein bei den Steuern von 30,5 Milliarden Euro 1998 auf rund 41 Milliarden Euro im Jahr 2002. Und dabei sind die Anhebung des Grundfreibetrages und die Absenkung des Einkommensteuertarifes noch gar nicht berücksichtigt. Die Ausgaben für alle familienpolitischen Maßnahmen zusammen stiegen um mehr als ein Drittel: von 40 Milliarden Euro 1998 auf 53,2 Milliarden Euro im Jahr 2002. Diese Zahlen belegen ganz eindeutig: Rot- Grün hat in der Familienpolitik einen politischen Schwer- punkt erfolgreich verwirklicht! Ich will hier nur einige Stichworte aufzählen, die umge- setzt sind: Kindergeld erhöht, Erhöhung des sachlichen Existenzminimums, Betreuungsfreibetrag und Erziehungs- bedarf eingeführt, Erziehungsgeldreform und BAföG-Re- form realisiert. Eine Familie mit Durchschnittseinkommen von rund 30000 Euro im Jahr und zwei Kindern wird in die- sem Jahr um bereits mehr als 2000 Euro gegenüber 1998, im Jahr 2005, nach der dritten Stufe der Einkommensteuer- reform, sogar um mehr als 2600 Euro im Jahr entlastet. So viel zu den Erfolgen, zurück zum Problem: Der Haushaltsfreibetrag für unverheiratete Eltern ist mit Art. 6 Grundgesetz nicht vereinbar, weil er der ehelichen Erzie- hungsgemeinschaft vorenthalten, unverheirateten Eltern dagegen auch dann gewährt wird, wenn sie eine Erzie- hungsgemeinschaft bilden und beide steuerpflichtig sind. Der Haushaltsfreibetrag hat den Mehrbedarf für Betreu- ung und Erziehung von Kindern nur für Alleinstehende abgebildet, nicht jedoch für alle Kinder verheirateter El- tern. Deshalb musste er mit dem 2. Familienförderungs- gesetz in drei Stufen bis 2005 abgebaut werden. Diese Stufenregelung wollen wir im Sinne der Gleichbehand- lung auf alle alleinerziehenden Eltern anwenden, also auch für nach dem 31. Dezember 2001 geborene Kinder oder ab dem Jahr 2000 verwitwete und 2001 geschiedene Eltern. Die Steuerklasse II bleibt bis 2005 erhalten. Darüber hinaus vertritt Bündnis 90/Die Grünen die Forderung nach der Absetzbarkeit erwerbsbedingter Kin- derbetreuungskosten ab dem ersten Euro. Wir wollen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken. Hierzu gehört, dass es qualifizierten Frauen leichter ermöglicht wird, berufliche Anforderungen und familiäre Pflichten vereinbar zu gestalten. Es freut mich, das Renate Schmidt als stellvertretende Vorsitzende der SPD unsere Forde- rung teilt. Deshalb ist es völlig unverständlich, dass die SPD-Fraktion – übrigens im Gegensatz auch zur Meinung des Bundeskanzlers Schröder – unserer Forderung, den fi- nanziellen Nachteilen aus dem Abbau des Haushaltsfrei- betrages strukturell offensiv entgegenzuwirken und sie zu kompensieren, nicht nachkommt. Wir wissen, dass die fi- nanziellen Nachteile für die Gruppe der Alleinerziehenden ab dem Jahr 2003 und erst recht ab 2005 erheblich zuneh- men. Aus diesem Grunde ist die Haltung von Schröders Schwester mehr als nachvollziehbar. Es bleibt ein Rätsel, wieso bei der SPD bislang keine Meinungsänderung ein- getreten ist. Wir wollen weiterhin die Absetzbarkeit der erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten für alle Eltern ab dem ersten Euro. Umfassende und gute Betreuungsangebote für Kinder sind die familienpolitische Aufgabe der nächsten Legisla- turperiode. Wir wollen über unsere aktuelle Forderung hi- naus bundesweit die Kinderbetreuungsangebote ausbauen. Mit Kinderbetreuungsgutscheinen können Eltern dann nach ihren eigenen Vorstellungen entscheiden, welche Angebote sie in Anspruch nehmen wollen. All dies verbessert die Chancen von Müttern und Vä- tern, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen. Gerade im unteren Einkommensbereich muss aber mehr geschehen. Hier hilft unser Kindergrundsicherungskon- zept Familien aus der Sozialhilfe und über die Beschäfti- gungsschwelle. Ein schlüssiges familienpolitisches Kon- zept hierzu werden wir im Wahlprogramm verankern. Aktuell geht es aber erst einmal darum, den Grundsatz der Gleichbehandlung auch im Detail zu realisieren. Ina Lenke (FDP): Die FDP lehnt den Antrag der PDS ab, weil er auf Annahmen beruht, die von uns in keiner Weise geteilt werden. Erstens. Wie selbstverständlich geht die PDS davon aus, dass die Höhe der steuerlichen Lasten, die sie anders verteilen will, sakrosankt, also gottgegeben und damit un- veränderbar ist. Damit ist die FDP in keinster Weise ein- verstanden. Wir sind der Auffassung, dass unsere Steuerbe- lastung, und zwar nicht nur die der Familien, entschieden Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 200222402 (C) (D) (A) (B) zu hoch ist. Bevor wir über Steuertarife oder Umvertei- lung reden, müssen wir die Steuern senken. Dazu ist die PDS in ihrer Staatsgläubigkeit natürlich nicht bereit. Zweitens. Wie selbstverständlich, aber nicht anders zu erwarten, geht die PDS davon aus, dass sämtliche Kinderkosten von der Allgemeinheit zu tragen sind. – Auch hier vertritt die FDP eine andere Auffassung. Ehe und Familie stehen natürlich unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, genießen Verfassungs- rang. Das kann aber doch nicht heißen, dass die Erzie- hung und das Heranwachsen von Kindern verstaatlicht werden kann. In beiden Punkten unterscheidet sich die FDP grund- legend von der PDS. Für uns kommt die Eigenverantwor- tung des Menschen vor der staatlichen Fürsorge. Auf dieser Grundlage können wir beginnen, über die Förderung von Ehe und Familie zu diskutieren. Natürlich ist das Ehegattensplitting Diskussionsgegenstand in allen politischen Lagern. Wie Sie zu Recht in Ihrem Antrag be- merken, hat Karlsruhe festgestellt, dass es sich dabei nicht um eine Form der Kinderförderung handelt. Sie können nicht leugnen, dass das Grundgesetz Ehe und Fa- milie schützt und insofern die Ehe nicht lapidar als ir- gendeine Form des Zusammenlebens einordnen. Das er- laubt unser Grundgesetz nicht. Natürlich kann man über die Form diskutieren, in der die Ehe steuerlich berück- sichtigt werden muss. Ignorieren können wir die Ehe steuerlich aber nicht. Unabhängig von der Frage des Splittings vergleichen Sie Ehegatten und Alleinerziehende. Hier genau liegt der Bruch. Die Förderung von Kindern hat mit der Ehe zunächst nichts zu tun. So ist die jüngste Entscheidung aus Karlsruhe zu verstehen. Kinder sind gleich zu behan- deln, egal ob sie von einem Elternteil oder von beiden oder von den Großeltern oder von Verwandten betreut werden. Das sollten Sie akzeptieren. Die FDP hat die Schlechterstellungen für Alleinerzie- hende, hier teile ich Ihre Auffassung, die die rot-grüne Koalition beschlossen hat, heftig kritisiert. Gleichbehand- lung lässt sich auch erreichen, indem dem Schlechterge- stellten mehr gegeben wird. Die Koalition hat dem Bes- sergestellten – hier dem Kind des Alleinerziehenden – etwas genommen. Das müssen und werden wir korri- gieren. Anlage 5 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 773. Sitzung am 1. März 2002 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- stimmen, bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 Grundgesetz nicht zu stellen: – Forstvermehrungsgutgesetz (FoVG) – Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsge- setzes – Gesetz zur Neuordnung der Statistik im Produzie- renden Gewerbe und zur Änderung des Gesetzes über Kostenstrukturstatistik – Gesetz zur Änderung des Melderechtsrahmen- gesetzes und anderer Gesetze – Gesetz zur Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern – Gesetz zur Änderung von Vorschriften über die Be- wertung der Kapitalanlagen von Versicherungsunter- nehmen und zur Aufhebung des Diskontsatz- Überleitungs-Gesetzes (Versicherungskapitalanla- gen-Bewertungsgesetz – VersKapAG) – Gesetz zur weiteren Verbesserung von Kinderrechten (Kinderrechteverbesserungsgesetz – KindRVerbG) – Gesetz für die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung (Kraft-Wärme- Kopplungsgesetz) – Gesetz über den Schutz von zugangskontrollierten Diensten und von Zugangskontrolldiensten (Zugangs- kontrolldiensteschutz-Gesetz – ZKDSG) – Gesetz zur Umsetzung von Abkommen über Soziale Sicherheit und zur Änderung verschiedener Zu- stimmungsgesetze – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 18. Dezember 1997 über gegenseitige Amtshilfe und Zusammen- arbeit der Zollverwaltungen – Gesetz zu dem Abkommen vom 24. August 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppel- besteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- kommen und vom Vermögen – Gesetz zu der am 3. Dezember 1999 in Peking be- schlossenen Änderung des Montrealer Protokolls vom 16. September 1987 über Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen, und zu weiteren Anpassungen des Protokolls – Gesetz zu dem Abkommen vom 15. Juni 2000 zwi- schen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- land und der Regierung der Republik Singapur über die Seeschifffahrt – Gesetz zu dem Protokoll vom 17. November 1999 zur Ergänzung des Abkommens vom 9. September 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malta über den Luftverkehr und zu dem Pro- tokoll vom 27. Mai 1999 zwischen der Bundesrepu- blik Deutschland und der Regierung des Staates Katar zum Abkommen vom 9. November 1996 über den Luftverkehr – Gesetz zu dem Abkommen vom 30. Juni 2000 zwi- schen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- land und der Regierung der Volksrepublik China über die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft, Industrie und Technik Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 2002 22403 (C) (D) (A) (B) – Gesetz zu den Änderungen vom 20. Mai 1999 des Übereinkommens zur Gründung der Europä- ischen Fernmeldesatellitenorganisation „EUTELSAT“ (EUTELSAT-Übereinkommen) – Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fall- pauschalensystems für Krankenhäuser (Fallpauscha- lengesetz – FPG) – Viertes Gesetz zur Änderung des Bundeszentral- registergesetzes – 4. BZRGÄndG – – Gesetz zur Änderung des Seemannsgesetzes und anderer Gesetze Der Bundesrat bittet die Bundesregierung klarzustel- len, dass § 139 Absatz 3 Satz 1 Seemannsgesetz auch für das Deck- und Maschinenpersonal von Lotsenversetz- fahrzeugen gilt. Die in Artikel 1 des Gesetzes vorgesehene Änderung des Seemannsgesetzes hat erhebliche Auswirkungen auf den Betrieb von Lotsenversetzfahrzeugen. Die Einführung einer Höchstarbeitszeit von 14 Stun- den täglich und 72 Stunden wöchentlich würde bedeuten, dass die Besatzung auf den Seestationen nicht mehr in zweiwöchigen Rhythmus abgelöst werden könnte, son- dern im 5-Tage-Rhythmus gewechselt werden müsste. Diese Umstrukturierung würde erhebliche Mehrkosten nach sich ziehen. Im Gesetz vorgesehene Ausnahme- regelungen von den Höchstarbeitszeiten für Bergungs- fahrzeuge, See- und Bergungsschlepper sollten daher aufgrund des gesonderen Arbeitseinsatzes auch für Lot- senversetzfahrzeuge gelten. Die ausdrückliche Einbeziehung des Deck- und Ma- schinenpersonals von Lotsenversetzfahrzeugen ist an- scheinend aufgrund eines Versehens unterblieben, da die Bundeslotsenkammer im Verfahren nicht gehört wor- den ist. Der Abgeordnete Gunter Weißgerber hat seine Unter- schrift zu dem Antrag Dokumentation der freigelegten russischen Graffiti-Inschriften im Reichstagsgebäude in historisch gerechtfertigtem Umfang auf Drucksache 14/6761 zurückgezogen. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nachstehenden Vorlage absieht: Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 2001 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapital 14 03 Titelgrup- pe 08 – Maßnahmen der Bundeswehr im Zusammenhang mit internationalen – humanitären und sonstigen – Ein- sätzen – – Drucksachen 14/7926, 14/8086 Nr. 1.11 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 2001 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 02 Titel 682 01 – Erstattung von Fahrgeldausfällen – – Drucksachen 14/7939, 14/8086 Nr. 1.12 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 2001 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 02 Titel 636 55 – Zuschüsse an die Träger der Krankenversicherung der Landwirte – – Drucksachen 14/7940, 14/8086 Nr. 1.13 – – Unterrichtung durch die Präsidentin des Bundesrechnungs- hofes als Vorsitzende des Bundesschuldenausschusses Bericht des Bundesschuldenausschusses über seine Tätigkeit sowie die Verwaltung der Bundesschuld im Jahre 2000 – Drucksachen 14/7952, 14/8086 Nr. 1.9 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 2002 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 682 09 – Außerordentliche Maßnahmen zur Stützung des Rind- fleischmarktes – Ankaufaktion 2002 – – Drucksachen 14/7989, 14/8086 Nr. 1.14 – Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen – Unterrichtung durch die Bundesregierung Effizienz des neuen güterkraftverkehrsrechtlichen Ord- nungsrahmens – Drucksachen 14/6906, 14/7541 Nr. 1.1 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- tung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 14/7708 Nr. 2.8 Drucksache 14/7708 Nr. 2.24 Sportausschuss Drucksache 14/7883 Nr. 2.16 Finanzausschuss Drucksache 14/7883 Nr. 2.13 Drucksache 14/7883 Nr. 2.18 Drucksache 14/7883 Nr. 2.19 Drucksache 14/7883 Nr. 2.23 Drucksache 14/8081 Nr. 2.8 Haushaltsausschuss Drucksache 14/8081 Nr. 2.2 Drucksache 14/8081 Nr. 2.4 Ausschuss fürWirtschaft und Technologie Drucksache 14/8081 Nr. 2.7 Drucksache 14/8081 Nr. 2.10 Drucksache 14/8081 Nr. 2.11 Drucksache 14/8081 Nr. 2.12 Drucksache 14/8081 Nr. 2.17 Drucksache 14/8179 Nr. 2.19 Ausschuss für Verbraucherschutz Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 14/7129 Nr. 2.10 Drucksache 14/8081 Nr. 2.3 Drucksache 14/8179 Nr. 2.29 Drucksache 14/8179 Nr. 2.50 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 200222404 (C) (D) (A) (B) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 14/7197 Nr. 2.1 Drucksache 14/7197 Nr. 2.5 Drucksache 14/7129 Nr. 2.9 Drucksache 14/7129 Nr. 2.23 Drucksache 14/7409 Nr. 1.3 Drucksache 14/7522 Nr. 2.15 Drucksache 14/7833 Nr. 2.29 Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Drucksache 14/7000 Nr. 1.25 Drucksache 14/7000 Nr. 1.27 Drucksache 14/7000 Nr. 1.28 Drucksache 14/7000 Nr. 2.23 Drucksache 14/7708 Nr. 1.16 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 14/8081 Nr. 1.1 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 14/7708 Nr. 2.14 Drucksache 14/7833 Nr. 2.7 Drucksache 14/8179 Nr. 2.30 Ausschuss für Tourismus Drucksache 14/7883 Nr. 2.1 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 14/7129 Nr. 2.24 Drucksache 14/7409 Nr. 2.9 Drucksache 14/7409 Nr. 2.40 Drucksache 14/7708 Nr. 2.9 Drucksache 14/8179 Nr. 1.12 Drucksache 14/8179 Nr. 2.56 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 225. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. März 2002 22405 (C)(A) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422500000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 g sowie
den Zusatzpunkt 12 auf:
13. a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie-

rung
Internationale Verantwortung: Entwicklung
stärken

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Elfter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bun-
desregierung
– Drucksache 14/6496 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus

c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Dritter Bericht über die Armutsbekämpfung
in der Dritten Welt durch Hilfe zur Selbst-
hilfe
– Drucksache 14/6269 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Adelheid
Tröscher, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-
Loßack, Hans-Christian Ströbele, Christine Scheel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN

Entwicklungsfinanzierung international stär-
ken – VN-Konferenz „Financing for Develop-
ment“
– Drucksache 14/8487 –

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Weiß (Emmendingen), Klaus-Jürgen Hedrich,
Dr. Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Reformpolitik und Stabilität in den Transfor-
mationsstaaten weiter fördern – gegen den
Kahlschlag bei der Entwicklungszusammen-
arbeit
– Drucksache 14/8109 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

f) Erste Beratung des von der Fraktion der PDS ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung
der öffentlichen Entwicklungshilfe des Bundes

(Entwicklungshilfesicherungsgesetz – EHSG)

– Drucksache 14/8338 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, Ina Albowitz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Politische Stabilisierung der zentralasiatischen
Krisenregion
– Drucksache 14/8057 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

22325


(C)



(D)



(A)



(B)


225. Sitzung

Berlin, Freitag, den 15. März 2002

Beginn: 9.00 Uhr

ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-
Jürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm, Siegfried
Helias, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Mit der Internationalen Konferenz über Ent-
wicklungsfinanzierung den Abwärtstrend der
Finanzmittel für nachhaltige Entwicklung um-
kehren
– Drucksache 14/8482 –

Zum Bericht der Bundesregierung zur Entwicklungs-
politik liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor.

Es ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Be-
ratung des Antrags der Fraktion der FDP mit dem Titel
„Informationstechnologie in den Mittelpunkt der Ent-
wicklungszusammenarbeit stellen“ zu erweitern und jetzt
gleich als Zusatzpunkt 18 zu beraten. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe daher auch den Zusatzpunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, Joachim Günther

(Plauen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

der FDP
Informationstechnologie in den Mittelpunkt der
Entwicklungszusammenarbeit stellen
– Drucksache 14/5578 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für

(von Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt)

Kolleginnen und Kollegen! Knapp zwei Jahre nach der
ersten Regierungserklärung zur Entwicklungspolitik de-
battieren wir heute, zu Beginn des Jahres 2002, über un-
sere gemeinsame Zukunft zwischen Industrie- und Ent-
wicklungsländern. Dass es nur eine gemeinsame Zukunft
auf diesem Planeten gibt, haben die Ereignisse der ver-
gangenen Monate unter Beweis gestellt.

Diese Debatte muss daher – ein halbes Jahr nach den
terroristischen Gewalttaten des 11. September – auch eine
Debatte über längerfristige und zivile Friedenssicherung
sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Überdies hat jeder und jede die Notwendigkeit der
Bekämpfung der globalen Armut ebenso wie die Not-
wendigkeit der gerechten Gestaltung der Globalisierung
erkannt. Das sind die drei Leitlinien unserer Entwick-
lungszusammenarbeit: Armut bekämpfen, Globalisierung
gestalten, Frieden sichern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Präsident, an dieser Stelle möchte ich im Namen
aller Anwesenden Herrn Ministerpräsidenten Karsai,
den afghanischen Regierungschef, herzlich begrüßen.


(Beifall)

Wir wünschen Ihnen von ganzem Herzen, dass Ihr Weg
für Ihr Land Erfolg haben möge, dass die Menschen Ihres
Landes spüren: Frieden lohnt sich. Bisher, in den langen
Jahren des Krieges und des Bürgerkrieges, haben die
Menschen nur erfahren, dass sich – angeblich – Gewalt
lohnt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In den Diskussionen nach den widerwärtigen Gräuel-
taten des 11. September haben wir immer wieder betont,
dass unsere Welt an einem Scheideweg steht. Es gibt zwei
mögliche Zukunftsentwicklungen:

Entweder eine neue Weltunordnung der Gewalt und
des Terrors und des Elends setzt sich durch, mit verhäng-
nisvollen Auswirkungen auf uns alle, oder wir schaffen
Schritte in Richtung auf eine neue, gerechtere Weltord-
nung. Dieses Jahr bietet die große Chance, Weichen in
Richtung auf eine gerechtere Weltordnung zu stellen, zum
Beispiel bei der anstehenden Konferenz in Monterrey
über die Finanzierung der entwicklungspolitischen Ziele,
die sich die internationale Gemeinschaft bis zum Jahr
2015 gegeben hat, und bei der Konferenz im August/Sep-
tember 2002 in Johannesburg.

Ich freue mich – liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
hoffe, Sie freuen sich alle mit mir –, dass die Europäische
Union mit der gemeinsamen Festlegung eines Zeitplanes
zur Erreichung des Ziels, 0,7 Prozent des Bruttosozial-
produktes für Entwicklungszusammenarbeit aufzuwen-
den, ein deutliches und klares Signal an die Entwick-
lungsländer gesandt hat: Wir haben verstanden. Ich danke
Bundeskanzler Schröder und Finanzminister Eichel, dass
sie dieses gemeinsame Vorgehen der Europäischen Union
möglich gemacht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir alle wissen, dass das militärische Vorgehen gegen
das al-Qaida-Netzwerk in Afghanistan notwendig war
und wie notwendig militärische Aktionen im Einzelfall
sein können, um privatisierter, entstaatlichter Gewalt ent-
schlossen entgegenzutreten. Aber um der Zukunftsfähig-
keit unserer Welt willen wäre es ein verhängnisvoller Irr-
glaube, zu meinen, die Flächenbrände der Gewalt im
Nahen Osten oder in anderen Regionen der Welt könnten
militärisch gelöscht werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)





Präsident Wolfgang Thierse
22326


(C)



(D)



(A)



(B)


Gerade die Erfahrungen, die die Europäer mit dem
Prinzip „Wandel durch Zusammenarbeit“ gemacht haben,
geben ein klares Votum für politische Lösungen ab. Wir
wollen und brauchen keine weltweite neue Aufrüstungs-
runde, die angesichts der knappen Finanzressourcen nur
zulasten der langfristigen Terrorbekämpfung und Terror-
prävention gehen würde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die internationale Gemeinschaft muss besonders am
Ziel der atomaren Abrüstung deutlich und klar festhalten.
Wenn Entwicklungsländer den Eindruck gewinnen müss-
ten, dass die über Atomwaffen verfügenden Länder nicht
mehr an den Zusagen des Atomwaffensperrvertrages
festhielten, dann würden diese Entwicklungsländer mög-
licherweise selbst den Weg der atomaren Aufrüstung su-
chen. Ich fürchte, die Atomwaffentests in Indien und
Pakistan Ende der 90er-Jahre wären dann möglicherweise
erst der Anfang einer nuklearen Bewaffnung von Ent-
wicklungsländern gewesen. Das wäre eine verhängnis-
volle Entwicklung für uns alle, die wir mit allen Mitteln
verhindern müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Über die Fragen der gerechten Gestaltung der Globali-
sierung müssen wir international, auch über kulturelle
Grenzen hinweg, mehr ins Gespräch kommen. Der inter-
kulturelle Dialog ist auch notwendig, um die Sprach-
losigkeit zwischen den Kulturen zu überwinden und um
zu gegenseitigem Verstehen und zu Verständigung zu
kommen.


(Detlev von Larcher [SPD]: Sehr wahr!)

Wir als Ministerium haben Anfang März dieses Jahres

einen solchen interkulturellen Dialog geführt. Dabei ist
– gerade in der Rede der iranischen Vizepräsidentin Frau
Ebtekar – deutlich geworden: Es gibt einen erheblichen
Modernisierungs- und Reformprozess in islamischen
Ländern und Gesellschaften, auch in Bezug auf die Situa-
tion der Frauen, gerade auch im Iran. Wir wollen diesen
Modernisierungs- und Reformprozess so umfassend wie
möglich fördern, statt durch pauschale Verurteilungen is-
lamistischen Kräften in die Hände zu spielen und auf
diese Weise den Öffnungsprozess zu behindern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In diesem interkulturellen Dialog gilt aber auch – da
müssen wir absolut klar sein –: In der Frage der Men-
schenrechte und der Rechte der Frauen gibt es einen welt-
weiten Konsens, der sich in den Menschenrechtskon-
ventionen und in der UN-Charta ausdrückt. Hier kann es
keinerlei Relativierung mit Verweis auf angebliche kultu-
relle Traditionen geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Die Menschenrechtspakte sind ebenso wie die UN-Charta
Teil einer sichmittlerweile formendenVerfassungderWelt.
Aber nirgendwo steht geschrieben, dass die gesellschafts-
und wirtschaftspolitische Entwicklung der Welt nach dem
Muster neoliberaler Globalisierung erfolgen müsse.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Wir haben in unserem Elften Bericht zur Entwick-
lungspolitik, der Ihnen vorliegt, deutlich gemacht, wie wir
dieses neue Denken in stärkerer Krisenprävention, in der
Kooperation mit möglichst vielen Akteuren und in der
Nutzung der internationalen Finanzinstitutionen veran-
kert haben. Wir arbeiten eng mit Kirchen und Nichtregie-
rungsorganisationen sowie Unternehmen zusammen.
Mittlerweile nutzen wir die unternehmerische Initiative
von 500 Unternehmen in über 60 Ländern bei Vorhaben,
die die Entwicklung gerade von ärmeren Ländern för-
dern. Dieses ist eine wichtige Orientierung und Wei-
chenstellung. Wir stärken außerdem den Frauen in den
Entwicklungsländern den Rücken, denn sie sind die wich-
tigsten Zukunftsträgerinnen der Entwicklung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Entwicklungspolitik der rot-grünen Bundesregie-
rung in den letzten dreieinhalb Jahren hat in vielen Berei-
chen wichtige Impulse gegeben und Erfolge erzielt unter
den Leitthemen „Armut bekämpfen“, „Globalisierung ge-
stalten“, „Frieden sichern“. Folgende Beispiele möchte
ich nennen:

Bei den ärmsten Entwicklungsländern konnte eine Ent-
schuldung im Umfang von 70 Milliarden US-Dollar
durchgesetzt werden. Das Programm „Globale Armuts-
bekämpfung 2015“ sagt unter anderem dem EU-Agrar-
protektionismus den Kampf an, fordert eine gerechtere
Beteiligung der Entwicklungsländer an den Regeln des
Welthandels und an der Globalisierung ein und fordert
hierzu auch praktische Vorschläge.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Christa Luft [PDS])


Deutschland finanziert den Kampf gegen den Killer Num-
mer eins in den Entwicklungsländern, nämlich Aids, und
trägt zur Finanzierung des globalen Gesundheitsfonds
bei. Deutschland hat das neue Abkommen der EU mit
77 afrikanischen, karibischen und pazifischen Entwick-
lungsländern ausgehandelt und ratifiziert; dieses stellt
finanzielle Unterstützung im Umfang von rund 13,8 Mil-
liarden Euro für die Jahre 2000 bis 2005 bereit.

Wir haben durch massiven Druck erreicht, dass die
ärmsten Entwicklungsländer freien Zugang zum Markt
der Europäischen Union haben. Würden sich alle Indus-
trieländer an dieser Initiative der EU beteiligen, so könn-
ten die ärmsten Entwicklungsländer zusätzliche Einnah-
men von 3 Milliarden US-Dollar erzielen. Sie sollten also
diesem Beispiel folgen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

22327


(C)



(D)



(A)



(B)


Im Rahmen der Entwicklungspartnerschaft mit der
Wirtschaft sorgen wir dafür, dass die Unternehmen bei ih-
rer Tätigkeit soziale und ökologische Standards für ihre
Tätigkeit freiwillig einhalten.Allein ausDeutschlandhaben
übrigens zehnUnternehmen den „global compact“ desUN-
Generalsekretärs Kofi Annan unterschrieben. Ich werbe
dafür, dass sich mehr deutsche Unternehmen dieser bei-
spielhaften Initiative anschließen. Damit können die Unter-
nehmen zeigen, dass sie ihrerVerantwortung auch inBezug
auf die Entwicklungszusammenarbeit gerecht werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir unterstützen zusammen mit den G-7-Ländern ak-
tiv die afrikanischen Länder, die sich, wie sie es nennen,
in der neuen Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas
zusammenschließen. Sie setzen sich dabei selbstkritisch
zuallererst mit ihren eigenen Versäumnissen in den eige-
nen Ländern auseinander. Der Bundeskanzler hat durch
die Bestellung der Parlamentarischen Staatssekretärin im
BMZ, Frau Dr. Eid, zu seiner persönlichen Beauftragten
für dieses G-7- bzw. G-8-Programm deutlich gemacht,
dass wir diese Initiativen unterstützen.


(Zuruf von der FDP: Wo ist sie eigentlich?)

Der Umgang mit der schweren innenpolitischen, wirt-

schaftlichen und humanitären Krise in Simbabwe ist auch
ein Prüfstein für die Entschlossenheit dieser neuen afri-
kanischen Initiative. „Die Wahlen in Simbabwe waren
weder frei noch fair, sondern geprägt von Gewalt und Ein-
schüchterung“, wie es eine parlamentarische Beobachter-
delegation der Staaten des Südlichen Afrikas ausdrückte.
Die Bundesregierung wird ihre Position beibehalten: Wir
unterstützen die Arbeit von Nichtregierungsorganisati-
onen in Simbabwe, werden aber mit der Regierung
Mugabe im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit
in keiner Form zusammenarbeiten


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der PDS)


und werden die EU auffordern, weiteren Druck auszu-
üben und die Sanktionen aufrechtzuerhalten.

In Afghanistan ist deutlich geworden, dass der deut-
sche Beitrag zu einer friedlichen Zukunft zu einem der
tragenden Pfeiler des Wiederaufbaus geworden ist. Wir
haben mit 320 Millionen Euro nicht nur den deutlichsten
und größten Beitrag zur Unterstützung innerhalb der EU-
Mitgliedstaaten langfristig angekündigt, sondern auch mit
einem 100-Tage-Programm sehr rasch mit der Durchset-
zung von kurzfristigen Maßnahmen begonnen. So helfen
wir zum Beispiel bei der Wiederherstellung von Schulen
und Krankenhäusern und bei der Energie- und Wasser-
versorgung. Im März haben alle Kinder in Afghanistan,
auch die Mädchen, wieder die Chance, in die Schule zu
gehen. Wir wünschen, dass diese Kinder niemals mehr
Krieg, niemals mehr Bürgerkrieg erleben mögen, sondern
eine gute Zukunft haben, dass sie den Stift nutzen und
nicht die Kalaschnikow.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Diese Perspektive wünschen wir uns für diese Kinder.

Über Afghanistan hinaus beziehen wir aber auch die ge-
samte Region ein. So gibt es eine gemeinsame Initiative mit
den Vereinten Nationen in Bezug auf die Region Zentral-
asien. Außerdem haben wir die Entwicklungszusammen-
arbeit mit Pakistan bereits im ersten Halbjahr aufgenom-
men; der Schwerpunkt liegt dabei auf der Stärkung des
öffentlichen Schulwesens. Denn – das ist wichtig mit Blick
auf die Bekämpfung von Fundamentalismus – es ist doch
meist wirtschaftliche Not und nicht unausweichlicher reli-
giöser Fundamentalismus, der Eltern aus ärmeren Schich-
ten ihre Kinder in die Koranschulen, die Madrassas,
schicken lässt, in denen sie fanatisiert und indoktriniert
werden. Das wollen wir verhindern helfen. Das ist Terroris-
musprävention und -bekämpfung, für die wir stehen und für
die wir uns engagieren.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich plädiere für einen neuen Pakt zwischen Industrie-
und Entwicklungsländern. In drei Tagen beginnt in Mon-
terrey, Mexiko, die UN-Konferenz für Entwicklungs-
finanzierung. Erstmals seit dem 11. September werden
dort alle Beteiligten dieser Welt die Finanzierung der
großen gemeinsamen Aufgaben in ihrer ganzen Band-
breite beraten:Regierungen,VereinteNationen,Weltbank,
InternationalerWährungsfonds,Welthandelsorganisation,
Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft. Von Monterrey
muss die Botschaft ausgehen: In einer weltweiten Koali-
tion für Entwicklung übernimmt jeder Verantwortung
dafür, dass die großeVerpflichtung desMillenniumgipfels
erfüllt wird, die Industrie- ebenso wie die Entwicklungs-
länder, der Staat ebenso wie die Zivilgesellschaft und die
privateWirtschaft. ÜberholtesKästchendenkenmuss end-
lich überwunden werden. Der Entwurf des Abschlussdo-
kuments, derMonterrey-Konsensus, istAusdruck dieser
neuen partnerschaftlichen Zusammenarbeit.

Ich weiß, dass es schon im Vorfeld Kritik an diesem
Entwurf eines Abschlussdokuments gegeben hat. Einige
hätten gern manches griffiger, deutlicher, präziser formu-
liert gesehen, ich auch. Doch ich sage Ihnen: Wenn all das,
was in diesem Entwurf des Abschlussdokuments steht
– Öffnung der Märkte, Handelsförderung für Entwick-
lungsländer, mehr öffentliche Entwicklungszusammen-
arbeit –, in den folgenden Monaten Punkt für Punkt um-
gesetzt wird, dann sind die Entwicklungsländer, dann ist
die internationale Gemeinschaft auf dem Weg zu einer ge-
rechteren, friedlicheren Welt einen Riesenschritt vorange-
kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist doch auch die Wahrheit – das habe ich genau so
eingeschätzt –: Ohne die anstehende Konferenz hätte die
EU sich selber und ihre Mitgliedstaaten nicht zur schritt-
weisen Aufstockung der Entwicklungsmittel verpflichtet.

Wir teilen die Auffassung der Weltbank und der Ver-
einten Nationen, dass auch die Mittel für die öffentliche
Entwicklungszusammenarbeit substanziell erhöht wer-
den müssen, damit wir die international vereinbarten
Entwicklungsziele erreichen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
22328


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben uns im Rahmen der EU verpflichtet, das
0,7-Prozent-Ziel so rasch wie möglich zu verwirklichen
und dahin gehend noch vor dem Weltgipfel für nachhal-
tige Entwicklung konkrete Fortschritte zu erzielen. Wir
unterstützen nachdrücklich den Vorschlag der EU – und
werden ihn umsetzen –, dass alle Mitgliedstaaten, die das
0,7-Prozent-Ziel noch nicht erreicht haben, bis zum
Jahr 2006 als erstes Zwischenziel den EU-Durchschnitt
des Jahres 2000 von 0,33 Prozent realisieren. Das bedeu-
tet, dass auch Deutschland seine Entwicklungsaufwen-
dungen erhöhen wird, und das ist gut so.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


An die Adresse der Opposition sage ich: Als wir 1998
an die Regierung kamen, war die Quote der offiziellen
Entwicklungszusammenarbeit abgefallen. Am Ende der
Regierungszeit von Helmut Schmidt, 1982, lagen wir bei
0,48 Prozent des Bruttosozialprodukts,


(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

am Ende der Regierung Kohl bei 0,26 Prozent. In den letz-
ten Jahren haben wir trotz der Notwendigkeit, den Schul-
denberg kontinuierlich abzubauen, den Beginn einer
Trendwende in der Entwicklungsfinanzierung geschafft.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das ist nicht die Wahrheit!)


– Wir sind jetzt bei 0,27 Prozent und werden bis zum Jahr
2006 0,33 Prozent erreichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hätten sich der Kollege Hedrich und andere, die vorher in
diesem Amt waren, für die Erhöhung der Mittel so enga-
giert, wären wir heute längst bei 0,7 Prozent.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU und der FDP)


Insofern hätten Sie das auch in Ihrer Regierungszeit um-
setzen können.

Jeder weiß aber auch, dass die Bundesrepublik
Deutschland mit 5,8 Milliarden US-Dollar in absoluten
Zahlen der weltweit drittgrößte Geber von Mitteln für die
Entwicklungszusammenarbeit ist,


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das waren wir auch früher schon!)


obwohl wir ganz andere Lasten als viele EU-Länder zu
tragen haben. Dies ist auch wichtig und sollte sehr deut-
lich werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für die großen Aufgaben brauchen wir neue, innova-
tive Finanzierungsinstrumente. In diesem Zusammen-
hang müssen wir manche Scheuklappen beiseite legen
und Denkverbote prüfen und überwinden. Dafür hat das
BMZ bei Professor Spahn eine unabhängige wissen-
schaftliche Machbarkeitsstudie zu einer Devisentrans-
aktionssteuer in Auftrag gegeben. Professor Spahn
kommt zu der Schlussfolgerung, dass sie machbar ist,

wenn sich alle Länder einer Zeitzone, zum Beispiel die
EU-Länder und die Schweiz mit dem Finanzplatz Zürich,
darauf einigen. Die Ergebnisse dieser Studie wollen wir
mit unseren Partnern in Monterrey diskutieren, ebenso die
wertvollen Vorschläge des Wissenschaftlichen Beirats für
globale Umweltfragen zu Nutzungsentgelten für die glo-
balen öffentlichen Güter.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Roland Claus [PDS])


All dies zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen, was in
Zukunft erforderlich sein wird, wenn wir das erreichen
wollen,wofürwir alle einstehen – ich gehe davon aus, dass
das für alle in diesem Hause gilt –: Kooperation und nicht
das Recht des Stärkeren ist der Schlüssel zur Lösung der
drängenden Probleme. Ferner geht es umVerrechtlichung,
um globale Rechtsstaatlichkeit. Deshalb begrüße ich es,
dass nunmehr 55 Staaten das Statut des Internationalen
Strafgerichtshofes ratifiziert haben. Damit macht die in-
ternationale Gemeinschaft klar und deutlich: Völkermord
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird sie nicht
mehr hinnehmen. Niemand, der solcheVerbrechen zu ver-
antworten hat, wird ungestraft davonkommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen und müssen das Demokratiedefizit in der
globalen Welt auch dadurch überwinden, dass wir über
neue Institutionen nachdenken, die die Beteiligung der
Entwicklungsländer auf höchster politischer Ebene er-
möglichen. Auch muss der Westen allen Vorwürfen ent-
gegenarbeiten, er handele auf der Grundlage doppelter
Standards.

Um Krisen, Terror und Gewalt nachhaltig einzudäm-
men, gibt es längerfristig nur eine Erfolg versprechende
Strategie: den Kampf gegen Armut, Ungerechtigkeit und
Ausgrenzung in der Welt. Dass Entwicklungspolitik mit
ihren Instrumenten dabei erfolgreich sein kann – das ist
aber ein längerfristiger Prozess und nicht in einem halben
Jahr zu bewirken –, hat sie bewiesen.

Lesen Sie dazu bitte den Bericht der Weltbank, der vor
wenigen Tagen publiziert worden ist. In diesem Bericht
heißt es, dass zwei wichtige Dinge erreicht worden sind:
Die durchschnittliche Lebenserwartung in den Ent-
wicklungsländern hat sich seit 1960 um 20 Jahre erhöht.
Die Zahl der erwachsenen Menschen, die nicht lesen und
schreiben können, ist seit 1970 von 47 Prozent auf heute
25 Prozent gesunken.

Liebe Kolleginnen und Kollegen und auch liebe Bür-
gerinnen und Bürger, Entwicklungspolitik verdient also
unser aller Engagement. Wir tun damit nicht nur etwas für
andere, sondern auch etwas für uns selbst, weil unsere
Kinder dadurch eine friedlichere Zukunft haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Denn, was Weltbank-Präsident James Wolfensohn kürz-
lich gesagt hat – damit will ich schließen –, ist wahr:

Wenn Sie wollen, dass Ihre Kinder in den nächsten
25 Jahren in einer friedlichen Welt leben, dann




Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

22329


(C)



(D)



(A)



(B)


müssen Sie sich heute um internationale Entwick-
lung kümmern.

Wir tun das. Lassen Sie es uns gemeinsam tun.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Roland Claus [PDS])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422500100
Ich erteile dem Kolle-
gen Klaus-Jürgen Hedrich, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.


Klaus-Jürgen Hedrich (CDU):
Rede ID: ID1422500200
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der
„Tagesspiegel“ vom gestrigen Tage zitiert eine Kollegin
der SPD-Fraktion:

Wir sind dabei, Formulierungen zu finden, mit denen
wir uns nicht blamieren.

Frau Ministerin, diese Politik haben Sie auch heute
fortgesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Der „Focus“ beschreibt dies mit den Ausdrücken „täu-
schen, verschleiern, verfälschen“.


(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist Ihrer nicht würdig!)


Das ist das Prinzip Ihrer Politik: von Riester über
Scharping bis zur Entwicklungsministerin.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Vorschlag der EU, die nationale Mindestquote
aller EU-Staaten bis zum Jahre 2006 auf 0,33 Prozent des
Bruttosozialprodukts zu erhöhen, wurde durchaus mit der
Entscheidung des EU-Ministerrats im November des letz-
ten Jahres vorbereitet, wo Sie bekräftigt haben, diese
Quote sei auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts zu er-
höhen. Die Ministerin ist stolz darauf, dass sie diese Ent-
scheidung mit initiiert hat. Der Punkt ist aber: Konkretes
erfolgt nicht.

Glauben Sie allen Ernstes, die Bürger in diesem Lande
oder die internationale Gemeinschaft seien bereit, Ihnen
abzunehmen, dass der Bundeskanzler in der letzten Nacht
seinen Finanzminister angewiesen hat, doch der EU-Ent-
scheidung für eine einheitliche Linie in Monterrey nicht
mehr entgegenzustehen? Schröder hatte auf dem G-7-
Gipfel in Köln Zusagen gemacht. Drei Tage später kürzte
Eichel den Etat. Schröder hat auf dem Millenniumgipfel
eine Zusage gemacht. Jetzt verpflichten Sie sich in dem
Dokument für Monterrey ebenfalls auf das 0,7-Prozent-
Ziel. Sie haben es hier auch angesprochen. Der Punkt ist
nur, dass eine Implementierung nicht stattfindet.

Auf unsere präzisen Fragen dazu, in welchen Schritten
Sie sich die Erreichung dieses Ziel vorgenommen haben,
bekommen wir im Ausschuss nie eine Antwort. Auch un-

sere Haushälter im Haushaltsausschuss erfahren nichts.
Wer so vorgeht, gefährdet seine eigene Glaubwürdigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist schon ein skandalöser Taschenspielertrick, wenn

Sie nun mit den Zahlen für die letzten Haushaltsjahre in
Höhe von 0,27 Prozent und 0,28 Prozent des Bruttosozi-
alprodukts arbeiten. In diesem Haushaltsjahr haben Sie
den Entwicklungsetat um 8,5 Prozent gekürzt. Das ist die
höchste Kürzung, die ein Entwicklungsetat in der Ge-
schichte der Bundesrepublik Deutschland je erfahren hat.
Das ist Ihre Bilanz und nicht unsere.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was haben Sie in dem Zusammenhang nicht alles ver-
sprochen! Sie hätten durchaus Gelegenheit gehabt, deut-
lich zu machen, wie Sie dies umsetzen wollen. Ich darf
mich hier wiederholen.

Es gibt aber auch andere Punkte, bei denen Sie mit
großen Ankündigungen gearbeitet haben. Für diejenigen,
die mit der Materie im Einzelnen nicht vertraut sind: Die
Ministerin hat ein so genanntes Konzentrationskonzept
vorgelegt. Danach sollte die Zahl der Länder, mit denen
Deutschland zusammenarbeitet, ursprünglich auf 70 re-
duziert werden. Inzwischen haben Sie eine neue Liste, auf
der 102 Länder stehen, vorgelegt.

Auf dieser Liste wurden übrigens interessante Ka-
schierungen vorgenommen. Zum einen taucht dort die
Neuschöpfung eines Entwicklungslandes namens Zen-
tralasien auf, damit Sie nicht fünf Länder einzeln auf-
führen müssen. Damit wollen Sie verhindern, dass Sie ge-
gen die Grundsätze Ihrer eigenen Liste verstoßen. Zum
anderen erwähnen Sie Länder überhaupt nicht und ma-
chen dazu eine Fußnote. All das sind Tricks, mit denen Sie
verschleiern wollen, dass Sie mit dem Konzept der Kon-
zentrationspolitik gescheitert sind.

Es ist auch in sich unstimmig und unschlüssig. So ha-
ben Sie sich zum Beispiel jahrelang geweigert, Tadschi-
kistan in die Liste aufzunehmen. Der Außenminister fährt
dann aber dorthin und erklärt, dass Tadschikistan in die
Liste aufgenommen werde. Das geschah übrigens mit
dem Hinweis, das sei notwendig, weil Tadschikistan ein
wichtiger Partner im Kampf gegen den Terrorismus und
zur Befriedung in Zentralasien ist. Das haben wir Ihnen
bereits vor zwei Jahren gesagt. Damals wurden wir mit ei-
ner schnöden Handbewegung abgefertigt.

All diese Beispiele zeigen, dass Ihr Konzept in sich
nicht konsistent ist. Sie sind möglicherweise immer dort,
wo „etwas los ist“ und wo man eventuell eine gewisse
Show abziehen kann. Deutschland kündigt zum Beispiel
eine große Zusammenarbeit mit Osttimor an – einem
Land, welches von der internationalen Hilfe völlig über-
füttert ist –, statt sich gegebenenfalls auf die Länder zu
konzentrieren, die es notwendig haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Immer wieder spricht die Regierung davon, dass auch die
EU eine größere Rolle übernehmen sollte. Der Euro-
päischen Union sollten von ihren einzelnen Mitgliedstaa-




Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
22330


(C)



(D)



(A)



(B)


ten Zuständigkeiten bezüglich der europäischen Entwick-
lungspolitik übertragen werden und Osttimor, ein Staat
mit 800 000 Einwohnern, sei ein klassisches Beispiel
dafür.

Es gibt aber auch noch andere Ungereimtheiten. Sie
haben das Land Simbabwe selbst genannt. Mit großen
und beredten Worten beziehen Sie sich auf die innenpoli-
tische Diskussion in Simbabwe. Frau Ministerin, Sie ha-
ben nicht erwähnt, dass Simbabwe überhaupt nicht auf der
Liste der Partner- und Schwerpunktländer des Ministe-
riums steht. Die Begründung ist verhältnismäßig einfach:
Sie sagen, dass man mit diesem Land zum gegenwärtigen
Zeitpunkt staatlich nicht zusammenarbeiten könne. Das
ist übrigens richtig. Aus unserer Sicht müsste aber gerade
dieses Land eine besondere Aufmerksamkeit bezogen auf
die bilaterale Zusammenarbeit erhalten. Sie hätten näm-
lich die Möglichkeit, insbesondere die Kräfte in dem Land
zu stärken, die für Demokratie einstehen, so zum Beispiel
die Opposition, die Kirchen und die Nichtregierungs-
organisationen.

Mehrere Kollegen aus dem Ausschuss – ich weiß nicht,
ob der Kollege Reinhold Hemker anwesend ist – fordern
Sie seit Jahr und Tag auf, mehr zur Förderung der Zivil-
gesellschaft in Simbabwe zu tun. Monatelang haben Sie
sich schwer getan; nichts ist passiert. Heute beklagen wir,
dass ein paranoider Diktator die Chance bekommen hat,
sich wieder an die Macht zu fälschen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In der Tat hätten wir dort erheblich mehr tun müssen.

Wir alle kennen diese Mechanismen: Es wird darauf
verwiesen, dass man die Mittel, die für staatliche Zusam-
menarbeit zur Verfügung gestellt wurden, nicht zur Stär-
kung von Nichtregierungsorganisationen umschichten
könne.


(Zuruf von der SPD: Das ist doch Quatsch!)

– Das war das offizielle Argument der Regierung. – Hier
hätten Sie sich in einer intensiven Diskussion mit dem
Finanzminister darum kümmern können, dass nicht Mil-
lionen und Abermillionen Deutsche Mark oder Euro auf
der hohen Kante liegen bleiben, sondern dass diese Mittel
für die Stärkung der demokratischen Kräfte in Simbabwe
eingesetzt werden. Das gilt morgen vielleicht für ein an-
deres Land. Das ist die Inkonsequenz Ihrer Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Diese Liste kann man beliebig fortsetzen. Sie haben

mit großem Aufwand – ich gebe zu, dass ich Sie dafür
manchmal bewundere – das „Aktionsprogramm 2015“
zur Reduzierung derArmut auf den Weg gebracht. Es ist
richtig: Man kann wirklich etwas von Ihnen lernen, wie
Sie so etwas öffentlich darstellen.


(Gernot Erler [SPD]: Herr Kollege, Sie können noch viel von uns lernen!)


Der Punkt ist aber: Als Sie das vor einem Jahr vorstellten,
haben Sie Ihr Aktionsprogramm erläutert, aber zur Um-
setzung kaum ein Wort gesagt. Einen Satz haben Sie dazu
gesagt: Sie würden jetzt einen Umsetzungsplan auf den
Weg bringen. Ich habe eine höfliche Frage gestellt – Kol-

legen in meiner Fraktion werfen mir vor, ich würde Sie zu
gut behandeln und nicht scharf genug formulieren –: Frau
Ministerin, wann wird der Umsetzungsplan vorliegen? –
Ihre Antwort war: in drei Monaten. Jetzt ist ein Jahr ver-
gangen und der Umsetzungsplan liegt immer noch nicht
vor. Auch hier klaffen Ankündigung und Umsetzung Ihrer
Politik wie immer auseinander.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es gibt noch eine Reihe von anderen Ungereimtheiten.

