Gesamtes Protokol
Schönen
guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte nehmen
Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Tagesordnung um die Ihnen mit einer Zusatz-
punktliste vorliegenden Punkte erweitert werden:
1. Beratung des Antrags der Bundesregierung: Fortsetzung der
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem
NATO-geführten Einsatz auf mazedonischem Territorium
zum Schutz von Beobachtern internationaler Organisa-
tionen im Rahmen der weiteren Implementierung des po-
litischen Rahmenabkommens vom 13. August 2001 auf
der Grundlage des Ersuchens des mazedonischen Präsi-
denten Trajkovski vom 3. Dezember 2001 und der Reso-
lution Nr. 1371 des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 26. September 2001 – Drucksache 14/7770 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, Christian
Schmidt , Michael Stübgen, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Europa richtig voranbrin-
gen – Weichenstellung durch den Europäischen Rat in
Laeken/Brüssel – Drucksache 14/7781 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämp-
– Drucksachen 14/77217, 14/7754 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Interfraktionell ist vereinbart, dass eine Aussprache
nicht erfolgen soll. – Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen daher gleich zur Überweisung. Inter-
fraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf
den Drucksachen 14/7727 und 14/7754 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Der bereits überwiesene gleich lautende Gesetzentwurf
der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 14/7386 soll
nachträglich an den Ausschuss für Wirtschaft und Tech-
nologie überwiesen werden. – Anderweitige Vorschläge
liegen nicht vor. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem NATO-geführten Ein-
satz auf mazedonischem Territorium zum
Schutz von Beobachtern internationaler Orga-
nisationen im Rahmen der weiteren Implemen-
tierung des politischen Rahmenabkommens
vom 13. August 2001 auf der Grundlage des
Ersuchens des mazedonischen Präsidenten
Trajkovski vom 3. Dezember 2001 und der
Resolution Nr. 1371 des Sicherheitsrates
derVereinten Nationen vom 26. September 2001
– Drucksache 14/7770 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
20437
207. Sitzung
Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Beginn: 13.00 Uhr
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Es ist vereinbart, dass auch hierzu heute keine Aus-
sprache erfolgen soll. – Damit sind Sie einverstanden.
Wir kommen zur Überweisung. Interfraktionell wird
die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/7770 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. – Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 sowie den Zusatz-
punkt 2 auf:
2. Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundeskanzler
Tagung des Europäischen Rates in Laeken am
14/15. Dezember 2001
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hintze, Christian Schmidt , Michael
Stübgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Europa richtig voranbringen – Weichenstellung
durch den Europäischen Rat in Laeken/Brüssel
– Drucksache 14/7781 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Es liegen Entschließungsanträge der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, der Fraktion der
FDP und der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung an-
derthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nicht das
erste Mal in der Nachkriegsgeschichte, dass die Völker
Europas aufgrund schwieriger Entwicklungen in der Welt
vor der Frage stehen: Brauchen wir zur Lösung der Pro-
bleme weniger oder brauchen wir mehr Europa? 1954
zum Beispiel hatte Jean Monnet, einer der europäischen
Gründerväter, angesichts des beginnenden Kalten Krieges
die Gründung einer europäischen Verteidigungsgemein-
schaft angeregt. Er war davon überzeugt – übrigens da-
rin kräftig unterstützt von den Vereinigten Staaten von
Amerika –, dass die neuen Herausforderungen nur mit ei-
nem Mehr an Europa bewältigt werden könnten. Wir wis-
sen heute: Damals waren die Zeiten noch nicht danach.
Der Plan einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft
scheiterte an nationalstaatlichen Befindlichkeiten. Heute,
nach mehr als 40 Jahren gelungener europäischer Integra-
tion, sind wir erheblich weiter.
Die Antwort auf die jüngsten Herausforderungen durch
den internationalen Terrorismus, aber auch durch die
Entwicklung der Weltkonjunktur war nicht ein isoliertes
nationalstaatliches Handeln. Es ist vielmehr vor dem Rat
in Laeken Konsens in der Europäischen Union, dass die
Antwort auf die Herausforderungen ein Mehr an interna-
tionaler, vor allem aber an europäischer Zusammenarbeit
sein muss.
Nach den grausamen Anschlägen vom 11. September
hat sich unter dem Dach der Vereinten Nationen eine
handlungsfähige Allianz gegen den internationalen Terro-
rismus gebildet. Dies war nicht zuletzt ein Erfolg europä-
ischer Bemühungen. Die Europäische Union und ihre
Mitgliedstaaten haben durch kluge Koordination ihrer
wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Akti-
vitäten Wertvolles zum Aufbau und zur Stabilisierung der
Antiterrorallianz geleistet.
Durch den entschlossenen militärischen Einsatz der
Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten konnte das
menschenverachtende Taliban-Regime gestürzt werden.
Die Infrastruktur, über die das Terrornetz von Osama Bin
Laden in Afghanistan verfügte, ist weitgehend zerschla-
gen. Aber da konnte und wollte die Staatengemeinschaft
nicht stehen bleiben. Die Vereinten Nationen waren
es, die die Vertreter der wichtigsten Bevölkerungsgrup-
pen Afghanistans zu einer Konferenz auf den Bonner
Petersberg eingeladen haben. Diese Konferenz ist mit ei-
nem wegweisenden Ergebnis zu Ende gegangen. Damit
hat das afghanische Volk nach zwei Jahrzehnten Krieg
und Bürgerkrieg wieder eine begründete Perspektive auf
ein Leben in Würde und Freiheit, auf ein Ende des
Hungers und auf wirtschaftlichen Wiederaufbau.
Diese Perspektive muss jetzt zügig und konsequent ver-
wirklicht werden. Europa und natürlich auch Deutschland
werden diesen Prozess nach Kräften unterstützen.
Schon das Votum der Vereinten Nationen und der
afghanischen Repräsentanten für den Konferenzort
Petersberg war nicht nur ein Zeichen der Anerkennung
des deutschen und europäischen Engagements – so ver-
stehen wir es –, sondern auch Verpflichtung und Auftrag.
Deshalb ist die Bundesregierung bereit, dass sich
Deutschland im europäischen Rahmen auf der Grundlage
eines klaren Mandats durch den Sicherheitsrat der Ver-
einten Nationen an einer multinationalen Friedenstruppe
beteiligen wird. Dabei gehört unmittelbar zu unserem
politischen Selbstverständnis, dass wir über das zukünf-
tige Engagement in Afghanistan im Rahmen der Europä-
ischen Union Einigkeit erzielen. Ich bin sicher, dass der
Gipfel von Laeken dies leisten wird.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
20438
Die Vereinten Nationen – ich denke, das gehört festge-
stellt – haben im Kampf gegen den Terrorismus in beein-
druckender Weise Verantwortung bewiesen und Führung
übernommen. Der Friedensnobelpreis, den Kofi Annan
am vergangenen Montag für sich und für die Weltorgani-
sation entgegengenommen hat, ist ein großartiger Aus-
druck der Wertschätzung und der Unterstützung durch die
internationale Gemeinschaft. Ich denke, alle Mitglieder
dieses Hohen Hauses werden sich dem mit Dank und An-
erkennung anschließen.
Die Stärkung der Vereinten Nationen ist ein elementares
Interesse der gemeinsamen europäischen Außenpolitik,
und zwar nicht nur im Kampf gegen den internationalen
Terrorismus, der noch längst nicht zu Ende ist, sondern
auch für die Lösung anderer Konflikte.
Wir werden in Laeken unsere große Besorgnis über die
Eskalation der Gewalt im Nahen Osten deutlich machen.
Die europäischen Außenminister haben die gemeinsame
europäische Position beschlossen: Das Recht Israels, in
Frieden und in Sicherheit zu leben, muss ebenso Grund-
lage jeder Konfliktlösung sein wie das Recht des palästi-
nensischen Volkes auf Selbstbestimmung und auf Bildung
eines eigenen Staates.
Klar ist für uns Deutsche: Das Existenzrecht Israels ist
nicht verhandelbar. Es ist und bleibt unveräußerliche
Grundlage deutscher Politik.
Eine weitere Eskalation der Gewalt im Nahen Osten
führt weder zu mehr Sicherheit noch zu größeren Aus-
sichten, zu einer gerechten Lösung dieses Konfliktes zu
kommen. Eine Duldung oder auch nur die halbherzige
Verfolgung terroristischer Attentäter gefährdet den ge-
samten Friedensprozess.
Präsident Arafat und die palästinensische Autonomie-
behörde müssen deshalb jetzt nicht nur der Eskalation der
Gewalt Einhalt gebieten. Sie müssen vielmehr die Terror-
strukturen, die es dort gibt, vollständig auflösen. Der Gewalt
der Kontrahenten werden wir mit noch intensiveren
Bemühungen begegnen, um zu einem Ende der Gewalt und
der Rückkehr zu einem Prozess des gerechten Verhand-
lungsfriedens beizutragen. Wir, die Deutschen, tun dies im
Rahmen der Europäischen Union. Wir tun dies gemeinsam
mit den Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch ge-
meinsam mit anderen internationalen Partnern. So gehört
etwa Russland in diese Bemühungen unbedingt einbezogen.
In den letzten Wochen ist gelegentlich die Befürchtung
geäußert worden, dass wir gerade in der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik zusehends in eine Kon-
frontation zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten
hineingerieten.
Sogar die Sorge vor einer Renationalisierung der Außen-
politik ist zum Ausdruck gebracht worden. Ich möchte
ganz klar machen: Die Bundesregierung teilt solche Be-
fürchtungen nicht und sie sieht auch keinen Grund für sol-
che Befürchtungen. Gewiss gibt es in der Europäischen
Union Unterschiede. So hätten manche die europäische
Afghanistanpolitik lieber stärker eingegrenzt und etwa
das Militärische als Ultima Ratio ganz ausgegrenzt. Das
hat aber nichts mit großen oder kleinen Mitgliedstaaten zu
tun, sondern eher mit Gleichzeitigkeit im Ungleichzei-
tigen. Manchen Mitgliedstaaten fällt es aufgrund ihrer na-
tionalen Traditionen schwerer, Außenpolitik als europä-
ische Außenpolitik auch über Europa hinaus zu denken.
Das ist nicht zu kritisieren. Im Gegenteil: Ich halte die Be-
sonnenheit und die Ernsthaftigkeit, mit denen in europä-
ischen Gesellschaften über die Antwort der Staatenge-
meinschaft auf den internationalen Terrorismus diskutiert
worden ist, für ein erfreuliches Zeichen, ein Zeichen
zivilisatorischen Fortschritts.
Tatsache ist, dass wir in der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik auch über Defizite reden müssen, die es
unbezweifelbar gibt. Aber auch hier heißt die Antwort:
nicht weniger, sondern mehr Europa. Seit der Zeiten-
wende von 1989, deutlich spürbar seit unserem Engage-
ment im Kosovo-Konflikt und wirklich mit Händen zu
greifen seit dem 11. September, werden uns Deutschen die
veränderten Bedingungen in der Außen- und Sicherheits-
politik und auch unsere gewachsene internationale Ver-
antwortung zunehmend bewusst. Diese gewachsene in-
ternationale Verantwortung können und wollen wir nicht
aus dem europäischen Kontext herauslösen.
Vor allem vor dem Hintergrund der Kriege in Bosnien
und im Kosovo hatten wir unter deutscher Präsidentschaft
in Köln einen Fahrplan für die Ausgestaltung einer eigen-
ständigen europäischen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik verabschiedet. Dabei galt die Devise – sie
gilt noch –, dass die europäische Sicherheits- und Vertei-
digungspolitik eben keine Alternative zur NATO darstellt,
sondern eine Stärkung und Ergänzung der NATO bedeu-
tet. Auch insofern erfüllen wir in gewisser Weise das be-
reits zitierte Vermächtnis Jean Monnets. Wir werden in
Laeken in der Lage sein – das sollte man ruhig als Erfolg
für Europa hervorheben –, die Einsatzfähigkeit dessen,
was Europa darstellt, zu konstatieren. Damit haben wir
erste, wenn auch noch keineswegs vollständige europäi-
sche Fähigkeiten zur Krisenreaktion.
Mehr Europa – das heißt nicht allein mehr Quantität,
sondern auch mehr Qualität, will sagen: mehr Antriebs-
kraft. Deutschland und Frankreich haben in Nantes am
22. November durch ihre Erklärung zu den europapoliti-
schen Prioritäten gezeigt, dass sich unsere beiden Länder
auch weiterhin der Verantwortung stellen, Motor der eu-
ropäischen Integration, aber eben auch Motor der europä-
ischen Modernisierung zu sein.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Bundeskanzler Gerhard Schröder
20439
Wir wissen, dass Sicherheit in der heutigen Welt nicht
mehr teilbar ist. Auf keinen Fall wird es in einem Mitglied-
staat der Europäischen Union gelingen, ohne gemeinsames
Vorgehen mit den europäischen Partnern innere Sicherheit
für seine Bürgerinnen und Bürger herzustellen. Frankreich
und Deutschland haben in diesem Sinne Prioritäten gesetzt:
die Schaffung einer gemeinsamen Grenzpolizei, die Stär-
kung von Europol, die Verbesserung der justiziellen
Zusammenarbeit, die Einbeziehung der Terrorismus-
bekämpfung in die europäische Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik und die europäische Verfassung als Basis ei-
ner demokratischen, effizienten und transparenten Union.
Am 21. September haben wir in Brüssel einen um-
fangreichen Aktionsplan gegen den Terrorismus verab-
schiedet. Wir werden in Laeken eine eindeutig positive
Umsetzungsbilanz liefern können. Die Harmonisierung
der Terrorismusstraftatbestände sowie die Richtlinie zum
Kampf gegen die Geldwäsche sind nur zwei wichtige Bei-
spiele, die ich nennen will, um zu beschreiben, was erfolg-
reich auf den Weg gebracht worden ist.
Der für die Terrorbekämpfung so wichtige europäische
Haftbefehl konnte bisher leider noch nicht beschlossen
werden.
Wir werden ihn in Laeken beschließen. Es sieht so aus, als
ob inzwischen auch die italienische Regierung die Not-
wendigkeit eines solchen europäischen Haftbefehls ein-
gesehen hat.
Motor der Integration und der Modernisierung zu sein
heißt auch, die Stärken des gemeinsamen Europa im in-
ternationalen Wettbewerb zur Geltung zu bringen. Wir ha-
ben den weltweit größten Binnenmarkt, dessen Wachs-
tums- und Beschäftigungspotenziale mit der Einführung
der gemeinsamen Währung im Jahre 1999 weiter ge-
stiegen sind. Bereits im Vorfeld zur Währungsunion hat
der Euro ganz unbezweifelbar zur Schaffung verbesserter
gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungen beigetra-
gen. Zinsen, öffentliche Defizite und staatliche Verschul-
dung sind gesunken. Das, meine Damen und Herren, sind
für jedermann nachvollziehbare Vorteile der Integration.
Wir wollen Europa als einen Wirtschaftsraum der In-
novation, des Wachstums und der technologischen Revo-
lution entwickeln,
so wie wir es im vergangenen Jahr in Portugal beschlos-
sen haben. Damit muss es Europa genauso ernst sein wie
mit den übrigen Fragen.
Wir werden diese Vorgaben erfüllen. So stolz wir in Eu-
ropa darauf sind, kulturell und philosophisch der alte
Kontinent zu sein, so ehrgeizig setzen wir auf unsere
Kreativität, auf unsere Leistungsfähigkeit und auf unsere
Leistungskraft, um gemeinsam das, was man die neueste
Welt nennen könnte, zu gestalten.
Wir haben deshalb nicht nur, aber eben auch aus öko-
nomischen Gründen daran zu arbeiten, wie sich Europa in
der Welt behauptet. Die innere Verfasstheit Europas muss
auch das Modell zum Ausdruck bringen, das Europa im
Wettbewerb mit anderen Regionen zur Geltung bringen
kann. Daher ist es von besonderer Bedeutung, dass wir
immer wieder deutlich machen, dass Europa nicht nur ein
Markt, sondern auch ein Kultur- und ein Sozialmodell ist:
ein Modell der Teilhabe und damit der Chancengerechtig-
keit und des geteilten Wohlstands.
Meine Damen und Herren, wir haben in Tampere be-
schlossen, Europa zu einem Raum der Sicherheit, der
Freiheit und des Rechts zu machen. Auch hier muss gel-
ten: Sicherheit, Recht und Freiheit bekommen wir nicht
durch weniger, sondern nur durch mehr Europa.
Natürlich muss mehr Europa mehr Transparenz, nicht
etwa mehr Bürokratie bedeuten. Aber ich warne aus-
drücklich davor, die Idee eines sich weiter einigenden Eu-
ropas auf einzelne Fehlentscheidungen in Brüssel, die es
immer wieder gibt, zu reduzieren.
Mit den Berliner Beschlüssen zur Finanzierung der Eu-
ropäischen Union bis 2006 und mit dem Vertrag von Niz-
za hat die Europäische Union den Weg für die Erweite-
rung frei gemacht. Auch hier gilt mehr Europa nicht allein
in quantitativer Hinsicht. Die Erweiterung der Europä-
ischen Union ist nicht nur historisch und kulturell ohne
Alternative, sie ist vielmehr im unmittelbaren Interesse
der Gemeinschaft der 15 und damit auch im unmittelba-
ren Interesse Deutschlands.
Meine Damen und Herren, wir brauchen ein Europa,
das für mehr Bürger besser verständlich ist. Die Menschen
müssen wissen, wo, wie und warum die Europäische
Union ihr tägliches Leben beeinflusst. Vor allem müssen
sie bei jedem Schritt überzeugt sein – das bedeutet: über-
zeugt werden –, dass die europäische Lösung die für sie
bessere Lösung ist. Sie wollen – das entspricht klaren de-
mokratischen Grundsätzen – nachvollziehen können, wer
für welche Entscheidungen die Verantwortung trägt.
Dabei geht es vor allem um mehr Effizienz sowie da-
rum, die Europäische Union auch nach vollzogener Er-
weiterung politisch führbar zu halten. Es geht um eine
klare Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der eu-
ropäischen Ebene und den Mitgliedstaaten. Was von den
Mitgliedstaaten besser, sachgerechter und bürgernäher
geleistet werden kann, muss in ihrer Zuständigkeit geleis-
tet werden. Wir müssen also das Verhältnis der Institutio-
nen neu austarieren.
Hier wünsche ich mir eine Kommission, die eine starke
Exekutive darstellt, und ein Europäisches Parlament, das
in seinen Rechten – auch in Haushaltsfragen – deutlich
gestärkt wird.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Bundeskanzler Gerhard Schröder
20440
Die nationalen Parlamente müssen einen herausgehobe-
nen Platz im Gefüge der europäischen Institutionen be-
kommen, etwa bei der Kontrolle der europäischen Si-
cherheits- und Verteidigungspolitik. Der Rat schließlich
sollte, wo er legislativ tätig ist, zu einer zweiten Kammer
werden. Wir wollen eine Übernahme der Europäischen
Grundrechte-Charta in die europäischen Verträge, was die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den euro-
päischen Institutionen spürbar stärkte.
In der Summe machen diese Fragen den Kern einer
europäischen Verfassung aus, ob man dies nun so oder
vor dem Hintergrund bestimmter nationaler Verfassungs-
traditionen lieber anders nennt. Auch hier erinnere ich
gern noch einmal an Jean Monnet, der bereits in den 50er-
Jahren einen ersten Entwurf einer europäischen Verfas-
sung vorgelegt hat. Wir beharren nicht darauf, dass das
Ergebnis den Namen Verfassung trägt, aber wir sind ent-
schlossen, einen Vertrag mit auf den Weg zu bringen, der
alle Elemente einer solchen Verfassung enthält.
Damit und mit anderem wird sich der Konvent befas-
sen, den wir in Laeken installieren werden. Dieser Kon-
vent hat die Aufgabe, die notwendigen Reformen auszu-
arbeiten. Dabei werden die Vertreter der Parlamente in
neuartiger Weise in den Reformprozess eingebunden.
Wichtig und richtig ist, dass die Beitrittsländer im Kon-
vent vertreten sind, denn dort wird auch über ihre Zukunft
diskutiert.
Meine Damen und Herren, die belgische Präsident-
schaft hat sich für den Rat in Laeken ehrgeizige, aber, wie
wir glauben, für Europa notwendige Ziele gesetzt. Bei der
Umsetzung dieser Ziele kann sich die belgische Präsi-
dentschaft auf die Unterstützung der Bundesregierung
voll verlassen.
Die Fortentwicklung der europäischen Integration ist
ein historisches Projekt. An dessen Ende – dessen bin ich
sicher – werden mehr Demokratie, mehr Teilhabe und
noch mehr europäische Verständigung stehen.
Wir sollten es sehr dankbar als einen großen Fortschritt in
unserer Geschichte begreifen, dass sich Europa einmal
ohne Fanfaren und Trompeten, also vor allem ohne
Schlachtenlärm, einigt.
Aber wir hoffen, dass wir in Laeken auch zum Ausdruck
bringen können, dass Europa die Menschen begeistert und
dass sie sich aus diesem Grunde für ein einiges Europa
einsetzen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich eröffne
die Aussprache. Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kol-
lege Dr. Wolfgang Schäuble das Wort.
Herr Präsi-
dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bundes-
kanzler hat seine mit dem bei ihm üblichen Engagement
für europäische Fragen vorgetragene Regierungser-
klärung
zum Europäischen Rat in Laeken mit der Frage eingelei-
tet: Brauchen wir zur Lösung der Probleme weniger oder
brauchen wir mehr Europa?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir brauchen mehr Europa. Wir stimmen aber nicht darin
überein, dass wir nach den Erfahrungen des 11. Septem-
ber nun mehr Europa erlebt haben. Wir haben das Gegen-
teil erlebt. Das beschreibt die Notwendigkeit, ein stärke-
res, handlungsfähigeres Europa zu schaffen, aber es
beschreibt eben auch, wie weit wir davon entfernt sind. Es
ist falsch, wenn man in Regierungserklärungen den Ein-
druck erweckt, als hätten wir diese Probleme nicht, oder
darüber hinwegredet.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen war inner-
halb weniger Stunden zu unvergleichlich mehr Klarheit
und Entschiedenheit seiner Beschlussfassung in der Lage
als die Staats- und Regierungschefs der Europäischen
Union in Tagen und Wochen. Das ist zwar für die Verein-
ten Nationen erfreulich, aber für die Europäische Union
alles andere als ein Ruhmesblatt.
Es zeigt sich, dass das, was mit der europäischen Si-
cherheits- und Verteidigungspolitik auf den Weg gebracht
wurde, eben viel zu langsam vonstatten geht. Vor allem
zeigt sich, dass hehre Erklärungen bei Europäischen Rä-
ten nicht ausreichen, sondern dass das, was dort verein-
bart wird, in der nationalen Politik und vor allen Dingen
in der nationalen Haushaltspolitik umgesetzt werden
muss. Genau dies aber hat bisher nicht stattgefunden.
Herr Bundeskanzler, ich habe Sie in einem internen
Gespräch am Freitag darauf hingewiesen, dass die Euro-
päische Union bei der Afghanistan-Konferenz auf dem
Petersberg gar nicht anwesend war, obwohl es genügend
Beauftragte für alle möglichen Formen von Außen- und
Sicherheitspolitik gibt. Niemand kann wohl im Ernst be-
haupten: Europäische Gemeinsamkeit hat sich dadurch
gezeigt, dass Deutschland Gastgeber war. – Gemessen an
dem, was wir brauchen, ist das möglicherweise etwas zu
wenig.
Es ist wichtig – auch darin stimmen wir überein –, dass
die Vereinten Nationen eine größere Rolle spielen. Diese
Übereinstimmung gehört zu den erfreulicheren Erfahrun-
gen seit dem 11. September. Der Bundeskanzler hat in sei-
ner Regierungserklärung gesagt, es liege im europäischen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Bundeskanzler Gerhard Schröder
20441
Interesse, dass sich die weitere Entwicklung in Afghanis-
tan möglichst im Rahmen der Vereinten Nationen voll-
zieht. Auch das unterstützen wir.
Wir unterstützen ebenfalls Ihre Position im Hinblick
auf den Nahen Osten, auf die Konfliktparteien und auf das
Lebensrecht von Israel. Aber ich füge hinzu: Wir sind der
Meinung, dass die Verantwortlichen Israels gut beraten
wären, stärker auf die Vereinten Nationen zu hören und
ihren Resolutionen zu folgen. Wir werden keine Lösung
der Probleme im Nahen Osten erzielen, wenn auf die
Stimme der Vereinten Nationen – das gilt auch im Hin-
blick auf die Siedlungspolitik – nicht stärker Rücksicht
genommen wird. Zu einem freundschaftlichen Verhältnis
gehört es auch zu mahnen. Frieden gibt es nur, wenn beide
Seiten – sowohl die Palästinenser als auch die Israelis –
ihren Beitrag leisten. So wie bisher kann es nicht weiter-
gehen.
Der Vertreter des Auswärtigen Amtes hat heute Morgen
im Auswärtigen Ausschuss gesagt, der wichtigste Punkt
beim Europäischen Rat in Laeken sei die Zukunft Euro-
pas. Herr Bundeskanzler, dazu haben Sie in Ihrer Regie-
rungserklärung herzlich wenig gesagt. Man kann das
nicht mit Leerformeln überdecken. Es hilft auch nichts zu
behaupten: Europa ist ein Modell, und zwar nicht nur ein
Wirtschaftsmodell, sondern auch ein Sozial- und Kul-
turmodell. – Das alles ist richtig und notwendig. Aber
durch die Entscheidungen, die der Europäische Rat in La-
eken auf den Weg bringt, muss die Debatte über eine
europäische Verfassung, die in Nizza eingeleitet worden
ist, einen kräftigen, der historischen Weichenstellung ent-
sprechenden Schritt vorankommen. Dazu müssen die Be-
teiligten ihre Vorstellungen auf den Tisch legen, damit es
zu einer öffentlichen Debatte kommt. Wir werden die
Menschen in Europa für den europäischen Prozess nicht
gewinnen, wenn es uns nicht gelingt, Alternativen zu ent-
wickeln und zu erklären, warum wir uns für Lösungsvor-
stellungen, für Ordnungskonzepte und für Modelle ein-
setzen, die Nation und Europa in einer richtigen Weise
verbinden.
Im Entwurf einer Erklärung von Laeken der belgischen
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Europa am Scheide-
weg“. Das beschreibt die historische Dimension, um die
es in den nächsten Tagen und auch dann in dem Konvent,
der in Laeken eingesetzt werden soll, wirklich geht, sehr
viel realistischer als Ihre Regierungserklärung. Es geht
um eine historische Entscheidung. Im Entwurf der belgi-
schen Präsidentschaft ist sehr präzise beschrieben – von
Ihrer Regierung hört man das nie in vergleichbarer Klar-
heit –, dass wir auf der einen Seite mehr Europa brauchen,
dass wir in der Außen- und Sicherheitspolitik deutlich
zurückliegen und dass wir auf der anderen Seite – ich zi-
tiere aus diesem Dokument – „... eine Kluft zwischen den
Bürgern und den europäischen Organen haben. Es ist
nicht so, dass der Bürger nicht mehr hinter den großen
Zielen der Union steht. Doch er sieht keinen Zusammen-
hang mehr zwischen diesen Zielen und dem täglichen Er-
scheinungsbild der Union.“
Dabei geht es nicht nur um die eine oder andere Fehl-
entscheidung; vielmehr mangelt es an einer grundlegen-
den Ordnung in den europäischen Strukturen und in den
europäischen Entscheidungsprozessen. In dieser Hinsicht
Abhilfe zu schaffen, das – nicht mehr und nicht weniger –
muss jetzt geleistet werden.
Europa muss demokratischer, transparenter und effizien-
ter werden.
Ich zitiere noch einmal aus dem bemerkenswerten Ent-
wurf der belgischen Präsidentschaft – einer Regierung un-
terstellt man eher als einer Opposition, verantwortlich zu
handeln –:
Der Bürger verlangt einen deutlichen, transparenten,
wirksamen, demokratisch gesteuerten gemeinsamen
Ansatz, einen Ansatz, der Europa zu einem Leucht-
feuer wachsen lässt, das für die Zukunft der Welt
richtungweisend sein kann. Es steht außer Frage,
dass Europa sich dazu gründlich reformieren, rege-
nerieren, sozusagen neu erfinden muss.
Ich hätte, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungser-
klärung gerne Worte von ähnlicher Klarheit und Ent-
schiedenheit gehört.
Ich will einen Punkt hinzufügen. Wir sind in den De-
batten über die Frage, wie man die Balance zwischen den
Mitgliedstaaten, den Nationalstaaten in Europa, und einer
handlungsfähigen, effizienten demokratisch legitimier-
ten Europäischen Union gestalten kann, weiter als es in
Ihrer Regierungserklärung zum Ausdruck kommt. Wir ha-
ben darüber intensivere Debatten geführt. CDU und CSU
haben in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe – wenn ich es
richtig sehe, Herr Staatsminister Bocklet, haben wir das
gemeinsam in guter Zusammenarbeit gemacht – einen
Entwurf erarbeitet, in dem dargestellt wird, wie man das
sehr konkret voneinander abgrenzen und miteinander ver-
binden kann.
Wir haben auch in der Familie der Europäischen Volks-
parteien – das sind alles Parteien der bürgerlichen Mitte,
die übrigens im Europäischen Parlament mit großem Ab-
stand die stärkste Fraktion sind – einen gemeinsamen Ent-
wurf vorgelegt, der zeigt, wie man Europa im Sinne des
Dokuments der belgischen Präsidentschaft im Rahmen
dieser Verfassungsdebatte ein Stück weit neu erfinden
kann.
Die entscheidende Frage ist letzten Endes – ich will
nicht auf die Einzelheiten eingehen, um mich nicht in De-
tails zu verlieren –, ob europäische Entscheidungen auch
in Zukunft im Wesentlichen durch nationale Regierungen
getroffen werden oder ob wir zu dem Schritt bereit sind,
dass europäische Entscheidungen von europäischen
Institutionen getroffen werden. Das setzt aber voraus,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. Wolfgang Schäuble
20442
dass diese europäischen Institutionen eine eigene unmit-
telbare demokratische Legitimation haben. Die Vermi-
schung, bei der letzten Endes alles von allen irgendwie
mit gestaltet wird, führt zu diesem Mischmasch, bei dem
die Bürger nicht mehr erkennen, wer in Europa eigentlich
welche Entscheidung verantwortet. Wenn nicht mehr er-
kannt wird, wer etwas verantwortet, ist für jede Bürokra-
tie die Versuchung groß zu sagen: Unangenehme Dinge
lassen wir lieber in Brüssel entscheiden, dann tragen wir
keine Verantwortung dafür und setzen sie vielleicht auch
leichter durch, weil dort der Widerstand geringer ist. – Am
Ende verlieren wir so die Unterstützung und die Einsicht
der Bürger auf diesem notwendigen europäischen Weg.
Deswegen müssen wir diese Entscheidung treffen.
Der Außenminister hat gelegentlich vorgetragen, er sei
der Auffassung, dass auch in Zukunft die parlamentari-
sche Legitimation durch eine Kombination von Europä-
ischem Parlament und nationalen Parlamenten gewährleis-
tet sein und die Exekutive durch eine Kombination von
Europäischer Kommission und nationalen Regierungen
erfolgen muss. Unser Konzept ist das Gegenteil. Unser
Konzept besagt, dass also wir es trennen müssen, dass ge-
setzgeberische Entscheidungen auf nationaler Ebene von
den nationalen Parlamenten getroffen werden müssen und
gesetzgeberische Entscheidungen auf europäischer Ebene
vom Europäischen Parlament und einer zweiten Kammer,
von der wir glauben, dass hier eine Vertretung der natio-
nalen Regierungen richtiger ist als eine Vertretung der na-
tionalen Parlamente. Aber über das Detail kann man strei-
ten.
Auch die Exekutivfunktionen muss man deutlicher
trennen. Natürlich wird es etwa in der Außen- und Si-
cherheitspolitik für eine längere Zeit noch Bereiche ge-
ben, in denen die verschiedenen Regierungen gemeinsam
handeln. Dafür sind die Mechanismen der intergouverne-
mentalen Zusammenarbeit, die wir in der Außen- und
Sicherheitspolitik in weiten Feldern haben, ohnedies ge-
eignet. Dennoch finde ich, dass wir seit dem 11. Septem-
ber intensiver darüber debattieren sollten, ob es nicht rich-
tig wäre, das, was Sie auf dem Gipfel in Helsinki als ein
europäisches Element von Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik bezeichnet haben, in mittelfristiger Perspek-
tive im Rahmen der NATO in europäische Zuständigkeit
zu überführen. Wir sollten darüber debattieren, ob das
nicht sehr viel besser wäre, als wenn wir bei jeder Ent-
scheidung, die wir in Zukunft treffen, die Zustimmung
von heute 15 und demnächst 25 Mitgliedstaaten und da-
mit im Zweifel – jedenfalls wenn wir unsere Verfassungs-
lage auf andere Mitgliedstaaten übertragen – auch die von
25 nationalen Parlamenten einholen müssen. Wer inte-
griertes Handeln will, muss auch bereit sein, die Zustän-
digkeit und die Legitimation von entsprechenden Ent-
scheidungen auf die europäische, auf die integrierte
Ebene zu übertragen.
Aber dies setzt dann notwendig voraus, dass wir in der
Abgrenzung der Zuständigkeiten klarere Regelungen tref-
fen. Deswegen ist die Frage der Kompetenzverteilung in
Europa kein spezifisches Thema deutscher Perfektionis-
ten. Es ist auch nicht eine beliebige Frage. Diese Frage ist
zentral, weil im demokratischen Rechtsstaat die Klärung
der Zuständigkeiten die Grundvoraussetzung für jede de-
mokratisch legitimierte Entscheidung ist. Es geht darum,
wer was entscheidet. Ehe wir dies nicht regeln, werden
wir bei den institutionellen Reformen nicht zu einer wirk-
lichen Veränderung kommen.
Ich bin jedes Mal ziemlich erschüttert, wenn von man-
chen, die in Europa sehr engagiert sind – bis hin zu Mit-
gliedern der Kommission –, gesagt wird: Wir möchten
nicht, dass die Kommission von der Mehrheit des Euro-
päischen Parlaments abhängig ist. Sie soll nicht vom Eu-
ropäischen Parlament gewählt werden; denn wenn das der
Fall wäre, wäre sie nicht mehr unabhängig. – Die Vorstel-
lung, dass wir in der Demokratie einer Institution, die
nicht demokratisch gewählt wurde, Exekutivbefugnisse
übertragen, ist ahistorisch. Vielleicht war das im 18. Jahr-
hundert ganz effizient. Heutzutage muss man sich aber
dem Risiko der Demokratie aussetzen; man muss gewählt
werden. Gelegentlich verliert man Wahlen, beim nächsten
Mal gewinnt man sie wieder. Das ist die Kernfrage.
Im Übrigen werden Sie keine starke Kommission zu-
stande bringen, wenn Sie nicht bereit sind, sie von der
Mehrheit im Parlament abhängig zu machen,
es sei denn – das hat der Außenminister vorgeschlagen –,
der Kommissionspräsident würde durch eine europäische
Volksabstimmung direkt gewählt werden. Dies könnte
man tun.
Das halte ich allerdings für wenig realistisch. Eine nicht
demokratisch gewählte Kommission kann nicht das ei-
gentliche Exekutivorgan in Europa sein. Die eigentliche
Macht würde dann bei den nationalen Regierungen lie-
gen. Das ist nicht unsere Vorstellung von Europa; sie ent-
spricht nicht der historischen Aufgabenstellung.
Ich habe gesagt, dass der Außenminister eine andere
Vorstellung hat, über die man vertieft diskutieren muss.
Von der SPD kenne ich gar keine Vorstellungen. Ich habe
mir die Beschlüsse Ihres Parteitages ziemlich genau
durchgelesen. Alles, was gut und schön ist in Europa,
steht im europapolitischen Programm. Eine Antwort auf
konkrete Fragen wurde aber nicht gegeben. Nach dieser
Regierungserklärung weiß ich so wenig wie vorher, wel-
che Konzeption die Regierung hat.
– Ich habe gut zugehört, ich konnte sogar den schriftlichen
Text, an den sich der Bundeskanzler sehr genau gehalten
hat – dass mir der Text zur Verfügung gestellt wurde, war
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. Wolfgang Schäuble
20443
sehr liebenswürdig –, mitlesen. Ich gebe Ihnen diesen
gerne; Sie können es überprüfen.
Sie sagen mir dann, welche konkreten Vorstellungen diese
Regierung hat.
Herr Schmidt, weil Sie diesen Zwischenruf gemacht
haben, will ich Ihnen eine zweite Bemerkung nicht erspa-
ren: Die Schwäche der Regierung liegt nicht nur an einem
mangelnden Konzept, sondern sie liegt natürlich auch
darin, dass sie in Europa keine politische Kraft hat.