Bevor ich einige nenne, will ich durchaus darauf verwei-
sen, dass wir in unseren Grundanstrengungen nicht
auseinander liegen. Ich teile Ihre Einschätzung, dass es
notwendig ist, alles zu unternehmen, um Entwicklungen
zu begegnen und zu steuern, die neue Gewalt auf dieser
Erde befördern könnten. Es ist in der Tat richtig, dass es
keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Terro-
rismus und Armut gibt. Aber junge Menschen, die keine
Perspektive für ihre eigene Zukunft haben, sind für die
Anwendung von Gewalt natürlich viel eher ansprechbar
als junge Menschen, die eine Perspektive haben. Insofern
liegen unsere Einschätzungen in diesem Punkt in diesem
Hause nahe beieinander.

Ich füge jedoch hinzu: Es bedarf dann aber auch der
konkreten Umsetzung solcher Maßnahmen. Das treibt
mich schon um; das will ich nicht verhehlen. Wir erleben
die Gewalteskalation im Nahen Osten Tag für Tag, wenn
zum Beispiel ein 14-jähriger Palästinenser in einem
Selbstmordattentäter sein Idol sieht und glaubt, dass de-
mokratische Strukturen nicht wirklich dazu geeignet sind,
seine Lebensqualität zu verbessern. Deshalb ist es wich-
tig, dass wir in all unseren Anstrengungen darauf achten,
dass weltweit diejenigen Kräfte eine Chance bekommen,
die darauf hinwirken, dass die Prinzipien der Beachtung
von Menschenrechten, einer gewaltfreien Gesellschaft,
einer rechtsstaatlichen Ordnung und der Marktwirtschaft
Anwendung finden.

In dem Dokument von Monterrey – das begrüße ich –
steht insofern etwas sehr Vernünftiges, als darin die be-
sondere Eigenverantwortung unserer Partnerländer be-
tont wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir
könnten auch die doppelte Summe an Entwicklungshilfe
zur Verfügung stellen: Wenn die Voraussetzungen in un-
seren Partnerländern nicht gegeben sind, wenn sich die
Verantwortlichen vor Ort keine Mühe geben, ihren Men-
schen die Mindestperspektiven von Entwicklung zu eröff-
nen, dann nützt alle Hilfe von außen nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir können die Probleme unserer Partnerländer nicht

lösen. Diese Probleme müssen von den Verantwortlichen
dort selbst angepackt werden, und zwar nicht nur von der
politischen, sondern auch von der wirtschaftlichen, der
kulturellen und der wissenschaftlichen Elite. Was wir tun
können, ist, unsere Hilfe anzubieten und unsere Partner
dort zu unterstützen, wo wir gegebenenfalls mit unseren
Mechanismen eingreifen können. Hier kommt den politi-
schen Stiftungen aller politischen Gruppierungen in
Deutschland in ganz besonderem Maße eine wichtige
Aufgabe zu.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)





Klaus-Jürgen Hedrich

22331


(C)



(D)



(A)



(B)


Es ist in diesem Zusammenhang von besonderer Be-
deutung, dass wir uns nicht nur über die klassische EZ Ge-
danken machen. Ich teile die Auffassung, dass wir uns
auch mit den Konzeptionen marktwirtschaftlicher Sys-
teme beschäftigen müssen. Ich will deshalb betonen – das
wird übrigens manchmal sogar in meiner eigenen Partei
vergessen, von Sozialdemokraten sowieso –, dass die
Christdemokraten keine Konservativen sind. Wir Christ-
demokraten sind eine Partei der Mitte.


(Rudolf Bindig [SPD]: Der rechten Mitte!)

Wir Christdemokraten in Deutschland stehen nicht für
Marktwirtschaft als solche, sondern für das Konzept der
sozialen Marktwirtschaft.


(Gernot Erler [SPD]: Das musst du mal deinen eigenen Leuten erzählen!)


Es handelt sich um ein Konzept, das nicht allein ein Wirt-
schaftskonzept ist. Das ist es am wenigsten. Es ist ein Ord-
nungskonzept. Wir glauben, dass wir von den Erfahrun-
gen Deutschlands durchaus das eine oder andere unseren
Partnerländern in dieser Welt anbieten können, eben nicht
in der Form von Belehrungen, sondern in einem Angebot.
Wir sind der festen Überzeugung, dass der Maßstab der
sozialen Gerechtigkeit die Voraussetzung für mehr Frie-
den auf der Welt ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422500300
Ich erteile dem Kolle-
gen Gernot Erler, SPD-Fraktion, das Wort.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1422500400
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Es ist erst das zweite Mal, dass sich der
Deutsche Bundestag auf der Grundlage einer Regierungs-
erklärung über Entwicklungspolitik unterhält. Das sollte
eigentlich ein Höhepunkt der entwicklungspolitischen
Debatte sein. Ich muss leider feststellen, Herr Kollege
Hedrich, dass Sie diesem Anspruch nicht gerecht gewor-
den sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Nur kleinklein!)


Die Art und Weise, wie Sie hier kleinkariert, buchhalte-
risch, ja geradezu provinziell Ihre Rede gestaltet haben,


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

führt wirklich dazu, dass ich sagen muss: Ich kann nur
hoffen, dass möglichst wenig Menschen, die Erwartungen
an uns haben, das gehört haben, denn mit einer solchen
personifizierten Lustlosigkeit und dem Missmut, den Sie
hier ausstrahlen, werden Sie in der Politik niemanden und
nichts erreichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Schwachsinn!)


Der Zeitpunkt für diese Debatte ist gut gewählt: drei
Tage vor der UN-Konferenz für Entwicklungsfinanzie-
rung von Monterrey und sechs Monate nach dem 11. Sep-

tember. Diese sechs Monate kennzeichnen einen Lern-
prozess, den wir durchmachen mussten. Wir haben ge-
lernt, dass der 11. September kein Einzelereignis ist, son-
dern eine neue Dimension globaler Herausforderung, die
natürlich eine direkte militärische Anwort erforderte,
auch um eine Wiederholung unmöglich zu machen. In
diesen sechs Monaten haben wir aber auch gelernt, dass
diese Form der Antwort allein in der Zeitperspektive nicht
ausreicht.


(Zustimmung bei der SPD)

Wir brauchen eine zentrale Antwort in globaler Struk-

turpolitik. Das heißt nicht weniger, als dass die Erkennt-
nis nach diesen sechs Monaten ist: Entwicklungspolitik
ist präventive Sicherheits- und Friedenspolitik und
muss auch als solche angelegt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Dazu brauchten wir aber nicht die letzten sechs Monate! Das sagen wir seit Jahren!)


In den letzten sechs Monaten hat es eine Umwertung die-
ses politischen Feldes gegeben. Bisher – das müssen wir
doch zugeben – ist Entwicklungspolitik eine Art Nische
gewesen, und zwar eine Nische, in der sich moralisch-
ethisch orientierte Politiker ohne große öffentliche Be-
achtung bewegt haben. Gelegentlich wurde das belächelt
als Politik für Gutmenschen.

Heute müssen wir feststellen: Entwicklungspolitik ist
in den Kernbereich von Sicherheitspolitik gerückt und er-
fordert deswegen eine völlig andere Beachtung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Peter Repnik [CDU/ CSU]: Lesen Sie mal meine Reden von vor 10 Jahren! Da habe ich das schon gesagt!)


Zum Glück fangen wir hier in Deutschland nicht bei Null
an. Das zeigt schon die Kurzformel, mit der die Ministerin
heute den Elften entwicklungspolitischen Bericht vorge-
stellt hat. Sie lautet: Armut bekämpfen, Globalisierung
gestalten, Frieden sichern. Das ist, auf die kürzeste For-
mel gebracht, der Anspruch, Entwicklungspolitik als
präventive Friedenspolitik zu gestalten. Das ist in den
letzten dreieinhalb Jahren der rot-grünen Regierungs-
arbeit nicht etwa nur Formel oder Anspruch geblieben.
Die Brücke von der Entwicklungspolitik zur Friedens-
politik ist zum Glück schon beschritten worden, und zwar
mit dem Aufbau eines zivilen Friedensdienstes, mit der
Kölner Entschuldungsinitiative, die insgesamt 70 Milliar-
den Dollar bewegen wird, mit dem Programm der globa-
len Armutsbekämpfung, das Sie, Herr Kollege, völlig un-
zureichend angesprochen haben,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


sowie mit der Beteiligung an globalen Gesundheitsfonds
und dem Zentrum der Aidsbekämpfung, nachdem Aids ge-
radezu eine Entvölkerungsseuche in Afrika geworden ist.

Die besagte Brücke ist auch mit den regionalen An-
sätzen beschritten worden, sei es für die AKP-Staaten mit




Klaus-Jürgen Hedrich
22332


(C)



(D)



(A)



(B)


dem Cotonou-Abkommen, in Afrika mit dem G-8-Pro-
gramm NEPAD, auf dem Balkan mit dem Stabilitätspakt
oder in Afghanistan, wo es nicht nur gelang, sehr kurz-
fristig humanitäre Hilfe anzubieten und tatsächlich zu
leisten, sondern wo sich die Bundesregierung auch für
die nächsten vier Jahre auf ein Programm in Höhe von
320 Millionen Euro verpflichtet und – das ist noch viel
wichtiger – mit dem 100-Tage-Programm schon konkret
Mittel zur Verfügung gestellt hat.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass
dies alles auf den Weg gebracht wurde, und zwar größ-
tenteils vor dem 11. September. An dieser Stelle erscheint
mir die Feststellung angebracht, dass dahinter ein enor-
mer Arbeitsaufwand der vielen Beschäftigen im Bundes-
ministerium und der Ministerin selber steht. Dafür möchte
ich an dieser Stelle herzlichen Dank sagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Debatte fällt auch mitten in eine Diskussion über
die notwendige zweite Phase im Antiterrorkampf. Es
gibt Lehren aus dem 11. September. Wir wissen jetzt, dass
es Köpfe voller Hass, Verirrung, Verwirrung und auch
voller zerstörerischer Fantasie gibt. Aber richtig gefähr-
lich werden diese Köpfe erst, wenn die Beine dazukom-
men, nämlich durch den Zulauf von Menschen, die eben-
falls Aussichtslosigkeit, Demütigung und Hass zum
Motor ihrer Bewegung machen.

Wir können nicht alle Köpfe verlässlich erreichen.
Deshalb besteht die wichtigste Aufgabe darin, den Zulauf
zu verhindern. Das bedeutet nicht weniger als die He-
rausforderung einer neuen Dimension von Prävention.
Die Europäer und mit ihnen die Deutschen haben in letz-
ter Zeit einen Lernprozess durchgemacht. Wir haben es
nicht vermocht, vier blutige Kriege auf dem Balkan zu
verhindern. Wir haben das auch als ein Versagen der
Prävention angesehen.

Im vergangenen Jahr ist es – so scheint es – am Beispiel
Mazedonien zum ersten Mal gelungen, durch ein ge-
meinsames, abgestimmtes Auftreten der Europäer eine
weitere Katastrophe – in diesem Fall einen Bürgerkrieg in
Mazedonien – zu verhindern. Das heißt, Europa und wir
haben dazugelernt, was die regionale Prävention angeht.
Das wird vielleicht als erster Fall einer erfolgreichen An-
wendung regionaler Prävention in die Zeitgeschichte ein-
gehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber dann kam der 11. September und wir haben ge-
merkt, dass das, was wir an Lektionen für regionale
Prävention gelernt haben, dafür nicht anwendbar war. Da-
bei handelte es sich um eine neue Dimension der He-
rausforderung, die auch eine neue Dimension der Antwort
erforderte. Wir stehen vor nichts anderem als einem neuen
Lernprozess hinsichtlich dessen, was strukturelle und
globale Prävention bedeutet. Das fängt jetzt erst an und
es ist völlig klar, dass im Zentrum dieser strukturellen und
globalen Prävention eine globale Steuerungspolitik – das
heißt: Entwicklungspolitik – stehen muss.

Manche Leute meinen, Afghanistan sei ein Modell.
Das stimmt auch. Militärisch war es erfolgreich; insofern
kann man das bejahen. Aber gleichzeitig ist klar: Die se-
rienmäßige Anwendung dieses Modells ist unmöglich
und nicht machbar.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angelika Köster-Loßack [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Kofi Annan hat uns vor wenigen Tagen in diesem
Hause die Botschaft mitgegeben, dass Afghanistan ein
langfristiges Engagement braucht. Er hat uns den Begriff
„sustainable peace“ – nachhaltige Friedenssicherung –
vorgestellt und wir können hier sicherlich alle feststellen,
dass wir uns dazu bekennen. Wir wissen, wie lange wir
uns dort engagieren müssen und wie viel wir in die Auf-
gabe der Friedenssicherung in dieser Region investieren
müssen.

Das bedeutet aber auch, dass Afghanistan ein neues
Versorgungsprotektorat darstellt, das uns lange beschäfti-
gen wird. Wir Deutsche sind jedoch bereits in einigen an-
deren Regionen langfristig engagiert, zum Beispiel in
Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in gewisser Weise
auch in Mazedonien. Es ist völlig klar, dass diese Art von
Schaffung immer neuer Versorgungsprotektorate in der
Weltpolitik keine dauerhafte Stabilisierung bringen kann.
Das kann nicht der Weg sein, mit dem wir eine globale
Umverteilung organisieren können. Es handelt sich näm-
lich um eine Umverteilung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist aber eine erzwungene, eine postinterventionisti-
sche Umverteilung. Das geht nicht. Die Herausforderung
ist, eine ganz andere Form der Umverteilung – das ist die
Aufgabe der Entwicklungspolitik – zu finden, nämlich
eine politisch gestaltete, präventive Umverteilung. Um
das zu erreichen, müssen wir in der Tat die Instrumente
anwenden, die im Elften Bericht zur Entwicklungspolitik
der Bundesregierung aufgezählt sind und die von der Ent-
schuldung über die Entwicklungspartnerschaft mit der In-
dustrie, die faire Gestaltung der Terms of Trade und des
Handels, das Bemühen, allen Produkten aus der Dritten
Welt den Marktzugang zu ermöglichen, bis hin zur Er-
höhung der offiziellen Entwicklungsfinanzierung reichen.
Deswegen ist es wichtig – dazu liegt ja auch ein Antrag
vor –, dass die in drei Tagen beginnende UN-Konferenz
in Monterrey über die Entwicklungsfinanzierung ein Er-
folg wird. Wir wünschen und fordern diesen Erfolg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Erfolg kann doch nur heißen – hier muss man der Mi-
nisterin zustimmen –, dass sich die Industrieländer auf
dieser Konferenz tatsächlich verbindlich darauf ver-
pflichten, einen höheren Anteil ihrer Bruttoinlandspro-
dukte für Entwicklungsaufgaben zur Verfügung zu stel-
len. Dieser Anteil darf nicht auf dem bisherigen Niveau
stagnieren. Es muss wenigstens das vereinbarte
Zwischenziel beschlossen werden, nämlich dass jedes
Industrieland bis 2006 mindestens 0,33 Prozent seines
Bruttoinlandsproduktes für die Entwicklungshilfe zur




Gernot Erler

22333


(C)



(D)



(A)



(B)


Verfügung stellt. Das erwarten wir. Das ist sozusagen das
Gepäck, mit dem unsere Delegation dorthin fährt.

Wir brauchen deswegen auch den Erfolg des zweiten
wichtigen entwicklungspolitischen Ereignisses in diesem
Jahr, nämlich des Weltgipfels für nachhaltige Entwick-
lung, der Ende August/Anfang September in Johannes-
burg stattfinden wird. Wir als Abgeordnete verpflichten
uns, diesen Gipfel sorgfältig und kreativ vorzubereiten.
Wir gehen davon aus, dass auch die Bundesregierung
dazu bereit ist.

Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Ich
habe vorhin gesagt, dass die europäischen Fähigkeiten im
Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
in der letzten Zeit tatsächlich ein Stück vorangekommen
seien, dass es Fortschritte gegeben habe und dass sich
Chancen entwickelten. Aber ein Defizit muss man leider
feststellen: Es gibt bisher keine europäische Dimension
der Entwicklungszusammenarbeit. Diese ist noch nicht
sichtbar. Sie ist aber notwendig. Gerade in der jetzigen
Phase, in der wir über eine zweite Stufe des Antiterror-
kampfes diskutieren und auch streiten, ist es notwendig zu
erklären – ich kündige das für meine Fraktion an –: Wir
werden mit jedem, der das will, zusammenarbeiten und
große Anstrengungen unternehmen, dass die neuen Er-
kenntnisse im Hinblick auf die Bedeutung der Entwick-
lungspolitik, die wir auf nationaler Ebene gewonnen ha-
ben, zu einem europäischen Programm führen werden. Es
reicht nicht, dass wir auf europäischer Ebene nur militäri-
sche und politische Fähigkeiten aufbauen. Es muss auch
eine neue Dimension der europäischen Entwicklungs-
politik geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein solches Signal sollte von dieser Debatte ausgehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422500500
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Joachim Günther, FDP-Fraktion.


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1422500600
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als für den heu-
tigen Tag die Regierungserklärung zum Thema Entwick-
lungspolitik angesetzt wurde, habe ich genauso wie Sie,
Herr Kollege Erler, für einen kurzen Augenblick die Hoff-
nung gehabt, dass die Debatte ein Höhepunkt werden wird
und dass wir etwas Neues hören werden, nämlich dass es
im Kabinett einen Umschwung gegeben hat und dass wir
bei der Finanzierung der Entwicklungsarbeit entschei-
dend vorankommen. Nach der Regierungserklärung muss
ich sagen: Daraus ist nichts geworden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn Sie – darauf wurde wiederholt hingewiesen – aus
heutiger Sicht Ihre eigene Koalitionsvereinbarung be-
trachten, dann werden Sie feststellen, dass so gut wie

nichts von dem, was Sie sich vor über drei Jahren zum
Ziel gesetzt haben, Realität geworden ist. Diese Verein-
barung ist in weiten Teilen nicht mehr das Papier wert, auf
dem sie steht. Ihre Kollegen geben in den Ausschüssen
auch ehrlich zu, dass sie die selbst gesteckten Ziele leider
nicht erreichen konnten.

Beim letzten Außenministertreffen in Brüssel hat sich
Minister Fischer zwar wieder grundsätzlich für die Ent-
wicklungshilfe ausgesprochen. Gleichzeitig hat er gesagt,
er müsse aber erst Hans Eichel fragen.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch logisch, oder?)


Leider ist zu diesem wichtigen Thema heute wieder nie-
mand vom Finanzministerium auf der Regierungsbank.


(Ulrich Heinrich [FDP]: Niemand!)

Bei Entwicklungshilfe geht es um Geld. Wenn es um Geld
geht, sollte das Finanzressort zumindest mit dabei sein.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. KlausJürgen Hedrich [CDU/CSU])


Am Montag – darüber wurde bereits gesprochen – fährt
ein Riesenaufgebot von uns nach Monterrey.


(Zuruf von der SPD: Fahren Sie mit?)

– Ich fahre nicht mit, nein.


(Zuruf von der SPD: Dann ist es gut!)

Die Frage ist: Was haben wir im Gepäck? – Insgesamt ei-
nen Koffer voll heißer Luft und eine so genannte Mach-
barkeitsstudie zur Tobinsteuer.


(Walter Hirche [FDP]: Die der Finanzminister abgelehnt hat!)


Sie, Frau Ministerin, der Bundeskanzler und auch der
Außenminister reisen mit Versprechungen durch die Welt,
als ob wir in Deutschland die Wunderwaffe im Kampf ge-
gen die Armut hätten. Leider – ich sage bewusst: leider –
ist im Moment das Gegenteil der Fall. Wenn wir auf das
Diagramm der Ausgaben für die Dritte Welt schauen – das
war erst gestern wieder in der Presse –, dann stellen wir
fest, dass wir am Ende stehen, und das ist nicht gut. Da-
von – den gemeinsamen Ansatz haben wir doch – müssen
wir wegkommen.


(Beifall des Abg. Ulrich Heinrich [FDP])

Am 16. November wurde hier im Bundestag wieder

einmal erklärt, schrittweise das 0,7-Prozent-Ziel und ein
Bündnis für die globale Gerechtigkeit erreichen zu wol-
len. Heute wissen wir, dass das im damaligen Zusam-
menhang mit dem Bundeswehreinsatz eine Art Beruhi-
gungspille für die Koalition gewesen ist. Außer dieser
Ankündigung ist bis heute wieder nichts geschehen.

Erstaunlich ist dagegen, mit welcher Kreativität Sie,
Frau Ministerin, alternative Finanzquellen anzapfen und
erschließen wollen. So kommt die seit Jahren eingemot-
tete Tobinsteuer wieder auf den Tisch. Weil Steuern im
Inland im Moment nicht populär sind, wollen Sie sie eu-
ropaweit einführen. Eine Studie, die nicht ganz billig war,
kommt zu dem tollen Ergebnis, die Tobinsteuer auf inter-




Gernot Erler
22334


(C)



(D)



(A)



(B)


nationale Devisengeschäfte sei technisch machbar, wenn
man sie auf Europa beschränke.


(Walter Hirche [FDP]: Ein bürokratisches Monster!)


Dabei wird in der Studie selbst darauf hingewiesen, dass
sogar eine global verbindliche Tobinsteuer die Welt nicht
vor Finanzkrisen schützen könnte.


(Zuruf von der SPD: Das ist nie der Anspruch gewesen!)


Es geht also nicht um die Stabilisierung der internationa-
len Finanzmärkte, sondern ganz einfach um die Er-
schließung von Finanzquellen.


(Rudolf Bindig [SPD]: Tragen Sie mal vor, was Sie machen würden!)


Abgesehen davon hätte eine Beschränkung der Tobin-
steuer auf Europa – das wissen Sie wahrscheinlich auch,
Herr Kollege – lediglich ein Ausweichen auf andere Fi-
nanzplätze zur Folge


(Detlev von Larcher [SPD]: Nein! Das ist falsch!)


und das würde zur Schwächung des Euro beitragen.

(Rudolf Bindig [SPD]: Was würden Sie denn zur Entwicklungsfinanzierung machen? – Gegenruf des Abg. Ulrich Heinrich [FDP]: Wir würden unsere Wirtschaft ankurbeln!)


So würden Sie ganz eindeutig nicht die Banker und Devi-
senhändler treffen, die Sie ja treffen wollen, sondern der
weltweite Handel käme in Probleme. Das ist das Problem
bei der Tobinsteuer!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Die Integration der Entwicklungsländer in den Welt-
handel und die Öffnung der Weltmärkte haben – da-
rüber waren wir uns doch schon einmal einig – einen be-
deutend höheren entwicklungspolitischen Nutzen als die
gesamte Entwicklungshilfe. Deshalb ist die Öffnung der
Märkte eine der Prioritäten, die Sie setzen müssen.

Auch bei der Umsetzung der von Deutschland beim
Millenniumgipfel übernommenen Verpflichtungen ist die
Bundesregierung um einiges hinter den Ankündigungen
von damals zurückgeblieben. Wir alle wissen: Absolute
Armut und extremes Bevölkerungswachstum bedrohen
bis 2015 Frieden und Sicherheit. Sie verursachen sehr
große Flüchtlingsströme auf dieser Welt und sie haben
Umweltzerstörung zur Folge. Deshalb müssen wir konse-
quent handeln, und deshalb haben die 146 Staats- und Re-
gierungschefs im September 2000 in New York erklärt,
dass die Halbierung des Anteils der extrem Armen bis
2015 erfolgen soll.

In der Folge dieses Gipfels wurde das von Ihnen zitierte
Aktionsprogramm 2015 beschlossen. In diesem Pro-
gramm verpflichtet sich die Bundesregierung – da sind wir
wieder bei diesem Stichwort –, mehr Mittel für die Ar-
mutsbekämpfung zur Verfügung zu stellen, die Finanzsys-
teme in den Entwicklungsländern zu unterstützen und ver-

stärkt Mittel in solchen Ländern einzusetzen – das ist un-
seres Erachtens sehr sinnvoll –, die, wie im Moment unter
anderem Mosambik, Jemen und Vietnam, besondere An-
strengungen zur Armutsminderung unternehmen. Das sind
konkrete Ansätze, aber sie müssen mit Zahlen unterlegt
werden. Das Aktionsprogramm allein ist eben noch kein
Umsetzungsplan. Der Umsetzungsplan – das hat Kollege
Hedrich vorhin dargelegt – ist bis jetzt nicht in Aktion.

Eine zukunftsweisende entwicklungspolitische Strate-
gie muss unserer Meinung nach multinationale Netz-
werke, vor allem im Rahmen der Europäischen Union und
der Vereinten Nationen, in den Vordergrund stellen. Ent-
wicklungspolitik darf nicht zu einer Art Weltsozialhilfe
verkommen.


(Zuruf von der SPD: Das wollen wir ja gerade nicht!)


Nur die Mobilisierung eigener Kräfte in den Entwick-
lungsländern bringt den angestrebten gesellschaftlichen
Fortschritt in den Regionen mit sich. Das haben auch Sie
angesprochen.

Präventive Entwicklungshilfe muss wieder die not-
wendige Priorität erhalten. Entwicklungspolitik muss sich
strategisch erneuern. Das betrifft neben dem finanziellen
Rahmen, über den wir hier oft sprechen, auch eine Zusam-
menführung der politischen Verantwortung. Meiner Mei-
nung nach kann es nicht sein, dass jeder, der gerade ein-
mal Lust hat, sich zu entwicklungspolitischen Themen in
der Welt äußert und irgendwelche Ankündigungen macht,
die im Endeffekt, gesamtwirtschaftlich gesehen, nicht
realisierbar sind. Deshalb muss man über die Bündelung
der politischen Verantwortung im Rahmen der Ent-
wicklungspolitik neu nachdenken. Wir als FDP haben
dazu bereits Vorschläge unterbreitet.

Gerade nach dem 11. September 2001 ist die Bewälti-
gung der globalen Herausforderungen wie Terrorismus,
Armutsbekämpfung, Umweltschutz und Flüchtlingselend
die zentrale Aufgabe der Entwicklungspolitik. Für diesen
Bereich wollen wir vorbeugende regionale und multilate-
rale Konzepte auf den Weg bringen. Sie liegen im Inte-
resse Europas und damit nicht zuletzt im Interesse
Deutschlands. Aus diesem Grund haben wir für die heu-
tige Debatte auch einen Antrag zur politischen Stabilisie-
rung der zentralasiatischen Krisenregion vorgelegt.

Die Mitverantwortung Deutschlands im Kampf gegen
den Terrorismus und für die Gestaltung des friedlichen
Umfeldes um Afghanistan herum darf sich eben nicht auf
Entsendebeschlüsse, auf deren Verlängerung oder Erwei-
terungen beschränken. Vielmehr muss sie eine Gesamt-
strategie umfassen. Sie muss die gesamte zentralasiati-
sche Krisenregion, die um Afghanistan herum liegt,
einschließen.

In diesem Zusammenhang müssen wir klar erkennen:
Die Herausforderung, welche die Krisenregion Afghanis-
tan darstellt, erfordert multilaterale Anstrengungen. Hier
brauchen wir ein euroatlantisches Bündnis, in dessen
Rahmen eine ausgewogene Arbeitsteilung stattfindet.
Deutschland allein wird so etwas nicht schultern können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)





Joachim Günther (Plauen)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Überdies sollten die Voraussetzungen in der Europä-
ischen Gemeinschaft verstärkt werden. Die politische
Instabilität der zentralasiatischen Transformationsstaaten
stellt ein Konfliktpotenzial dar. Sie erfordert unweigerlich
ein verstärktes europäisches Engagement. Europa ist be-
reits jetzt mit den südlichen Nachfolgestaaten der ehema-
ligen Sowjetunion über die OSZE, über EU-Partner-
schaftsabkommen und über vieles andere verbunden.
Man muss aber sagen: Die anderen Staaten in dieser Re-
gion sind nicht integriert. Nur ein Gesamtbündnis kann
aber Stabilität in dieser Region bringen. Deshalb ist die
Verabschiedung eines Partnerschaftsabkommens mit
Pakistan ein erster, richtiger Schritt in diese Richtung.


(Beifall bei der FDP)

Die zentralasiatischen Staaten müssen dringend zum

regionalen Schwerpunkt deutscher Entwicklungszusam-
menarbeit werden. Es wurde bereits angeführt, dass wir
den Katalog von Staaten jetzt mit der allgemeinen For-
mulierung „Region“ erweitert haben. Ich finde es wichtig,
dass wir in der Kategorisierung dieser Länder in Zen-
tralasien keine Unterschiede mehr machen, sondern zu-
sammen mit den europäischen Staaten eine Strategie für
alle auf den Weg bringen.

Die FDP-Bundestagsfraktion hat bereits Anfang Okto-
ber vergangenen Jahres einen Zwölfpunkteplan zur poli-
tischen Stabilisierung Afghanistans vorgelegt, in dessen
Mittelpunkt die Forderung nach einem europäischen Sta-
bilitätspakt für die gesamte Krisenregion steht. Ich finde
es erfreulich, dass die Bundesregierung inzwischen die
Ausarbeitung von Plänen für einen Stabilitätspakt an-
gekündigt hat. Jetzt müssen wir von der Formulierungs-
phase zur Umsetzungsphase kommen, und das so schnell
wie möglich. Das ist ein wichtiges Anliegen.

Wir sollten dieses Anliegen in diesem Hohen Haus
gemeinsam angehen. Deshalb würde ich mich sehr
freuen, wenn Sie unseren Antrag, der dieses Thema kon-
kret betrifft, unterstützen würden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422500700
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen.


Rezzo Schlauch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422500800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erfreu-
lich und wir haben auch gute Gründe, heute über Ent-
wicklungspolitik zu diskutieren. Erfreulich ist, dass sich
die Bundesregierung darüber verständigt hat, den Ent-
wicklungshilfeetat im Rahmen der EU in den nächsten
Jahren aufzustocken. Das wird ja heute und am Wochen-
ende in Barcelona besprochen und entschieden. Ich
glaube, wir alle sollten uns darüber freuen, dass wir uns
über dieses wichtige Ziel verständigt haben. Wir werden
es in den kommenden Jahren auch realisieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein guter Grund ist die oft angesprochene Konferenz
in Monterrey, weil es bei dieser Konferenz um die Fra-
gen geht, die für die ganze Welt von Bedeutung sind, und
zwar für die Menschen im Süden und im Norden. Ich
glaube, gerade bei den Menschen im Norden, bei den In-
dustrienationen, müssen das Bewusstsein und die Er-
kenntnis, dass ohne eine aktive Entwicklungspolitik eine
friedliche Welt nicht zu schaffen ist, immer noch sehr viel
stärker wachsen, als uns dies, auch nach dem 11. Septem-
ber, bewusst ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Über allem steht das zentrale Thema dieses 21. Jahr-
hunderts: Wie finden wir eine Antwort auf die globalen,
sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer
Zeit? Welche Perspektive können wir 1,2Milliarden Men-
schen aufzeigen, die heute immer noch von weniger als
von 1 Dollar pro Tag leben müssen? Schaffen wir es, die
globalen Umweltfragen in den Griff zu bekommen?
Schaffen wir es, das Klima zu stabilisieren, den Tropen-
wald zu schützen und – ganz wichtig – den Zugang zu sau-
berem Wasser zu sichern?

Auf der Konferenz wird vor allem über den Finanz-
bedarf zur Lösung globaler Umwelt- und Entwicklungs-
probleme zu reden und auch zu entscheiden sein. Dabei
geht es um die wirksame Mobilisierung öffentlicher, aber
in Zukunft auch viel mehr privater Finanzmittel für die Er-
reichung der international vereinbartenEntwicklungsziele.

Die internationale Staatengemeinschaft hat sich auf
dem Millenniumgipfel im September 2000 ein an-
spruchsvolles Programm bis zum Jahre 2015 gegeben. Es
sieht vor: die Halbierung des Hungers in der Welt, die Re-
duzierung des Anteils der absolut Armen um die Hälfte,
die Senkung der Mütter- und Kindersterblichkeit, die Er-
höhung der Einschulungsquote von Kindern in Entwick-
lungsländern und dabei besonders die Verbesserung der
Bildungschancen von Mädchen. Der Generalsekretär der
UN hat immer wieder deutlich gemacht, dass es ohne die
Verwirklichung dieser Entwicklungsziele keine Realisie-
rung der Menschenrechte in der Welt gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Erst die Menschenrechte ermöglichen ein Leben in
Würde, frei von Hunger, frei von existenzieller Not und
mit Zukunftsperspektiven – ein Leben in Würde, das
heute noch Millionen von Menschen in vielen Teilen der
Welt vorenthalten wird.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Sag doch mal was Konkretes!)


Um nicht missverstanden zu werden: Ein Leben in
Würde ist nicht allein eine Frage des Geldes. Ohne eine
verantwortungsvolle Regierungsführung – oder neu-
deutsch: „good governance“ – im Norden und im Süden
wird es keine ausreichenden Fortschritte bei der Bekämp-
fung des Hungers, der Armut und der Krankheiten in der
Welt geben.




Joachim Günther (Plauen)

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(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Kollege Hedrich und Herr Kollege Günther, Sie
haben so getan, als ob es hier tief greifende Unterschiede
zwischen Regierung und Opposition gäbe. Das ist alles
– es sei natürlich gestattet – Wahlkampfgetöse. Wahr ist,
dass es in der Zielsetzung überhaupt keine Unterschiede
gibt. Wahr ist auch, dass der Weg dahin ein steiniger Weg
ist. Aber, meine Herren Kollegen, jemand, der dafür ver-
antwortlich ist, dass die Aufwendungen im Bereich der
Entwicklungshilfe in Relation zum Bruttosozialprodukt
in seiner Regierungszeit um 2,2 Prozent gesenkt worden
sind, ist nicht geeignet, der Regierung, die die Trend-
wende eingeleitet hat, glaubwürdig Vorhaltungen machen
zu können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Bedarf zur Finanzierung der Entwicklungsziele ist
doppelt so hoch wie die derzeitigen internationalen Ent-
wicklungshilfeleistungen. Das heißt, dass weitere rund
53 Milliarden US-Dollar zu mobilisieren sind. Die inter-
nationale Gemeinschaft und auch wir in Deutschland
müssen alle Anstrengungen unternehmen – damit haben
wir bereits begonnen –, um diese notwendigen Mittel be-
reitzustellen.

Ich bin davon überzeugt, dass es in unserer Gesell-
schaft eine breite politische Übereinstimmung darüber
gibt, dass die Entwicklungszusammenarbeit einen wichti-
gen Part der Arbeit für den Frieden in derWelt darstellt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Zahl der Menschen, die sich, sei es in Verbänden oder
Organisationen, in Deutschland seit Jahren ehrenamtlich,
also in ihrer Freizeit, für die Menschen in den Entwick-
lungsländern einsetzen – vom Eine-Welt-Laden bis hin
zur Schuldenerlasskampagne –, ist beeindruckend groß.
Wir danken ihnen. Sie sollten uns Ansporn sein, dieses
Politikfeld stärker in den Vordergrund zu rücken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber es geht nicht allein um finanzielle Transfers. Es
muss zunehmend auch über Strukturreformen diskutiert
werden.

Es wurde bereits gesagt – wir unterstreichen dies –,
dass die Einkommenssituation der Entwicklungsländer
auch durch eine gerechtere Handelspolitik unterstützt
werden kann. Wir müssen die Handelsbarrieren beseiti-
gen. So müssen wir die Zölle auf verarbeitete Produkte
aufheben, damit die Entwicklungsländer nicht nur von
ihren Rohstofflieferungen abhängig sind.


(Beifall der Abg. Dr. Angelika Köster-Loßack [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Eine Marktöffnung allein reicht aber nicht aus. Wir
müssen auch die internationalen Institutionen reformie-
ren, damit die Entwicklungsländer in den internationalen
Organisationen, im IWF und in der Weltbank, auf gleicher
Augenhöhe mit den Industrieländern diskutieren, verhan-
deln und auch entscheiden können, und zwar zum Wohle
der Entwicklungsländer.

Ich glaube, dass wir noch viele Anstrengungen unter-
nehmen müssen, um die Reformprozesse auf der interna-
tionalen Ebene in Gang zu setzen. Aber dieser Tag ist ein
guter Tag für die Entwicklungspolitik: Die Regierung hat
sich auf die Aufstockung des Entwicklungshilfeetats ge-
einigt und die Reformen werden wir in den nächsten Jah-
ren in Angriff nehmen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das war das Wort zum Sonntag!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422500900
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Carsten Hübner, PDS-Fraktion.


Carsten Hübner (PDS):
Rede ID: ID1422501000
Herr Präsident! Frau Minis-
terin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es gleich
vorweg: Ich habe bei den Debatten zu diesem Thema im-
mer ein Problem. Ich achte sehr wohl die Anstrengungen
der Ministerin, weiß aber, dass in weiten Teilen der Re-
gierung die Verweigerungshaltung, nämlich die Weige-
rung, der Ministerin den Weg für ihre Forderungen zu be-
reiten, genauso intensiv ist. Daher ist es für mich nicht
immer leicht, den richtigen Adressaten meiner Kritik zu
finden.


(Gernot Erler [SPD]: Lobt einfach die Ministerin! Das ist doch viel besser! – Heiterkeit bei der SPD)


Ich komme nun zum Thema dieser Debatte und möchte
hier einen doch etwas anderen Tenor einschlagen. Nach-
dem die NGOs für ihr Engagement so gelobt worden sind,
möchte ich sie gleich zu Anfang einmal zu Wort kommen
lassen, Kollege Schlauch.

Der EED, der Evangelische Entwicklungsdienst, hat
bereits vor Wochen einen Bericht von Peter Lanzet in das
Internet gestellt. Lanzet hatte im Januar als Fachreferent
des EED an der Monterrey-Vorbereitungskonferenz in
New York teilgenommen. Bekanntlich wurde dort bereits
das Abschlussdokument der kommenden Konferenz, der
so genannte Monterrey-Konsens, verhandelt und verab-
schiedet.

Was Lanzet zu berichten weiß, unterscheidet sich von
den positiven Beurteilungen, die wir hier vonseiten der
Regierung und auch von Ihnen zu hören bekamen, doch
erheblich. Bereits die Überschrift seines Berichts verweist
in eine völlig andere Richtung. Zitat:

An einen Meilenstein glauben nur noch unverbesser-
liche Optimisten.

Denn schon, so Lanzet im Text weiter, „bei der Zielset-
zung der Konferenz“ endeten „die Gemeinsamkeiten“
zwischen den Entwicklungsländern und den Staaten des
Nordens. Darüber hinaus sei der Verhandlungsverlauf
durch eine zunehmend verhärtete Haltung der reichen
Länder in zentralen Fragen geprägt gewesen.

Er nennt dafür einige Fixpunkte: erstens die Tendenz
der reichen Länder, sämtliche Probleme der Entwick-
lungsfinanzierung in den Entwicklungsländern als deren




Rezzo Schlauch

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(C)



(D)



(A)



(B)


eigene, also nationale Probleme zu behandeln; zweitens
die Zurückweisung jeder Mitverantwortung der Industrie-
länder und der von ihnen kontrollierten internationalen
Finanzorganisationen sowie der WTO an Überschuldung,
wirtschaftlicher Instabilität und wenig entwickelten
Märkten in den Entwicklungsländern; drittens das Be-
streiten jeder Notwendigkeit für substanziellen, insti-
tutionellen und strukturellen Reformbedarf durch die
Industrienationen; viertens die Zurückweisung jeder Ver-
pflichtung, zusätzliche Mittel für die Entwicklungs-
zusammenarbeit oder die Entschuldung bereitzustellen,
und stattdessen das Pochen auf den Schutz von Privat-
investitionen, Privatisierung, Deregulierung, Währungs-
stabilität und die Liberalisierung des Handels.


(Unruhe bei der CDU/CSU)

– Sie brauchen nicht zuzuhören. Offenbar haben Sie die-
sen Text vorher nicht gelesen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

So treffe das vorläufige Abschlussdokument nur in völ-

lig unverbindlicher Weise Aussagen über Kernfragen
zukünftiger Entwicklungsfinanzierung, etwa zu den
Verhandlungszielen der in Doha vereinbarten neuen
Welthandelsrunde, zu privaten Direktinvestitionen, zum
Schuldenmanagement, zur Kontrolle und zur Reform der
internationalen Finanzinstitutionen, zur Erhöhung der
Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit, zur Not-
wendigkeit globaler Steuern wie der Tobin Tax oder zum
Follow-up der UNO-Konferenz selbst. Letztlich wieder-
hole der vorläufige Abschlusstext nur das, was in anderen
Dokumenten bereits enthalten sei. Von dem verkündeten
Aufbruch – auch Sie haben ihn hier beschworen –, von ei-
nem neuen Konsens sei nichts zu spüren. – So weit sinn-
gemäß Peter Lanzet. Ich verweise darauf, dass der Evan-
gelische Entwicklungsdienst nicht unbedingt eine kleine
oder irgendwie radikal geartete NGO ist.

Peter Lanzet steht mit seinen Bewertungen nicht allein
da. „Ein Minimalkonsens“, der weit hinter den Möglich-
keiten zurückbleibe, so nannte Jens Martens von der ent-
wicklungspolitischen Organisation WEED das Papier.
Statt verbindliche Schritte für einen internationalen Ent-
wicklungspakt festzulegen, drohe die Konferenz nun, in
ein „globales Dilemma“ zu führen, sagt zum Beispiel
Peter Eisenblätter von terre des hommes Deutschland.

Erwartungsgemäß gab es übrigens die größten Ausei-
nandersetzungen über den Punkt „öffentliche Entwick-
lungshilfe“. Am Ende wurden alle strittigen Passagen in
dem Papier einfach getilgt, um überhaupt zu einer Eini-
gung zu kommen. Insbesondere die USA haben in dieser
Frage jede konkrete Zusage konsequent verweigert. Auf
den Widerstand Washingtons stieß etwa die Forderung
nach einer umgehenden Verdoppelung der globalen Ent-
wicklungshilfe um 50 Milliarden Dollar. Selbst diese
Summe liegt bekanntlich noch deutlich unter den verein-
barten 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die für öf-
fentliche Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung
gestellt werden sollen. Aber warum in dieser Frage auf die
USA zeigen, wenn der eigene Finanzminister und der ei-
gene Schrumpfhaushalt so nahe sind und auch hier Mal
für Mal schöne Worte konkrete Taten ersetzen sollen?


(Beifall bei der PDS)


Frau Ministerin, lieber Kollege Schlauch, den Anteil
des Bruttoinlandsprodukts, der für öffentliche Entwick-
lungszusammenarbeit zur Verfügung gestellt werden soll,
bis 2006 auf 0,33 Prozent zu erhöhen bedeutet – ich habe
das ausgerechnet – eine Steigerung von 0,015 Prozent pro
Jahr. Bis Sie das Ziel von 0,7 Prozent erreichen, vergeht
eine Zeitspanne von 30 Jahren. Das ist wirklich eine
Glanzleistung.


(Joachim Günther [Plauen] [FDP]: Dann regieren sie ja nicht mehr! Das ist das Problem!)


Wie soll das Ziel des Millenniumgipfels vom Septem-
ber 2000 vor diesem Hintergrund umgesetzt werden? Wie
soll die Armut bis 2015 halbiert werden, wie soll sauberes
Trinkwasser Zigmillionen Menschen zur Verfügung ge-
stellt werden, wie sollen Schulbildung und eine Zukunfts-
chance für alle Kinder auf der Welt erreicht werden, wenn
sich die reichen Staaten der Erde beharrlich weigern, Un-
terentwicklung tatsächlich als ein globales Problem kon-
sequent anzugehen? Das zu tun, heißt konkret, endlich
vom Kuchen abzugeben. Es heißt noch mehr: die ganze
Bäckerei miteinander zu teilen.

Die Herausforderungen sind jedenfalls überwältigend.
Fast 1 Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu sau-
berem Wasser. Mehr als 850 Millionen Menschen können
nicht lesen und schreiben. Rund 826 Millionen Menschen
leiden an Hunger, Unter- und Mangelernährung. Fast
325 Millionen Kinder besuchen keine Schule – und wir
streiten uns hier um Peanuts!

Ich erwarte von der Bundesregierung konkrete Schritte
in Monterrey, aber insbesondere in dem, was danach folgt.
Ich nenne ein paar Aspekte, die das konkret verdeutlichen:
Zunächst einmal fordern wir die Bundesregierung auf, in
Monterrey eine Vorreiterrolle zu spielen, um das Ab-
schlussdokument, das bereits erarbeitet worden ist, für
weiterführende Schritte zur Entwicklungsfinanzierung
zu öffnen, konkrete Festlegungen und Fristensetzungen
zu unterstützen und eigene Initiativvorschläge für einen
gesicherten Follow-up-, also Nachfolgeprozess, einzu-
bringen. Darüber hinaus fordern wir sie auch auf, bei der
Gestaltung des Follow-up-Prozesses folgende Forderun-
gen mit Nachdruck zu unterstützen, voranzutreiben und
bei deren Umsetzung ebenfalls eine Vorreiterrolle einzu-
nehmen – inhaltlich gibt es zumindest in Bezug auf die
Aussagen der Ministerin keine Probleme; aber in Bezug
auf die Umsetzung umso mehr –:

Erstens. Die Implementierung des Ziels, 0,7 Prozent
des Bruttosozialprodukts für öffentliche Entwicklungs-
hilfeleistungen bereitzustellen, sollte bitte nicht erst in
30 Jahren stattfinden; denn vor 30 Jahren wurde dieses
Ziel verkündet. Das ist nicht die Geschwindigkeit, die wir
in diesem Bereich anstreben sollten.


(Beifall bei der PDS)

Zweitens. Ein verbindlicher Stufenplan zur Erhöhung

der ODA, also der öffentlichen Entwicklungshilfe, der in
einem ersten Schritt eine Verdoppelung der ODA-Leistung
anstrebt und dadurch eine Aufstockung um circa 50 Milli-
arden US-Dollar zur Einhaltung der Millenniumsziele er-
möglicht, ist im Rahmen der OECD aufzustellen.

Drittens. Die bestehenden finanziellen Abhängigkeiten
zwischen Nord und Süd sind durch neue Formen einer




Carsten Hübner
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(C)



(D)



(A)



(B)


vertraglichen Nord-Süd-Kooperation im Sinne eines Glo-
bal Deals von Grund auf zu ändern. Das sind genau die
Hoffnungen, die mit der Konferenz in Monterrey eigent-
lichen verbunden waren.

Viertens. Die Einführung einer Devisenumsatzsteuer
ist massiv zu befördern. Auch auf diesem Gebiet haben
wir in der Ministerin hinsichtlich der Inhalte hoffentlich
eine Partnerin.

Fünftens. Die HIPC-Entschuldungsinitiative ist auf
hoch verschuldete Entwicklungsländer mittleren Einkom-
mens auszudehnen.

Sechstens. Eine vollständige Entschuldung der am we-
nigsten entwickelten Länder ist durchzusetzen.

Siebtens. Ein internationales Schuldenmanagement ist
zu entwickeln und zu implementieren.

Es gibt noch weitere Punkte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist weit mehr, als

alle Ihre Anträge bieten und als das, was in den Reden an-
gedeutet worden ist. Aber es ist erst ein Anfang von dem,
was bitter nötig wäre.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422501100
Ich erteile Kollegin
Adelheid Tröscher, SPD-Fraktion, das Wort.


Adelheid Tröscher (SPD):
Rede ID: ID1422501200
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich, dass es heute zur zweiten Regierungs-
erklärung zur Entwicklungspolitik in der Geschichte der
Bundesrepublik gekommen ist.

Das, was es unter einer unionsgeführten Regierung nie
gegeben hat, hat die jetzige SPD-geführte Bundesregie-
rung zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren erreicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dies ist ein schöner Erfolg für die Ministerin und für uns.
Es ist zugleich ein Ausdruck dafür, dass wir der Entwick-
lungszusammenarbeit einen höheren Stellenwert gegeben
haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dazu bedarf es natürlich mancherlei Überzeugungs-
arbeit. Es ist doch klar, dass es innerhalb der Fraktionen
Diskussionen gibt, wo wer wie viel Geld bekommt. Aber
unsere Überzeugungsarbeit innerhalb der Fraktionen hat
für ein anderes Politikverständnis gesorgt. Der Erfolg, der
nun beim Treffen des Europäischen Rates in Barcelona
deutlich wird, gibt uns dabei Recht. Wir müssen bei an-
deren Mitgliedern der Bundesregierung und vor allen
Dingen auch innerhalb der Fraktionen sehr viel für unser
Verständnis von Entwicklungspolitik werben, darüber de-
battieren und andere davon überzeugen. Denn dann haben
wir bessere Ausgangspositionen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Debatte bietet daher eine gute Gelegenheit,
über Bilanz und Perspektive der deutschen Entwick-
lungspolitik zu reden. Das Ende des Ost-West-Konflik-
tes, die in den letzten Jahren beschleunigt voranschrei-
tende Globalisierung und nicht zuletzt der 11. September
2001 haben die Rahmenbedingungen für Entwicklungs-
politik entscheidend verändert. Daher muss Entwick-
lungspolitik für das 21. Jahrhundert als Teil globaler
Struktur- und Friedenspolitik verstanden und in enger
Zusammenarbeit mit Gesellschaft und Wirtschaft gestal-
tet werden. Wir haben dies seit 1998 konsequent um-
gesetzt und können nun zu Recht behaupten, dass
sich unsere Politik an den Zielsetzungen von sozia-
ler Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit,
politischer Stabilität und ökologischem Gleichgewicht
orientiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dass wir in den letzten dreieinhalb Jahren ein gutes
Stück vorangekommen sind, zeigen eine Vielzahl neuer
Initiativen:

Wir haben ein nationales Aktionsprogramm zur Hal-
bierung der weltweiten Armut aufgelegt. Der Bundes-
kanzler steht dahinter und wird uns hoffentlich weiter so
wie bisher unterstützen. Wir haben es erarbeitet und
beschlossen. Darin wurde festgelegt, dass die gesamte
Politik der Bundesregierung der Armutsbekämpfung ver-
pflichtet ist, nicht nur die Politik des Ressorts Entwick-
lungspolitik, sondern die aller Ressorts.