Was Sie zum Motor der deutsch-französischen Zusam-
menarbeit in Europa gesagt haben, ist in der Sache zwar
richtig, aber die Wirklichkeit, die wir erleben, ist das ge-
naue Gegenteil. Vor, während und nach Nizza hat es jeder
in Europa genauso empfunden und kritisiert. Das ist die
Realität.
Der andere Punkt ist: Sie werden doch nicht im Ernst
glauben, dass die Bundesrepublik Deutschland die ihr zu-
kommende Rolle in dieser schwierigen europäischen De-
batte spielen kann, wenn Deutschland gleichzeitig das ei-
gentliche wirtschaftliche Risiko in Europa ist. In der
wirtschaftlichen Entwicklung Europas sind wir Schluss-
licht. Wir sind nahe dran, von der Kommission einen
blauen Brief wegen der Nichteinhaltung der Daten des
Stabilitätspaktes zu erhalten. Wenn man eine so verfehlte
Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik betreibt, ist man
natürlich nicht in der Lage, seiner Verantwortung für den
Fortschritt der europäischen Einigung gerecht zu werden.
Ich will an dieser Stelle einen Punkt noch hinzufügen
– morgen werden wir, wenn ich es richtig sehe, über die
wirtschaftliche Lage in Deutschland debattieren –: Es
geht um die Verfassungsfragen, also auch um die Frage:
Was regeln wir europäisch und was regeln wir in der Zu-
ständigkeit der Mitgliedstaaten? Ich glaube, es wäre rich-
tig – das Elend der wirtschaftlichen Entwicklung in
Deutschland unter der rot-grünen Regierung belegt es von
Neuem –, unsere Wirtschaftsordnung möglichst dezentral
zu organisieren. Eine Politik, die alles dem Einfluss einer
zentralen Bürokratie unterordnet und beispielsweise eine
Steuerreform macht, die die großen Kapitalgesellschaften
einseitig begünstigt,
den Mittelstand benachteiligt und die Finanzkraft der
Kommunen systematisch aushöhlt, eine Politik also, die
auf zentrale Bürokratie anstatt auf die Kräfte einer dyna-
mischen, vielfältigen und auf Selbstständigkeit beruhen-
den Wettbewerbsordnung setzt, muss schlechte wirt-
schaftliche Ergebnisse erzielen.
Wir schlagen deshalb vor, dass wir Europa so organi-
sieren, dass wir einen einheitlichen Markt mit einem funk-
tionierenden Wettbewerb, mit einer starken gemeinsamen
Währung und mit einer gemeinsamen Außenvertretung
haben. Wir schlagen ferner vor, dass wir eine starke Ge-
meinsame Außen- und Sicherheitspolitik machen und
dass wir dort, wo es wegen grenzüberschreitender Pro-
bleme notwendig ist – vom Umweltschutz bis zur inneren
Sicherheit –, europäisch handeln. Wir müssen aber auch
all das, was der gewachsenen Tradition einzelner europäi-
scher Nationen entspricht – kulturell und zivilisatorisch –,
in der Regelungszuständigkeit der Mitgliedstaaten belas-
sen.
Es darf bei dem Konvent und bei dem jetzt notwendi-
gen Verfassungsgebungsprozess nicht sein, dass der
Acquis Communitaire sakrosankt gesetzt wird und über-
haupt nicht verändert werden darf. Wenn wir zugleich
mehr und weniger Europa brauchen, dann muss auch das
jetzige Regelungsgeflecht und Regelungsdickicht über-
prüft werden und dann muss manches auf die Mitglied-
staaten übertragen werden. Zugleich muss anderes in Eu-
ropa stärker institutionell verankert werden. Auf andere
Weise geht es nicht. Deswegen darf man den heutigen Zu-
stand nicht festschreiben. Damit diese Debatte gelingt,
brauchen wir ein starkes Mandat für diesen europäischen
Konvent, der in Laeken hoffentlich eingesetzt wird.
Die Kollegen aus dem Auswärtigen Ausschuss und aus
dem Europa-Ausschuss sind mit den Kollegen aus den
entsprechenden Ausschüssen der Französischen National-
versammlung am Montag dieser Woche zusammenge-
troffen. Sie haben in einer bemerkenswerten Ent-
schließung – die deutsch-französische Zusammenarbeit
funktioniert Gott sei Dank noch einigermaßen auf der par-
lamentarischen Ebene – klar zum Ausdruck gebracht, dass
wir nicht möchten, dass das Mandat des Europäischen Ra-
tes für den Konvent so beschränkt wird, dass er vorher
schon ein Stück weit entmachtet wird.
Es muss die Bereitschaft bestehen, dass wir in dem
Prozess, für den der Konvent auf dem Gipfel in Laeken
eingesetzt werden soll, das Mandat von Nizza großzügig
und nicht etwa restriktiv interpretieren. Es darf nicht sein,
dass die Staats- und Regierungschefs dem Konvent schon
jetzt vorschreiben, Optionen vorzulegen, damit sich die
Staats- und Regierungschefs hinterher heraussuchen kön-
nen, was ihnen gefällt. Das muss Sache des Konvents
sein.
Wenn der Konvent, an dem alle 15 Regierungen
genauso wie die nationalen Parlamente und wie das
Europäische Parlament beteiligt sind, zu gemeinsamen
Lösungen kommt und gemeinsame Konzeptionen und
Vorschläge entwickelt, dann muss er nicht künstlich
Alternativen für die Staats- und Regierungschefs auf den
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. Wolfgang Schäuble
20444
Tisch legen. Ich wünsche mir vielmehr, dass der Konvent
die Kraft findet, ein europäisches Modell zu entwickeln,
in dem Europa und die Nationen in einer vernünftigen
Weise verbunden werden
und das die Menschen in Europa überzeugt.
Ich bin ganz sicher, dass die Menschen nicht gegen Eu-
ropa sind. Aber die Menschen wollen das Wesentliche in
Europa nicht mehr in dem Alltagsgewirr mit seinen
schwerfälligen Entscheidungsprozessen und seiner
bürokratischen Regulierungsdichte sehen. Je besser es ge-
lingt, klar zu unterscheiden, was Europa und Brüssel und
was die Nationalstaaten entscheiden, je mehr die Ent-
scheidungen effizient, transparent und demokratisch legi-
timiert sind, umso mehr werden wir die Zustimmung der
Menschen in Europa für diesen europäischen Prozess ge-
winnen.
Je besser wir es schaffen, am Beginn des neuen Jahr-
hunderts ein starkes und handlungsfähiges Europa zu-
stande zu bringen, umso mehr werden wir den Interessen
der Menschen in Europa, der heutigen Generation und den
Generationen unserer Kinder und Enkel, gerecht und
umso mehr leisten wir einen Beitrag für die Welt, für die
ein einiges Europa der Weg zu einer besseren Zukunft sein
könnte.
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Michael Roth für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schäuble, Sie
mussten schon sehr tief in der Märchenkiste kramen
und über die Steuerreform sprechen, um endlich einen
Punkt zu finden, bei dem Ihre Fraktion auch klatscht.
Das Pult ist vielleicht ein bisschen zu hoch. – Okay.
Wir werden jetzt über einige inhaltliche Punkte streiten
können. Ich bin gespannt, wie Sie und wie die nachfol-
genden Redner der CDU/CSU-Fraktion darauf reagieren
werden. Denn Herr Schäuble hat ja in einem Punkt Recht.
Hier stimmen wir alle mit der belgischen Präsidentschaft
überein; die Freundinnen und Freunde Europas, von de-
nen es hier im Haus ja relativ viele gibt, sind sicherlich
alle einer Meinung: Wir stehen am Scheideweg. Europa
braucht neue Strukturen und auch neue Inhalte, um den
Menschen eine zukunftsfähigere Politik präsentieren zu
können. Klar ist: Europa wird auch ohne Reformen ir-
gendwie weitermachen können – aber eben nur irgendwie
und nicht besser. Das aber wünschen wir uns und das er-
warten auch die Bürgerinnen und Bürger zu Recht von
uns.
Ich glaube, dass die Probleme in Europa identifiziert
sind. Aber jetzt müssen wir auch handeln. Ich bin sehr op-
timistisch, dass der Gipfel in Laeken einen großen und
mutigen Schritt in Richtung tiefgreifender, langfristiger
Reformen darstellen wird. Denn wir brauchen in Europa
eine Verfassung. Laeken wird dafür den Startschuss ge-
ben. Der Konvent ist für uns Parlamentarierinnen und
Parlamentarier die große Chance, Europa für die Erweite-
rung fit zu machen und den Bürgerinnen und Bürgern die
europäische Integration wieder näher zu bringen.
Sie haben eben von Nizza gesprochen. Aber sind wir
doch ehrlich: Wir haben auch schon in Amsterdam das
Problem vorgefunden, dass die Regierungen und die Di-
plomaten es alleine nicht geschafft haben, die zu-
kunftsweisenden Reformen in Gänze zu beschließen.
Sonst hätten wir ja in Nizza nicht über die Leftovers von
Amsterdam diskutiert. Ich denke, dass es hier schon seit
einigen Jahren ein Problem gibt. Jetzt haben wir die
Chance, diese Probleme zusammen mit den parlamentari-
schen Gremien zu lösen.
Der Verfassungskonvent wird ein neues Zeitalter des
Integrationsprozesses einleiten: den Schritt vom „Eu-
ropa der Nachkriegszeit“ hin zum „Europa der Zukunft“
ab dem Jahre 2004, wenn auch neue Beitrittsländer in die
Europäische Union kommen und wir die Chance haben,
die Teilung Europas endlich zu überwinden. Dann werden
neue Mitglieder zur EU gehören. Wenn wir den Verfas-
sungsprozess richtig nutzen, wird sich diese EU auch
durch eine Verfassung auszeichnen, die sie handlungs-
fähiger und vor allem demokratischer macht.
An dieser Stelle möchte ich mich auch ganz herzlich
bei der Bundesregierung bedanken,
die mit Kanzler Schröder und Außenminister Fischer an
der Spitze im Gegensatz zu Ihnen nicht nur Klarheit ge-
fordert hat, sondern auch immer wieder an der Seite des
Bundestages gestanden hat, wenn es um den Konvent
ging. Hier gab es ein großes Einvernehmen zwischen der
Bundesregierung einerseits und dem Bundestag anderer-
seits. Dafür bedanke ich mich herzlich.
Auch Ihr kleinkariertes Herumkritteln kann überhaupt
nichts daran ändern,
dass die Bundesregierung sehr engagiert mit dem Bun-
destag für den Konvent gestritten hat.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. Wolfgang Schäuble
20445
Das werden auch Ihre Kolleginnen und Kollegen, die im
Europaausschuss sitzen und die mit uns für diese Sache
gestritten haben, bestätigen.
Wir sollten aber nicht nur über die Chancen reden.
Ich glaube, dass mit dem Konvent auch Risiken verbun-
den sind. Denn wir brauchen die konstruktive Mitarbeit
nicht nur derjenigen, die zukünftig im Konvent sitzen,
sondern wir brauchen die Mitarbeit des gesamten Hauses!
Wir brauchen die konstruktive Zusammenarbeit und Mit-
arbeit aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier, weil
es nicht nur im engeren Sinne um die Europapolitik, son-
dern auch um viele andere Aspekte – von der Außen- und
Sicherheitspolitik über die Verteidigungspolitik bis zur
Umweltpolitik – geht. Bei all diesen Aspekten benötigen
wir die Kolleginnen und Kollegen aller Politikbereiche.
Wir müssen offen auch darüber sprechen, dass mit die-
ser Revolution, mit der zum allerersten Mal Parlamenta-
rier an diesem schwierigen verfassungsgebenden Prozess
beteiligt werden, nicht automatisch alles besser und ein-
facher wird. Die Agenda ist groß und schwierig; aber alle
Kritiker des Konventes, auch in unseren Partnerländern,
müssen wissen, dass ohne eine erfolgreiche Arbeit des
Konventes weder die Regierungskonferenz noch die ge-
wünschten Reformvorhaben mit Erfolg durchgeführt wer-
den können. Deswegen müssen wir alle in der Europä-
ischen Union uns einen erfolgreichen Konvent wünschen.
Es sind eben einige Punkte angesprochen worden, bei
denen wir voranschreiten müssen. Ich glaube, dass es da
Einvernehmen zwischen uns allen gibt. Ich will aber auf
einen Aspekt eingehen, bei dem offensichtlich kein Ein-
vernehmen herrscht: die Entscheidung und das Zögern
und Zaudern des italienischen Ministerpräsidenten. Es
kann wohl nicht angehen, dass wichtige Entscheidungen
zur Bekämpfung des Terrorismus und zu mehr Sicherheit
und Freiheit für die Bürgerinnen und Bürger in der EU
von Einzelnen verhindert werden, weil diese aus offen-
sichtlich rein persönlichen Interessen einen europäischen
Fortschritt ablehnen. Ich finde es schon bedenklich, wie
sich der italienische Ministerpräsident Berlusconi da ver-
halten hat.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die Kolle-
ginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion die
Bundesregierung dafür kritisiert haben, dass die Gratula-
tionen nicht ganz so lebhaft ausgefallen sind. Ich glaube,
dass die Zurückhaltung richtig war.
Sie scheinen ja sehr gute Beziehungen zu Herrn
Berlusconi zu haben. Dann pilgern Sie bitte nach Rom,
machen Sie Ihren Einfluss zu Ihrem engen Freund geltend
und verhindern Sie zukünftig, dass wichtige europäische
Schritte an den persönlichen Animositäten eines Einzel-
nen scheitern.
Ich bin jedenfalls sehr auf Ihre „Romerzählung“ gespannt.
Der Konvent ist vor allem ein parlamentarisches Gre-
mium. Das muss auch sein Präsidium widerspiegeln. Ein
exekutivlastiges Präsidium ist für uns indiskutabel; denn
eine exekutiv geprägte Steuerung des Konventes würde
diesen ad absurdum führen.
Dem Konvent muss ein großer Europäer als Präsident
vorsitzen. Wir wünschen uns, dass die sicherlich sehr po-
sitive Entscheidung des Gipfels von Laeken vom Konvent
nachvollzogen und bestätigt wird.
Der Konvent muss außerdem eng an die Parlamente
angebunden werden. Er muss die Zivilgesellschaft ernst-
haft in den Prozess einbeziehen.
Er muss sich Zeit nehmen für Anhörungen, für öffentliche
Debatten. Der Konvent muss mindestens einen Zwi-
schenbericht zur öffentlichen Diskussion vorlegen, damit
wir nicht nur hier, sondern auch in der Öffentlichkeit mit
allen Interessierten reden können.
Ziel des Konventes ist es nicht, ein europäisches Hand-
buch aller denkbaren Reformoptionen vorzulegen. Viel-
mehr wollen wir einen möglichst verbindlichen Vor-
schlag, der dann auch Messlatte für den Erfolg der
nächsten Regierungskonferenz im Jahr 2004 sein wird.
Der Konvent hätte seine Arbeit sicher verfehlt, wenn wir
nur ein Sammelsurium als Ergebnis seiner Arbeit vorfän-
den. Aber ich bin sehr positiv und sehr optimistisch ge-
stimmt, wenn wir unsere Arbeit als Parlamentarier dort
ernst nehmen.
Herr Kollege Schäuble hat die Zusammenarbeit der
Parlamente, der Assemblée nationale und des Deutschen
Bundestages, angesprochen. Das war ein guter Erfolg;
aber er knüpft unmittelbar an die Erfolge von Nantes an,
wo wichtige Zeichen für den verfassungsgebenden Pro-
zess in der Europäischen Union gesetzt worden sind.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – ich möchte diesen
Punkt noch ansprechen –, wenn Sie unter anderem an die
Hochschulen zum Beispiel in Gera, Frankfurt, Hamburg
oder Berlin gehen. Überall organisieren sich Zehntau-
sende junger Menschen, so genannter Globalisierungs-
gegner, zu Anti-Europa-Fahrten nach Laeken und nach
Brüssel. Die Erinnerungen an die Ausschreitungen bei
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Michael Roth
20446
vergangenen internationalen Gipfeln lassen diese Men-
schen heute für manche als Krawallmacher erscheinen.
Dabei übersehen wir aber leicht, dass es die Menschen
sind, mit denen wir ein zukunftsträchtiges Europa gestal-
ten und bauen müssen. Es ist unsere Aufgabe als Parla-
mentarier, die Menschen davon zu überzeugen, dass Eu-
ropa eine großartige Aufgabe und unsere demokratische
Antwort auf Globalisierungsangst ist. Das müssen wir
aber deutlicher werden lassen.
Wir müssen den Menschen erklären, dass die europä-
ische Integration auf europäischen Werten und nicht allein
auf den Gesetzen des Binnenmarktes und des Weltmark-
tes beruht.
Wir müssen doch erklären können, dass wir auf der
Basis eines originär europäischen Gesellschaftsmodells,
so, wie es uns die Franzosen immer wieder mit auf den
Weg geben, in die Institution EU Leben bringen wollen
und werden.
Es muss doch möglich sein, zu vermitteln, dass dieses Ge-
sellschaftsmodell auf Humanität, sozialer Gerechtigkeit
und der Teilhabe aller beruht. Das ist unsere Antwort.
Denn gerade die Idee eines europäischen Gesellschafts-
modells ist es, die einer entfesselten Globalisierung maß-
geblich entgegentritt.
Das sind doch keine Politikverdrossenen, das sind
keine Nationalisten, die uns abwegige Forderungen
entgegenbringen. Die Ziele und Wünsche dieser De-
monstranten sind doch: mehr Entwicklungshilfe, gemein-
samer Umweltschutz, demokratische Teilhabe an Ent-
scheidungen supranationaler Organisationen. Das ist
doch ein Europa, wie wir es uns wünschen. Zumindest die
SPD ist immer für ein solches Europa eingestanden.
Es ist richtig: Wir brauchen mehr Demokratie in der
Europäischen Union.Wir brauchen verstärkt Mehrheits-
entscheidungen und eine echte Gewaltenteilung. Ich emp-
fehle Ihnen dringend, den Antrag zu lesen, der von Bun-
deskanzler Gerhard Schröder eingebracht wurde, den
Antrag, der in Nürnberg auf unserem Parteitag beschlos-
sen wurde.
Darin werden Sie viele wichtige, wegweisende Impulse
für den verfassungsgebenden Prozess in der Europäischen
Union finden.
Wir müssen aber neben diesen Vorschlägen die Men-
schen dafür gewinnen, Europa mehr Vertrauen entgegen-
zubringen. Wir beschreiten nach Laeken, spätestens im
März 2002, einen neuen Weg. Vor allem wir Parlamen-
tarier beschreiten diesen Weg, einen Weg, der in Laeken
beginnt und hoffentlich mit einem besseren Europa endet.
Tun wir gemeinsam alles in unseren Möglichkeiten Ste-
hende, dass uns möglichst viele Menschen auf diesem
Weg begleiten; denn Europa ist nur mit den Menschen
und nicht gegen die Menschen zu gestalten.
Vielen Dank.
Für die FDP-
Fraktion spricht der Kollege Dr. Helmut Haussmann.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist die Frage,
Herr Bundeskanzler, inwieweit die Europäer in der Lage
waren, sich nach dem 11. September durch mehr europä-
ische Politik zu bewähren. Sie haben in Ihrer ersten Re-
gierungserklärung instinktsicher davon gesprochen – ich
unterstütze das –, dass wir nationalstaatlich in uneinge-
schränkter Solidarität zu den Vereinigten Staaten von
Amerika stehen. Dazu stehen wir. Das bedeutet nicht be-
dingungslose Solidarität, sondern Solidarität dort, wo wir
Deutsche – ich hoffe, auch wir Europäer – sie verantwor-
ten können.
Aber dadurch war natürlich auch klar, dass die erste
Antwort doch nationalstaatlich und weniger europäisch
war – weniger europäisch vielleicht deshalb, weil wir
selbst noch nicht dazu bereit sind, aber auch, weil viele
europäische Instrumente der Außen- und Sicherheitspo-
litik nach wie vor nicht zur Verfügung stehen.
Deshalb sagen wir als Opposition heute: Wir unterstüt-
zen die Bundesregierung in ihren weiteren Bemühungen,
unter dem Dach der Vereinten Nationen eine handlungs-
fähige Allianz gegen den Terror zusammenzuhalten.
Wir akzeptieren und freuen uns auch, dass es der
Bundesregierung gelang, bei der Petersberger Konfe-
renz einen sichtbaren Erfolg zu erzielen. Das ist wichtig.
Petersberg markiert eine Symbolik deutscher Außenpoli-
tik. Es ist die Symbolik, dass Deutschland nach der West-
bindung und nach der Ostpolitik jetzt in der Globalisie-
rung angekommen ist, nicht nur wirtschaftlich, sondern
auch außen- und sicherheitspolitisch.
Wir wissen aber auch, dass dies bedeutet, mehr globale
außen- und sicherheitspolitische Verantwortung zu über-
nehmen. Darin werden wir Sie immer unterstützen.
Heute geht es um zwei Dinge:
Erstens geht es um mehr Möglichkeiten der Sicher-
heitspolitik, um eine Beschleunigung der europäischen
Eingreiftruppe, aber auch darum, den Zustand der Bun-
deswehr schnell und deutlich zu verbessern; denn in der
Tat sind wir bei der jetzigen Verfassung der Bundeswehr
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Michael Roth
20447
international nicht in der Lage, einen größeren Beitrag zur
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu leisten.
Zweitens. Herr Bundeskanzler, der Eindruck einer Re-
nationalisierung bzw. Marginalisierung der europäischen
Außen- und Sicherheitspolitik ist keine Erfindung der Op-
position. Darin liegt vielmehr – auch für die Bürger – eine
große Gefahr für die Rolle Europas. Herr Schäuble hat es
zu Recht gesagt: Wer erscheint abends im Fernsehen?
Zum Beispiel Herr Blair und Herr Schröder. Das ist schön
für deren Umfragewerte. Aber Herr Prodi und Herr Solana
spielen überhaupt keine Rolle. Es ist schlecht für das eu-
ropäische Bewusstsein unserer Bürger, dass Europa keine
Rolle spielt.
Eine weitere Form der Solidarität mit den USAbesteht
in einer Stärkung der wirtschaftlichen Kompetenz, in ei-
nem Beitrag zu mehr Wachstum in der Weltwirtschaft. In-
zwischen sind wir nicht nur beim Wachstum Schlusslicht.
Die schwache deutsche Reformfähigkeit gefährdet natür-
lich auch den Außenwert der europäischen Währung.
Derzeit – es sind noch 20 Tage bis zur Einführung der eu-
ropäischen Währung – besteht eine große Gefahr darin,
dass die hohe Symbolkraft der europäischen Währung im
Hinblick auf ein stärkeres europäisches Bewusstsein und
eine größere Rolle im Rahmen der Globalisierung verlo-
ren geht, wenn der Euro auf Dauer einen nachhaltig
schwachen Außenwert hat und der Bürger mit der fakti-
schen Einführung der europäischen Währung eine hohe
strukturelle Arbeitslosigkeit verbindet.
Die Reaktion darauf kann nur darin bestehen: mehr
strukturelle Reformen im wichtigsten europäischen Land,
in Deutschland. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir
der Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika
und der Förderung des Wachstums in der Weltwirtschaft
nicht gerecht.
Herr Bundeskanzler, Sie haben von einem europä-
ischen Gesellschaftsmodell gesprochen; Herr Waigel
und ich haben das soeben auf einer Veranstaltung der Eu-
ropäischen Bewegung gehört. Wenn dieses Modell keine
antiamerikanische Haltung, sondern einen eigenen kultu-
rellen, wirtschafts- und ordnungspolitischen Weg verkör-
pert, halte ich ein solches Anliegen für richtig. Wir Libe-
rale, aber auch die Sozialdemokraten – wir nähern uns
dem gleichen Ziel von verschiedenen Richtungen her. Das
Ziel muss sein, ein wettbewerbsfähiges, aber gleichzeitig
auch sozial stabiles Europa zu schaffen. Aufgrund der
Tradition der Sozialdemokraten gehen diese eher von der
Verteilung der Lasten, von der Frage der sozialen Ge-
rechtigkeit und der Stabilität aus. Wir Liberale nähern uns
dem gleichen Ziel von der anderen Seite her: von der
Mobilität, von der stärkeren Aktivierung von Kreativität
und Innovationen.
Letztendlich muss dieses europäische Gesellschafts-
modell zur Stärkung des europäischen Bewusstseins bei-
tragen. Es darf keine antiamerikanische Haltung verkör-
pern. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass auch
in Asien, nicht zuletzt in China, neue dynamische Regio-
nen entstehen. Das heißt, allein der Vergleich innerhalb
Europas ist zu wenig. Wir brauchen ein weltweites
Benchmarking, einen Vergleich mit anderen Gesell-
schaften und anderen Wirtschaftsformen. Angesichts der
Tatsache, dass eine Weltfirma wie Siemens Forschung
und Entwicklung, also Arbeitsplätze, in Deutschland
zukünftig eher abbaut und sie in China verstärkt, wird
deutlich, dass die Globalisierung einen weltweiten Wett-
bewerb im Bereich der Investitionsbedingungen mit sich
bringt. In diesem Bereich haben wir in Deutschland einen
großen Nachholbedarf.
Der Bundeskanzler hat sehr viel über Afghanistan und
über die Terrorbekämpfung gesprochen, aber relativ we-
nig über das Hauptthema in Laeken. Wir möchten, dass
in Laeken – der Bundesaußenminister wird gleich darüber
sprechen; er hat sich dazu verpflichtet – neben der Beant-
wortung der wichtigen Frage des Verfassungsprozesses
auch ein Durchbruch in der Behandlung der Mehrheits-
entscheidung angestrebt wird. Es bleibt richtig, dass die
Europäische Union nur erweiterungsfähig ist, wenn sie
den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen schafft.
Eine Europäische Union mit bald 25 Ländern, von de-
nen jedes ein Vetorecht hat, wird auf Dauer sich selbst
blockieren. Deshalb muss es ein Ziel deutscher europä-
ischer Außenpolitik bleiben, andere Länder dafür zu
gewinnen, dass wir uns in Laeken unter der belgischen
Präsidentschaft dazu verpflichten, parallel zu der Erwei-
terung der Europäischen Union im Jahre 2004 ein Verfah-
ren zu finden, wie wir bei wesentlichen Fragen dem
Prinzip der Mehrheitsentscheidung Geltung verschaffen
können.
Herr Roth, was die Konventidee angeht, so müssen
Sie sich hier nicht exponieren. Das geht nicht auf Sie
zurück, auch nicht auf uns. In dieser Frage gibt es in
Europa große Übereinstimmung, auch in den Program-
men unserer Parteien.
Nur, Sie als Mitglied einer die Bundesregierung tragenden
Partei haben die Möglichkeit, das auch durchzusetzen.
Wir haben in diesem Zusammenhang drei Erwartungen an
Sie – an diesen werden wir Sie auch messen –:
Erstens. Wir wollen keine starren Vorgaben und wollen
– das ist ganz entscheidend – kein Übergewicht von Re-
gierungsvertretern im Präsidium.
Zweitens. Wir halten die Grundidee der Besetzung der
Präsidentschaft mit einem französischen Europapolitiker
aus vielerlei Gründen – psychologisch, auch europapo-
litisch – für richtig. Wir haben zwar unsere Vorstellungen,
aber hoffen, dass es diesem Präsidenten, ähnlich wie
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. Helmut Haussmann
20448
Roman Herzog, gelingt, die verschiedenen Grundideen zu
einem guten Ergebnis zu führen.
Drittens. Die Beitrittskandidaten dürfen beim Konvent
nicht nur formal berücksichtigt werden. Vielmehr muss
ihnen – da sie ja später diese Verfassung mit ratifizieren
müssen – eine wesentliche Rolle im Konvent eingeräumt
werden.
Und schließlich – das war ein Ziel aller Parteien in Eu-
ropa –: Am Ende des Verfassungsprozesses sollte eine
Volksabstimmung der Bürger in Europa stehen. Mit einer
solchen Volksabstimmung über eine europäische Verfas-
sung bestände die sehr große Chance, dass sich die Bür-
gerinnen und Bürger stärker mit Europa identifizieren.
Hier schließt sich der Kreis: Wenn wir dies erreichen
könnten, wäre dies ein großer Fortschritt für die europä-
ische Idee.
Vielen Dank.
Ich erteile
das Wort dem Bundesaußenminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mehr als zehn
Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und vor allen
Dingen jetzt, nach dem 11. September dieses Jahres,
nach den furchtbaren Verbrechen in New York und in
Washington, werden langsam die Umrisse der internatio-
nalen Ordnung des 21. Jahrhunderts und die Gewichte-
verteilung sichtbar. Ich erwähne das deswegen zu Beginn
meiner Rede, weil klar sein muss, dass in dieser Ordnung
die großen europäischen Nationalstaaten nicht eigenstän-
dige oder auch nur lose koordinierte Rollen werden spie-
len können. In dieser Welt des 21. Jahrhunderts wird un-
ser aller Schicksal von der Vollendung der politischen
Integration Europas abhängen. Ob einem dieses gefällt
oder nicht ist gar nicht mehr die Frage.
Wenn man sich die Realitäten anschaut, wird man dies
auch so feststellen müssen; diese Erkenntnis hat nicht
zuletzt zur Wirtschafts- und Währungsunion und damit
jetzt, am 1. Januar, zur Einführung des Euro, der ersten eu-
ropäischen Gemeinschaftswährung, geführt. Mehr und
mehr gilt dies aber auch für die Außen- und Sicherheits-
politik und damit für die Bestimmung der internationalen
Politik im 21. Jahrhundert insgesamt: Das Gewicht, das
die großen europäischen Nationalstaaten mit sich bringen,
ist schlicht und einfach nicht mehr ausreichend.
Diese wirtschaftliche Erkenntnis muss in politische Er-
kenntnis umgesetzt, übertragen werden. Das genau ist
eine der Aufgaben, vor denen wir stehen. Wir sehen, dass
mit der Herausbildung der Außen- und Sicherheitspolitik
der Europäischen Union – insofern teile ich den Pessi-
mismus, den Sie, Herr Kollege Schäuble, hier dargestellt
haben, nicht – uns Europäern zum Beispiel im Nahen
Osten eine Rolle zukommt, die über das Bezahlen und
über humanitäre Hilfe hinausgeht. Dies verdanken wir
unter anderem der Gemeinsamen Außen- und Sicher-
heitspolitik und Javier Solana.
Gerade die Bundesregierung war nach dem 11. Sep-
tember immer bemüht, die europäische Rolle in den Vor-
dergrund zu stellen. Es tut mir Leid, aber Ihre Aussage ist
nicht richtig: Herr Solana war durch einen Beamten auf
dem Petersberg vertreten. Wir hatten die Europäer bzw.
Javier Solana auf den Petersberg eingeladen. Er hat einen
seiner Mitarbeiter dorthin entsandt, übrigens auf dersel-
ben Ebene wie die praktische Arbeit im Zusammenhang
mit Mazedonien koordiniert wurde. Insofern ist Ihre Aus-
sage nicht richtig.
Auch ist es abwegig, der Bundesregierung vorzuwerfen,
dass der Sonderrat nicht vor der Reise des europäischen Re-
präsentanten nach Washington stattgefunden hat. Das war
eine deutsche Initiative von Bundeskanzler Gerhard
Schröder. Sie mögen sich darüber in der sattsam bekannten
Wahlkampfpolemik auslassen. Ich habe ein gewisses Ver-
ständnis, dass der Bedarf dafür im Moment groß ist.
– Ich habe viel Erfahrung im Wahlkampf, Herr Glos. Da-
rauf können Sie sich gerne verlassen. Deswegen be-
komme ich das ja auch mit.
Sie loben und preisen gegenwärtig den Verfassungs-
prozess. Der erste Schritt des Verfassungsprozesses be-
gann unter der deutschen Präsidentschaft in Köln. Dort
wurde die Grundrechte-Charta auf den Weg gebracht.
Der zweite Schritt war das viel geschmähte Treffen in
Nizza. Es war eben nicht eine Erklärung der EVP, die ich
sehr schätze, sondern es war wieder eine Initiative dieser
Bundesregierung von Bundeskanzler Schröder. Es war al-
les andere als einfach, durchzusetzen, dass wir, wissend
um die Notwendigkeit der Erweiterung der Europäischen
Union nach dem Ende des Kalten Krieges und um die Ver-
pflichtung, die wir haben, diesen Prozess, den man ruhig
als verfassungsgebenden Prozess bezeichnen kann, für
die Zukunft Europas für 2004 auf den Weg gebracht ha-
ben. Ohne dies würden wir heute eine völlig andere Situa-
tion haben.
Wenn Sie hier den ersten Entwurf der belgischen Prä-
sidentschaft zitieren, dann kann ich Ihnen nur sagen: Er
findet weitestgehend die Zustimmung Deutschlands. Das
hat der Besuch von Herrn Verhofstadt beim Bundeskanz-
ler ergeben. Das Problem ist nur, dass die meisten ande-
ren diese weitestgehende Zustimmung bisher noch nicht
signalisiert haben. Das wird das Problem dieses Ver-
fassungsprozesses.
Ich habe mit dem, was Sie vorgestellt haben – wenn
dieses föderale Modell Wirklichkeit würde, wäre ich ein
glücklicher Europäer, Herr Kollege Schäuble –, über-
haupt kein Problem. Mein Problem ist eher, dass ich nicht
an die Übertragung unserer bundesstaatlichen Vorstellung
glaube, einer Vorstellung, die ich teile, damit Sie mich
nicht missverstehen. Ich bekomme es doch in der Diskus-
sion mit den Europäern mit. Wir müssen uns hier nicht
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. Helmut Haussmann
20449
miteinander streiten, ich versuche vielmehr, Ihnen eine
Botschaft zu übermitteln.
Der Bundeskanzler und ich werden es jetzt am Freitag
und Samstag erleben, ob Herr Aznar und andere konser-
vative, der EVP verpflichtete Europäer diese Position
tatsächlich zur Grundlage machen. Ich würde mich – das
gebe ich hier ausdrücklich zu Protokoll – darüber sehr
freuen, Kollege Schäuble. Der Bundeskanzler und ich
nehmen diese Erklärung extra mit, um sie zum geeigneten
Zeitpunkt als Referenzgrundlage zur Hand zu haben. Ich
wage aber im Lichte der Erfahrung die realistische Pro-
phezeiung, dass sich wichtige Vertreter der Europäischen
Volkspartei, die ganz oben ihre Pflichten erfüllen, im
entscheidenden Augenblick nicht auf dieses Dokument
beziehen. Ich sage: leider.
Herr Bun-
desaußenminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schäuble?
Gerne, immer.
Herr Bundes-
außenminister, wären Sie erstens bereit, auch das Doku-
ment der Europäischen Volkspartei auf dem Gipfel von
Laeken zu verbreiten, damit Sie nicht die Sorge haben,
dies sei nur ein deutsches Papier? Würden Sie zweitens
nicht vielleicht zustimmen können, dass Sie einen Fehler
machen, wenn Sie Überlegungen, die wir in unseren Ar-
beiten formuliert haben und die Sie eben gelobt haben, in
Beziehung zum Modell unseres Grundgesetzes setzen?
Ich stelle Ihnen die Frage deswegen, weil ich den deut-
schen Bundeskanzler gegen die Unterstellungen des fran-
zösischen Premierministers Jospin in Schutz genommen
habe, irgendjemand in Deutschland habe die Vorstellung,
man wolle die Bundesrepublik Deutschland oder Frank-
reich zu etwas Ähnlichem wie die deutschen Bundeslän-
der machen. Das ist absurd. Europa ist etwas ganz Neues.
Die Abgrenzung von Zuständigkeiten muss völlig anders
als im Grundgesetz sein.
Zum Ersten: Gerne nehme ich das von Ihnen angespro-
chene Dokument mit. Ich verspreche Ihnen, dass wir im
entscheidenden Augenblick darauf Bezug nehmen wer-
den. Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei wird,
wenn ich es richtig sehe, mit im Saale sein. Ich könnte mir
vorstellen, dass wir als Vertreter der Bundesrepublik
Deutschland auf diesen Punkt Bezug nehmen werden. Ich
glaube aber nur, es wird im entscheidenden Augenblick
wenig helfen. Wir werden Sie aber über unsere Bemühun-
gen unterrichten.
Zum Zweiten freut es mich, dass die Opposition Initia-
tiven ergreift. Sie erleben eine Bundesregierung, die Ini-
tiativen der Opposition lobt; darin unterscheiden wír uns
von der Vorgängerregierung.
– Das war Ironie. Entschuldigen Sie, ich habe einen Feh-
ler gemacht. Man sollte in einer Debatte nicht auf Ironie
zurückgreifen.
Zum Dritten: In diesem Punkt, Herr Kollege Schäuble,
bin ich anderer Meinung als Sie. Mir geht es nicht um die
Ordnung des Grundgesetzes. Ich weiß, dass es auch Ihnen
nicht darum geht. Wir haben auf diesem Feld noch echten
Diskussionsbedarf. Ich meine, dass die Vorstellungen bei-
der großen Volksparteien letztendlich auf eine bundes-
staatliche Ordnung zielen, zumindest so rezipiert werden.
Ich könnte mit einer solchen Lösung hervorragend leben;
von der Sache her – ich wiederhole mich – habe ich da-
gegen keinen Einspruch. Die große Frage ist nur, ob eine
solche Lösung in Europa mehrheitsfähig ist.
Ich will wenigstens die Probleme formulieren: Wir
wollen eine Verfassung erreichen. Wir werden eine Union
von 25 und mehr Mitgliedern haben; dies ist unabweisbar.
Die Tatsache, dass die Erweiterung bis heute noch nicht
stattgefunden hat, beruht ein Stück weit auf der Realitäts-
verweigerung der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union nach 1989/90. Die Probleme, über die wir jetzt dis-
kutieren, dürfen wir nicht bei den Beitretenden abladen.
Ich halte die Erweiterung für unverzichtbar. Vorstellun-
gen, wir könnten angesichts der dramatischen Verände-
rungen seit 1989/90 ein Kleineuropa aufrechterhalten,
würden die europäische Einigungsidee zum Scheitern
bringen und damit unsere eigenen Interessen berühren.
Wir werden eine Union der 25 haben. Sich eine solche
Union der 25 vor dem Hintergrund des heutigen institu-
tionellen und finanziellen Gefüges vorzustellen ist sehr
schwer. Hinzu käme das Problem, dass sich die Frage der
demokratischen Legitimation verstärkt stellen würde. Das
sind die wesentlichen Faktoren.
Der Konvent soll gelingen; das bedeutet, dass am
Ende ein Entwurf mit verschiedenen Alternativen steht,
der in seinen Grundzügen als Entwurf taugt, die europä-
ische Öffentlichkeit und den Europäischen Rat überzeugt
und damit Chancen auf eine Ratifikation durch das Parla-
ment hat. Voraussetzung dafür wäre, dass sozusagen die
Eindeutigkeit des Ziels – das zu erreichen wird im Kon-
vent schwer werden –, nämlich die politische Integration
der Union, angestrebt wird sowie die Klarheit der Prinzi-
pien gewährleistet ist. In diesem Punkt sehe ich noch Dis-
kussionsbedarf, auch in meiner eigenen Fraktion und Par-
tei. Insofern ist diese Debatte nicht parteipolitisch zu
führen.
Im Grunde genommen haben wir es mit vier Prinzi-
pien zu tun, nämlich zum einen mit dem Integrations-
prinzip – wir wollen dieses Europa und die europäische
Integration – und zum zweiten weiterhin mit dem natio-
nalen Prinzip; wir haben es also mit einer Parallelität der
beiden Substanzprinzipien zu tun. Hinzu kommen instru-
mentelle respektive Verfahrensprinzipien, die sehr hoch-
rangig sind – Funktionalität, es muss funktionieren –, und
gleichzeitig das Demokratieprinzip. Wir brauchen außer-
dem eine Kompromissfähigkeit hinsichtlich der verschie-
denen Interessen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Bundesminister Joseph Fischer
20450
Dies alles für eine Union der 25 zusammenzu-
schnüren, wird eine große Leistung sein. Dabei werden
Sie die föderale Orientierung der Bundesrepublik
Deutschland vor Augen haben, von deren Richtigkeit
ich nachdrücklich überzeugt bin; eine andere Struktur
der Bundesrepublik kann ich mir nicht vorstellen. Auf
der anderen Seite haben wir es mit mächtigen Zentral-
staaten zu tun, die aufgrund ihrer Größe oder gewach-
senen Traditionen kein Föderalprinzip haben.
Sie werden in den Verfassungsentwurf daher eine ge-
wisse Parallelität hineindenken müssen; andernfalls be-
kommen Sie die Dinge nicht zusammen. Das ist die Bot-
schaft, die ich Ihnen als Bote zu vermitteln habe. Ich
könnte mit dem, was Sie oder was andere vorgeschlagen
haben, wunderbar leben. Wenn wir aber Erfolg haben
wollen – ich will den Erfolg und wir brauchen den Er-
folg –, dann müssen wir von vornherein die Differenzen
in der Tradition hinzudenken. Ich meine, nur dann kann
dabei ein sehr gutes und vernünftiges Ergebnis heraus-
kommen. Aber machen Sie sich, liebe Kolleginnen und
Kollegen, keine Illusion: Der bevorstehende Konvent
wird schwieriger sein als der Grundrechte-Konvent. Es
werden dort wesentlich mehr Interessens- und Traditions-
widersprüche zutage treten.
Dennoch halte ich die Alternative, die Kollege Lamers
wiederholt formuliert hat, für richtig. Wenn der Konvent
nicht die notwendige politische Autorität hat und mit sei-
nem Entwurf nicht überzeugen kann, dann frage ich
mich, wie eine Regierungskonferenz angesichts der
Größe der Aufgabe, über die sich alle Redner hier einig
waren, dies dann leisten sollte. Wenn der Konvent schei-
tern sollte, dann wird es, glaube ich, nicht gelingen, auf
einer Regierungskonferenz Fortschritte zu erzielen. Es
wird sich dann die Frage stellen, wie ab 2006 – das ist auf
dem europäischen Kalendarium absehbar – eine neue fi-
nanzielle Vorausschau für eine Union der 25 gestaltet
werden kann. Die Bereitschaft der Bevölkerung, den im
europäischen Staatenverbund erzielten Kompromissen
zuzustimmen, wird tendenziell nicht zunehmen, sondern
eher abnehmen. Dann wird vor allen Dingen hinter der
institutionellen Handlungsfähigkeit einer Union der 25
ein Fragezeichen stehen. Die Frage, ob der Verfassungs-
prozess nach der Erweiterung der Europäischen Union,
die im Zeitraum zwischen 2003 und 2004 beginnt, und
schließlich die finanzielle Vorausschau, also die Finanz-
entscheidungen einer Union der 25, mit den notwendigen
Kompromissen bei den Strukturfonds, den Kohäsions-
fonds und in der Agrarpolitik, in deren Rahmen es schwer
genug werden wird, Kompromisse sowohl in den Sach-
entscheidungen als auch in der Frage der Finanzierung
durchzusetzen, gelingen werden, wird sehr stark vom Er-
folg des Konvents und der sich anschließenden Regie-
rungskonferenz abhängen.
Den Menschen möchte ich von hier aus klar sagen: Eu-
ropa wird auch in Zukunft in verstärktem Maße eine
außen- und sicherheitspolitische Dimension brauchen.
Natürlich haben all diejenigen Recht – das ist ja nicht von
der Hand zu weisen –, die sagen: Der 11. September hat
klar gemacht, dass die Europäische Union in der Frage
von Krieg und Frieden noch nicht oder nicht ausreichend
handlungsfähig ist. Ich sage: Ja, das stimmt. Aber daraus
den Schluss zu ziehen, Europa habe versagt, ist meines
Erachtens falsch, weil die Europäische Union von ihrer
Konstruktion her noch nicht in der Lage ist, in der Frage
von Krieg und Frieden entsprechend zu entscheiden. Das
muss man ehrlicherweise hinzufügen.
Es gibt meines Erachtens drei Gründe, die die Eu-
ropäer zwingen werden, sich zu einigen.
Erstens. Wenn Europa nicht zusammenfindet, dann
wird Europa – das werden alle in Europa lebenden Men-
schen an der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und der
sozialen Sicherungssysteme merken; von der großen Po-
litik ganz zu schweigen – in der Welt des 21. Jahrhunderts
in erheblichem Maße Chancen verlieren. Damit das nicht
geschieht, müssen wir die Handlungsfähigkeit in der
Außen- und Sicherheitspolitik entsprechend stärken. In
diesem Zusammenhang rate ich Ihnen, die Erklärung von
Nantes einmal genau durchzulesen. Diese Erklärung ist
ein Beleg dafür, dass Deutschland und Frankreich wirkli-
che Konsequenzen aus den ersten Erfahrungen gezogen
haben. Die Wirtschafts- und Währungsunion wird einen
erheblichen Integrationsdruck ausüben. Ich erspare mir
die innenpolitische, wirtschaftspolitische und finanzpoli-
tische Polemik.
Zweitens. Die Erweiterung wird einen gewaltigen
Druck in Richtung institutionelle Veränderungen, also ei-
nen verfassungsgebenden Druck, und damit in Richtung
mehr Integration ausüben.
Der dritte Punkt betrifft die veränderte weltpolitische
Situation. Diesen Punkt würde ich mittlerweile an die
erste Stelle setzen, wenn ich mir die Erfahrungen, die seit
dem 11. September gemacht worden sind, anschaue.
– Eine große Chance! Ich stimme Ihnen zu. – Denn Eu-
ropa wächst nur durch Krisen und durch Druck und nicht
durch Papiere und auch nicht durch Überzeugungen. Es
wächst aufgrund gemeinsamer Interessen bzw. aufgrund
der infolge der Interessenabwägung offensichtlich wer-
denden Erkenntnis, dass die Alternativen zu einem ge-
meinsamen Europa für die Mitgliedstaaten schlicht und
einfach schlechter sind. Das ist die Grundlage, auf der wir
in Laeken verhandeln werden. Wir wollen dort ein starkes
Mandat haben. Aber dieses Mandat muss gleichzeitig so
viel Spielraum bieten, dass der Konvent handeln kann.
Wenn der Konvent die entsprechenden Entscheidun-
gen trifft, dann werden alle vier Akteure, sozusagen das
institutionelle Viereck, die nationalen Parlamente, das
Europäische Parlament, die nationalen Regierungen und
die Europäische Kommission, einbezogen sein. Das wer-
den die vier Akteure des Verfassungsprozesses sein. Ich
prophezeie, dass sich diese vier Akteure, wenn es gut geht,
als handelnde Akteure in der Verfassung – oder wie im-
mer das genannt werden wird – wiederfinden werden.
Über die Details möchte ich jetzt nicht streiten. Der Bun-
deskanzler hat ganz wichtige Initiativen dazu ergriffen.
Dass der von uns seit Köln eingeschlagene Weg in
Richtung einer europäischen Verfassung und Verfasstheit
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Bundesminister Joseph Fischer
20451
gegangen wird, ist das, was wir in Laeken erreichen wol-
len und, wie ich hoffe, mit der Hilfe all unserer Partner
auch erreichen werden.
Ich bedanke mich.
Für die
PDS-Fraktion spricht der Kollege Uwe Hiksch.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Der Außenminister hat sich bei einer
Formulierung entweder versprochen oder aber gerade
deutlich machen wollen, dass es zu der Konzeption des-
sen, was Europa werden soll, zwei völlig unterschiedliche
Vorstellungen gibt. Der Außenminister hat nämlich kurz
vor Schluss seiner Rede davon gesprochen, dass die Kon-
struktion Europas noch nicht auf Krieg und Frieden ein-
gestellt sei. Ein Europa, das so konstruiert wird, dass es
auf Krieg und Frieden eingestellt ist, unterstützt die PDS-
Fraktion bestimmt nicht.
Unsere gemeinsame Aufgabe darf nicht darin bestehen,
Europa zu militarisieren und darüber zu reden, wie effek-
tive Strukturen geschaffen werden können, die die Mög-
lichkeit eröffnen, Krieg zu führen. Die Perspektive Euro-
pas, der Part Europas für die Welt muss gerade darin
bestehen, sich als Zivilmacht in der Welt zu entwickeln
und sich vorzunehmen, mit einem neu entwickelten So-
zialmodell, das hier in Europa geschaffen werden muss,
und mit einer verstärkten wirtschaftspolitischen Koordi-
nation mit dem Süden und dem Osten, mit Asien genauso
wie mit Afrika zu erreichen, dass eine neue Form der
Außenpolitik betrieben wird,
nämlich eine Außenpolitik, die sich zum Ziel setzt, inter-
nationaler Partner zu sein und Aufgaben einer interna-
tionalen Zivilgesellschaft zu übernehmen. Deshalb sehe
ich die Aufgabe der Integration in Europa auch darin – da-
für wird die PDS-Fraktion arbeiten –, gerade die
verschiedenen Institutionen der UN zu stärken, den
OSZE-Prozess weiterzuentwickeln und mittelfristig und
schrittweise die NATO zu überwinden.
Es ist, glaube ich, problematisch, sehr geehrter Herr
Kanzler, wenn man den großen Europäer Jean Monnet zi-
tiert und nur einen einzigen Aspekt, den er auch benannt
hat, nämlich die Frage der Europäischen Verteidigungs-
gemeinschaft, als zentrale Aussage mit ihm verbindet.
Das, sehr geehrter Herr Schröder, hat Jean Monnet nicht
verdient. Er war derjenige, der Europa gerade zivil-inte-
grationistisch beschrieben hat.
Sie haben in der letzten Woche beispielsweise davon
gesprochen, dass es darum gehen müsse, das Militärische
zu enttabuisieren. Zwischenzeitlich liegt das leider in der
Tradition der rot-grünen Bundesregierung und Ihrer Par-
tei. Wer von der Enttabuisierung des Militärischen
spricht, sehr geehrter Herr Schröder, der widerspricht den
Grundsätzen, derentwegen vor 140 Jahren die Sozialde-
mokratische Partei gegründet wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen ein Eu-
ropa, das sich integriert. Wir unterstützen die Schaffung
des Konvents, weil wir glauben, dass genau mit diesem
Konvent eine Grundlage für die Parlamentarisierung
Europas gelegt werden kann, sodass nicht mehr die Re-
gierungen, sondern die demokratisch gewählten Parla-
mentarierinnen und Parlamentarier in Europa bestimmen.
Dieser Konvent muss gemeinsam mit den folgenden Prä-
sidentschaften die Aufgabe haben, das Europa der Ver-
träge zu einem Verfassungseuropa weiterzuentwickeln.
Die Vertiefung der Europäischen Union in Laeken und
in den folgenden Debatten sollte vielleicht auch mit dem
folgenden Aspekt verbunden werden – in dieser Richtung
sollten wir, denke ich, gemeinsam diskutieren –: Der
nächste Integrationsschritt in Europa könnte erreicht wer-
den, wenn wir als deutsche Parlamentarier fordern, dass
in Europa eine zweite Staatsbürgerschaft, nämlich neben
der nationalen auch eine europäische Staatsbürger-
schaft, geschaffen wird.
Mit dieser europäischen Staatsbürgerschaft, die wir den
Bürgerinnen und Bürgern zusätzlich zu ihrer nationalen
Staatsbürgerschaft verleihen, können wir die Forderung
realisieren, die Grundrechte-Charta als integralen Be-
standteil der Verträge zu verankern und damit den einzel-
nen Menschen individuelle Klagemöglichkeiten auf der
Grundlage einer europäischen Verfassung oder zumindest
eines europäischen Verfassungsvertrags zu geben.
Die Menschen in Europa werden für die europäische
Idee nur gewonnen werden können, wenn es nicht bei der
Diskussion über Institutionen bleibt, sondern wieder In-
halte in den Mittelpunkt der europäischen Politik gerückt
werden.
Insoweit ist es bezeichnend, dass Gerhard Schröder in sei-
ner Rede nur einen einzigen Halbsatz darauf verwandte,
sozialpolitische Fragen zu streifen. Auf allen Veranstal-
tungen, egal, ob ich in Hamburg, Frankfurt oder,
wie in dieser Woche, in Neuhaus-Schierschnitz gewesen
bin, erlebe ich, dass die Menschen verlangen, dass Europa
sozialpolitisch und ökologisch vorangebracht wird. Sie
wollen, dass nach der Schaffung einer einheitlichen euro-
päischen Währung Europa als Garant für die Abschaf-
fung der Arbeitslosigkeit auf die Tagesordnung kommt.
Deshalb werden nach unserer Überzeugung in Laeken
die Weichen dahin gehend gestellt müssen, dass das Be-
schäftigungskapitel im Europäischen Vertrag noch einmal
aufgerufen wird, damit neben der wichtigen Koordinie-
rung der nationalen Beschäftigungspolitiken auch auf die
Agenda der Europäischen Union gesetzt wird, dass Eu-
ropa selbst gegen die Massenarbeitslosigkeit und für mehr
Beschäftigung aktiv wird. Bei der Bekämpfung der Mas-
senarbeitslosigkeit wird man beispielsweise darüber
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Bundesminister Joseph Fischer
20452
nachdenken müssen, einen Mechanismus zu schaffen, der
nationalstaatliches Sozialdumping verhindert. Daher
schlagen wir in unserem Antrag unter anderem vor, in Eu-
ropa darüber nachzudenken, ein Korridormodell zu schaf-
fen, das bestehende Sozialleistungsquoten festschreibt, die
europaweit mindestens eingehalten werden müssen, so-
dass im Rahmen nationalstaatlicher Entscheidungen Sozi-
alstandards nicht unterlaufen und damit einzelne Nationen
oder Standorte gegeneinander ausgespielt werden können.
Eine weitere wichtige Frage, die auf die europäische
Tagesordnung gehört, ist die Einführung eines Mindest-
niveaus der sozialen Grundsicherung, sodass jeder
Mensch in Europa aus Armut herausgeholt wird und einen
Rechtsanspruch auf ein Mindesteinkommen bekommt.
Das wäre eine wichtige, Europa fördernde Maßnahme.
Kolleginnen und Kollegen, in den nächsten Monaten
wird es auch um die Daseinsvorsorge in Europa gehen.
Wir, die PDS, sind der Überzeugung, dass die Daseins-
vorsorge – der so genannte dritte Sektor: der ÖPNV, Was-
ser und Abwasser – mehr als bisher in den Verträgen Be-
achtung finden muss. Ein Recht auf Arbeit, auf Wohnen
und auf Gesundheit muss auch beinhalten, dass die Da-
seinsvorsorge aus dem Wettbewerbsrecht ausgeschlossen
wird. Es muss möglich sein, das spezielle deutsche Sys-
tem zu schützen, für das etwa die Arbeiterwohlfahrt, die
Caritas, die Diakonie oder die Volkssolidarität stehen. Da-
her wird die PDS gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbän-
den dafür streiten, dies in den Verträgen zu sichern.
Kolleginnen und Kollegen, der europäische Diskus-
sionsprozess in den nächsten Jahren wird darüber ent-
scheiden, ob wir die Menschen in Europa mitnehmen kön-
nen. Wir können sie aber nur dann mitnehmen, wenn wir
ihre Probleme ernst nehmen und Arbeitslosigkeit und Ar-
mut wieder in den Mittelpunkt der Politik rücken. Auch in
Europa ist darüber zu diskutieren, welche Maßnahmen
gegen Arbeitslosigkeit und Armut ergriffen werden
können. Eine solche Verfassung, die übrigens durch ein
Referendum verabschiedet werden sollte – nur eine Ver-
fassung, über die die Menschen abstimmen konnten, ist
eine starke Verfassung –, kann Europa voranbringen.
Wenn wir in diesem Sinne gemeinsam arbeiten, wird Eu-
ropa auch in den Herzen der Menschen ankommen.
Danke schön.
Ich erteile
dem Kollegen Dr. Jürgen Meyer für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn der Europäische
Rat in Laeken Ende dieser Woche die Einberufung des
zweiten Konvents beschließt, dann ist das zwar auch ein
Verdienst der Bundesregierung, aber auch etwas, was die
Parlamentarier gemeinsam erkämpft haben.
Das gilt für die Beschlüsse dieses Bundestages, die nach
unserer Verfassungslage Grundlage für die Verhandlun-
gen der Bundesregierung geworden sind. Es gilt für die
von uns herbeigeführten Beschlüsse der Europaausschüs-
se der Parlamente der 15Mitgliedstaaten, der COSAC; es
gilt auch für die gemeinsame Entschließung, die wir vor-
gestern mit etwa 70 Abgeordneten des Deutschen Bun-
destages und der Assemblée nationale in Paris einstimmig
verabschiedet haben – darauf werde ich noch eingehen –,
und es gilt nicht zuletzt für die von diesem Parlament mit
geprägte Qualität der Arbeit des ersten Konvents.
Herr Kollege Schäuble, wenn Sie die Idee des Kon-
vents so sehr betonen, dann fände ich es nur fair, zu sagen,
dass sie von dieser Bundesregierung kreiert worden ist.
Dafür sollte man die Bundesregierung auch loben.
Der Konvent ist eine Erfindung der deutschen Präsident-
schaft auf dem Kölner Gipfel im Juni 1999.
Wir alle wissen, dass es danach und nach Nizza wieder
das in der Europapolitik übliche Auf und Ab und die alt-
bekannte Verzagtheit auch bei manchen von uns gegeben
hat. Das waren die Monate der Bedenkenträger auch aus
den Bürokratien. Manche meinten, ein Verfahren wie im
ersten Konvent werde es kein zweites Mal geben. Es
werde nicht wieder passieren, dass ein Gremium, über-
wiegend bestehend aus Abgeordneten, den Regierungs-
chefs ein Papier vorlegt, das sie nur noch ohne Änderung
akzeptieren können. Manche von uns meinten sogar, man
solle den Begriff „Konvent“ vermeiden und stattdessen
von einem konventsähnlichen Gremium sprechen, einem
Gremium, das gewisse Erfahrungen des Konvents nutzen
könne, vielleicht sogar von dem früher so genannten
„body“.
Ich bin der Auffassung, wir sollten auch bei der zwei-
ten Versammlung, die es hoffentlich geben wird, vom
Konvent sprechen. Das ist ein Name, den das erste Gre-
mium, überwiegend besetzt durch Parlamentarier, sich
selbst gegeben hat. Diesen Namen Konvent sollten wir
nicht verstecken.
Ich bin auch der Meinung, dass die Versuche, den neuen
Konvent von außen zu steuern, erledigt sind. Das war der
Versuch der Einrichtung einer so genannten Steering Com-
mission. Das ist mit selbstbewussten Abgeordneten nicht
zu machen.
Ich wünsche mir, dass auch der zweite Konvent aus
Delegierten besteht, die Zivilcourage haben, die nicht von
den Sprechzetteln zum Beispiel der Ministerialbürokratie
oder einer so genannten Taskforce leben. Mit Verlaub, die
Bundesregierung hat ihren Beauftragten und dieses Parla-
ment hat einen eigenen Delegierten. Das sollte man auch
auseinander halten. Das heißt, im neuen Konvent und
auch in der Arbeit dieses Konvents gilt für uns Parlamen-
tarier der Satz: „Tua res agitur.“ Es geht um die künftige
Rolle der nationalen Parlamente und des Europäischen
Parlaments.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Uwe Hiksch
20453
Wir sind ja wohl einig: Ein Zurück zum alten Verfah-
ren, auch wenn einige Regierungen das noch wünschen
mögen, wird es nicht geben. Es wird keine Europapolitik
hinter verschlossenen Türen mehr geben, keine Europa-
politik mit Geheimpapieren, die am Ende doch nicht ge-
heim bleiben, und keine Europapolitik, die in der bekann-
ten Nacht der langen Messer endet, in der die Kondition
und manchmal auch die Penetranz eines Regierungschefs,
der auf Einstimmigkeit pocht, den Ausschlag gibt. Wir
wollen ein offenes, transparentes Verfahren. Wir wollen
diesen zweiten Konvent ohne Einschränkung.
Nun lassen Sie mich noch sagen, warum ich optimis-
tisch bin.
Als meine Fraktion vor sechseinhalb Jahren eine Charta
mit einem Grundrechtskatalog, bestehend aus Menschen-
und Bürgerrechten, vorschlug, wodurch deutlich werden
sollte, dass Europa eben nicht nur eine Währungsunion,
nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch
eine Wertegemeinschaft ist, da gab es auf der damaligen
Regierungsbank in Bonn Stirnrunzeln.
– Ich spreche von den Personen auf der damaligen
Regierungsbank, die sehr kritisch dreinblickten, als ich
damals, im Juni 1995, einen Verfassungskonvent
vorgeschlagen habe, der maßgeblich durch nationale Ab-
geordnete und Europaabgeordnete gegründet werden
sollte.
Was haben wir seitdem erlebt? 1999 kam es unter deut-
scher Präsidentschaft in Köln zum Durchbruch. Das sollte
uns gemeinsam optimistisch stimmen, wenn wir in die
Zukunft schauen.
Wir sollten uns nicht scheuen, den Begriff „Verfas-
sung“ zu verwenden. Herr Kollege Schäuble, ein Verfas-
sungsvertrag versperrt eine Möglichkeit des Inkraftset-
zens der schon fertig gestellten Grundrechtecharta, die ich
wichtig finde. Dabei geht es um den obersten Gesetzge-
ber in Europa, nämlich um die Menschen in Europa. Ein
Verfassungsvertrag versperrt das Inkraftsetzen der Grund-
rechte-Charta durch ein EU-weites Referendum. Das In-
kraftsetzen der Grundrechte-Charta sollten wir nicht
durch die Wahl eines Begriffs wie Verfassungsvertrag
ausschließen. Ich setze mich weiterhin für ein Referen-
dum über diese Charta ein.
Ich will Sie nun auf die bemerkenswerten Beschlüsse
von vorgestern in Paris hinweisen.
Herr Kollege Schäuble, die deutsch-französische Zusam-
menarbeit muss ein europäischer Motor bleiben; deshalb
sollte man die von beiden Regierungen gefasste Ent-
schließung von Nantes durchaus erwähnen. Aber man
sollte auch das, was etwa 70 Parlamentarier vorgestern
einstimmig verabschiedet haben, würdigen. Ich zitiere
aus diesem Beschluss:
Wir begrüßen die am 7. und 8. Dezember 2000 in
Nizza getroffene Entscheidung der Staats- und Re-
gierungschefs, eine breite und offene Debatte über
die Zukunft der Europäischen Union anzuregen. Eine
erfolgreiche Erweiterung setzt eine ehrgeizige Re-
form der Verträge voraus, die der erweiterten Union
eine legitimere und für die Bürger transparentere
Architektur verleiht und sie mit neuen Instrumenten
zur Verfolgung der großen politischen, wirtschaft-
lichen und sozialen Ziele ausstattet. In einer multi-
polaren Welt muss sich Europa die Mittel an die
Hand geben, sein wirtschaftliches und soziales Mo-
dell auf der Grundlage der humanistischen Werte und
des Fortschritts zu festigen. Es muss auch den Weg
einer stärkeren politischen Integration unter tatsäch-
licher Achtung der nationalen Identitäten weiter ver-
folgen und eine Sicherheits- und Verteidigungspoli-
tik im Dienste des Friedens betreiben.
Diese Erklärung, die es wert ist, besonders beachtet zu
werden, ist eine wichtige Grundlage für die Verhandlun-
gen der Regierungen in Laeken.
Vom Außenminister, der den Europaausschuss nachher
weiter informieren wird, haben wir eben gehört, dass es
Probleme geben wird.
Ich bin der Meinung, dass wir in der Bundesregierung
einen guten Partner für die Verhandlungen in Laeken
haben, der hoffentlich wird durchsetzen können, was wir
uns, Herr Kollege Haussmann, etwa im Hinblick auf das
Präsidium vorstellen. Im Präsidium dürfen die Regie-
rungsvertreter keine Mehrheit haben. Wenn es schon eine
Troikavertretung gibt, dann möge ihr – diesen Vorschlag
habe ich von spanischer Seite gehört – nur ein Mitglied
des jeweiligen EU-Präsidiums angehören. Dann hätten
wir – das alte Modell zugrunde gelegt – vier Regie-
rungsvertreter und zwei Parlamentarier. Das führt lo-
gischerweise dazu, dass die Mehrheit des Konvents, näm-
lich die nationalen Abgeordneten und die Europaabge-
ordneten, je zwei Vizepräsidenten erhalten. Dadurch
könnte auch der Minderheitenschutz im Präsidium
beachtet werden. Dafür sollten wir und unsere Unter-
händler uns gemeinsam einsetzen. Dieses Präsidium darf
kein Oberkonvent werden,
das die Arbeit des Konvents entwertet.
Ich würde gerne noch zu vielen Einzelheiten des Pa-
piers, das Herr Kollege Schäuble und Herr Bocklet
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. Jürgen Meyer
20454
präsentiert haben, Stellung nehmen. Die Zeit reicht leider
nicht aus. In Laeken geht es aber auch darum, den Kon-
vent, also mehr Parlament in Europa, durchzusetzen. Wir
stehen nicht vor einer Revolution; aber wir stehen vor
einer wichtigen europapolitischen Weichenstellung, die
das Leben der Menschen und auch die Arbeit in diesem
Parlament prägen wird.
Der Europagedanke kann nur durch die Parlamente le-
bendig gehalten und wieder in die Köpfe und die Herzen
der Menschen getragen werden. Das sollten die Regie-
rungschefs bedenken, die noch zögern, das Konventsmo-
dell, wie wir es wollen, zu akzeptieren. Denen sollten wir
gemeinsam mit den Parlamentariern aus den 14 anderen
Mitgliedstaaten und aus allen Kandidatenländern zurufen:
Wir, die Parlamentarier, sind die erste Gewalt in unseren
Ländern!
Schönen Dank.
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dr. Theodor
Waigel.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Vor 2 000 Jahren hat Kaiser
Augustus nicht nur den Befehl zur Volkszählung ausge-
geben, sondern er hat damals die erste europäische Wäh-
rung geschaffen, den Aureus. Wenn heute, 2 000 Jahre
später, der letzte Akt stattfindet, um eine gemeinsame eu-
ropäische Währung zu etablieren, ist dies ganz sicher ein
großes historisches Ereignis.
Dr. Franz Thoma, der frühere Leiter der Wirtschafts-
abteilung der „Süddeutschen Zeitung“, hat mir 1992 vor
der Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht ins
Stammbuch geschrieben, er hoffe doch wohl, dass mir bei
der Unterzeichnung eines solchen Vertrages die Hand zit-
tern werde, weil er dem Projekt skeptisch gegenüber
stand. Es ist wahr, die Hand hat mir gezittert, aber weil der
Füllfederhalter so groß war. Ich habe ihn mitgenommen,
Hans-Dietrich Genscher übrigens auch.
– Sie können beruhigt sein, es ist erlaubt worden.
Meine Damen und Herren, obwohl es keine einfachen
zehn Jahre waren, würde ich mich in allen Punkten noch
einmal genauso entscheiden wie bei der Vertragsunter-
zeichnung, bei der Ratifikation und beim Eintritt in die
dritte Stufe.
Ich will weniger darüber reden, wie viel Umtauschkosten
und Transaktionskosten eingespart werden und was alles
besser wird. Ich will anstelle einer Antwort die Frage
stellen: Was wäre eigentlich in den letzten Monaten und
in den letzten Jahren gewesen, wenn es den Euro nicht
gegeben hätte?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es spricht wenig dafür,
dass die D-Mark ohne Währungsunion gegenüber dem
Dollar heute höher notieren würde.
Wenn man am Schluss des Wachstumszuges und am
Schluss des Konsolidierungszuges wäre, stünde man
wahrscheinlich nicht unter Aufwertungsdruck. Zum
Zweiten spricht nichts, aber auch gar nichts dafür, dass
Europas Wirtschaft ohne den Euro heute besser dastünde.
Aber es spricht vieles – ich meine, alles – dafür, dass
wir in den letzten 24 Monaten ohne den Euro innerhalb
Europas starke Währungsturbulenzen erlebt hätten mit
katastrophalen Ergebnissen auch für die deutsche Volks-
wirtschaft.
Ich bin überzeugt, das EWS gäbe es nicht mehr und es
hätte eine Achterbahnfahrt der Devisenkurse gegeben mit
verhängnisvollen Konsequenzen für unseren Export, für
die Fremdenverkehrswirtschaft, für die Landwirtschaft
und für viele andere.
Die damaligen Währungen haben schon in der Zeit
vom 1. Mai 1998 bis zum Jahr 1999, als der Euro noch
nicht bestand, aber die Währungen aneinander geknüpft
wurden, ihre Feuerprobe bestanden. Es gab im Gegensatz
zu den Befürchtungen vieler Notenbanker keinen Druck
unter den europäischen Währungen. Der Konvergenz-
prozess, nämlich eine Währung nicht zu dekretieren, son-
dern die Währungen mit den Kriterien des Stabilitätspakts
zehn Jahre aufeinander zu zu bewegen, hat sich als rich-
tig erwiesen.
Meine Damen und Herren, nach den Terroranschlägen
am 11. September war nicht zuletzt der Euro mit ein An-
ker der Stabilität im Weltwährungssystem. Wann wäre
früher so etwas möglich gewesen wie am Montag, dem
17. September dieses Jahres, als der Präsident der Federal
Reserve, Alan Greenspan, und der Präsident der EZB,
Wim Duisenberg, sich kurzschlossen und vor Öffnung der
Finanzmärkte und der Börsen miteinander eine Zins-
senkung verabredeten, für genügend Liquidität sorgten
und damit eine Katastrophe auf den Finanzmärkten ver-
hinderten? Auch das ist ein Erfolg des Euro.
Es ist ja interessant, dass manche Skeptiker nicht nur
im Inland, sondern auch im Ausland ihre Meinung etwas
revidiert haben.
Ich habe einmal vor ein paar Jahren Alan Greenspan
gefragt: Wie hast du vor zehn Jahren über den Euro
gedacht, wie hast du vor fünf Jahren über den Euro
gedacht und wie denkst du jetzt über den Euro? Da lachte
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. Jürgen Meyer
20455
er und sagte: Vor zehn Jahren „zero or below zero“, vor
fünf Jahren hielt ich es ebenfalls für aussichtslos und jetzt
bin ich froh, dass es neben dem Dollar diese zweite Welt-
reservewährung zur Stabilisierung des Weltwährungs-
systems gibt.
Auch ein deutsch-amerikanischer Wirtschaftsprofes-
sor, Rudi Dornbusch, hat erst vor wenigen Tagen in der
„FAZ“ geschrieben:
Die Einführung des Euro ist eine herausragende
Erfolgsgeschichte – dies müssen selbst die größten
Skeptiker inzwischen anerkennen.
Im kommenden Jahrzehnt werden wir sehen, wie
sich die positive Wirkung der neuen Währung als
Motor der Integration und struktureller Reformen
voll entfaltet.
Eine nicht uninteressante Meinung aus der amerikani-
schen Volkswirtschaft.
Dem Literaten Martin Walser nehme ich seine Weh-
mutsgedanken beim Abschied von der D-Mark ab. Der
Helaba-erfahrene Weltökonom Hankel aber hat eine Weh-
mutskonjunktur für seine Talkshows ausgenützt, ohne in
der Substanz etwas dazu beizutragen.
Heute erleben wir bei Diskussionen hierüber viel Be-
geisterung bei der Jugend, Nachdenklichkeit bei den Äl-
teren und Sorgen und Ablehnung bei den Alten. Ich kann
das verstehen, die D-Mark gehört zur deutschen Iden-
tität in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts.
Dahinter stecken Leistung, Stabilität, Anerkennung und
Stolz. Die D-Mark gab es 1948, bevor Theodor Heuss
zum ersten Bundespräsidenten gewählt wurde.
– Beim Namen von Theodor Heuss sollten Sie sich, lieber
Kollege Haussmann, wirklich auf Ihren Platz begeben.
Ihre Unaufmerksamkeit während meiner Rede hält mich
davon ab, Ihren Beitrag bei dieser Geschichte darzu-
stellen. Außerdem halten Sie den Außenminister davon
ab, der Debatte voll zu folgen. Sie sollten auch keine Sil-
berlinge vom Außenminister Joseph Fischer entgegen-
nehmen.
Das ist in der Bibel schon einmal schlecht ausgegangen.
Es gab also die D-Mark vor der Wahl des ersten Bun-
deskanzlers, bevor wir 1952 die erste Goldmedaille mit
zwei schweren Männern aus Grainau, Ostler und Nieberl,
erlebten und bevor wir 1954 mit einer sehr respektablen
Mannschaft Fußballweltmeister wurden.
Übrigens wurden die ersten D-Mark-Noten nicht in
Deutschland gedruckt, sondern sie kamen in 4 000 Kisten
aus den Vereinigten Staaten von Amerika, während all
das, was jetzt ausgegeben wird, in Deutschland geprägt
bzw. gedruckt wurde.
Meine Damen und Herren, ich gebe ehrlich zu, dass,
als ich 1989 das erste Mal den Delors-Bericht las, auch
dunkle Gedanken über mich kamen und ich mir überlegte:
Nein, lieber später, vielleicht im nächsten Jahrhundert;
das werden die anderen doch nicht schaffen und das wer-
den die Deutschen nie akzeptieren. Ich stelle fest, es war
ein schwerer Weg dahin – „extra et intra muros“ –, ohne
dass ich da ins Detail gehen möchte.
– Das weiß ich. Das kommt später, Herr Fischer. Ich hoffe,
Sie kaufen es dann auch.
Der Euro hat Europa jedenfalls verändert. Vor zehn und
mehr Jahren gab es Inflationsraten von 5 bis 10 Prozent.