Wir haben auf dem Kölner Gipfel 1999 eine Entschul-
dungsinitiative angestoßen, auf deren Basis erweiterte, an
das Ziel der Armutsbekämpfung gekoppelte Entschul-
dungsmöglichkeiten für die ärmsten und höchstver-
schuldeten Entwicklungsländer gefunden wurden und
eine armutsorientierte Kooperationspolitik von IWF und
Weltbank durchgesetzt werden konnte. Eine Anhörung
unseres Ausschusses zusammen mit dem Finanzaus-
schuss und dem Auswärtigen Ausschuss, bei der Vertreter
von IWF und Weltbank, genauer gesagt: Wolfensohn und
Köhler, anwesend waren, hat es vorher überhaupt noch
nicht gegeben. Der Stellenwert von Entwicklungspolitik
ist also ganz enorm gestiegen.

Wir haben unser Engagement bei der internationalen
Bekämpfung von Aids verstärkt und Mittel dafür mobili-
siert, dies nicht nur unter dem Dach der Vereinten Natio-
nen, sondern auch in Zusammenarbeit mit anderen Part-
ner- und Geberländern sowie in Kooperation mit der
privaten Wirtschaft. Das ist, wie ich finde, ein sehr gutes
Zeichen.

Wir haben ein Gesamtkonzept erarbeitet, in dem Kri-
senprävention, Konfliktlösung und Friedenskonso-
lidierung im Kontext eines erweiterten Sicherheits-
begriffs verstanden werden. Dabei kommt der
Entwicklungspolitik mit ihrem Beitrag zu politischer,
ökonomischer, ökologischer und sozialer Stabilität eine
tragende Rolle zu.

Wir haben uns für eine gerechtere, sozialere und
ökologisch orientierte Welthandelsordnung, die auch
die Interessen der Entwicklungsländer berücksichtigt,




Carsten Hübner

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(C)



(D)



(A)



(B)


eingesetzt. Wir alle wissen, dass wir hier noch einen wei-
ten Weg vor uns haben. Doch die Anfangssignale sind po-
sitiv und wir können daran weiterarbeiten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben den zivilen Friedensdienst als friedenspoli-
tisches Instrument gestärkt, das den gewaltfreien Umgang
mit Konflikten unterstützt.

Wir haben uns besonders für einen erfolgreichen Ab-
schluss des Cotonou-Abkommens eingesetzt. Das gibt
den afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten,
den AKP-Staaten, wiederum sehr viel mehr Sicherheit für
die nächsten Jahre und hilft auch der Krisenprävention.

Wir haben eine neue Initiative für Klimaschutz, zur
Bekämpfung der Wüstenbildung, für biologische Sicher-
heit sowie zur Entschärfung von Konflikten um Wasser-
ressourcen auf den Weg gebracht.

Über all diese Punkte hinaus haben wir zahlreiche
Maßnahmen ergriffen, die zum Ziel haben, Frauenrechte
zu stärken, Menschenrechte zu achten und die zuneh-
mende Spaltung der Welt in Arm und Reich zu verhindern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Von all diesen Dingen, die in den letzten dreieinhalb
Jahren auf den Weg gebracht worden sind, scheint aller-
dings die CDU/CSU-Fraktion bisher noch nichts gehört
zu haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere
Entwicklungspolitik der letzten dreieinhalb Jahre weist,
wie ich meine, eine exzellente Bilanz auf. Dabei steht für
uns zuvörderst die Erkenntnis, dass die meisten Probleme
der Entwicklungsländer zugleich globale Herausforde-
rungen darstellen. Die zunehmende Armut, das immer
noch anhaltende Bevölkerungswachstum, die Ausbrei-
tung von Aids sowie der Klimawandel und die Verknap-
pung von Wasservorräten müssen als Bedrohung für uns
alle begriffen werden. Sie sind wesentliche Ursachen für
gesellschaftliche Spannungen, gewaltsame Konflikte,
Flucht und Vertreibung. Diese Probleme entfalten eine
globale Dynamik, die letztlich Frieden und Stabilität welt-
weit gefährden können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unser entwicklungspolitischer Ansatz ist vom Bewusst-
sein und der Notwendigkeit der sozialen und ökologi-
schen Gestaltung geprägt. Ziel unserer Politik ist es, zur
Schaffung menschenwürdiger Lebensverhältnisse aller
Menschen beizutragen. Das bedeutet für uns Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten: Wir treten für soziale Ge-
rechtigkeit, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Frieden
und Menschenrechte sowie den Erhalt natürlicher Res-
sourcen ein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Armutsbekämpfung selbst bleibt überwölbendes Ziel
unserer Politik.

Doch die Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe
kann nicht allein vom Staat geleistet werden. Sie erfordert
die Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte. Deshalb
müssen wir auf allen Ebenen die Zusammenarbeit mit der
Zivilgesellschaft und der privaten Wirtschaft intensivie-
ren. Ich kann nur sagen: Die Zusammenarbeit mit der Zi-
vilgesellschaft haben wir im Haushalt großzügig bedacht.
Wir werden unser Auge darauf haben, dass dies auch wei-
terhin geschieht. Die Zusammenarbeit mit der privaten
Wirtschaft – Sie haben es von der Ministerin gehört – hat
sich positiv gestaltet. Sie wird sich weiter ausdehnen und
einen guten Beitrag leisten.

Bilanz zu ziehen heißt aber gleichzeitig, Perspektiven
unserer Politik aufzuzeigen. Wir werden mit unserer Po-
litik der globalen Verantwortung auch in den nächsten
Jahren fortfahren. Dies bedeutet, wir werden Armut
bekämpfen, Frieden sichern und die Globalisierung sozial
gerecht und ökonomisch gestalten.

Die Mitgestaltung internationaler Regelwerke, die Un-
terstützung von Strukturveränderungen in den Partnerlän-
dern, aber auch die Reform entwicklungspolitischer
Strukturen bei uns in Deutschland, die Zusammenführung
von Institutionen in Bonn beispielsweise, sind für uns
zentrale Ansatzpunkte.

Es wird dabei auf Folgendes ankommen:
Erstens müssen wir unsere Armutsbekämpfung wei-

ter intensivieren und bis zum Jahr 2015 den Anteil der
Menschen, die in extremer Armut leben, halbieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens. Weltumspannende internationale Strukturen
bestimmen zunehmend die Möglichkeit, nachhaltige Ent-
wicklung zu verwirklichen. Dies wird besonders bei den
Diskussionen über Verschuldung, Welthandelsordnung,
internationale Sozialstandards und internationale Um-
weltnormen deutlich. Wenn wir letztlich einen langfristig
tragbaren Interessenausgleich haben wollen, dann müssen
auch die Entwicklungs- und Transformationsländer ihre
Interessen berücksichtigt sehen, indem sie diese Regel-
werke und ihre Institutionen selbst bestimmen und mit-
gestalten. Dies bedeutet, wir müssen uns um mehr Kohä-
renz bemühen, insbesondere in der Handels-, Wirtschafts-
und Agrarpolitik. Wir dürfen dabei die Frage der Reform
der internationalen Finanzmärkte und Finanzinstitutionen
nicht vergessen.

Auch Monterrey ist hier ein wichtiges Signal. Natür-
lich wollten wir mehr, natürlich üben wir Kritik an dem
Abschlussdokument. Aber wir haben hier einen Anfang
gesetzt und das ist wichtig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir gehen also gut vorbereitet nach Monterrey in Me-
xiko – für die, die noch nicht wissen, wo es liegt.

Drittens. Ich denke bei diesem Punkt insbesondere an
meinen Freund Werner Schuster. Wir dürfen Afrika nicht
zu einem vergessenen Kontinent werden lassen. Afrika
bleibt daher im Mittelpunkt unserer Bemühungen um




Adelheid Tröscher
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(C)



(D)



(A)



(B)


Armutsbekämpfung, die Stärkung von Demokratie und
Menschenrechten und den Abbau krasser sozialer Un-
gleichheiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Viertens. Wir brauchen weltweit eine Verbesserung
und Verbreiterung der Finanzierungsbasis für nachhal-
tige Entwicklung und für globale öffentliche Güter. Nur
so können wir unsere Politik auf Dauer effizienter, wirk-
samer gestalten; denn ohne eine verlässliche Entwick-
lungsfinanzierung ist eine Politik der globalen Verant-
wortung und deren Umsetzung nicht erreichbar. Wir sind
damit auf einem guten Weg.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422501300
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1422501400
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Zu Beginn Ihres Elften Be-
richts zur Entwicklungspolitik schreibt die Bundes-
regierung richtigerweise:

Niemals zuvor waren deshalb die Voraussetzungen
günstiger, die in vielen Teilen der Welt noch immer
bedrückende Armut zu überwinden, die natürlichen
Ressourcen zu bewahren und die Grundlagen für
eine friedlichere Welt zu schaffen.

Doch heute müssen wir feststellen, dass diese entwick-
lungspolitische Gunst der Stunde bisher nicht genutzt
werden konnte. Trotz aller Erfolge in Teilgebieten gehen
die Tendenzen der wichtigsten Parameter nämlich genau
in die falsche Richtung:


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die absolute Armut wächst, die Ungleichheiten zwischen
Nord und Süd und innerhalb der Entwicklungsländer
wachsen, die Anzahl der Krisenherde nimmt keinesfalls
ab und die Umweltzerstörung geht dramatisch weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Carsten Hübner [PDS])


Meine Damen und Herren, in der Tat stammen die Ter-
roristen vom 11. September nicht aus den Slums. Aber je-
dem, auch dem Mann auf der Straße, ist klar geworden,
dass wir unseren Wohlstand und Frieden auf Dauer nur
bewahren können, wenn Hunderte von Millionen Men-
schen in den Entwicklungsländern für sich und ihre Kin-
der mehr Perspektiven als bisher sehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Entwicklungspolitik muss sich nach dem 11. Septem-
ber einer breiteren Diskussion stellen. Deswegen ist es
gut, dass wir uns im Bundestag erneut kritisch mit der
Entwicklungspolitik auseinander setzen.

Herr Schlauch, wären Sie nicht bei den Grünen, hätte
ich bei Ihrer Rede sicherlich öfter klatschen können;


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Ich habe gelegentlich geklatscht! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das spricht für Ihre Souveränität!)


denn wir sind uns in der Zielsetzung einig. Aber auch hier
steckt der Teufel im Detail und es gibt eine große Diskre-
panz zwischen Papier und Realität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann sich jeder ins Stammbuch schreiben!)


Herr Erler, auch durch die unübersehbare Arroganz am
Anfang Ihrer Rede lassen wir uns nicht beeindrucken. Wir
werden natürlich die offensichtlichen Schwächen der Re-
gierungsarbeit kritisieren. Diese Kritik beginnt mit dem
Umfang der Entwicklungszusammenarbeit. Ich bin im-
mer wieder verblüfft, was verschiedene Menschen aus ein
und demselben Zahlenmaterial machen können.

Frau Ministerin, Sie sind wirklich eine Meisterin im
Werfen von Nebelkerzen.


(Erika Lotz [SPD]: Was? Das ist eine Unterstellung!)


Sie haben den Wahlkampf 1998 gemeinsam mit dem da-
maligen Kanzlerkandidaten Schröder ganz unbestreitbar
mit dem Versprechen geführt, die Entwicklungsmittel zu
erhöhen. Im Wahljahr 2002 müssen wir feststellen, dass
diese Mittel um 7 Prozent geringer als im Jahr 1999 sind.
Das ist die Wahrheit, die Sie aushalten müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich bin sicher, dass auch unsere Kritik sowie die Kritik der
Kirchen und der Nichtregierungsorganisationen dafür ge-
sorgt haben, dass Ihr Haushalt nicht noch mehr zum Stein-
bruch wurde. Deswegen werden wir auch weiterhin den
Finger in diese Wunde legen.


(Erika Lotz [SPD]: Sie kennen die Zähigkeit der Ministerin nicht!)


Wir von der CDU/CSU haben unsere Hausaufgaben als
Opposition gemacht.


(Rudolf Bindig [SPD]: Sie hatten Ihre Hausaufgaben in der Regierung nicht gemacht!)


Wir haben in unserer Fraktion einen Antrag verabschie-
det, der uns bindet, in zehn Jahren schrittweise das
0,7-Prozent-Ziel zu erreichen. Sie dagegen haben Fach-
leute und Öffentlichkeit in den letzten Jahren mit immer
neuen Programmen zum Narren gehalten, die zwar voll-
mundige Überschriften trugen, aber mit der finanziellen
Wirklichkeit in keiner Weise etwas zu tun hatten. Selbst
Ihre Entschuldungsinitiative ist mittlerweile stecken ge-
blieben.


(Detlev von Larcher [SPD]: Was?)

Ich warne auch davor, die Diskussion um die Tobin-

steuer als Ablenkungsmanöver zu benutzen. Wir beteili-
gen uns gerne – das sage ich ehrlich und offen – an einer




Adelheid Tröscher

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(A)



(B)


ergebnisoffenen Diskussion über neue Finanzierungs-
quellen; auch wir wollen mehr Geld für die Ent-
wicklungspolitik. Aber es muss eine seriöse Diskussion
sein. Solange die meisten Industrieländer in Wirklich-
keit gar nicht daran denken, Herr Bindig, bei solchen
globalen Steuern mitzumachen, ist diese Diskussion un-
seriös.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422501500
Kollege Ruck, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Larcher?


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1422501600
Ja.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das hätte ich nicht getan!)



Detlev von Larcher (SPD):
Rede ID: ID1422501700
Herr Kollege, da Sie wie
vorher unser Kollege von der FDP auf die Tobin Tax zu
sprechen gekommen sind, frage ich Sie, ob Sie mir zu-
stimmen, dass das Gutachten, von dem die Ministerin ge-
sprochen hat, nachweist, dass die Tobin Tax erstens ge-
eignet ist, die größten Ausschläge auf den Finanzmärkten
zu glätten – es ist natürlich kein Instrument, das ganz al-
lein Ordnung auf den Finanzmärkten schaffen könnte –,
dass es zweitens sehr wohl möglich ist, in einer Zeitzone
wie zum Beispiel in Europa die Tobin Tax einzuführen,
und dass drittens die Finanzmärkte London, Frankfurt und
Zürich nach Einführung dieser Steuer keineswegs aus-
wandern würden.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1422501800
Ich wiederhole,
dass wir über neue Finanzierungsmechanismen weltweit
nachdenken müssen.

Ich habe mich auch mit dem Gutachten beschäftigt.
Die KfW hat dazu eine Veranstaltung durchgeführt, bei
der ich zugegen war. Dabei kamen auch die möglichen
Gefahren zur Sprache. Ich muss nicht unbedingt die Auf-
fassung der Gutachter teilen. Ich gebe ihnen aber insoweit
Recht, als es theoretisch möglich wäre, diese extremen
Schwankungen zu dämpfen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Leicht gemindert!)


Aber bei dieser Diskussion ist auch deutlich geworden,
dass erhebliche Risiken bestehen, wenn zu viele wichtige
Länder nicht mitmachen. Ich kenne bisher nur zwei euro-
päische Länder, die sagen würden: Wenn alle mitmachen,
machen wir auch mit. Genau das ist der Punkt: Das ist zu
wenig.


(Rudolf Bindig [SPD]: Dann dürfen wir nicht alle sagen: Wir beteiligen uns nicht!)


Ich bin der Überzeugung, dass der Deutsche Bundes-
tag und auch die Bundesregierung nicht um die Arbeit
herumkommen, in den Haushalten der nächsten Jahre
mehr Mittel zur Verfügung zu stellen, weil wir an der
Schwelle zur Handlungsunfähigkeit stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Auch wenn die Bundesregierung gerade noch die
Kurve zu der Erklärung zur nationalen Mindestquote von
0,33 Prozent des Bruttosozialprodukts bis zum Jahre 2006
gekriegt hat, so ist dies erstens nur der Anfang und zwei-
tens steht dies nur auf dem Papier, wie so vieles, was uns
die Bundesregierung vorgelegt hat.


(Detlev von Larcher [SPD]: Na, na, na!)

Aber bei einer seriösen Diskussion geht es nicht nur um

Masse, sondern auch um Klasse, also um die Frage nach
konzeptionellen und qualitativen Fortschritten in der
Entwicklungspolitik. Auch dies sehen wir kritisch. Die
Idee einer regionalen und sektoralen Schwerpunktsetzung
ist zwar richtig, aber die rot-grüne Variante ist ein Schuss
nach hinten. Ausgerechnet unter Rot-Grün gerät unsere
Zusammenarbeit beim Umwelt- und Ressourcenschutz in
immer mehr Ländern trotz der zum Teil existenziellen
Umweltprobleme in Bedrängnis.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Leider!)

Ausgerechnet ein Kernbereich der Hilfe zur Selbsthilfe

und der langfristigen Armutsbekämpfung, nämlich der
Sektor Bildung und Ausbildung, hat die meisten Regie-
rungsverhandlungen der jüngsten Vergangenheit nicht
überlebt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ein Skandal!)

Ein elementarer Punkt bei der Aufbereitung des

11. September 2001 ist für mich die gezielte Unterstüt-
zung von Entwicklungsländern beim Einklinken in den
Globalisierungsprozess. Eswurde von denHandlungsbar-
rieren berichtet, die zu beseitigen sind. Das halte ich auch
für richtig.Aber wenn ich in den Entwicklungsländern auf
extrem schwache Institutionen, auf einen völlig unzurei-
chenden Bankensektor, auf ein nicht vorhandenes Rechts-
wesen, auf ein korruptes Zollsystem, auf ein kaputtes
Polizeiwesen sowie auf ein nicht vorhandenes Schul-
wesen stoße, kann ich die Barrieren noch so weit beseiti-
gen: Diese Entwicklungsländer haben davon gar nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir haben in dieser Hinsicht viele Vorschläge gemacht.
Sie sind leider kaum darauf eingegangen. Das halten wir
für einen strategischen Fehler.

Auch auf die Frage, Frau Ministerin, wie die Entwick-
lungspolitik gegenüber islamisch geprägten Ländern
– zum Teil auch mit zweifelhafter Regierungsführung –
nach dem 11. September 2001 besser greifen kann, ist Ih-
nen in meinen Augen nichts Substanzielles eingefallen.
Die Sprachlosigkeit der Kulturen muss auch in der kon-
kreten Entwicklungspolitik überwunden werden. Dabei
stehen wir erst am Anfang, wobei dies noch positiv aus-
gedrückt ist.

Ein Stichwort – das haben wir auch schon öfter in die
Debatte eingebracht – ist, dass unser Instrumentarium zu
schwerfällig ist. Es muss flexibilisiert werden, vor allem in
Umbruchzeiten. Der jugoslawische Minderheitenminister
hat erst in dieser Woche noch einmal erklärt, sein Land
brauche keine neuen runden Tische, keine Konferenzen,
sondern konkrete und schnelle Hilfe. Diese müssen wir
auch anbieten. Wir brauchen schnellere und konkretere




Dr. Christian Ruck
22342


(C)



(D)



(A)



(B)


Hilfe für demokratische Wackelkandidaten zum Beispiel
in Form der Ausweitung der Stiftungsarbeit.

Ein weiterer struktureller Schwachpunkt rot-grüner
Entwicklungspolitik ist ihr Hang zum Multilateralismus.
Dies ist für mich derzeit ein immer größer werdendes
Steuergeldergrab, das Unsummen verschlingt, aber große
Effizienzschwächen aufweist, und zwar deshalb, weil
Deutschland zu wenig Einfluss auf das Geschehen nimmt.
Es genügt nicht, mit Herrn Wolfensohn ein Paket zu Aids
und Gesundheit zu schnüren, wenn es eklatante Umset-
zungsschwierigkeiten gibt, weil das Paket zu kompliziert
ist. Das gilt leider auch für die globale Umweltfazilität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unsere Forderung an Rot-Grün lautet deshalb: Geben

Sie wieder mehr Geld in die eigene bilaterale Zusammen-
arbeit und sorgen Sie gleichzeitig dafür, dass mit der Ver-
gabe von Mitteln an internationale Organisationen auch
der entsprechende deutsche Einfluss auf die Politik ein-
hergeht.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Damit komme ich zum dritten Problembereich, näm-

lich der Kohärenz und Koordination. Auch dies sind
schwierige Aufgaben. An diesen Problemen können all
die gut gemeinten Projekte der Entwicklungspolitik, ge-
rade auch bei der Armutsbekämpfung, scheitern. Simbab-
we ist ein klassischer Fall. Ein blühendes Land, das sich
wirtschaftlich absolut auf dem Höhenflug befindet, wird
durch „bad governance“ und nicht durch fehlende ländli-
che Entwicklungsprojekte ruiniert. Mugabe konnte dies
tun, weil der Westen nicht geschlossen war und politisch
nichts riskierte. Die deutsche Außenpolitik ließ die deut-
sche Entwicklungspolitik im Regen stehen. Das geschah
bezüglich vieler Orte, und zwar gerade auch in Afrika,
nämlich im Sudan, an den Großen Seen und anderswo.

Das Gleiche gilt für die Themen, die Herr Schlauch
vorhin angesprochen hat, nämlich den Umwelt- und Res-
sourcenschutz und den Tropenwald. Ausgerechnet die
grüne Spitze der Außenpolitik hat dort keinen Finger
krumm gemacht, um die Entwicklungspolitiker zu unter-
stützen. Eine Entwicklungspolitik ohne Unterstützung
von Kanzleramt und Außenministerium läuft ins Leere.
Mein Fazit ist daher: Frau Ministerin, Sie hüpfen zwar
medienwirksam von Ast zu Ast,


(Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin: Der arme Ast, das würde ihm nicht gut tun!)


wer aber hinter die Kulissen sieht, erkennt, dass Sie be-
währte Rezepte verwässert und schlüssige Konzepte für
neue Herausforderungen nicht durchgesetzt haben. Unter
Rot-Grün hat die deutsche Entwicklungspolitik


(Detlev von Larcher [SPD]: Fortschritte gemacht!)


national wie international an Gewicht verloren.

(Erika Lotz [SPD]: Ist doch nicht wahr!)


Wir fahren mit leeren Händen nach Monterrey

(Rita Grießhaber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!)


und müssen alles tun, damit wir wenigstens zur Konferenz
Rio + 10 in Johannesburg konzeptionell und finanziell ei-
nigermaßen vorbereitet anreisen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Detlev von Larcher [SPD]: Das sehen viele Leute anders als Sie, Herr Kollege! – Erika Lotz [SPD]: Sie sind doch sonst ein so seriöser Mensch!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422501900
Ich erteile der Kolle-
gin Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Ich muss dem Kollegen Christian Ruck wegen der
Kritik an Joschka Fischer energisch widersprechen; denn
der Minister hat natürlich ein sehr gutes Wahrnehmungs-
vermögen für die Probleme, die Sie angesprochen haben.
Ich muss auch die Ministerin in Schutz nehmen. In den
letzten drei Jahren haben wir in der Öffentlichkeit einen
sehr viel größeren Wahrnehmungspegel für die Entwick-
lungspolitik erreicht


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wo?)

als in all den Jahren zuvor.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wer kennt die Ministerin?)


Angesichts der äußerst schwierigen Lage in vielen Ent-
wicklungsländern vergessen wir aber häufig – auch in die-
sem Fall –, dass wir bereits eine ganze Menge erreicht ha-
ben. Darauf wurde auch schon eingegangen. In den
letzten Jahrzehnten konnten wir – auch aufgrund ent-
wicklungspolitischer Kampagnen – die allgemeine Le-
benserwartung weltweit insgesamt steigern und die Kin-
dersterblichkeit senken. Selbst die absolute Zahl der
Hungernden ging zurück.

Vor dem Elend, das es in der Welt noch reichlich gibt,
dürfen wir nicht erstarren. Wir müssen selbstbewusst han-
deln und konkrete Beiträge zur Verhinderung internatio-
naler Krisen leisten. Hilfe kann dabei – das haben wir ge-
lernt – immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Wir werden
uns diese so verstandene Hilfe mehr kosten lassen müssen
als bisher, weil nur so unsere Zukunft gesichert werden
kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesrepublik wird bis 2006 mindestens

0,33 Prozent des Bruttosozialprodukts für die Entwick-
lungszusammenarbeit ausgeben. Das ist auch ein Erfolg
der Bemühungen, die wir von der entwicklungspoliti-
schen Seite her im Rahmen des Regierungshandelns und
der parlamentarischen Arbeit unternommen haben, und
zwar nicht erst seit gestern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Konferenz in
Monterrey bietet eine gute Gelegenheit, eine grundsätz-
liche Weichenstellung für die Armutsbekämpfung, die
nachhaltige Entwicklung und die Krisenprävention vor-
zunehmen; denn zum ersten Mal steht die Gesamtheit der




Dr. Christian Ruck

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(C)



(D)



(A)



(B)


wirtschaftlichen Nord-Süd-Beziehungen auf der Tages-
ordnung. An einer wichtigen Stelle taucht im Entwurf des
Monterrey-Konsenses die Mobilisierung der heimischen
Finanzmittel und die Erhöhung der privaten Direktinves-
titionen auf. Gute Regierungsführung, Rechtsstaatlich-
keit, funktionierende Steuer- und Budgetsysteme, also
auch die Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer,
werden in den Mittelpunkt gerückt. Sie sind die Grund-
lage für eine zukunftsfähige Entwicklung.

Dies kann aber nicht bedeuten, dass wir den schwarzen
Peter nur an die Betroffenen weiterreichen und die Ver-
antwortung für Fehlentwicklungen des Globalisierungs-
prozesses im Norden von uns weisen. Entwicklung bedarf
vielfältiger Anstrengungen. Geld aus dem Norden, Struk-
turreformen im internationalen Finanzsystem, Handel
und Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer müssen
Hand in Hand gehen; denn Entwicklung ist ein dynami-
scher Prozess.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Entwicklungszusammenarbeit muss sich vorrangig
auf gute Regierungsführung, die Ausbildung effizienter
Steuer- und Finanzsysteme und die Korruptionsbekämp-
fung stützen. Hierbei gilt es zu beachten, dass es sich auch
in den Entwicklungsländern um politische Systeme mit
einer Menge von ganz unterschiedlichen Akteuren han-
delt. Durch externe Rahmenbedingungen, die wir setzen,
und besonders auch durch die Politik des Internationa-
len Währungsfonds wurden bisher nur bestimmte politi-
sche Gruppen in den Entwicklungsländern einseitig be-
günstigt.

Ich nenne zwei Beispiele. Eines ist Argentinien, wo
sich Carlos Menem, der frühere Chef des Landes, so lange
an der Macht halten konnte, weil er sich auf ein von außen
inspiriertes und mitgetragenes Währungssystem der Dol-
larparität stützte, das sich jetzt allerdings als Fiasko er-
weist. Der brasilianische Präsident Fernando Henrique
Cardosa hat zweimal hintereinander die Wahlen in seinem
Land gewonnen, weil es den so genannten Plan Real gab,
ein Währungsregime, das stärker als jedes andere zuvor
von internationalen Kapitalflüssen abhängig ist. Argenti-
nien löst sich nun im Finanzchaos auf. Irgendjemand
muss die Rechnungen bezahlen. Für die Deckung der Her-
mes-Bürgschaften in Argentinien werden das wohl die
deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sein. Aber
die Hauptlast der Verschuldung hat die argentinische Be-
völkerung zu tragen.

Ich bin froh, dass in die internationale Debatte auch
hier endlich Bewegung gekommen ist; denn eine stärkere
Einbeziehung des Privatsektors bei der Lastenübernahme
von Entschuldung muss umgesetzt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


An einem fairen und transparenten Entschuldungsverfah-
ren, dem so genannten internationalen Insolvenzrecht,
wird nun auch im IWF gearbeitet. Auch der Internationale
Währungsfonds beschäftigt sich endlich damit. Wir als
Fraktion und als Partei haben uns schon seit langer Zeit
dafür stark gemacht.

Lassen Sie mich im Hinblick auf die Monterrey-Kon-
ferenz einen letzten Punkt nennen: innovative Finanz-
instrumente zur Steuerung von Globalisierungsprozes-
sen und zur Erschließung zusätzlicher Finanzquellen. Die
Globalisierungsprozesse haben dazu geführt, dass viele
nationale Politikinstrumente stumpf geworden sind. Den
neuen Herausforderungen wie der stärkeren Betonung
von Krisenprävention und sozialer Gerechtigkeit können
sie nicht mehr Rechnung tragen. Deshalb fordern wir ein
Gegensteuern durch die international koordinierte Erhe-
bung von Entgelten, von Steuern und Abgaben zum
Schutz und zur Finanzierung globaler öffentlicher Güter
wie Umwelt, Gesundheit und Stabilität des internationa-
len Finanzsystems.

Die Studie von Herrn Professor Spahn, die im Auftrag
des BMZ erstellt wurde, wurde schon angesprochen. Den
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der
FDP biete ich die Internetadresse an, unter der sie das
Gutachten herunterladen können, damit sie nicht wie die
Berliner Drehorgelspieler immer wieder die gleichen Ar-
gumente gegen eine Tobinsteuer herunterleiern müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


James Tobin, ein großer Ökonom, der bedauerlicher-
weise in dieser Woche verstorben ist, wird dieses Laien-
spiel ohnehin nicht gerecht. Tobin wusste selbst, dass die
Entwicklung freier Märkte auch staatlicher Lenkungsin-
strumente bedarf – nicht mehr und nicht weniger. Wer ge-
sehen hat, dass Währungsspekulationen in zweistelliger
Milliardenhöhe an einem Tag Entwicklungschancen für
Jahrzehnte zunichte machen können, weiß effiziente Mit-
tel zu schätzen, durch die einer Kasinowirtschaft zuguns-
ten von Handel und Investitionen Grenzen gesetzt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wie sagte Michel Camdessus, der Sonderbeauftragte
des UN-Generalsekretärs für die Konferenz in Monterrey,
neulich bei uns im Ausschuss so schön? „Die Vorschläge
zu innovativen Finanzinstrumenten waren für manche
Teilnehmer zu kreativ und fanden deshalb keinen Eingang
ins Schlussdokument.“ Gleichzeitig geht aber auch Herr
Camdessus davon aus, dass in Monterrey über weiter rei-
chende Vorschläge gesprochen wird.

Wir werden jedenfalls als Koalition auch in Zukunft
mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeit zur Ver-
fügung stellen. Wir werden die internationale Debatte zur
Entwicklungsfinanzierung mit weiteren innovativen Vor-
schlägen vorantreiben. Wir sind auf einem guten Weg.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1422502000
Nun hat Kollege Peter
Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1422502100
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! In einer entwicklungs-




Dr. Angelika Köster-Loßack
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(C)



(D)



(A)



(B)


politischen Debatte ist es richtig, zunächst einmal das
Gute festzustellen.


(Detlef Dzembritzki [SPD]: Hört! Hört!)

Zwischen Regierung und Opposition gibt es – übrigens

nicht erst seit 1998, sondern auch davor – weitgehende
Einigkeit über die Zielsetzungen, den präventiven Cha-
rakter und die friedenstiftende Wirkung der Entwick-
lungszusammenarbeit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Detlef Dzembritzki [SPD]: Nun bleiben Sie einmal friedenstiftend!)


Was aber viele Menschen, die sich für die Entwick-
lungszusammenarbeit und die Bekämpfung von Hunger
und Armut in der Welt engagieren, mittlerweile schier zur
Verzweiflung treibt, ist die riesige Diskrepanz zwischen
dem, was an Programmen und Regierungserklärungen
vorgetragen wird, und der Realität, die sie in dieser Welt
vorfinden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn man die Realitäten betrachtet, muss sich in einer
entwicklungspolitischen Debatte wie heute mancher, der
hört, was die Vertreter der Regierungskoalition vortragen,
vorkommen wie in einer Märchenstunde.


(Ulrich Heinrich [FDP]: Aber wirklich!)

Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist
unter Rot-Grün noch größer geworden, als sie vorher oh-
nehin schon war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Erler, man kann das auch nicht mit dem

Hinweis wegstecken, es sei buchhalterisch und klein ka-
riert, wenn man nach Zahlen fragt. Nein, Politik wird dann
konkret, wenn man in den Haushalt sieht. Den Worten
müssen Taten folgen. Die Taten zeigen sich in den Zahlen
des Haushaltes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Frau Bundesministerin kann es drehen und wenden
und aus der sinkenden Entwicklungshilfe noch eine höhere
ODA-Quote herausrechnen, Fakt ist: Der Anteil des Bun-
desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung am Bundeshaushalt ist von 1,68 Prozent im
Jahre 1998 auf 1,49 Prozent im Jahr 2002 gesunken. Das
ist das Gegenteil von dem, was Rot-Grün zu Beginn ihrer
Amtszeit angekündigt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Verantwortungslos! Probleme gestiegen und Mittel gekürzt!)


Verehrte Frau Ministerin, Ihnen ist im Laufe ihrer po-
litischen Karriere einmal die Bezeichnung „die rote
Heidi“ verliehen worden. Ich finde, diese Bezeichnung
müsste Ihnen heute neu verliehen werden für die Scha-
mesröte, die Ihnen angesichts des Desasters der rot-grü-
nen Entwicklungspolitik, das Sie zu verantworten haben,
ins Gesicht steigen müsste.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Besser als der schwarze Peter! – Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Uns ist die rote Heidi lieber als der schwarze Peter!)


Ständig kommen von Ihnen neue Papiere, neue Konzepte,
neue Programme und neue Projekte – Sie haben sie auch
vorgetragen und vorgelesen –, aber die inhaltliche Konsis-
tenz der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ist eher
verloren gegangen, als dass sie an Profil gewonnen hätte.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Erwähnt worden ist schon die so genannte Schwer-

punktsetzung in der deutschen Entwicklungszusammen-
arbeit. So wurde das Aktionsprogramm 2015 zur Hal-
bierung der weltweiten Armut genannt. Was ist daraus
geworden? Kaum sind die Konzepte veröffentlicht, sind
sie schon zerfleddert. Ihre Länderliste wird ständig korri-
giert. Die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen sind reine
Zufälligkeiten. Kollege Ruck hat schon vorgetragen, was
unter dem Gesichtspunkt der Armutsbekämpfung, den wir
als wichtigste Zielsetzung ansehen, alles unter die Räder
gerät. Ich nenne den Schwerpunkt Bildung, der bei den
37 Schwerpunkt-Partnerländern, mit denen wir mittler-
weile Verträge haben, gerade noch viermal und bei den
33 Partnerländern gerade noch einmal vorkommt.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Unglaublich!)

Zielgerichtete Armutsbekämpfung erreicht man nicht

mit Zufälligkeiten, sondern nur mit einer klaren entwick-
lungspolitischen Strategie.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben sich für das Aktionsprogramm 2015 heute er-
neut belobigt. Ich will daran erinnern: Vor einem Jahr ha-
ben Sie das Programm vorgestellt und angekündigt, es
gebe einen Umsetzungsplan und einen Finanzierungs-
plan. Bis zum heutigen Tag liegen kein Umsetzungsplan
und kein Finanzierungsplan vor. Das Aktionsprogramm
ist Schall und Rauch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Günther [Plauen] [FDP])


Nun komme ich zu dem Ziel, die Entwicklungshilfe
auf 0,7 Prozent zu erhöhen. Die Europäische Union will
wenigstens 0,33 Prozent vorschreiben. Es ist schon er-
bärmlich, dass es die Deutschen waren, die sich bis zum
Schluss dagegen gewehrt haben. Jetzt hat der Kanzler an-
geblich eingelenkt, aber natürlich alles versehen mit einer
Protokollnotiz des Bundesfinanzministers: unter Vorbe-
halt des Haushalts.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Willy Brandt würde sich im Grab umdrehen, wenn er sehen würde, was seine Leute machen!)


Wenn Sie sich jetzt für die bescheidenen 0,33 Prozent be-
lobigen, meine Damen und Herren von Rot-Grün – was
schon erbärmlich genug ist –, muss ich Sie daran erinnern,
dass Sie beim Weltwirtschaftsgipfel die Steigerung der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit angekündigt ha-
ben. Drei Tage später hieß es: Im Haushalt werden die
Mittel reduziert. Wer soll dem Kanzler noch glauben,
wenn er auf internationalen Konferenzen Erklärungen un-
terschreibt und später genau das Gegenteil macht? Wir




PeterWeiß (Emmendingen)


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(C)



(D)



(A)



(B)


glauben es Ihnen auch in diesem Fall nicht, wenn Sie kei-
nen entsprechenden Haushalt vorlegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Günther [FDP] – Gernot Erler [SPD]: Ihr habt das halbiert in euren 16 Jahren! – Gegenruf von der CDU/CSU: Sagen Sie doch mal was zu Ihrer Halbierung!)


Im Übrigen könnten Sie heute Farbe bekennen, meine
verehrten Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün. Wir
stimmen nachher über einen Antrag der CDU/CSU-Frak-
tion ab, in dem der Deutsche Bundestag ein verbindliches
Gesetz – keine unverbindlichen Erklärungen – fordert, in
dem das 0,7-Prozent-Ziel für die deutsche Entwicklungs-
zusammenarbeit festgeschrieben wird. Stimmen Sie unse-
rem Antrag zu. Dann glauben wir Ihnen Ihre Erklärungen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Günther [Plauen] [FDP] – Gernot Erler [SPD]: Wenn ihr einen Finanzierungsvorschlag macht, ist es in Ordnung!)


Nachhaltige Entwicklung bedarf aktiver Zivilgesell-
schaften in den Ländern des Südens. Der Entwicklungs-
prozess kommt nur voran, wenn mehr Menschen dort ihr
Schicksal selber in die Hand nehmen. Zivilgesellschaftli-
che Gruppen fördert man am ehesten, indem man ihre
Partnerorganisationen unterstützt. Aber Sie haben für die
entwicklungspolitische Arbeit der deutschen Kirchen,
Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen bis heute
rund 50 Millionen Euro gestrichen, indem Sie – raffiniert
gemacht – die Mittel im normalen Haushalt auf dem glei-
chen Stand gelassen, aber die Mittel für die Arbeit in Ost-
und Südosteuropa reduziert haben. Denn Sie wollen ja
nach dem Jahr 2003 die Regionaltitel für Südosteuropa
und Mittel- und Osteuropa gänzlich entfallen lassen. Auch
hierbei gilt: Sie loben erst die Nichtregierungsorganisa-
tionen mit schönen Worten und lassen sie anschließend
am Seil herab.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Günther [Plauen] [FDP])


Entwicklungszusammenarbeit muss das Ziel verfol-
gen, das Wohlstandsgefälle zu verringern. Die Menschen
in den weniger entwickelten Ländern müssen neue Zu-
kunftsperspektiven erhalten. Es liegt offenkundig in un-
serem Interesse, gerade die Diskrepanz zu unseren unmit-
telbaren Nachbarn in Ost- und Südosteuropa zu
verringern. Doch was macht Rot-Grün? Die Mittel zur
Unterstützung der Transformationsprozesse in den Län-
dern Osteuropas und Südosteuropas sind zu einem großen
Steinbruch geworden. Allein in einem Jahr ist eine Ab-
senkung um 15 Prozent erfolgt. Ab 2003 soll es gar nichts
mehr geben.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters)


Meine Damen und Herren, da wir tagtäglich das zu-
nehmende Auseinanderklaffen zwischen Anspruch und
Wirklichkeit erleben, meine ich, dass Deutschland in der
Tat einen neuen Push für die Entwicklungszusammenar-
beit braucht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Günther [Plauen] [FDP] – Rita Grießhaber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen die, die früher nichts getan haben!)


Dazu gehören im Wesentlichen verlässliche finanzielle
Rahmenbedingungen für langfristig wirkende Projekte
statt Katastrophen-Hopping von einem Ende der Welt
zum anderen,


(Erika Lotz [SPD]: Eine unverschämte Formulierung, „Katastrophen-Hopping“!)


ein klares Bekenntnis zur Priorität selbsthilfeorientierter
Armutsbekämpfung, die Stärkung der Zivilgesellschaften
sowie demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen
und die Integration der Entwicklungsländer in eine inter-
nationale soziale Marktwirtschaft. Um das zu erreichen,
braucht es aber Politiker, die ihren Worten Taten folgen
lassen. Dazu braucht es offensichtlich eine neue Bundes-
regierung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Günther [Plauen] [FDP])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422502200
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Detlef Dzembritzki.


Detlef Dzembritzki (SPD):
Rede ID: ID1422502300
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Weiß, Sie freuen sich offenbar noch
über die Zustimmung Ihrer Kollegen. Ich muss Ihnen aber
sagen: Es ist immer wieder verwunderlich, wenn man
sieht, wie die Opposition in solchen Diskussionen wie der
heutigen ihre Regierungsvergangenheit verdrängt. Natür-
lich haben Sie Recht, dass es bedauerlich ist, dass das
0,7-Prozent-Ziel nicht erreicht worden ist. Ich möchte
aber darauf hinweisen, dass wir das, was in 16 Jahren zu
tun versäumt worden ist, nicht in dreieinhalb Jahren auf-
holen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/ CSU]: Das Argument hast du schon einmal gebraucht!)


– Man muss das ständig wiederholen, weil ihr das offen-
sichtlich nicht zur Kenntnis nehmt. Das ist doch das Pro-
blem. Wenn ihr daran arbeiten und vernünftige Alternati-
ven auf den Tisch legen würdet, dann könnten wir darüber
diskutieren.


(Abg. Hartmut Schauerte [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Präsident, der Kollege Schauerte möchte offen-
sichtlich eine Zwischenfrage stellen.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422502400
Ich ent-
nehme Ihrer Bemerkung, dass Sie Ihre Redezeit verlän-
gern wollen.


Detlef Dzembritzki (SPD):
Rede ID: ID1422502500
Eigentlich habe ich noch
nicht einmal richtig angefangen. Aber schaden kann es
nicht.




PeterWeiß (Emmendingen)

22346


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422502600
Herr Kol-
lege Schauerte, bitte schön.


Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1422502700
Herr Kollege,
Sie haben gerade gesagt, man könnte das, was in 16 Jah-
ren zu tun versäumt worden ist, nicht in vier Jahren auf-
holen.


Detlef Dzembritzki (SPD):
Rede ID: ID1422502800
Dreieinhalb!


Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1422502900
Stimmen Sie mir
aber zu, dass man auf jeden Fall die Fehlentwicklungen in
den letzten dreieinhalb Jahren nicht hätte größer werden
lassen dürfen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

1998 war der Anteil der Mittel, die für die Entwicklungs-
hilfe zur Verfügung standen, höher als 2002. Sie müssen
doch zugeben, dass Sie sich von dem 0,7-Prozent-Ziel
noch viel weiter entfernt haben als wir damals.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Detlef Dzembritzki (SPD):
Rede ID: ID1422503000
Herr Kollege, ich bin Ih-
nen für Ihre Frage ausgesprochen dankbar, und zwar nicht
nur, weil Sie meine Redezeit damit verlängern, sondern
auch, weil Sie mir die Chance geben, deutlich zu machen,
dass dieses Zahlenspiel nicht vollkommen der Wahrheit
entspricht. Richtig ist, dass wir wegen des enormen
Schuldenbergs, den Sie uns hinterlassen haben, einen
Konsolidierungskurs einschlagen mussten, der auch dazu
geführt hat, dass der Etat des Einzelplans 23 – Entwick-
lungszusammenarbeit – von 1998 bis heute um 1 Prozent
reduziert worden ist.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Also doch runter!)


Herr Kollege, wenn Sie sich aber die ODA-Rate an-
schauen, werden Sie feststellen, dass es von 1998 bis heute
eine Steigerung um 9 Prozent gegeben hat. Insgesamt ha-
ben wir also unsere Verantwortung wahrgenommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Legen Sie uns die Berechnung vor, Herr Dzembritzki! Das stimmt so nicht!)


– Herr Kollege, Sie werden doch zugeben müssen, dass
ich in elf Minuten Redezeit nicht auf alles eingehen kann.
Ich werde mit Ihnen darüber im Ausschuss diskutieren.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wir werden der Wahrheit noch näher kommen!)


Ich finde es interessant, wie nervös Sie werden, wenn wir
über diese Punkte diskutieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie sind nervös!)


Die Oppositionsparteien – Sie selbst haben das eben
angesprochen, als Sie auf Ihre Anträge verwiesen – schei-

nen die Lösung des Problems darin zu sehen, dass per Ge-
setz die 0,7-Prozent-Quote verordnet wird. Sie haben aber
keine Deckungsvorschläge gemacht. Eine solche Haltung
können sich die Regierungsparteien nicht leisten; denn
das wäre eine verantwortungslose Politik.

In meiner Antwort auf die Zwischenfrage habe ich be-
reits darauf hingewiesen, dass wir trotz der finanziellen
Engpässe beharrlich an der Verbesserung der finanziellen
Ausstattung der Entwicklungszusammenarbeit gearbei-
tet haben. Angesichts des immer wieder angestellten Ver-
gleichs mit anderen Ländern möchte ich fragen: Welche
Länder erreichen denn tatsächlich das 0,7-Prozent-Ziel
oder können wie Schweden, das in vorbildlicher Weise
0,86 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für die Ent-
wicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellt, sogar
mehr aufwenden? Das sind ausnahmslos solche Länder,
die es geschafft haben, ihre öffentlichen Finanzen in Ord-
nung zu bringen, die also einen ausgeglichenen Haushalt
vorweisen können


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und deshalb die Möglichkeit haben, ihre Solidarität mit
dem Süden in noch stärkerem Maße zum Ausdruck zu
bringen. Herr Kollege Hedrich – ich wiederhole das; ich
bitte Sie trotzdem, mir noch einen Augenblick Ihrer Auf-
merksamkeit zu schenken –, Sie haben uns eine Schul-
denlast hinterlassen, für die im Jahr Zinsen gezahlt wer-
den müssen, die zehnmal höher sind als das, was wir im
Entwicklungsetat zur Verfügung haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen,
was wir alles machen könnten, wenn wir diese Zinsbelas-
tung nicht hätten.


(Ulrich Heinrich [FDP]: Diese Sprüche sind genauso falsch wie die bei der vorangegangenen Debatte!)


Nun zur bevorstehenden Konferenz in Monterrey, die
bereits angesprochen worden ist: Herr Günther, ich weiß
nicht, inwieweit Sie die entsprechenden Unterlagen zur
Kenntnis genommen haben. Aber die Frau Ministerin hat
in ihrer Rede sehr deutlich gemacht, welche Schwer-
punkte auf der Konferenz in Monterrey zu setzen sein
werden und welche Chancen bestehen.

Zu Ihnen, lieber Herr Kollege Hübner, möchte ich sa-
gen – schade, dass die Zeit nicht reicht, um darauf näher
einzugehen –: Es ist in der heutigen Diskussion der Ein-
druck vermittelt worden, als ob es auf der bevorstehenden
Konferenz in Monterrey, an der fast alle Mitgliedstaaten
der UN teilnehmen, so zugehen würde wie in unserem
Parlament. Wir müssen wissen – wir wissen es ja auch –,
dass in der internationalen Zusammenarbeit dicke Bretter
gebohrt werden müssen. Wir haben bisher kein Instru-
ment von Global Governance. Mit dem, was bisher er-
reicht worden ist und was durch unsere Politik internatio-
nal ergänzt und erweitert wird – ich denke da an die EU
und die AKP-Staaten –, sind doch Fortschritte erzielt






(C)



(D)



(A)



(B)


worden, wie wir sie vor drei, vor fünf oder vor sechs Jah-
ren nicht hatten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Von daher ist der internationale Weg mit der multilatera-
len Zusammenarbeit, die wir betrieben haben, ein erfolg-
reicher Weg, der für die Länder des Südens auch Verbes-
serungschancen bringt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung
wird an ihrem Konsolidierungskurs festhalten. Wir sind
auf einem guten Weg, die gewaltige Verschuldung, die Sie
uns hinterlassen haben, zurückzufahren.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich bin sicher, dass dadurch finanzielle Spielräume frei
werden, die es uns erlauben, die Entwicklungsausgaben
zu erhöhen, ohne dadurch nachfolgende Generationen zu
belasten. Alles andere wäre auch verantwortungslos.