Gegenwärtig gibt es wieder eine Inflationsrate von 2 Pro-
zent, nachdem sie im ersten Jahr nach Einführung des
Euro bei 1 Prozent lag. Konsolidierung der Staatsfinan-
zen: Vor zehn bis zwölf Jahren gab es 4, 6 oder 8 Prozent
Neuverschuldung. Heute liegt sie überall unter 3 Prozent;
allerdings liegen die Deutschen relativ nahe an diesem
Wert. Die Zinsen betrugen in manchen Ländern 15 oder
20 Prozent. Heute gibt es in Europa ein Zinsrekordtief,
wie es in Europa noch nie da war.
Privatisierung und Deregulierung waren früher
Fremdwörter. Heute gehören sie zu den Strukturelemen-
ten überall in Europa. Der Handel entwickelt sich dyna-
misch und die Kapitalverflechtungen sind positiv. Die Fi-
nanzmärkte wachsen zusammen und die Börsen arbeiten
zusammen. Die Wettbewerbsfähigkeit Europas ist gestie-
gen. Es gibt eine Transparenz der Preise und auch der
Anlagemöglichkeiten.
Man muss sich einmal fragen: Wo stünde Europa heute
mit 15 oder 20 verschiedenen Währungen in einer globa-
lisierten Welt? Der Euro ist die Antwort Europas, die ge-
rade noch rechtzeitig gekommen ist, auf eine globalisierte
Welt.
Wir haben damals versprochen, dass der Euro so stabil
wie die D-Mark werden wird. Das ist auch der Fall. Ent-
scheidend dafür sind die innere Stabilität und die Kauf-
kraft, die gewährleistet sind.
Ich will aber auch zum Außenwert ein paar Bemer-
kungen machen, weil das die Diskussion belebt. Der Start
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. TheodorWaigel
20456
war glänzend. Wir könnten jetzt zwar sagen: Helmut Kohl
und ich haben bei einem Kurs von 1,18 zum Dollar über-
geben und für all das, was sich danach entwickelt hat, sind
Sie verantwortlich.
Eigentlich hätten Sie es verdient, dass man mit Ihnen so
umgeht. Aber so einfach will ich es mir trotzdem nicht
machen. Der Verlust von etwa 20 Prozent – und zum Teil
darüber – gegenüber dem Dollar wirft dennoch Fragen
auf, obwohl der gewogene Gesamtverlust – gegenüber
allen Währungen in der Welt – weniger als 10 Prozent
beträgt.
Man muss den Deutschen eines sagen: 1984/85 hat sich
niemand darüber aufgeregt, dass man 3,45 DM für einen
Dollar bezahlt hat.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mir Lobpreisungen ge-
sungen wurden, als man 1995 nur noch 1,36 DM für ei-
nen Dollar aufwenden musste.
Trotzdem gilt: Der Außenwert ist Reflex der Volks-
wirtschaft, der wirtschaftlichen Erwartungen und auch
der politischen Erwartungen. Für den gesunkenen Außen-
wert gibt es eine Reihe von Gründen: die großartige
Performance der Volkswirtschaft in den Vereinigten
Staaten mit ihrem hohen Wachstum, das Job-Wunder,
hohe Zinsen und hohe Gewinne. Aber es liegt auf der
anderen Seite ein Glaubwürdigkeitsdefizit vor – dem
müssen sich die deutsche Regierung und die deutsche
Volkswirtschaft stellen –, das auf den ausbleibenden
Strukturreformen
und auf den Zweifeln am Stabilitätspakt beruht, die nicht
jetzt, aber am Anfang Ihrer Regierungszeit geäußert wur-
den. Es ist schon ein schlimmer Fehler des Bundeskanz-
lers – er ist nicht anwesend, weil er einen ausländischen
Gast hat; das respektiere ich natürlich –, zu sagen, er sei
wegen des Exports eher an einer schwächeren als an einer
stärkeren Währung interessiert.
Der Bundeskanzler, der Präsident, der Außenminister und
der Finanzminister haben unaufhörlich ihr Interesse an ei-
ner starken Währung auszudrücken,
weil alles andere eine Katastrophe auf den Finanzmärkten
auslöst.
Frau Staatssekretärin, ich wäre Ihnen dankbar, wenn
Sie Ihrem Minister, der ebenfalls nicht anwesend sein
kann, ein paar Dinge übermitteln würden.
Zum Staatsdefizit. Wir hatten 1998 ein Staatsdefizit
von 1,8 Prozent, umgerechnet nach der neuen Statistik:
von 2,1 Prozent. Wir erwarten heuer ein Staatsdefizit von
2,5 Prozent – möglicherweise mehr – und im Jahre 2002
kann es sein, dass es darüber und nicht darunter liegt. Frau
Staatssekretärin, wo bleibt die Konsolidierungsleistung
des Staates als Ganzes, wenn Sie heute mit einem Staats-
defizit von 2,5 bis 2,7 Prozent rechnen müssen, damit
nahe an die Kriterien von Maastricht herankommen,
während wir 1998 unter sehr viel schwierigeren Bedin-
gungen bei 2,0 bis 2,1 Prozent lagen?
Der Stabilitätspakt verlangt von uns entschiedene Leis-
tungen. Klar war auch, dass man bei 2,0 Prozent nicht
stehen bleiben kann. Wenn man auf Ausgleich und auf
Überschuss hinarbeiten will, müssen noch weitere gewal-
tige Konsolidierungsleistungen erbracht werden. Das
Prinzip der Nachhaltigkeit würde zum ersten Mal in einen
völkerrechtlichen Vertrag einbezogen.
Weil ich hier nicht so oft das Wort ergreife, will ich ein
paar Bemerkungen zu den Rempeleien meines Nachnach-
folgers, Herrn Eichel, machen, was die Konsolidierung
anbelangt.
Herr Eichel hat immer die gleiche Marotte. Dass man eine
Zeit lang von der Erblast spricht, ist okay – geschenkt.
Das haben wir auch gemacht. Aber langsam wird es ein
bisschen peinlich.
– Herr Fischer, das habe ich gerade gesagt.
– Herr Fischer, jetzt seien Sie aber ruhig. Sie sollen hier
überhaupt keine Zurufe machen, sondern ruhig zuhören.
– Nein, Oberlehrer bin ich nicht. Das war Herr Vogel, aber
selbst dem haben Sie es nicht zugerufen.
Also, nun komme ich zum Thema Nettokreditauf-
nahme. Wir haben das konjunkturabhängige Defizit von
1990 bis 1998 von 4,5 auf 0,5 Prozent reduziert. Das ist
keine Berechnung des damaligen Finanzministeriums,
sondern eine der Bundesbank von vor eineinhalb Jahren.
Wir haben im Haushalt drei Jahre hintereinander weniger
ausgegeben als zuvor. Der Ausgabenanteil des Bundes am
BIP lag mit 12 Prozent wesentlich unter dem des Jah-
res 1982 mit über 15 Prozent. Von 1990 bis 1997 haben
wir einen Ausgaben- und Subventionsabbau in der Größen-
ordnung von 125 Milliarden DM durchgeführt. Anders
wären die Dinge nicht zu finanzieren gewesen.
Nun wedelt Herr Eichel immer mit Statistiken herum.
Ich habe zwar nicht so schöne Kurven wie er
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. TheodorWaigel
20457
– das können Sie auslegen, wie Sie wollen –, aber ein paar
Zahlen habe ich parat. Das Wachstum des realen Brutto-
inlandsprodukts von 1989 bis 1998 betrug in Deutschland
2,4 Prozent, in der EU 2,1 Prozent und in der OECD
2,4 Prozent. Auch von 1983 bis 1988 und von 1970 bis
1982 lag es bei 2,4 Prozent.
Die Preisstabilität war in Deutschland von 1989 bis
1998 mit 2,5 Prozent etwas höher als von 1983 bis 1988.
Damals betrug sie 1,5 Prozent. Das war auch eine großar-
tige Leistung von Gerhard Stoltenberg. Von 1970 bis 1982
betrug sie 5,1 Prozent.
Jetzt komme ich zur Beschäftigung. Von 1989 bis
1998 gab es in Deutschland und in der EU einen Zuwachs
von 0,2 Prozent. Wir liegen also genau im Schnitt. Von
1983 bis 1988 waren es 0,4 Prozent, in den Jahren 1970
bis 1982 waren es 0,1 Prozent.
Nun zu den Investitionen. In den Jahren 1989 bis 1998
betrugen sie in Deutschland 2,2 Prozent und in der EU
2,1 Prozent. Von 1983 bis 1988 waren es 3,8 Prozent, von
1970 bis 1982 0,5 Prozent.
– Das ist keine Kosmetik. Das sind offizielle Zahlen. –
Wir liegen damit sehr gut im Schnitt.
Nur, meine Damen und Herren, im Gegensatz zu den
anderen Ländern haben wir jedes Jahr zwischen 6,2 und
6,7 Prozent des BIP für die deutsche Einheit ausgegeben.
Von 1990 bis 1998 haben wir dafür 1 500 Milliarden DM
aufgewendet, davon 80 Prozent der Bund. Sie können die
Schulden ruhig beziffern. Aber ein Gebot des Anstands
wäre es, hier oder da zu sagen, warum die Schulden ent-
standen sind und für welche Investitionen in Deutschland
wir sie benutzt haben.
Übrigens sind dies nicht meine Zahlen, sondern die des
RWI, das sie in einer Studie selbst erarbeitet hat. Auch
hätte ich nichts dagegen gehabt, wenn sich Hessen damals
etwas stärker an den Kosten der Wiedervereinigung betei-
ligt hätte. Wir wären gern bereit gewesen, bis 1998 noch
stärker zu konsolidieren. Aber wir haben im Bundesrat
nicht eine Blockade vorgefunden.
Wir hätten eine Steuerreform mit besserer Berücksichti-
gung des Mittelstandes schon zum 1. Januar 1998 haben
können.
Im Gegensatz zu allen anderen Ländern, die Struktur-
reformen durchführten, die den Arbeitsmarkt dereguliert
haben, wurden in Deutschland die notwendigen, schwer
durchgesetzten Reformen der Regierung Helmut Kohl
sogar noch zurückgenommen. Dann haben Sie noch
„draufgesetzt“. Das hat kein anderes Land gemacht. Das
ist der Grund für die Wachstumsschwäche und für die
hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland. Das haben Sie min-
destens zur Hälfte zu vertreten. Die andere Hälfte – das
gebe ich gerne zu – sind die Kosten der Einheit, die Sie
auch heute noch tragen müssen. Aber um die eine Hälfte
der Verantwortung kommen Sie nicht herum.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass der
Euro Potenzial hat. Er ist nicht nur eine wichtige Emis-
sionswährung, sondern er wird nach dem Dollar zur Welt-
reservewährung. Die Akzeptanz auf den Kapitalmärk-
ten, die Transparenz der Produkte und der integrierte
Finanzmarkt sind gegeben.
Zwei Szenarien sind für die Zukunft vorstellbar: Ent-
weder die Vereinigten Staaten von Amerika knüpfen ganz
schnell wieder an ihre unglaubliche Wachstumsstärke An-
fang der 90er-Jahre an und kommen bald aus der Rezes-
sion heraus, während bei uns nichts passiert – dann wird
der Dollar sehr stark sein und der Euro eher schwächer –,
oder wir ergreifen unsere Chance, führen Strukturrefor-
men durch, verbessern die Steuerreform und machen mit
der Konsolidierung weiter, dann ist der Euro in der Lage,
sein Potenzial auszunutzen.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Es ist schön,
dass der Internationale Karlspreis zu Aachen an den
Euro vergeben wird, an Werteinheit und Wertmaßstab.
Aber ohne Menschen wäre diese Erfolgsstory nicht mög-
lich gewesen.
Ich erinnere mich an folgende Menschen, die man bei
einer solchen Preisverleihung auch hätte nennen kön-
nen: Carlo Ciampi, Pierre Bérégovoy, Jean Arthuis,
Dominique Strauss-Kahn, Wim Kok und Gerrit Zalm,
Phillipe Maystadt, Jean-Claude Juncker, Nigel Wicks von
Großbritannien, der das Ganze ausgezeichnet mit vorbe-
reitet hat, Baron Lamfalussy und – ohne ihn wäre das al-
les nicht passiert – Helmut Kohl.
Ich vergesse dabei auch nicht die großartige Arbeit
der Bundesbankpräsidenten Karl-Otto Pöhl, Professor
Schlesinger und Professor Tietmeyer und das, was ausge-
zeichnete Staatssekretäre wie Horst Köhler, Gerd Haller,
Jürgen Stark und Ministerialdirektor Klaus Regling ge-
leistet haben.
Lassen Sie mich mit einem Zitat schließen, das mich
immer wieder bewegt hat. 1946 hat der Gründer der
CSU,Dr. Josef Müller, der wenige Monate zuvor noch im
Konzentrationslager in Flossenbürg an der Seite von
Canaris und Bonhoeffer – sie sind dem Inferno leider
nicht entkommen, aber er hat es geschafft – gewesen war,
aus der Erfahrung dieses Lebens gesagt: Länder mit einer
gemeinsamen Währung führen nie Krieg gegeneinander.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. TheodorWaigel
20458
Wir brauchen eine gemeinsame Währung, damit nie mehr
Krieg in Europa entsteht.
– Bestreiten Sie das?
Aber Sie denken an
Ihre Redezeit, Herr Kollege.
Ich bin gleich fer-
tig, Frau Präsidentin.
Ich habe daran gedacht, als ich vor ein paar Wochen
in Niederbronn den Kriegsgräberfriedhof besucht habe,
auf dem 15 000 Deutsche, darunter mein Bruder, liegen.
Wäre es früher möglich gewesen, so zu handeln, wie es
Dr. Josef Müller und andere vorgeschlagen haben, was
wäre Deutschland und einer ganzen Generation erspart
geblieben!
Darum ist der Euro ein Beitrag zu mehr Wettbewerb,
Transparenz, Produktivität für die Finanzmärkte, eine
Antwort auf die Globalisierung, aber auch ein Beitrag
zum Frieden in Europa. Etwas Besseres an Investitionen
können wir für unsere Kinder und für die nächsten Gene-
rationen nicht tätigen.
Vielen Dank.
Zu einem Satz erteile
ich das Wort dem Herrn Außenminister, wage aber zu-
gleich die Bemerkung, dass es in der Tat so ist, dass sich
die Mitglieder auf der Regierungsbank eigentlich nicht
durch irgendwelche Zwischenrufe in die Debatte ein-
schalten sollten. Aber jetzt haben Sie das Wort.
Ich möchte, da der Kollege Waigel zu Recht all diejenigen
erwähnt hat, die wesentlich zur Einführung des Euros
beigetragen haben, und ihnen gedankt hat, auch ihm ganz
persönlich für seine Leistung danken.
Nun erteile ich dem
Kollegen Christian Sterzing für Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Kollege Waigel hat sicherlich Recht, wenn er auch vor
Laeken darauf hinweist, dass uns mit der Einführung des
Euro Anfang Januar ein entscheidendes Datum des euro-
päischen Integrationsprozesses bevorsteht und dass dies
eine der historischen Entwicklungslinien ist, vor der die-
ser Gipfel in Laeken stattfindet.
Aber es gibt noch einige andere historische Linien, die
wichtig sind, um Laeken richtig einzuschätzen. Neben der
Euro-Einführung ist es auch die Erweiterung.Wir wer-
den in Laeken einen weiteren deutlichen Schritt in Rich-
tung „big bang“, also eines Beitritts von bis zu zehn Staa-
ten, erleben. Dies ist ein weiteres Ereignis, das Europa
mittel- und langfristig ganz wesentlich verändern wird.
Eine dritte Linie, die für Laeken wichtig ist, ist der
11. September mit seinen politischen Folgen; denn wir
alle ahnen zumindest, in welcher umfänglichen Form die-
ses Datum nicht nur die Kräftekonstellationen in Europa,
sondern auf dem ganzen Erdball verändern wird. Die Fol-
gen sind im Einzelnen noch nicht absehbar. Vieles ist noch
im Fluss. Aber die Diskussion über die Rolle Europas in
der Welt ist nach dem 11. September nötiger denn je. Wir
werden sicherlich, sowohl was die Gemeinsame Außen-
und Sicherheitspolitik als auch die gemeinsame Innen-
und Justizpolitik anbelangt, neue Entwicklungslinien
konsequenter und energischer zu verfolgen haben, als das
bisher der Fall gewesen ist.
Das Vierte ist schließlich ein Stichwort, das auch schon
Erwähnung gefunden hat: Globalisierung. Die Kommis-
sion wird in Laeken einen Zwischenbericht über die Fol-
gen der Globalisierung für Europa vorlegen. Hier wird
auch deutlich, dass sich Europa in dieser neuen, globalen
Gemengelage neu definieren, seine Rolle neu finden
muss.
Vor diesem Hintergrund findet Laeken statt. Insofern
besteht meines Erachtens durchaus die Chance, dass die-
ser Gipfel auch zu einem historischen Gipfel wird. Aus
unserer Sicht geht es natürlich sehr stark darum, die Zu-
kunftserklärung von Nizza in konkrete Schritte umzuset-
zen. Dies ist insbesondere mit dem Stichwort „Konvent“
verbunden. Dabei müssen wir immer deutlich machen,
dass wir mit dem Konvent mehr verbinden als nur die
Gründung eines neuen Gremiums innerhalb Europas, dass
wir mit der Arbeit des Konvents auch mehr verbinden als
eine rein institutionelle Debatte. Bei diesem Konvent wird
es vor den skizzierten Entwicklungslinien in Europa und
in der Welt um die politische Rolle und um die politische
Struktur Europas in der Zukunft gehen.
Aus vielen Mängeln und Defiziten bisheriger Regie-
rungskonferenzen ziehen wir nun mit der Gründung des
Konvents eine Konsequenz. Wir können von dieser Stelle
her nur alle Regierungs- und Staatschefs in Laeken ermu-
tigen, entschlossen und konsequent diesen neuen Weg zu
gehen; denn der Konvent mit seiner überwiegend parla-
mentarischen Bedeutung stellt eine neue Qualität in der
Fortentwicklung des Integrationsprozesses dar.
Die wesentlichen Stichworte – sie wurden in den ver-
schiedenen Variationen hier schon von den Kolleginnen
und Kollegen angesprochen – sind zum einen Parlamen-
tarisierung, also Demokratisierung des Integrationspro-
zesses insbesondere durch einen Parlamentarisierungs-
prozess, aber auch Politisierung und Entnationalisierung
der Debatte.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. TheodorWaigel
20459
Es geht in Laeken selbst noch nicht um die zukünftige
Gestalt der Europäischen Union, es geht noch nicht um
das institutionelle Design der Gremien und Institutionen
in der Europäischen Union. Es geht aber um ein Gre-
mium, das für die Zukunftsdebatte ein ganz entschei-
dendes Instrument sein muss und in dem sich diese Zu-
kunftsdebatte herauskristallisieren soll. Insofern geht es
natürlich auch um ein Gremium, in dem sich – so hoffen
wir – ein Stück der Zukunft Europas realisieren wird. Das
heißt, das, was wir in den nächsten Jahren mit den Zielen
im Rahmen der Diskussion über den Integrationsprozess
und über die zukünftige Gestalt Europas verbinden, muss
in diesem Konvent wiedererkennbar sein. Nur dann wird
er glaubwürdig, nur dann gewinnt er die für die anste-
hende Zukunftsdebatte notwendige Legitimität.
Der Konvent kann zu einem großen Erfolg führen,
wenn in Laeken die entsprechenden Voraussetzungen
dafür geschaffen werden. Eine Voraussetzung ist ein um-
fangreiches und starkes Mandat, ohne dass man den Kon-
vent damit überfrachtet. Eine zweite ist, Vertrauen in das
Selbstorganisationsrecht dieses Gremiums zu haben,
damit dort auf Dauer eine Dynamik gewährleistet wird,
die angesichts der globalen Entwicklungen unbedingt
notwendig ist, um in dieser Zukunftsdebatte zu konkreten
Ergebnissen und zu weiterführenden Schritten zu kom-
men. Das bedeutet schließlich, dass in Laeken davon ab-
gesehen werden muss, diesen Konvent in irgendeiner
Weise zu gängeln, ihn in seinen Verfahren und in seinen
Debatten in irgendeiner Weise zu beschränken.
Das wären Voraussetzungen, die in den nächsten Mo-
naten und Jahren dazu führen würden, dass die Debatten
über die Zukunft Europas nicht nur auf europäischer
Ebene, sondern auch auf nationaler Ebene an Intensität
und an Breite zunehmen. Wir, die Parteien in der Bundes-
republik, haben unsere Hausaufgaben bereits gemacht.
Das Papier von der CDU/CSU, das in dieser Debatte si-
cherlich eine Rolle spielt, sowie der Leitantrag auf dem
Nürnberger Parteitag der SPD wurden schon erwähnt. In
aller Bescheidenheit möchte ich darauf hinweisen, dass
auch die Grünen in Europa ein gemeinsames, trans-
nationales Papier entwickelt haben,
in dem die Zukunftsvorstellungen über dieses Europa
im Einzelnen und fern von nationalen Verengungen und
Sichtweisen dargelegt werden. Das sind erste wichtige
Schritte. Eine gute Zukunftsdebatte bleibt aber an die er-
wähnten Voraussetzungen geknüpft.
Zwei Bemerkungen zum Schluss, die uns als deutsches
Parlament in besonderer Weise betreffen. Erste Bemer-
kung: Die Zukunftsdebatte dürfen wir nicht allein dem
Konvent überlassen. Sie darf aber auch nicht allein den
europäischen Parlamentariern oder den nationalen Parla-
menten überlassen bleiben. Vielmehr müssen wir alles
daransetzen – dafür müssen wir noch Ideen und Initiati-
ven entwickeln –, breite Teile der Zivilgesellschaft, Orga-
nisationen, Verbände und Institutionen, an dieser Debatte
zu beteiligen. Insofern ist die Europäisierung der nationa-
len Debatten eine Aufgabe, die sich uns stellt.
Zweite Bemerkung: Nach der Zukunftserklärung in
Nizza wird im Konvent die Debatte über die Rolle der na-
tionalen Parlamente in der europäischen Architektur ei-
nen der Schwerpunkte bilden. Gerade wir hier im Parla-
ment werden in der nächsten Zeit sehr intensiv über die
Rolle der europäischen Politik in unserer nationalen Ar-
chitektur diskutieren müssen. Denn nur wenn uns dies ge-
lingt, wird diese Debatte auch in der europäischen Öf-
fentlichkeit in Zukunft eine Rolle spielen.
Vielen Dank.
Ich erteile nun der
Kollegin Monika Heubaum für die SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die gewaltfreie Konflikt-
regelung ist eine der Grundlagen der europäischen Inte-
grationspolitik. Die Europäische Union verfügt wie kaum
ein anderer internationaler Akteur über ein breites Spek-
trum an Erfahrungen und Instrumenten zur Konflikt-
prävention. Der Europäische Rat von Göteborg hat ein
Europäisches Programm zur Verhütung gewaltsamer
Konflikte verabschiedet, das die Politik der EU noch
wirksamer an dem Ziel ausrichtet, gewaltfreie Konflikt-
regelungen zu fördern.
Beim Aufbau ziviler Fähigkeiten sind Fortschritte er-
zielt worden. Die Europäische Union wird so beispiels-
weise ihr für das Jahr 2003 gesetztes Ziel erreichen, bis zu
5 000 Polizisten für internationale Einsätze bereitstellen
zu können. Die Schaffung der permanenten Strukturen der
europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist
ebenfalls auf gutem Wege. Das Politische und Sicher-
heitspolitische Komitee sowie der EU-Militärausschuss
haben ihre Arbeit aufgenommen. Der EU-Militärstab so-
wie die Einheit zur Planung und Durchführung von Poli-
zeieinsätzen sind eingerichtet worden.
Die Arbeiten am militärischen Leitziel sind auf allen
Gebieten vorangebracht worden. Damit ist das Ziel er-
reichbar, bis zum Jahr 2003 bis zu 60 000 Soldaten für
Einsätze zur Konfliktprävention und Krisenbewältigung
entsenden zu können. Der Europäische Rat in Laeken
wird den Zeitpunkt der Einsatzfähigkeit beschließen. Wir
erwarten natürlich, dass die parlamentarische Kontrolle
der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
durch die nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten
und durch das Europäische Parlament gewährleistet wird.
Dass die Außen- und Sicherheitspolitik Gewicht hat
und Erfolge bringt, wird an zahlreichen Beispielen deut-
lich. Die Balkanregion ist ein Schwerpunkt außen- und
sicherheitspolitischer Aktivitäten der Europäischen
Union und ihrer Mitgliedstaaten. Die Eröffnung der euro-
päischen Perspektive für die Länder der Region hat Fort-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Christian Sterzing
20460
schritte in allen gesellschaftlichen Bereichen bewirkt.
Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen der EU
konnten bereits mit Kroatien und Mazedonien abgeschlos-
sen werden. Die EU hat aufgrund ihrer Vermittlungstä-
tigkeit wesentlichen Anteil daran, dass das Abkommen
von Ohrid zustande gekommen ist, das die Basis der in-
ternationalen Friedensmissionen in Mazedonien bildet.
Der Stabilitätspakt für Südosteuropa hat sich bewährt.
Wir unterstützen ausdrücklich die Stabilisierungs- und As-
soziierungsziele der Europäischen Union auf dem Balkan
und befürworten die Fortsetzung des Stabilitätspaktes.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mir ist an die-
ser Stelle die Feststellung wichtig, dass die Weiterent-
wicklung und Vertiefung der europäischen Zusammenar-
beit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gegen
niemanden gerichtet ist und auch niemanden ausschließen
soll. Es geht uns nicht um die Schaffung einer Sicher-
heitsstruktur neben der NATO, sondern um die Stärkung
des europäischen Pfeilers innerhalb der NATO. Sicher-
heitspolitik in Europa wird auch in Zukunft nur gemein-
sam mit unseren Verbündeten auf der anderen Seite des
Atlantiks möglich sein. Unser Verhältnis zu den USAund
Kanada wird durch den Ausbau einer gemeinsamen euro-
päischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gestärkt.
Ein starkes Europa ist ein guter, verlässlicher Partner in
der transatlantischen Zusammenarbeit.
Unsere Anstrengungen und die Politik für ein gemein-
sames Sicherheits- und Verteidigungsbündnis richten sich
nicht gegen andere Staaten. Um dies zu unterstreichen,
werden wir gemeinsame Strategien mit Russland und der
Ukraine umsetzen und die strategische Partnerschaft mit
Russland vertiefen. Die Einbindung Russlands in die An-
titerrorallianz ist auch ein Ergebnis erfolgreicher europä-
ischer Politik. Die Terroranschläge in New York haben
uns deutlich gezeigt, dass die westliche Welt vor einer
neuen politischen Herausforderung steht. Der europä-
ische Aktionsplan zur Bekämpfung des Terrorismus wird
konsequent umgesetzt. Die Europäische Union hat eine
umfassende diplomatische Initiative entfaltet, um eine
möglichst globale Koalition gegen den Terrorismus vo-
ranzubringen.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt ausdrücklich
die Ziele der Europäischen Union für die Zukunft Afgha-
nistans. Afghanistan hat jetzt eine neue Regierung, die
dem Terrorismus die Basis entziehen kann und die dem
Land humanitäre und wirtschaftliche Entwicklungsper-
spektiven eröffnet. Die Bundesregierung hat mit der Auf-
stockung ihrer Hilfsprogramme für Afghanistan die Be-
reitstellung zusätzlicher Mittel seitens der EU
angestoßen. Deutschland und die EU setzen sich im hu-
manitären Bereich verstärkt für die Bevölkerung der an
Afghanistan grenzenden Länder sowie für die afghani-
schen Flüchtlinge ein.
All dies bedeutet, dass die Weiterentwicklung der eu-
ropäischen Integration und die Antworten der Europä-
ischen Union auf die aktuellen internationalen Herausfor-
derungen eine Stärkung der gemeinsamen europäischen
Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik dringend
notwendig machen.
Auch in dieser Hinsicht birgt somit der Europäische
Rat von Laeken große Herausforderungen, aber auch sehr
große Chancen. Ich bin mir sicher, dass bei den Verhand-
lungspartnern der Bundesregierung diese Problematik in
sehr guten Händen ist.
Danke.
Nun hat das Wort der
Kollege Jörg-Otto Spiller für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Waigel,
es war erfrischend, Sie wieder einmal im Plenum zu
hören.
Ich bestätige Ihnen sehr gerne: Sie sind doch immer noch
der Alte.
Das gilt allerdings leider auch für Ihren Umgang mit
Zahlen, der immer etwas eigentümlich war.
Sie haben beispielsweise vorhin gesagt, unter Ihrer Ver-
antwortung seien die Ausgaben des Bundes zeitweilig
rückläufig gewesen.
Dafür gab es einen einzigen Grund. Das Kindergeld ist
von einer Sozialleistung, die als Ausgabe verbucht wurde,
zu einer Steuermindereinnahme umgestellt worden, zu ei-
ner Rückerstattung von Steuern, die als Mindereinnahme
bei den Einnahmen verbucht wurde. In der Sache hatte
sich gar nichts geändert.
Dann haben Sie auch so hübsch darauf hingewiesen, es
habe doch unter Ihrer Verantwortung am Schluss ein nied-
rigeres Defizit gegeben.
Das war allerdings leider wirklich nur das gesamtstaat-
liche Defizit,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Monika Heubaum
20461
während das von Ihnen zu verantwortende Defizit des
Bundes deutlich höher war. Ich sage Ihnen Folgendes:
1998 betrug das Haushaltsdefizit des Bundes – Sie hatten
den Haushalt eingebracht – 56,6 Milliarden DM. In die-
sem Jahr hatten wir ein Defizit von 43,8 Milliarden DM.
Das ist deutlich weniger.
– Sie allerdings waren für den Bund zuständig.
In einem Punkt, Herr Kollege Waigel, haben wir immer
mit Ihnen voll übereingestimmt: Das war die Grundhal-
tung zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.
Das möchte ich Ihnen noch einmal bestätigen. Auch wir
erkennen an, dass Sie hier Ihre Verdienste haben.
Die Einführung des Eurobargeldes steht unmittelbar be-
vor: der letzte Schritt der Europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion. Die Zustimmung zum Euro in Deutsch-
land ist zweifellos gestiegen. Aber ich weiß: Vielen Deut-
schen fällt der Abschied von der D-Mark schwer. Es gibt
Währungen mit einer erheblich längeren Geschichte als
die Mark. Die Mark kommt, wenn man großzügig rechnet,
allenfalls auf 130 Jahre. Wenn man etwas genauer hin-
schaut, muss man anerkennen: Es hat nach der Reichs-
gründung mehrere Jahre gedauert, bis dann tatsächlich die
Mark zu 100 Pfennigen die alten Währungen der Einzel-
staaten ersetzt hatte, zum Beispiel in Preußen den Taler zu
30 Groschen oder in Bayern den Gulden zu 60 Kreuzern.
Aber für die meisten Deutschen ist die Mark nicht nur
einfach die vertraute Währung. Die D-Mark hatte lange
Zeit geradezu eine identitätsstiftende Kraft. In den West-
zonen war die Währungsreform von 1948 die eigentliche
Wegmarke für den Neuanfang und Wiederaufbau nach der
deutschen Katastrophe von 1933 bis 1945. Die D-Mark
war eher da als die Bundesrepublik.
40 Jahre später, als in Ostdeutschland der Ruf nach
Freiheit und gleichen Lebenschancen die SED-Diktatur
hinwegfegte, mündete das Aufbegehren in die Formel:
„Kommt die D-Mark nicht zu uns, dann kommen wir zur
D-Mark.“
Bei der Wiedervereinigung ging mit der Währungsunion
vom Juli 1990 wiederum die Einführung der D-Mark der
Staatswerdung voraus.
Woher kommt dieser große Ansehen, dieses große Ver-
trauen, das sich die D-Mark in Deutschland und außerhalb
Deutschlands in den letzten 50 Jahren erwerben konnte?
Ich glaube, es gibt einen wesentlichen Grund dafür: der
breite Konsens darüber, der in Deutschland über Jahr-
zehnte vorhanden war, dass eine starke Wirtschaft eine
stabile Währung als eine ihrer wesentlichen Grundlagen
braucht und dass man eine starke, dynamische Wirtschaft
nicht auf eine schwache Währung stützen kann. Diese
Stabilitätskultur, die nicht nur dem Geist von ein paar
Technokraten in Frankfurt oder in Bonn entsprang, son-
dern die von breiten Schichten der Bevölkerung getragen
worden ist – auch im Konflikt immer wieder durchgehal-
ten und bestätigt wurde –, war eine der wesentlichen
Grundlagen für die erfolgreiche Währungsgeschichte der
letzten 50 Jahre in Deutschland.
Es gab darüber hinaus kluge institutionelle Vorkehrun-
gen, nämlich die Konstruktion der Bundesbank, unabhän-
gig von Parlament und Regierung und versehen mit dem
ausdrücklichen Verbot, den Staat durch Kredite zu finan-
zieren. Genau diese Konstruktion ist geradezu modellhaft
bei der Konstruktion der Europäischen Zentralbank im
Rahmen der Konstruktion der Europäischen Wirtschafts-
und Währungsunion übernommen worden.
Unsere Partner in der Union haben – was durchaus
nicht selbstverständlich war – diese Grundlagen über-
nommen. Die Europäische Zentralbank ist sozusagen
spiegelbildlich zur Deutschen Bundesbank konstruiert,
unabhängig von Regierung und Parlament – auch dem
Europäischen Parlament – und mit dem ausdrücklichen
Verbot versehen, an Mitgliedstaaten oder der Europä-
ischen Union Kredite zu geben, sowie ausdrücklich da-
rauf verpflichtet, das Ziel der inneren Geldwertstabilität
als erste Richtschnur der Geldpolitik zu betrachten und zu
würdigen.
So komme ich zu dem erfreulichen Schluss: Wenn
am Ende dieses Jahres die D-Mark aufhört, eine eigene
Währung zu sein, dann ist die Geschichte der Währung
eigentlich nicht zu Ende. Das Erbe der D-Mark, der
Geist und die Konstruktion von Stabilität gehen in die
neue Währungsunion und die neue Währung Euro über.
Darauf können wir alle bauen.
Lassen Sie mich gleichwohl eine kritische Bemerkung
machen: Sowohl die Europäische Zentralbank als auch
die Kreditinstitute in Europa müssen akzeptieren: Ein
Markt und eine Währung bedeuten auch, dass man bin-
nenmarktähnliche Verhältnisse braucht. Es kann nicht
sein, dass sich der Zahlungsverkehr von einem Land in ein
anderes, das auch der Währungsunion angehört, wieder
über Briefe, in die man Bargeld steckt, vollzieht. Wir
brauchen einen Zahlungsverkehr, der billig und schnell ist
und innerhalb der Europäischen Währungsunion genauso
funktioniert wie innerhalb eines Landes.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 14/7788, 14/7789, 14/7790 und
14/7791 zur federführenden Beratung an den Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur
Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Innen-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Jörg-Otto Spiller
20462
ausschuss, den Rechtsausschuss, den Finanzausschuss,
den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Aus-
schuss für Arbeit und Sozialordnung sowie den Verteidi-
gungsausschuss zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksa-
che 14/7781 soll mit Ausnahme des Innenausschusses an
dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabi-
nettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur Errich-
tung einerVerkehrsinfrastruktur-Finanzierungs-Gesell-
schaft zur Finanzierung von Bundesverkehrswegen.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
der Bundesregierung hat der Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen, Herr Bodewig. Bitte sehr.
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Bundeskabinett hat heute den Be-
schluss über ein Verkehrsinfrastruktur-Finanzierungs-Ge-
setz gefasst. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen
wir die Gründung einer verkehrsträgerübergreifenden Fi-
nanzierungsgesellschaft für die Finanzierung von Bun-
desverkehrswegen auf den parlamentarischen Weg brin-
gen. Ich bin mit dem Bundesminister der Finanzen in der
Bewertung einig, dass die bisherige alleinige Finanzie-
rung der Verkehrsinfrastruktur über den allgemeinen
Haushalt an ihre Grenzen stößt. Hier muss umgesteuert
und der Einstieg in eine zusätzliche Nutzerfinanzierung
gefunden werden.
Die Einführung der LKW-Maut ab 2003 bietet eine
gute Gelegenheit, die Einführung einer Nutzerfinanzie-
rung der Verkehrswege mit einer neuen Finan-
zierungsstruktur zu verbinden. Kernelement dabei ist die
Gründung einer Finanzierungsgesellschaft des Bundes in
der Rechtsform einer GmbH zur Finanzierung von Bun-
desverkehrswegen bei Schienen, Straßen und Wasser-
straßen. Der Gesetzentwurf zielt darauf ab, das Ge-
bührenaufkommen aus der LKW-Maut weitgehend der
Finanzierungsgesellschaft für Zwecke der Verkehrsinfra-
struktur zukommen zu lassen. Dadurch entsteht neben
dem Haushalt eine zweite Säule der Verkehrsinfrastruk-
turfinanzierung.
Darüber hinaus erreichen wir ein weiteres politisch
wichtiges Ziel: Für den Gebührenzahler übernimmt die
Finanzierungsgesellschaft die Garantie, dass das von ihm
gezahlte Nutzerentgelt der Verkehrsinfrastruktur wieder
zugute kommt. Damit stärken wir die Akzeptanz der
LKW-Maut bei der transportierenden wie bei der verla-
denden Wirtschaft. Außerdem greifen wir mit dem Ge-
setzentwurf auch einen Vorschlag der Unabhängigen
Regierungskommission „Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
rung“, der so genannten Pällmann-Kommission, auf, die
im letzten Jahr innovative Strukturen für die Finanzierung
der Verkehrsinfrastruktur empfohlen hat.
Die Gesellschaft soll zunächst vorrangig die Maßnah-
men des Anti-Stau-Programms für die Verkehrsträger
Straße, Schiene und Wasserstraße finanzieren. Dies wird
im Zeitraum von 2003 bis 2007 zu Investitionen mit ei-
nem Gesamtvolumen von rund 7,4Milliarden DM führen.
Eine spätere Erweiterung des Tätigkeitsbereiches der Ge-
sellschaft über das Anti-Stau-Programm hinaus auf die
Finanzierung zukünftiger Infrastrukturvorhaben des Bun-
des ist ebenfalls vorgesehen. Der Gesetzentwurf enthält
einen entsprechenden Spielraum und ermöglicht die
Durchführung weiterer verkehrsträgerübergreifender
Programme aus einem Guss.
Neben diesen Finanzierungsaufgaben können der Ge-
sellschaft auch Aufgaben im Zusammenhang mit der Ent-
wicklung und der Betreuung von Betreibermodellen über-
tragen werden. Damit entsprechen wir übrigens einem seit
längerem geäußerten Anliegen der Bauwirtschaft, die ihre
Leistungsfähigkeit bei der privatwirtschaftlichen Finan-
zierung und Erstellung sowie beim Betrieb von Verkehrs-
infrastrukturprojekten stärker als bisher unter Beweis
stellen will.
Ganz besonders wichtig sind mir folgende Aspekte des
Gesetzentwurfs: Die Gesellschaft wird von Anfang an
schlank organisiert und sich auf wenige Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter beschränken. Wir schaffen also keine
neue Bürokratie, sondern eine effiziente Struktur, die nach
privatwirtschaftlichen Prinzipien arbeiten wird.
Die Einnahmen und Ausgaben der Gesellschaft sind
transparent und unterliegen der Kontrolle der Bundes-
regierung und des Parlaments. Die Prinzipien von Haus-
haltsklarheit und Haushaltswahrheit bleiben uneinge-
schränkt gewahrt.
Die Gesellschaft wird Ende nächsten Jahres arbeits-
fähig sein, das heißt rechtzeitig, bevor die Einnahmen aus
der Erhebung der LKW-Maut zu erwarten sind. Die hierzu
erforderlichen Schritte sind eingeleitet.
Lassen Sie mich zusammenfassend noch einmal die
Ziele verdeutlichen, die wir mit dem Gesetz erreichen
wollen: Wir schaffen neben dem Haushalt, der zur Finan-
zierung aber auch zukünftig unentbehrlich bleibt, eine
zweite Säule der Finanzierung von Infrastruktur. Wir rea-
lisieren innovative Finanzierungsformen. Wir stärken die
Infrastrukturinvestitionen. Wir erhöhen die Akzeptanz für
die LKW-Maut.
Meine Damen und
Herren, ich bitte Sie, zunächst Fragen zu diesem The-
menbereich zu stellen. Dazu liegt mir zunächst eine Wort-
meldung der Kollegin Ostrowski vor. Bitte sehr.
Herr Minister Bodewig,
Sie haben gesagt, dass die Gebühren, die Sie einnehmen
werden, weitgehend zur Finanzierung der Verkehrsinfra-
struktur verwendet werden sollen. Abgesehen davon, dass
ich hoffe, dass die neu zu gründende Gesellschaft besser
arbeiten wird als die Bundesbaugesellschaft, habe ich fol-
gende konkrete Fragen: Mit wie vielen Einnahmen jähr-
lich rechnen Sie? Zu welchen Anteilen wollen Sie diese
Einnahmen zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur
im Bereich der Straße, im Bereich der Schiene usw.
verwenden? Ihnen dürfte ja bekannt sein, dass es da zwei
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs
20463
Extreme gibt. Die einen sagen, alles müsse in die Straße
investiert werden, und die anderen sagen – richtigerweise,
denke ich –, es müsse mehr in die Schiene und in die Was-
serstraßen investiert werden.
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Ich beantworte die Fragen gern, ob-
wohl sie nicht direkt im Zusammenhang mit der
Verkehrsinfrastruktur-Finanzierungs-Gesellschaft stehen,
sondern mehr den Gesetzentwurf zur LKW-Maut betref-
fen, den wir morgen in zweiter und dritter Beratung be-
handeln werden.
Die Gesellschaft hat das Ziel, das Anti-Stau-Programm
umzusetzen. Im Anti-Stau-Programm ist der folgende
Schlüssel festgelegt: die Hälfte für den Straßenbau, zwei
Sechstel für den Schienenbereich und ein Sechstel für
Wasserstraßeninfrastruktur. Das entspricht unserem
Grundverständnis von einem integrierten Verkehrskon-
zept. Aufgrund der darin festgelegten Aufteilung werden
sich bestimmte Wirkungen einstellen.
Das Aufkommen bestimmt sich durch die Höhe der
Maut. Grundlage hierfür ist ein Gutachten, das zwei un-
abhängige Untersuchungsinstitute erarbeitet haben.
Maßgeblich sind die Wegekosten in Höhe von 6,6 Milli-
arden DM. Davon müssen die pauschale Ablösung der
Euro-Vignette und die Kosten des Betriebs und der Kon-
trolle abgezogen werden. Die verbleibende Mehrein-
nahme wird dann über die Verkehrsinfrastruktur-Finan-
zierungs-Gesellschaft den einzelnen Verkehrsprojekten
zugeführt.
Nun hat das Wort zu
einer Frage der Kollege Weis, SPD-Fraktion.
Herr Minister
Bodewig, für den Autobahn- und Bundesstraßenbau gibt
es die Auftragsverwaltung der Bundesländer. Besteht in
dieser Frage ein Konflikt mit der geplanten Verkehrsin-
frastruktur-Finanzierungs-Gesellschaft? Wie ist die Hal-
tung der Bundesländer zu der geplanten Gesellschaft?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Die Haltung der Bundesländer ist aus-
gesprochen positiv. Die Verkehrsinfrastruktur-Finanzie-
rungs-Gesellschaft soll nicht die Auftragsverwaltung der
Länder ersetzen. Es gibt in Deutschland ja ohnehin zwei
unterschiedliche Systeme. In den alten Bundesländern
gibt es die Auftragsverwaltung über die Landesbehörden
für Straßenbau oder ähnliche Formen. In den neuen Bun-
desländern sind es überwiegend VDE-Projekte, die über
die DEGES, eine eigene Projektträgergesellschaft, abge-
wickelt werden. Die Auftragsverwaltung der Länder wird
also nicht infrage gestellt; im Gegenteil. Die Gesellschaft
wird eine ganz schlanke Konstruktion haben und wird bei
der Realisierung in jedem Fall die Auftragsverwaltung der
Länder in Anspruch nehmen müssen, sodass deren Tätig-
keit gefordert ist, wie das auch in der Vergangenheit der
Fall war.
Nun hat die Kollegin
Blank eine Frage.
Herr Minister, wird es
aufgrund des Gesetzentwurfs, der ja eindeutig eine Quer-
subventionierung vorsieht, Probleme mit den einzelnen
Verkehrsträgern geben? Warum betrachten Sie in diesem
Gesetzentwurf den LKW-Verkehr eigentlich als Ihren
Hauptfeind, obwohl doch 80 Prozent der Güter über die
Straße befördert werden?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Frau Kollegin Blank, ich denke nicht in
Kategorien wie Feindschaft, sondern in verkehrspoli-
tischen Konzepten. Wir haben nun einmal hoch belastete
Autobahnen; Sie alle machen täglich die Erfahrung, dass
auf der linken Spur ein LKW hinter dem anderen fährt.
Wir alle haben ein Interesse daran, dass vor dem Hinter-
grund des Verkehrszuwachses, der prognostiziert und von
mir zu Beginn des Jahres im Verkehrsbericht 2000 be-
schrieben worden ist – im Vergleich zum Basisjahr 1997
ist allein im Güterverkehr ein Anstieg um 64 Prozent zu
erwarten –, alle Maßnahmen ergriffen werden, um jeden
Verkehrsträger optimal aufzustellen. Dazu gehören auch
die Vermeidung, Verlagerung und Steuerung des Ver-
kehrs. Ein Teil der Verlagerungswirkung wird hiermit er-
zielt.
Nun fragt der Kollege
Schmidt. Bitte sehr.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Minister Bodewig, würden Sie noch
einmal ausführen, worin der Vorteil einer Verkehrsin-
frastruktur-Finanzierungs-Gesellschaft gegenüber einer
ebenso denkbaren Haushaltsfinanzierung liegt, bei der die
LKW-Maut ganz normal in den Bundeshaushalt flösse
und von dort aus möglicherweise in die Verkehrsinfra-
struktur reinvestiert würde?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Wir haben heute schon Haushalts-
ansätze für die einzelnen Verkehrsträger, die übrigens von
dieser Bundesregierung und den sie tragenden Koaliti-
onsfraktionen mit dem „Zukunftsinvestitionsprogramm
Schiene und Straße“ deutlich verstärkt wurden. Wir wis-
sen aber, dass dies nicht ausreichen wird, um die zurzeit
bei den einzelnen Verkehrsträgern vorhandenen Engpässe
zu beseitigen. Insofern handelt es sich hier um On-Top-
Mittel. Um dies deutlich zu machen und um Akzeptanz
beim Transportgewerbe zu werben, wollen wir dies in ei-
ner eigenen Verkehrsinfrastruktur-Finanzierungs-Gesell-
schaft dokumentieren. Damit wird sichergestellt, dass es
sich um zusätzliche Maßnahmen für bestimmte, definierte
Projekte im Rahmen des Anti-Stau-Programms handelt.
Es fragt die Kollegin
Karin Rehbock-Zureich.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Christine Ostrowski
20464
Herr Minister, im-
mer wieder wird der Vorwurf erhoben, hier könne ein
Schattenhaushalt entstehen. Ihre Einschätzung?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Nein, ein Schattenhaushalt ist definitiv
ausgeschlossen. Es war ja Ziel dieser Bundesregierung,
die Schattenhaushalte der vergangenen Regierung auf-
zulösen, was uns erfreulicherweise auch gelungen ist.
Deswegen wird die Verkehrsinfrastruktur-Finanzierungs-
Gesellschaft aus Mauteinnahmen und anderen Ge-
bühren – das gilt etwa für die Wasserstraßen – gespeist. Es
ist keine Kreditfinanzierung vorgesehen. Insofern stellt
dieses Instrument das genaue Gegenteil eines Schatten-
haushalts dar.
Nun kommt die Kol-
legin Blank noch einmal zu Wort.
Herr Minister, Sie haben
meine Frage nach der Quersubventionierung nicht beant-
wortet. Vielleicht können Sie das gleich noch tun.
Meine weitere Frage: Die Pällmann-Kommission hat
eine größere Finanzierungsgesellschaft mit Management-
aufgaben usw. vorgeschlagen, während Ihre Finanzie-
rungsgesellschaft ein bisschen zu kurz springt und sich ei-
gentlich auf eine reine Inkassofunktion beschränkt.
Halten Sie es nicht auch für günstiger, wenn diese Finan-
zierungsgesellschaft analog dem Vorschlag der Pällmann-
Kommission mehr Vollmachten hätte?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Ihre Einschätzung ist nicht ganz richtig.
In der Begründung des Gesetzes sind zwei Funktionen
dargestellt: zum einen die Finanzierung von Projekten wie
das Anti-Stau-Programm, zum anderen die Realisierung
von Betreibermodellen und die entsprechende Finanzie-
rungsfunktion. Das sind schon sehr weitgehende Aufga-
ben; das ist weit mehr als das, was Sie beschrieben haben.
Hierüber werden wir aber bei der Beratung des Gesetzes
noch gemeinsam sehr intensiv diskutieren.
Sie sprachen von Quersubventionierung. Ich spreche
von Querfinanzierung. Es geht darum, dass wir die ver-
kehrspolitischen Herausforderungen insgesamt bewälti-
gen müssen. Das prognostizierte Verkehrswachstum lässt
sich nicht allein auf einen Verkehrsträger projizieren. Viel-
mehr werden Verlagerungen von einem Verkehrsträger auf
den anderen erforderlich sein. Dies ist Teil eines integrier-
ten Verkehrskonzepts, wie wir es im Deutschen Bundestag
anhand des Verkehrsberichts 2000 diskutiert haben. Inso-
weit ist es richtig, von Querfinanzierung, nicht aber von
Quersubventionierung zu sprechen; denn es geht um die
Bewältigung eines enormen Zuwachses an Güterverkehr.
Uns allen ist klar, was es bedeutet, wenn innerhalb ei-
nes kurzen Zeitraumes von 15 Jahren der heutige Verkehr
um zwei Drittel zunimmt. Das heißt, wir brauchen alle
Verkehrsträger. Deswegen ist dies Teil eines integrierten
Verkehrskonzeptes.
Die Pällmann-Kommission hat vorgeschlagen, Finan-
zierungsgesellschaften für jeden Verkehrsträger zu bilden.
Das halten wir für zu aufwendig. Wir wollen eben keine
Mammutbürokratie, sondern effiziente Steuerungseinhei-
ten, die dokumentieren sollen, dass diese Mittel in die
Verkehrsinfrastruktur zurückfließen, darüber hinaus aber
auch die eben genannte Funktion, Betreibermodelle zu fi-
nanzieren, umsetzen.
Nun fragt noch ein-
mal der Kollege Schmidt.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Minister, ich möchte das Stichwort der
Kollegin Renate Blank, die von der Quersubventionie-
rung sprach, noch einmal aufgreifen. Die Europäische
Kommission hat in ihrem am 12. September 2001 – also
vor wenigen Wochen – veröffentlichten neuen Weißbuch
zur Verkehrspolitik ausdrücklich festgehalten, dass die
Wiederverwendung von Wegekosteneinnahmen für meh-
rere oder alle Verkehrsträger gerade keine Quersubven-
tionierung, sondern einen aus europäischer Sicht nicht nur
zulässigen, sondern sogar wünschenswerten Ansatz dar-
stellt. Sehen Sie von daher bei der möglichen Umsetzung
bzw. Überführung des Weißbuches in künftige Richtlinien
ein Risiko, dass der deutsche Weg hinsichtlich der Kom-
patibilität mit der europäischen Verkehrspolitik zu Pro-
blemen führt, oder entspricht das eher dem, was die Kom-
mission selbst vorschlägt?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Die LKW-Maut wie auch die Verkehrsin-
frastruktur-Finanzierungs-Gesellschaft sind eine Vorweg-
nahme der europäischen Idee, die im Weißbuch zur Ver-
kehrspolitik wiedergegeben ist. Das heißt, wir bewegen uns
eigentlich schon in einer Richtung, über die in Europa zur-
zeit diskutiert wird. Die Kommission, aber auch erste Ge-
spräche etwa im informellen Rat haben eine sehr große Ak-
zeptanz auf europäischer Ebene deutlich erkennen lassen.
Wir stehen am Beginn eines europäischen Weges und
können hier in Deutschland schon einmal testen, ob die-
ser Weg funktioniert. Ich glaube, dass die Konstruktion,
gerade weil sie sich auf ganz wesentliche Funktionen be-
schränkt, erfolgreich sein wird.
Jetzt hat der Kollege
Dirk Niebel eine Frage.
Herr Minister, die rot-grüne
Bundesregierung hat mit der GEBB und Frau Fugmann-
Heesing in gewisser Weise bereits Erfahrungen hinsichtlich
solcher Gesellschaften gesammelt. Wie hoch veranschla-
gen Sie die Mittel, die der zukünftige Geschäftsführer die-
ser Gesellschaft aus den Mauteinnahmen verbrauchen
wird, und aus welcher Landesregierung wird er kommen?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001 20465
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Die Gesellschaft erhält jetzt ihre ge-
setzliche Grundlage. Bewerbungsgespräche werden noch
nicht geführt, Herr Niebel.
Nun hat Kollege
Reinhard Weis eine Frage.
Herr Minister,
die Verkehrsinfrastruktur-Finanzierungs-Gesellschaft soll
nicht hoheitliche Aufgaben bei der Vorbereitung und Um-
setzung von privatrechtlich finanzierten Verkehrsprojek-
ten übernehmen. Können Sie das bitte näher erläutern?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Es gibt unterschiedliche Vorstellungen,
etwa nach dem Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz,
aber auch Möglichkeiten, die wir mit dem Betreibermo-
dell im Rahmen des Investitionsbeschleunigungspro-
gramms „Bauen jetzt“ beschrieben haben. Danach ist der
sechsspurige Ausbau hoch belasteter Autobahnen vorge-
sehen, die im vordringlichen Bedarf sind, deren Ausbau
also notwendig ist, die aber sonst erst am Ende des Jahr-
zehnts im Rahmen der Finanzplanung realisiert werden
könnten. Dies muss vorbereitet werden. Dieses Betreiber-
modell sieht nicht nur vor, dass die Finanzierung durch
den LKW-Anteil aus der Maut gespeist wird, sondern
auch, dass gleichzeitig der Betrieb und der Erhaltungs-
aufwand im Rahmen eines konzeptionierten zeitlichen
Rahmens beschrieben werden. Die hierfür notwendigen
Ermittlungsarbeiten können teilweise von dieser Gesell-
schaft, die wir bilden wollen, mit geleistet werden. Das
wäre eine dieser nicht hoheitlichen Aufgaben, die die Ge-
sellschaft erfüllen kann.
Nun hat die Kollegin
Christine Ostrowski eine Frage.
Herr Minister, Sie sag-
ten vorhin meiner Kollegin Blank, dass es bei den Ein-
nahmen aus der Maut und bei der Verkehrinfrastruktur-Fi-
nanzierungs-Gesellschaft, die diese Maut einnimmt und
klug wieder ausgeben soll, auch um die Verlagerung von
Güterverkehr auf andere Verkehrsträger als die Straße und
letzten Endes auch um die Vermeidung von Güterverkehr
geht. Daraus ergibt sich meine Frage: Wie hoch prognos-
tizieren Sie den Anteil des Verkehrs, der mithilfe der Ver-
kehrsinfrastruktur-Finanzierungs-Gesellschaft von der
Straße auf die Schiene oder auf Wasserstraßen verlagert
oder vielleicht auch gänzlich vermieden werden kann?
Außerdem möchte ich gerne wissen, woher Sie die Si-
cherheit nehmen, dass es wirklich so kommen wird.
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Über Sicherheit kann man immer treff-
lich streiten; deswegen haben wir Wissenschaftler. Ich
versuche, alle Ergebnisse durch wissenschaftliche Gut-
achten ermitteln zu lassen. Was das Schaffen von Sicher-
heit angeht, wären wir beide wahrscheinlich überfordert.
Diese Gutachten werden nach neuesten Methoden erstellt.
Ich will noch einmal darauf hinweisen: Die Festlegung
der Wegekosten ist kein „Wünsch dir was!“-Betrag, son-
dern eine Ermittlung dessen, was an realen Wegekosten
durch den Schwerlastverkehr ab 12 Tonnen entsteht. Das
ist die Grundlage für die Festlegung der Maut, die dann
nach der Anzahl der Achsen und dem Emissionsverhalten
der Fahrzeuge ausdifferenziert wird.
Unterschiedliche Güter haben unterschiedliche Verla-
gerungseffekte. Die Gutachter sind aber insgesamt zu
dem Ergebnis gekommen, dass sich die Verlagerung bei
einer Durchschnittsgebühr von 15 Cent etwa um 6 bis
7 Prozent zugunsten der Schiene auswirken wird.
Jetzt stellt die Kolle-
gin Karin Rehbock-Zureich eine Zusatzfrage.
Herr Minister, wie
bewerten betroffene Kreise und Fachverbände die Verab-
schiedung dieses Gesetzes? Wirkt sich dieses Gesetz auch
auf das Preisniveau aus?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Nein. Die Finanzierungsgesellschaft hat
eine ganz geringe Zahl an Beschäftigten; es geht um etwa
15 bis 20 Stellen. Deren Kosten sind im Rahmen eines Ge-
samtbetrages von rund 6,6 Milliarden Wegekosten mini-
mal. Wir haben im Haushalt rund 550000 DM oder
280000 Euro eingestellt. Der entsprechende Haushalts-
posten ist mit einem Sperrvermerk versehen. Durch Ent-
sperrung wird die Arbeit dieser Gesellschaft gewährleistet.
Der von mir genannte Betrag ist wahrlich überschaubar.
Das könnte sogar ein Beispiel für die private Wirtschaft
sein. Die Befürchtung, dass hiermit eine Mammutbüro-
kratie errichtet wird, die Millionen verschlingt, ist nicht
gerechtfertigt. Es geht um eine schlanke, effiziente Pro-
jektorganisation.
Nun fragt die Kolle-
gin Ina Lenke nach.
Herr Minister, Ihre Antwort war
sehr gut. Ich kann meine Frage daran anschließen: Wie
hoch werden die jährlichen Verwaltungskosten dieser Ge-
sellschaft – Sie haben eben von „schlank“ und „effizient“
gesprochen – sein?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Ein Anhaltspunkt sind diejenigen Be-
träge, die auf unserem Vorschlag hin durch den Haushalts-
ausschuss eingestellt worden sind: 280 000 Euro. Das
steht für die Anfangsphase zur Verfügung. Wir werden die
Entwicklung abwarten. Ich selbst gehe von einem Perso-
nalvolumen zwischen 15 und 20 Mitarbeitern aus. Davon
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 200120466
ausgehend kann man entsprechende Hochrechnungen an-
stellen. Gemessen am Gesamtvolumen der Wegekosten
von 6,6 Milliarden werden diese Kosten bei unter 1 Pro-
zent liegen. Da können Sie sicher sein.
Nun fragt der Kollege
Reinhard Weis nach.
Als Grundlage für
die Realisierung von Verkehrsprojekten, für die der Bund
verantwortlich ist, gibt es heute den Bundesverkehrswe-
geplan. Das Parlament besitzt dank des Haushaltsrechts
die Hoheit über die Auswahl derjenigen Projekte, die rea-
lisiert werden. Diese Hoheit ist eine Grundvoraussetzung
dafür, dass der Auftrag des Grundgesetzes, in ganz
Deutschland für eine vergleichbare Erschließung der In-
frastruktur zu sorgen, umgesetzt werden kann. Wie sollen
Projekte ausgewählt werden, die mithilfe der Verkehrsin-
frastruktur-Finanzierungs-Gesellschaft privat finanziert
werden? Wird der Bundesverkehrswegeplan auch da die
Grundlage sein oder kann es sich um Projekte handeln, die
nicht zum Bundesverkehrswegeplan gehören?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Voraussetzung für eine solche Ent-
scheidung ist, dass wir den Prozess der Erstellung des
neuen Bundesverkehrswegeplans bis 2003 zügig fortset-
zen.
Wir wissen, dass es Verzögerungen in denjenigen Be-
reichen gegeben hat, die nicht den Straßenbau betreffen.
Wie schon beschrieben, werden wir unsere Arbeit zügig
fortsetzen. Ich gehe daher davon aus, dass im Jahr 2003
ein neuer Bundesverkehrswegeplan vorhanden ist, der
sich vom alten dadurch unterscheidet, dass er realistischer
ist. Der Bundesverkehrswegeplan von 1992 war mit rund
100 Milliarden unterfinanziert. Beim Anti-Stau-Pro-
gramm geht es um die Erfüllung bestimmter Kriterien. Ich
erinnere an die Belastung durch 65 000 Kfz im Laufe von
24 Stunden. Das macht deutlich, dass es um hoch belas-
tete Strecken geht.
Es geht darum, dass zusätzlich zur Haushaltsfinan-
zierung ergänzende Nutzerfinanzierungen eingeführt und
hier wirklich notwendige On-Top-Mittel für strukturelle
Engpässe organisiert werden. Das muss man mit den je-
weiligen Programmerstellungen nach den Kriterien des
Anti-Stau-Programms, das ein Anhaltspunkt ist, sehr ge-
nau definieren. Sie wissen, dass in diesem Programm vor-
dringlicher und weiterer Bedarf enthalten ist.
Nun kommt die Kol-
legin Christine Ostrowski.
Herr Minister, nicht di-
rekt zu dieser Gesellschaft mit dem langen Namen, aber
damit in engem Zusammenhang stehend und von großem
öffentlichen Interesse: Die Firmen, die jetzt eine Maut
zahlen müssen, haben dadurch finanzielle Belastungen.
Nun hatten Sie einen Ausgleich ins Spiel gebracht und
sich öffentlich zum Beispiel zu einer Senkung der Kfz-
Steuer als Gegengewicht geäußert. In der Zwischenzeit ist
das wieder etwas zurückgenommen worden. Ich hätte
gerne gewusst: Wird denn nun ein Ausgleich kommen?
Auf welche Art und Weise wird ein Ausgleich kommen?
Was wird mit der Senkung der Kfz-Steuer? Sagen Sie bitte
etwas dazu.
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Sie wissen, dass die europäische
Fiskalharmonisierung nicht Gegenstand dieses Gesetz-
entwurfs ist. Deswegen möchte ich darauf hinweisen,
dass darüber eben in einem europäischen Kontext disku-
tiert werden muss. Ich selber habe immer deutlich ge-
macht, dass etwa die von mir ins Spiel gebrachte Mög-
lichkeit der Kfz-Steuerreduzierung auf das europäische
Mindestniveau der Kfz-Steuer deswegen interessant ist,
weil die Kraftfahrzeugsteuer in einem ganz hohen Maße
das Emissionsverhalten bewertet. Die LKW-Maut enthält
ebenfalls solche Kriterien, nämlich durch bestimmte
Schadstoffklassen, die entweder mit einem Bonus oder
mit einem Malus versehen werden. Auch hier müssen Sie
davon ausgehen, dass je nach Emissionsverhalten der
Fahrzeuge jeweils 25 Prozent Minus oder Plus aufgesat-
telt oder abgesenkt werden können. Damit wird sehr deut-
lich, dass genau diese Funktion der Kfz-Steuer in einem
europäischen Kontext entbehrlich ist.
Alle Fragen der Entlastung des Gewerbes müssen EU-
kompatibel sein. Zu Gesprächen darüber bin ich auch ge-
genüber dem Gewerbe gerne bereit. Die Entlastung des
Gewerbes ist aber nicht Gegenstand des jetzigen Gesetz-
entwurfs.
Nun fragt der Kollege
Albert Schmidt.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Minister, ich will noch einmal an die
Frage des Kollegen Reinhard Weis anknüpfen, der die
Aufmerksamkeit auf die Auswahl möglicher Verkehrspro-
jekte gerichtet hat, die aus den Einnahmen, die bei der Ver-
kehrsinfrastruktur-Finanzierungs-Gesellschaft – ein Wort,
das ähnlich lang ist wie Präimplantationsdiagnostik – auf-
laufen, realisiert werden sollen. Können wir als Parla-
mentarier davon ausgehen, dass das Parlament die
Planungshoheit für das, was prioritär in Deutschland
überhaupt an Verkehrsprojekten realisiert wird – sei es aus
der normalen Haushaltslinie, sei es aus der LKW-
Maut über die Verkehrsinfrastruktur-Finanzierungs-Ge-
sellschaft –, behält und dass die Rangreihung, wie sie sich
etwa im jeweils gültigen Bundesverkehrswegeplan nie-
derschlägt, die mögliche Auswahl von Projekten eigent-
lich vorfestlegt?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Für jedes ausgewählte Projekt ist eine
gesetzliche Grundlage erforderlich. Das heißt, wir können
keine Autobahn bauen, für die nicht Baurecht vorliegt
oder für die das Planfeststellungsverfahren noch nicht
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Bundesminister Kurt Bodewig
20467
vorhanden ist. Deswegen habe ich zu Beginn in Beant-
wortung der Frage des Kollegen Weis darauf hingewie-
sen, dass der Bundesverkehrswegeplan genau dieser An-
haltspunkt ist.
Wenn wir davon ausgehen, dass das Anti-Stau-Pro-
gramm sofort mit Beginn des Jahres 2003 in Angriff ge-
nommen werden kann, gibt es zwei Möglichkeiten. Ent-
weder werden Maßnahmen zeitlich vorgezogen, oder aber
man wählt für den zu erwartenden Fall, dass über das
Anti-Stau-Programm Finanzmittel für Infrastrukturaus-
bau vorhanden sind, zusätzliche Projekte aus.
Daran kann man erkennen: Es gibt eine gesetzliche
Grundlage. Ich sage gerne vor dem Parlament, dass es in
zweifacher Weise beteiligt ist. Zum einen gibt es Haus-
haltsklarheit und -wahrheit und das Parlament hat die not-
wendige Transparenz. Auf der anderen Seite ist für die
Auswahl der zu realisierenden Projekte im Parlament eine
gesetzliche Voraussetzung zu erarbeiten. Insofern denke
ich, dass die Interessen des Parlaments mit dieser Kon-
struktion im optimalen Sinne gewahrt sind.
Nun kommt die letzte
Frage von der Kollegin Renate Blank.
Herr Minister, seien Sie
doch bitte so nett und informieren Sie auch das Parlament,
nachdem Sie die Öffentlichkeit informiert haben, mit wel-
chen Einnahmen Sie für diese Verkehrsinfrastruktur-
Finanzierungs-Gesellschaft rechnen.
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Frau Blank, dies habe ich eben schon
getan, indem ich auf das Gutachten hingewiesen habe.
Das Gutachten ermittelt reale Wegekosten durch den
Schwerlastverkehr von 6,6 Milliarden DM. Ich glaube,
damit wurde Ihrem Anliegen entsprochen.
Ich will noch auf etwas anderes hinweisen: Es geht mir
im Kern darum, auch gegenüber dem Parlament deutlich
zu machen, dass es keine politische Festlegung der Maut
geben darf, weil dann sofort die Frage der Rechtsbestän-
digkeit einer solchen Entscheidung thematisiert würde. Es
geht um die realen Wegekosten. Hierbei bewegen wir uns
im Rahmen der Richtlinie von 1999 und nicht auf der Ba-
sis des Weißbuches der EU, wodurch zusätzlich externe
Kosten berücksichtigt werden könnten. Damit so etwas
möglich wird, muss erst das Weißbuch diskutiert werden,
danach müssen in europäischen Richtlinien ent-
sprechende Schlussfolgerungen daraus gezogen und im
Anschluss daran diese Richtlinien national umgesetzt
werden. Für diese Entwicklung benötigt man viel Zeit, so-
dass sich hierfür frühestens in der zweiten Hälfte dieses
Jahrzehnts eine Perspektive ergibt.
Insofern haben wir die realen Wegekosten ermitteln
lassen. Davon hängen die realen Belastungen ab. Daran,
dass ein LKW von 40 Tonnen die 60 000-fache Druckbe-
lastung eines PKW hat, können Sie erkennen, wie dieser
die Straßen in Deutschland abnutzt, nämlich 60 000 mal
so viel wie ein PKW. Ich glaube, das ist eine beein-
druckende Zahl.
Damit sind wir am
Ende der mitgeteilten Tagesordnung der Bundesregie-
rung. Wir danken dem Herrn Verkehrsminister für die Be-
antwortung der Fragen.
Gibt es weitere Fragen an die Bundesregierung? – Das
scheint nicht der Fall zu sein. Ich schließe die Befragung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Fragestunde
– Drucksache 14/7750 –
Zu Beginn der Fragestunde rufe ich wie vereinbart die
tes auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Staatsminister
Hans Martin Bury zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 28 auf:
Wurden in den Beratungen des Bundeskabinetts oder des Bun-
dessicherheitsrates durch ein Mitglied der Bundesregierung Vor-
behalte gegen die Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte
im Rahmen der Operation Enduring Freedom geäußert?
Herr Staatsminister, bitte sehr.
H
Frau Präsidentin, ich würde die Fragen des Kollegen
Weiß gerne im Zusammenhang beantworten.
Herr Kollege, sind Sie
einverstanden?
Ja.
Also nehmen wir die
Fragen 28 und 29 zusammen. Ich rufe auch die Frage 29
auf:
Wurde in den Beratungen des Bundeskabinetts oder des Bun-
dessicherheitsrates durch ein Mitglied der Bundesregierung eine
Unterbrechung des Einsatzes amerikanischer Luftstreitkräfte in
Afghanistan im Rahmen der Operation Enduring
Freedom gefordert bzw. empfohlen?
Bitte sehr.
H
Vielen Dank. – Herr Kollege Weiß, wie Sie wissen,
sind die Sitzungen der Bundesregierung vertraulich und
die Sitzungen des Bundessicherheitsrates geheim. Das
gilt insbesondere für in den Sitzungen geführte Diskus-
sionen.
Zusatzfrage, Herr
Kollege? – Bitte.
Herr
Staatsminister, ich habe diese Antwort erwartet. Da aber
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Bundesminister Kurt Bodewig
20468
die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, nach
ihrem Besuch Ende Oktober in Pakistan erklärt hat, dass
sie es für bedenkenswert und sogar wünschenswert halten
würde, wenn das Bombardement in Afghanistan durch
eine Feuerpause während des Fastenmonats Ramadan un-
te
Haben diese beiden Mitglieder
der Bundesregierung das, was sie öffentlich erklärt haben
und was in der Zeitung nachzulesen war, in irgendeiner
oder in gleich lautender Weise auch bei den Beratungen
des Bundeskabinetts und der Bundesregierung vor-
getragen?
H
Herr Kollege Weiß, wie ich Ihnen eben bereits in der
ersten Antwort auf Ihre Fragen gesagt habe, sind die
Beratungen des Bundeskabinetts vertraulich. In der
Geschäftsordnung der Bundesregierung ist aus gutem
Grund geregelt, dass sich diese Vertraulichkeit auch auf
die Ausführungen einzelner Bundesminister bezieht. Inso-
weit habe ich meiner ersten Antwort nichts hinzuzufügen.
Sie wollen noch ein-
mal nachbohren. Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr
Staatsminister, da einerseits die Beschlussfassung der
Bundesregierung bekannt ist – diese war im Parlament
auch Gegenstand einer Abstimmung – und andererseits
die Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung,
die dem entgegenstehen, bekannt sind, nämlich die For-
derung nach einer Feuerpause während des Fastenmonats
Ramadan, möchte ich Sie fragen: Wie gedenken denn der
Bundeskanzler und die Bundesregierung damit umzu-
gehen, dass einzelne Mitglieder der Bundesregierung in
der Öffentlichkeit eine andere Auffassung vertreten, als
sie offensichtlich der Beschlussfassung der Bundesregie-
rung entspricht?
H
Herr Kollege Weiß, die notwendigen Beschlüsse sind
einvernehmlich getroffen worden und werden von der
Bundesregierung geschlossen vertreten.
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Herr
Staatsminister, darf ich dann festhalten, dass sowohl die
Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul, als
auch der Staatsminister im Auswärtigen Amt Ludger
Volmer in der Öffentlichkeit Äußerungen vorgetragen
haben, die sie in dieser Weise in die Beratungen des Bun-
deskabinetts offenkundig nicht eingebracht haben?
H
Herr Kollege Weiß, ich kann Sie nicht daran hindern,
über die Beratungen des Bundeskabinetts zu spekulieren.
Mit Blick auf die bereits zweimal von mir angesprochene
Vertraulichkeit der Beratungen kann ich aber Ihre Speku-
lation über den Inhalt weder bestätigen noch dementieren.
Nun kommt die letzte
Zusatzfrage, die Ihnen noch zusteht. Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Nachdem
die entsprechenden Äußerungen, die ich nicht mehr zu
zitieren brauche, bekannt sind – insbesondere die Äuße-
rungen der Bundesministerin für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-
Zeul –, möchte ich fragen: Hat denn der Bundeskanzler in
irgendeiner Weise dieses Kabinettsmitglied für seine
Äußerungen abgemahnt oder ist er in irgendeiner Weise
darauf eingegangen, indem er widersprochen hat?
H
Herr Kollege Weiß, es bestand weder Anlass, Kabi-
nettsmitglieder abzumahnen, noch ist das der Stil des
Bundeskanzlers.
Nun will Herr von
Klaeden nachfragen. Bitte sehr.
Herr Staatsmi-
nister, wie findet denn der Herr Bundeskanzler diese
Äußerungen, die der Kollege Weiß zitiert hat?
H
Herr Kollege von Klaeden, es ist bekannt, dass der
Bundeskanzler zum Ausdruck gebracht hat, dass sich For-
derungen nach einer Einstellung der Luftoperationen als
falsch erwiesen haben, da das konsequente Vorgehen der
internationalen Allianz gegen den Terror die Vorausset-
zungen für humanitäre Hilfe und für den Wiederaufbau in
Afghanistan entscheidend mit geschaffen hat.