Trotz dieser Situation, die Sie uns hinterlassen haben,

(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Wir haben Ihnen mehr Geld hinterlassen!)

ist die Bilanz der rot-grünen Koalition in der Entwick-
lungszusammenarbeit durchaus beeindruckend. Wenn
Sie, lieber Kollege Hedrich, hier am Pult sprechen, habe
ich manchmal den Eindruck, dass Sie im Grunde Ihren
Versäumnissen der letzten 16 Jahre hinterherlaufen


(Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Ach Gott! Gudrun Kopp [FDP]: Legen Sie mal eine neue Platte auf! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die hat nämlich schon einen Sprung!)


und im Grunde bedauern, dass Sie die Chancen nicht
wahrgenommen haben, dass es Ihnen nicht gelungen ist,
das Politikfeld Entwicklungspolitik zu einer Quer-
schnittsaufgabe zu machen, die alle Ressorts bindet und
uns bei jedem Gesetzgebungsvorhaben in die Pflicht
nimmt, die Interessen des Südens zu bedenken und zu
berücksichtigen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unser Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit
unterscheidet sich grundlegend von dem vergangener
Jahre. Herr Weiß, Sie können hier am Pult noch so laut
werden: Wir haben mit den Partnerländern des Südens
eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe entwickelt. Wir
unterstützen die Bereitschaft zu Reform und Entwick-
lung. Die Empfängerländer werden bei der Planung von
Hilfsprogrammen von Anfang an beteiligt; sie sind in ein
Gesamtkonzept einbezogen. Wir fordern eine Selbst-
verpflichtung unserer Partner zu guter Regierungs-
führung, Rechtsstaatlichkeit und Achtung von Men-
schenrechten; das war die klare Vorstellung und die
Konzeption unserer Koalition.

Herr Kollege Ruck, Sie wissen sehr wohl, dass wir bei
diesem ganzheitlichen Ansatz das Potenzial der Zivilge-
sellschaft mit einbinden, selbstverständlich auch den
Schutz der natürlichen Ressourcen im Auge haben und
gerade Wert darauf legen, dass auch die Länder, die mit

uns zusammenarbeiten – wir waren zusammen in Vietnam
und in anderen Ländern –,


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Was ist dabei herausgekommen?)


diesen Ansatz beachten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, schauen Sie sich als Bei-

spiel für diese Politik die Entschuldungsinitiative an! Ge-
rade bei der Armutsbekämpfung wird das Potenzial der
Zivilgesellschaft mit eingebunden. Gerade hierbei wird
Wert auf Gesundheitspolitik und auf Bildungspolitik ge-
legt, um Defizite abzubauen.

Eine vor kurzem veröffentlichte Studie der Weltbank
zeigt – das ist interessant –, dass wir mit dieser Politik bei
gleichem Mitteleinsatz fast dreimal so viele Menschen
aus der schlimmsten Armut befreien können, wie das noch
vor zehn Jahren möglich gewesen wäre. Hieran wird deut-
lich, dass Strukturveränderungen mindestens genauso
wichtig sind wie die Frage nach mehr Geld oder weniger
Geld, wenn nicht sogar wichtiger.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist, finde ich, wirklich nicht kollegial, nicht parla-
mentarisch, lieber Kollege Hedrich, wenn Sie von täu-
schen, verschleiern und verfälschen sprechen, wenn Sie
im Zusammenhang mit Osttimor von Showeffekten spre-
chen. Es ist schade, dass der Kollege Blüm nicht hier ist.
Wir waren gemeinsam in Osttimor. Ich habe nicht den
Eindruck, dass wir dort im Verhältnis zu viel Mittel ein-
setzen. Wir können hier sehr wohl darüber diskutieren, ob
der massierte personelle Einsatz der UN in der jetzigen
Art und Weise sinnvoll ist, aber dass hier der Eindruck er-
weckt wird, wir würden uns um Menschenrechte küm-
mern und wir würden auch kleinen Ländern helfen, nur
um Showeffekte zu erzielen, finde ich erbärmlich. Das
gehört nicht in eine solche Diskussion.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für unsere Neuausrichtung steht auch der Stabilitäts-
pakt Südosteuropa.Wir haben hier im Rahmen der Eu-
ropäischen Union – einige Kollegen haben schon darauf
hingewiesen – einen subregionalen politischen Prozess
angestoßen. Das heißt, dass die betroffenen Länder Süd-
osteuropas zu einer selbsttragenden Zusammenarbeit
zurückfinden und sich die Ziele des Stabilitätspaktes zu
Eigen machen.

Einige Kolleginnen und Kollegen haben davon ge-
sprochen, dass die Einrichtung von runden Tischen nicht
notwendig sei. Wichtig sei nur, dass schnell Gelder
fließen würden. Zumindest die Aussage, dass die Einrich-
tung von runden Tischen nicht notwendig ist, ist fatal. Wir
brauchen doch im Bereich der Sicherheitspolitik, das
heißt der inneren und äußeren Sicherheit, eine über-
regionale Zusammenarbeit. Wir brauchen eine Zusam-
menarbeit, um Infrastrukturmaßnahmen nicht nur einem,
sondern allen Ländern nutzbar zu machen. Deswegen plä-
diere ich dafür, dass die Instrumente, die man auf dem Ge-




Detlef Dzembritzki
22348


(C)



(D)



(A)



(B)


biet der überstaatlichen Zusammenarbeit der Regionen
entwickelt hat, weiter gefördert werden. Ich plädiere aber
auch dafür, dass immer wieder geprüft wird, ob Bürokra-
tie reduziert werden kann, um vor Ort schneller wirksame
Hilfe zu ermöglichen. Die EU hat diesen Prozess auf mul-
tilateraler Ebene politisch und materiell beachtlich unter-
stützt. Die EU und die Bundesrepublik werden sich aus
diesem Bereich nicht zurückziehen.

Das Ziel unserer Maßnahmen ist, den Ländern eine
Perspektive auf Teilhabe an unserer Werte- und Wachs-
tumsgemeinschaft zu geben und ihre Bemühungen auf
dem Weg dorthin zu flankieren.

In Mazedonien – man kann das nicht oft genug unter-
streichen – ist es uns durch eine vernünftige Präventions-
politik gelungen, eine aggressive Auseinandersetzung
bzw. einen Bürgerkrieg zu verhindern. Natürlich kostet
auch das Geld. Aber es kostet sehr viel weniger Geld, als
wenn wir dort mit Militärapparaten eine Hilfe leisten wür-
den, die im Grunde zu spät kommt und der friedlichen
Entwicklung nicht dienlich ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Erfahrungen aus der überregionalen und multi-
lateralen Zusammenarbeit sollten wir auf die zentralasia-
tischen Staaten übertragen. Hier können wir eine Menge
einbringen. Diesen Ländern ist die Zusammenarbeit
wichtig und nicht die Abschottung.

Der Besuch des Ministerpräsidenten Karzai gibt mir
die Gelegenheit, daran zu appellieren – ich glaube, das ist
ein Aufruf an uns alle –, nicht nur auf die Stadt Kabul zu
schauen. Der afghanische Infrastrukturminister hat heute
im Auswärtigen Ausschuss deutlich gemacht, dass auch in
den Regionen, in die die Flüchtlinge zurückkehren wol-
len, eine Entwicklung stattfinden muss. Sie müssen dort
eine Infrastruktur vorfinden. Lassen Sie uns also auch hier
schauen, wie wir weiterhelfen können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz aller Fort-
schritte bei Kohärenz und Effizienz der Entwicklungszu-
sammenarbeit ist es mir in den verbleibenden Sekunden
meiner Redezeit ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass
wir im Norden unser Bewusstsein hinsichtlich der Wahr-
nehmung des Südens verändern müssen. Ein Beispiel
dafür ist Afrika. In den Schulbüchern – die Konrad-
Adenauer-Stiftung hat hierzu eine interessante Studie vor-
gelegt – kommt Afrika als Kolonialkörper vor. Die Be-
grifflichkeit in den Schulbüchern entspricht überhaupt
nicht unserer Zeit. Tierfilme und Katastrophen, das ist das
Bild, das von Afrika vermittelt wird. Wer sich an deut-
schen Universitäten mit Afrika beschäftigen will, muss
lange nach einem Angebot suchen. Fündig wird er am
ehesten im Bereich der Ethnologie. In der Politikwissen-
schaft kommt Afrika kaum vor. Aber aus diesem Bereich
brauchen wir Fachkräfte, die später in der Politik, in der
Verwaltung und in internationalen Gremien an der Aus-
gestaltung der deutschen Politik teilhaben und sich in der
globalisierten Welt zurechtfinden können.

Im Klartext heißt das, dass wir heute einen ganzen
Kontinent, also 54 Staaten, aus dem Blick von Politik
und Gesellschaft ausblenden. Wir müssen dafür Sorge

tragen, dass sich unsere Universitäten und Schulen
mitverantwortlich dafür fühlen, einen Bewusstseinspro-
zess zu initiieren und zu beeinflussen, und zwar in dem
Sinne, dass Prävention und das Wissen übereinander
notwendig sind und Verstehen die Voraussetzung dafür
ist, in dieser einen Welt friedlich und zukunftsorientiert
zusammenzuleben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422503100
Ich schließe
die Aussprache.

Tagesordnungspunkte 13 b und 13 c: Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
14/6496 und 14/6269 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs-
antrag auf Drucksache 14/8493 soll an dieselben Aus-
schüsse wie die Vorlage auf Drucksache 14/6496
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Tagesordnungspunkt 13 d: Wir kommen zur Abstim-
mung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Entwicklungs-
finanzierung international stärken – VN-Konferenz
„Financing for Development“. Wer stimmt für den Antrag
auf Drucksache 14/8487? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS ange-
nommen.

Tagesordnungspunkte 13 e bis 13 g: Die Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8109, 14/8338 und 14/8057 sollen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-
wiesen werden. – Das Haus ist damit einverstanden. Dann
ist so beschlossen.

Zusatzpunkt 12: Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Mit
der Internationalen Konferenz über Entwicklungs-
finanzierung den Abwärtstrend der Finanzmittel für nach-
haltige Entwicklung umkehren“. Wer stimmt für den An-
trag auf Drucksache 14/8482? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stim-
men von CDU/CSU und FDP abgelehnt.

Zusatzpunkt 18: Interfraktionell wird vorgeschlagen,
die Vorlage auf Drucksache 14/5578 zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung und zur Mitberatung
an den Auswärtigen Ausschuss zu überweisen. – Ander-
weitige Vorschläge liegen nicht vor. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 sowie die Zu-
satzpunkte 13 bis 15 auf:
14. Beratung der Beschlussempfehlung und des

Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und




Detlef Dzembritzki

22349


(C)



(D)



(A)



(B)


Technologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab-
geordneten Dr. Hansjürgen Doss, Friedhelm Ost,
Peter Rauen, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Offensive für die Bauwirtschaft
– Drucksachen 14/6315, 14/8504 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Kutzmutz

ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Klaus Wiesehügel, Dieter Maaß (Herne),
Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Zukunft der deutschen Bauwirtschaft
– Drucksachen 14/7297, 14/8506 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Wiesehügel

ZP 14 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Rainer Brüderle, Hans-Michael Goldmann,
Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
MehrChancen für die Bauwirtschaft durch we-
niger Regulierung
– Drucksachen 14/7458, 14/8507 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hansjürgen Doss

ZP 15 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Uwe Hiksch, Christine Ostrowski, Rolf Kutzmutz
und der Fraktion der PDS
Zukunft der Bauwirtschaft
– Drucksachen 14/7135, 14/8498 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Hartmut Schauerte für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1422503200
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beschäfti-
gen uns mit einer ganz dramatischen Entwicklung in einer
aufgrund der schwierigen Verhältnisse ausgesprochen ge-
beutelten Branche. Ich darf am Anfang sagen: Wenn man
sich in der Volkswirtschaft umschaut, dann muss man
feststellen, dass es keiner Branche so schlecht geht wie
der deutschen Bauwirtschaft.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr!)

Man kann an den entsprechenden Zahlen erkennen, dass
sie noch nie eine derart dramatische Verschlechterung

ihrer Rahmenbedingungen hat hinnehmen müssen wie
zurzeit.

Es geht den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
sowie den Unternehmen schlecht. Es gibt Arbeitsplatz-
verluste in einer Größenordnung, die wir uns in anderen
Branchen gar nicht vorstellen können. Im Jahr 1998
– Herr Wiesehügel, in diesem Jahr wurden Sie, der Vor-
sitzende der IG BAU, in den Deutschen Bundestag
gewählt – gab es 1 156 000 Beschäftigte. Nach Ihrem
engagierten Einsatz in den letzten dreieinhalb Jahren
im Deutschen Bundestag gibt es 250 000 Bauarbeiter we-
niger.


(Zuruf von der CDU/CSU: Tüchtiger Gewerkschafter!)


Das sind zweieinhalbmal so viel, wie es insgesamt noch
Beschäftigte im deutschen Steinkohlebergbau gibt.


(Dr. Rainer Wend [SPD]: Nur wegen Wiesehügel!)


– Nein, aber trotz. In ihn setzte die Bauwirtschaft damals
große Hoffnungen. Aber in den fast vier Jahren, in denen
er im Parlament mitgearbeitet hat – in dieser Zeit wech-
selten oft die Bauminister –, ist diese Branche sozusagen
an die Wand gefahren worden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte auf die Zahlen bezüglich der Arbeitsplätze

zurückkommen. Wir werden in diesem Jahr in der Bau-
branche weitere 50 000 bis 60 000 Arbeitsplätze verlieren.
Damit landen wir bei 900 000 Arbeitsplätzen.

Ich möchte auch auf die Zahl der Konkurse in der deut-
schen Bauwirtschaft eingehen: Im Jahr 2001 hatten wir
9 026 Konkurse. Eine so hohe Zahl hat es noch nie ge-
geben. Es geht um 9 026 Existenzen und damit um viele,
viele Arbeitsplätze. Zudem muss man bedenken, dass mit
der Erhöhung der Zahl der Bauarbeitnehmer um einen
Arbeitnehmer eine Arbeitsplatzwirkung für die deutsche
Volkswirtschaft in Höhe von 0,9 Arbeitnehmern verbun-
den ist. Damit sind allein durch die Veränderungen in die-
ser Branche circa 500 000 Arbeitsplätze weggefallen. Das
ist die bittere Bilanz nach dreieinhalb Jahren sozialdemo-
kratischer Verantwortung für die Bauwirtschaft.


(Zurufe von der CDU/CSU: Schlimm, schlimm! – Misswirtschaft!)


Die Bauwirtschaft hat von allen Wirtschaftszweigen
unserer Volkswirtschaft die mit Abstand höchste Kon-
kursrate zu verzeichnen: Auf 10 000 Betriebe kommen
280 Pleiten. Damit ist die Konkursrate um 2,8 Prozent
höher als die durchschnittliche Konkursrate in der deut-
schen Wirtschaft und der deutschen Industrie. In dieser Si-
tuation haben wir Mitte letzten Jahres einen Antrag ein-
gebracht; er wird heute beraten. Es brennt lichterloh. Die
Situation hat sich eher noch verschlechtert. Aber die Re-
gierung hat keine Konzepte, keine Programme. Sie kuriert
nur am Symptom herum.

Die Bauwirtschaft leidet wie kein anderer Wirtschafts-
zweig unter den Fehlentwicklungen in der Gesamtwirt-
schaft; denn sie ist der empfindlichste Teil. Der Umstand,
dass wir in der Bundesrepublik Deutschland kein Wirt-




Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
22350


(C)



(D)



(A)



(B)


schaftswachstum haben, schlägt sich daher überpropor-
tional in der Bauwirtschaft nieder. Deswegen sage ich für
die CDU ganz sachlich und ruhig und in allem Ernst:


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Herr Kollege, Sie können die CSU mit einbeziehen!)


Ohne Wirtschaftswachstum werden wir diese Probleme
auch durch noch so viele Programme nicht in den Griff
bekommen. Vom Wachstum aber verstehen Sie nun wirk-
lich nichts. Davon verstehen wir von der CDU/CSU ein-
deutig mehr.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Horst Kubatschka [SPD]: Vom Schuldenwachstum verstehen Sie etwas!)


Der berühmte Ministerpräsident von Nordrhein-West-
falen, Herr Clement, hat im letzten Jahr ein Wirtschafts-
wachstum von 0,1 Prozent hingelegt. Im Gegensatz dazu
hatten die Baden-Württemberger ein Wachstum in Höhe
von 1,3 Prozent. Die Bayern haben ein Wachstum von
0,9 Prozent erreicht. So gering es auch ist: Es ist immerhin
neunmal höher als das in Nordrhein-Westfalen. Wir kön-
nen diesen Vergleich für alle Länder der Bundesrepublik
anstellen, Herr Wiesehügel, das Ergebnis wird nicht anders
aussehen. Ich weiß, es tut weh, aber es ist wahr: Je länger
Rot-Grün regiert, desto schlechter sind die Wachs-
tumsraten, desto höher sind die Arbeitslosenraten und des-
to größer ist die Anzahl der Pleiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD – Klaus Wiesehügel [SPD]: Rechnen ist nicht Ihre Stärke!)


Das ist nun einmal die bittere Wahrheit. Daran werden Sie
im kommenden Wahlkampf gemessen werden.

Der Grund für die Situation in der Bauwirtschaft ist
also zuallererst das fehlende Wirtschaftswachstum. Es
liegt aber auch an der zunehmenden Bürokratie. Hier
muss ich einmal die Grünen ansprechen. Vonseiten der
Grünen gibt es viele Bedenkenträger; bei nahezu allen
Planungen, Anträgen und Genehmigungen in der Bundes-
republik Deutschland, sowohl in den Gemeinden als auch
in den Ländern, sind viele Behörden davon betroffen. Sie
können jede Sitzung als Beispiel nehmen; denn es ist im-
mer so: Es werden viele Fachleute gehört, aber in 95 Pro-
zent der Fälle, bei denen es um Genehmigungen geht, sind
es die Grünen – ein oder zwei Grüne sind stets dabei –, die
Bedenken vortragen. Mit einer solchen Bremspolitik kön-
nen Sie der Bauwirtschaft in Deutschland nicht auf die
Beine helfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben durch die Anlegung Ihrer Steuerreform und

den bei einer Vielzahl von Gesetzen praktizierten Ver-
schiebebahnhof die finanzielle Basis der Kommunen zer-
stört. Die Kommunen sind allerdings der wichtigste
Investor in der Bauwirtschaft. Mehr als zwei Drittel aller
öffentlichen Investitionen sollten seitens der Kommunen
stattfinden. Aber Herr Eichel, dieser tüchtige Finanz-
minister, hat den Bund bei der Nettoneuverschuldung
schöngerechnet und die Neuverschuldung der Gemein-
den und der Länder um ein Mehrfaches steigen lassen.
Die Gemeinden müssen sich heute dreimal so hoch ver-

schulden wie 1998. Das nimmt ihnen die Kraft, in die
Bauwirtschaft zu investieren, und daher brechen die
Arbeitsplätze weg.

Auch das Mietrecht haben Sie aus ideologischen
Gründen immer wieder verschlechtert.


(Klaus Wiesehügel [SPD]: Verbessert!)

– Sie haben es eindeutig verschlechtert, und zwar zulasten
der Investitionen. Man müsste einmal – aus der Sicht des
Steuerzahlers halte ich das für akzeptabel – jedem Minis-
ter des Bundeskabinetts fünf oder sechs Wohnungen über-
tragen, zum Beispiel indem man sie ihnen schenkt. Sie
glauben gar nicht, zu was für Erkenntnissen sie anschlie-
ßend kommen würden. Sie würden von da an über die
Notwendigkeit von Reformen im Mietrecht ganz anders
denken. Die Minister des Bundeskabinetts müssten ein-
mal selbst die Praxis in diesem Bereich erleben. Das wäre
wirklich ein hochinteressanter Vorgang.


(Beifall bei der CDU/CSU – Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele Wohnungen bewohnen Sie denn? – Klaus Wiesehügel [SPD]: Ihre Gedanken lassen Böses erahnen!)


Ich komme auf private Finanzierungen zu sprechen.
Herr Wiesehügel, ich würde mich an Ihrer Stelle wirklich
zurückhalten. Sie reden ja gleich. Versuchen Sie doch ein-
mal, eine Bilanz Ihrer Politik in den vergangenen dreiein-
halb Jahren in Bezug auf dieses – Ihnen auf den Leib ge-
schnittene – Thema zu ziehen! Wenn Sie eine ehrliche
Bilanz ziehen, dann können Sie doch nicht mehr ruhig
schlafen.


(Klaus Wiesehügel [SPD]: Doch! Tief und fest!)


Also: Was private Finanzierungen in die Infrastruktur an-
geht, sind Sie keinen Schritt weitergekommen. Nichts
läuft da. Investitionshaushalte in Bund, Ländern und Ge-
meinden sind zusammengestrichen worden. So wird die
Baukonjunktur zerstört.

Wir brauchen eine Infrastrukturoffensive und eine
Stärkung der investiven Haushaltsansätze. Legale Arbeit
muss wieder bezahlbar sein. Betriebsverfassungsrecht-
liche Probleme müssen so gelöst werden, dass Flexibilität
auf dem Bau möglich ist.


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Was heißt das denn, Herr Schauerte?)


Arbeit auf dem Bau ist erschwert worden, sie ist büro-
kratisiert worden und sie ist verrechtlicht worden.

Zur Vergabepraxis: Der nordrhein-westfälische Minis-
terpräsident Clement will die öffentliche Hand seines
Landes jetzt von der VOB befreien. Das sind Ihre Beiträge
zur Verbesserung der Lage der Bauwirtschaft. Kümmern
Sie sich einmal darum! Reden Sie einmal mit ihm! Nord-
rhein-Westfalen ist immerhin kein kleines Land.

Die Vergabe von Aufträgen an Mittelständler muss ver-
bessert werden. Erbrachte Leistungen müssen zeitgerecht
bezahlt werden. Gehen Sie an die Lösung dieses Problems
heran und greifen Sie das in Sachsen praktizierte Modell




Hartmut Schauerte

22351


(C)



(D)



(A)



(B)


auf, über das wir diskutieren! Machen Sie etwas! Schie-
ben Sie die Dinge nicht vor sich her! Was die Zahlungs-
moral in Bezug auf in Deutschland erbrachte Bauleistun-
gen angeht, sind mittlerweile unerträgliche Zustände
eingetreten.

Sie haben die Einkommensgrenze für die Gewährung
der Eigenheimzulage genau bei denjenigen, die bauen
könnten, um etwa ein Drittel gekürzt.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Genau!)

Das heißt, Sie haben den Kreis der Anspruchsberechtig-
ten, die unsere Bauwirtschaft in Gang bringen könnten,
verkleinert.


(Dieter Maaß [Herne] [SPD]: Den kleinen Leuten haben wir geholfen!)


All das ist unerträglich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)

Ich bin der Auffassung, dass wir einen wirklichen Neu-

anfang brauchen. Man muss sich den Problemen der Bau-
wirtschaft wirklich zuwenden. Ihre bürokratischen An-
sätze und die Art und Weise, wie Sie gängeln und
Investitionen verhindern, machen einen solchen Neu-
anfang unmöglich. Sie sind nicht in der Lage, die Rah-
menbedingungen für Wachstum zu schaffen, und ohne
Wachstum ist der deutschen Bauindustrie nicht mehr zu
helfen.


(Dieter Maaß [Herne] [SPD]: 16 Jahre hatten Sie Zeit!)


Wir brauchen eine Regierung, die Wachstum organi-
sieren kann. Deswegen werden wir diese Fragen zu einem
zentralen Wahlkampfthema machen. Wir werden mit den
Bauarbeitern darüber reden,


(Dieter Maaß [Herne] [SPD]: Wir auch!)

wer für die schlechte Lage der Bauwirtschaft seit dreiein-
halb Jahren verantwortlich ist. Das sind nämlich diejeni-
gen, die sich permanent dazu berufen fühlen, als Herolde
der Interessen der Bauarbeiter aufzutreten. In Wahrheit
sind sie das Gegenteil. Ihre Bilanz ist niederschmetternd
und enttäuschend.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Weiermann [SPD]: Dann nehmen wir doch lieber das Original als die Kopie!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422503300
Ich erteile
dem Kollegen Klaus Wiesehügel für die Fraktion der SPD
das Wort.


Klaus Wiesehügel (SPD):
Rede ID: ID1422503400
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Situation der deutschen
Bauwirtschaft ist tatsächlich schwierig. In einigen Anträ-
gen wird das beschrieben. Diese Anträge waren in den
letzten Monaten häufig Gegenstand der Debatte. Herr
Schauerte, Sie haben hier ein paar Zahlen genannt. Ich
will mich mit diesen Zahlen gerne beschäftigen. Nur, man
muss natürlich schon sehen, dass der jeweilige Ansatz in-

teressengeleitet ist: Man wählt ihn so, dass er einem in den
Kram passt.

Ich möchte Folgendes deutlich machen: Wir können an
den Zahlen auch erkennen, wo die Ursachen gegebenen-
falls liegen. Sie haben justament das Jahr 1998 gewählt.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Da hat es angefangen!)


Die Krise der Bauwirtschaft hat aber nicht 1998, sondern
1995 begonnen. Seit diesem Jahr sind die Zahlen rück-
läufig. 1995 waren nicht wir an der Regierung. Wenn Sie
das behaupten, Herr Schauerte, dann zeigen Sie, dass Sie
ein sehr schlechtes Gedächtnis haben.

Ich will Ihnen die entsprechenden Zahlen ein bisschen
genauer nennen. Am 31. Dezember 1995 gab es im Wes-
ten 664 807 im Baugewerbe beschäftigte Arbeitnehmer.
Das sind die Zahlen der Urlaubskasse des Baugewerbes.
Das sind die verlässlichsten Zahlen, die man heranziehen
kann; sie sind sehr realitätsnah. Am 31. Dezember des
Jahres 2001 – das ist das letzte Jahr, für das wir vollstän-
dige Statistiken vorweisen können – waren 424 663 Ar-
beitnehmer im Baugewerbe beschäftigt. Der Rückgang
beträgt also etwa ein Drittel. Das ist in der Tat sehr be-
achtlich und sehr traurig. Im gleichen Zeitraum, also vom
31. Dezember 1995 bis zum 31. Dezember 2001, haben
wir im Osten einen Rückgang von 309 726 Beschäftigten
auf 141 749 Beschäftigte zu verzeichnen. Das ist eine Hal-
bierung der Zahl der Arbeitsplätze.

Herr Schauerte, dieser Rückgang der Zahl der Arbeits-
plätze besonders im Osten, wo wir die Hälfte der Arbeits-
plätze verloren haben, hat seine größte Ursache in Ihrer
fehlgeleiteten Politik der Steuersubventionen in den
neuen Bundesländern. Da können Sie immer wieder sa-
gen, das sei nicht wahr – es ist wahr.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Jeder, der mit dem Baugewerbe zu tun hat, wird Ihnen be-
stätigen, dass diese Branche die Sonderabschreibungen,
die damals vorgenommen worden sind, heute als Last zu
verkraften hat. Deswegen ist die Zahl der Arbeitsplätze,
die abgebaut worden sind, in den neuen Bundesländern
wesentlich höher als im Westen.

Jetzt möchte ich einige Zahlen nennen, die Sie viel-
leicht nicht so genau kennen. Sie haben eben das Thema
der Konkurse angesprochen und haben gesagt, welch ein
Skandal die hohe Zahl der Konkurse sei. Nun vernehmen
Sie einmal die Zahlen, die die Entwicklung der Zahl der
Betriebe seit 1995 widerspiegeln: In den alten Bundes-
ländern ging in dem Zeitraum, den ich eben genannt habe
und in dem rund ein Drittel der Arbeitsplätze verloren gin-
gen, die Zahl der Betriebe von 56 801 im Jahr 1995 auf
53 542 im Jahr 2001 zurück. Das ist ein Rückgang von un-
gefähr 3 000 Betrieben oder von ungefähr fünf Prozent.
Im Osten ist die Zahl der Betriebe von 18 368 Betrieben
im Jahr 1995 auf 18 432 Betriebe im Jahr 2001 gestiegen.
Das ist ein Plus von 64 Betrieben. Konkurs ist das eine,
Neu- und Wiedereröffnung von Betrieben ist das andere.
Wir haben – das kann ich beweisen – eine Zunahme der
Bauunternehmungen in den neuen Bundesländern zu ver-




Hartmut Schauerte
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(C)



(D)



(A)



(B)


zeichnen; diese Unternehmungen befinden sich aber je-
weils auf wesentlich niedrigerem Niveau.

Das zeigt: Die Krise der deutschen Bauwirtschaft wird
vor allen Dingen auf dem Rücken der Arbeitnehmer aus-
getragen. Die Ursachen des Rückgangs der Beschäftigung
in diesem Zeitraum gehen nicht auf das Konto der jetzi-
gen Bundesregierung, sondern eindeutig auf das Konto
der alten Bundesregierung. Wir haben es angesichts der
Krise, die die Bauwirtschaft durchmacht, und der Vo-
raussetzungen, die wir übernehmen mussten, ungeheuer
schwer, die Dinge zurückzudrehen.


(Beifall bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Dafür wollen Sie sich noch entschuldigen!)


Herr Schauerte, das Problem waren nicht nur die Son-
derabschreibungen im Osten. Die Bauwirtschaft selbst
war keine sich selbst tragende Branche; Sie haben viel-
mehr mit Ihrer fehlgeleiteten Steuerpolitik künstliche Ka-
pazitäten aufrechterhalten, die dem Bedarf dieser Volks-
wirtschaft nicht entsprachen. Diese Überkapazitäten
verschwinden nur sehr mühsam vom Markt. Mir tut es um
jeden Leid, der arbeitslos wird. Aber daran sieht man, wie
tief die Dinge auch in unserem System verwurzelt sind.
Zuerst gehen die Arbeitsplätze verloren. Die von Ihnen so
bedauerten Arbeitgeber sind noch nicht einmal weg vom
Markt; deren Zahl erhöht sich vielmehr. Da müssen Sie
die Krokodilstränen etwas zurückhalten; zumindest
würde ich das Ihnen empfehlen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Das ist unglaublich! – Peter Rauen [CDU/CSU]: Tut es Ihnen Leid, dass sich die Zahl der Arbeitgeber erhöht?)


Wir alle wissen – darin sind wir uns einig –: Das größte
Problem der Baubranche ist neben dem Nachfragerück-
gang, den wir zu verzeichnen haben, und der eklatanten
Fehlsteuerung, über die ich gerade ausreichend gespro-
chen habe, der Verfall der Baupreise durch illegale Be-
schäftigung, durch Schwarzarbeit und durch Lohndum-
ping. Diese Missstände sind nun wahrhaftig nicht in den
letzten drei Jahren entstanden. Doch die Opposition, die
dieses Thema jahrelang nicht angegangen ist, wird nicht
müde, die falschen Ursachen, die falschen Schuldzuwei-
sungen hier vorzutragen. Es hilft nichts – wie Sie das im-
mer machen – bei jedem Lösungsvorschlag auf die mög-
lichen Baupreissteigerungen hinzuweisen. Das ärgert
mich.

Sie wissen ganz genau – Sie sind ja Ökonom und ver-
halten sich wie ein solcher –: Für eine Branche, der es seit
1993 nicht gelungen ist, Preissteigerungen durch-
zusetzen, während der übrigen produktiven Wirtschaft
durchaus 5 Prozent Preissteigerung zugestanden wurden,
ist es sehr schwer, Eigenkapital zu bilden, etwas für die
Qualifikation der Arbeitnehmer zu tun und Innovationen
im Produktionsprozess umzusetzen, um sich besser am
Markt aufzustellen. Es ist ein riesiges Problem, dass
schon seit neun Jahren keine Preissteigerungen durchge-
setzt werden konnten.

Jeder Vorschlag, den wir machen, wird von Ihnen und
allen liberalen Kräften, seien sie an Universitäten oder
sonst wo, unisono bekämpft, weil dadurch zwangsläufig
die Baupreise stiegen. Das Problem ist, dass immer dann,
wenn wir Verbesserungen vorschlagen – sei es die
Bekämpfung von illegaler Beschäftigung, Schwarzarbeit
oder Verbesserungen bei der Vergabe –, sofort gebrüllt
wird: Ja, aber dann steigen auch die Baupreise. Die Bau-
wirtschaft hat keine Chance, wenn Sie ihr nicht auf poli-
tischer Ebene ermöglichen, mit ihren Produkten auf den
Markt zumindest eine ähnliche Rendite wie andere Bran-
chen zu erzielen. Wir haben hierfür konkrete politische
Maßnahmen vorgeschlagen.

Wer ist wie immer, wenn irgendetwas der Opposition
nicht gefällt – man muss nur einmal in Ihren Antrag hin-
einschauen –, schuld? Die Ökosteuer. Das ist hier ge-
nauso. Auch in Ihrem jetzigen Antrag steht wieder: Die
deutsche Bauwirtschaft krankt und darbt wegen der Öko-
steuer. Aber gerade in der Bauwirtschaft, die eine ar-
beitsintensive Branche ist, haben die Entlastungen bei den
Lohnnebenkosten doch Wirkung gezeigt. Die Verteue-
rung von Energie ist hier mehr als kompensiert worden.


(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Vielmehr erwartet das DIW, dass durch die Ökosteuer bis
2003 zusätzliche Arbeitsplätze in und um die Bauwirt-
schaft herum entstehen, sodass die Bauwirtschaft davon
zumindest ein Stück weit profitieren kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ebenso falsch und geradezu dreist ist es zu behaupten,
die Einschränkung befristeter Arbeitsverträge habe dazu
geführt, dass es weniger Arbeitsplätze in der Bauwirt-
schaft gebe. Genauso dreist ist es zu sagen, der Rechts-
anspruch auf Teilzeitarbeit – all das steht in Ihrem An-
trag – habe zu Problemen geführt. So etwas zu behaupten
ist weltfremd und zeigt wenig Kenntnis der Branche. Das
wird Ihnen wohl durchgegangen sein, als Sie irgendeinen
Mitarbeiter beauftragt haben, diesen Antrag zusammen-
zuschreiben. Auch die Ausweitung der betrieblichen Mit-
bestimmung wird immer wieder gerne als Argument
benutzt, um die Lage zu erklären, hat aber damit nichts
zu tun.

Jetzt haben Sie sich gerade hier hingestellt und auf das
Mietrecht verwiesen. Es gibt überhaupt keinen Zusam-
menhang zwischen den Zahlen, die ich hier gerade vorge-
tragen habe – deswegen habe ich ja bewusst auch das Jahr
1995 herausgegriffen –, und der von uns durchgesetzten
Verbesserung des Mietrechts.


(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Gudrun Kopp [FDP]: Natürlich!)


Das ist Ideologie und an den Haaren herbeigezogen, hat
aber mit sauberer ökonomischer Betrachtungsweise
nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Klaus Wiesehügel

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(C)



(D)



(A)



(B)


Es wird Ihnen auch nicht gelingen – obwohl Sie es ja
angekündigt haben –, die politische Verantwortung, die
Sie tragen, anderen zuzuschieben.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja, ja!)

Sie können darüber gerne mit den Beschäftigten am Bau
reden; da werden Sie sich einiges anzuhören haben. Das
kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Unsere Maßnahmen
werden langfristig – das dauert eine Weile – Wirkungen
zeigen.


(Gudrun Kopp [FDP]: Wir haben keine Zeit mehr! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die Zeit ist um!)


Hinzu kommt, dass wir Gesetze in der Pipeline haben wie
das Gesetz zur Bekämpfung von Illegalität und Schwarz-
arbeit und ein besseres Vergabegesetz. Diese werden aber
im Wesentlichen von Ihnen in der Öffentlichkeit immer
wieder angeprangert, während Baubranche, Arbeitgeber
und ZDH sagen, dass sie dringend gebraucht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es wird darauf gedrungen, dass wir endlich zu Potte

kommen. Aber es gibt viele, die dagegen sind. Am lautes-
ten schreit die Opposition. Sie sagt hier, die Zukunft der
Bauwirtschaft müsse gesichert werden, aber alle Vor-
schläge werden von Ihnen torpediert. Sie machen nur öf-
fentlich Druck und räumen im Grunde genommen der
Bauwirtschaft überhaupt keine Chance ein. Sie machen
billige Oppositionspolitik auf dem Rücken der vielen
Menschen, die arbeitslos geworden sind. Das wird Ihnen
nicht gelingen. Das ist zu durchsichtig.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Warten Sie einmal ab!)


– Ich weiß ja, dass die Opposition jetzt reden wird. Des-
halb warte ich nicht ab, sondern setze mich hin und bin da-
rauf gespannt, was Sie jetzt sagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422503500
Für die
FDP-Fraktion spricht die Kollegin Gudrun Kopp.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1422503600
Herr Präsident! Sehr geehrte
Herren und Damen! Lieber Herr Kollege Wiesehügel, die
Opposition hat Schuld und eigentlich ist an der katastro-
phalen Situation des Baugewerbes auf die Schnelle nichts
zu ändern. – Da machen Sie es sich wirklich viel zu leicht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte zu Beginn meiner Rede eine Branche nen-
nen, die boomt: Einen Zuwachs von 6,5 Prozent hat die
Schattenwirtschaft zu verzeichnen.


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Wie haben Sie das gemessen?)


Die Rentenversicherungsbeiträge werden von 19,1 auf
19,3 Prozent steigen, und zwar trotz Ökosteuerzufuhr,
ebenso die Krankenversicherungsbeiträge auf 14 Prozent,
Tendenz steigend.

Nicht genannt wurde bisher die Regulierungswut in
Deutschland, die nach wie vor anhält und ein Riesenpro-
blem darstellt, und zwar insbesondere für die kleinen und
mittelgroßen Firmen in der Baubranche, die immerhin
90 Prozent ausmachen. Sie tragen die Hauptlast.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Schauerte hat die Insolvenzzahlen genannt. In

2002 haben wir im Bauhauptgewerbe – leider – eine Re-
kordzahl zu erwarten. Im Jahr 2000 war ein Mehr an Fir-
menzusammenbrüchen um 4,9 Prozent zu verzeichnen,
im ersten Halbjahr 2001 war es ein Anstieg um sage und
schreibe 14 Prozent.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Im ganzen Jahr 14,9 Prozent!)


Da sagen Sie, Herr Wiesehügel, so schnell könnten Sie
keine Gegenmaßnahmen ergreifen. Das nützt den Arbeits-
losen wirklich wenig.


(Beifall bei der FDPund der CDU/CSU – Klaus Wiesehügel [SPD]: So schnell greifen die nicht! Das wissen Sie ganz genau!)


– Sie haben bis zum heutigen Tag über dreieinhalb Jahre
versäumt, die schlechte Lage zu verbessern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Ah!)


Ich möchte Ihnen noch einmal sagen: In Ostdeutsch-
land sieht die Lage ganz besonders schwierig aus. Sie ha-
ben keinerlei Rezepte, sie zu ändern.


(Dirk Niebel [FDP]: 191 Tage!)

Der Abschwung in der Bauwirtschaft ist insbesondere in
den neuen Ländern nicht gestoppt. Wir wissen: Es gibt seit
vielen Jahren eine strukturelle Veränderung im Bauge-
werbe. Das ist richtig. Aber Sie haben es versäumt, bei ei-
ner Belebung der Gesamtwirtschaft anzusetzen. Ich nenne
Ihnen dazu einige Beispiele.

Es gibt weiterhin einen Abwärtstrend im Bereich des
Wohnungsbaus. Wir haben Überangebote, Leerstände
und eine Verschärfung des Mietrechts. Ich möchte Ihnen
noch einmal erklären: Ein Vermieter, der eine Wohnung
vermieten möchte, überlegt sich mehrmals, ob sich dies
finanziell rentiert oder ob es Probleme rechtlicher Art
gibt. Außerdem sinken weiterhin die Ausgaben für den so-
zialen Wohnungsbau. Das sind alles andere als positive
Zeichen.


(Beifall bei der FDP – Franziska EichstädtBohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also noch mehr Leerstände! Wunderbar!)


Nach Überzeugung meiner Fraktion, der FDP-Bundes-
tagsfraktion, ist die negative Lage im Bauhauptgewerbe
nur durch wirklich einschneidende Veränderungen an den
ökonomischen Wurzeln zu beheben, die Sie versäumt ha-
ben. Ich nenne Ihnen drei Beispiele: Sie haben es bis heute
versäumt, eine umfassende und durchgreifende Steuerre-
form auf den Weg zu bringen.


(Zuruf von der SPD: Die sollen wir doch vorziehen!)





Klaus Wiesehügel
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(C)



(D)



(A)



(B)


Sie haben zweitens versäumt, die Steuer- und Abgabenlas-
ten zu senken, insbesondere – ich sage es noch einmal –
für die mittelständische Wirtschaft. Drittens haben Sie
eine strukturelle Reform der sozialen Sicherungssysteme
versäumt. Nichts dergleichen ist bis heute geschehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich müssen neben solchen einschneidenden Re-
formen des Staates auch bei den Tarifparteien und den
Verbänden flankierende Maßnahmen greifen, um die
Schwarzarbeit zu reduzieren. In der jetzigen Situation
kann man nur Lohnzurückhaltung empfehlen. Auch das
ist ein Beitrag, die Situation zu entschärfen.


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Wer vergibt denn die Arbeitsaufträge, auch die Schwarzarbeitsaufträge? Doch nicht der Staat! Die vergibt der Unternehmer!)


Stärkere Lohndifferenzierung ist hier ebenfalls zu nennen.

(Ulrich Heinrich [FDP]: Das Wort Lohnzurückhaltung hat der Wiesehügel noch nie gehört oder jedenfalls nicht verstanden!)


Herr Kollege Wiesehügel, von dem, was Sie vorhin an
neuen Initiativen herausgehoben haben, greife ich die
Bauabzugsteuer heraus. Wir sollten uns darüber einig
sein, dass die Bauabzugsteuer in der jetzigen Form uner-
träglich ist. Wir dürfen sie nicht länger aufrechterhalten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Als Nächstes erinnere ich Sie an das Tariftreuegesetz,

das wir Tarifzwanggesetz nennen.

(Klaus Wiesehügel [SPD]: Das stimmt nicht! Das können Sie stundenlang erzählen!)

Wir waren ja gemeinsam mit dem Kollegen Schauerte bei
der Anhörung zu diesem Thema. Was haben wir da
gehört?


(Dieter Maaß [Herne] [SPD]: „Die Löhne sind zu hoch!“ Das hätten wir Ihnen auch vorher sagen können!)


Wettbewerb werde in weiten Teilen ausgeschlossen, die
öffentlichen Bauaufträge hätten im Durchschnitt 5-pro-
zentige Kostensteigerungen zu verzeichnen und Spiel-
räume für Preissenkungen und für Innovationen im öf-
fentlichen Nahverkehr würden leichtfertig verschenkt.


(Wolfgang Grotthaus [SPD]: So ein dummes Zeug! Das müsste dann ja für alle Industriezweige gelten!)


Sie haben zwar Ihren Gesetzentwurf derzeit auf Eis ge-
legt – wahrscheinlich deswegen, weil Sie nicht noch mehr
negative Zeichen setzen wollten –, aber ich kann Ihnen
heute von diesem Platz auch im Namen meiner Fraktion
nur noch einmal sagen: Lassen Sie den Unsinn, noch mehr
regulieren zu wollen.


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Wollen Sie die Schwarzarbeit weghaben oder nicht?)


Auch dieses Gesetzeswerk, das Sie auf den Weg gebracht
haben, würde bestehende Regulierungen noch verschärfen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wenn die rot-grüne Regierung nicht schnellstens be-

greift, was sie seit vielen Jahren falsch gemacht hat und
sich nicht wenigstens ansatzweise eines Besseren besinnt
und zur Einsicht kommt, dann können wir Liberalen im
Interesse der Bauwirtschaft und der in ihr Beschäftigten
nur hoffen, dass die Zeit bis zum 22. September schnell
vergeht. Dieses Theater darf so nicht weitergehen.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Weiermann [SPD]: Das war hinten und vorne falsch, was Sie gesagt haben! Wer vergibt denn die Aufträge? Das müsste eine Abgeordnete doch wissen, dass es nicht der Arbeitnehmer ist, der die Aufträge vergibt! – Gegenruf des Abg. Hans-Peter Repnik [CDU/ CSU]: Das war die Wahrheit und die tut weh!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422503700
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin
Franziska Eichstädt-Bohlig.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Ich halte die Diskussion für sehr unbefriedigend,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


weil ich den Eindruck habe, dass wir mit einem Schlag-
abtausch der besseren Rezepte den Problemen nicht ent-
sprechen. Wir befinden uns nämlich historisch gesehen in
einer Phase – das hat gar nichts mit Rot-Grün versus alte
Koalition zu tun –, in der die Nachfrage eindeutig zurück-
geht. Die Phase nach dem Kriege, in der ein immer wei-
terer Ausbau der Infrastruktur und immer mehr Woh-
nungs-, Büro- und Gewerbebau erfolgten, ist zu Ende.
Heute ist das Wachstum nicht mehr beliebig auszuweiten.
Im Osten ist dieser Prozess sozusagen im Hauruckverfah-
ren – Herr Kollege Wiesehügel sprach eben von einer
künstlich überhöhten Form – abgelaufen, sodass die Bau-
aufträge im Moment sturzgeburtartig zurückgehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Von daher bitte ich, zur Kenntnis zu nehmen, dass die
Nachfrage langfristig nicht mehr so wie in den vergange-
nen Jahrzehnten sein wird. Das gilt heute schon für den
Osten und wird zunehmend auch für den Westen gelten.
Die Bauwirtschaft muss sich dieser realen Situation
schrittweise anpassen.

Das Problem wird uns auch deswegen in Zukunft noch
mehr beschäftigen, weil wir einen realen Bevölkerungs-
rückgang zu erwarten haben, während gegenwärtig die
Bevölkerung noch stagniert. Hier greife ich als Beispiel
den Mietwohnungsbau auf, weil mir die Argumentation in
diesem Bereich allmählich über die Hutschnur geht. In-
zwischen leben in unseren Land schon weniger als zwei




Gudrun Kopp

22355


(C)



(D)



(A)



(B)


Personen in einer Mietwohnung. Machen Sie am Miet-
recht, was immer Sie wollen, Sie können die Leute nicht
zwingen, zwei oder drei Wohnungen gleichzeitig zu be-
wohnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Das können reiche Zweit- und Drittwohnungsinhaber,
normale Bürger aber nicht. Das wird auch in Zukunft
nicht anders werden. Die Nachfrage ist an einer Sätti-
gungsgrenze angekommen, wenn man einmal von Räu-
men wie München, Stuttgart und Frankfurt absieht.

Ich bitte Sie inständig, dem Westen nicht durch irgend-
welche Förderinstrumente – sei es auch im sozialen Woh-
nungsbau, für den wir in einem solchen Umfang keinen
Neubau brauchen – das aufs Auge zu drücken, was im
Osten in Sachen Leerstand unschöne Realität ist. Wir
müssen auch bereits in einigen Orten im Westen Leer-
stand und Rückbau organisieren. Reden Sie der Bauwirt-
schaft also nicht ein, man könne durch Rechtsinstrumente
eine künstliche Nachfrage stimulieren, wenn wir diese
nicht brauchen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS – Gudrun Kopp [FDP]: Das habe ich nicht gesagt!)


Darüber hinaus – auch dies müssen wir sehr ernst neh-
men – befindet sich die Bauwirtschaft bei stagnierender
oder teilweise rückläufiger Nachfrage in der Situation,
dass die Konkurrenz in den letzten Jahren durch Deregu-
lierungsinstrumente, durch Liberalisierung und teilweise
durch Lohn- und Kostendumping extrem gestärkt worden
ist. Wer weitere Preissenkungen in der Bauwirtschaft for-
dert, hat wirklich nicht verstanden, wie die reale Situation
aussieht.

Das Problem ist, dass es inzwischen teilweise eine Ver-
drängungskonkurrenz auf sehr niedrigem Niveau gibt.
Dies ist nicht nur ein Problem der Löhne, sondern auch
der Sozialversicherungsbeiträge und der Kosten.


(Klaus Wiesehügel [SPD]: Das ist überhaupt kein Problem, Frau Kollegin!)


– Doch, natürlich besteht eine Lohnkonkurrenz mit dra-
matischen Auswirkungen. Ziel einer Wettbewerbsgesell-
schaft kann es doch nicht sein, sich durch Konkurrenz
praktisch gegenseitig kaputtzumachen. Statt Verdrän-
gungs- und Vernichtungskompetenz zu propagieren müs-
sen wir vielmehr sagen: Was die Bauwirtschaft wirklich
braucht, ist eine echte Nachfrage sowie sinnvolle und
sinnvoll finanzierte Aufträge. Daher brauchen wir auf bei-
den Seiten einen Anpassungsprozess, insbesondere im
Osten.

Die Bauwirtschaft muss sich auf der einen Seite der
realen Nachfrage anpassen. Auf der anderen Seite können
wir nicht so viel Wettbewerb und Liberalisierung fordern,
wie Sie, Frau Kopp, das eben gemacht haben. Wir müssen
schon regelnde Instrumente einführen, die so etwas wie
eine Bauwirtschaftskultur wieder entstehen lassen. Denn
das derzeitige, mit mafiösen Strukturen vergleichbare
System des Niederkonkurrierens mit dem Subunterneh-
mertum kann so nicht bestehen bleiben.

Die Versuche, die die Koalition mit der Bauabzug-
steuer und mit Maßnahmen gegen illegale Beschäftigung
macht, sind dringend notwendig, um in diesem Sektor
überhaupt wieder klare Wirtschaftsstrukturen einzu-
führen. Ich hoffe, dass Sie sie auch anerkennen.


(Gudrun Kopp [FDP]: Die haben sich nicht bewährt!)


Es kann sein, dass dies noch nicht das Gelbe vom Ei ist.
Wir müssen erst schrittweise Instrumente entwickeln, mit
denen wir wieder eine klare Struktur für die Bauwirtschaft
schaffen können, ohne zu viel Bürokratie aufzubauen.
Aber einfach zu sagen, macht eine weitere Deregulierung,
dann werden sie sich gegenseitig die Köpfe einhauen und
um die letzten Aufträge konkurrieren, kann nicht das Leit-
bild für die Bauwirtschaft der Zukunft sein. Es tut mir
Leid, aber das kann und darf es nicht sein. Insofern soll-
ten Sie die Bemühungen um klare bauwirtschaftskultu-
relle Strukturen auch im Lohnbereich ernst nehmen. Ich
hoffe, wir finden einen Weg, der beiden gerecht wird, der
Unternehmerseite ebenso wie der Arbeitnehmerseite.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich möchte noch etwas zur Ökosteuer sagen – der Kol-
lege Wiesehügel hat vorhin darauf hingewiesen –: Wenn
ein Bereich von der Ökosteuer sowie unseren energiepo-
litischen Maßnahmen und der Energiewende profitiert,
dann ist es die Bauwirtschaft. Hier ist nicht nur die Öko-
steuer indirektes Instrument, sondern gleichzeitig fängt
unsere Wirtschaft insgesamt an, energiebewusster zu wer-
den. Dies haben wir deutlich nach vorn gebracht. Dadurch
lösen wir momentan die wesentlichen Investitionen aus,
die in der Bauwirtschaft gebraucht werden.

Es ist nämlich nicht so – ich habe das vorhin geschil-
dert –, dass wir vor der Alternative dauernde Erweite-
rungsinvestitionen oder keine Investitionen stehen.
Vielmehr gibt es einen Bereich, in dem echter Investiti-
onsbedarf besteht und den Rot-Grün nach vorn gebracht
hat, nämlich das gesamte Spektrum der Bestandserneue-
rung in der Infrastruktur, im Verkehrssektor, im Woh-
nungssektor sowie im sonstigen Bausektor. Das sind Er-
neuerungsinvestitionen in generelle Modernisierung
sowie gezielt in den Bereichen Energieeinsparung und
energetische Innovationen. Hier besteht überall im Land
Bedarf.

In Zusammenarbeit mit dem Bündnis für Arbeit und
Umwelt haben wir es geschafft, dass das Energiesparen
im Rahmen des Altbausanierungsprogramms mit 2 Milli-
arden DM gefördert wird. Hier werden Arbeitsplätze ge-
schaffen, und zwar dezentral über das gesamte Land ver-
teilt. In jeder Region, in jeder Stadt schaffen wir also mit
diesen kleinteiligen Investitionen, die der regionalen Bau-
wirtschaft und dem Mittelstand vor Ort nützen, vielfältige
und arbeitsintensive Arbeitsplätze. Diesen Prozess wer-
den wir weiter vorantreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Franziska Eichstädt-Bohlig
22356


(C)



(D)



(A)



(B)


Von daher weiß ich überhaupt nicht, wie Sie auf die Idee
kommen, in diesem Zusammenhang die Ökosteuer anzu-
greifen.

Der nächste Punkt betrifft die Infrastrukturoffensive.
Insbesondere im Verkehrsbereich haben wir die Infra-
strukturinvestitionen schrittweise wieder nach vorne
gebracht und stabilisiert. In der Städtebauförderung haben
wir das mit den Programmen Soziale Stadt, Stadtumbau
Ost, CO2-Minderung und Altbausanierung erreicht.

Auch im Verkehrssektor haben wir die Zahlen wieder
eindeutig erhöht. Dabei setzen wir nachweisbar nicht nur
auf die Straße, sondern auch auf die Schiene, und damit
auf einen Bauwirtschaftsbereich, der sehr viel arbeits-
intensiver ist. Denn die Arbeiten im gesamten Schienen-
und Eisenbahnbereich – auch im Tiefbaubereich – sind
sehr viel differenzierter und berühren sehr viel mehr Bran-
chen. Es ist wichtig, zu erkennen, dass es nicht nur be-
stimmte Quadrat- oder Kubikmeterzahlen Asphalt oder
Beton bringt, und man nicht lediglich den laufenden Me-
ter berücksichtigt. Erforderlich ist vielmehr ein Umstruk-
turieren im Verkehrsbereich, das auf ökologische Ziele
gerichtet ist. Damit nutzen wir der Bauwirtschaft und den
dort vorhandenen Arbeitsplätzen. Ich würde mir wün-
schen, dass Sie das positiv sehen, statt einfach nur zu sa-
gen, dass das der falsche Weg sei.

Last, not least sollten wir nicht so tun, als ob wir der
Bauwirtschaft riesige weitere Wachstumssprünge ver-
sprechen können. Auf zwei Punkte lege ich Wert:

Erstens. Wir müssen die Wirtschaftsstrukturen stabili-
sieren, und zwar sowohl auf der Unternehmens- als auch
vor allem auf der Arbeitsplatzseite. Außerdem muss an-
gemessen entlohnt werden; das Lohndumping muss ein-
gedämmt werden. Ich weiß, dass wir Schwierigkeiten ha-
ben, die richtigen Instrumente dafür zu finden. Trotzdem
ist es ein wichtiges Ziel. Ich hoffe, dass auch die Oppo-
sition das so sieht. Von daher: Stabilisierung in dem
gesamten Bereich, aber keine falschen Wachstums-
erwartungen wecken, wenn wir sie nicht erfüllen können;
Sie können das übrigens genauso wenig.

Zweitens. Wir dürfen nicht mit falschen Erwartungen,
sondern wir müssen mit klaren Zielen an die Aufgaben
herangehen. Wir müssen der Bauwirtschaft sagen, dass
sie ihren Beitrag zur Bauwirtschaftskultur selbst erbrin-
gen muss; denn es kann nicht sein, dass sich die einzelnen
Unternehmen bei dieser Kostenkonkurrenz gegenseitig
kaputtmachen. Sie selbst muss ein Stück weit darauf ach-
ten, dass Maßnahmen für die Wirtschaftskultur nicht nur
von der Politik, sondern auch von den Wirtschaftsakteu-
ren selbst durchgeführt werden; auch diese müssen sich
einbringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422503800
Ich gebe
dem Kollegen Rolf Kutzmutz für die PDS-Fraktion das
Wort.


Rolf Kutzmutz (PDS):
Rede ID: ID1422503900
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Es sind nicht weniger als vier Anträge, die in-

nerhalb einer Stunde behandelt werden sollen. Die Rede-
zeit reicht dafür bei weitem nicht aus.

Deshalb möchte ich voranstellen: Es kommt nicht sehr
häufig vor, dass man auf Fragen überwiegend fundierte
Antworten erhält. Ich möchte der Bundesregierung für die
Antwort auf unsere Große Anfrage ausdrücklich danken,
weil sie eine Menge Fakten enthält, die, wie ich meine,
uns bei der künftigen Arbeit durchaus voranbringen kön-
nen.

Wer die Fakten ernsthaft zur Kenntnis nimmt, würde
sich viel von der ideologisch gefärbten heißen Luft ver-
kneifen, die auch in dieser Debatte wieder eine Rolle ge-
spielt hat.


(Beifall bei der PDS)

Er würde nämlich erkennen, dass die von Schwarz-Gelb
propagierten alten Rezepte den meisten Bauunternehmen
und all ihren Beschäftigten nicht einen Millimeter weiter-
helfen. Ich will hier deutlich sagen: Wir kennen die Argu-
mente und werfen sie uns gegenseitig an den Kopf. Neue
Lösungsvorschläge jedoch, die das Tor öffnen, damit die,
die auf dem Bau arbeiten, wieder eine Chance sehen, ha-
ben bisher gefehlt. Frau Eichstädt-Bohlig hat sehr viel
Kritisches gesagt, was ich unterstütze. Ein einfaches
„Weiter so!“ wird es nicht geben.


(Beifall bei der PDS)

Herr Rauen wird anschließend noch sprechen. Ich habe

heute früh in die Tickermeldungen geschaut. Das, was er
vorgeschlagen hat, war für mich sehr interessant: Sie for-
dern, dass die öffentlichen Investitionen in die Infra-
struktur in Zeiten wie jetzt dringend hochgefahren werden
müssen. – Darüber haben wir viel diskutiert. Zugleich sa-
gen Sie aber, dass wir verstärkt auf private Gelder setzen
sollen. Und dann: Aber der langfristige Sparwillen muss
trotzdem erhalten bleiben.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Genauso ist es!)

Das Geld muss doch aber von irgendwo herkommen.


(Beifall bei der PDS)

Ich unterstelle Ihnen nicht – dazu werden Sie sich sicher-
lich gleich äußern –, dass Sie die Einnahmen aus der Ver-
mögensteuer, die wir gerne einführen würden, dazu nut-
zen wollen, um das Baugewerbe voranzubringen.


(Beifall bei der PDS – Dr. Rainer Wend [SPD]: Die sind von euch schon so oft ausgegeben worden! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist der neue Jäger 90!)


– Nur, wenn man sie einmal ausgibt, kann man sie nicht
mehr als Argument benutzen. Das haben Sie auch beim
Jäger 90 nicht gemacht.

Eine zweite Sache. Frau Kopp, Sie haben über die
Schwarzarbeit gesprochen. Was mir dabei auffällt, ist,
dass wir zwar fast alle Steigerungsraten bei der Schwarz-
arbeit deklarieren können. Das Problem, das wir haben,
aber ist, die Schwarzarbeit zu erkennen und sie einzu-
schränken. Das haben wir bisher nicht gelöst.


(Beifall bei der PDS)





Franziska Eichstädt-Bohlig

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(C)



(D)



(A)



(B)


Das Problem ist doch aber nicht, dass Sie mich viel-
leicht bitten, bei Ihnen Fliesen zu verlegen. Das Problem
ist vielmehr, dass eine Menge von Betrieben, die sich über
Schwarzarbeit erregen, sie selbst organisieren, sonst
würde es auf Baustellen nicht dazu kommen.


(Beifall bei der PDS – Zuruf der Abg. Gudrun Kopp [FDP])


– Ich kann das machen, Frau Kopp. Ich habe es öffentlich
angeboten. Das ist kein Problem.

Ich komme zu einem anderen Punkt, bei dem das
Gedächtnis ebenfalls relativ kurz ist. Wenn man von öf-
fentlichen Investitionen redet, muss man auch über die
Finanzausstattung der Kommunen sprechen. Es gehört
zur Wahrheit, zu sagen, dass den Kommunen in Deutsch-
land von 1980 bis 1997 insgesamt etwa 86Milliarden DM
durch die unterschiedlichen Steuerfestlegungen entzogen
worden sind. Wenn man heute über die Bedingungen re-
det, muss man auch die Bedingungen von damals hin-
zunehmen. Das Schlimme daran ist, dass diese Politik
fortgesetzt worden ist.


(Beifall bei der PDS)

Ihnen von Rot-Grün werfe ich vor, dass sich die Finanz-
ausstattung der Kommunen unter Ihrer Regierung nicht
verbessert hat, sondern dass auch Sie mit den Steuerge-
schenken an die Wirtschaft auf das Prinzip Hoffnung ge-
setzt haben. Es sind keine neuen Arbeitsplätze entstanden.
Es ist kein Ruck durch Deutschland gegangen. Aber die
Kommunen leiden unter der Finanzknappheit.

Der Grund für die knappen Haushalte – das will ich
ausdrücklich sagen – ist nicht die Ökosteuer. Das ist nicht
der entscheidende Punkt, obwohl ich dazu eine andere
Meinung als die Grünen habe. Die Gewerbesteuer- und
die Körperschaftsteuereinnahmen fehlen. Ohne diese gibt
es kein Wachstum bei öffentlichen Investitionen. Diese
wiederum sind wichtig für das Gemeinwohl und die Bau-
wirtschaft, weil daraus Aufträge entstehen.


(Beifall bei der PDS)

Die Antwort der Bundesregierung belegt beispiels-

weise: Die Pro-Kopf-Investitionen der ostdeutschen
Kommunen befinden sich seit ihrem Höhepunkt 1992
praktisch im freien Fall. Berücksichtigt man den noch im-
mer bestehenden Nachholbedarf, gerade auch im Sinne
eines ökologischen und sozialen Umbaus, und die gerin-
gere Bevölkerungsdichte, dann klafft die Investitions-
schere zwischen Ost und West wieder weiter auseinander.
Das hat langfristig verheerende Konsequenzen. Abwan-
derung ist nur eine davon, aber sicherlich eine ganz dra-
matische.


(Beifall bei der PDS)

Die rot-grüne Steuer- und Haushaltspolitik trägt auch

an dieser Entwicklung in der Bauwirtschaft einen erheb-
lichen Anteil. Es gibt dazu viel zu sagen. Ich will nur an-
führen: Manches von dem, was Sie in Angriff nehmen,
zum Beispiel die vernünftige Verankerung der Tariftreue
beim Vergaberecht, wird konterkariert, wenn man nicht
dafür sorgt, dass Geld in die Kassen der Kommunen fließt
und damit öffentliche Aufträge vergeben werden können.

Das Gesetz zum Vergaberecht kann eine Vorbildwir-
kung erfüllen. Das will ich ausdrücklich sagen und auch
nicht weiter vertiefen. Aber all denen, die über Deregu-
lierung sprechen, will ich Folgendes entgegenhalten: Ein
Mannheimer Baustatiker hat vor kurzem in einer Fach-
zeitschrift geschrieben: „Deregulierung fördert den
Pfusch.“ Ich glaube, diesen Punkt müssen wir unbedingt
aufnehmen.


(Beifall bei der PDS)

Mein letzter Satz, Herr Präsident: Die Maßstäbe für das

Bauen müssen aus meiner Sicht vom Kopf auf die Füße
gestellt werden. Ökologisch, sozial und auch betriebs-
wirtschaftlich müssen Fehlentwicklungen vermieden
werden. Bei Großprojekten wie das für den Großflugha-
fen Schönefeld, aber auch bei vielen Autobahnen und
manchen Fernbahntrassen sollten wir das Credo beherzi-
gen: Wir bauen, um besser zu leben. Aber wir leben nicht
unbedingt besser, weil wir bauen.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422504000
Ich gebe
dem Parlamentarischen Staatssekretär, dem Kollegen
Dr. Ditmar Staffelt, das Wort.

D
Dr. Ditmar Staffelt (SPD):
Rede ID: ID1422504100
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schauerte,
lassen Sie mich mit Ihrer Anmerkung zum Thema Wachs-
tum beginnen. Sie werden sich daran erinnern, dass Bun-
desminister Müller in diesem Hause erst vor wenigen Wo-
chen darauf aufmerksam gemacht hat, dass auch die
Opposition sehr vorsichtig sein sollte, mit Wachstums-
zahlen zu jonglieren.

Ich wiederhole: Zwischen 1992 und 1997 lag die
durchschnittliche Wachstumsrate der deutschen Volks-
wirtschaft bei 1,2 Prozent. Dieses Wachstum haben Sie
zudem mit einem Volumen von rund 50 Milliarden DM
über Sonderabschreibungstatbestände für Investitionen in
Ostdeutschland angeheizt und unterbaut. Zwischen 1998
und 2001 lag die durchschnittliche Wachstumsrate bei
1,6 Prozent. Ich bitte daher darum, sich bei all den Dis-
kussionen, die Sie führen, einigermaßen an objektive
Maßstäbe zu halten. Sie scheinen bei Ihrer Rede gänzlich
den Überblick über die Dimensionen verloren zu haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will an dieser Stelle noch eines zu den Begründun-
gen sagen, die hier angeführt werden. So heißt es unter
anderem, die Novellierung des Mietrechts sei eine ganz
große Katastrophe. Ich will gar nicht über den Inhalt strei-
ten. Allein die Tatsache, dass das neue Mietrecht am
1. September des letzten Jahres in Kraft getreten ist, muss
dafür herhalten, eine Rückwärtsbetrachtung über die letz-
ten Jahre zu begründen. Das ist doch geradezu lächerlich,
meine Damen und Herren von der Opposition, und greift
in keiner Weise.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Rolf Kutzmutz
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(C)



(D)



(A)



(B)


Dasselbe gilt für die Bauabzugsteuer. Wir haben die
Bauabzugsteuer eingeführt, weil neben den Gewerk-
schaften insbesondere die Unternehmerschaft dieses Ge-
setz wollte. Es sollte ein Beitrag dafür sein, wieder ein
Stückchen Ordnung in den Bereich der Bauwirtschaft ein-
zuführen. Im Übrigen: Ich habe mich selbst davon über-
zeugt und bei Finanzämtern angerufen – man weiß ja nie,
wie das mit Behörden ist – und nachgefragt, was ich denn
tun müsse. Es ist völlig unbürokratisch und unproblema-
tisch gelaufen: formloser Antrag und schon geht es los!
Niemand, der ordentlich versteuert, kommt in irgendeine
Form der Verdrückung, wenn er auf der Grundlage dieses
Gesetzes handelt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Noch ein Wort zur Tariftreue: Sicherlich kann man
sehr viel über die Methodik streiten und unterschiedliche
Wege beschreiten. Ohne jede Frage sind es nicht nur die
Gewerkschaften, die das anmahnen. Auch der Bauindus-
trieverband


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Baugewerbeverband, nicht der -industrieverband!)


– der Bauindustrieverband, Herr Schauerte, natürlich! –,
der Zentralverband des Deutschen Handwerks und wei-
tere verschiedenste Vertreter der Gewerke mahnen Tarif-
treue an. Sie alle wollen endlich, dass die redlichen Hand-
werker in diesem Lande wieder eine Chance am Markt
haben und nicht jene bevorzugt werden, die sich nicht an
die Spielregeln halten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich füge noch eines hinzu: Es gibt Beispiele in den Ver-
einigten Staaten von Amerika. Einige Staaten haben ein so
genanntes Tariftreuegesetz eingeführt, andere haben es
nicht. Es hat sich eines gezeigt – ich kann Ihnen gerne ein-
mal bei Gelegenheit die entsprechende wissenschaftliche
Auswertung überreichen –: Dort, wo Tariftreuegesetze
existieren, ist die Qualifizierung der Arbeitnehmerschaft
weitaus besser, ist die Qualität am Bau weitaus besser, ist
der Stand der Technisierung – mit Auswirkungen auf die
Struktur der Bauwirtschaft – sehr viel höher. Schließlich
hat es – über einen längeren Zeitraum gesehen – auch
keine nennenswerten Preissteigerungen in diesen Staaten
gegeben.

Schauen Sie doch einmal objektiv auf die Tatbestände
und klotzen Sie nicht nur. Das wird Ihnen in der Sache
nicht weiterhelfen. Die Wählerinnen und Wähler, die Sie
vermeintlich anzuwerben glauben, werden Ihnen in einer
solch unsachlichen Weise nicht folgen können.


(Beifall bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie hätten besser an der Anhörung teilgenommen!)


Wir haben zahlreiche andere Maßnahmen eingeführt,
um – ich wiederhole es – ein Stück mehr Ordnung auf dem
Arbeitsmarkt herbeizuführen. Sie wissen das; ich brauche
das hier nicht zu wiederholen. Wir haben das Gesetz zur
Beschleunigung fälliger Zahlungen verabschiedet. Wir
werden auch die neuen Vorschläge, die es vonseiten des

Bundesrates gibt, prüfen; das steht völlig außer Frage. Sie
haben in Ihrem Antrag die EU-Osterweiterung angeführt
und zählen auf, was wir alles tun müssten. Längst aber
sind durch diese Bundesregierung Übergangsfristen hin-
sichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Dienst-
leistungsfreiheit geschaffen worden.

Ich sage Ihnen noch eines: Werben Sie doch mit uns ge-
meinsam bei den Unternehmerinnen und Unternehmern
gerade in den grenznahen Gebieten in unserem Lande
dafür, sich stärker für die neuen Märkte zu interessieren
und stärker mit den Polen und Tschechen zu kooperieren,
damit aus dieser Veranstaltung eine Erfolgsstory für die
kleinen und mittleren deutschen Unternehmen werden
kann. Die Bundesregierung wird alles tun, um diesen Pro-
zess zu unterstützen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich noch etwas zur Steuerreform anmer-
ken, die letztlich für alles herhalten muss. Ich möchte in
Erinnerung rufen, dass alles, was wir unternommen ha-
ben, mit den Verbänden abgesichert war und dass die
Steuerreform, die – das haben Sie völlig beiseite gescho-
ben – mit Ihrer Zustimmung, übrigens auch mit der der
FDP, im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss zu-
stande gekommen ist, eine gute Grundlage für die Ent-
wicklung unserer Volkswirtschaft bildet.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!)


Es ist klar – der Sachverständigenrat hat das noch einmal
ausdrücklich unterstrichen –, dass ein Vorziehen der Steu-
erreform nichts bringt. Deswegen machen wir das auch
nicht.


(Beifall bei der SPD)

Auch Konjunkturprogramme, wie sie von Ihnen an-

gemahnt worden sind und Herr Stoiber sie erwähnt hat,
bringen nichts, sondern stellen allerhöchstens eine kurz-
fristige Blase dar, die letztlich platzt. Strukturell hätten
wir nichts erreicht, einzig vom Konsolidierungskurs wür-
den wir abkommen und gegen europäische Verpflichtun-
gen verstoßen. Das kann doch keine seriöse Politik sein,
Herr Schauerte.


(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Hartmut Schauerte [CDU/CSU])


Und schließlich: Es gibt zahllose Maßnahmen zur Ver-
stetigung der Baunachfrage in unserem Land. Das Bun-
desministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
hat viele der Maßnahmen, die ohnehin in der Pipeline
waren, umstrukturiert und vorgezogen. Das betrifft den
Straßenbau, den Ausbau der Schienenwege und den Woh-
nungsbau.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Selbst das können die nicht!)


Dabei handelt es sich um Milliardenbeträge. Nehmen Sie
nur die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur: 37 Mil-
liarden Euro in dieser Wahlperiode plus 6,5 Milliarden
Euro zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den
Gemeinden. Oder denken Sie daran, dass wir im Vergleich




Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt

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(C)



(D)



(A)



(B)


zum Vorjahr die Mittel für die Straßenbauleistungen noch
einmal um 10 Prozent aufgestockt haben. Das Antistau-
programm wird ebenso seine Wirkung zeigen. Außerdem
haben wir die Initiative „Bauen jetzt – Investitionen be-
schleunigen“ gestartet und versuchen, insbesondere in
den strukturell benachteiligten Bereichen, wirksam zu
werden.

Meine Damen und Herren, ich füge hinzu: Lassen Sie
die Kirche im Dorf, wenn Sie an dieser Stelle argumen-
tieren. Die Strukturen sind – das ist bereits ausgeführt
worden – durch das Gebietsfördergesetz und die 50-pro-
zentige Sonderabschreibung für Neubauten in den ersten
Jahren nach der Wiedervereinigung von Ihnen versaut
worden. Das bewirkte ein Aufblähen der Baukonjunktur,
das durch nichts gerechtfertigt war. An dieser Stelle sollte
Ihr kritisches Nachdenken beginnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch auf eines zu sprechen kommen, das
mir auch sehr wichtig ist. Wir versuchen, auch etwas
für die Qualität und die Strukturen zu tun. So haben
die Energieeinsparverordnung oder das KfW-CO2-Ge-bäudesanierungsprogramm ein Volumen von ungefähr
25000 Arbeitsplätzen gesichert oder neu geschaffen. In
diesen Bereichen führen wir das Bauen in eine neue qua-
litative Stufe. Daran sollten Sie sich orientieren. Es geht
nämlich nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität
und Strukturwandel in der Bauwirtschaft. Das ist unser
großes Anliegen. Vor diesem Hintergrund haben wir kein
Problem, jedermann mit großem Selbstbewusstsein zu
sagen, was wir auf dem Felde der Unterstützung der Bau-
wirtschaft in schwieriger Lage getan haben.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422504200
Der Kollege
Peter Rauen spricht für die Fraktion von CDU und CSU.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Jetzt wollen wir mal die Realität hören!)



Peter Rauen (CDU):
Rede ID: ID1422504300
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Als jemand, der aus der Branche
kommt, bin ich dankbar dafür, dass heute Morgen von al-
len Parteien unterstrichen worden ist, dass die Lage in der
Bauwirtschaft verheerend ist.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: So ist es!)

Da unser Antrag schon seit einem halben Jahr vorliegt,
wäre ich auch dankbar gewesen, wenn heute Morgen Bau-
minister Bodewig und Wirtschaftsminister Müller anwe-
send wären.

Die Bauindustrie war und ist eine Schlüsselindustrie.
In der Vergangenheit war sie eine Konjunkturlokomotive,
wenn es nach einer Rezession wieder aufwärts gegangen
ist. Auch das ist wohl heute noch genauso. Aber der Wan-
del, den wir in der Bauwirtschaft erlebt haben, ist schon
gravierend. Herr Wiesehügel hat zu Recht festgestellt,

dass die Baupreise 2001 nominal niedriger waren als vor
etlichen Jahren: Trotz Lohnerhöhungen und eines Kos-
tenschubs bei den Energiekosten sind die Baupreise 2001
nominal niedriger gewesen als 1995!

Seit 1995 ist die Zahl der in der Baubranche Beschäftig-
ten um 500 000 – das ist mehr als ein Drittel – zurückge-
gangen. Das gab es in keiner anderen Branche. Im letzten
Jahr waren in der Bauwirtschaft insgesamt 265 400 Men-
schen arbeitslos. Das sind fast 28 Prozent. Die Situation
in den alten Bundesländern ist sicherlich schon drama-
tisch genug. Aber in den neuen Bundesländern ist sie noch
schlimmer. Dazu kann ich nur sagen: Die Insolvenzzahlen
wiesen schon Mitte der 90er-Jahre eine stark steigende
Tendenz auf. Diese hat sich aber noch verstärkt. Laut Sta-
tistischem Bundesamt gab es 1995 5 539 Insolvenzen und
2001 9 026. Holzmann ist nicht dabei.

Es hat keinen Sinn, zu glauben, für die Krise in der
Bauwirtschaft gebe es Tausende von Ursachen. Ich ma-
che mir seit mindestens 15 Jahren – ich bin seit 36 Jahren
selbstständig – Gedanken darüber, wohin die Entwick-
lung in der Baubranche geht. Ich habe im Wesentlichen
zwei Ursachen für den Verfall der Bauwirtschaft ausge-
macht. Erstens. Die Bauwirtschaft ist wie kein ande-
rer Wirtschaftszweig durch die permanent zunehmende
Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft belastet. Zweitens.
Die Baubranche ist durch illegale Beschäftigung leider
kriminalisiert.

Wir müssen feststellen, wo die Ursachen dafür liegen.
Die Ursachen sind für mich, liebe Freunde, völlig klar: In
keiner anderen Branche ist der Unterschied zwischen
dem, was der Arbeitnehmer netto verdient, und dem, was
er brutto kostet, so groß wie in der Bauwirtschaft. Heute
muss ein Facharbeiter fünf bis sechs Stunden arbeiten, um
seine legale Arbeitsstunde zurückkaufen zu können. Das
ist die Wurzel des Übels, der Schattenwirtschaft in
Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP– Klaus Wiesehügel [SPD]: Auch durch ständige Wiederholung wird es nicht besser!)


Das ist einer der Gründe, warum sich in der Bauwirtschaft
die illegalen Beschäftigungsformen so ausgeweitet ha-
ben. Die große Spanne zwischen dem, was die Arbeitneh-
mer nach deutschem Steuer-, Arbeits- und Sozialrecht
netto bekommen, und dem, was die Arbeitnehmer brutto
kosten, ist die Spielwiese für diejenigen, die gegen das
geltende Recht verstoßen.


(Zuruf des Abg. Klaus Wiesehügel [SPD])

– Herr Wiesehügel, lassen Sie solche Zwischenrufe bitte
sein! Das Thema ist viel zu ernst. Ich bin der Meinung,
dass wir darüber qualifiziert reden müssen. Ich möchte ja
einen Mann wie Sie, Herr Wiesehügel, der als Vertreter
der Arbeitnehmer bei der Bekämpfung der illegalen
Beschäftigung mithelfen kann, gerne überzeugen.

Ich habe gestern einmal nachgerechnet, was es bedeu-
ten würde, wenn die jetzt gestellte Lohnforderung in Höhe
von 4,5 Prozent tatsächlich durchkäme – ich wünsche es
meinen Leuten; denn ich bin der Meinung, dass sie netto
zu wenig verdienen –: Ein Spezialbaufacharbeiter, der




Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt
22360


(C)



(D)



(A)



(B)


vorher 13,98 Euro pro Stunde verdient hat, bekäme dann
14,61 Euro. Was bleibt ihm netto übrig? Ihm bleiben netto
1 449 Euro übrig. Das sind im Vergleich zu dem, was er
vor der Lohnerhöhung verdient hat, leider nur 44,19 Euro
mehr. Was kostet eine solche Lohnerhöhung den Unter-
nehmer? Eine solche Lohnerhöhung kostet den Unterneh-
mer 158,29 Euro mehr. Das heißt also, damit die Mit-
arbeiter netto lächerliche 44,19 Euro mehr bekommen,
muss der Unternehmer 158,29 Euro mehr aufwenden.
Es verschwinden also gut 114 Euro in den öffentlichen
Kassen.

Lassen Sie uns doch einmal darüber nachdenken! Es
kann doch nicht wahr sein, dass bei einer Lohnerhöhung
um 1 DM nur vier Groschen beim Arbeitnehmer ankom-
men, dem Betrieb aber Mehrkosten in Höhe von 1,50 DM
entstehen! Sie müssen doch begreifen, dass dann, wenn
wir die Ursache für dieses Übel nicht beheben, nur der
Zwang der Menschen, sich ökonomisch zu verhalten, also
in die Schwarzarbeit zu gehen, verstärkt wird und dass
noch mehr Kräfte wirken werden, illegale Strukturen auf-
zubauen.

Entgegen allen Versprechungen Ihrer Regierung ist es
leider nicht gelungen – es ist auch uns seinerzeit nicht ge-
lungen –, die Lohnzusatzkosten zu senken. Wir sind mit
den Sozialversicherungsbeiträgen im Jahr 2002 wieder
auf genau dem Niveau angelangt, auf dem wir 1998 wa-
ren. Das ist Fakt. Dennoch müssen die Betriebe mit der
Ökosteuer und anderem enorme Kostenschübe verkraf-
ten, ohne dass sie das über die Preise weitergeben können.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben eindeutig den Vorteil!)


Die Rechnung, die Sie einmal aufgestellt haben, nämlich
die Ökosteuer einzuführen, um die Rentenversicherungs-
beiträge zu reduzieren, stimmt nicht mehr. Das ist aufge-
fressen worden.

Den Menschen, der seine Lohnabrechnung bekommt,
interessiert nicht, ob das Geld an die Krankenkasse, ans
Finanzamt oder in die Pflegeversicherung geht; er stellt
nur fest, dass ihm von dem, was er verdient, netto immer
weniger übrig bleibt.

Wenn wir keine Umkehr schaffen, dann werden wir
dem nicht gerecht werden, was mit Europa auf uns zu-
kommt. Wir haben gesagt: Europa, das ist der freie Ver-
kehr von Menschen, Waren und Dienstleistungen. Die
Menschen verhalten sich jetzt so, wie wir Politiker es
wollten. Ich finde es auch völlig normal, dass Menschen
aus anderen Ländern bei uns arbeiten.

Über eines war ich aber schon erstaunt: Ich war vor ei-
niger Zeit in Portugal, wo es einen riesigen Bauboom gibt.
Ich habe geguckt, wer dort arbeitet, weil ja die Portu-
giesen in Deutschland, in Frankreich und in Luxemburg
arbeiten. Dort in Portugal arbeiten die Marokkaner. Wenn
man guckt, wer in Tschechien oder in Polen auf dem Bau
schafft, dann stellt man fest, dass es die Ukrainer, die
Letten und die Weißrussen sind. Diese Migration findet
also statt. Wenn wir in Deutschland glauben, wir könnten
in unserem Sozialstaat zulassen, dass eine solch große
Spanne besteht zwischen dem, was Menschen verdienen,
und dem, was sie letztlich ausgeben können, und dem,

was brutto an Arbeitskosten produziert wird, dann werden
wir die Herausforderungen der Zukunft nicht bestehen.

Ich komme zum letzten Punkt. Es ist evident, dass das
mit dem Thema zu tun hat, und darauf ist auch der Herr
Staatssekretär eingegangen. Es findet leider ein Rückgang
der öffentlichen Investitionen statt. Fakt ist, dass der
Bund im Jahr 2002 – er geht da mit schlechtem Beispiel
voran – 5 Milliarden Euro weniger investiert als 1998.
Das ist keine Fantasie von mir, sondern das ist Fakt; das
kann man im Bundeshaushalt 2002 nachlesen. Die Bau-
investitionen des Bundes sind im Jahr 2001 gegenüber
dem Jahr 2000 um 6,6 Prozent zurückgegangen. Sie ge-
hen nach den Planungen nun wiederum um 6,2 Prozent
zurück. Das heißt, der gepriesene Finanzminister Eichel
hat seinen Haushalt über die Investitionen konsolidiert.
Das ist genau der falsche Weg. Er hätte über die Ausgaben
konsolidieren müssen. Das hat er aber nicht geschafft. Er
hat die Kraft dazu nicht gehabt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nun kann man sagen: Für die Bauwirtschaft spielt der

Bund nicht die große Rolle; die Investitionen der Ge-
meinden sind für die Bauwirtschaft am wichtigsten, und
zwar flächendeckend. Es ist aber leider die Wahrheit, dass
mit der Steuerreform die Finanzen der Gemeinden ruiniert
worden sind.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Sie haben weit mehr Steuerausfälle zu verkraften, als dass
sie ihre Investitionsvorhaben noch auf den Weg bringen
könnten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gudrun Kopp [FDP])


Hier sind ja viele, die kommunal tätig sind, vielleicht
sogar bei der Zuhörerschaft. Wer auch nur drei Jahre in ei-
nem Gemeinderat war, der weiß: Wenn bei den Einnah-
men auch nur ein Stückchen wegbricht, dann trifft das die
Spitze der frei verfügbaren Finanzen und damit vor allem
die Investitionen. Wir haben also die verheerende Situa-
tion eines sich selbst beschleunigenden Abschwungs in
der Bauwirtschaft. Da steht uns noch etwas bevor und von
dieser Regierung wird nicht gegengesteuert!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kutzmutz, lassen Sie mich ganz kurz noch auf ei-

nes eingehen. Wenn schon keine Haushaltsmittel verfüg-
bar sind, mit denen etwas finanziert werden kann, dann
muss ein Stückchen Fantasie entwickelt werden. Wir wis-
sen, was es auch in den neuen Bundesländern an plan-
festgestellten Maßnahmen gibt. Die müssen morgen fi-
nanziert werden. Wenn der Staat schon keine
Finanzierungen mehr übernehmen kann – denn er hat sich
verrannt –, dann muss er zumindest privates Geld mobili-
sieren, damit die entstandene Infrastrukturlücke und auch
die in den neuen Bundesländern bestehende hohe Pro-
duktivitätslücke endlich geschlossen werden und es zu ei-
nem selbst tragenden Aufschwung kommt.

Zur Konzessionsabgabe sagen die Grünen: Das ist ein
Griff auf zukünftige Haushalte. – Das stimmt; Sie haben
Recht. Aber die Alternativen sind folgende: entweder die




Peter Rauen

22361


(C)



(D)



(A)



(B)


Volkswirtschaft noch weiter in den Keller zu fahren oder
privates Kapital zu mobilisieren,


(Beifall bei der CDU/CSU)

damit Investitionen zu ermöglichen und dann mit einer
klaren Ausgabenkonsolidierung zukünftig Spielräume zu
schaffen, damit wir anstehende Baumaßnahmen finanzie-
ren können.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ihnen geht es nur darum, falsche Versprechungen zu machen!)


Ich komme aus der Branche und habe keine Freude an
der derzeitigen Entwicklung. Nur, wie untätig und desin-
teressiert die derzeitige Regierung in diesem Bereich ist,
das ist wirklich schlimm.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist doch gar nicht wahr! Herr Staffelt hat das sehr genau erklärt!)


– Herr Staffelt hat gesagt, was getan wird. Zum Kollegen
Schauerte habe ich daraufhin gesagt: Das Schlimmste ist,
dass er glaubt, was er sagt, nämlich dass die Maßnahmen
der Regierung ausreichen. Sie reichen nicht aus. Ich bin
nicht böswillig; aber ich möchte auf Folgendes hinwei-
sen: Es muss Entscheidendes geschehen, wenn wir in
Deutschland das Problem der Arbeitslosigkeit insbeson-
dere im Baubereich lösen wollen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wieder falsche Versprechungen gemacht!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422504400
Letzter Red-
ner in dieser Debatte ist der Kollege Dieter Maaß (Herne).
Er spricht für die SPD-Fraktion.


Dieter Maaß (SPD):
Rede ID: ID1422504500
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wieder einmal beschäftigt sich der
Deutsche Bundestag mit der Lage in der Bauwirtschaft.
Seit 1995 ist der Auftragseingang in der Branche rückläu-
fig. Die Zahl der Beschäftigten geht zurück. Dieser Trend
scheint – zumindest im Westen – gestoppt, allerdings auf
niedrigem Niveau.

Ich möchte heute die Gelegenheit nutzen, die Maßnah-
men darzustellen, die die Bundesregierung und die sie tra-
gende Koalition seit 1998 ergriffen haben, um die Rah-
menbedingungen für alle im Baubereich Tätigen zu
verbessern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Was fanden wir bei der Regierungsübernahme vor?

Die von CDU/CSU und FDP gewährte 50-prozentige
steuerliche Sonderabschreibung in den neuen Bundes-
ländern hat zu erheblichen Überkapazitäten am Bau ge-
führt. Wie keine andere Branche leidet die Bauwirtschaft
unter den Problemen der Schwarzarbeit und der illegalen
Beschäftigung, die von der Regierung Kohl nicht be-
kämpft worden sind.


(Beifall bei der SPD)


Unsere höchste Belastung ist die hohe Staatsverschul-
dung: 1 500 Milliarden DM allein beim Bund. Dafür tra-
gen Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und
der FDP – ich kann es Ihnen nicht ersparen –, die Verant-
wortung. Wir haben mit dem Schuldenabbau begonnen
und halten trotz geringen Wirtschaftswachstums daran
fest.

Darüber hinaus haben wir eine Steuerreform durchge-
setzt, durch die die Unternehmen entlastet worden sind.
Dies gilt auch für mittelständische Unternehmen, obwohl
von Interessengruppen oft anderes behauptet wird.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)

Um die Lohnnebenkosten, die Kosten der Arbeit, zu sen-
ken und den Verbrauch von Ressourcen zu lenken, haben
wir die Ökosteuer eingeführt. Dazu stehen wir, auch im
Wahljahr.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben das Arbeitnehmer-Entsendegesetz verbessert,
um die legale Beschäftigung zu sichern.

Zu unseren haushaltspolitischen Maßnahmen im Hin-
blick auf die Bauwirtschaft: Insgesamt stellen wir 2002
allein für die Bereiche Wohnungswesen und Städtebau In-
vestitionen in Höhe von rund 2 Milliarden Euro zur Ver-
fügung.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Dann ist ja alles in Ordnung! – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Warum sitzen wir dann eigentlich hier?)


Zusätzliche Finanzmittel für Investitionen aus der Zins-
einsparung durch den Verkauf der UMTS-Lizenzen
fließen in die Infrastruktur. In einem Zeitraum von zwei
Jahren macht dies für die Instandhaltung und den Neubau
bei Schiene und Straße fast 4,5 Milliarden Euro aus.

Für das Anti-Stau-Programm werden bis 2007 rund
3,8 Milliarden Euro bereitgestellt. Wir haben die Mittel
für die Städtebauförderung letztes Jahr auf 434 Millionen
Euro erhöht. Für den Stadtumbau sind es bis 2005 jährlich
153 Millionen Euro.


(Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Das ist doch ein tolles Programm!)


Das Wohngeld – wir bezeichnen es als indirekte Inves-
tition – ist um 3,75 Millionen Euro jährlich gesteigert
worden.

Mit unseren Reformen des Wohnbaurechtes fördern
wir gezielt im Wohnungsbestand und haben dabei auch
dem genossenschaftlichen Wohnungsbau eine höhere Be-
deutung zugemessen. Wir helfen mit diesem Gesetz den
Beziehern niedriger Einkommen, zu Wohneigentum zu
kommen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber die Genossenschaften sehen das ganz anders!)


– Das würde ich nicht sagen. – Sie, meine Damen und
Herren von CDU/CSU und FDP, sind währenddessen nur
um die Bezieher von Jahreseinkommen über 123000 Euro
besorgt.




Peter Rauen
22362


(C)



(D)



(A)



(B)


Das KfW-Programm zur Wärmedämmung schafft
Arbeitsplätze in Klein- und Mittelbetrieben.


(Beifall bei der SPD)

Angesichts der immensen Verschuldung, die uns die Re-
gierung Kohl hinterlassen hat, sind diese Investitionen das
Maximum des Möglichen, um Arbeitsplätze am Bau zu si-
chern.

Bevor Sie, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, weitere Ausgaben fordern, sollten Sie erst einmal er-
klären, wie Sie diese Forderungen mit dem Ziel des
Schuldenabbaus in Einklang bringen wollen. Weiter ge-
hende Investitionsprogramme sind nur möglich, wenn wir
in eine höhere Staatsverschuldung gehen. Das will aber
niemand: weder die Koalition noch die Regierung und
auch nicht die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.


(Klaus Wiesehügel [SPD]: Aber Herr Stoiber!)

Die Forderung der FDP nach Deregulierung


(Dirk Niebel [FDP]: Ist sehr vernünftig!)

kommt für uns Sozialdemokraten nicht infrage. Wir wol-
len keine Liberalisierung des Arbeitnehmerüberlassungs-
gesetzes und keine Flexibilisierung des Tarifrechts durch
die Einführung von gesetzlichen Öffnungsklauseln. § 77
Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes lassen wir unver-
ändert: Betriebsräte können nicht Tarifvertragspartei sein.


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Lauter gute Gründe, euch abzuwählen!)


In einigen Monaten endet die 14. Legislaturperiode des
Deutschen Bundestages.


(Klaus Wiesehügel [SPD]: Erfolgreich!)

Wir Sozialdemokraten und unser Koalitionspartner haben
aber noch zwei Gesetzentwürfe in den Beratungen der
Ausschüsse, die die Rahmenbedingungen der Bauindus-
trie verbessern sollen. Da ist zum einen das Gesetz zur
Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarz-
arbeit und zum anderen das Gesetz zur Tariftreue im
Vergaberecht. In einer der nächsten Sitzungen stehen sie
hier zur Entscheidung an. Wir wollen mit diesen Gesetzen
die Arbeitnehmer, die Unternehmen, aber auch unsere So-
zialsysteme vor Sozialdumping schützen.

Ich bitte Sie hier und heute: Helfen Sie uns dabei und
geben Sie diesen Gesetzen Ihre Zustimmung!

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422504600
Ich schließe
die Aussprache.

Tagesordnungspunkt 14: Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8504 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Offensive für die Bauwirtschaft“. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6315 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-

probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung
der FDP angenommen.

Zusatzpunkt 13: Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
auf Drucksache 14/8506 zu dem Antrag der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Ti-
tel „Zukunft der deutschen Bauwirtschaft“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7297 an-
zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei
Enthaltung der PDS angenommen.

Zusatzpunkt 14: Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8507
zu dem Antrag der Fraktion der FDPmit dem Titel „Mehr
Chancen für die Bauwirtschaft durch weniger Regulie-
rung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/7458 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der
FDP bei unterschiedlichem Abstimmungsverhalten der
CDU/CSU – teils Ablehnung, teils Enthaltung – ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zurVereinfachung derWahl derArbeitnehmer-
vertreter in den Aufsichtsrat
– Drucksache 14/8214 –

(Erste Beratung 218. Sitzung)

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss)

– Drucksachen 14/8529, 14/8546 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Karl-Josef Laumann

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 14/8530 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner
Oswald Metzger

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolle-
ginnen und Kollegen, die an dieser Debatte nicht teilneh-
men möchten, sich in die Lobby zu begeben.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem Par-
lamentarischen Staatssekretär Gerd Andres das Wort.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Warum nicht dem Minister?)





Dieter Maaß (Herne)


22363


(C)



(D)



(A)



(B)


G
Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1422504700
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute in
zweiter und dritter Lesung einen außerordentlich wichti-
gen Gesetzentwurf, der sich in zwei unterschiedliche
Teile gliedert.

Die Forderungen nach Regulierung und Modernisie-
rung gesetzlicher, insbesondere arbeitsrechtlicher Rege-
lungen sind weit verbreitet. Sie sind häufig überzogen,
manchmal aber auch sehr berechtigt. Wenn wir erkennen,
dass bestehende Strukturen zu kompliziert und schwerfäl-
lig sind, müssen wir sie durch neue, zielführende Organi-
sationseinheiten und Arbeitsabläufe ersetzen. Dies ge-
schieht durch den vorliegenden Gesetzentwurf.

Mit der Vereinfachung des Verfahrens zur Wahl der Ar-
beitnehmervertreter in den Aufsichtsrat durch Art. 1 und
Art. 2 dieses Gesetzentwurfes greifen wir gezielt die Be-
dürfnisse der Praxis auf. Diese kritisiert das bisherige
Wahlverfahren seit vielen Jahren als zu kompliziert, kos-
tenträchtig und langwierig. Das Gesetz zur Vereinfachung
der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat
setzt an diesen Kritikpunkten an und bildet die rechtliche
Grundlage für die notwendige Anpassung der Wahlord-
nung: Wir reduzieren die Zahl der Delegierten und errei-
chen so Kostenersparnisse und organisatorische Erleich-
terungen bei der Durchführung der Wahlen. Bei der
Ermittlung der Kandidaten der leitenden Angestellten
wird es künftig nur noch eine Abstimmung geben; dies ge-
staltet das Wahlverfahren einfacher und es wird zeitlich
gestrafft. Den Bedürfnissen der Unternehmen nach mehr
Flexibilität bei der Durchführung des Wahlverfahrens tra-
gen wir dadurch Rechnung, dass Vorbereitung und Ablauf
der Wahlen künftig auch unter Nutzung moderner Infor-
mations- und Kommunikationstechnik möglich sind.

In vielen Unternehmen sind in diesem und im nächsten
Jahr die Aufsichtsratswahlen durchzuführen. Mit dem Ge-
setz zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertre-
ter in den Aufsichtsrat ermöglichen wir diesen Unterneh-
men ein modernes, zeitlich gestrafftes und nicht zuletzt
auch kostengünstigeres Wahlverfahren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Art. 3
dieses Gesetzes reagieren die Bundesregierung und die
sie tragenden Koalitionsfraktionen, bestehend aus SPD
und Bündnis 90/Die Grünen, auf die Krise der Bundes-
anstalt für Arbeit um ihre Vermittlungstätigkeit. Ich er-
kläre hier, dass die Bundesregierung mit diesem Gesetzes-
teil schnell, angemessen und entschieden Strukturen
verändert, die zu kompliziert und schwerfällig geworden
sind, und Innovationen durchsetzt, die auf dem Arbeits-
markt zu neuen Chancen und Möglichkeiten führen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Erinnern wir uns: Am 16. Januar erreichte das Bundes-
arbeitsministerium ein Bericht des Bundesrechnungsho-
fes; das ist knapp acht Wochen her. Wir wurden dadurch
mit Praktiken der Arbeitsvermittlung konfrontiert, die wir
bis dahin nicht für möglich gehalten hatten.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Warum ist das denn niemandem aufgefallen? – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Fragen Sie doch mal Norbert Blüm! – Gegenruf des Abg. Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der ist ja nicht mehr Minister!)


Der Bundesarbeitsminister hat schnell und entschieden
gehandelt; wir haben zur Aufklärung der Tatbestände bei-
getragen. Die Bundesanstalt für Arbeit hat selbst Untersu-
chungen in Gang gesetzt. Diese Entwicklungen haben
dazu geführt, dass der Bundeskanzler und der Bundes-
arbeitsminister am 22. Februar ein zweistufiges Konzept
öffentlich vorgestellt haben, mit dem wir kunden- und
wettbewerbsorientierte Dienstleistungen auf dem Arbeits-
markt durchsetzen und erhebliche Veränderungen in der
Arbeitsmarktpolitik und in der Arbeitsverwaltung umset-
zen. Mit Art. 3 dieses Gesetzentwurfs tun wir das. Ich
weise darauf hin, dass seit der Vorstellung dieses Kon-
zepts auf der Bundespressekonferenz am 22. Februar ge-
rade drei Wochen vergangen sind.

Nun möchte ich ein paar Bemerkungen zu den Kern-
punkten dieses Konzepts machen. Die Leitung der Bun-
desanstalt für Arbeit wird völlig umstrukturiert: Sie wird
sich in der Zukunft nicht mehr von den Spitzen privater
Unternehmen unterscheiden. Sie erhält einen dreiköpfi-
gen Vorstand, der nur auf vertraglicher Basis und auf Zeit
in der Verantwortung bleibt. Effektivität und Wettbewerb
werden, wie in der Wirtschaft, die Leitlinie sein. Wie Sie
wissen, wird Florian Gerster, der jetzige Sozialminister
des Landes Rheinland-Pfalz, der neue Vorsitzende des
Vorstands der Bundesanstalt für Arbeit.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wird er denn wohl auch dürfen?)