Ich rufe jetzt die üb-
rigen Fragen in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische Staatsse-
kretärin Dr. Edith Niehuis zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Ina Lenke auf:
Welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um junge
Männer zu informieren, dass es mit In-Kraft-Treten des Gesetzes zur
Neuausrichtung der Bundeswehr ab 1. Januar 2001 die Möglichkeit
geben wird, den Zivildienst in gleicher Weise wie den Wehrdienst in
zwei Etappen von 7 + 3 Monaten abzuleisten?
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, bitte.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
PeterWeiß
20469
D
Frau Präsidentin, die beiden Fragen hängen inhaltlich sehr
eng zusammen. Ich möchte sie gerne im Zusammenhang
beantworten.
Frau Lenke, ich
denke, Sie sind mit einer zusammenfassenden Antwort
einverstanden.
Ja, wenn ich dann vier Zusatzfragen
habe.
Die Spielregeln blei-
ben, wie sie sind.
Ich rufe also auch die Frage 2 der Kollegin Ina Lenke
auf:
In welcher Weise wirkt die Bundesregierung auf die Informa-tionspolitik der Bundeswehr und des Bundesamtes für den Zivil-dienst bezüglich der neugeschaffenen 7 + 3-Regelung für dieAbleistung von Wehr- und Zivildienst ein, um sicherzustellen,dass alle jungen Männer, die ihre Zukunft planen und über denAblauf ihres Wehr- und Zivildienstes entscheiden müssen, um-fassend über die Möglichkeit der etappenweisen Ableistung derDienstpflicht informiert sind?
Bitte sehr, Frau Staatssekretärin.
D
Der im Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der Bundes-
wehr ab Anfang 2002 neu vorgesehene abschnittsweise
Grundwehrdienst oder Zivildienst wird nicht in zwei, son-
dern in drei Abschnitten abgeleistet. Seitens des Bundes-
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
sind folgende Hinweise vorgesehen:
In die Informationsschrift „Wichtige Hinweise für an-
erkannte Kriegsdienstverweigerer“ wird ebenso wie in die
Internetseiten des Bundesministeriums für Familie, Seni-
oren, Frauen und Jugend und des Bundesamtes für den Zi-
vildienst eine entsprechende Passage eingestellt werden.
Weiterhin wird eine Sonderinformation für die Beschäfti-
gungsstellen und für die Verwaltungsstellen auf die Mög-
lichkeiten des abschnittsweisen Zivildienstes hinweisen.
Die Wehrersatzbehörden informieren mangels eigener
Kenntnis und Zuständigkeit nicht über den Zivildienst
und dessen Ausgestaltung.
Die Bundeswehr hat seit geraumer Zeit über die
Möglichkeit des abschnittsweisen Grundwehrdienstes
informiert. Seit dem 1. März 2001 erhalten alle Wehr-
pflichtigen mit der Ladung zur Musterung oder zur
Überprüfungsuntersuchung eine schriftliche Information
über die voraussichtlich ab Januar 2002 bestehende Mög-
lichkeit der abschnittsweisen Ableistung des Grundwehr-
dienstes. Diese Information wird auch an alle anderen un-
gedienten Wehrpflichtigen aus Anlass eines sonstigen
Schreibens des Kreiswehrersatzamtes mit übersandt.
Die Information enthält den Hinweis, dass der ab-
schnittsweise Grundwehrdienst in drei Abschnitten abge-
leistet wird, von denen der erste Abschnitt sechs Monate,
die Abschnitte zwei und drei jeweils anderthalb Monate
dauern, und dass für die Ableistung insgesamt ein Zeit-
raum von grundsätzlich 30 Monaten zur Verfügung steht.
In einer Erklärung, die zum Inhalt dieser Information
gehört, haben die Wehrpflichtigen unter anderem die
Möglichkeit, durch Ankreuzen ihr Interesse am ab-
schnittsweisen Wehrdienst oder am Wehrdienst an einem
Stück zu bekunden. Diese Erklärung wird zu den Perso-
nalakten genommen und ist Grundlage der späteren Ein-
planung und Einberufung zum Grundwehrdienst.
Die Bundesregierung stellt insgesamt mit den aufge-
führten Informationen sicher, dass jeder Wehrpflichtige
die erforderlichen Hinweise in Bezug auf den abschnitts-
weisen Wehrdienst oder Zivildienst rechtzeitig erhält.
Es ist nicht vorgesehen, Wehrpflichtige oder Zivil-
dienstpflichtige gegen ihren Willen zum abschnittsweisen
Dienst einzuberufen. Im Übrigen ist ein abschnittsweiser
Zivildienst nur dann möglich, wenn die Beschäftigungs-
stellen entsprechende Möglichkeiten eröffnen. Mit den
Verbänden der freien Wohlfahrtspflege sind Gespräche
über den abschnittsweisen Zivildienst geführt worden.
Frage eins.
Nach Ihren Ausführungen, dass die
Beschäftigungsstellen letztendlich entscheiden, ob ein ab-
schnittsweiser Zivildienst möglich ist, habe ich folgende
Frage: Es könnte ja in der Realität so sein, dass die
Beschäftigungsstellen das verhindern. Haben Sie Infor-
mationen darüber?
Meine zweite Frage möchte ich gleich anschließen:
Wie viele der Wehrdienstpflichtigen und Zivildienst-
pflichtigen haben bei den Vorabfragen schon angekreuzt,
dass sie einen abschnittsweisen Zivildienst oder Wehr-
dienst haben wollen?
D
Da die Beschäftigungsstellen im Moment noch erkunden,
inwieweit und wo in ihren eigenen Bereichen es möglich
ist, abschnittsweisen Zivildienst zu leisten, haben wir
dementsprechend noch keine Informationen. Wir haben
auch noch keine Informationen, ob Zivildienstleistende
schon jetzt erklärt haben, abschnittsweisen Zivildienst
leisten zu wollen. Das fängt ja auch erst später an.
Frage drei.
Sie haben aber gesagt, dass die
Wehrpflichtigen ankreuzen müssen. Sie müssen ja schon
die ersten Ergebnisse haben. Die können Sie mir aber
nicht vorlegen. – Dies ist jetzt keine Frage, sondern eine
Nachfrage. Ich bitte Sie, dass Sie mir diese Information
schriftlich zukommen lassen.
D
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 200120470
Ja, da ich nicht für die Bundeswehr zuständig bin, werde
ich sie Ihnen schriftlich zustellen.
Ich habe aus Ihrer Antwort entnom-
men, dass Sie den jungen Leuten zwar individuell diese
Hinweise geben, dass Sie sie aber erst in Zukunft ins
Internet stellen und damit an die Öffentlichkeit gehen
werden. Warum haben Sie das nicht schon früher getan?
Denn es ist ja so, dass man sich schon mit 15 oder 16 Jah-
ren überlegt, wann man sein Studium beginnt. Sie haben
immer gesagt, Sie würden diese Inhalte ins Internet stel-
len und sie den Zeitungen zukommen lassen. Wieso
kommt es zu dieser Information der Öffentlichkeit erst
jetzt bzw. erst im nächsten Jahr?
D
Ja, das ist richtig. Es tritt ja erst nächstes Jahr im Januar in
Kraft. Ich weiß allerdings nicht, was ich mit Ihrer Aussage
bezüglich der 15 bzw. 16 Jahre anfangen soll. Denn wehr-
pflichtig ist man erst sehr viel später, nämlich mit 18 bzw.
19 Jahren. Insofern kann sich der 15- oder 16-Jährige
gerne Gedanken machen. Aber zeitlich drängt es noch
nicht.
Ich muss Ihnen sagen, dass der Zivildienst sicherlich in
einer anderen Rolle ist und andere Möglichkeiten hat als
der Grundwehrdienst. Wir werden schon darauf achten
müssen, dass Beschäftigungsstellen auch sinnvollerweise
abschnittsweisen Zivildienst anbieten können, sodass wir
bei der Vielzahl von Beschäftigungsstellen, anders als
beim Grundwehrdienst, sicherlich auch noch über Richt-
linien mit den Verwaltungsstellen oder Beschäftigungs-
stellen klären müssen, was eigentlich gegeben sein muss,
damit auch sinnvollerweise ein abschnittsweiser Zivil-
dienst geleistet werden kann.
Sie haben noch eine
Frage? – Bitte sehr.
Können Sie mir den Grenzwert an-
geben, inwieweit Zivildienstleistende eine Art Rechtsan-
spruch haben, ihren Dienst abschnittsweise abzuleisten?
D
Ich glaube, einen Rechtsanspruch auf diesen abschnitts-
weisen Dienst kann es gar nicht geben, weil der Zivil-
dienst, anders als der Wehrdienst, nicht von einem be-
stimmten Bedarf ausgehen kann. Wir werden hier schon
die Erfahrung machen müssen, ob es überhaupt Zivil-
dienstleistende gibt, die abschnittsweise dienen möchten.
Sie wissen doch, dass beim Zivildienst die Zivildienst-
leistenden vorweg mit ihren – wenn es möglich ist –
wohnortnahen Beschäftigungsstellen kommunizieren. In
dieser Kommunikation wird individuell geklärt werden
müssen, ob für die Beschäftigungsstelle, die sich der je-
weilige Zivildienstleistende ausgesucht hat, eine ab-
schnittsweise Ableistung des Dienstes möglich ist.
Vielen Dank. Damit
sind die Fragen beantwortet. Ich danke der Frau Staats-
sekretärin. – Sie möchten noch eine Zusatzfrage stellen?
Das hatte ich nicht gesehen. Entschuldigung. – Bitte sehr.
Habe ich möglicherweise zwei
Zusatzfragen, weil es zwei Fragen waren?
Nein.
Frau Staatssekretärin, jetzt ein-
mal nicht aus der Sicht der Zivildienstleistenden, sondern
aus der Sicht der Zivildienststellen gefragt: Haben Sie
schon irgendwelche Informationen, Anmerkungen oder
Ähnliches, wie die vorgesehenen Maßnahmen von denen
aufgenommen werden? Denn ich weiß, dass sich schon
jetzt sehr viele Zivildienststellen darüber beklagen, dass
der Zivildienst insgesamt kürzer als ein Jahr ist, und dass
es große Probleme gibt, zum Beispiel im Bereich der in-
dividuellen Schwerbehindertenbetreuung, aber auch bei
Mobilitätshilfeleistungen usw., diese Lücke zu füllen.
Wie sind da die Rückläufe, die Sie von den Zivildienst-
stellen haben?
D
Die beiden Bereiche, die Sie gerade angesprochen haben,
kommen für einen abschnittsweisen Dienst sicherlich
nicht infrage. Wir haben mit den Wohlfahrtsverbänden
erste Informationsgespräche geführt. Aufgrund der Un-
terjährigkeit des Zivildienstes von zehn Monaten könnte
ich mir durchaus vorstellen, dass sich ein Altenheim über-
legt, eine Aufteilung von sieben Monaten und dann drei
Monaten oder zwei mal anderthalb Monaten anzubieten,
um den unterjährigen durch den abschnittsweisen Dienst
zu ergänzen. Aber dies muss ich den Beschäftigungsstel-
len überlassen. Es macht keinen Sinn, das für alle – ganz
unterschiedlich gearteten – Zivildienststellen von hier aus
zu klären.
Frage beantwortet? –
Danke schön.
Das war der Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Gesundheit werden die Fragen 3 und 4 schriftlich beant-
wortet. Zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung werden die Fragen 5 und 6
schriftlich beantwortet. Zum Geschäftsbereich des Aus-
wärtigen Amts werden die Fragen 7 und 8 schriftlich
beantwortet. Zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums des Innern werden die Fragen 9 und 10 schriftlich
beantwortet.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Technologie. Zur Beant-
wortung steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin
Margareta Wolf zur Verfügung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Parl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis
20471
Ich rufe die Frage 11 der Kollegin Cornelia Pieper auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung, insbesondere nach der
Ankündigung des Staatsministers beim Bundeskanzler, Rolf
Schwanitz, am 15. November 2001 im Deutschen Bundestag:
„Dort, wo wir helfen können, werden wir diese Prüfung” – der
Faktenlage und der Argumentationslinien vor Ort – „unterstüt-
zen.“ – Plenarprotokoll 14/201, S. 19711 C –, die im Schreiben
vom 20. August 2001 durch die IG Metall Halle und den Be-
triebsrat des Bombardier-Werks Ammendorf dargelegte Situation
hinsichtlich der Unterauslastung und den politischen Handlungs-
bedarf, um Lücken in der Auftragsdecke des Werks zu schließen?
M
Frau Kollegin
Pieper, ich würde gerne Ihre beiden Fragen zusammen be-
antworten.
Dann rufe ich auch
die Frage 12 der Kollegin Cornelia Pieper auf:
Welche Aktivitäten hat die Bundesregierung seither ent-
wickelt, um beispielsweise durch Gespräche mit der Deutschen
Bahn AG, DB AG, die der Staatsminister beim Bundeskanzler,
Rolf Schwanitz, am 15. November 2001 im Deutschen Bundestag
ankündigte – Plenarprotokoll 14/201, S. 19711 C –, Fahrzeugauf-
träge zugunsten des Standorts Ammendorf zu gewinnen?
M
Wir möchten Ih-
nen zunächst nochmals versichern, dass die Bundesregie-
rung größtes Verständnis für die Sorgen der Beschäftigten
in Ammendorf und ihre Forderung des Erhalts des tradi-
tionsreichen Standortes hat. Von daher sind wir der Ober-
bürgermeisterin der Stadt Halle ausgesprochen dankbar,
dass sie uns einen entsprechenden Brief zugeleitet hat.
Bereits im Vorfeld der Fusion von Bombardier und
Adtranz hat sich die Bundesregierung – und auch der
Bundeskanzler persönlich, wie Sie wissen – in einer
Vielzahl von Gesprächen mit dem Vorstand des Bombar-
dier-Konzerns nachhaltig für den Erhalt der deutschen
Standorte, insbesondere Ammendorf, eingesetzt. Entspre-
chende Gespräche gab es auch im Bundeswirtschaftsmi-
nisterium.
Die Bundesregierung unterstützt deshalb nachdrücklich
die Initiative des Ministerpräsidenten Reinhard Höppner,
der mit dem Präsidenten von Bombardier die Einsetzung
einer Arbeitsgruppe von Experten vereinbart hat. Ziel der
Arbeitsgruppe ist es, sich mit der Sicherung von Produk-
tion und Arbeitsplätzen am Standort Ammendorf zu be-
schäftigen und die von Bombardier vorgenommenen Un-
tersuchungen und Analysen zur Produktionsstrategie vor
diesem Hintergrund zu beleuchten und zu diskutieren.
Die Arbeitsgruppe hat unseres Wissens gestern getagt.
Bundes- und Landesregierung werden sich mit den Er-
gebnissen befassen und die Bemühungen unterstützen,
mit marktwirtschaftlichen Instrumenten zur Auslastung
der Standorte beizutragen.
Das im Zusammenhang mit der Privatisierung ste-
hende Vertragsmanagement der THA/BvS für den Stand-
ort Ammendorf ist dabei nach Kenntnis der Bundesregie-
rung jedoch beendet. Auflagen sind deshalb nicht mehr
offen.
Die Bundesregierung hofft, Frau Pieper, dass es auf
dieser gemeinsamen Grundlage gelingt, auch den Stand-
ort Ammendorf zu erhalten.
Es sollte in den Gesprächen mit Bombardier allerdings
auch wahrgenommen werden, dass Bombardier insge-
samt an seinen deutschen Standorten das Niveau der Be-
schäftigung beibehalten und die Zulieferer für den Schie-
nenfahrzeugbau aus der Region weiterhin ungeschmälert
einbinden wird. Damit hat das Unternehmen auf die be-
reits im Vorfeld der Fusion erfolgte Aufforderung durch
die Bundesregierung reagiert, die Stärke des Standorts
Deutschland in der Kernbranche „Bahnindustrie“ nicht zu
beschädigen.
Wir sind vor diesem Hintergrund optimistisch und las-
sen in unserem intensiven Engagement für Ammendorf
nicht nach. Aber wir sind uns – wie Sie sich sicherlich
auch – einig darin, dass die Möglichkeiten der Politik
nicht zuletzt auch angesichts der bestehenden europä-
ischen Rahmenbedingungen begrenzt sind. Ich kann Ih-
nen jedoch versichern: Wir befinden uns in einem ständi-
gen Kontakt mit Bombardier und sind, wie gesagt,
optimistisch.
Nun haben Sie Zu-
satzfragen. Nummer eins, bitte sehr.
Frau Wolf, ist Ihnen bekannt,
dass der Vertreter von Bombardier gestern in der Arbeits-
gruppe und auch im Gespräch mit der Landesregierung
erklärt haben soll, dass der Standort des modernsten Wag-
gonbauers in Europa, Halle-Ammendorf, weiterhin auf
der Kippe steht?
M
Frau Kollegin,
das ist mir leider nicht bekannt. Wir sprechen erst Anfang
der nächsten Woche mit den Vertretern der Landesregie-
rung. Wenn er das gesagt hat, dann wird das natürlich in
unsere weiteren Überlegungen einfließen.
Frage zwei.
Welche konkreten Gespräche
hat der Staatsminister für den Aufbau Ost unter anderem
auch mit der Deutschen Bahn AG geführt, um die Auf-
tragslage insbesondere bei den Waggonbauern in den
neuen Bundesländern zu verbessern? Gibt es Gespräche,
die der Staatsminister dazu geführt hat? Gibt es Ge-
spräche, die der Bundeskanzler in dieser Richtung geführt
hat?
Mir ist klar, dass Aufträge an Bombardier vergeben
werden. Aber wenn der Aufbau Ost Chefsache ist, dann
müsste die Bundesregierung großen Wert darauf legen,
dass bei Auftragsvergabe durch die Deutsche Bahn AG,
bei der der Bund immer noch zu 100 Prozent Anteilseig-
ner ist, die Aufträge dann auch tatsächlich in struktur-
schwache Regionen in den neuen Bundesländern gehen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs
20472
Frau Staatssekretärin.
M
Frau Kollegin
Pieper, ich kann Ihnen jetzt nicht sagen, welche Ge-
spräche Herr Schwanitz geführt hat. Ich kann Ihnen aber
versichern, dass der Bundesverkehrsminister und der
Bundeswirtschaftsminister intensive Gespräche mit der
Deutschen Bahn AG und mit Bombardier führen, gerade
auch im Hinblick auf die Marktmöglichkeiten, die es
durch die EU-Osterweiterung für das Unternehmen an
dem Standort gibt.
Frage drei.
Sieht die Bundesregierung
Möglichkeiten, sich beim Schienenfahrzeugbau – ich
denke insbesondere an die ICT-Neigetechnik oder auch
den neuen ICE-Waggon – darum zu bemühen, dass die
Waggonbauer in den neuen Ländern, insbesondere der
Waggonbau Ammendorf, auf diese Aufträge hoffen kön-
nen?
M
Das ist Gegen-
stand unserer Beratungen mit der DBAG, wenngleich ich
Ihnen sagen muss: Die Federführung hierfür hat der Ver-
kehrsminister, mit dem wir uns aber über die Ergebnisse
der Gespräche im Austausch befinden. Ich bitte um Ver-
ständnis dafür, dass ich hier nicht jedes Detail der Ge-
spräche, die wir mit Bombardier führen, darlegen kann.
Wir befinden uns im Prozess und wir teilen ein gemeinsa-
mes Interesse, nämlich das, dass der Standort Ammendorf
erhalten bleiben soll.
Noch eine Frage? –
Bitte sehr.
Eine letzte Frage: Was glaubt
die Bundesregierung, wann die vielen Gespräche, die sie
anscheinend geführt hat, zu einem erfolgreichen Ende
kommen?
M
Wir haben die
Gespräche nicht nur anscheinend geführt, sondern führen
sie nach wie vor, Frau Kollegin. – Anfang des nächsten
Jahres hoffen wir auf eine Entscheidung.
Ich darf in diesem Zusammenhang vielleicht auch noch
darauf aufmerksam machen, dass der SPD-Parteitag – das
mag Ihnen jetzt nicht besonders relevant erscheinen,
bringt aber meines Erachtens zum Ausdruck, dass die Leis-
tungskraft Ostdeutschlands der Bundesregierung wirklich
am Herzen liegt– den Initiativantrag „Waggonbaustand-
orte erhalten, industrielle Leistungskraft Ostdeutschlands
stärken“ verabschiedet hat, um der Bundesregierung bei
den Verhandlungen mit Bombardier den Rücken zu stär-
ken bei der Position, dass sie ihr Unternehmenskonzept
doch noch einmal überdenken sollten. Ich finde so etwas
im Zweifelsfall immer hilfreich.
Nun hat Herr Kollege
Brüderle eine Frage.
Frau Staatssekretärin, ich
fand Ihren Hinweis zur Haltung der Bundesregierung zu
den Beschlüssen des SPD-Parteitages bemerkenswert.
Mein Verständnis von einer Regierung, von Parteien und
dem Parlament ist ein anderes. – Dies wollte ich nur vorab
sagen.
Zur Sache selbst: In der Tat enthält das europäische
Recht – Sie haben darauf hingewiesen – nur wenige An-
satzpunkte, nach denen das Bundeswirtschaftsministe-
rium in diesem Fall Hilfe leisten kann. Ist in Ihre Prüfung
zum Beispiel die Möglichkeit von längerfristigen War-
tungsrahmenverträgen, die meines Erachtens der Bund als
Haupteigentümer der Deutschen Bahn AG im Rahmen
des europäischen Ausschreibungsrechts auf den Weg
bringen kann, einbezogen worden? – Frau Präsidentin, ich
kann, glaube ich, zwei Nachfragen stellen, da zwei Fragen
zusammen beantwortet worden sind. – Haben Sie Mo-
dellentwicklungen miteinbezogen? Denn das ist ein Be-
reich, in dem das Wirtschaftsministerium EU-konform et-
was tun kann.
M
Herr Kollege
Brüderle, zu Ihrer Bemerkung bezüglich des SPD-Partei-
tages: Es ist in diesem Hause nicht unüblich, sich auf Be-
schlüsse von Parteitagen zu beziehen. Das tun ja auch Sie
gerne. Parteitage haben bisweilen auch die Aufgabe, zum
Ausdruck zu bringen, ob sie ihre Fraktion im Deutschen
Bundestag in der einen oder anderen Sache unterstützen
oder ob sie sie nicht unterstützen. In dieser Sache wurden
wir unterstützt; dafür sind wir dankbar.
Was Ihre Frage bezüglich der Deutschen Bahn AG und
der Rolle der Zulieferer angeht: Sie wissen vielleicht, dass
es eine Aussage des Bombardier-Werkes gibt, wonach es
an den jetzigen Zulieferern für das Werk Ammendorf fest-
halten will. Dies ist für die Region relevant, befriedigt
aber – wenn ich die Fragestellung von Frau Pieper richtig
verstanden habe – die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
von Bombardier am Standort Ammendorf nicht.
Was den EU-Aspekt angeht, so möchte ich, um es or-
dentlich beantworten zu können, darum bitten, dies
schriftlich tun zu können. Denn ich war bei diesen Ver-
handlungen nicht anwesend.
Das hat nun eine
Frage des Kollegen Singhammer provoziert. – Bitte sehr.
Frau Staatsse-
kretärin, es ist sehr interessant, dass in die Antworten der
Bundesregierung die Beschlüsse der Parteitagsgremien
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001 20473
einfließen. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir die
Nachfrage, ob das nun regelmäßig so sein wird und ob
eine gewisse Auswahl stattfindet, ob also nur Parteitags-
beschlüsse der SPD oder auch die der Grünen erwähnt
werden. Wie handhaben Sie das?
M
Herr Kollege
Singhammer, vielleicht kann ich demnächst auch einmal
CSU-Parteitagsbeschlüsse zitieren.
Herr Kollege, ich möchte Sie darauf aufmerksam ma-
chen, dass ich umfassend darüber berichtet habe, was die
Bundesregierung tut, um den Standort Ammendorf zu er-
halten. Ich habe auf die Arbeitsgruppe, in der die
Landesregierung Sachsen-Anhalt und Bombardier zu-
sammenarbeiten, hingewiesen. Ich habe dargelegt, dass
wir die Ergebnisse der ersten Tagung zusammen mit der
Landesregierung auszuwerten haben und dass wir uns in
ständigen Gesprächen befinden. Sie sollten dieses Thema
etwas ernster nehmen und sich, mit Verlaub, nicht auf Pe-
titessen, auf Parteitagsbeschlüsse, die hier angeblich in
meine Antworten einfließen, beziehen.
Nun kommt die Kol-
legin Heyne mit einer Frage. Bitte sehr.
Frau
Kollegin, sind Sie mit mir einig – ich bin mir da eigent-
lich sicher; aber ich frage lieber noch einmal nach –, dass
es der Glaubwürdigkeit der Politik durchaus gut tun
könnte, wenn Parteitagsbeschlüsse auch etwas mit der
realen Politik einer Fraktion bzw. einer Regierung zu tun
haben,
dass man Parteien in unserem Land einen besonderen
verfassungsmäßigen Stand eingeräumt hat, um die Mei-
nungsbildung in der Bevölkerung in Bezug auf die Politik
zu bündeln, und dass von daher die besondere Bedeutung
eines Themas, das viele Menschen bewegt, zum Ausdruck
kommt, wenn ein Parteitag dazu einen Beschluss fasst?
M
Frau Kollegin
Heyne, ich stimme mit Ihnen absolut überein, zumal wir
in der Vergangenheit oft erlebt haben, dass die Arbeit der
Fraktionen der vormaligen Regierung mitnichten etwas
damit zu tun hatte, was auf Parteitagen beschlossen
wurde. Wir haben hier eine gewisse Verzahnung herge-
stellt, für die ich ausgesprochen dankbar bin.
– Sie waren nicht auf dem Parteitag in Rostock. Aber Sie
sollten wissen, dass dort fast 90 Prozent der Delegierten
für die Politik der Bundesregierung gestimmt haben. Das
hätten Sie, Herr Kollege, in der Vergangenheit vielleicht
auch einmal schaffen sollen.
Jetzt muss ich doch
eine geschäftsleitende Bemerkung machen: Wir sind nicht
hier, um Parteitage zu interpretieren, sondern wir sind
hier, um Fragen an die Bundesregierung zu stellen.
Aber natürlich lasse ich weitere Fragen zu. Jetzt die
Kollegin Ostrowski.
Aber es ist wirklich so,
Frau Präsidentin: Auf Parteitagen wird viel beschlossen,
wenn der Tag lang ist. Deshalb stelle ich Ihnen, Frau
Staatssekretärin, die einzig relevante Frage: Können Sie
mir sagen, ob der von Ihnen angeführte Beschluss des
SPD-Parteitags in das konkrete Regierungshandeln der
Bundesregierung eingeflossen ist, und, wenn ja, auf wel-
che Art und Weise?
M
Frau Kollegin,
ich habe versucht, vorhin darzustellen, dass sich die Bun-
desregierung durch die Beschlüsse des SPD-Parteitages
in ihren Verhandlungen mit Bombardier unterstützt fühlt
– ich denke, das beantwortet Ihre Frage –; denn der
Parteitagsbeschluss der SPD ist identisch mit dem,
was die Bundesregierung will. Aber Sie wissen selber:
Bombardier ist keine staatliche Firma, sodass Verhand-
lungen mit der Unternehmensleitung von Bombardier er-
forderlich sind. Wir sind, wie gesagt, auf einem guten
Wege; ich bin optimistisch.
Nun kommt Herr
Dr. Grehn mit einer Frage.
Frau Staatssekretärin, ich
habe keine Frage zum Parteitag, sondern beziehe mich auf
Ihre Äußerungen hier. Sie haben mindestens zweimal
geäußert, dass Sie sich in dem Gespräch auch um die übri-
gen Standorte von Bombardier in Deutschland bemühen.
Haben Sie konkrete Erkenntnisse, dass Bombardier an an-
deren Standorten, etwa Vetschau, Ähnliches vorhat wie in
Ammendorf, und wie fließen diese Erkenntnisse gege-
benenfalls ein?
M
Herr Kollege,
Sie werden vielleicht verfolgt haben, dass Bombardier
seinerseits erklärt hat, dass es keine betriebsbedingten
Kündigungen geben wird und dass man dann, wenn sich
Bombardier von Beschäftigten trennen muss, alternative
Beschäftigungsangebote unterbreiten wird. Das hat uns
Bombardier für alle Standorte zugesichert. Auf dieser
Grundlage verhandeln wir auch.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Johannes Singhammer
20474
Damit haben wir die-
sen Geschäftsbereich abgearbeitet. Wir danken der Frau
Staatssekretärin für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Zur
Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer
Staatssekretär Stephan Hilsberg zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Klaus Hofbauer auf:
Welche Auswirkungen auf die Wirtschaftsstruktur und den
Verkehr in Ostbayern sieht die Bundesregierung durch die Strei-
chung der Fernbahnverbindungen Euro-City 167/166 „Albert Ein-
stein“ und Interregio 265/264 „Franz Kafka“ zwischen
München–Regensburg–Schwandorf–Furth im Wald–Pilsen–Prag
durch die DB AG im Zusammenhang damit, dass danach die
tschechische Regierung ihren Schienennetzausbauschwerpunkt
auf die Strecke Prag–Linz–Wien festgelegt hat, und beabsichtigt
die Bundesregierung vor dem Hintergrund des höheren Verkehrs-
aufkommens durch die Osterweiterung der Europäischen Union in
Abstimmung mit der tschechischen Regierung, bahnpolitische
Maßnahmen in Bezug auf diesen Streckenbereich zu treffen?
Herr Staatssekretär, bitte.
S
Sehr ge-
ehrte Frau Präsidentin! Die Deutsche Bahn AG hat die
vier Fernverkehrsverbindungen pro Tag auf der Strecke
München–Regensburg–Schwandorf–Furth im Wald–Pil-
sen–Prag eingestellt, weil das Verkehrsangebot nicht
mehr der Nachfrage entsprochen hat. Insofern werden
keine Auswirkungen auf die Wirtschaftsstruktur und den
Verkehr in Ostbayern erwartet.
Ein Zusammenhang zwischen der Einstellung des
Fernverkehrs durch die Deutsche Bahn AG und der Ent-
scheidung der tschechischen Regierung zum Ausbau des
tschechischen Teils der Strecke Prag–Linz vor dem der
Strecke Prag–Nürnberg besteht nicht. Diese Festlegung
wurde im Übrigen bereits 1999 bekannt. Mit der tsche-
chischen Regierung wurde 1995 vereinbart, den Infra-
strukturausbau von einem akzeptablen Angebot der Bah-
nen über den Einsatz von Fahrzeugen mit Neigetechnik
abhängig zu machen. Ein solches Angebot liegt nicht vor.
Zusatzfrage? – Bitte
sehr.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrter Herr Staatssekretär, nach meinen Informationen
ist durch diese Entscheidung der Personenverkehr zwi-
schen München und Prag auf der genannten Strecke ra-
pide zurückgegangen. Beim Grenzübergang Furth im
Wald ist die Zahl der Reisenden von 18 000 im Novem-
ber auf 9 000 zurückgegangen – mit fallender Tendenz.
Dies kann doch nicht im Sinne der Verkehrspolitik dieser
Bundesregierung sein, die immer mehr Menschen und
Güter auf die Schiene bringen will. Wenn man eine solche
Verbindung einstellt, wird man sicher nicht erreichen,
dass mehr Menschen die Bahn benutzen.
Sie wissen, dass die Europäische Union diese Strecke,
und zwar die gesamte Strecke zwischen Schwandorf–
Pilsen–Prag, als europäische Transversale in das Trans-
europäische Netz aufgenommen hat. Die tschechische
Regierung und auch die tschechische Bahn haben nach
wie vor Interesse, diese Linie zu erhalten. Von deutscher
Seite aber, von der DB und damit natürlich auch von der
Bundesregierung, wird diese Strecke nicht aufrechterhal-
ten. Weil diese Züge die Grenzregion wirtschaftlich er-
halten, wird der Region dadurch ein ganz erheblicher
Schaden zugefügt.
Wir starten so viele Initiativen, um im Rahmen der
Osterweiterung die Verkehrsprobleme zu lösen. Meine
ganz konkrete Frage: Wie kann dann eine solche Ent-
scheidung, die für die Osterweiterung kontraproduktiv ist,
getroffen werden?
S
Sehr ge-
ehrter Herr Hofbauer, ich kann es nur wiederholen: Die
Möglichkeit, diese Strecke wirtschaftlich und ökologisch
sinnvoll zu betreiben, hat angesichts der Fahrgastzahlen
auf dieser Strecke nicht mehr bestanden. Im Übrigen habe
ich Ihnen die Verhandlungsposition gegenüber der Tsche-
chischen Republik erläutert. Wir stehen nach wie vor in
Erwartung eines Angebotes für den Ausbau der Strecke,
damit er mit Neigetechnik bedient werden kann. Das ist
durchaus eine Perspektive, die auch Ihrer Region zugute
kommen kann.
Darf ich noch eine
zweite Frage stellen?
Das ist zwar ein biss-
chen an der Grenze, weil Sie sehr lange gefragt haben,
aber Sie haben das Recht, noch eine zweite Frage zu stel-
len. Bitte sehr.
Herzlichen Dank, Frau
Präsidentin.
Ich möchte noch einmal nachbohren, Herr Staatssekre-
tär. Die Neigetechnik ist nicht für diese Strecke, sondern
für die über Marktredwitz vorgesehen. Und Tatsache ist,
dass diese direkte und kürzeste Verbindung zwischen
München und Prag eingestellt wurde. Der Verkehrsaus-
schuss war vor kurzem in Prag. Von der tschechischen Re-
gierung ist bei dieser Gelegenheit noch einmal nach-
drücklich festgestellt worden, dass die Tschechen diese
Verbindung wollen.
Sie reden immer davon, dass die Menschen die Bahn
benutzen und die Gütertransporte auf die Bahn verlagert
werden sollen. Ich darf Ihnen ein Beispiel nennen: Auf
tschechischer Seite wird der Transport von 60 000 Tonnen
Zement von der Schiene auf die Straße verlagert. Es kann
doch nicht Ihre Politik sein, eine Region wirtschaftlich ab-
zuhängen. Deswegen frage ich Sie: Wenn Europa diese
Strecke aufrüsten will und die tschechische Seite eben-
falls, warum werden dann auf deutscher Seite keine ent-
sprechenden Initiativen ergriffen bzw. warum wird hier
ein Schritt zurück gemacht?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001 20475
S
Herr
Hofbauer, ich kann nur noch einmal sagen: Wir machen
keineswegs einen Schritt zurück. Auch muss ich Ihre Aus-
sagen zurückweisen, wir würden damit die wirtschaftli-
che Entwicklung behindern. Es ist wichtig, festzustellen,
dass die Möglichkeit, diese Strecke wirtschaftlich zu be-
treiben, unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht be-
steht.
Im Übrigen sind wir jederzeit bereit, mit der tsche-
chischen Seite Verhandlungen darüber aufzunehmen,
dass ein entsprechendes Schienennetz weiter ertüchtigt
wird. Ich kann unser Angebot an dieser Stelle weiter be-
kräftigen. Die entsprechenden Angebote, die wir in Bezug
auf die Neigetechnik abgegeben haben, sind bisher aber
noch nicht aufgegriffen worden.
Nun hat Herr Dr. Rose
eine Frage. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär,
darf ich Ihre Zustimmung voraussetzen, wenn ich sage,
dass ich mich erschrocken habe, als Sie von dem Bedarf
gesprochen haben? Sie haben gesagt: Sie haben dort kei-
nen Bedarf. Dann brauchen sie auch nichts.
Ich habe mich an die unheilvollen 70er-Jahre erinnert
gefühlt, als man den Menschen in den Flächen den Auto-
bahnbau vorenthalten hat – das ist in etwa das Gleiche –
mit der Bemerkung: Was wollt ihr denn überhaupt? Bei
euch gibt es ja kein Bedarf. – Ist das die künftige Politik
der Bundesregierung?
S
Sehr ge-
ehrter Herr Rose, das geht ein bisschen über die Frage, die
Sie gestellt haben, hinaus, aber ich kann ganz kurz die für
uns wichtigen Leitlinien ansprechen.
Wir setzen vor allen Dingen auf den Ausbau der Infra-
struktur. Wir haben für die Schieneninvestitionen einen so
hohen finanziellen Etat zur Verfügung gestellt, wie er in
den letzten Jahren nicht bestanden hat. Auf diese Art und
Weise setzen wir die Bahn in den Stand, ein leistungs-
fähiges Schienennetz zu erhalten, auf dem dann entspre-
chende Verkehre wirtschaftlich betrieben werden können.
Damit erfüllen wir den grundgesetzlichen Auftrag zur Ge-
währleistung des Verkehrsangebots. Das ist gegenwärtig
die richtige Priorität.