Außerdem werden wir den bisherigen Vorstand und
den bisherigen Verwaltungsrat zusammenführen und
deutlich verschlanken. Der Verwaltungsrat wird künftig
nur noch aus 21 Personen bestehen. Seine Wirkungsweise
und seine Kompetenz werden dem Aufsichtsrat nach dem
Aktienrecht weitgehend angeglichen. Der Verwaltungsrat
erhält deutlich mehr Kompetenzen und Zuständigkeiten.
Er hat die Aufgabe, den Vorstand zu kontrollieren.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Kommt Frau Engelen-Käfer denn wieder rein?)


Damit schaffen wir moderne Dienstleistungsstrukturen an
der Spitze der Bundesanstalt für Arbeit. Wir werden die-
sen Strukturprozesss in der nächsten Legislaturperiode
fortsetzen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: In der Opposition dürfen Sie das dann korrigieren! – Gegenruf der Abg. Erika Lotz [SPD]: Das entscheiden nicht Sie, sondern die Wähler! – Gegenruf des Abg. Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Da bin ich zuversichtlich, so wie Sie aufgestellt sind!)


Ich komme auf den Kern dieser Reform, die wir zügig
fortsetzen, zu sprechen. Die Arbeitsmarktpolitik der Bun-
desregierung orientiert sich am Grundsatz „fördern und
fordern“. Dies erfordert ein intensives Eingehen auf die
individuellen Potenziale und Probleme der Arbeits-
suchenden und die konkreten Bedürfnisse der Unterneh-
men. Bereits das Job-AQTIV-Gesetz zielt deshalb auf
eine Neuausrichtung der Arbeitsvermittlung ab. Die hin-






(C)



(D)



(A)



(B)


ter uns liegende Krise der Bundesanstalt für Arbeit hat die
Chance geboten, grundlegende Änderungen durchzu-
führen und aus starren Behördenstrukturen und institutio-
nell bedingten Fehlsteuerungen die notwendigen Konse-
quenzen zu ziehen. Genau das machen wir mit dem
heutigen Gesetzentwurf.


(Beifall bei der SPD)

Dazu gehört, dass wir die Kernkompetenz der Bundes-

anstalt stärken. Das heißt vor allen Dingen: Wir müssen
alles tun, um das günstigste, schnellstwirksame Instru-
ment der Arbeitsmarktpolitik, nämlich die Vermittlung, zu
verstärken und zu verbessern. Die notwendigen Änderun-
gen müssen in der Bundesanstalt für Arbeit selbst vorge-
nommen werden. Diesbezüglich hat der neue Vorstand in
den nächsten Monaten ganz entscheidende Aufgaben
wahrzunehmen. Außerdem müssen wir die Bundesanstalt
für Arbeit in den entsprechenden Segmenten dem Wettbe-
werb aussetzen.

Wir haben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die
Bedingungen für private Vermittlung deutlich verbessert.
Wir haben alle bürokratischen Hemmnisse für die Zulas-
sung zur privaten Vermittlung aufgehoben. Es gibt keine
Erlaubnisvorbehalte mehr. Wir werden durchsetzen, dass
es zu einer Verbandszertifizierung und zu einem Gütesie-
gel für private Vermittler kommt.

Wir eröffnen die Möglichkeit, dass private Vermittler
künftig auch von Arbeitnehmern Honorare nehmen. Ge-
genwärtig können sie das nur von Arbeitgebern. Ich will
ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Chance auf zu-
sätzliche Vermittlungen damit deutlich erhöht wird. Künf-
tig ist es nicht nur möglich und selbstverständlich, die
Vermittlungsangebote der Bundesanstalt für Arbeit wahr-
zunehmen, sondern auch, Private in Anspruch zu nehmen,
die Honorare sowohl von Arbeitgebern als auch von Ar-
beitnehmern erhalten können.

Wir führen als zusätzliches Instrument Vermittlungs-
gutscheine ein. Sie sind mit folgender Staffelung verbun-
den: Im ersten halben Jahr der Arbeitslosigkeit belaufen
sie sich auf 1 500 Euro, vom sechsten bis zum neunten
Monat auf 2 000 Euro und ab dem neunten Monat auf
2 500 Euro.

Wir eröffnen zusätzlich die Möglichkeit der privaten
Arbeitsvermittlung aus dem Ausland.

Die Bundesregierung hat mit diesem Gesetzentwurf
viele Innovationen auf den Weg gebracht und zügig und
schnell gehandelt. Sie kann sich daher relativ sicher sein,
dass die von ihr ergriffenen Maßnahmen – auch im Ver-
gleich zu dem, was die Opposition diskutiert hat – kon-
kurrenzlos sind.

Ich habe einmal eine Reihe von Papieren durchgelesen,
die Sie verabschiedet haben, und muss Ihnen sagen – Herr
Laumann verzieht jetzt das Gesicht –, dass Sie sich bei der
Beratung des Ausschusses zu Art. 3 des Gesetzentwurfes
ausdrücklich anders ausgesprochen haben. Sie haben
große Probleme, öffentlich zu vermitteln, was schlecht an
dem ist, was die Regierung auf den Weg gebracht hat. Sie
haben deshalb diese Schwierigkeiten, weil daran nichts
Schlechtes zu finden ist.

Wir haben entschieden und schnell gehandelt. Die
Bundesregierung nimmt ihre Verantwortung wahr, und
zwar auch mit dem jetzigen Gesetzespaket, das am
1. April in Kraft tritt. Es wird seine Wirksamkeit entfal-
ten. Zusätzlich haben wir eine Kommission unter der
Leitung von Dr. Peter Hartz eingesetzt, die weitere Vor-
schläge unterbreiten soll. Die Kommission wird ihre Vor-
schläge zum 15. August vorlegen. Wir werden mit diesen
Vorschlägen in den Wahlkampf gehen, weil wir ein Inte-
resse daran haben, dass die Bürgerinnen und Bürger er-
fahren, welche weiteren Strukturreformen wir bezüglich
des Arbeitsmarktes und der Bundesanstalt für Arbeit in
der nächsten Legislaturperiode durchsetzen werden. Für
diese Reformen werden wir öffentlich werben. Sie kön-
nen Ihre Vorschläge unterbreiten. Ich bin mir aber relativ
sicher, dass wir dieses Reformwerk nach dem 22. Sep-
tember fortsetzen werden.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Ihr habt eure Zeit gehabt!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1422504800
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Karl-Josef
Laumann.


Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1422504900
Sehr geehrter
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
CDU/CSU-Fraktion wird – das haben wir auch im Aus-
schuss deutlich gemacht – dem Teil des Gesetzes, der sich
mit der Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmer in die
Aufsichtsräte beschäftigt, zustimmen. Sie haben sich
aber dafür entschieden, dieses Gesetz politisch mit einem
ganz anderen Thema zu besetzen. Dazu möchte ich heute
reden.

Erstens. Wir haben erlebt, dass die Regierung das
Gesetzgebungsverfahren, das die Dinge regelt, von denen
der Staatssekretär hier gesprochen hat, in ganzen drei Ar-
beitstagen im Deutschen Bundestag durchgesetzt hat; die
Beratungen im Ausschuss waren am Mittwochmittag
abgeschlossen. Dazu kann ich nur sagen: Dass die Regie-
rung, die über zwei Wochen braucht, um das Gesetz auf-
zuschreiben, dem Fachausschuss nur drei Tage zur Bera-
tung lässt oder eine Anhörung durchführt, zu der einige
Sachverständige deswegen nicht kommen konnten, weil
sie zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal die Einladung hat-
ten, macht deutlich, dass das Parlament für diese Bundes-
regierung anscheinend nur noch eine Staffage ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen – dazu zähle
ich insbesondere die Kolleginnen und Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen, die ich einmal als Basisdemo-
kraten erlebt habe – lassen sich durch eine solche Vorge-
hensweise zu Erfüllungsgehilfen machen.


(Dirk Niebel [FDP]: Das haben Sie wirklich nicht erlebt! – Zuruf von der CDU/CSU: Lang, lang ist’s her! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)





Parl. Staatssekretär Gerd Andres

22365


(C)



(D)



(A)



(B)


Zweitens. Sie haben bei der Erarbeitung dieses Geset-
zes hinsichtlich der Neuordnung der BA auf der obersten
Ebene, auf der Ebene in Nürnberg, die große Chance ver-
tan, die Tätigkeit der Bundesanstalt für Arbeit auf die
Versicherungsleistungen, auf die Arbeitslosenversiche-
rung, zu konzentrieren. Wir hätten es gerne gesehen, wenn
die Drittelparität aufgegeben worden wäre, sodass die
Beitragszahler, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer, für den
Versicherungsteil allein verantwortlich hätten entschei-
den können. Die zusätzlichen, allgemeinen staatlichen
Aufgaben, die heute über die Arbeitsämter abwickelt wer-
den werden, unterfielen dann der Entscheidung der Poli-
tik, ohne dass andere, die damit nichts zu tun haben, hier
hineinreden könnten. Diese Chance haben Sie vertan.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Es bleibt ein Selbstbedienungsladen!)


Ein weiterer Punkt. Sie haben in diesem Gesetzge-
bungsverfahren nichts, aber auch gar nichts getan, um die
staatliche Arbeitsvermittlung der Bundesanstalt für Ar-
beit zu verbessern. Sie haben in das Gesetz hineinge-
schrieben, dass der neue Vorstand unter Berücksichtigung
der jetzt geltenden öffentlichen Dienstrechts- und Tarif-
strukturen zusehen solle, wie er Verbesserungen zustande
bekommt. Ich sage Ihnen voraus: Mit öffentlichen
Tarifstrukturen wird eine erfolgsabhängige Prämienbe-
zahlung der staatlichen Arbeitsvermittler nicht funktio-
nieren. Nie und nimmer!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Warum sind Sie nicht demVorschlag gefolgt, dass auch die
staatliche Arbeitsvermittlung als ein Eigenbetrieb inner-
halb der Bundesanstalt fürArbeit geführt wird? Dann hätte
zwischen den staatlichen und den privaten Arbeitsver-
mittlernzum1.AprilGleichheit hergestelltwerdenkönnen.

Am 1. April werden in diesem Land 2,6 Millionen
Menschen, die länger als drei Monate arbeitslos sind, ei-
nen Anspruch auf einen Vermittlungsgutschein haben.
Herr Staatssekretär, wenn wir einmal davon ausgehen,
dass sie im Schnitt einen Gutschein in Höhe von
2 000 Euro bekommen, dann ergibt sich daraus auf einen
Schlag eine Summe von 5,2 Milliarden Euro, die Sie auf-
bringen müssen. Dann geht Ihr Haus hin


(Dirk Niebel [FDP]: Und sagt, das kostet nichts!)


und schreibt allen Ernstes in einer Vorlage für den Haus-
haltsausschuss, dass das durch eingespartes Arbeitslosen-
geld kompensiert werde und man im Übrigen dafür im
Haushalt der BA einen Leertitel vorsehen werde. Das ist
schon ein tolles Stück.

Viel schlimmer ist, dass für die private Arbeitsver-
mittlung 5,3Milliarden auf dem freien Markt ausgegeben
werden sollen, aber im Gesetz nicht eine einzige Voraus-
setzung genannt wird, die ein privater Arbeitsvermittler
erfüllen muss. Indem Sie für diesen sensiblen Bereich
keinerlei Vorgaben machen, befinden Sie sich auf dem
Holzweg; denn somit sind die Vorgaben für jemanden, der
in Deutschland eine Bulette verkaufen will, höher als für
jemanden, der Menschen vermittelt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Erika Lotz [SPD]: Erfolgsabhängig ist die Vorgabe!)


– Dann können wir auch beim Bulettenverkauf die Vor-
gaben erfolgsabhängig gestalten. – Sie haben nicht einmal
vorgeschrieben, dass Vermittler eine Berufsausbildung
haben müssen oder wie ein Büro aussehen muss. In den
entsprechenden Gesetzen für Anwälte steht wenigstens
noch drin, dass ein solches Büro öffentlich zugänglich
sein muss.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie erzählen ja sonst auch Unsinn!)


Wissen Sie, was aufgrund dieses Gesetzes passieren
wird? – Sie sorgen dafür, dass sich in diesem Bereich See-
lenverkäufer selbstständig machen und durch diese Leute
die gute Idee der privaten Arbeitsvermittlung diskreditiert
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Erika Lotz [SPD]: Populismus pur!)


Wenn man innerhalb von drei Tagen ein Gesetz durch-
peitscht, kann man das natürlich nicht ordentlich regeln.
Seien Sie nicht auch noch stolz darauf! Auch die Stellung-
nahmen des Bundesverbandes Personalvermittlung,
die uns in den letzten Tagen erreicht haben, kritisieren,
dass Sie in diesem Punkt nichts geregelt haben.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sind Sie Lobbyist oder Fachpolitiker?)


Hier handelt es sich einfach um eine schlampige Gesetz-
gebungsarbeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unsinn!)


In Deutschland muss aus gutem Grund derjenige, der
Fahrräder repariert, zumindest einen Meisterbrief haben.
Vor diesem Hintergrund ist aber das Gesetz, das Sie, Herr
Riester, auf den Weg gebracht haben und nach dem pri-
vate Arbeitsvermittler in diesem Land überhaupt keine
Voraussetzungen mitbringen müssen,


(Klaus Brandner [SPD]: Oberregulierer!)

unverantwortlich. Ihrem Hinweis auf § 35 Gewerbeord-
nung in diesem Zusammenhang entgegne ich, dass es sich
hierbei nicht um eine Präventivregelung handelt. Es muss
erst einmal im Einzelfall bewiesen werden, dass die Leute
nicht vertrauenswürdig gearbeitet haben. In einem so sen-
siblen Bereich so zu handeln ist unverantwortlich.

Ich habe jetzt gerade gehört, ich sei der Oberregulierer.

(Klaus Brandner [SPD]: So ist es!)


Herr Brandner, dazu kann ich nur sagen, dass Sie uns doch
fünf Minuten vor der Abstimmung im Ausschuss einen
Entschließungsantrag auf den Tisch gelegt haben, in dem
Ihre und die grüne Fraktion die Bundesregierung auffor-
dern, dieses Problem zu regeln.


(Klaus Brandner [SPD]: Überhaupt nicht!)

Wenn Sie es aber erst dann regeln, wenn sich die Leute
schon selbstständig gemacht haben, dann bekommen Sie
es nicht mehr in den Griff.


(Erika Lotz [SPD]: Lesen! – Klaus Brandner [SPD]: Die Verbände regeln es selbst!)





Karl-Josef Laumann
22366


(C)



(D)



(A)



(B)


Es werden lange Übergangsfristen notwendig für diejeni-
gen, die der Zertifizierung, die Sie sich später einfallen
lassen, nicht entsprechen. Das, was Sie uns und dem deut-
schen Volk letzten Endes zumuten, zeugt von unseriöser
Arbeit. Mit einem solchen Gesellenstück, Herr Riester,
hätten Sie nicht einmal eine Gesellenprüfung bestanden.
Das ist ganz sicher.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Er hätte Arbeitsvermittler werden können! Dafür braucht er keine Qualifikation!)


Nehmen wir einen weiteren Punkt, damit die Leute in
Deutschland einmal erkennen, wie die Bundesregierung
denkt. Der Vorschlag des Ministeriums lautete ja nun al-
len Ernstes, dass die arbeitslosen Menschen die private
Arbeitsvermittlung zu großen Teilen selber zahlen sollten.
Sie, Herr Riester, haben ein entsprechendes Gesetz einge-
bracht, das die Koalitionsfraktionen unter Ihrem Namen
übernommen haben. Das macht das Ganze eigentlich
noch viel schlimmer. In dem Gesetz stand, dass der Ar-
beitsvermittler einem Maurer, der eine mit 2 000 Euro be-
zahlte Arbeit aufnimmt, 5 000 Euro abnehmen kann, von
denen er im Endeffekt 3 500 Euro selber tragen muss. Da
Sie, Herr Riester, das so eingebracht haben, wissen wir
auch, wie Sie denken. Dass das Gesetz dann von den Ko-
alitionsfraktionen abgelehnt wurde, ist ein anderes
Thema. Daran erkennen wir, wie die jetzige politische
Führung des Arbeitsministeriums denkt: sozialpolitisch
unverantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch dieses müssen wir heute feststellen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihr Unsinn steigert sich von Minute zu Minute!)


Nun wuchs der politische Druck. Ich habe ja schon bei
der Ausschusssitzung am Freitag gemerkt, wie nervös die
Kollegen der SPD wurden, als wir diesen Punkt themati-
sierten.


(Erika Lotz [SPD]: Es wäre schön gewesen, wenn du in der letzten Legislaturperiode einmal nervös geworden wärst!)


Also wurde das Gesetz geändert und hereingeschrieben,
dass die Leute einen Vermittlungsgutschein im Wert von
1 500 Euro bekommen sollen. Sie erreichen damit aber
nur, dass die private Arbeitsvermittlung den Problem-
gruppen verschlossen bleibt. Denn wenn die Arbeitgeber
eigentlich Eingliederungszuschüsse bräuchten, um über-
haupt Leute einzustellen, werden sie niemals bereit sein,
an den privaten Arbeitsvermittler etwas zu zahlen, der ih-
nen den Mann oder die Frau vermittelt hat. Deswegen ist
Ihr Kriterium mit den 1 500 Euro für die Problemgruppen
auf dem Arbeitsmarkt unintelligent und der Betrag auch
nicht hoch genug.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Jetzt nenne ich einen letzten Punkt. Sie haben die Frage
des Vermittlungsgutscheins allein an die Dauer der
Arbeitslosigkeit gekoppelt. Das heißt, die langsamen
Vermittler bekommen die besten Gutscheine. Wenn ich

Arbeitsvermittler wäre und jemand zu mir käme, der fünf-
einhalb Monate arbeitslos wäre, würde ich den Fall erst
einmal 14 Tage liegen lassen.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: So ist es! Das ist richtig!)


Die 500 Euro, die ich dann bekäme, würde ich mir erst
einmal in die Tasche stecken.


(Widerspruch bei der SPD)

Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Wenn

Sie beim Job-AQTIV-Gesetz durchsetzen, dass wir für
jeden Arbeitslosen ein Profiling machen, dann hätten Sie
unter dem Gesichtspunkt des sparsamen und wirtschaft-
lichen Einsatzes der Mittel der Sozialversicherung der
Arbeitsverwaltung die Möglichkeit einräumen müssen,
an diesem Profiling entlang eine Entscheidung zu treffen.
Denn Ihr Zeitkriterium ist zumindest fantasielos, um nicht
zu sagen unintelligent.


(Dirk Niebel [FDP]: Untauglich!)

Wir haben also viele Gründe, dieses Gesetz abzulehnen.


(Gerd Andres [SPD]: Aber keine überzeugenden!)


Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422505000
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422505100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Laumann war eben ein lebendiges Beispiel dafür, wie viel
Schwierigkeiten die Opposition hat,


(Dirk Niebel [FDP]: Nein, nein!)

auch nur ein Sachargument gegen das Gesetz vorzutra-
gen, das wir heute hier verabschieden wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auf Sie trifft zu: Denn sie wissen nicht, was sie wollen.

(Gerd Andres [SPD]: Genau! – Peter Rauen [CDU/CSU]: Ihr wisst nicht, was ihr tut!)


Ich will Ihnen das an drei Punkten in Bezug auf das, was
Sie eben vorgetragen haben, deutlich machen.

Sie reden über etwas, was wir hier überhaupt nicht zur
Abstimmung stellen, Herr Laumann. Sie haben gesagt,
dass die Arbeitslose oder der Arbeitslose, die oder der zu
einem privaten Vermittler geht, etwas draufzahlen muss.
Sie haben das beklagt. Aber das war früher in der Diskus-
sion. Wir haben das verändert. Wir haben als neues Ver-
fahren ein Gutscheinsystem eingeführt, sodass der Ar-
beitslose, der zum Vermittler geht, nichts draufzahlen
muss. Ich weiß nicht, worüber Sie reden; über das, was
wir hier verabschieden wollen, jedenfalls nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Karl-Josef Laumann

22367


(C)



(D)



(A)



(B)


Zweiter Punkt. Sie beklagen hier, dass das Ganze zu
schnell gehe. Es ging wirklich schnell. Wir haben sehr
schnell reagiert.


(Gerd Andres [SPD]: Und gut!)

Gleichzeitig beklagen Sie aber, dass wir zum 1. April
nicht ein neues Anreizsystem in den Arbeitsämtern ein-
führen.


(Zuruf von der SPD: Widersprüchlich!)

Bitte entscheiden Sie sich, was Sie wollen. Sie wissen of-
fenbar nicht, was Sie wollen.


(Beifall bei der SPD)

Dritter Punkt. Sie spielen sich hier – das finde ich wirk-

lich höchst amüsant, das muss ich Ihnen sagen, Herr
Laumann – zum Gralshüter des Bürokratismus auf.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ach nein!)


Ich weiß nicht, was Sie hier einführen wollen. Sollen sich
die Dritten wieder in eine Handwerksrolle eintragen?


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie haben mehr Verordnungen für den Feldhamster als für Arbeitsvermittler! Das ist die Wahrheit!)


Wollten Sie uns gerade sagen, dass sozusagen im über-
holten Zunftwesen die Modernität der Zukunft liegt? Wir
wollen hier einführen, dass sich die Dritten der Gewerbe-
aufsicht stellen müssen. Wir bringen heute mit einem
Entschließungsantrag hier ein, dass ein Berufsbild ent-
wickelt werden muss. Dass dann von den zuständigen Be-
rufsverbänden ein Qualitätssiegel entwickelt werden
muss, das ist doch völlig klar. Herr Laumann, Sie wissen
also auch an dieser Stelle nicht, worüber Sie reden.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie sind auf dem Holzweg!)


Sicher, wir haben eine ungewöhnliche Situation und
eine solche bedarf auch einer ungewöhnlichen Reaktion.
Was an dem, was wir machen, ungewöhnlich ist, ist die
Schnelligkeit. Das hätten Sie in Ihrer Regierungszeit nicht
zustande gebracht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Warum machen wir das? Weil wir in der Situation sind,
dass wir bei einer hohen Arbeitslosigkeit im Moment in
der Bundesanstalt für Arbeit eine Arbeitsverwaltung ha-
ben, die nicht arbeitsfähig ist,


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Bei uns geht Genauigkeit vor Schludrigkeit!Wetten, dass Sie in einem Vierteljahr schon nachbessern!)


die wir in den Stand setzen müssen, einen Neuanfang zu
machen und arbeitsfähig zu werden. Dafür schlagen wir
heute die ersten Pflöcke ein, drei an der Zahl.

Erstens. Der Vorstand kann eingesetzt werden. Ich
bin sehr froh, dass er zum 1. April seine Arbeit aufneh-
men kann. Ebenfalls ist sehr wichtig, dass die Hartz-
Kommission, die ihre Arbeit schon aufgenommen hat,
dann mit dem Vorstand zusammenarbeiten kann. Wir ha-

ben nämlich ein großes Reformprojekt vor uns, bei dem
die Eckpunkte noch entwickelt werden müssen.

Der zweite Punkt: Der Verwaltungsrat wird institu-
tionalisiert. Er ist verkleinert worden und wird dadurch ef-
fektiver. Auch ist er zu Recht drittelparitätisch besetzt,
weil die Länder und die öffentliche Hand über ihre eige-
nen Programme sehr viel mit der Arbeitsmarktpolitik zu
tun haben und sich in dieses Gremium einbringen müssen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Und die Selbstbedienung geht weiter! Fründe stonn z’samm!)


Der dritte und in diesem Zusammenhang zentrale
Punkt: Wir wollen, dass die unverzügliche Vermittlung
für jeden, der gerade arbeitslos wird – das ist das Herz-
stück des Job-AQTIV-Gesetzes –, in den nächsten Mona-
ten gewährleistet wird.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das Herz liegt aber zurzeit auf der Intensivstation!)


Deswegen müssen wir hier so schnell handeln, wenn es
darum geht, die Möglichkeit einer Vermittlung durch
Dritte einzuführen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir werden uns hier auch nicht von Ihnen aufhalten las-
sen, weil es im Interesse der Arbeitslosen in diesem Lande
ist, dass es nahtlos mit der Vermittlung weitergeht.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Jobbewirtschaftungsgesetz! Das ist die Zukunft! – Gegenruf des Abg. Klaus Brandner [SPD]: Herr Rauen, da Sie mehr Bürokratie fordern, sind Sie unglaubwürdig! Mehr Zulassungsstellen, mehr Beamte, mehr Behörden!)


– Ich weiß nicht, ob ich Sie störe, wenn ich hier weiter-
rede.


(Heiterkeit)

Aber ich würde meine Rede doch gerne zu Ende bringen.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir hier Neu-
land betreten. Zum einen schaffen wir jetzt einen freien
Marktzugang für Dritte. Das ist ein erheblicher Fort-
schritt. Ich wünsche mir, dass wir eine lebendige Vermitt-
lungskultur in diesem Lande bekommen,


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Da sind wir alle einer Meinung! Aber nicht ohne Spielregeln!)


die dadurch gekennzeichnet ist, dass es eine Konkurrenz
zwischen privater und öffentlicher Arbeitsvermittlung
gibt, sich aber auch eine Kooperation zwischen Arbeits-
ämtern und Dritten weiterentwickelt.

Zum anderen haben wir die Vermittlungsgutscheine
eingeführt. Im Moment diskutiert man in der Öffentlich-
keit in der Tat darüber, ob die Honorierung richtig bemes-
sen ist. Es geht in der Tat darum, ob diese Vermittlungs-
gutscheine als Anreiz zur direkten Vermittlung durch
einen Dritten wirksam genug sind. Das wird sich in der
Praxis erweisen. Von der FDPwird wahrscheinlich gleich
der Hinweis darauf kommen, dass derAnreiz zu gering ist.




Dr. Thea Dückert
22368


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422505200
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422505300

Wenn ich meinen Gedanken zunächst zu Ende führen
darf, ja.

Es wird also gleich das Argument kommen: Mögli-
cherweise ist der Wert der Vermittlungsgutscheine zu ge-
ring. Dazu gibt es – hier paddeln alle ein wenig im Nebel –
natürlich noch keine Erfahrungen, auch nicht im Ausland.
Anhand der zukünftigen Erfahrungen wird dieses Instru-
ment aber so ausgestaltet werden können, dass es prakti-
kabel ist.

Frau Kollegin Luft, jetzt können Sie Ihre Frage stellen.


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1422505400
Frau Kollegin Dückert, kön-
nen Sie meinen Eindruck entkräften, dass dies heute eine
ziemlich schwarze Stunde des Parlamentarismus ist? Eine
so gravierende Veränderung, wie sie bei der Bundesan-
stalt für Arbeit vorgenommen werden soll, wird heute an
ein artfremdes Gesetz angehängt.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist natürlich schon wahr!)


Eine zweite und dritte Lesung wird dazu nicht stattfinden.
Die haushaltsmäßigen Bedenken von allen Oppositi-

onsfraktionen wurden nicht ausgeräumt. In der Vorlage
heißt es immer noch, es werde keine haushaltsmäßigen
Auswirkungen geben. Es werden aber in jedem Falle Ver-
mittlungsgebühren anfallen; ob Arbeitslosengeld in dieser
Höhe tatsächlich eingespart werden kann, weiß man nicht.
Wie kann man einen Leertitel für Vorstandsmitgliederbe-
züge einstellen? Man muss doch wissen, was sie bekom-
men sollen; dafür braucht man doch keinen Leertitel ein-
zustellen. Es ließe sich noch mehr sagen. Alles läuft darauf
hinaus, dass das Gesetz heute hier durchgepeitscht wird.

DerHinweisdarauf,dassmangarnichtgewussthabe,wie
sehr dieVermittlung bei der Bundesanstalt fürArbeit bisher
schief gelaufen sei, irritiert mich natürlich sehr. Sie haben
doch kürzlich das SGB III reformiert und das Job-AQTIV-
Gesetz inderHoffnungeingeführt,dassdieVermittlungver-
bessert werden würde. Aber all das, was wir heute be-
schließen sollen, wäre gar nicht eingebracht worden, wenn
der Statistikskandal nicht aufgedeckt wordenwäre.


(Beifall bei der PDS und der FDP)



Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422505500

Liebe Kollegin Luft, ich halte dies für eine gute Stunde
der Politik.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Dann ist euer Anspruch ja nicht mehr hoch! – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist ja wohl der Gipfel, Frau Dückert! – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Sie scheinen sich ja für nichts zu schade zu sein!)


Wir zeigen, dass wir an den Stellen, an denen es Hand-
lungsbedarf im Hinblick auf die Arbeitsvermittlung gibt,
in der Lage sind, die wenigen Weichenstellungen, die

zunächst notwendig sind, sehr schnell vorzunehmen. Ich
hätte es für eine schwarze Stunde der Politik gehalten,
wenn es der Opposition gelungen wäre, diese notwendi-
gen Handlungen zu blockieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir wollen, dass die Bundesanstalt neu anfangen kann.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber auf gesetzlich einwandfreier Basis! – Gegenruf von der SPD: Haben Sie da Zweifel? – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja, sehr!)


Wir wollen, dass die Hartz-Kommission jetzt die notwen-
digen Konzepte entwickeln kann. Wir wollen, dass die Ar-
beitslosen vor Ort eine größere Wahlfreiheit und eine
größere Chance auf eine schnelle und effektive Vermitt-
lung haben. Deswegen haben wir auch die Vermittlungs-
gutscheine eingeführt.

Ich glaube, dass ein Großteil der Kritik, der von der
Opposition angebracht wird, zum Beispiel von Herrn
Laumann, ins Leere läuft. Herr Laumann, Sie haben eini-
ges heute schon gar nicht mehr vorgeschlagen. Sie wissen
ganz genau, dass es ab dem dritten Monat, den jemand ar-
beitslos ist, Vermittlungsgutscheine geben wird. Es wird
aber auch so sein, dass Menschen, bei denen man dann,
wenn sie arbeitslos werden, bereits absehen kann, dass sie
besondere Schwierigkeiten haben werden, wieder in den
Arbeitsmarkt einzutreten, nach § 37 a des Job-AQTIV-
Gesetzes, das weiterhin gelten wird, von Anfang an über
Dritte vermittelt werden können. Das Arbeitsamt kann
sich dafür stark und dies möglich machen.

Ich glaube, dass wir am Anfang eines sehr umfangrei-
chen Reformprozesses stehen. Dies gilt zunächst für die
Bundesanstalt für Arbeit. Hier sind bisher nur kleine, aber
notwendige Weichenstellungen erfolgt. Der Rest wird in
der nächsten Zeit entwickelt werden. Es kann Jahre dau-
ern, bis dieser Prozess abgeschlossen ist.

Wir stehen aber auch am Anfang einer neuen Reform-
diskussion bezüglich der Arbeitsmarktpolitik. Ich
möchte Ihnen an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen,
dass ich glaube, dass der designierte neue Vorstandsvor-
sitzende der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster,
Recht daran tut, dass er sich sehr offensiv in eine Zu-
kunftsdebatte über die Arbeitsmarktpolitik einmischt. Ich
glaube, dass in dem jetzt aufgedeckten Desaster bei der
Bundesanstalt für Arbeit auch die Chance verborgen ist,


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Frau Vorsitzende, ist eigentlich die Redezeit noch eingehalten? Vier Minuten darüber! – Gegenruf von der SPD: Das war auch eine lange Frage!)


neue offensive Diskussionen über Reformen am Arbeits-
markt aufzunehmen.

Schönen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Warum durfte die Rednerin so lange reden? Das möchte ich einmal wissen! Vier Minuten überzogen!)







(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422505600
Das Wort hat der
Abgeordnete Niebel.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1422505700
Frau Präsidentin! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Das Gesetz, das uns die Bun-
desregierung heute vorlegt, ist ein schlimmer Rückfall in
die Frühphase ihrer Regierungszeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben es mit handwerklichen Fehlern gespickt, die
dazu führen, dass das Kanzlerwort mal wieder nicht mehr
als ein Lippenbekenntnis ist und am Ende kein wirklicher
Effekt erzielt werden kann.

Ich möchte Ihnen auch begründen, wieso wir zu die-
sem Schluss kommen: Unabhängig vom Verfahren, zu
dem der Kollege Laumann schon genug gesagt hat, ver-
stehen wir vonseiten der FDP-Bundestagsfraktion durch-
aus, dass Sie die neue Führungsstruktur der Bundes-
anstalt für Arbeit möglichst schnell einführen wollen.
Wir hätten andere Wege gewählt, weil wir der Ansicht
sind, dass die Selbstverwaltung abgeschafft gehört.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein guter Grund, warum wir das meinen, ist im gestrigen
„Stern“ nachzulesen, und zwar in einem Artikel mit der
Überschrift: „Deutschlands teuerstes Spielzeug“. Dies
sollte Ihnen doch ein wenig zu denken geben.

Sie sind zu anderen Schlüssen gekommen und haben
gesagt, die Selbstverwaltungsstrukturen sollen bestehen
bleiben. Das ist Ihr Recht, weil Sie die Mehrheit haben.
Dennoch ist es inhaltlich falsch und wird Deutschland
schaden.

Nichtsdestotrotz hätten Sie die Frage der Führungs-
struktur nicht mit der inhaltlichen Frage der Ausgestal-
tung neuer Vermittlungsmöglichkeiten verquicken sol-
len. Diese haben Sie so schlecht gemacht, dass sie leider
nicht werden funktionieren können. Sie haben zwar rich-
tigerweise den Vorschlag der Liberalen aufgegriffen,
Vermittlungsgutscheine einzuführen und dadurch vom
Grundsatz her Wettbewerbsmöglichkeiten zu schaffen; al-
lerdings werden Sie aufgrund der Ausgestaltung hinterher
erkennen müssen – wenn man böswillig wäre, könnte man
fast sagen: Vielleicht wollen Sie das auch –, dass dieses
Instrument nicht greifen wird.

Lassen Sie uns Revue passieren, was passiert ist: Der
Kanzler tritt mit dem Arbeitsminister vor die Presse und
erklärt, es werde eine Nachfragemacht aufseiten der Ar-
beitsuchenden geben. Er erklärt, es werde eine Stärkung
der privaten Arbeitsvermittlung geben. Der Arbeitsminis-
ter nickt das ab und bestätigt es; übrigens eine Urform des
pathologischen Lernens: Lernen durch Leiden. Denn
noch eine knappe Woche vorher wäre weder beim Ar-
beitsministerium


(Beifall bei der FDP)

noch bei der SPD-Bundestagsfraktion auch nur der Hauch
einer Mehrheit für diese Position zu finden gewesen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Man sieht es an den Mienen bei der SPD!)


Dann ging das ganze Theater los. Es folgte ein Sperr-
feuer vonseiten der Gewerkschaften und vonseiten der
SPD-Bundestagsfraktion. Es ist völlig klar, dass Sie die
Einführung von Vermittlungsgutscheinen auf die Schnelle
in dieses Gesetz hineinbringen mussten. Hätten Sie näm-
lich gewartet, bis die Hartz-Kommission im August damit
gekommen wäre, hätten Sie in Ihrer eigenen Fraktion
nicht einmal den Hauch einer Mehrheit für dieses Instru-
ment gefunden.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter Rauen [CDU/CSU])


In der ersten Vorlage bezüglich der Konstruktion der
Vermittlungsgutscheine haben Sie richtigerweise fest-
gestellt, dass Arbeitsuchende die Möglichkeit erhalten
müssen, private Vermittler zu beauftragen. Wenn man
sich in freier Entscheidung für einen anderen Arbeitsplatz
interessiert, macht es doch nur Sinn, dass man die Mög-
lichkeit eines zusätzlichen Suchweges erhält und für
diesen, wenn man den Auftrag vergibt, dann natürlich
auch bezahlen muss. Dass Sie in diesem Segment auf
1 500 Euro deckeln, ist der erste große Fehler Ihrer Nach-
besserung im Rahmen dieses Verfahrens. In der ersten
Vorlage haben Sie noch festgestellt, dass ein Betrag von
bis zu zweieinhalb Bruttomonatseinkommen ein markt-
üblicher Wert für diese Dienstleistung sei; das ist auch
richtig. In Segmenten, in denen hoch qualifizierte Men-
schen tätig sind, sollte er sogar bis zu einem Drittel des
Bruttojahresarbeitsgehaltes betragen. Sie aber deckeln
auf 1 500 Euro. Ich kann mir annähernd vorstellen, wie
viele private Arbeitsvermittler ein hohes wirtschaftliches
Interesse an diesem Vermittlungsgeschäft haben werden.

Bei den Gutscheinen haben Sie drei Kardinalfehler ein-
gebaut:

Der erste ist die Höhe des Gutscheines. In der ersten
Vorlage war die Eigenbeteiligung für die Arbeitsuchenden
eindeutig zu hoch, sodass viele Arbeitsuchende dieses
Gutscheininstrument aus sozialen Gründen nicht hätten
nutzen können. Statt diese Gutscheine mit marktüblichen
Preisen auszustatten und somit auch einen wirtschaft-
lichen Anreiz für private Vermittler zu schaffen, dieses In-
strument anzunehmen, haben Sie nun wiederum eine
Deckelung eingeführt. Diese wird in der Konsequenz
dazu führen, dass ein Großteil der privaten Vermitt-
lungsbetriebe, die sich noch entwickeln werden, an die-
sem Instrument kein großes Interesse haben wird.

Der zweite Kardinalfehler, der hier schon angespro-
chen worden ist – Frau Dückert wollte, dass ich Ihnen das
erkläre, sie hat es sozusagen vorab angekündigt; vielen
Dank für diesen Werbeblock –, besteht darin, dass Sie bei
der Vergabe und der Ausgestaltung bzw. Höhe der Gut-
scheine einzig und allein auf die Dauer der Arbeits-
losigkeit


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Die wissen gar nicht, was ein Kardinal ist!)


und nicht auf das Alter, die Qualifikation oder den Ge-
sundheitszustand abstellen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es ist ein falscher Ansatz!)







(C)



(D)



(A)



(B)


Es nützt überhaupt nichts, dass die Bundesanstalt im Rah-
men der Profilerhebung eventuell einen Dritten beauftra-
gen kann. Dadurch hat der Arbeitsuchende immer noch
keine Nachfragemacht, sondern er wird von der Bundes-
anstalt gesteuert. Im Job-AQTIV-Gesetz haben Sie dieses
obrigkeitsstaatliche Denken festgeschrieben. Sie haben
nämlich hineingeschrieben, dass die Bundesanstalt bei
der Beauftragung Dritter Herr des Verfahrens bleibt.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!)

Der dritte und letzte Kardinalfehler ist, wie ich finde,

der gravierendste. Der Kanzler hat versprochen, dass es
Wettbewerb geben wird. Es bleibt bei Lippenbekennt-
nissen, weil sich die Betonkopffraktion in der SPD durch-
gesetzt hat.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wettbewerb würde es nur dann geben, wenn Sie den Ar-
beitsuchenden mit ihren Gutscheinen in der Hand eine
Nachfragemacht geben könnten. Der Arbeitsuchende
ginge dann zum Arbeitsvermittler seines Vertrauens. Das
kann der private sein, muss es aber nicht. Es kann nämlich
auch der staatliche sein.


(Heinz Schemken [CDU/CSU]: So ist es!)

Wenn Sie diesen Wettbewerb hätten haben wollen,

dann hätten Sie die Geldmittel dahin fließen lassen müs-
sen, wo die Gutscheine im Erfolgsfall eingelöst werden.
Das heißt, entweder hätten Sie die Bundesanstalt mit ih-
rer Arbeitsvermittlung durch die Einnahme von Gutschei-
nen finanzieren müssen oder Sie hätten wenigstens die
erfolgsabhängigen Lohnkomponenten der staatlichen Ar-
beitsvermittlerinnen und Arbeitsvermittler an die Einnah-
me von Gutscheinen koppeln müssen.

Das hätte dazu geführt, dass diese Vermittler im Innen-
verhältnis der Bundesanstalt dafür gesorgt hätten, dass sie
in die Lage versetzt werden, überhaupt wettbewerbsfähig
zu sein, sodass sie als wirkliche Mitkonkurrenten zu den
privaten Anbietern im Vermittlungsgeschäft hätten tätig
sein können.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!)

Insgesamt bleibt folgende Quintessenz: Trotz des

grundsätzlich positiven Instruments des Vermittlungsgut-
scheines haben Sie es leider wieder einmal vermurkst. Es
wundert mich überhaupt nicht, dass der Kanzler sagt
– man hat es ihm, ich glaube, im „Focus“ zugeschrieben –,
dass überall dort, wo Riester gesessen hat, eine kleine Ze-
mentschicht bleibt. Das passt zu den Betonköpfen in der
SPD-Fraktion,


(Beifall bei der FDP)

die eindeutig nicht reformfähig sind und deshalb am
22. September abgelöst werden müssen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Ja, ja! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber nicht durch Sie, Herr Niebel!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422505800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Grehn.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1422505900
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Erstens. Zu dem Vorgang, der hier
über die Bühne gehen soll, kann man nur ein Wort finden:
skandalös!


(Beifall bei der PDS)

Es ist skandalös, in welcher Art und Weise ein notwen-
diges Moment, das die Ärmsten der Armen betrifft, abge-
handelt wird. Ich empfinde das als unwürdig.

Zweitens. Herr Staatssekretär Andres, Sie haben hier
erklärt, es sei eine angemessene Reaktion, die Sie gezeigt
haben. Ihre Reaktion war aber so wenig angemessen, wie
Ihre Rede, die Sie zu diesem Problem gehalten haben, an-
gemessen war.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Also, für diesen Unsinn hätten Sie ihn jetzt nicht persönlich ansprechen müssen!)


– Es ist nun einmal so, dass sein Verhalten unangemessen
gewesen ist. Er hätte das Gesetz verbessern können, aber
dazu ist nichts gekommen.

Es ist an dieser Stelle über die Finanzierung gespro-
chen worden. Es ist beschämend, wenn die Finanzierung
über die Zuschüsse zu den Rentenversicherungsbeiträgen
der in Werkstätten beschäftigten Behinderten erfolgen
soll. Es ist ein Skandal, so etwas zu machen.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Dirk Niebel [FDP] – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Schöne Partnerschaft!)


Herr Minister, die „FAZ“ hat heute getitelt: „Ich gehe
an die Grenze dessen, was das Parlament mittragen kann“.
Herr Riester, für uns haben Sie die Grenze überschritten.


(Beifall bei der PDS – Dr. Ilja Seifert [PDS]: Weit überschritten!)


Sie haben Lösungen vorgelegt, die Sie überhaupt nicht
weiterbringen werden. Ihre Lösungen sind in ihrer Durch-
führung nicht klar und eindeutig. Es ist über die Qualifi-
zierung und über die Kontrolle gesprochen worden. Sie
geben die Steuerungsfunktion völlig ohne Not aus der
Hand, indem Sie das Zusammenspiel von privaten Ver-
mittlern und Bundesanstalt für Arbeit überhaupt nicht re-
geln. Sie führen eine Selektion unter den Arbeitslosen
durch, auch wenn Sie das Schlimmste herausgenommen
haben, nämlich dieses Honorar in Höhe des Zweieinhalb-
fachen eines Monatsgehalts.

Im Februar hatten wir 1,6 Millionen Erwerbslose, die
keine Leistungen bezogen. Genau diese Menschen – das
sind unter den Arbeitslosen die Ärmsten, die So-
zialhilfeempfänger und die allein erziehenden Frauen –
müssen jetzt zahlen, und zwar bis zu 2 500 Euro.


(Peter Dreßen [SPD]: Quatsch! Das ist doch nicht wahr! – Karl-Josef Laumann [CDU/ CSU]: Sie bekommen keinen Gutschein!)


– Vielleicht kennen Sie Ihr eigenes Gesetz nicht.

(Leyla Onur [SPD]: Sie kennen es nicht!)





Dirk Niebel

22371


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich beziehe mich auf den § 296 des Gesetzentwurfs.

(Peter Dreßen [SPD]: Bleiben Sie bei der Wahrheit!)

In dessen Begründung heißt es: „Auch für Arbeit-
suchende, die keinen Anspruch auf einen Vermittlungs-
gutschein haben“ – das sind diejenigen, die keine Leis-
tung beziehen –,


(Klaus Brandner [SPD]: Sie haben Anspruch auf Leistungen der Arbeitsverwaltung!)


„sieht die Vorschrift eine Begrenzung des Honorars vor,
um sie vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme zu schüt-
zen“. Dafür sind die 2 500 Euro festgelegt. Insofern wird
es zwei Gruppen geben: diejenigen, die gutscheinberech-
tigt berechtigt sind, und diejenigen, die es nicht sind.

Es gibt ein weiteres Problem – der Kollege Laumann
hat darauf hingewiesen –: Sie haben als Kriterium die
Dauer der Erwerbslosigkeit gewählt.


(Dirk Niebel [FDP]: Auch ich habe darauf hingewiesen!)


Bisher war es immer so, dass Schwervermittelbarkeit an
ganz anderen Kriterien gemessen wurde. Wir meinten mit
den Problemgruppen, die schwer vermittelbar sind, die
Älteren, die Alleinerziehenden, die Sozialhilfeempfänger
und die wenig Qualifizierten. Wenn Sie das als Kriterium
einführen, könnte man auch darüber reden, ob man eine
Staffelung nach der Dauer der Arbeitslosigkeit gestaltet.
So ist es zwar sehr einfach, aber nicht hilfreich.

Ich komme zu einer weiteren ungelösten Problematik.
Wenn Sie die privaten Vermittler einschalten: Was wird
dann aus den Funktionen der Bundesanstalt für Arbeit? Es
gab das Kriterium der Zumutbarkeit der Arbeit. Die
Nichtannahme einer zumutbaren Arbeit heißt, dass man
mit Sperrfristen belegt wird. Wer stellt nun die Nichtzu-
mutbarkeit fest? Wer verhängt die Strafen? Das ist in die-
sem Gesetz in keiner Weise geregelt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422506000
Herr Kollege
Grehn, bitte denken Sie daran, dass Sie Ihre Redezeit be-
reits überschritten haben.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1422506100
Lassen Sie mich nur noch sa-
gen: So, wie das Gesetz gestrickt ist, haben Sie sich keine
Freunde geschaffen. Die Tatsache, dass Sie Weiteres
ankündigen, lässt Schlimmes befürchten, wenn man die
Worte des designierten Chefs der Bundesanstalt für Arbeit
ernst nimmt.


(Beifall bei der PDS – Dirk Niebel [FDP]: Das ist ein vernünftiger Mann! Er wird sich nur nicht durchsetzen können!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422506200
Zu einer Kurz-
intervention erteile ich jetzt dem Abgeordneten Andres
das Wort.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Er übt schon einmal, wieder Abgeordneter zu sein!)


– Nein, Kurzinterventionen sind ein Abgeordnetenrecht.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ja, das wissen wir, aber er muss sich an die Rolle wieder gewöhnen!)



Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1422506300
Herr Abgeordneter Grehn, ich
möchte nur eine Sache richtigstellen, weil ich mich in dem
Punkt angesprochen fühle und das, was Sie gesagt haben,
nicht stimmt.

Sie haben erklärt, es sei ein Skandal, dass die Mittel für
die Kommission aus Haushaltsmitteln zur Rentenleistung
für Behinderte genommen werden.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist doch wahr!)


Ich will Sie nur ganz kurz aufklären, damit keine falschen
Gerüchte in der Öffentlichkeit verbreitet werden. Die
Kommission ist eingesetzt worden, als der Haushalt schon
verabschiedet war. Damit muss man eine außerplanmäßige
Ausgabe im Haushalt etatisieren, wenn man die Kommis-
sion vernünftig finanzieren will. Wir haben 1 Million Euro
zur Verfügung gestellt. Dieser Betrag ist nicht für die
Kommissionsmitglieder bestimmt. Diese machen ihre Ar-
beit ehrenamtlich; sie können nur Reisekosten abrechnen,
können aber Sachverständigenanhörungen und Ähnliches
organisieren. Dafür braucht man die Mittel. Damit man
eine Deckung aus dem Haushalt des Bundesarbeitsmi-
nisters hat, wurden dafür Mittel aus dem Titel „Renten-
zahlungen für Behinderte in Werkstätten“ genommen.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Pfui!)

– Langsam. Sie müssen gar nicht schreien, es geht nur um
eine technische Angelegenheit.

Die Ansprüche, die die Behinderten haben, sind
Rechtsansprüche, die auf alle Fälle erfüllt werden müs-
sen. Wir glauben, dass wir das aus diesem Titel decken
können – es ist ein Schätztitel in Höhe von 800 Millionen
Euro –, weil der Zuwachs von Beschäftigten in Werkstät-
ten für Behinderte nicht so ist, wie es vermutet wurde. Das
hängt mit einer besseren Versorgung von Schwerbehin-
derten und Ähnlichem zusammen.

Ich sage nochmal: Durch die Einsetzung der Kommis-
sion wird keinem einzigen Schwerbehinderten ein Renten-
anspruch oder sonst irgendetwas weggenommen. Das
wollte ich nur richtigstellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Dreßen [SPD]: Ja, kein Cent! Jetzt müssen Sie sich entschuldigen, Herr Kollege! – Dr. Ilja Seifert [PDS]: Nein! – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Warum haben Sie das nicht von Ihren Propagandamitteln genommen?)



Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1422506400
Herr Staatssekretär, Sie kön-
nen davon ausgehen, dass ich mich kundig gemacht habe,
bevor ich so etwas sage. Ich verweise Sie auf die Druck-
sache 14/8530 des Deutschen Bundestages. Es handelt
sich um den Bericht des Haushaltsausschusses, der unter
anderem diesen Vorgang, der zwischen uns beiden gerade
ausgehandelt wird, einbezieht. Die Oppositionsfraktionen




Dr. Klaus Grehn
22372


(C)



(D)



(A)



(B)


haben bei der Behandlung des Problems geschlossen
nicht teilgenommen, weil es genau darum ging.

Mir ist es im Prinzip völlig egal, wofür Sie die Mittel
verwenden. Mir ist es aber nicht egal, dass diese Mittel
aus dem Bereich der Behinderten kommen.


(Zuruf von der SPD: Aus Ihrem Mund klingt das schon komisch! – Weitere Zurufe von der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Da hat er Recht! – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ja, ihr seid instinktlos!)


– Frau Präsidentin, habe ich das Wort? Es gibt ein Sprich-
wort, wonach diejenigen, die geschlagen werden, bellen.
Liebe Kollegen von der Regierungskoalition, ich versu-
che Ihnen sachlich meinen Standpunkt zu beschreiben
und Ihnen zu sagen, welcher Hintergrund besteht. Es sind
Fachleute, die sich mit dem Problem beschäftigt haben.
Wenn Sie es dann immer noch nicht glauben, lesen Sie
doch den Nachsatz, wonach der Einsatz der Mittel in der
Finanzplanung für die Folgejahre fortgeschrieben wird.
Sie wissen doch noch gar nicht, was Sie in den Folge-
jahren verausgaben.

Selbst wenn es so sein sollte: In eine solche Maßnahme
die Behinderten einzubeziehen, deren Situation Sie ei-
gentlich mit einem Sonderprogramm verbessern wollten,
das bis zum Oktober 50 000 Arbeitsplätze für diese
Gruppe schaffen soll, also mit dieser Regelung ein solches
negatives Signal auszusenden, das sollten Sie sich wirk-
lich noch einmal ganz genau überlegen. Ich weiß nicht, ob
das Parlament das so machen sollte.


(Beifall bei der PDS – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422506500
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Franz Thönnes.


Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1422506600
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Grehn, ich
will gar nicht großartig darauf eingehen, sondern Sie nur
darauf hinweisen, dass die Kommission Mitte August ihre
Arbeit beendet haben wird, während Sie mit Folgejahren
argumentieren. Nur damit darüber Klarheit herrscht!


(Beifall bei der SPD)

Ich spreche das nur an, damit Klarheit darüber herrscht.


(Beifall bei der SPD)

Bei diesem Gesetzentwurf wird sehr deutlich, dass die

Bundesregierung genauso zügig, wie sie nach dem Be-
richt des Bundesrechnungshofs gehandelt hat, einen
wichtigen Reformprozess für die Spitze der BA und für
den Bereich der Vermittlung angestoßen hat. Dieser Pro-
zess bringt erstens mehr Rechte und Verantwortung, zwei-
tens mehr Freiheit und mehr Wettbewerb und drittens
mehr Chancen und Perspektiven. Das bedeutet auch we-
niger Verwaltung und Bürokratie. Ich bin fest davon über-
zeugt, dass es letztlich auch weniger Arbeitslose und mehr
Beschäftigung in Deutschland bedeuten wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir halten an dem Grundsatz unserer Arbeitsmarktpo-
litik fest: Fördern und fordern. Derzeit steht der größte
Umbauprozess bei einer Behörde in der deutschen Ge-
schichte an. Er muss nach einem vernünftigen Leitbild er-
folgen. Dienstleistung im Wettbewerb, Konzentration
auf die Kernaufgaben – nämlich die Stärkung der Ver-
mittlung –, ein modernes Management und eine hohe
Leistungsfähigkeit, wenn es darum geht, Menschen wie-
der in Arbeit zu bringen, stehen dabei im Vordergrund.

An die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der
Arbeitsverwaltung gewandt, sage ich ausdrücklich: Wir
wollen diesen Prozess mit den engagierten, innovativen
Beschäftigten gemeinsam gestalten, ihre Erfahrungen in
die Arbeit einbeziehen, und zwar so, dass deutlich wird:
Reformprozesse macht man mit den Menschen und nicht
gegen sie.


(Beifall bei der SPD)

Die Arbeitslosen erhalten – das ist bereits angespro-

chen worden – in der ersten Stufe, nach drei Monaten, ei-
nen Gutschein. Er ermöglicht eine freie Auswahl bei den
privaten Vermittlern und bei den Arbeitsämtern. Die
Betroffenen können sich entscheiden, an wen sie sich
wenden. Die eigene Aktivität wird gefördert und gestärkt.
Es bleibt dabei: Wenn man nach sechs Monaten noch
nicht vermittelt worden ist, besteht ein Rechtsanspruch
darauf, dass die Arbeitsverwaltung einen Dritten mit der
Vermittlung beauftragt. Das bedeutet mehr Rechte und Ei-
genverantwortung im System.

Wir bieten den Privaten eine neue Chance hinsichtlich
ihrer Möglichkeiten am Markt. Das Monopol für die Ar-
beitsvermittlung und die Anwerbung im Ausland wird
aufgehoben. Dritte und Weiterbildner werden bei der Ver-
mittlung stärker mit einbezogen. Es gibt einen freien
Markt für die Vermittler. Wenn wir das Gesetz heute be-
schließen, bedeutet das einen Erfolg für mehr Freiheit und
für mehr Wettbewerb im System.


(Beifall bei der SPD)

Jetzt wird es auf das Zusammenwirken der Mitarbeite-

rinnen und Mitarbeiter beim Arbeitsamt mit den Privaten
ankommen. In 181 Arbeitsämtern sind mit dem Job-
AQTIV-Gesetz zusätzlich 3 000 Vermittler hinzugekom-
men. Im Bereich der privaten Arbeitsvermittlung sind
6 000 Unternehmen angemeldet und genehmigt.

Was die von Ihnen geforderten Vorschriften angeht,
wundert mich Ihre Regulierungswut in diesem Zusam-
menhang, Herr Kollege Laumann.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das hat damit doch überhaupt nichts zu tun! – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Warum haben Sie den Antrag denn selber eingebracht?)


Ich gehe nach der von uns beabsichtigten Regelung davon
aus, dass die Verbände gemeinsam mit der Bundesregie-
rung in nächster Zeit zur Förderung eines qualitätsorien-
tierten Wettbewerbs über Qualitätsstandards sprechen
und Zertifizierungsregelungen treffen werden.


(Beifall bei der SPD)

Das bedeutet: Wenn die 9 000 zusätzlichen Vermittler

auf dem Markt zur Vermittlung von Arbeitslosen tätig




Dr. Klaus Grehn

22373


(C)



(D)



(A)



(B)


werden, können die 1,4 Millionen freien Stellen schnell
mit den Arbeitslosen bzw. den Arbeitsuchenden zusam-
mengebracht werden. Arbeitslose haben also mehr Chan-
cen, eine neue Beschäftigung zu bekommen.

Die Kommission wird die Aufgabe haben, in einer
zweiten Stufe sehr intensiv den Reorganisierungsprozess
der Bundesanstalt für Arbeit vorzubereiten. Konzentra-
tion auf die Kernbereiche bedeutet: Arbeits- und Ausbil-
dungsstellenvermittlung, Berechnung und Auszahlung
der Lohnersatzleistungen und aktive Arbeitsmarktpolitik.
Dieser Prozess kann in der Tat nicht schnell erfolgen, son-
dern dafür soll der Sachverstand der 15 Personen, die
Wirtschaft, Gesellschaft und Politik repräsentieren, aktiv
genutzt werden.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Bei der Wirtschaft sind das aber nur die Großen!)


Im Zentrum werden Vermittlung und Beratung ste-
hen. Dezentralisierung und Vor-Ort-Entscheidungen wer-
den einen wichtigen Gradmesser darstellen. Die Zusam-
menführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe soll so
erfolgen, dass die Organisationsstrukturen erheblich re-
formiert werden mit dem Ziel, Arbeitslosenhilfeempfän-
ger und Langzeitarbeitslose möglichst schnell in Be-
schäftigung zu bringen und Information und Beratung aus
einer Hand anzubieten. Das wird weniger Verwaltung und
Bürokratie bedeuten. Das wird auch ein Erfolg dieses Ge-
setzes sein.


(Beifall bei der SPD)

Noch eine abschließende Bemerkung: Es ist gesagt

worden, dass 1,6 Millionen Menschen kein Recht auf
Vermittlungsgutscheine hätten.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!)

Das stimmt zwar. Aber das heißt doch nicht, Herr Grehn,
dass sich niemand um die Vermittlung dieser Menschen
kümmern wird. Das heißt vielmehr, dass die Arbeitsämter
in Zusammenarbeit mit den Sozialhilfeträgern auch in
Zukunft genauso aktiv wie in der Vergangenheit daran ar-
beiten werden, dass diese Menschen schnell in neue Be-
schäftigungsverhältnisse kommen. Wofür haben wir denn
das Projekt MoZArT aufgelegt? Welche Chancen und
Möglichkeiten haben denn die Städte und die Kommunen
nach dem Bundessozialhilfegesetz, Menschen zu be-
schäftigen? Niemand muss zuzahlen! Lügen Sie die Men-
schen nicht an! Bei den Grenzen für das Vermittlungsho-
norar, die wir gesetzt haben, handelt es sich um
Schutzgrenzen, damit nicht mehr gefordert werden kann.
Sagen Sie den Menschen die Wahrheit!


(Beifall bei der SPD)

Im Klartext: Die finanziellen Obergrenzen bedeuten Si-
cherheit im Wandel. Dies wird dadurch erreicht, dass für
die unteren Bereiche eine Obergrenze von 1 500 Euro und
für die oberen Bereiche eine Obergrenze von 2 500 Euro
gesetzt wird. Wir verhindern damit Rosinenpickerei und
sichern mit der Zertifizierung der Angebote die Qualitäts-
standards.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie werden Ihr Gesetz noch in dieser Wahlperiode nachbessern! Wetten!)


Warum kritisieren Sie auf einmal das Tempo, das wir
hier vorlegen? Vor zwei, drei Wochen haben Sie noch be-
hauptet, es fänden keine Reformen mehr statt. Statt Zö-
gern und Zaudern, statt Kappen und Kürzen wird nun mit
hohem Tempo ein vernünftiges Reformwerk in den Bun-
destag eingebracht. Wir werden uns dabei von Ihnen nicht
ausbremsen lassen. Nehmen Sie das einmal zur Kenntnis!


(Beifall bei der SPD – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sozialhilfeempfänger zahlen ihre Vermittlung selber! Das ist das Ergebnis! Wie kann man nur einen solchen Schrott vertreten, wenn man es besser weiß!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422506700
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Meckelburg.


Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1422506800
Frau Präsiden-
tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der vorlie-
gende Gesetzentwurf – das, um was es eigentlich geht, ist
ein bisschen versteckt worden; wer erwartet denn schon
hinter dem Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung
der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat
einen solchen Anhang; vielleicht erklärt das auch, warum
manche gar nicht gemerkt haben, was dort versteckt wor-
den ist


(Peter Dreßen rung!)


– ist ein Dokument des Scheiterns von Rot-Grün bei der
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Sie gaukeln nur
Handlungsfähigkeit vor. In Wahrheit ist das, was Sie heute
verabschieden, ein hektisch zusammengezimmertes Not-
programm für das Wahljahr 2002, wofür das Wort „Pro-
gramm“ eigentlich noch zu gut ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Staatssekretär Andres, besonders Sie sind in Ak-

tionismus verfallen. Denken Sie daran: Sie sind der letzte
Schutzschild, den der Arbeitsminister noch hat. Denn sein
Verbindungsmann zur Bundesanstalt für Arbeit, der
entweder nicht aufgepasst hat, als es um die Vermittlung
ging, oder der etwas nicht weiter vermittelt hat oder der
nur so getan hat, als ob er nicht wüsste, was ihm weiter
vermittelt worden ist, ist ja geschasst worden. Sie sind
also der Letzte, der mit Inbrunst Verteidigungsreden hält.
Sie selber sollten einmal darüber nachdenken, in welcher
Position Sie sich eigentlich befinden. Bisher kann ich nur
Aktionismus erkennen.


(Erika Lotz [SPD]: Sagen Sie doch einmal etwas zu Ihrer Zeit, als Sie Verantwortung getragen haben! – Gegenruf des Abg. Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das war eine schöne Zeit für Deutschland!)


Ich möchte nun das bewerten, was Sie in dieser Legis-
laturperiode gemacht haben. Hinsichtlich der Reform der
Arbeitsförderung haben Sie 1999 ein kleines Vorschaltge-
setz verabschiedet, mit dem Sie Dinge gemacht haben, die
wir schon vorbereitet hatten. Dabei haben Sie auch zwei
oder drei falsche Maßnahmen getroffen. Für 2000 hatten
Sie eine große SGB-III-Reform angekündigt. Passiert ist




Franz Thönnes
22374


(C)



(D)



(A)



(B)


allerdings nichts. 2001 legte die Koalition endlich etwas
auf den Tisch, nämlich das Job-AQTIV-Gesetz. Der
Name klingt zwar großartig. Aber der Inhalt ist es nicht;
denn Sie machen eigentlich nichts anderes, als die Ar-
beitsförderung auf das reine Vermitteln zu reduzieren.

Damit komme ich auf einen Kernpunkt zu sprechen,
der mich sehr stutzig macht: Mir ist angesichts der Tatsa-
che, dass Sie monatelang über das Thema Vermittlung im
Zusammenhang mit dem Job-AQTIV-Gesetz diskutiert
haben, völlig schleierhaft, warum erst durch die Prüfung
des Bundesrechnungshofes die Fehler bei der Erhebung
der Vermittlungsstatistik bekannt geworden sind. Entwe-
der haben Sie – theoretisch – schludrig gearbeitet oder Sie
haben bestimmte Dinge nicht zur Kenntnis genommen.
Ich ärgere mich jedenfalls fürchterlich, dass Sie im Januar
und Februar dieses Jahres so getan haben, als hätten Sie
den Stein der Weisen gefunden. Man muss klar und deut-
lich sagen: Das, was Sie hier machen, ist relativ kurzfris-
tig gedacht und nur auf das Wahljahr ausgerichtet. Es han-
delt sich um keine langfristige Strategie, sondern nur um
Hektik und Aktionismus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wollten doch von uns schnelles Handeln! Machen Sie doch keinen Popanz!)


Sie haben bei all den Reformschritten wichtige Punkte
außer Acht gelassen. Rot-Grün hat sich bis zu diesem
Januar nicht um die schon lange anstehende Struktur-
reform der Bundesanstalt für Arbeit gekümmert. Rot-
Grün hat sich bisher nicht um die Stärkung der privaten
Vermittlung gekümmert. Sie haben sich nicht um mehr
Wettbewerb und Effektivität in der Arbeitsmarktpolitik
gekümmert. Ihr großes Gesetz hat all das gar nicht herge-
geben.


(Peter Dreßen [SPD]: Bei uns waren es nur drei Jahre! Bei Ihnen waren es 16 Jahre! – Gegenruf des Abg. Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Die 16 Jahre werden Sie auch nicht erreichen!)


Sie machen im Moment etwas, was Sie ursprünglich
gar nicht vorhatten. Das ist das Notprogramm, das ich ge-
rade beschrieben habe. Sie haben auch keine Antwort auf
die Frage, wie die gesamte Arbeitsmarktpolitik stärker auf
die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet
werden kann, keine Antwort darauf, wie der Niedriglohn-
sektor aktiviert werden kann, keine Antwort darauf, wie
die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosen-
hilfe wirklich aussehen soll. Bei alldem hat Ihnen der Mut
gefehlt. Sie haben keine Konzepte dazu.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt sind wir mal mutig und dann bemängeln Sie es! Was wollen Sie denn nun?)


Deswegen ist es umso verwerflicher, dass Sie hier jetzt
den Eindruck erwecken, als hätten Sie den Stein der Wei-
sen und wollten etwas tun.


(Franz Thönnes [SPD]: Sie wollen die Arbeitslosenhilfe auf das Sozialhilfeniveau absenken! Sagen Sie doch den Menschen, dass Sie kürzen wollen!)


– Regen Sie sich nicht auf, Herr Thönnes! Sie haben doch
schon geredet. Keine zweite Rede zwischendurch!


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bei dem Unsinn, den Sie erzählen, kann man nicht ruhig bleiben!)


Das Verfahren, das Sie gewählt haben, ist für alle Be-
teiligten, für Parlamentarier und Experten, die wir einge-
laden haben, eine wirkliche Zumutung gewesen. Sie ha-
ben erst den Arbeitsminister Riester monatelang durch
den Schutzschild Jagoda abgeschirmt. Dann haben Sie
Jagoda in die Wüste geschickt und Tegtmeier hinterher.
Daraufhin hat der Bundeskanzler persönlich gesagt: Wir
machen eine große Reform. – Bundespressekonferenz
22. Februar.


(Zuruf von der SPD: Das war ärgerlich!)

– Nein, das war nicht ärgerlich. Das war höchstens für Sie
ärgerlich, weil Sie am Mittwoch der darauf folgenden Sit-
zungswoche nicht in der Lage waren, etwas Konkretes zur
Verabschiedung auf den Tisch zu legen. Sie wären sogar
bereit gewesen, zu einer Anhörung zu etwas einzuladen,
das es noch gar nicht gab.

Was hat stattgefunden? Es ist leider so – Frau Vorsit-
zende, Sie wissen es –: Sie haben zwei Wochen gebraucht.
Am letzten Freitag haben Sie etwas auf den Tisch gelegt.
An diesem Tag haben wir Experten von außerhalb für die-
sen Dienstag eingeladen. Dann haben Sie das, was Sie als
Koalitionsfraktionen am Freitag auf den Tisch gelegt hat-
ten, am Mittwochmorgen in einer Sondersitzung der Frak-
tion um 8 Uhr noch einmal verändert, haben uns das im
Ausschuss – ich sage es einmal so deutlich – auf den Tisch
geknallt, die Beratung durchgezogen und das Gesetz im
Ausschuss verabschiedet.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Mit heißer Nadel!)


Heute, zwei Tage später, findet die Schlussabstimmung
statt. – Das ist eine Zumutung! Dabei kann nur Murks he-
rauskommen! Das ist das Ergebnis Ihrer Politik!


(Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Murks und Marx, Hand in Hand! – KarlJosef Laumann [CDU/CSU]: Murks, mehr ist das nicht!)


Dieses Verfahren ist blamabel. Es war zu wenig Zeit.
Es ist auch kein Wunder, dass die Ergebnisse, die heute zu
verabschieden sind, unbefriedigend bleiben.


(Dirk Niebel [FDP]: Kein Wunder!)

Ich nenne nur drei Punkte:

Erster Punkt. Der Wert der Vermittlungsgutscheine
berechnet sich nach Ihren Vorstellungen lediglich nach
der Dauer der Arbeitslosigkeit.


(Peter Dreßen [SPD]: Das ist schon mal was!)

Das heißt konkret: Je langsamer die Vermittlung ist, umso
höher werden die Kosten.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist das!)





Wolfgang Meckelburg

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(C)



(D)



(A)



(B)


Zweiter Punkt. In den ersten drei Monaten der Arbeits-
losigkeit besteht selbst dann, wenn die Einschaltung eines
Privatvermittlers die Einstellung des Arbeitslosen be-
fördern würde, kein gesetzlicher Anspruch auf einen
Vermittlungsgutschein.

Letzter Punkt. Sie gehen bei der organisatorischen Än-
derung der Bundesanstalt für Arbeit nicht weit genug. Der
Aufsichtsrat – Karl-Josef Laumann hat darauf hingewie-
sen – sollte aus unserer Sicht nur noch aus Gewerkschafts-
und Arbeitgebervertretern bestehen, damit die das regeln
können, was die Arbeitslosenversicherung betrifft. Nach
dem Motto „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, bilde ich
einen Arbeitskreis“


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist der Grundsatz der Regierung!)


schiebt Rot-Grün die Klärung der eigentlichen Struktur-
reform der Bundesanstalt einer Kommission zu. Also hier
im Parlament Aktionismus, Hektik, schnelles Durchpeit-
schen


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Schlechte Gesetze!)


und die wirklichen Reformen finden in einer Kommission
statt!

Dann haben Sie noch beschlossen, –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422506900
Herr Kollege,
Sie können das jetzt nicht mehr ausführen.


Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1422507000
– dass diese
Kommission am 15.August die Ergebnisse vortragen soll.
Das ist zu durchschaubar. Das ist vier Wochen vor der
Bundestagswahl!


(Franz Thönnes [SPD]: Neidisch?)

Bisher haben Sie für den Arbeitsmarkt eigentlich nichts
getan und dann wollen Sie ankündigen, was Sie danach
machen wollen. Sie haben vier Jahre zu wenig getan und
die Antwort werden Sie vom Wähler bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – KarlJosef Laumann [CDU/CSU]: Das Gesetz ist der Beweis dafür, dass PISA stimmt! – Gegenruf der Abg. Erika Lotz [SPD]: Fragt sich nur, auf welcher Seite!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422507100
Eine Kurzinter-
vention des Abgeordneten Grehn.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Er hat schon dreimal die Gelegenheit gehabt!)



Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1422507200
Liebe Kollegen, ich hätte
gern darauf verzichtet, wenn nicht vom Herrn Kollegen
Thönnes die Äußerung gefallen wäre, ich würde die Men-
schen belügen.

Herr Thönnes, ich beziehe mich auf den Entwurf in der
vom Ausschuss beschlossenen Fassung, und zwar auf
Art. 3 – Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch –
§ 421 g Abs. 1, in dem der Anspruch auf einen Vermitt-

lungsgutschein geregelt wird. Dies steht in Verbindung
mit dem, was in der Ausschussdrucksache 14/2201 zu
§ 296 Abs. 3 SGB III und in der dazu vorliegenden Er-
läuterung zu Nr. 3 nachgereicht worden ist. Ich zitiere das
gerne noch einmal:

Auch für Arbeitsuchende, die keinen Anspruch auf
einen Vermittlungsgutschein haben,

– das ist, wie schon gesagt, in § 421 g Abs. 1 geregelt –
sieht die Vorschrift eine Begrenzung des Honorars
vor, um sie vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme
zu schützen.

Laut Gesetzestext beläuft sich die Honorarbegrenzung auf
2 500 Euro.

Dies wollte ich Ihnen noch sagen; darauf habe ich mich
bezogen. Nach dieser Regelung gibt es Arbeitslose, die
einen Gutschein erhalten und damit bezahlen, und andere,
die die private Vermittlung in Anspruch nehmen dürfen,
aber dafür ein Honorar – das ist Ihr eigener Terminus – zu
zahlen haben, dessen Höhe Sie festgelegt haben.


(Zurufe von der SPD: Aber doch nicht müssen!)



Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1422507300
Herr Kollege Grehn, jetzt ha-
ben Sie der Öffentlichkeit noch einmal sehr schön darge-
stellt, dass Sie nicht in der Lage sind, das gesamte Ver-
fahren bzw. den Text des Gesetzes zu verstehen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja, so ist es!)


In der noch geltenden Gesetzeslage – das wird sich
voraussichtlich in den nächsten zehn Minuten ändern –
dürfen von Arbeitnehmern keine Honorare verlangt wer-
den. Mit dem jetzigen Gesetzesvorhaben ändern wir dies.
Wir fügen eine Obergrenze, also eine Begrenzung, ein,
damit nicht ungerechtfertigt Honorarforderungen erhoben
werden können.

Damit wird nicht zum Ausdruck gebracht, dass man
zahlen muss; damit das einmal klar ist. Vielmehr ist es die
freie Entscheidung des Einzelnen,


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Er hat doch gar keine Wahl!)


ob er, basierend auf dem Versicherungsanspruch, den er
aufgrund seiner Ansprüche an die Arbeitsverwaltung hat,
die Hilfen und Unterstützungen der Arbeitsverwaltung in
Anspruch nimmt oder ob er sich einen privaten Vermittler
sucht.

Die Behörden, die Sozialhilfeträger sind, haben nach
dem Bundessozialhilfegesetz die Aufgabe, alles dafür zu
tun, dass die Menschen Arbeit und Beschäftigung be-
kommen. Das ist ein Gesetzesauftrag. Machen Sie hier in
der Öffentlichkeit den Menschen nichts anderes vor! De-
finieren Sie am Ende nicht noch Begrenzungen und
Schutzvorschriften als eine Regelung, bei der Menschen
etwas zahlen müssen! Das stimmt nicht!


(Beifall bei der SPD – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie werden sich noch wundern! Dieses Gesetz holt Sie ein!)





Wolfgang Meckelburg
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(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422507400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner.


Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1422507500
Sehr geehrte Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich
zum Ersten ein Wort an Herrn Meckelburg richten. Herr
Meckelburg hat gesagt, wir würden etwas verstecken.
Herr Meckelburg, ich sage Ihnen: Wir verstecken nichts.
Wir haben etwas zum Vorzeigen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Was?)

Zum Zweiten wurden heute mehrfach Hinweise auf die

PISA-Studie gemacht. Nun wissen wir, mit welcher De-
batte wir es zu tun haben: Sie bringen die geistigen Qua-
lifikationen in diesem Land in Zusammenhang mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf. Ich sage Ihnen: Dadurch,
dass Sie diesen Gesetzentwurf mit dem Hinweis auf die
PISA-Studie kritisieren, zeigen Sie, dass Sie angesichts
der Geschwindigkeit, in der wir Gesetzentwürfe erarbei-
ten und damit die Situation der Menschen in diesem
Lande verbessern, nicht in der Lage sind, mit uns mitzu-
halten. Sorgen Sie dafür, dass durch Ihre Reaktionen auf
die Ergebnisse der PISA-Studie auch in Ihren eigenen
Reihen die Argumentationsfähigkeit aufgebaut wird, die
nötig ist, um unserer Geschwindigkeit Folge leisten zu
können.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie verwechseln Schnelligkeit und Schludrigkeit!)


Die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Auf-
sichtsrat ist zwar, wie wir alle wissen, kein in der Öf-
fentlichkeit intensiv diskutiertes Thema, aber gleichwohl
für die Wirtschaft von erheblicher Bedeutung. Mit diesem
Gesetz leisten wir das, was Sie an anderer Stelle einfor-
dern, nämlich eine Entbürokratisierung. Wir vereinfachen
und beschleunigen und bewirken damit einen deutlichen
Fortschritt in diesem Land bei der Durchführung von Auf-
sichtsratswahlen.

Weit über die Koalition hinaus ist Zustimmung zu die-
sem Gesetzentwurf deutlich geworden. Wirtschaft und
Gewerkschaften sind sich einig. Durch die Vereinfachung
des Wahlverfahrens und die Verringerung der Zahl der
Vertreter in Delegiertenversammlungen im Rahmen von
Aufsichtsratswahlen werden in einem erheblichen Um-
fang Kosten eingespart.

Der zweite Teil unseres Gesetzes berücksichtigt die
Reform derArbeitsvermittlung. Dabei bleibt festzuhal-
ten, dass es dagegen keine inhaltlichen Einwände gibt,
wie es auch heute Morgen in der Debatte deutlich gewor-
den ist. Union und FDP haben nur aus formalen Gründen
dagegen gestimmt.


(Dirk Niebel [FDP]: Nein! Es ist falsch gemacht!)


– Das ist nicht überzeugend.

(Beifall der Abg. Renate Rennebach [SPD])


Natürlich haben wir die Verfahrensmöglichkeiten voll
ausgeschöpft. Das war jedoch nicht gegen die Opposition
gerichtet, sondern es ist im Interesse der Sache notwendig
gewesen. Für die konstruktiven Beiträge, die Sie inner-

halb des parlamentarischen Verfahrens geleistet haben,
möchte ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken.

Die kurzfristigen Änderungsanträge sind im Übrigen
eine Folge der Anhörung. Sie sind ein Beleg dafür, dass
wir eine konkrete Beteiligung der Opposition an dem Ge-
setzgebungsverfahren ermöglicht haben. Sie haben sich
im Interesse der Sache an diesem Verfahren beteiligt. Ich
kann Sie heute nur auffordern, im Interesse der Beschäf-
tigten in den Arbeitsämtern dafür zu sorgen, dass die Re-
form der Arbeitsverwaltung gemeinsam vorangetrieben
wird. Deshalb bitte ich Sie: Beharren Sie nicht weiter auf
Prinzipien, sondern senden Sie das Signal aus, dass die
dringend notwendigen Reformen der Arbeitsverwaltung
durch ein gemeinsames Votum dieses Hauses nach vorne
gebracht werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In diesem Zusammenhang habe ich wenig Verständnis
dafür, dass die CDU/CSU-Fraktion quasi ein Amt für die
Zulassung privater Vermittler beantragt. Von der PDS
hätte ich einen solchen Antrag, der eine Überbürokratisie-
rung beinhaltet, erwartet, von Ihnen aber nicht.


(Beifall der Abg. Erika Lotz [SPD] – Franz Thönnes [SPD]: Da zuckt sogar der Kollege Niebel!)


Es war uns wichtig, dass dieses Gesetz voll auf der Li-
nie von Job-AQTIV liegt.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So schlecht war Job-AQTIV nun wieder nicht!)


Schon heute haben über 2 Millionen Arbeitslose einen
Rechtsanspruch auf private Arbeitsvermittlung. Schon
heute ist im Gesetz die Evaluierung der arbeits-
marktpolitischen Instrumente festgeschrieben. Mancher
wird sich noch über die Ergebnisse wundern. Die aktive
Arbeitsmarktpolitik ist auf einem guten Weg.

Das wichtigste Instrument ist und bleibt die Arbeits-
vermittlung. Hier korrigieren wir nicht die Reform; aber
wir beschleunigen sie. Arbeitsminister Walter Riester hat
auf die entsprechenden Berichte des Bundesrechnungs-
hofs schnell, energisch und sorgfältig reagiert. Das zeich-
net ihn aus. Hier lassen wir uns von der Opposition nicht
ausbremsen – das ist ein durchsichtiges Manöver –, son-
dern wir beschleunigen einen notwendigen Prozess im In-
teresse der Arbeitslosen in unserem Land.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit dem neuen Vorstand wird hoffentlich ein Ruck – so
hat es der Altbundespräsident Roman Herzog einmal be-
zeichnet – durch die Arbeitsämter gehen.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ihr seid nicht ruckfähig!)


Er ist auch notwendig. Schon im Job-AQTIV-Gesetz
ist das Leitmotiv „nicht privat oder öffentlich, sondern
privat und öffentlich“, also zum einen basierend auf
Kooperation und zum anderen basierend auf Wettbewerb,
verankert. Wir erleichtern die Arbeit der privaten
Arbeitsvermittlungen und stärken gleichzeitig die






(C)



(D)



(A)



(B)


öffentliche Arbeitsvermittlung. Ziel ist schließlich eine
schnelle Vermittlung, egal durch wen.

Ein Musterbeispiel für die sinnvolle Zusammenarbeit
ist die Arbeitsvermittlung durch die Bildungsträger. Das
ist ein wichtiger Baustein des Job-AQTIV-Gesetzes. Die
Bildungsträger kennen den Markt für bestimmte Qualifi-
kationen und auch die Bewerber sehr gut. Die aus NRW
stammenden Beispiele – man konnte sie heute in den Ta-
geszeitungen nachlesen – belegen,


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Kaufen Sie sich einmal den „Stern“!)


dass diese Art von Arbeitsvermittlung, nämlich Qualifi-
zierung in Verbindung mit Vermittlung, ein erfolgreicher
Weg ist. Immerhin können noch 1,2 Millionen offene
Stellen in diesem Lande besetzt werden. Den Arbeits-
markt mehr in Bewegung zu bringen ist das Ziel dieses
Gesetzes, das wir erfolgreich erreichen werden.

Es gibt keinen Grund zur Resignation. Im kommenden
Aufschwung wird die Arbeitsvermittlung erst recht wich-
tige Beiträge für die Besetzung freier Arbeitsplätze liefern.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Habe ich jetzt „kommender Aufschwung“ gehört?)


PrivateArbeitsvermittlungen können vor allenDingen dort
helfen, wo Spezialkenntnisse erforderlich sind und wofür
bei der breit angelegten öffentlichen Vermittlung nicht so-
fort die Voraussetzungen geschaffen werden können.

Ich will dazu als Beispiel den überschuldeten Arbeits-
losen nennen. Verschuldungsprobleme sind, wie wir wis-
sen, ein gravierendes Vermittlungshemmnis. Alle Ver-
mittler darauf zu schulen wäre – ohne Frage – nicht
effizient. Hier ist nur in Kooperation mit der Schuldner-
beratung etwas zu erreichen. Die Einbeziehung Dritter ist
wirkungsvoller, als die Arbeitsvermittler des Arbeitsam-
tes entsprechend zu schulen.

Hierfür haben wir mit dem Job-AQTIV-Gesetz bereits
wichtige Voraussetzungen geschaffen; denn der Rechts-
anspruch auf Vermittlung durch Dritte, also Externe,
besteht in diesen Fällen bereits ab dem ersten Tag der
Arbeitslosigkeit. Dies zeigt, dass wir eine schnelle
Arbeitsvermittlung wollen und dass wir das Profiling sys-
tematisch einsetzen. Dies zeigt aber auch, dass die
Beiträge seitens der PDS, die in diesem Land den Ein-
druck erwecken will, als sei Arbeitsvermittlung zukünftig
nur noch gegen Bezahlung möglich, völliger Quatsch
sind. Hören Sie auf mit dieser Verunsicherung! Arbeits-
lose müssen nicht zahlen; sie haben einen Rechtsanspruch
auf die Bestellung Dritter ab dem ersten Tag der Arbeits-
losigkeit, wenn dies notwendig ist. Genau das sieht das
Job-AQTIV-Gesetz vor.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422507600
Das wäre ein
schöner Schlussatz, Herr Kollege; denn Sie haben Ihre
Redezeit überschritten.


Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1422507700
Mit diesem Gesetzentwurf
stärken wir die Vermittlungsaktivitäten in diesem Land

und sorgen wir dafür, dass die Arbeitsvermittlung im Rah-
men der Handlungsmöglichkeiten der Bundesanstalt für
Arbeit in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt wird.
Das wird ein erfolgreicher Prozess sein und ich hoffe, dass
er durch uns alle in diesem Haus unterstützt wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das musste doch noch gesagt werden! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war ein noch besserer Schlusssatz!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422507800
Ich schließe da-
mit die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ver-
einfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den
Aufsichtsrat. Der Abgeordnete Seifert hat eine schrift-
liche Erklärung zur Abstimmung abgegeben, die wir zu
Protokoll nehmen.1)

Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt
unter Buchstabe a) seiner Beschlussempfehlung, den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Die
Fraktion der CDU/CSU verlangt getrennte Abstimmung.

Ich rufe also zunächst Art. 1 und Art. 2 sowie Einlei-
tung und Überschrift in der Ausschussfassung auf. Ich
bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Art. 1
und Art. 2 sowie Einleitung und Überschrift sind mit den
Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung der FDP an-
genommen worden.

Nun rufe ich Art. 3 bis Art. 21 in der Ausschussfassung
auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Art. 3 bis Art. 21 sind mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition
angenommen worden. Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf in dritter Beratung zustim-
men wollen. – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der gesamten Opposition angenommen worden.

Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt
unter Buchstabe b) seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/8529, eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der PDS bei Ent-
haltung von CDU/CSU und FDP angenommen worden.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther

Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun (Augsburg),




Klaus Brandner
22378


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 2

Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Einsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissio-
nen verkürzen – Rahmenbedingungen verbes-
sern
– Drucksache 14/7159 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun (Augsburg),
Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Begrenzung der Einsatzdauer von Soldaten bei
Friedensmissionen
– Drucksachen 14/1307, 14/2841 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Zumkley
Ursula Lietz

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

Friedrich Nolting, Jörg van Essen, Dirk Niebel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Einsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissio-
nen verkürzen – Rahmenbedingungen verbes-
sern
– Drucksachen 14/4536, 14/6684 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Zumkley
Ursula Lietz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sieben Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Günther Nolting.


Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1422507900
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die Stehzeit von sechs Mo-
naten im Einsatz findet weiterhin nur geringe Akzeptanz.


(Beifall bei der FDP)

Das ist nicht nur die Meinung der FDP-Bundestagsfrak-
tion, das ist der Originalton des Beauftragten für Erzie-
hung und Ausbildung beim Generalinspekteur der Bun-
deswehr in seinem Jahresbericht 2001. General Löchel
hat Recht.


(Beifall bei der FDP)

Diese Erkenntnis ist keineswegs neu. Dennoch wurde

die Dauer der Einsätze nicht auf vier Monate zurückge-
führt. Die Meinung der Soldaten, also der Betroffenen, ist

dem Verteidigungsminister offenkundig gleichgültig.
Minister Scharping ist beratungsresistent.

Brigadegeneral Löchel bemängelt in seinem Bericht
wiederholt die abnehmende Attraktivität des Soldaten-
berufes. Dies wird festgemacht an abnehmender Sinn-
haftigkeit des Dienens, unzureichender Berufsper-
spektive, fehlender Planungssicherheit, mangelhafter
Information und eben der Aussicht, in regelmäßigen Ab-
ständen für sechs Monate in den Einsatz gehen zu müssen.

Bei allen Einsätzen der Bundeswehr, wie komplex und
lang andauernd sie auch sein mögen, muss das Wohl der
Soldaten und deren Familien im Mittelpunkt stehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Mensch muss absoluten Vorrang haben. Die Gesund-
heit und das Wohl der Soldaten und ihrer Familien sind ein
hohes Gut, das nicht eingeschränkt oder gar aufgegeben
werden darf.


(Beifall bei der FDP – Peter Zumkley [SPD]: Wie ist das bei den Alliierten und deren Familien?)


Die Angehörigen der Bundeswehr befinden sich in ei-
nem absoluten Stimmungstief, angefangen bei den Re-
kruten bis hin zur Generalität, die zivilen Mitarbeiter ein-
geschlossen. Das ist nicht nur mein Eindruck, gewonnen
aus einer Vielzahl von Truppenbesuchen und unzähligen
Gesprächen; vielmehr gibt dies auch der Bericht von Ge-
neral Löchel wieder. Wie anders soll man folgende Fest-
stellung verstehen:

Eine allgemeine Ernüchterung, vor allem wegen der
nicht eingehaltenen Versprechungen zur Steigerung
der Attraktivität des Soldatenberufes, war überall
deutlich zu spüren.

(Peter Zumkley [SPD]: Das war doch 2001! Das ist doch längst bereinigt 2002!)

General Löchel schreibt weiter:

Der politischen Leitung wird mit starken Vorbehalten
begegnet.


(Beifall bei der FDP)

Dies ist die höfliche Umschreibung der totalen Frustration
der Bundeswehrangehörigen und es ist eine schallende
Ohrfeige für Bundesminister Scharping.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der PDS)


Das Urteil der Soldaten ist logisch und richtig. Die zu-
nehmend nicht nachvollziehbaren Handlungen und Ent-
scheidungen dieses Verteidigungsministers lassen keinen
anderen Schluss zu.


(Peter Zumkley [SPD]: Doch! – Johannes Kahrs [SPD]: Jederzeit!)


Ist denn die Kritik des Vorsitzenden des Deutschen
Bundeswehr-Verbandes eigentlich unberechtigt?


(Johannes Kahrs [SPD]: Den wollen Sie doch hier nicht! Der ist doch nicht zitierfähig!)





Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

22379


(C)



(D)



(A)



(B)


Hat Oberst Gertz nicht Recht? Minister Scharping ist
nicht in der Lage, die Bundeswehr zu führen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der PDS )


Er ist ohne Durchsetzungskraft. Dazu wird er vom Fi-
nanzminister, vom Kanzler und von seiner eigenen Partei
allein gelassen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Peter Zumkley [SPD]: Märchenstunde des Herrn Nolting!)


1999 hat Minister Scharping vollmundige Verspre-
chungen gemacht und Hoffnungen bei den Soldaten der
Bundeswehr geweckt. Was wollte er nicht alles verbes-
sern?! 2000 war dann das Jahr der Ernüchterung, 2001 das
Jahr der Enttäuschung und mittlerweile hat das Jahr der
Abstrafung begonnen.


(Peter Zumkley [SPD]: Na!)

Da der Verteidigungsminister offenkundig nicht die Cou-
rage besitzt zurückzutreten und der Bundeskanzler nicht
die Kraft zu seiner Entlassung hat, bleibt die Abstrafung.
Die Wähler werden am 22. September die Quittung für
vier Jahre Stümperei und Unfähigkeit ausstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Wollen Sie beim Bundeswehr-Verband als Vorsitzender kandidieren?)


Die sechsmonatige Einsatzdauer ist nur ein Beleg – es
ist nicht der einzige, aber der entscheidende – für die zu-
nehmende Berufsunzufriedenheit bei den Soldaten; die
geplante Kürzung des Auslandsverwendungszuschlages
für im Kosovo und in Mazedonien eingesetzte Soldaten
ist ein weiterer.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vorgestern schrieb mir ein Bundeswehrkommandeur,
dass die Soldaten seines Verbandes diese Absicht des Mi-
nisters mit Betroffenheit und Unverständnis zur Kenntnis
genommen haben. Der Kommandeur schrieb:

Dies stellt einen nicht zu unterschätzenden Beitrag
zum zunehmenden Vertrauensverlust in die Politik
und deren Glaubwürdigkeit dar! Derartig einseitige
Maßnahmen werden ... nicht ohne Auswirkungen auf
die Motivation und Haltung gegenüber der obersten
politischen Führung bleiben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Peter Zumkley [SPD]: Larmoyanz!)


Damit nicht genug: Es gibt eine Unzahl ähnlicher
Punkte. Hier nur eine kleine Auswahl: Besoldungsunter-
schied Ost/West – nichts passiert; zunehmender Beförde-
rungsstau; mangelnde Flexibilität in Personal-,


(Johannes Kahrs [SPD]: Was hat das mit dem Antrag zu tun?)


Versetzungs- und Fürsorgefragen; desolate Materiallage
und mangelhafter Einsatz von Grundwehrdienstleis-
tenden. Kann das Urteil Wehrpflichtiger etwa blamabler
sein, als dass sie ihren Wehrdienst als „Leerlauf“, als ein

mit „Beschäftigungstherapien“ angereichertes „Rum-
dümpeln“ bezeichnen? Auch dies können Sie im Bericht
von General Löchel nachlesen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Vielleicht hätten Sie darüber einen Antrag schreiben sollen?)


Frust entdeckt man überall in der Bundeswehr, wohin
man schaut. Das ist berechtigt und verständlich. Nur der
zuständige Minister will den Zustand nicht wahrnehmen.
Er redet unverändert schön.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Verteidigungsminister attestiert dem schwer kran-
ken Patienten Bundeswehr beste Gesundheit, obwohl sein
Beauftragter für Erziehung und Ausbildung feststellt, dass
in der Truppe die Entwicklung der Streitkräfte allgemein
mit großer Sorge betrachtet wird.

Wir haben also absoluten Stillstand in der Bundeswehr.
Nichts geht mehr, nicht einmal die gebotene Verkürzung
der sechsmonatigen Einsatzdauer. Dieser Minister wird
von den ihm unterstellten Angehörigen der Bundeswehr
nicht mehr ernst genommen. Das ist ein unzumutbarer Zu-
stand.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Bundeskanzler muss zum Wohl der Bundeswehr han-
deln. Auch die deutsche Reputation im Ausland steht auf
dem Spiel. Sie, meine Damen und Herren, können hier
heute Abhilfe schaffen: Stimmen Sie den Anträgen der
FDP zu!

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422508000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Johannes Kahrs.


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1422508100
Sehr geehrte Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Sozialdemokrat
möchte ich für meine Partei vorweg bekräftigen, dass un-
sere Soldatinnen und Soldaten im Ausland einen hervor-
ragenden Dienst verrichten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie tun dies unter außergewöhnlich hohen Belastungen;
die tragischen Ereignisse in Afghanistan, aber auch in der
Ostsee und gerade gestern in Hamburg, im so genannten
Friedensbetrieb, haben uns das schmerzhaft vor Augen
geführt. Sie tun dies auch unter Einsatz ihres Lebens.

Als Sozialdemokrat und Major der Reserve ist es mir
eine Verpflichtung, von hier aus ein Wort an meine Ka-
meraden, an die zivilen Angestellten und insbesondere an
die Angehörigen und Freunde zu richten. Ihnen allen ge-
bührt unser Respekt und unsere Hochachtung, den vom
Unglück betroffenen Angehörigen unser tiefes Mitgefühl.
Wir alle wissen um ihre hervorragenden Leistungen und
den überragenden Beitrag, den die Soldatinnen und Sol-




Günther Friedrich Nolting
22380


(C)



(D)



(A)



(B)


daten auf diesem Weg für unser Land leisten. Hierfür mei-
nen aufrichtigen und herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Ich komme nun zu dem Antrag der FDP-Fraktion. Wir
kennen die Stimmung in der Truppe. Wir kennen und ver-
stehen die Probleme der Soldaten und können sie nach-
vollziehen. Wir Sozialdemokraten bieten ehrliche Lösun-
gen und versprechen nicht das Unmögliche. Wir wissen:
Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass
man sie ignoriert, Herr Nolting.


(Peter Zumkley [SPD]: Sehr richtig!)

Bei der FDP vermisse ich konstruktive Kritik und weiter-
führende Vorschläge. Polemik und billiger Populismus er-
setzen kein fehlendes Konzept. Die FDP zeigt keine wei-
terführenden Wege auf. Sie versperrt sich den Fakten. Es
sind aber diese Fakten, die den Großteil der Soldaten von
der Notwendigkeit eines sechsmonatigen Einsatzes über-
zeugt haben.


(Peter Zumkley [SPD]: Das ist wahr!)

Ich weise Sie in diesem Zusammenhang auf den Bericht

des Wehrbeauftragten – Sie sollten ihn einmal lesen – hin,
in dem steht: „Kritik wird weniger im Hinblick auf die mi-
litärische Notwendigkeit geäußert“, es werden eher mehr
Flexibilität und mehr Freiräume eingefordert. Genau dem
kommen wir nach;


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Lesen Sie einmal den Bericht von Herrn Löchel!)


denn im Zweifel, Herr Nolting, entscheidet immer die
Wirklichkeit.

Um Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, ein
Verständnis für die Fakten zu ermöglichen, werde ich Ih-
nen diese im Rahmen einer kleinen Weiterbildung gerne
noch einmal vortragen. Auslöser für unsere Entscheidung,
die Einsatzdauer ab dem Jahr 2000 auf sechs Monate zu
verlängern, war das verstärkte Engagement der Bundes-
republik Deutschland auf dem Balkan. Das von uns ein-
geführte Kontingentsystem garantiert dem Soldaten in
der Zielstruktur grundsätzlich eine Stehzeit von zwei Jah-
ren in Deutschland.

Da dasHeer dieHauptlast der Einsätze zu tragen hat, be-
ziehen sich die heutige Debatte und die Zahlen auch in ers-
ter Linie auf diese Teilstreitkraft. Herr Nolting, man sollte
hier in der Sache diskutieren und nicht über alle anderen
Punkte, die einem bei der Bundeswehr sonst noch auffal-
len. Das geht selbst an Ihrem Antrag vorbei. Zwei Drittel
Ihrer Redezeit hatten mit IhremAntrag nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Paul Breuer [CDU/CSU]: Jetzt ist er wieder beim Vorlesen! Wenn er frei redet, wird er frech!)


– Herr Breuer, Sie wissen doch: Je größer und hohler die
Glocke, um so lauter ihr Klang.

Das Kontingentsystem überträgt jeweils einer der fünf
Divisionen die Verantwortung für Vorbereitung, Durch-
führung und Nachbereitung jeweils eines Einsatzes. Bei
fünf Divisionen ergibt sich somit ein sechsmonatiger Ein-

satz und ein Dienst von zwei Jahren in Deutschland. Wenn
Sie entsprechend nachrechnen, dann ergibt fünfmal ein
halbes Jahr zweieinhalb Jahre. Bis in das Jahr 2004 weiß
schon jetzt jede Einheit, wann sie für einen Einsatz vor-
gesehen ist, was allen Beteiligten eine erhebliche Pla-
nungssicherheit gibt und auch im Sinne der Soldaten ist.

Zurzeit gibt es jährlich zwei Kontingente mit jeweils
circa 8 400 Soldaten des Heeres im Einsatz: 7 200 Solda-
ten auf dem Balkan, 350 Soldaten im Rahmen von „Endu-
ring Freedom“ und 850 Soldaten in Afghanistan. Weitere
18 000 sind durch Vor- und Nachbereitung gebunden. In
der Summe bindet unser Konzept jeweils circa 26 000 Sol-
daten pro Halbjahr bzw. Einsatz.

So, meine Damen und Herren von der FDP, das sind
erst einmal die reinen Fakten. Nun nehmen wir vor die-
sem Hintergrund noch einmal Ihren Antrag in die Hand
und unterziehen ihn mit diesem Wissen einer erneuten
Prüfung: Was würde passieren, wenn wir Ihren Vorschlag
aufgreifen? Bei Umsetzung Ihres Modells benötigten wir
pro Jahr drei Kontingente. Das hieße aber auch, dass künf-
tig drei statt derzeit zwei Divisionen pro Jahr im Einsatz
wären. Um dann auch noch die von Ihnen geforderte Steh-
zeit von mindestens 20 Monaten in Deutschland zu reali-
sieren, müsste man eine weitere Division aufstellen. Eine
Verkürzung der Stehzeit liegt, wie ich glaube, weder in
Ihrem Sinne, Herr Nolting, noch in dem der Soldaten. Da
die Aufstellung neuer Divisionen entfällt, ergibt sich bei
Ihrem Konzept ein Aufenthalt der Soldaten in Deutsch-
land je nach Truppengattung von nur noch einem Jahr bis
maximal 16 Monaten zwischen den Einsätzen. Erklären
Sie einmal den Soldaten im Ausland, dass es nach einem
oder eineinviertel Jahr wieder ins Ausland geht! Das ist
unverantwortlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie, Herr Nolting, überschreiben Ihren Antrag mit den
Worten „Rahmenbedingungen verbessern“. Dem stimmen
wir zu.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das tun Sie nicht!)