Im Übrigen haben wir erfolgreich große Anstrengun-
gen unternommen, um mehr Verkehr auf die Schiene zu
bringen. Im Zusammenhang mit den Ergebnissen der
Taskforce ist die Unabhängigkeit des Schienennetzes bes-
ser als bisher gewährleistet. Es ist davon auszugehen, dass
im Zuge eines größeren Wettbewerbs mehr Anbieter auf-
treten werden. Das sind wichtige Rahmenbedingungen.
Als Folge der Bahnreform von 1994, der Sie seinerzeit
zugestimmt haben, ist eine klare Trennung zwischen den
privatrechtlichen, nach wirtschaftlichen Erwägungen vor-
genommenen Entscheidungen seitens der Bahn und den
hoheitlichen Aufgaben vorgenommen worden: Die Deut-
sche Bahn ist zuständig und alleinig verantwortlich für
das wirtschaftliche Betreiben des Netzes. Wir sind für die
entsprechenden Rahmenbedingungen zuständig. – Die
einzelnen Entscheidungen können und wollen wir nicht
beeinflussen; das ist Folge der Bahnreform. Würden wir
dies tun, wäre das ein Schritt zurück.
Nun hat die Kollegin
Ostrowski eine Frage.
Herr Staatssekretär, die
Frage nach dem Bedarf ist schon wichtig. Sie haben in Ih-
rer ersten Antwort deutlich gesagt, die Strecken würden
gestrichen, weil kein Bedarf dafür vorhanden sei. Deshalb
frage ich Sie jetzt: Wonach bemisst sich der Bedarf auf
den beiden angesprochenen Strecken – bemisst er sich
nach der Anzahl der Fahrgäste pro Tag oder pro Kilome-
ter – und inwieweit sind die Richtgrößen auf diesen bei-
den Strecken unterschritten worden?
S
Frau
Ostrowski, die Frage der Wirtschaftlichkeit ist das ent-
scheidende Kriterium. Die angesprochene Strecke ist
wirtschaftlich nicht zu betreiben gewesen. Nach welchen
Kriterien sich das bemisst, kann ich nicht beantworten.
Sie müssten sich damit direkt an die Deutsche Bahn wen-
den. Ich bin gerne bereit, Ihnen die konkreten Zahlen zu-
kommen zu lassen.
Ich rufe die Frage 14
des Abgeordneten Hofbauer auf:
Welche strukturpolitische Bedeutung misst die Bundesregie-
rung dem Verkehrsträger Schiene im Rahmen der Osterweiterung
der Europäischen Union bei und welche Maßnahmen beabsichtigt
die Bundesregierung, um den Verkehrsträger Schiene im grenz-
überschreitenden Verkehr zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und den osteuropäischen Beitrittsstaaten, insbesondere zwi-
schen Bayern und Tschechien, zu stärken?
Herr Staatssekretär, bitte.
S
Sehr ge-
ehrter Herr Hofbauer, dem Verkehrsträger Schiene kommt
im Rahmen der Osterweiterung der Europäischen Union
große Bedeutung zu. Die Bundesregierung hat schon
frühzeitig für die Grenzregionen ein Programm zur
Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur gefordert. Die
Europäische Kommission hat daraufhin ein Programm für
die Grenzregionen vorgeschlagen, aus dem 150 Milli-
onen Euro in die transeuropäischen Netze fließen und mit
dessen Hilfe besondere Verkehrsengpässe beseitigt wer-
den sollen. In Deutschland sollen die Schienenverbin-
dungen Berlin–Frankfurt/Oder und Knappenrode–Horka
an der Grenze von Deutschland zu Polen gefördert wer-
den.
Sie haben eine Zu-
satzfrage, Herr Kollege?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 200120476
Herr Staatssekretär,
ich habe zwei Fragen.
Erstens. Sind Sie bereit – Sie haben es ja bereits an-
gekündigt –, uns die genaue Wirtschaftlichkeitsberech-
nung für die eingestellten Zugverbindungen zur Verfü-
gung zu stellen? Wir möchten dies gern anhand konkreter
Unterlagen nachprüfen; denn Tatsache ist, dass der Zug
von vielen benutzt wurde, und dass nun jeden Monat Tau-
sende von Menschen kein entsprechendes Angebot mehr
vorfinden. Sie werden mir doch Recht geben, dass da-
durch die Region wirtschaftlich geschädigt wird.
Zur zweiten Frage, Herr Staatssekretär. Sie haben das
Programm für die Grenzregionen angesprochen. Was
wollen wir mit 150 Millionen Euro, die auf 23 Regionen
– von Finnland bis Griechenland – verteilt werden sollen,
anfangen? Wir alle miteinander können uns doch aus-
rechnen, wie viel Geld am Ende übrig bleiben wird. Hinzu
kommt, dass das Geld vorwiegend für den Straßenbau, der
notwendig ist, verwendet werden soll. Meine Frage also:
Welcher Anteil der 150 Millionen Euro wird für die
Schiene ausgegeben und inwieweit sind die von mir an-
gesprochenen Linien dabei berücksichtigt?
S
Herr
Hofbauer, niemand wird Geld ausschlagen, das er von der
Europäischen Union bekommt. Eine andere Frage ist, ob
man die Mittel für ausreichend befindet.
Nun zu der Frage nach den für uns wichtigen Ver-
kehrsverbindungen und den Schwerpunkten beim Ausbau
der Verkehrsinfrastruktur. Ich kann Ihnen versichern: Die
Vorkehrungen, die wir für die Erweiterung der Euro-
päischen Union nach Osten hin treffen, sind keineswegs
nur mit dem Geld, das wir von der Europäischen Union
dafür bekommen, zu finanzieren. Wir leisten auch erheb-
liche Eigenanstrengungen, um die notwendigen Vorbe-
reitungen voranzubringen.
Die Angaben zur Wirtschaftlichkeit werde ich Ihnen
zwecks Überprüfung zukommen lassen. Allerdings kann
ich Ihnen nur das zukommen lassen, was uns die Deutsche
Bahn AG zur Verfügung stellt.
Nun rufe ich die
Frage 15 des Kollegen Dr. Klaus Rose auf:
Sieht die Bundesregierung ihr verkehrspolitisches Ziel einer
„Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene“
konterkariert durch die Praxis der DB AG, vermehrt Bahnhöfe in
der Fläche aus dem Güterumschlagskonzept, zum Beispiel bei
Gas- und Kohletransporten, herauszunehmen?
Herr Staatssekretär.
S
Die
Bundesregierung steht zu den mit der Bahnreform ver-
folgten Zielen, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen,
die finanzielle Belastung der Steuerzahler durch die
Schiene auf ein erträgliches Maß zu begrenzen und die
Wirtschaftlichkeit einer unternehmerisch geführten
DB AG zu erreichen. Die Entwicklung einer modernen,
leistungsfähigen Bahn ist ein Kernelement der integrier-
ten Verkehrspolitik. Die Bundesregierung wird weiterhin
mit ordnungs- und investitionspolitischen Maßnahmen
ihren Beitrag dazu leisten.
Die Deutsche Bahn AG hat dargelegt, dass bei der In-
anspruchnahme der Zugangsstellen im Güterverkehr er-
hebliche Ungleichgewichte bestehen. Die DB Cargo AG
hat deshalb für den Einzelwagenverkehr das Sanierungs-
programm Mora C, marktorientiertes Angebot Cargo, für
den Güterverkehr vorgelegt. Sie will sich nach eigener
Aussage damit natürlich nicht aus der Fläche zurückzie-
hen.
Eine Zusatzfrage,
bitte sehr.
Herr Staatssekretär,
nachdem Ihre Antwort auf meine erste Frage vor allem
vor dem Hintergrund der Liste, die mir von Mora C vor-
liegt, für mich nicht ganz verständlich ist, möchte ich nach
den Kriterien fragen, nach denen über die Schließung von
Güterbahnhöfen oder Umschlagstellen entschieden wird.
Entsprechend der mir vorliegenden Liste sind 113 Wag-
gons des Güterbahnhofs, der in meiner Heimatregion
Pleinting liegt, aber nur ein Waggon in Friedrichshafen
betroffen. Auf einen Außenstehenden oder einen Laien
wirkt das so, als ob etwas völlig falsch gelaufen sei. Kön-
nen Sie möglicherweise etwas zur Aufklärung beitragen?
S
Herr
Rose, es ist aufgrund der Aufgabenverteilung nach
der Bahnreform – ich sage es noch einmal – nicht unsere
Aufgabe, auf einzelne Entscheidungen der DB AG Ein-
fluss zu nehmen. Im Hinblick auf den grundsätzlichen
Rahmen ist nach Angaben der DB Cargo AG folgender
Sachverhalt festzustellen: Rund 6 650 kleine Einzelkun-
den tragen nur etwa 5 Prozent zum Umsatz im Güterver-
kehr bei, während rund 500 mittelgroße Kunden etwa
10 Prozent und 320 Großkunden circa 85 Prozent zum
Umsatz beitragen. Die DB Cargo AG bezeichnet sich
selbst nach Aussagen ihres Vorstandsvorsitzenden, Herrn
Malmström, als Sanierungsfall. Sie verhält sich wie ein
Betrieb, der zu sanieren ist: Die Finanzierung der extrem
unterfinanzierten Stellen wird auf eine bessere Grundlage
gestellt.
Wenn Sie Auskünfte über Einzelfallentscheidungen
haben möchten, möchte ich Sie bitten, Ihre Fragen in ei-
nem direkten Gespräch mit der DB AG zu klären. Ich
werde Ihnen bei der Klärung der entsprechenden Punkte
gerne behilflich sein.
Zweite Zusatzfrage,
Herr Dr. Rose.
Habe ich Ihre Antwort,
Herr Staatssekretär, richtig verstanden, wenn ich fest-
stelle, dass Sie eigentlich keine Möglichkeiten haben, auf
die Geschäftspolitik der Deutschen Bahn AG bzw. ihrer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001 20477
Untergliederungen Einfluss zu nehmen? Um eine Brücke
zu Ihrer Vorgängerin zu schlagen: Macht es angesichts Ih-
rer fehlenden Einflussmöglichkeiten überhaupt noch
Sinn, wenn Sie auf Parteitagen von der Verlagerung des
Verkehrs auf die Schiene oder auf das Wasser groß tönen?
S
Die Vo-
raussetzung dafür, dass ein solches Unternehmen wie die
DB Cargo AG expandieren und sich weiterentwickeln
kann, ist, dass sie zuerst ihre eigenen Finanzen auf eine
tragfähige Grundlage stellt. Wenn sie wettbewerbsfähig
sein will, muss die Struktur des Unternehmens gesund
sein. Insofern haben wir an dem Bestreben, die DB AG
nach unternehmerischen Gesichtspunkten zu führen, gar
nichts auszusetzen. Das ist verständlicherweise und rich-
tigerweise Ziel der Bahnreform gewesen. An dieser Stelle
muss die Deutsche Bahn AG von uns unterstützt werden.
An der Lösung des Problems, ob Güterverkehrsstellen
geschlossen werden sollen oder nicht, können auch an-
dere Verkehrsbetriebe beteiligt werden. Die DB AG ga-
rantiert, dass alle nicht bundeseigenen Eisenbahnen, die
im VDV, dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen,
organisiert sind, die Möglichkeit erhalten werden, ein ent-
sprechendes Angebot vorzulegen. Erst wenn kein Ange-
bot vorgelegt wird, werden Güterverkehrsstellen endgül-
tig geschlossen.
Nun hat der Kollege
Dr. Grehn eine Frage.
Herr Staatssekretär, in wel-
chem Verhältnis sehen Sie Ihre Aussage, dass die Bun-
desregierung ein Konzept zur Verlagerung des Verkehrs
von der Straße auf die Schiene hat – wenn es das gibt,
dann begrüßen wir das sehr –, zu der Aussage des Bun-
desministers in der heutigen Befragung der Bundesregie-
rung, dass von den Mauteinnahmen die Hälfte für den
Straßenausbau, zwei Sechstel für den Schienenausbau
und ein Sechstel für die Wasserwege eingesetzt werden
sollen?
S
Zum ei-
nen dienen die bevorstehenden Einnahmen aus der Erhe-
bung der LKW-Maut zu dem Teil, den Sie gerade genannt
haben, dem Ausbau des Verkehrsträgers Schiene. Zum an-
deren trägt die Erhebung der LKW-Maut nicht nur zu
größerer Kostengerechtigkeit in Bezug auf den Ver-
kehrsträger Straße bei, sondern verändert auch den ge-
samten wettbewerblichen Ordnungsrahmen, in dem sich
das Verkehrssystem insgesamt befindet, zugunsten der
DB AG. Insofern wird dies selbstverständlich auch zu
Verlagerungseffekten zugunsten der Schiene führen.
Nun hat der Kollege
Straubinger eine Frage.
Herr Staatssekretär,
Sie haben vorhin das Mora-C-Programm der DB Cargo
angesprochen. Kann es sein, dass die Kriterien dieses Pro-
gramms zu falschen Weichenstellungen führen, indem
nämlich nur die Bahnhöfe besonders gut bewertet werden,
bei denen das höchste Gebührenaufkommen erzielt wird,
und zu wenig an die Zielbahnhöfe gedacht wird? Wenn
man nur die Bahnhöfe im Auge hat, bei denen die meiste
Fracht verladen und ein entsprechendes Gebührenauf-
kommen erwirtschaftet wird, und die Zielbahnhöfe sozu-
sagen hintanstellt, ist damit doch eine Ausdünnung in der
Fläche vorprogrammiert.
S
Das
Mora-C-Programm, also das Programm „Marktorientier-
tes Angebot Cargo“, lässt sich von zwei Fragen leiten:
Was sind die eigenen Stärken? Was sind die eigenen
Schwächen? Die nächste Frage ist dann, wie die Stärken
gestärkt werden können und wie man mit den Schwächen
umgeht. Wo Güterverkehrsstellen effektiver betrieben
werden können, werden die dazu notwendigen Schritte
eingeleitet. Insofern ist die grundsätzliche Anlage dieses
Konzepts zu begrüßen und zu unterstützen.
Eine Zu-
satzfrage der Kollegin Ostrowski.
Herr Staatssekretär, Sie
haben vorhin gesagt, dass sich die Bundesregierung nicht
in Einzelentscheidungen einmischt. Das kann ich nach-
vollziehen. Wenn viele Einzelentscheidungen, in die Sie
sich aus nachvollziehbaren Gründen nicht einmischen, in
großem Umfang zur Schließung von Bahnhöfen und Gü-
terumschlagplätzen in der Fläche führen, dann wird das
aber zu einem politischen und gesellschaftlichen Problem
ersten Ranges. Stimmen Sie meiner Einschätzung zu?
S
Frau
Ostrowski, die Schiene und damit die DB AG ist wie alle
Verkehrsträger eine hochpolitische Angelegenheit. Wir
haben uns für die Eisenbahn viel vorgenommen und blei-
ben auch bei unseren verkehrspolitischen Zielen. Es ist
wichtig, dass die DB AG in den nächsten 15 Jahren ihre
unternehmerischen Ziele erreicht. Das wird von uns un-
terstützt. Wir haben mehrere Maßnahmen unternommen,
damit sie dies erreichen kann. Es wird allerdings nicht
ohne gelegentlich auch schmerzhafte Entscheidungen ge-
hen. Dazu gehört beispielsweise, dass sich die DB Cargo
AG selbst in den Stand versetzt, dass sie wieder wirt-
schaftlich arbeiten kann. Alle Lösungen, die das nicht
berücksichtigen, werden nicht machbar sein.
Ich rufe die
Frage 16 des Kollegen Dr. Klaus Rose auf:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. Klaus Rose
20478
Legt die Bundesregierung den Art. 87 des Grundgesetzes in
Zukunft so aus, dass die DB AG nur mehr nach wirtschaftlichen
Kriterien Geschäftspolitik betreibt und nicht nach den Grundsät-
zen der ausgewogenen Versorgung des gesamten Landes?
S
Der
Art. 87 e Grundgesetz ist die Grundlage für die Struktur-
reform der Eisenbahnen des Bundes. Ihre wichtigsten
Ziele sind, die Eisenbahn leistungs- und damit wettbe-
werbsfähiger zu machen, mehr Verkehr auf die Schiene zu
bringen und den Bundeshaushalt dauerhaft zu entlasten.
Deshalb ist in Art. 87 e Abs. 3 Grundgesetz auch gezielt
festgelegt, dass die Eisenbahnen des Bundes „als Wirt-
schaftsunternehmen in privat-rechtlicher Form“ geführt
werden. Diese Zielsetzung war bei der Bahnreform brei-
ter Konsens.
Die Ausgestaltung des Angebots im Schienenperso-
nenfernverkehr und im Schienengüterverkehr der DB AG
gehört zu ihrem eigenverantwortlichen Bereich und er-
folgt ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunk-
ten. Hierauf kann das Bundesministerium für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen keinen Einfluss nehmen. Die
DB AG strafft ihr Angebot dort, wo dauerhaft schwach
nachgefragte Züge einen kostendeckenden Verkehr nicht
ermöglichen.
Soweit den Eisenbahnen Leistungen abverlangt wer-
den, die diese aus unternehmerischen Gesichtspunkten
nicht erbringen können – dazu gehören Verpflichtungen
des öffentlichen Dienstes und gemeinwirtschaftliche
Leistungen –, sind die Mindererlöse oder Mehraufwen-
dungen nach VO-EWG Nr. 1191/69 und nach § 15 des
Allgemeinen Eisenbahngesetzes vom Veranlasser auszu-
gleichen.
Der Gewährleistungsauftrag des Bundes nach Art. 87 e
Abs. 4 des Grundgesetzes erstreckt sich auf ein dem Wohl
der Allgemeinheit dienendes Verkehrsbedürfnis, also auf
den Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbah-
nen des Bundes sowie auf deren Verkehrsangebote auf
diesem Netz. Ausgenommen ist der Schienenpersonen-
nahverkehr – SPNV –, für den als gemeinwirtschaftliche
Verkehrsleistung die Bestimmungen des Regionalisie-
rungsgesetzes gelten.
Der Bund nimmt seine Gemeinwohlverpflichtung nach
Art. 87 e Abs. 4 des Grundgesetzes grundsätzlich wahr,
indem er entsprechend dem Verkehrsbedarf und im Rah-
men der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel Inves-
titionen in die Schienenwege der Eisenbahnen des Bundes
finanziert.
Zusatzfrage.
Da ich einsehe, dass
sich das Bundesministerium offiziell nicht in die Ge-
schäftspolitik der Deutschen Bahn AG einschalten kann
und will, frage ich so: Arbeitet die Bundesregierung poli-
tisch darauf hin, dass eine möglichst breite Versorgung
des Landes gewährleistet ist? Dass nur wenige Magistra-
len bedient werden, kann nicht Sinn der Verkehrspolitik in
Deutschland sein.
S
Wir un-
terstützen den weiteren Ausbau und den Erhalt des Schie-
nennetzes in der Fläche an den verschiedensten Stellen.
Dafür sind allein in diesem Jahr zusätzlich 2 Milliar-
den DM zur Verfügung gestellt worden. Einschließlich
derselben Beträge in den beiden darauffolgenden Jahren
werden für dieses Programm 6 Milliarden DM zusätzlich
zur Verfügung gestellt. Zugleich unterstützen wir den
Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes. Wir tun also
beides: Wir bauen die Schwachstellen ab und sorgen für
den Ausbau eines modernen Schienennetzes. Dies
schließt selbstverständlich den Erhalt der Eisenbahn in
der Fläche ein.
Zweite Zu-
satzfrage.
Herr Staatssekretär, er-
lauben Sie mir, dass ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Re-
gion Ostbayern lenke und Sie bitte, das, was Sie in allge-
meinen, netten Sätzen gesagt haben, auch dieser Region
zugute kommen zu lassen?
S
Das war
nicht unbedingt eine Frage. Gleichwohl gebe ich Ihnen
eine weitere Information: Nach dem Regionalisierungs-
gesetz stellen wir den Ländern Mittel für Bestellerentgelte
zur Verfügung. Das hat dazu geführt, dass im Regional-
verkehr der Eisenbahn erhebliche Zuwächse zu gewärti-
gen sind. Nicht alle Mittel, die wir den Ländern zur
Verfügung stellen, werden tatsächlich für den Schienen-
personennahverkehr ausgegeben.
Hinzu kommt, dass im Bundesschienenwegeausbauge-
setz festgelegt ist, dass 20 Prozent der Mittel ausschließ-
lich dem Nahverkehr zugute kommen. Die Quote liegt
nicht nur bei den gesetzlich festgelegten 20 Prozent, son-
dern beläuft sich auf fast ein Drittel. Daran erkennen Sie,
dass der Bund erhebliche Anstrengungen unternimmt, da-
mit der Eisenbahnverkehr auch in der Fläche weiterhin
bestehen kann.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Straubinger.
Herr Staatssekretär,
Sie haben vorhin auf die Leistungen der Bundesregierung
beim Streckenausbau und bei der Bereitstellung der dazu
erforderlichen Mittel hingewiesen. Aber bei dem, was
mein Kollege Dr. Rose gerade angesprochen hat, geht es
ja weniger um die Stärkung des Schienennetzes, sondern
offensichtlich eher um die Behebung von Organisations-
problemen und um das Angebot der DB AG. Ein schwa-
ches Schienennetz ist ja nicht der Grund dafür, dass sich
die Bahn immer weiter aus der Fläche zurückzieht. Der
Grund ist vielmehr darin zu sehen, dass sie den Markt-
teilnehmern kein tragfähiges Angebot unterbreiten kann.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
20479
Müssen hier nicht besondere Anstrengungen unternom-
men werden?
S
Hin-
sichtlich der Marktteilnehmer haben Sie völlig Recht. Es
ist notwendig, eine Politik zu betreiben, die mehr Wettbe-
werb auf der Schiene ermöglicht, damit unterschiedliche
Angebote an die Nutzer herangetragen werden können.
Eine solche Politik haben wir mit der Taskforce realisiert,
die entsprechende Vorschläge vorgelegt hat, die wir um-
zusetzen im Begriff sind.
Wenn ich
mich hier umschaue, habe ich das Gefühl, dass die SPD-
Fraktion und nicht die CDU/CSU-Fraktion heute ein
Weihnachtsessen hat.
– Gut, Sie haben keine Fragen.
Dann werden wir jetzt den Dialog zwischen Regierung
und Opposition fortsetzen. Dazu rufe ich die Frage 17 des
Kollegen Straubinger auf:
Wie lässt sich das Programm „Projekt Marktorientiertes Ange-
bot Cargo“ – Mora C – der DB AG, welches zu einer Verlagerung
von Gefahrguttransporten – zum Beispiel Flüssiggas – von der
Schiene auf die Straße führen dürfte, mit dem entgegengesetzten
Ziel der Bundesregierung, der Verlagerung auf die Schiene, ver-
einbaren und was gedenkt die Bundesregierung insoweit im Hin-
blick auf das oben genannte Programm zu unternehmen?
S
Die DB
Cargo AG hat, um den Einzelwagenverkehr dauerhaft auf
eine wirtschaftliche Grundlage zu stellen, das Projekt
„Marktorientiertes Angebot Cargo – Mora C – “ erarbei-
tet; davon war schon mehrfach die Rede. Im Rahmen des
Projekts wird die Bedienung unwirtschaftlicher Güterver-
kehrsstellen durch die DB Cargo AG eingestellt oder
durch die Änderung von Produktionsabläufen hinsichtlich
der Wirtschaftlichkeit nachhaltig verbessert. Güterver-
kehrsstellen, die nicht mehr durch die DB Cargo AG be-
dient werden können, sollen zukünftig nach Möglichkeit
durch andere Eisenbahnverkehrsunternehmen oder im
Verbund mit Kombiverkehrsterminals bedient werden;
ich schilderte das bereits. Die DB Cargo AG prüft dies zu-
sammen mit den Betroffenen.
Die Bundesregierung erwartet insofern keine nachhal-
tige Verlagerung von Gefahrgutbeförderungen von der
Schiene auf die Straße, sondern geht davon aus, dass die
beabsichtigte Sanierung der Einzelwagenverkehre trotz
einiger Verlagerungen von Gefahrgutverkehren auf die
Straße mittelfristig auch für die Gefahrgutbeförderungen
auf der Schiene positive Effekte haben wird.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär,
nach Informationen des Deutschen Verbandes Flüssiggas
werden 60 bis 70 Umladestationen bzw. Zielbahnhöfe für
den Flüssiggastransport, die von dem Programm Mora C
betroffen sind, geschlossen bzw. nur noch punktuell an-
gefahren. Dies bedeutet, dass mehrere Zehntausend Ton-
nen Flüssiggas zukünftig über die Straße befördert wer-
den müssen. Ist dies mit der Gefahrgutverordnung Straße
überhaupt in Einklang zu bringen, deren Zielsetzung darin
besteht, vor allen Dingen die Gefahrgüter weiterhin auf
der Schiene zu transportieren?
S
Nach
der Gefahrgutverordnung dürfen nur jene Güter, deren
Transport das Eisenbahnbundesamt ausdrücklich geneh-
migt hat, nicht auf der Schiene befördert werden. Dies gilt
auch weiterhin.
Im Übrigen darf ich Ihnen sagen: Das Konzept Mora C
zielt weder direkt noch indirekt auf Gefahrguttransporte,
sondern behandelt sie im Vergleich zu allen anderen Gü-
terverkehrstransporten als völlig gleichwertig.
Insofern gilt das Gleiche, was zu den „normalen“ Güter-
verkehrstransporten zu sagen ist, auch für Gefahr-
guttransporte. Auch hier gibt es die Möglichkeit, nach al-
ternativen Betreibern Ausschau zu halten und in
Verhandlungen mit der DB AG ein entsprechendes alter-
natives Verkehrsangebot zu erstellen.
Zweite Zu-
satzfrage.
Herr Staatssekretär,
Sie führten gerade aus, dass in dem Programm Mora C
keine Unterschiede gemacht, sondern alle Güter gleich
bewertet werden. Müssten nicht gerade die Gefahrgüter
eine besondere Behandlung erfahren, weil Marktteilneh-
mer aufgrund ihrer Vorleistungen in der Vergangenheit
besonders benachteiligt werden könnten?
Sie waren nach der Gefahrgutverordnung Straße ge-
halten, zuerst eine Ausnahmegenehmigung einzuholen,
die sie selten bekommen haben. Sie haben Investitionen
an den entsprechenden Bahnhöfen getätigt. Mittlerweile
werden diese Bahnhöfe von der DB Cargo nicht mehr an-
gefahren. Damit werden die Marktteilnehmer in der
Fläche verdrängt. Ist nicht unter diesem Gesichtspunkt
eine unterschiedliche Bewertung gerade bei dem Mora-C-
Programm einzufordern?
S
Herr
Straubinger, ich sage es noch einmal: Das Mora-C-Kon-
zept zielt in erster Linie darauf, die DB Cargo AG zu sa-
nieren und sie in den Stand zu versetzen, dass zukünftig
deutlich mehr Güterverkehr als bisher auf der Schiene er-
folgen kann. Ich gehe davon aus, dass davon selbstver-
ständlich auch die Gefahrguttransporte profitieren können.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Max Straubinger
20480
Eine Zu-
satzfrage der Kollegin Ostrowski.
Herr Staatssekretär, Sie
sagten soeben, dass in Mora C Aussagen zu Güterbahn-
höfen getroffen werden, die aus wirtschaftlichen Gründen
geschlossen werden sollen oder müssen, ebenso zu Gü-
terbahnhöfen, die erhalten bleiben können. Ich frage Sie
deshalb: Wie viele der vorhandenen Güterbahnhöfe sollen
denn gemäß diesem Konzept aus wirtschaftlichen Grün-
den geschlossen werden?
S
Ich bin
gern bereit, Ihnen die Antwort auf diese Frage schriftlich
zuzusenden. Es tut mir Leid, dass ich darauf nicht vorbe-
reitet bin. Sie hätten diese Frage vorher anmelden können;
dann hätte ich Ihnen die Zahlen hier präsentieren können.
Ich rufe die
Frage 18 der Kollegin Blank auf:
Aus welchen Haushaltsmitteln wird die Ankündigung des Bun-
desministers für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Kurt Bodewig,
„Die Deutsche Bahn kann in den nächsten zehn Jahren für 8,7 Mil-
liardenDM neue Züge kaufen und einsetzen“, die er in Nürnberg am
21. November 2001 vor den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
ICE-Instandhaltungswerkes getroffen hat, finanziert?
S
Frau
Blank, die Investitionen in Fahrzeuge der Bahn werden
nicht mit Haushaltsmitteln des Bundes, sondern grund-
sätzlich durch Eigenmittel des DB-AG-Konzerns finan-
ziert. Daneben erhält die DB AG insbesondere im Nah-
verkehr Zuschüsse für die Fahrzeugbeschaffung von
Gebietskörperschaften und/oder Dritten.
Eine Zu-
satzfrage.
Herr Staatssekretär, das
war mir eigentlich bekannt. Wie kommt aber dann Ihr
Minister – ich bedauere, dass er nicht mehr anwesend ist –
dazu, vor den Beschäftigten des Ausbesserungswerkes in
Nürnberg diese 8,7 Milliarden DM als Leistung des Bun-
des darzustellen? Das wurde auf Nachfrage von Journa-
listen als Leistung des Bundes deklariert. Mir ist bekannt,
dass Sie mir darauf jetzt wahrscheinlich keine Antwort
geben können.
S
Frau
Blank, Sie selbst haben in Ihrer Frage den Minister mit der
Aussage zitiert:
Die Deutsche Bahn kann in den nächsten zehn Jahren
für 8,7 Milliarden DM neue Züge kaufen und einset-
zen.
Es ist nicht die Rede davon, dass diese Mittel vom Bund
kommen.
Möchten Sie
noch eine Zusatzfrage stellen?
Nein.
Ich rufe die
Frage 19 der Kollegin Blank auf:
Trifft es zu, dass die DB AG in diesem Jahr rund 1,5 Milliar-
den DM der Investitionsmittel des Bundes nicht verbauen kann,
und – wenn ja – welcher Verwendung werden diese Mittel zuge-
führt?
S
Im lau-
fenden Jahr wird die DBAG einen Teil der zur Verfügung
stehenden Bundesmittel nicht verausgaben können. Die
endgültige Höhe dieses Betrages lässt sich gegenwärtig
noch nicht präzise abschätzen. Hierbei ist die Bahn vom
tatsächlichen Bauablauf bei ihren Vorhaben und von der
entsprechenden Rechnungsstellung der beauftragten
Unternehmen abhängig.
Eine Zu-
satzfrage.
Herr Staatssekretär, viel-
leicht können Sie das unpräzise abschätzen,
zumal im Verkehrsausschuss bereits eine Zahl zwischen
1,2 Milliarden DM und 1,6 Milliarden DM genannt
wurde. Ist Ihnen bekannt, dass diese Summe wieder in den
Bundeshaushalt zurückfließt?
S
Es ist
schon seit einer Weile bekannt, dass die DBAG in diesem
Jahr den vollen, von uns zur Verfügung gestellten Betrag
für die Schieneninvestitionen leider nicht ausgeben kann.
Wir haben dafür Sorge getragen, dass sie trotzdem den
vollen Betrag mittelfristig zur Verfügung gestellt be-
kommt; denn die 6 Milliarden DM, die zur Ertüchtigung
des Bestandsnetzes vorgesehen sind, sind a) bereits ver-
traglich gebunden und b) eine notwendige Aufgabe, damit
die Bahn ihren Versorgungsauftrag erfüllen kann. Wir ha-
ben dies sichergestellt.
Was den Mittelabfluss betrifft, können wir für den De-
zember keine genauen Aussagen treffen, weil dieser Mo-
nat noch nicht zu Ende ist. Am Ende des Haushaltsjahres
wird Klarheit bestehen. Beispielsweise sind im November
Mittel in Höhe von etwas über 2 Milliarden DM abgeru-
fen worden. Dies ist ein sehr hoher Betrag, der vermuten
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001 20481
lässt, dass wir im Dezember einen ähnlich hohen Betrag
zu erwarten haben.
Zweite Zu-
satzfrage.
Herr Staatssekretär, jetzt
treffe ich eine Feststellung: Sie eiern sichtlich herum. Ich
habe nicht danach gefragt, was im November und im De-
zember abgerufen wurde, sondern danach, welche Mittel
in diesem Jahr nicht verbaut werden konnten. Da die Zah-
len in Ihrem Hause vorliegen, habe ich erwartet, dass Sie
uns eine konkrete Zahl nennen. Herr Staatssekretär, das ist
kein ordentlicher Umgang mit dem Parlament. Wir haben
das Recht, nach Zahlen zu fragen.
Herr Staatssekretär, ich komme auf die 2 Milliar-
den DM, die Sie vorhin einem Kollegen dargelegt haben,
zu sprechen. Mit anderen Worten: Die Deutsche BahnAG
kann in diesem Jahr das Geld, das ihr aus Bundeshaus-
haltsmitteln zur Verfügung gestellt wird, wiederum nicht
verbauen. Ich habe eine konkrete Antwort erwartet. Ich
gehe davon aus, dass die nicht verbauten Mittel wieder an
den allgemeinen Haushalt zurückfließen. Trifft das zu?
S
Ich sage
es noch einmal: Genaue Aussagen darüber, wie viel Mit-
tel die Bahn in diesem Jahr nicht verausgaben kann, gibt
es nicht, liegen nicht vor und sind in unserem Hause nicht
bekannt. Dies ist erst nach Ablauf des Haushaltsjahres ge-
nau festzustellen. Sie können dann gern neue Fragen stel-
len. Wir geben Ihnen dann gern die entsprechenden Infor-
mationen dazu.
Selbstverständlich stehen die Mittel, die in diesem Jahr
nicht verausgabt wurden, nicht für andere Investitionen in
diesem Jahr zur Verfügung. Wir haben dafür Sorge getra-
gen, dass sie der DBAG weiterhin zur Verfügung gestellt
werden, weil a) die Aufgaben, für die Ausgaben in Höhe
von 6 Milliarden DM vorgesehen sind, bereits vertraglich
gebunden sind und b) die Aufgaben sinnvoll, notwendig
und vernünftig sind.
Frau Kolle-
gin Ostrowski hat das Wort zu einer Zusatzfrage.
Das eigentlich Span-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Warum kann
die Deutsche Bahn die Mittel nicht verbauen?
Dazu haben Sie überhaupt nichts gesagt. Ich möchte gerne
wissen: Wo liegen die Gründe? Es ist ja keineswegs so,
dass die Bahn AG etwa keinen Bedarf an Investitionen
hätte. Sie hat sogar einen hohen Investitionsrückstau.
S
Frau
Ostrowski, der Inhalt Ihrer Frage war nicht Gegenstand
der Frage von Frau Blank.
Die Fragen 20
und 21 des Kollegen Thomas Strobl werden schriftlich be-
antwortet.
Wir kommen zur Frage 22 des Kollegen Johannes
Singhammer:
Wird die Bundesregierung zusätzliche Finanzmittel in einer
Höhe von rund 50 Millionen DM bis zum Jahr 2006 für einen
sechsstreifigen Ausbau der Bundesautobahn A 9 zwischen dem
Kreuz München/Nord und dem Münchener Ring sowie für die zu
ertüchtigende bereits bestehende Anschlussstelle Fröttmaning im
Aufgabenbereich der unmittelbaren Baulast des Bundes zur Ver-
fügung stellen, um den termingerechten oben genannten Aus- und
Umbau der Bundesautobahn A 9 bis zur Eröffnung des Sta-
dionneubaus in München-Fröttmaning sicherzustellen?
S
Herr
Singhammer, die Bundesregierung ist bereit, den vor-
dringlichen, rund 50Millionen DM teuren sechsstreifigen
Ausbau der Bundesautobahn A9 im rund 3 Kilometer lan-
gen Abschnitt zwischen dem Kreuz München/Nord und
dem Münchener Ring einschließlich der bestehenden An-
schlussstelle Fröttmaning im Zeitraum bis zur für 2006
vorgesehenen Eröffnung des geplanten Stadionneubaus in
München-Fröttmaning innerhalb des auf Bayern entfal-
lenden Anteils an den Bundesfernstraßenmitteln in den
Bundeshaushalten der kommenden Jahre zu finanzieren,
sofern die baurechtlichen Voraussetzungen dafür zeitge-
recht geschaffen werden. Einzelheiten dazu werden zu ge-
gebener Zeit zwischen der Bundesregierung und der
Bayerischen Staatsregierung abzustimmen sein.
Eine Zu-
satzfrage.
Herr Staatsse-
kretär, die Menschen, die an diesem Autobahnabschnitt
leben, sind in Sorge – Sie haben Ihre Antwort ja unter zwei
Bedingungen formuliert, zum einen Vorlage der Bauun-
terlagen und Baufortschritt und zum anderen Finanzie-
rung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel, die
Bayern zugemessen werden –, dass bis zur Fußballwelt-
meisterschaft eben nicht die entsprechenden Baumaßnah-
men ausgeführt und Lärmschutzanlagen erstellt werden,
sondern dass der zusätzliche Verkehr in dem Bereich auf
den so genannten Standspuren und ohne Lärmschutz rollt.