Verbessern Sie die Rahmenbedingungen für die Soldaten
und unterlassen Sie solche Anträge! Dumm und unsinnig
in der Sache.

Würde man Ihrem Konzept folgen, dann müssten die
gesamten Planungen bis in das Jahr 2004 – jetzt steht
schon die Ausbildungsorganisation fest, jetzt sind schon
die Einheiten informiert – über den Haufen werfen. Keine
Planungssicherheit für niemanden – nicht finanzierbar
und verantwortungslos. Das ist das Konzept der FDP. Wir
Sozialdemokraten hingegen orientieren uns an den Be-
dürfnissen der Soldaten und an den Fakten. Das sollten
auch Sie beizeiten einmal tun.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Waren Sie eigentlich bei der Anhörung dabei?)


Wir bieten realistische Kompromisse an: in der Regel
sechs Monate, aber so viele Ausnahmen wie nötig und
machbar.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wissen Sie eigentlich, worüber Sie reden?)





Johannes Kahrs

22381


(C)



(D)



(A)



(B)


Davon ist bei Ihnen nichts zu spüren. Wir hingegen sind
flexibel.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Die Spezialisten, die vorzeitig erneut in einen Einsatz

gehen müssen, weil sie unverzichtbar sind, können ihre
Einsätze splitten. Die Regelung sieht einen Einsatzzeit-
raum von drei Monaten vor. Im dritten Einsatzkontin-
gent SFOR haben über 30 Prozent der infrage kommen-
den Zeit- und Berufssoldaten hiervon Gebrauch
gemacht. Den Kommandeuren vor Ort wurde ein größe-
rer Handlungsspielraum für die Einteilung ihrer Kräfte
gegeben. Dies entspricht dem Grundsatz der inneren
Führung. So flexibel muss man sein, um vor Ort reagie-
ren zu können.


(Peter Zumkley [SPD]: Sehr richtig!)

Aber auch andere Möglichkeiten sind denkbar und

praktizierbar. So kann bei einigen Dienstposten mit Zu-
stimmung der Soldaten die Versetzung für ein Jahr oder
mehr durchaus sinnstiftend gestaltet werden, das heißt
kürzer oder auch länger, je nachdem, was sinnvoll ist.
Hier muss man flexibel und offen für die Wünsche der
Soldaten sein.

Meine Damen und Herren von der FDP, Sie können
nun erneut die Sinnhaftigkeit Ihres Antrages überdenken.
Unser Modell wurde im Hinblick auf die Interessen der
Soldaten entwickelt; damit können sie sich zwei Jahre in
Deutschland aufhalten.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Waren Sie bei der Anhörung dabei?)


Wenn die neue Struktur im Jahre 2005 erreicht ist, dann
werden wir auch dies einer entsprechenden Prüfung un-
terziehen. Bis dahin, Herr Nolting, geben wir Ihnen die
Gelegenheit, Ihren Antrag noch einmal zu überdenken.
Deshalb lehnen wir ihn jetzt ab.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422508200
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ursula Lietz.


Ursula Lietz (CDU):
Rede ID: ID1422508300
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Aufgabenspektrum der Bundeswehr hat
sich in den Jahren seit der deutschen Wiedervereinigung
stark geändert und fundamental gewandelt.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Politik der CDU/CSU nicht!)


Seit Mitte der 90er-Jahre bestreiten deutsche Soldaten in
zunehmendem Maße zusammen mit ihren Verbündeten
Auslandseinsätze, inzwischen auf vier verschiedenen
Kontinenten.

Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus
wird auch in Zukunft enorme Ressourcen beanspruchen.
Diese Einsätze sind politisch gewollt, militärisch notwen-

dig und inzwischen auch weitestgehend gesellschaftlich
akzeptiert.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Na, na!)

Unsere Soldaten leisten dabei in einem schwierigen Um-
feld einen hervorragenden Dienst zur Sicherung von Frie-
den und Freiheit. Dafür sind wir ihnen und ihren Familien
alle zu tiefstem Dank verpflichtet.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Wir wissen aber – ganz aktuell sehr gewiss –, dass die-
ser Dienst ein schwerer ist, dass er mit großen Risiken und
Gefahren verbunden ist. Das hat uns der Raketenunfall in
Kabul sehr deutlich gezeigt. Ich denke, man muss wissen,
wofür man verantwortlich ist, wenn man solche Entschei-
dungen trifft.

Wir haben eben schon gehört, wie viele Bundes-
wehrsoldaten im Moment in den verschiedensten Einsät-
zen sind: über 9 500 insgesamt, 7 000 auf dem Balkan,
weitere 1 000 in Afghanistan, 1 500 im Rahmen der Ope-
ration „Enduring Freedom“ in Afrika, im Nahen Osten, in
Zentralasien und in Nordamerika.

Dieser größeren Mitverantwortung Deutschlands in
der Welt aber ist die politische Führung der Bundeswehr
in keiner Weise gerecht geworden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der außen- und der sicherheitspolitische Anspruch
Deutschlands als bevölkerungsstärkstem Land Europas
steht in krassem Widerspruch zu dem Zustand, in dem die
Bundeswehr im Moment ist. Die Stimmung in der Bun-
deswehr ist nicht gut, ja, sie ist schlecht, wie wir alle dem
Bericht des Wehrbeauftragten – der einmal Ihrer Fraktion
angehört hat, Herr Zumkley – entnehmen können.

Gleiches sagt der Bericht des General Löchel, der erst
einmal in den Schubladen des Generalinspekteurs ver-
schwand, als er diesem überreicht wurde.


(Peter Zumkley [SPD]: Das stimmt doch nicht! Das ist eine Legende!)


Gleiches sagt auch der ehemalige Befehlshaber der
NATO-Truppen im Kosovo, General Klaus Reinhardt. Er
spricht von einer tiefen Verunsicherung.

Ähnliches – auch Sie hören das, liebe Kollegen von der
SPD – wird Ihnen immer berichtet, wenn Sie Truppen-
besuche machen.


(Peter Zumkley [SPD]: Das Bild ist differenzierter, Frau Kollegin!)


Mittlerweile sind wir so weit, dass selbst höhere Dienst-
grade im Beisein ihrer Soldaten Bemerkungen über den
Verteidigungsminister machen, die vor einigen Jahren
noch nicht möglich gewesen wären.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Wenn man den Vorsitzenden des Bundeswehr-Verbandes ansieht, dann versteht man das auch!)


Schuld daran – das muss sich diese Regierung sogar
von Verteidigungsministern anderer Länder anhören – ist




Johannes Kahrs
22382


(C)



(D)



(A)



(B)


in erster Linie die mangelnde Finanzausstattung der
Bundeswehr, die uns gegenüber unseren europäischen
Verbündeten, von den Amerikanern ganz zu schweigen,
immer weiter zurückfallen lässt. Inzwischen muss man
glauben, dass dieses geradezu Methode hat. Ich bin fest
davon überzeugt, dass die Reduzierung der Fähigkeiten
der Bundeswehr Teilen dieser Koalition gefällt und sie
diese als den richtigen Weg sehen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oje! Lassen Sie sich noch etwas Besseres einfallen? – Johannes Kahrs [SPD]: Das ist doch Unsinn!)


Ein entscheidender Punkt der Unzufriedenheit, der von
Soldaten immer wieder genannt wird, ist unter anderem
die Kontingentdauer von sechs Monaten im Auslands-
einsatz. Wir diskutieren dieses Thema bereits seit mehre-
ren Jahren.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: So ist das!)

Bereits im Dezember 1999 haben wir an dieser Stelle die-
selbe Debatte geführt. Damals hat – ich denke, das wird
heute ähnlich sein – die rot-grüneKoalitionmit ihrerMehr-
heit denAntrag der Kollegen von der FDP abgebügelt.

Im Juni 2000 haben wir zu diesem Thema eine An-
hörung im Verteidigungsausschuss gehabt, bei der Sie,
Herr Kahrs, nach Ihren Worten zu urteilen, nicht anwe-
send gewesen sein können.


(Johannes Kahrs [SPD]: Gnädige Frau, ich bin lieber bei der Truppe als bei Ihren Anhörungen!)


Ich will von der tendenziösen Vorbereitung dieser An-
hörung gar nicht sprechen. Aber ich sage Ihnen: Dort
wurde klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ge-
rade die unteren Dienstgrade fast alle für eine kürzere
Kontingentdauer oder eine Flexibilisierung plädieren,


(Jörg van Essen [FDP]: Genau so ist es!)

ebenfalls ohne Erfolg, denn passiert ist bis heute über-
haupt nichts.

Im Verteidigungsausschuss haben wir dieses Thema
immer wieder auf der Tagesordnung. Aber auch hier ha-
ben sich SPD und Grüne nicht in Richtung unserer Solda-
ten bewegt.

Unsere Pflicht muss es sein, für unsere Soldaten die op-
timalen vorstellbaren Rahmenbedingungen im Einsatz zu
schaffen. Dass das bei der Kontingentdauer zum jetzigen
Zeitpunkt nicht der Fall ist, haben wir immer wieder fest-
stellen müssen. Die Kontingentdauer und die Möglich-
keiten der Betreuung vor Ort sowie der Angehörigen im
Heimatland in der Kombination sind ein wichtiger Kom-
plex. Stattdessen sorgt die Bundesregierung mit ihrem
Verteidigungsminister dafür, dass die Stimmung in der
Truppe nicht zuletzt aufgrund fehlender durchdachter
Konzepte für Auslandseinsätze immer schlechter wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Kümmern Sie sich doch einmal um Ihren CDU-Mann Gertz, der in Uniform Unsinn erzählt!)


Die jetzige Regelung einer sechsmonatigen Ein-
satzdauer mit einem vierzehntägigen Heimaturlaub als
Option wurde einzig und allein aus Kostengründen instal-
liert, nicht mit Rücksicht auf die Menschen, sondern ge-
gen sie. Herr Kahrs, das wissen Sie.


(Johannes Kahrs [SPD]: Eine Unterstellung! Sie haben dem doch zugestimmt! – Peter Zumkley [SPD]: Eine Unterstellung ersten Ranges! Das überzieht den Anstand!)


Damals garantierte man den Soldaten, dass sie mindestens
zwei Jahre nicht mehr zu einem Auslandseinsatz müssen,
wenn sie von einem Einsatz zurückkommen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Orientieren Sie sich zur Abwechslung an den Fakten!)


– Lieber Herr Kahrs, ich bin überzeugt, Sie täten den Sol-
daten und auch den Mitgliedern des Verteidigungsaus-
schusses einen großen Gefallen, wenn Sie sich im Bun-
destag eine schöne neue Aufgabe suchen würden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Das bezweifle ich allerdings! Dann wären die Soldaten allerdings Ihnen ausgeliefert!)


Mittlerweile müssen nicht nur Spezialisten häufiger in
den Einsatz, sondern auch der „normale“ Soldat. Das Re-
sultat ist, dass – das wissen Sie alle – das Versprechen ei-
ner zweijährigen Pause nicht eingehalten worden ist. Ein
Vertrauensverlust in der Bundeswehr ist wegen dieses
nicht eingelösten Versprechens deutlich spürbar.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wie überall: versprochen, gebrochen!)


Die Einsatzdauer von sechs Monaten hat deswegen
eine geringe Akzeptanz, weil sie mit Vorübungen und
Nachbereitungen dazu führt, dass der Soldat fast ein Jahr
seiner Familie und seinem Standort fern bleibt.


(Johannes Kahrs [SPD]: Zeigen Sie doch einmal die Alternativen auf!)


– Die haben wir Ihnen so oft aufgezeigt, Herr Kollege
Kahrs. Sie müssen sie ja nicht verstehen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Die haben Sie nicht! Sie haben immer bei den sechs Monaten zugestimmt!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422508400
Herr Kollege
Kahrs, bitte lassen Sie die Kollegin Lietz einmal ausreden.


Ursula Lietz (CDU):
Rede ID: ID1422508500
Tatsache ist, dass bei einer
sechsmonatigen Einsatzzeit und einem Urlaub, der erst ab
dem dritten Monat, aber nicht mehr in den letzten fünf
Wochen der Kontingentdauer genommen werden darf, die
Einsatzstärke in der Urlaubszeit meist nur 75 Prozent be-
trägt. Darüber sollte man einmal nachdenken. Ich hoffe,
dass Sie, Herr Kahrs, wenigstens den Bericht des Sozial-
wissenschaftlichen Instituts gelesen haben; wenn nicht,
sollten Sie sich ihn zu Gemüte führen.


(Gernot Erler [SPD]: Das ist ein Allesleser!)

– Kann er lesen? Das freut mich.




Ursula Lietz

22383


(C)



(D)



(A)



(B)


Zwei Drittel der Soldaten bevorzugen eine Standzeit
von vier Monaten ohne Urlaub oder flexiblere Einsatzzei-
ten.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das mag ja sein! Aber Sie haben keine Alternative dazu! Ohne Alternative ist das hohles Geschnacke! – Paul Breuer [CDU/CSU]: Wie war das mit der Glocke?)


Wenn Sie sich einmal das Alter der meisten Soldaten
im Einsatz vor Augen halten, dann werden Sie feststellen,
dass sie entweder im Aufbau einer Familie begriffen sind
oder sehr kleine Kinder haben. Die damit verbundenen
Probleme müssen die Soldaten und ihre Angehörigen al-
leine und getrennt verarbeiten.


(Johannes Kahrs [SPD]: Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht, Frau Lietz!)


– Ich glaube nicht, dass Sie bei dem Thema Familie und
kleine Kinder so ganz mitreden können, Herr Kahrs. Viel-
leicht können Sie sich nicht in diese Situation hineinver-
setzen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ich glaube auch nicht, dass Sie die jetzige Situation gut beurteilen können!)


Die Aussicht, in regelmäßigen Abständen für sechs
Monate in den Einsatz zu müssen, wirkt auf die Soldaten
abschreckend, lässt die Bewerberzahlen sinken und die
Abgängerzahlen steigen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wo ist Ihre Alternative?)


Das lässt auch die Wehrpflicht, für deren unbedingte Bei-
behaltung ich aus vielen Gründen plädiere, langsam, aber
sicher auf die schiefe Bahn geraten.


(Johannes Kahrs [SPD]: Was wollen Sie denn?)


Um die Bedürfnisse der einzelnen Soldaten besser
berücksichtigen zu können, muss die Einsatzzeit flexibi-
lisiert werden. Beispielsweise müssen Splittingregelun-
gen durch Mehrfachbesetzung von Dienstposten geschaf-
fen werden. Der Verteidigungsminister und der damalige
Inspekteur des Heers haben in der Sitzung des Verteidi-
gungsausschusses am 4. Juli 2001 zugesagt, nach dem
Abschluss der Strukturveränderungen der Bundeswehr
Verkürzungen für die Einsatzzeit zu bedenken. Das ist im
Protokoll der Sitzung nachzuweisen.


(Peter Zumkley [SPD]: Das ist für das Jahr 2006! – Johannes Kahrs [SPD]: Wo ist Ihr Konzept?)


Da die Bundeswehrreform in ihrer angedachten Form nie
vollendet werden wird, Herr Kollege Zumkley,


(Johannes Kahrs [SPD]: Das entscheidet der Wähler und nicht Sie!)


werden wir uns bald über neue Strukturen unterhalten
müssen. Fangen Sie bitte endlich an, dafür Konzepte zu
entwickeln!


(Johannes Kahrs [SPD]: Nur weil Sie keines haben?)


– Sie sind an der Regierung, Herr Kahrs. Ich weiß nicht,
ob Sie das schon gemerkt haben.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422508600
Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, es ist sehr schwer, eine Rede zu halten,
wenn man wirklich nach jedem Satz unterbrochen wird.
Dosieren Sie Ihre Zwischenrufe also besser.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber wenn jeder Satz so ein Unsinn ist, Frau Präsidentin? – Peter Zumkley [SPD]: Das reizt aber auch!)


– Ich dachte, im Verteidigungausschuss säßen Gentlemen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich bin dort nicht Mitglied, darum!)



Ursula Lietz (CDU):
Rede ID: ID1422508700
Ich danke Ihnen sehr für
Ihr Verständnis und freue mich darüber. Aber wir kennen
Herrn Kahrs aus dem Verteidigungsausschuss und sind in-
soweit wirklich schmerzerprobt.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich ein paar Worte zum Familienbetreu-

ungskonzept sagen, weil dieses Thema zu den Einsätzen
gehört. Für mich ist Familienbetreuung Bestandteil des
Einsatzes. Wir brauchen ein anderes, deutlich verbesser-
tes Familienbetreuungskonzept für die Soldaten und ihre
Angehörigen. Nicht zuletzt durch die immer weiter um
sich greifende Finanzmisere und die gescheiterte Bundes-
wehrreform ist die Moral in der Bundeswehr seit einiger
Zeit drastisch gesunken; darauf habe ich eben schon hin-
gewiesen. Immer weniger gute Zeitsoldaten wollen Be-
rufssoldaten werden und immer weniger Wehrpflichtige
tragen sich mit dem Gedanken, Zeit- oder Berufssoldat zu
werden. Die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber
ist unter anderem wegen der ineffektiven Einsatzdauer,
wegen mangelnder Technik, wegen des Materialnotstan-
des und vieler anderer Dinge gesunken, aber auch wegen
des Nichtvorhandenseins einer gut funktionierenden Fa-
milienbetreuung.

Eines kann ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren:
Wir werden uns in Zukunft alle damit beschäftigen müs-
sen, wie es ist, wenn Soldaten im Einsatz ihre Familien
nicht mehr hinter sich wissen. Ich sage Ihnen voraus, dass
die Motivation für den Einsatz bei diesen Soldaten dras-
tisch sinken wird. In diesem Moment wird jeder Einsatz
zu einem noch größerem Risiko, als er es zum jetzigen
Zeitpunkt schon ist.

Um eine vollständige Abdeckung aller Soldaten und
deren Familien einschließlich einer 24-stündigen telefo-
nischen Erreichbarkeit und Ansprechbarkeit zu gewähr-
leisten, ist eine flächendeckende Einrichtung von 32 Fa-
milienbetreuungszentren notwendig. Dazu gehört eine
Aufstockung des Personalbestandes der Familienbetreu-
ungszentren. Die auf der konzeptionellen Grundlage des
Bundesministeriums der Verteidigung geplante Einrich-
tung von zehn Betreuungsstellen mit hauptamtlichem
Personal, Frau Staatssekretärin Schulte, ist dafür keines-
falls ausreichend.


(Johannes Kahrs [SPD]: Was Sie nie hatten!)





Ursula Lietz
22384


(C)



(D)



(A)



(B)


Die – wie Sie mir auf eine Anfrage geantwortet haben –
vom Ministerium vorgesehene zweijährige Erprobungs-
phase ist entschieden zu lang. Unsere Jungs sind jetzt im
Einsatz und brauchen jetzt unsere Hilfe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422508800
Frau Kollegin,
jetzt muss ich Sie daran erinnern, dass Ihre Redezeit ab-
gelaufen ist.


Ursula Lietz (CDU):
Rede ID: ID1422508900
Ich komme zum Schluss,
Frau Präsidentin.

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem An-
sinnen und den Anträgen der FDP zu.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ui! – Johannes Kahrs [SPD]: Jetzt fallen Sie also um!)


Wir freuen uns, dass dieses Thema hier noch einmal be-
sprochen worden ist. Ich kann Ihnen versichern, dass wir
weiterhin dranbleiben werden.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind aber nicht dran und das ist gut so!)


Man lernt, dicke Bretter zu bohren. Eines Tages werden
die Soldaten andere Einsatzkonditionen vorfinden, wahr-
scheinlich schon nach dem 22. September dieses Jahres.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter Zumkley [SPD]: Wahrscheinlich gar keine mehr!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422509000
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422509100
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihnen fällt es
natürlich leicht, hier Vorschläge zu machen, die nicht um-
setzbar sind, aber engagiert klingen. Das passt zum Wahl-
kampf,


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Frau Beer, Sie wissen, dass wir das Thema schon 1999 auf der Tagesordnung hatten!)


erfüllt aber keineswegs die Bedürfnisse einer Bundes-
wehr im Einsatz und eines Parlaments, das offen ist für
Probleme, aber auch versucht, konstruktive Antworten zu
finden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir halten grundsätzlich an der Einsatzdauer von sechs
Monaten fest, nicht nur, aber auch, weil alle anderen Na-
tionen,mit denenwir uns zusammen an einerKonflikt- und
Friedensprävention beteiligen, die gleiche Stehzeit haben.


(Peter Zumkley [SPD]: Ein wichtiger Gesichtspunkt!)


Gleichwohl ist es notwendig – ich teile diese Ansicht –,
die Dauer der Einsätze immer wieder zu überprüfen und
zu diskutieren. Die Zusage des Verteidigungsministers
steht, allerdings nicht für den Prozess der Reform selbst,
sondern für das Ende der Reform.


(Ursula Lietz [CDU/CSU]: Diskutieren allein genügt nicht!)


Dann werden wir erneut die Überprüfung vornehmen.

(Peter Zumkley [SPD]: So ist es!)


Ich denke, dass man die Frage der sechsmonatigen
Einsatzdauer nicht zum Dogma verkommen lassen darf,
gerade weil wir sehen, wie wichtig die Motivation der
Soldaten im Einsatz ist. Diese Motivation ist die Vo-
raussetzung und entscheidende Grundlage dafür, dass der
politische Auftrag, den wir in der Regel im Konsens for-
mulieren, auch umgesetzt werden kann.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das sind neue Töne!)


Wir wissen, dass derzeit die Grenze der Leistungsfä-
higkeit erreicht ist. Ich will Ihnen aber sagen, dass ich
mich während der Truppenbesuche auf dem Balkan, die
ich wie viele andere auch mache, immer wieder davon
überzeugen konnte, dass unsere Soldaten im Einsatz ers-
tens hoch motiviert sind, zweitens gute Arbeit leisten und
drittens oft ihren Auftrag übererfüllen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Gleichwohl weiß ich auch, dass die sechsmonatige Ab-
wesenheit von zu Hause gerade für junge Familien und
Beziehungen eine hohe Belastung ist.


(Johannes Kahrs [SPD]: So ist es!)

Dies gilt vor allem dann, wenn die Zusage, danach zwei
Jahre im Heimatland sein zu können, im Moment – ins-
besondere bei speziellen Einheiten – nicht eingehalten
werden kann.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: So ist es!)

Ich möchte vor diesem Hintergrund deutlich machen,

dass es nicht darum geht, an der Zahl der Monate herum-
zufeilschen. Vielmehr ist die Politik gefordert – dies ist in
den letzten zehn Jahren meines Erachtens nicht ausrei-
chend erfolgt –, politisch zu entscheiden, wann und mit
wie vielen Bundeswehrsoldaten wir uns an welchen
Einsätzen beteiligen.

Wir wissen, dass bei der Truppe die Grenze der Belast-
barkeit im Moment erreicht ist. Dies ist ein wesentlicher
Grund dafür, warum wir trotz vieler guter Argumente
auch sagen mussten, dass wir derzeit die Rolle der Lead
Nation in Afghanistan nicht übernehmen können. Das ist
auch richtig so. Wir leisten politisch in anderen Bereichen
sehr viel mehr und Notwendiges. Wer den Einsatz dort nur
auf das Militärische reduziert, übersieht, dass wir die
wichtige Stabilisierung in Afghanistan zum Beispiel
durch den Aufbau der Polizei oder durch die Beteiligung
an ISAF ganz in den Vordergrund stellen und auch so zur
Entlastung unserer Bundeswehr beitragen.




Ursula Lietz

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich denke, dass diese politische Diskussion notwendig
ist, gerade auch weil wir wissen, dass zum Beispiel durch
das Engagement der Bundeswehr in Mazedonien das Auf-
flammen eines Bürgerkrieges bislang erfolgreich verhin-
dert werden konnte.

Diese politischen Rahmenbedingungen werden wir
weiter beobachten müssen.

Zum Schluss möchte ich ganz klar sagen, dass wir Fle-
xibilität nicht für ein Zauberwort halten. Wir und auch
das Verteidigungsministerium sind gefordert, ein Höchst-
maß an Flexibilität im Rahmen der sechs Monate zu prü-
fen und durchzusetzen. Ich persönlich bin der Überzeu-
gung, dass dazu auch die Urlaubsregelung gehören muss.

Aufgrund vieler Gespräche, aber auch aufgrund der
Tatsache, dass man oft mit leeren Flugzeugen hin- und
herfliegt, bin ich der Überzeugung, dass eine dritte Ur-
laubswoche gewährt werden kann, ohne weitere Kosten
zu verursachen, wenn man die vorhandenen Transportka-
pazitäten ausnutzen würde. Ich plädiere dafür, dies zu
überprüfen und den Soldaten während der sechsmo-
natigen Stehzeit diese dritte Urlaubswoche zu gewähren.

Wenn wir diese Punkte weiter anpacken und nicht ver-
suchen, die Bundeswehr wieder einmal mit Wahlkampf-
scheuklappen zu instrumentalisieren,


(Peter Zumkley [SPD]: Durch Populismus!)

wie Herr Nolting oder auch die CDU/CSU das machen,
wenn wir kritische Berichte kritisch hinterfragen und we-
sentliche Elemente in die Politik einfließen lassen – ich
meine die Berichte des Wehrbeauftragten und des Bri-
gadegenerals Löchel –, dann können wir der Bundeswehr,
uns und unserer Außenpolitik einen größeren Gefallen tun
als durch das, was Sie sich hier gerade geleistet haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422509200
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Heidi Lippmann.


Heidi Lippmann-Kasten (PDS):
Rede ID: ID1422509300
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Ich fasse den Sachverhalt kurz zusam-
men: Es geht hier umzweiAspekte, nämlich zumeinen um
den sozialenAspekt – die Stehzeiten für die Soldaten und
ihre Familien sollen so kurz wie möglich gehalten werden
– und zum anderen umden politischenAspekt – dabei geht
es um den Sinn vonAuslandseinsätzen überhaupt.

Wie Sie wissen, steht die PDS in sozialen Fragen auf-
seiten der Soldaten. Von daher müssten wir dem FDP-
Antrag zustimmen; denn es liegt insbesondere auch im
Interesse der Soldaten und ihrer Angehörigen, die
Trennungszeiten so kurz wie möglich zu halten. Nun
könnte man natürlich argumentieren – so war es vorhin
aus Ihren Reihen auch zu hören –, dass es die Hauptauf-
gabe von Soldaten sei, in den Krieg zu ziehen, zu kämp-
fen und persönliche Belange dementsprechend dahinter
zurückzustellen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das hat ja Gott sei Dank niemand behauptet!)


Diese Argumentation greift aber zu kurz, weil sie den
menschlichen Aspekt ausklammert.


(Beifall bei der PDS)

Dass wir dem FDP-Antrag nicht zustimmen, sondern

uns enthalten werden, liegt in dem politischen Aspekt be-
gründet; denn die PDS lehnt Auslandseinsätze ab.


(Beifall bei der PDS)

Wie wir nicht erst seit gestern wissen, sind es keine so ge-
nannten „humanitären“ oder „Friedensmissionen“, wie es
im FDP-Antrag beschönigend heißt,


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Zutreffend!)


sondern es sind Militäreinsätze, die ein breites Aufgaben-
spektrum abdecken und zum großen Teil völkerrechts-
und verfassungswidrig sind.


(Beifall bei der PDS – Widerspruch bei der CDU/CSU)


In Afghanistan sind deutsche Soldaten an Kampfein-
sätzen beteiligt, die unter Anwendung völkerrechtlicher
Konventionen als Kriegsverbrechen geahndet werden
müssten.


(Johannes Kahrs [SPD]: Jetzt missbrauchen Sie nicht diesen Wahlkampfantrag der FDP!)


Herr Karzai hat sich heute Morgen im Auswärtigen
Ausschuss für das erfolgreiche Agieren der deutschen
Truppen bei der Zerstörung der großen al-Qaida-Basis vor
zwei Tagen in Ostafghanistan ausdrücklich bedankt.


(Peter Zumkley [SPD]: Das hat er so nicht gesagt!)


Meinen Hinweis, dass man über so etwas in Deutschland
eigentlich nicht redet, nahm er mit Verwunderung zur
Kenntnis, weil wir doch – sinngemäß – stolz darauf sein
müssten, wenn deutsche Soldaten gemeinsam mit afgha-
nischen, australischen und US-amerikanischen Soldaten
Erfolge erzielten.


(Peter Zumkley [SPD]: Darüber sollten Sie einmal nachdenken!)


Ich erwähne das hier, weil Herr Karzai ein zentrales
Thema aufgegriffen hat, nämlich die Frage der Akzeptanz
deutscher Kampfeinsätze. Meine Damen und Herren, Sie
stehen doch mit einer großen Mehrheit hinter den Kampf-
einsätzen. Deshalb frage ich Sie: Warum überlassen Sie es
Herrn Karzai, den Einsatz deutscher Soldaten bei den
Kampfeinsätzen zu belobigen? Warum überlassen Sie es
amerikanischen Politikern und Militärs, die deutsche
Öffentlichkeit über diese Einsätze aufzuklären? Ich frage
Sie des Weiteren: Wie muss sich ein Mitglied der in
Afghanistan stationierten Bundeswehr, insbesondere der
KSK, wohl fühlen, wenn seine Arbeit von seinen Auf-
traggebern, nämlich diesen vier Fraktionen hier im Haus
und der Regierung, negiert wird?


(Johannes Kahrs [SPD]: Bei Ihrer Rede nicht gut!)





Angelika Beer
22386


(C)



(D)



(A)



(B)


Wer Asagt, muss auch B sagen. Es reicht nicht aus, die so-
zialen Belange der Soldaten an der Dauer von Auslands-
einsätzen festzumachen.

Herr Kollege Kahrs, die Alternative ist, auf eine Betei-
ligung an Auslandseinsätzen zu verzichten und sich auf
die seinerzeit im Grundgesetz formulierte Aufgabe der
Landesverteidigung zurückzuziehen.


(Beifall bei der PDS – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwölf Monate Stehzeit zu Hause ist der Vorschlag der PDS!)


Wir werden uns bei der Abstimmung über den FDP-
Antrag enthalten; denn wir sind der Meinung, dass man
Terrorismus nicht mit Thermobomben oder sogar einem
eventuellen Einsatz von Nuklearwaffen, sondern aus-
schließlich durch eine sozial gerecht gestaltete Wirt-
schaftspolitik, eine Politik des Ausgleichs mit sozialen
und zivilen Mitteln bekämpfen kann.


(Beifall bei der PDS – Günther Friedrich Nolting [FDP]: War das nicht eine alte Rede von Frau Beer?)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422509400
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ursula Mogg.


Ursula Mogg (SPD):
Rede ID: ID1422509500
Frau Präsidentin! Verehrte Kol-
leginnen und Kollegen! Der jüngste Bericht des Wehrbe-
auftragten hat gezeigt, dass wir in unserem Bemühen, die
Situation der Soldaten und Soldatinnen zu verbessern,
nicht nachlassen dürfen. Wir sind weit davon entfernt,
eine zufriedene Bilanz zu ziehen oder gar selbstgerecht zu
sein. Vielmehr stellen wir fest, dass die Verhältnisse, un-
ter denen der Dienst in der Bundeswehr vielerorts geleis-
tet wird, vor allem aber während der Auslandseinsätze,
Anlass zum Nachdenken geben.

Dies ist eine harte, herausfordernde und auch gefährli-
che Arbeit, wie wir dies zurzeit insbesondere in Afghanis-
tan zur Kenntnis nehmen müssen. Dies ist allerdings auch
eine Arbeit, deren Sinnhaftigkeit von den Soldaten nicht
infrage gestellt wird und die ihnen in unserer Gesellschaft
und vor allen Dingen dort, wo sie geleistet wird, hohes
Ansehen und viel Respekt einbringt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich hoffe, wir können uns darauf verständigen, dass es
unser gemeinsames Anliegen ist, alles Mögliche zu tun,
um die Arbeit und Einsatzbedingungen unserer Soldaten
so akzeptabel wie möglich zu gestalten, wissend, dass uns
dies nie ganz gelingen kann.


(Peter Zumkley [SPD]: Leider!)

Bei der Ausgestaltung dieser Bedingungen sind wir aller-
dings darauf angewiesen, uns an den Fakten zu orientie-
ren; denn die Entwicklung der internationalen Sicher-
heitslage nimmt auf viele vernünftige und gut gemeinte
Überlegungen keine Rücksicht, wie wir am 11. Septem-
ber 2001 besonders schmerzhaft erfahren mussten.

Die FDP beantragt zum wiederholten Male die Verkür-
zung der Einsatzdauer bei Friedensmissionen, ohne uns
allerdings Lösungsvorschläge für die vermeintliche Alter-
native anzubieten.


(Peter Zumkley [SPD]: Das ist wahr! Außer Larmoyanz kommt nichts! – Ursula Lietz [CDU/CSU]: Das hatten wir auch unter Ihrer Regierung schon einmal!)


Natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, Herr Nolting,
dass ein halbes Jahr Auslandseinsatz eine lange Zeit ist.
Trotzdem müssen wir uns den Realitäten stellen und die
Grundrechenarten beachten. Das hat der Kollege Kahrs
zutreffend herausgearbeitet.

Ausgangspunkt aller Überlegungen war schließlich
nicht die Festlegung der Verweildauer im Einsatz, sondern
die Festlegung der Verweildauer von zwei Jahren im In-
land. Daraus folgt zwingend, dass ein kürzerer Auslands-
einsatz eine kürzereVerweildauer im Inland nach sich zieht.


(Johannes Kahrs [SPD]: Richtig! – Ursula Lietz [CDU/CSU]: Damit sind die Soldaten einverstanden!)


Es bedeutet geringere Planungssicherheit, keinen Urlaub
und kürzere Regenerationsphasen.


(Beifall bei der SPD)

Ich bezweifle daher sehr, dass kürzere, dafür aber häu-

figere Einsätze für die Lebens- und Familienplanung un-
serer Soldaten wirklich besser sind als das, was wir im
Moment haben.


(Beifall bei der SPD – Heidi Lippmann [PDS]: Aber die Soldaten sagen unisono was anderes! – Gegenruf der Abg. Ursula Lietz [CDU/ CSU]: Das ist aber so!)


In die Planung würde vermutlich eher eine größere Hek-
tik hineingetragen. Der Soldat oder die Soldatin würde
sich in permanenter Vorbereitung auf den nächsten Ein-
satz befinden.

Der Hinweis auf die überwiegende Praxis unserer Ver-
bündeten ist zudem ein Argument, das in Bezug auf die
Abstimmung der Arbeit vor Ort mehr als tragfähig ist. Das
Heer trägt bekanntermaßen die Hauptlast der Aus-
landseinsätze. Trotz aller Schwierigkeiten mit Verglei-
chen – das räume ich ein – ist es doch sicherlich legitim,
darauf hinzuweisen, dass die Soldaten der Marine häufig
die Hälfte und mehr eines jeden Jahres unterwegs und ent-
sprechend nur ein halbes Jahr oder auch kürzer bei ihren
Familien sind.


(Johannes Kahrs [SPD]: So ist das!)

Ich bin mir sicher, dass die Bundeswehr bzw. die be-

troffenen Soldaten um diese Abwägungsprozesse wissen
und dass es mit Blick auf ihre privaten und dienstlichen
Belastungen nie eine optimale Lösung geben kann. Rich-
tig ist auch, dass es bei den Auslandseinsätzen der Bun-
deswehr noch unbefriedigende Situationen und Engpässe
gibt. Zur Akzeptanz der Realität und der Fakten gehört da-
bei auch, dass die Bundeswehr eine Armee im Einsatz
und im Umbau ist. Diese Tatsache macht uns alle sehr un-
geduldig – zugegeben. Auch darum kann nicht immer so
flexibel vonseiten des Dienstherrn Bundeswehr agiert




Heidi Lippmann

22387


(C)



(D)



(A)



(B)


werden, wie wir dies wünschen. Ich möchte hinzufügen:
noch nicht, denn die Bundesregierung ist durchaus auf
einem richtigen Weg, dies künftig zu gewährleisten, und
zwar allen öffentlichen Mäkeleien zum Trotz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir halten den vor-
liegenden Antrag der FDP-Fraktion für unehrlich und
eher taktisch motiviert, weil die angestrebten Verände-
rungen im Moment wirklich nichts bringen, möglicher-
weise sogar eher als Nachteile wahrgenommen werden
könnten. Das im Antrag beschworene wichtige Ziel der
Rücksicht auf die Soldaten sehe ich jedenfalls mit ein paar
Wochen Einsatzverkürzung nicht gewährleistet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422509600
Ich schließe da-
mit die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/7159 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache
14/2841 zum Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel:
„Begrenzung der Einsatzdauer von Soldaten bei Frie-
densmissionen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
bei Enthaltung der PDS angenommen worden.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ver-
teidigungsausschusses auf Drucksache 14/6684 zu dem
Antrag der Fraktion der FDPmit dem Titel „Einsatzdauer
von Soldaten bei Friedensmissionen verkürzen – Rah-
menbedingungen verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/4536 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS
gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenom-
men worden.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu
den Wirkungen der Wohnungsüberwachung

(Art. 13 Abs. 3 bis 5 GG, § 100 c bis 100 f StPO)

– Drucksache 14/8155 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Es ist darum gebeten worden, alle Reden zu Protokoll
geben zu können. Es handelt sich um die Reden der Ab-
geordneten Meyer, Pofalla, Özdemir, van Essen, Jelpke
und Pick.1) Sind Sie damit einverstanden? – Dann verfah-
ren wir so.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8155 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend im Rechtsausschuss beraten werden soll. –
Auch damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir
so. Die Überweisung ist so beschlossen worden.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten

Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, Dr. Christa
Luft, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Beseitigung der steuerlichen Diskriminierung
Alleinerziehender
– Drucksache 14/8274 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, Dr. Christa
Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Gerechtigkeit im Familienlastenausgleich her-
stellen
– Drucksache 14/8273 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

Hier wird gebeten, die Reden der Abgeordneten Kressl,
Wülfing, Scheel und Lenke zu Protokoll zu nehmen.2) Sie
sind einverstanden? – Dann verfahren wir so.

Zu diesem Tagesordnungspunkt wird einzig die Abge-
ordnete Barbara Höll reden.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1422509700
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Ich bin enttäuscht und finde es
feige und ignorant, dass sich die Vertreterinnen der Re-
gierungskoalition nicht der Debatte stellen.


(Beifall bei der PDS – Bodo Seidenthal [SPD]: Das weisen wir zurück, Frau Kollegin!)


Ich möchte ausdrücklich begrüßen, dass Frau Staats-
sekretärin Hendricks an der Debatte teilnimmt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Ursula Mogg
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(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 3
2) Anlage 4


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422509800
Frau Kollegin,
ich möchte Sie unterbrechen. Wenn vereinbart wird, dass
Reden zu Protokoll gegeben werden, Ihre Fraktion dem
zustimmt und Sie als Einzige reden, geht es nicht, dass Sie
das auf Kosten der anderen tun. Das ist schon das letzte
Mal so gewesen. Damit verschaffen Sie Ihrer Fraktion ei-
nen unstatthaften Vorteil.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)


Ansonsten müssen wir in Zukunft in dieser Sache an-
ders verfahren; dann ist das nicht mehr möglich. Denn das
Interesse, die Debatte irgendwann zu beenden – zumal,
wenn Parteitage stattfinden –, ist gerade von Ihrer Frak-
tion vorgetragen worden. Darüber müssen wir uns in Zu-
kunft einigen. Aber jetzt haben Sie das Wort. Ich bitte Sie
nur, in Zukunft auf diese Sache zu achten.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Die Uhr ist aber weitergelaufen!)


– Ich stoppe die Uhr.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1422509900
Die Uhr ist aber die ganze
Zeit weitergelaufen, als Sie geredet haben.


(Zuruf von der SPD: Jetzt gibt es auch noch eine Zeitdiskussion!)


Frau Präsidentin, ich habe nichts dagegen, wenn sich
Kolleginnen und Kollegen dafür entscheiden, ihre Reden
zu Protokoll zu geben.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist aber von den Fraktionen vereinbart worden!)


Ich habe aber trotzdem das Recht auf eine moralische
Wertung, das ich mir auch nicht nehmen lassen möchte.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das müssen Sie aber! Sonst müssen wir das ändern!)


Es bleibt Ihnen natürlich unbenommen, darüber weiter zu
diskutieren.

Gerade die Familienpolitik ist das Feld, über das Herr
Eichel in der Öffentlichkeit immer noch sagt: Prima, wir
haben so viel geschafft; es ist alles toll. In der Tat haben
Sie in dieser Legislaturperiode das Kindergeld um 80 DM
angehoben – das ist auch gut so –, allerdings nur für das
erste und zweite Kind. Aber die 1 Million Kinder und Ju-
gendliche, die von Sozialhilfe leben müssen, bekommen
von diesen 80 DM monatlich nur 10 DM. Doch ansonsten
schien alles prima Klima zu sein. Aber auf einmal haben
am 18. Februar dieses Jahres mehr als 100 allein stehende
Väter und Mütter beim Bundesverfassungsgericht Verfas-
sungsbeschwerde eingereicht. Daraufhin gab es ein an-
scheinend großes Erschrecken und die Erklärung, dass die
Lage von Alleinerziehenden tatsächlich schlechter ist,
dass man das aber nicht gewusst habe und dass die ge-
genwärtige Lage Ergebnis des Bundesverfassungsge-
richtsurteils sei.

Dazu möchte ich klipp und klar sagen: Mit diesem Ar-
gument gehen Sie in der Öffentlichkeit auf Dummenfang.
Dem ist nicht so.


(Beifall bei der PDS)


Das Bundesverfassungsgericht hat nicht vorgeschrie-
ben, dass Sie Alleinerziehende schlechter stellen müssen.
Das haben sowohl Professor Kirchhof in der letzten Zeit
des Öfteren als auch am Dienstag dieser Woche Frau
Professorin Limbach betont.

Das Bundesverfassungsgericht hat ausgehend vom
Gleichbehandlungsgebot angemahnt, dass die alleinige
Gewährung des Haushaltsfreibetrags an Alleinerziehende
nicht verfassungskonform ist. Soweit ist das richtig. Aber
gleichzeitig hat das Bundesverfassungsgericht in seinem
Urteil ein Diskriminierungsverbot von Eltern gegenüber
Kinderlosen ausgesprochen. Dieses Verbot haben Sie
gröblichst verletzt.


(Beifall bei der PDS)

Sie haben sich für die – relativ einfache und für den

Finanzminister billigste – Variante entschieden, in zwei
verschiedenen Schritten vorzugehen. Der erste Schritt ist
die stufenweise Abschaffung des Haushaltsfreibetrags
vom 1. Januar dieses Jahres bis 2005 für die so genann-
ten Altfälle, das heißt für die Kinder, die bis zum De-
zember vergangenen Jahres geboren wurden. Dass dies
zumutbar sei, wurde damit begründet, dass schließlich
das Kindergeld zum 1. Januar dieses Jahres um 30 DM
erhöht worden sei. Die Zahlen sprechen leider eine an-
dere Sprache.

Erstens ist Ihnen bekannt, dass Alleinerziehende in
der Regel nur einen Anspruch auf das halbe Kindergeld
haben, weil die andere Hälfte dem hoffentlich Unter-
haltszahlenden – meistens sind das die Väter – zusteht.
Das heißt, von der Erhöhung um rund 15 Euro kommen
bei den 1,7 Millionen allein erziehenden Müttern und
300 000 allein erziehenden Vätern in der Bundesrepublik
in der Regel 7 Euro an.

Durch die Abschmelzung in der ersten Stufe des Haus-
haltsfreibetrags auf 2 340 Euro bezahlt eine Alleinerzie-
hende mit einem mittleren Einkommen und einem Steu-
ersatz von 35 Prozent seit Januar monatlich 15 Euro mehr.
Das heißt, sie bekommt 7 Euro, zahlt aber 15 Euro mehr
Steuern. Das ist eine monatliche Mehrbelastung von
7 Euro. Verdient sie etwas mehr und unterliegt sie einem
Steuersatz von 40 Prozent, dann zahlt sie sogar 18 Euro
mehr Steuern. Das heißt, Sie stellen Alleinerziehende seit
Beginn dieses Jahres massiv schlechter.


(Nicolette Kressl [SPD]: So ein Quatsch!)

Sie werden nicht entlastet, sondern sogar stärker belastet.
Das gilt für eine Bevölkerungsgruppe, die nun einmal in
der Realität im Durchschnitt leider das geringste Einkom-
men hat und am stärksten von Armut bedroht ist. Allein-
erziehende mit einem Kind erreichen gerade 52 Prozent
und Alleinerziehende mit zwei Kindern nur noch 46 Pro-
zent des Einkommens kinderloser Ehepaare.

Der zweite Schritt, den Sie beschlossen haben, ist, dass
ab 1. Januar dieses Jahres Einelternfamilien, die nach die-
sem Datum entstehen, gar kein Haushaltsfreibetrag mehr
gewährt wird. Davon sind also sowohl die Familien, die
erst in den nächsten drei Jahren Kinder haben werden, als
auch die Familien betroffen, die zwar schon Kinder ha-
ben, aber deren Lebensverhältnisse sich verändert haben,






(C)



(D)



(A)



(B)


sei es durch Scheidung der Eltern, sei es durch Verwit-
wung oder sei es dadurch, dass sich ein Kind in den Fäl-
len, in denen die Eltern getrennt leben, entschieden hat,
von einem Elternteil zum anderen zu ziehen. Sie behan-
deln diesen Teil der Alleinerziehenden schon seit Januar
dieses Jahres wie Singles.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist sachlich falsch!)


Sie verstoßen damit massiv gegen das Diskriminierungs-
verbot. Ich muss sagen: Der öffentliche Protest, der sich
genau dagegen richtet, ist berechtigt. Ich weiß nicht, wo
Sie leben. Aber mich hat kürzlich die Mutter eines
Klassenkameraden meines Sohnes, die leider Witwe ist,
angerufen und hat mir mitgeteilt, dass sie monatlich nun
fast 70 Euro mehr zahlen müsse. Sie bestrafen diese Mut-
ter durch Ihre Gesetzgebung zusätzlich.

Wir sind uns bewusst, dass unser Gesetzentwurf nur
die allergrößten Ungerechtigkeiten heilt; denn er sieht
vor, dass wenigstens die Alleinerziehenden, die zu der von
mir beschriebenen zweiten Fallgruppe gehören, sofort in
den Genuss des Haushaltsfreibetrages kommen, auch
wenn dieser abgeschmolzen wird. Aber wir würden so
wenigstens sofort helfen können und Zeit für eine ordent-
liche Beratung der Familienförderung gewinnen.

Unter Ihrer Regierungskoalition ist die Schere zwi-
schen armen und reichen Familien weiter auseinander ge-
gangen. Auch der Abstand zwischen den Einkommen der-
jenigen, die Kinder haben, und den derjenigen, die
kinderlos sind, ist größer geworden. Hauptursache dafür
ist, dass Sie das Existenzminimum von Kindern seit Jah-
ren viel zu niedrig ansetzen. In der Konsequenz verstoßen
Sie auch hier gegen die Vorgaben des Bundesverfas-
sungsgerichts;


(Beifall bei der PDS)

denn Sie besteuern existenznotwendige Ausgaben der El-
tern für ihre Kinder. Es gibt hier einen großen Hand-
lungsdruck. Aber bisher weigern Sie sich zu handeln. Hier
nützt kein Kopfschütteln und kein Lächeln.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422510000
Frau Kollegin,
denken Sie bitte an die Zeit.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1422510100
Frau Präsidentin, ich komme
zum Schluss.

Wir haben deshalb in unserem Antrag die Forderungen
aufgelistet, die notwendigerweise umgesetzt werden
müssen: nachhaltige Erhöhung des Kindergeldes auf
mindestens 220 Euro für jedes Kind, das einkommensab-
hängig zu steigern ist; eine einheitliche Entlastung der
Eltern von den Kosten der Kinderbetreuung; Umwand-
lung des Ehegattensplittings, um nicht den Trauschein,
sondern das Leben mit Kindern zu fördern, und zwar un-
abhängig von der Form, in der Eltern mit ihren Kindern
zusammenleben.

Ich konnte Mitte Februar der Presse entnehmen, –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422510200
Frau Kollegin,
machen Sie jetzt bitte Schluss. Sie haben Ihre Redezeit be-
reits um zweieinhalb Minuten überschritten.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1422510300
– dass Sie unserem Gesetz-
entwurf eigentlich zustimmen wollten.


(Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer schaltet das Mikrofon ab)


Bitte tun Sie es! Die Menschen warten darauf.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1422510400
Ich schließe da-
mit die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8274 und 14/8273 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-

tages auf Mittwoch, den 20. März 2002, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.