Deshalb meine Frage: Können Sie, Herr Staatssekretär,
für die Bundesregierung ausschließen, dass aufgrund des
nicht erfolgten Ausbaus zum Zeitpunkt der Fußballwelt-
meisterschaft die Standspuren benutzt werden und dass
letztendlich eine untragbare Situation, sowohl vom Ver-
kehrsaufkommen als auch von den Lärmemissionen her,
eintritt?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Parl. Staatssekretär Stephan Hilsberg
20482
S
Ich sage
Ihnen noch einmal: Wir haben zugesichert, dass bis 2006
ein sechsstreifiger Ausbau vorgenommen wird. Voraus-
setzung ist selbstverständlich, dass wir die Planungsun-
terlagen dafür bekommen, die gegenwärtig erstellt wer-
den. Dafür ist die Auftragsverwaltung des Freistaats
Bayern zuständig, nicht wir.
Was den zweiten Teil der Frage betrifft: Der bayerische
Anteil an Bundesfernstraßenmitteln gibt den sechsstreifi-
gen Ausbau durchaus her.
Eine weitere
Zusatzfrage.
Herr Staatsse-
kretär, Sie haben mir in Ihrer schriftlichen Antwort vom
26. November mitgeteilt, dass die entsprechenden Unter-
lagen, die Sie gerade in Ihrer Antwort angesprochen ha-
ben, noch nicht vorlägen. Meine Nachfrage beim bayeri-
schen Innenministerium hat ergeben, dass sie nachweis-
lich am 30. Oktober dieses Jahres abgeschickt worden
sind. Nun interessiert mich: Sind die Unterlagen mitt-
lerweile bei Ihnen angekommen? Haben Sie Kenntnis da-
von?
S
Ich weiß
nicht, welche Unterlagen die Bayerische Staatsregierung
in ihrer Auskunft Ihnen gegenüber gemeint hat. Die Un-
terlagen, die in meinem Brief an Sie beschrieben wurden,
liegen in der Tat noch nicht vor.
Ich rufe die
Frage 23 des Kollegen Helmut Heiderich auf:
Ist die Bundesregierung bereit, im Rahmen ihres „Betreiber-
modells für den sechsstreifigen BAB-Ausbau“ auch andere als die
von ihr als mögliche Pilotabschnitte vorgeschlagenen Projekte in
das Ausbauprogramm der privaten Vorfinanzierung aufzunehmen
und auf welchem Weg kann diese zusätzliche Aufnahme erfolgen?
S
Herr
Heiderich, bei dem Betreibermodell für den sechsstreifi-
gen Autobahnausbau, dem so genannten Sechsermodell,
handelt es sich nicht um eine private Vorfinanzierung,
sondern um eine Projektfinanzierung. Das heißt, der pri-
vate Betreiber übernimmt im Laufe einer Konzessionszeit
nach Abschluss der Bauphase die Aufgaben für Betrieb
und Erhaltung sowie die daraus entstehenden Risiken. Die
hierdurch entstehenden Kosten sowie der private Anteil
der anfänglichen Baukosten werden durch die strecken-
spezifische Weiterleitung der Einnahmen aus der Auto-
bahngebühr für schwere LKW – das sind solche mit mehr
als 12 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht – refinanziert.
Bei der privaten Vorfinanzierung übernimmt der Pri-
vate nur die Bauleistung für das Straßenbauprojekt und
dessen Finanzierung auf eigene Rechnung. Der Bund ver-
pflichtet sich, den privat finanzierten Streckenabschnitt
gegen ratenweise Zahlung der Refinanzierungssumme zu
erwerben. Die gesamten Refinanzierungskosten, das heißt
Bau- und Finanzierungskosten, die sich über 15 Jahresra-
ten verteilen, trägt der Bundesfernstraßenhaushalt.
Derzeit werden Abstimmungsgespräche mit den Län-
dern über die mit der Projektliste vorgeschlagenen Maß-
nahmen nach dem 6er-Modell geführt. Dabei ist es im
Grundsatz möglich, Maßnahmen einvernehmlich auszu-
tauschen. Die Anstrengungen des Bundesministeriums
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen hinsichtlich der
Erarbeitung von Musterregelungen, unter anderem Kon-
zessionsvertrag und Realisierungsstudien, konzentrieren
sich im Interesse einer möglichst frühzeitigen Vergabe auf
die in der Projektliste enthaltenen Maßnahmen.
Zusatz-
frage?
Ja. – Herr Staatsse-
kretär, darf ich zunächst fragen, unter welchen Bedingun-
gen es möglich ist, dass in dieses Programm auch
Strecken, die bisher „als grundhafte Erneuerung mit Aus-
bau von Steigungsstreifen“ klassifiziert sind, aufgenom-
men werden?
S
In die-
ses Programm werden grundsätzlich Autobahnabschnitte
aufgenommen, die von vier Streifen auf sechs Streifen er-
weitert werden. Wenn dieses gleichzeitig damit einher-
geht, dass diese Strecken grundhaft erneuert werden müs-
sen, ist das ja letztlich eine Qualitätsverbesserung, die wir
sowieso durchführen müssen.
Eine weitere
Zusatzfrage.
Darf ich noch weiter
fragen, ob bei der Auswahl der Strecken, die Sie hier vor-
geschlagen haben, die bisherige Klassifizierung des Bun-
desverkehrswegeplanes keine entscheidende Rolle spielt,
da meines Wissens auch Strecken aufgeführt sind, die bis-
her im „Weiteren Bedarf“ ausgewiesen waren?
S
Sie ha-
ben Recht, es sind auch Streckenabschnitte dabei, die bis-
her im „Weiteren Bedarf“ mit ausgewiesen wurden.
Gleichwohl sind dies Abschnitte, deren sechsstreifige Er-
weiterung als notwendig angesehen wurde.
Ich rufe die
Frage 24 des Kollegen Heiderich auf:
Wie wird die Bundesregierung die konkrete Höhe der An-
schubfinanzierung bzw. des öffentlichen Finanzierungsanteils bei
den Betreibermodellen berechnen und wird sie die Reihenfolge
der Zuteilung bzw. die Priorität der Maßnahme nach der Höhe des
privaten Finanzierungsanteils oder nach anderen Kriterien festle-
gen?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001 20483
S
Für
die ersten Projekte nach dem 6er-Modell sind so ge-
nannte Realisierungsstudien vorgesehen, mit denen auch
die Höhe der erforderlichen Anschubfinanzierung abge-
schätzt werden soll. Die tatsächliche Höhe der Anschub-
finanzierung ergibt sich erst im Rahmen der Ausschrei-
bung bzw. Vergabe der jeweiligen Maßnahme.
Die Anschubfinanzierung für ein 6er-Modell ist aus
den Investitionsmitteln des Bundes für die Bundesfern-
straßen aufzubringen, die dem jeweiligen Land im Rah-
men seines Anteils an den Hauptbautiteln zur Verfügung
stehen. Die Priorität der Maßnahmen ist deshalb abhängig
von der einvernehmlich zwischen Bund und dem jeweili-
gen Land abzustimmenden Verwendung dieser Investiti-
onsmittel.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär,
ist die Bundesregierung auch bereit, im Vorfeld einer sol-
chen Planung den privaten Unternehmen, die ja nachher
den Ausbau vornehmen sollen, die entsprechenden Daten
über Verkehrsumfang, Bestandspläne, Streckengestaltung
und gegenwärtigen Streckenzustand zur Verfügung zu
stellen, damit diese privaten Unternehmen einen entspre-
chenden Planungsentwurf und eine Kostenplanung bei Ih-
nen einreichen können?
S
Herr
Heiderich, selbstverständlich ist die Bundesregierung
dazu bereit. Dies ist geradezu notwendig; sonst ist es ja für
einen Privaten überhaupt nicht möglich, ein Angebot ab-
zugeben.
Eine Zu-
satzfrage der Kollegin Blank.
Herr Staatssekretär, nach
Ihren Ausführungen drängt sich mir die Frage auf, ob Ihr
Betreibermodell nicht ganz genau dem privaten Konzes-
sionsmodell entspricht, das Sie noch vor acht Wochen
abgelehnt haben.
S
Ich weiß
nicht, welches Modell Sie im Auge haben, das wir vor
acht Wochen abgelehnt haben sollen.
Herr Kol-
lege Heiderich, Sie haben noch eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär,
Sie hatten in der Antwort auf meine erste Frage vorhin er-
wähnt, dass Strecken ausgetauscht werden könnten. Nun
meine Frage: Ist es auch möglich, dass zu den von Ihnen
vorgeschlagenen Strecken weitere Strecken hinzukom-
men? Sind Sie gegebenenfalls auch bereit, die gesamte
Planungsphase in die Hand eines privaten Betreibers zu
legen?
S
Dies al-
les sind Fragen, die wir gegenwärtig mit den Ländern
erörtern. Wir sind da relativ offen; denn dieses private
Betreibermodell erfordert die Zustimmung des Landes.
Wir können das nur im Einvernehmen zwischen Land und
Bund realisieren.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Wiese.
Herr Staatsse-
kretär, halten Sie es für denkbar, dass es dadurch Einspar-
effekte geben könnte, dass beispielsweise ein Autobahn-
ausbau wie der Albaufstieg im gleichen Zeitrahmen wie
der Ausbau der ICE-Strecke von Stuttgart Richtung Mün-
chen stattfindet? Dadurch würden sich ja nicht nur auf-
grund der parallelen Trassenführung, sondern auch auf-
grund der gleichzeitigen Bewältigung erheblicher Höhen-
unterschiede gewaltige Einspareffekte erzielen lassen.
S
Wir hal-
ten Einspareffekte aufgrund des privaten Betreibermo-
dells selbstverständlich für möglich. Wir zielen aber nicht
darauf ab. Die erwähnte ICE-Hochgeschwindigkeits-
strecke steht nicht im Zusammenhang mit dem nach dem
privaten Betreibermodell zu betreibenden Albaufstieg. Es
handelt sich vielmehr um eine Strecke, die unmittelbar am
Bauabschnitt, der dahinter folgt, liegt.
Die
Frage 25 des Kollegen Austermann wird schriftlich be-
antwortet.
Wir sind somit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich
danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanz-
leramtes. Zur Beantwortung steht Staatssekretär Uwe-
Karsten Heye zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 26 des Kollegen Dr. Christian Ruck
auf:
Welche tatsächlichen Gründe waren dafür maßgeblich, dass
der Bundeskanzler, Gerhard Schröder, laut „Abendzeitung“,
München vom 12. September 2000, den damaligen Bundestags-
kollegen und späteren stellvertretenden Leiter der Inlandsab-
teilung des Bundespresseamtes, Hans Wallow, „feuern ließ“?
U
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abge-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 200120484
ordneter, darf ich mir erlauben, Ihre beiden Fragen im Zu-
sammenhang zu beantworten, weil sie inhaltlich zusam-
menhängen?
Ich rufe also
auch noch die Frage 27 des Kollegen Dr. Christian Ruck
auf:
Hat das Bundeskanzleramt auf das Verfassen des Artikels in
der „Abendzeitung“ vom 12. September 2000 Einfluss genommen
und, wenn ja, waren im Bundeskanzleramt die tatsächlichen
Gründe für die Versetzung des betroffenen Beamten von Berlin an
die Außenstelle Bonn bekannt?
U
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Dar-
stellung in dem von Ihnen zitierten Zeitungsartikel ist
unzutreffend. Mit dieser Personalangelegenheit waren
weder der Bundeskanzler noch das Bundeskanzleramt
befasst.
Falsch ist auch die Behauptung, dass der betroffene
Mitarbeiter gefeuert worden sei. Richtig ist vielmehr, dass
er auf eigenen Wunsch in den Ruhestand getreten ist.
Deswegen kann ich auf Ihre zweite Frage nur mit einem
klaren Nein antworten.
Herr Kol-
lege Ruck, Sie haben jetzt vier Zusatzfragen.
Erste Nachfrage.
Der Bundeskanzler hat also in keiner Weise in den Kon-
flikt zwischen dem Bundespresseamt und dem ehema-
ligen Fraktionskollegen eingegriffen. Habe ich Sie richtig
verstanden?
U
Rede von: Unbekanntinfo_outline
So ist es.
Weitere Nachfrage:
Wie erklären Sie sich Ihre Aussage, Herr Staatssekretär,
dass zwischen der Umsetzung des betroffenen Beamten
und seiner Tätigkeit als Autor kein Zusammenhang be-
stünde, obwohl die Anwälte des Bundespresseamtes vor
dem Verwaltungsgericht Berlin erklärten, man müsse den
Beamten versetzen, da dem Theaterstück in der Presse be-
sondere Aufmerksamkeit gewidmet war?
U
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann in
diesem Zusammenhang nur sagen: Es ist hier im Interesse
der Betroffenen Vertraulichkeit geboten, weil es sich um
eine Personalangelegenheit handelt. Deswegen muss ich
mich in dieser Frage zurückhalten und bitte dafür um Ver-
ständnis.
Meine letzte Nach-
frage: Trifft es zu, dass aus dem Verantwortungsbereich
des Beamten besonders zahlreiche Werbeaufträge an eine
Werbeagentur in Hannover gingen, die seit Jahren einen
besonders guten Kontakt zum Bundeskanzler hat, und
dass der betroffene Beamte dies behördenintern moniert
hat?
U
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann
mich an keinen solchen Vorgang erinnern. Deswegen
kann ich die Frage im Moment nicht beantworten.
Zusatzfrage
des Kollegen von Klaeden.
Herr Staatssekre-
tär, können Sie dem Vorgang nachgehen und uns von
Ihren Erkenntnissen berichten?
U
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das kann
ich gerne tun.
Danke sehr.
Ich danke
Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Finanzen. Die Fragen werden
von der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Barbara
Hendricks beantwortet.
Ich rufe die Frage 30 der Kollegin Elke Wülfing auf:
Ist es richtig, dass in den Freistellungsbescheinigungen zum
Steuerabzug bei Bauleistungen gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Ein-
kommensteuergesetz, die die Finanzämter ausstellen, darauf hin-
gewiesen wird, dass der Leistungsempfänger die Freistellungs-
bescheinigung überprüfen kann, um eine Haftung für den
Steuerabzug zu vermeiden?
D
Frau Kollegin Wülfing, ja,
es trifft zu, dass die von den Finanzämtern der Bundes-
länder ausgestellten Freistellungsbescheinigungen den
Hinweis enthalten, dass der Leistungsempfänger die Frei-
stellungsbescheinigung überprüfen kann, um eine Haf-
tung für den Steuerabzug zu vermeiden.
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe
ich die Frage 31 der Kollegin Elke Wülfing auf:
Wenn ja, hat dann dieser Hinweis zur Folge, dass der Leis-
tungsempfänger, der nicht nachweisen kann, dass er die Korrekt-
heit der Freistellungsbescheinigung beim Bundesamt für Finan-
zen überprüft hat, für den Steuerabzug haftet?
D
Durch das bloße Unterlas-
sen einer Überprüfung der Freistellungsbescheinigung
bzw. durch den mangelnden Nachweis einer Überprüfung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Staatssekretär Uwe-Karsten Heye
20485
wird keine Haftung begründet. Nach der für die Haftung
maßgeblichen Vorschrift des § 48 a Abs. 3 Einkommen-
steuergesetz haftet der Leistungsempfänger für den Ab-
zugsbetrag nicht, wenn ihm im Zeitpunkt der Gegenleis-
tung eine Freistellungsbescheinigung vorgelegen hat,
deren Rechtmäßigkeit er vertrauen konnte. Im Regelfall
wird der Leistungsempfänger nicht haften, wenn die ihm
vorgelegte Freistellungsbescheinigung formal den gesetz-
lichen Anforderungen an eine solche Bescheinigung ent-
spricht.
Um zu verhindern, dass der Leistende in Zweifelsfällen
einen Steuerabzug vornimmt, um eine vermeintliche Haf-
tung zu vermeiden, kann er sich durch eine Internet-
anfrage beim Bundesamt für Finanzen oder durch Nach-
frage beim zuständigen Finanzamt die Richtigkeit der
Gültigkeit der Freistellungsbescheinigung bestätigen
lassen. Die Möglichkeit der Internetanfrage dient vor-
rangig der Effektivität des Freistellungsverfahrens.
Nach dem ausdrücklichen Wortlaut darf der Leis-
tungsempfänger nach § 48 a Abs. 3 Einkommensteuerge-
setz allerdings insbesondere dann nicht auf eine Freistel-
lungsbescheinigung vertrauen, wenn sie durch unlautere
Mittel oder falsche Angaben erwirkt wurde und ihm dies
bekannt war oder grob fahrlässig nicht bekannt war.
Eine Zu-
satzfrage?
Ja.
Bitte.
Frau Staatssekretärin, ist
es dann nicht richtig, dass die neu geregelte Zentralstelle,
die wir ja gemäß dem Steueränderungsgesetz 2001 neu
eingerichtet haben, eine Haftungsverschärfung dahin ge-
hend bedeutet, dass der Leistungsempfänger, wenn er
nicht per Internet anfragt, automatisch für den Steuerab-
zug haftet, wenn diese Freistellungsbescheinigung, wel-
che ich hier habe und auf die meine Fragen ja gründen,
nicht korrekt ist?
D
Nein, Frau Kollegin, es ist
nicht richtig, dass er dann automatisch haftet. Es ist nur
eine Erleichterung. Um sich zu vergewissern, ob die
Freistellungsbescheinigung wirklich richtig ist, kann der
Leistungsempfänger diese Anfrage per Internet machen,
was ja eine sehr einfache Tätigkeit ist, die also keinen
Aufwand beinhaltet. Er kann auch beim zuständigen Fi-
nanzamt des Leistungserbringers, also der auftragneh-
menden Firma, nachfragen. Einfacher ist es aber, dies per
Internet zu tun.
Aber ich sagte Ihnen ja, dass der ausdrückliche Wort-
laut des entsprechenden Paragraphen im Einkommen-
steuergesetz bedeutet, dass Haftung nur dann entsteht,
wenn diese Freistellungsbescheinigung tatsächlich falsch
war und derjenige, der diese entgegengenommen hat, dies
gewusst hat oder grob fahrlässig nicht gewusst hat. Aber
grobe Fahrlässigkeit entsteht nicht dadurch, dass er nicht
selber nachfragt.
Noch einmal nachgefragt:
Er muss also nicht nachweisen, dass er die Zentralstelle
oder das Finanzamt nicht angerufen hat, um zu beweisen,
dass die Freistellungsbescheinigung, die ihm vorgelegen
hat, korrekt ist?
D
Nein, dies muss er nicht
nachweisen.
Gut. Vielen Dank.
Die
Fragen 32 und 33 des Kollegen Ernst Hinsken und die
Frage 34 des Kollegen Hans Michelbach werden schrift-
lich beantwortet.
Ich rufe die Frage 35 des Kollegen Dr. Hans-Peter
Friedrich zu den finanziellen Problemen der Schmidt-
Bank in Hof auf:
Zu welchem Zeitpunkt hat das Bundesaufsichtsamt für das
Kreditwesen die Bundesregierung über die finanziellen Probleme
der Schmidt-Bank in Hof unterrichtet?
D
Herr Kollege Friedrich, das
Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen ist zentrale
Kontroll- und Überwachungsinstanz im Bereich der Ban-
kenaufsicht und aufgrund seiner organisatorischen Selbst-
ständigkeit in diesem ihm zugewiesenen Fachbereich
zum eigenverantwortlichen Handeln nach Maßgabe des
Gesetzes über das Kreditwesen, KWG, berechtigt.
Im Rahmen der Fachaufsicht des Bundesministeriums
der Finanzen über das Bundesaufsichtsamt für das Kre-
ditwesen bestehen grundsätzlich keine besonderen Unter-
richtungspflichten gegenüber den zuständigen Stellen des
Bundesministeriums der Finanzen. Über Schieflagen von
Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten in sensibel
und bedeutend eingestuften Fällen informiert das Bundes-
aufsichtsamt für das Kreditwesen das Bundesministerium
der Finanzen.
Im Falle der Schmidt-Bank hat das Bundesaufsichts-
amt für das Kreditwesen das Bundesministerium der Fi-
nanzen schriftlich Bericht über die Lage des Instituts und
die geschaffene Auffanglösung erstattet. Dieser Bericht
ging dem Bundesministerium der Finanzen rechtzeitig zu.
Zusatz-
fragen?
Ja.
Bitte.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
20486
Frau
Staatssekretärin, ich habe diese Frage deswegen gestellt,
weil der Kollege Ludwig Stiegler von der SPD ausweis-
lich der „Frankenpost“ vom 21. November dieses Jahres
gesagt hat, Minister Eichel habe sich, als er von dem Ul-
timatum des Bundesaufsichtsamtes erfahren habe, sofort
um diese Sache gekümmert. Aber es war – so heißt es hier
wörtlich – „am Samstag Nachmittag zu spät. Da war
nichts mehr aufzuhalten“. Deswegen habe ich die Frage
gestellt, wann genau die Bundesregierung von dieser An-
gelegenheit erfahren hat. Außerdem möchte ich fragen: Ist
es schon einmal vorgekommen, dass eine Bank geschlos-
sen wurde, ohne dass die Bundesregierung davon vorher
in Kenntnis gesetzt wurde?
D
Ja, Herr Kollege, das ist
schon einmal vorgekommen. Denn dies gehört in der Tat
zu den aufsichtsrechtlichen Aufgaben des Bundesamtes
für das Kreditwesen. Die Bundesregierung, insbesondere
der Bundesfinanzminister als Person, wird im Vorhinein
über so etwas nicht unterrichtet, sondern das fällt in die
Zuständigkeit des Bundesaufsichtsamtes für das Kredit-
wesen. In sensiblen Bereichen – ich habe Ihnen das eben
gesagt; so ist es auch festgelegt – wird das Bundesminis-
terium der Finanzen unterrichtet, das heißt aber das zu-
ständige Referat, darüber hinausgehend vielleicht die zu-
ständige Abteilung. Dann müsste im Ministerium
entschieden werden, ob der Fall auch dem Minister vor-
gelegt wird. Aber nach meinem Kenntnisstand ist das
nicht der Fall gewesen, sondern das Bundesministerium
der Finanzen ist zunächst telefonisch und mündlich durch
das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen unterrichtet
worden und hat dann auf Bitte des Bundesministeriums
der Finanzen Anfang Dezember, also Anfang dieses Mo-
nats, schriftlich Bericht erstattet.
Wenn
die Information im Ministerium nicht an den Minister
weitergegeben wurde – so habe ich das verstanden –, dann
meine nächste Frage. Im Bundesaufsichtsamt wird ja nun
nicht geprüft, welche regionalwirtschaftlichen oder struk-
turpolitischen Konsequenzen die Schließung einer Bank
hat. Halten Sie es nicht für notwendig, dass man in diesem
Prozess auch das Wirtschaftsministerium und das Finanz-
ministerium stärker einschaltet, um solche wichtigen
strukturpolitischen Fragen zu klären?
D
Herr Kollege Friedrich, die
Aufgabe des Bundesaufsichtsamtes ist eine, wenn Sie so
wollen, Verbraucherschutzaufgabe. Es hat zunächst die
Einlagen der Menschen zu sichern, die ihr Geld bei einer
Bank angelegt haben. Zur Schließung einer Bank kommt
es dann, wenn das Eigenkapital der Bank nicht ausreicht,
um die Einlagen, die von den Sparern dort in gutem Glau-
ben hinterlegt worden sind, zu sichern. Das ist die eigent-
liche Aufgabe des Bundesaufsichtsamtes für das Kredit-
wesen; das entspricht seiner gesetzlich vorgeschriebenen
Aufgabenstellung. Strukturpolitische Gründe darf das
Bundesaufsichtsamt in diesem Zusammenhang letztlich
nicht berücksichtigen, weil es tatsächlich um die Einla-
gensicherung geht.
Wenn das Bundesaufsichtsamt im umgekehrten Fall
seiner Pflicht nicht nachkommen würde und eine Bank
über den Zeitpunkt, der verantwortlich wäre, hinaus
wirtschaften würde, dann wären alle Sparer der Region
sozusagen „entreichert“. Das muss verhindert werden.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Koschyk.
Frau Staatssekretä-
rin, in der öffentlichen Diskussion über das Vorgehen des
Bundesaufsichtsamtes ist vor allem die Kürze der Zeit kri-
tisiert worden, in der der Schmidt-Bank Gelegenheit ge-
geben worden ist, eine Schließung zu verhindern. Ent-
spricht der vorgegebene Zeitraum dem in solchen Fällen
üblichen Verfahren?
D
Ich weiß nicht genau, Herr
Kollege, wie lang der Zeitraum war. Aber ich will dazu
allgemein einmal Folgendes sagen. Ein langer Zeitraum
kann in diesem Zusammenhang niemals sinnvoll sein;
denn wenn sich herumsprechen würde, dass es Schwie-
rigkeiten gibt, würden natürlich alle Sparer und Konten-
inhaber umgehend ihr Geld abziehen und die Bank würde
sofort zugrunde gehen. Dann würde eine Auffanglösung
nicht mehr gelingen. Deswegen ist es notwendig, dass der
Vorgang vertraulich und rasch erfolgt.
Eine weitere
Zusatzfrage, diesmal vom Kollegen Protzner.
Frau Staatssekretä-
rin, Sie haben gesagt, dass das Bundesfinanzministerium
in als sensibel und bedeutend eingestuften Fällen vom
Bundesaufsichtsamt vorab informiert wird. Was hat diese
Vorabinformation für einen Sinn, wenn das Bundesfi-
nanzministerium nicht Handlungskonsequenzen daraus
ableitet, beispielsweise in Zusammenarbeit mit dem Bun-
deswirtschaftsministerium? Meine Frage bezieht sich also
nicht auf das Handeln des Bundesaufsichtsamtes für das
Kreditwesen, sondern darauf, warum das Bundesfinanz-
ministerium und das Bundeswirtschaftsministerium
untätig geblieben sind, obwohl sie vorab informiert wor-
den sind.
D
Herr Kollege Protzner, die
Zuständigkeit des Bundeswirtschaftsministeriums ist oh-
nehin nicht gegeben. Insofern geht Ihr Vorschlag ins
Leere. Aber der Vorgang ist so gehandhabt worden, dass
das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen zusammen
mit den vier bayerischen privaten Großbanken letztlich
die Lösung für die Auffanggesellschaft gefunden hat.
Das Bundesaufsichtsamt ist also ausgesprochen erfolg-
reich gewesen, weil die Bank letztlich nicht geschlossen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001 20487
werden musste, sondern eine Auffanggesellschaft gegrün-
det wurde, die in alle Rechte und Pflichten eintreten
konnte. Auf diese Weise haben aus diesem Grund weder
Sparer ihr Eigentum verloren noch etwa konnten Kredite
nicht mehr prolongiert werden. Das war eine ausgespro-
chen erfolgreiche Tätigkeit des Bundesaufsichtsamtes für
das Kreditwesen.
Wir kom-
men zur Frage 36 des Kollegen Friedrich:
Welche Schritte hat die Bundesregierung unternommen oder
gedenkt sie zu unternehmen, um die Schmidt-Bank in ihrer Funk-
tion als Mittelstandsbank für die Zukunft zu erhalten, wie dies
offenbar durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau bei der Deut-
schen Industriebank geschieht, vergleiche „Nordbayerischer Ku-
rier“ vom 26. November 2001?
D
Die Bundesregierung sieht
keine Möglichkeit für einen Beitrag des Bundes zur Er-
haltung der Schmidt-Bank. Die Auffanggesellschaft, die
nach einem Treffen mit den bayerischen Großbanken und
dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen entstanden
ist – ich sagte es Ihnen eben schon –, zeigt, dass das deut-
sche Bankensystem in der Lage ist, eigene Lösungen zu
finden.
Die Einlagen der Schmidt-Bank sind im Übrigen im
Rahmen dieser Auffanglösung über den Einlagensiche-
rungsfonds der privaten Banken gesichert.
Zusatzfra-
gen?
Frau
Staatssekretärin, wenn ich es richtig weiß, hat am 9. No-
vember der Verwaltungsrat der KfW – der Minister ist, so
glaube ich, Mitglied oder sogar Vorsitzender dieses Ver-
waltungsrates – den Beschluss gefasst, einzusteigen und
sich an der IKB, Deutsche Industriekreditbank in Düssel-
dorf, zu beteiligen. Begründet wurde das damit, dass man
gesagt hat, es gehe darum, die Mittelstandsorientierung
der IKB für die Zukunft zu sichern.
Sieht denn die Bundesregierung einen Unterschied
zwischen einem Einsteigen der KfWbei der IKB und dem
Einsteigen bei der Schmidt-Bank – mit Ausnahme der
Tatsache, dass die IKB in Nordrhein-Westfalen liegt und
die Schmidt-Bank in Bayern?
D
Der Unterschied ist der, so
hart sich das anhört: Die IKB ist kein Sanierungsfall. Es
ist also schon aus diesem Grund keine wettbewerbs-
schädliche Sanierungsaktion, sondern es ist die Beteili-
gung eines im Bundesbesitz befindlichen Bankinstituts an
einem anderen Bankinstitut, ohne dass damit irgendeine
Wettbewerbsverzerrung entsteht.
Frau
Staatssekretärin, ist Ihnen bekannt, dass die Industrie- und
Handelskammer von Oberfranken schätzt, dass durch ein
individuelles Verschwinden der Schmidt-Bank als Mittel-
standsbank in der dortigen Region 18 000 Arbeitsplätze
gefährdet sind? Es ist noch nicht das dazugerechnet, was
in Sachsen, in Thüringen und in der Oberpfalz mögli-
cherweise gefährdet ist. Das sind ja nun wichtige und ein-
drucksvolle Zahlen.
Ist Ihnen als Bundesregierung bewusst, dass es sich
dabei um ein Grenzgebiet handelt, das auch unmittelbar
von der EU-Osterweiterung betroffen ist, und dass der
Mittelstand dort vor besondere Herausforderungen ge-
stellt ist?
D
Herr Kollege Friedrich, wir
müssen natürlich – ich sagte Ihnen das schon – unter Bei-
hilfegesichtspunkten prüfen, was man tun kann, um eine
solche Bank zu erhalten. Ich sage Ihnen noch einmal: Es
ist ja auf privater Basis etwas geschehen. Die vier großen
bayerischen Privatbanken haben die Schmidt-Bank auf-
gefangen. Die Kredite sind nicht notleidend geworden.
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau ist übrigens – ich
rede nicht von einer möglichen Beteiligung der Kreditan-
stalt für Wiederaufbau an der Schmidt-Bank – zur Unter-
stützung der mittelständischen Wirtschaft in Oberfranken
mit einem Kreditvolumen von circa 600 Millionen DM
engagiert, also direkt zugunsten des Mittelstandes allein
in Oberfranken. Daran wird sich auch nichts ändern.
Ich könnte Ihnen jetzt natürlich eine Art volkswirt-
schaftliches Seminar über die Frage halten, –
Lieber
nicht, Frau Staatssekretärin.
D
– wie sich das im Wettbe-
werb darstellt. Ich wünsche es niemandem, dass er in
Konkurs geht, natürlich auch nicht einer Bank. So bedau-
erlich das ist: Es wird sich im Wettbewerb eine andere
Regelung finden. Die Mittelständler werden ihre Kredite
auch anderswo bekommen. Es gibt auch in Oberfranken
ein leistungsfähiges Sparkassenwesen und leistungs-
fähige Volksbanken und Filialen der Großbanken.
Ich glaube, dass es nicht die Aufgabe der Bundesregie-
rung ist, einen bestimmten Wettbewerber am Markt zu er-
halten. Das kann nicht die Aufgabe der Bundesregierung
sein!
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Protzner.
Frau Staatssekretä-
rin, Sie haben das andere Verhalten der Kreditanstalt für
Wiederaufbau bei der IKB in Ihrer Antwort damit be-
gründet, dass die IKB kein Sanierungsfall ist, und gesagt:
Deswegen hat sich die KfW beteiligt. Darf ich daraus
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
20488
schließen, dass sich die KfW an der Schmidt-Bank betei-
ligt, wenn sie saniert worden ist?
D
Herr Kollege, die IKB ist
eine Bank, die, wie ihr Name schon sagt, Industriekredite
anbietet und die in diesem Bereich eine gewisse Tradition
hat. Ihr Hauptsitz liegt in Düsseldorf. Sie ist aber bundes-
weit tätig, hat also nicht nur regionale Bedeutung.
Die KfW ist daran interessiert, die Mittelstandsorien-
tierung dieser Industriekreditbank auch in Zukunft zu er-
halten. Dieses Interesse der KfW möchte ich nicht näher
beurteilen, weil das eine Entscheidung der KfW ist. Sie ist
ja die Förderbank des Bundes und unterstützt insbeson-
dere den Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland.
Ich sagte Ihnen ja soeben: Die KfW ist allein in Ober-
franken mit Krediten an den Mittelstand in Höhe von
600 Millionen DM engagiert. Es geht ja darum, dass der
Mittelstand auch in Zukunft mit Krediten versorgt wird.
Ich wiederhole es: Die Schmidt-Bank ist durch private
Banken aufgefangen worden. Der Einlagensicherungs-
fonds der deutschen Privatbanken tritt vollständig ein. Es
gehen also keine Einlagen von Sparern bei der Schmidt-
Bank verloren.
Wenn die Schmidt-Bank in der Region von Oberfran-
ken eine wirklich so große Bedeutung hat, wie Sie sagen,
dann sollte die Bayerische Staatsregierung unter dem Ge-
sichtspunkt der Regionalförderung einmal prüfen, der
Schmidt-Bank beizutreten, beispielsweise durch einen
Anteilserwerb. Gerade unter dem Gesichtspunkt der re-
gionalen und der Mittelstandsorientierung wäre dies zu-
nächst Aufgabe der Bayerischen Staatsregierung. Ich ver-
mute nur, dass die Bayerische Staatsregierung ebenso,
wie das bei der Bundesregierung der Fall wäre, Probleme
mit der wettbewerbsrechtlichen Genehmigung aus Brüs-
sel bekommen würde. Deswegen hat nach meinem Kennt-
nisstand die Bayerische Staatsregierung bisher keinerlei
Anstalten gemacht, Anteile der Schmidt-Bank zu erwer-
ben.
Eine weitere
Zusatzfrage vom Kollegen Koschyk.
Frau Staatssekretä-
rin, bevor ich meine Frage stelle, muss ich Folgendes fest-
stellen: Ich bin sehr erstaunt, dass die Bundesregierung
anscheinend nicht weiß, mit welchem Prozentsatz die
Bayerische Staatsregierung, die Sparkassenorganisation
in Bayern und die Bayerische Landesbank an der für die
Schmidt-Bank gefundenen Auffanglösung beteiligt sind.
Ich möchte die Frage des Kollegen Protzner aufgrei-
fen: Wenn es in diesem Fall durch das bereits vorhandene
Engagement der Bayerischen Staatsregierung und der vier
genannten Großbanken gelingt, die Schmidt-Bank eini-
germaßen zu sanieren, ist dann die Bundesregierung ana-
log zur Beteiligung der KfW an der IKB nicht doch bereit,
zu prüfen, ob sie angesichts der Tatsache, dass es hier
nicht um ein rein bayerisches Problem geht, sondern um
die Erhaltung eines Bankinstituts, das der Wirtschaft in
Thüringen und Sachsen – damit hat es also auch für die
neuen Länder Bedeutung – als mittelstandsorientiertes
Kreditinstitut dient, durch eine dauerhafte Sicherung die-
ser mittelstandsorientierten Bank in dieser Region zu de-
ren Erhalt beitragen kann?
D
Selbstverständlich wäre
die Bundesregierung bereit, dies zu prüfen. Darüber
müsste natürlich die KfW entscheiden, und zwar auch un-
ter dem Gesichtspunkt, ob tatsächlich eine Sanierung ge-
geben ist. Denn ich sagte Ihnen ja schon: Sanierungsmit-
tel können wir auch über den Weg der KfW nicht geben;
das ist EU-rechtlich nicht erlaubt. Sollte eine Sanierung
gelingen, wird man diesem Gedanken näher treten kön-
nen. Allerdings kann ich einerseits selbstverständlich
nicht mehr als eine Prüfung zusagen. Andererseits ist es
nicht gesagt, ob unsere Unterstützung überhaupt noch
nötig ist, wenn eine Sanierung gelungen ist.
Die
Frage 37 des Kollegen Austermann wird schriftlich be-
antwortet.
Wir kommen zur Frage 38 der Kollegin Christine
Ostrowski:
Wie vereinbart sich der Verkauf der Geschäftsanteile des Bun-
des von 72,6 von Hundert am Stammkapital der Frankfurter Sied-
lungsgesellschaft mbH an die Viterra AG – vergleiche auch
Drucksache 14/3346 des Hessischen Landtages – unter Nicht-
berücksichtigung des Kaufangebotes der 350 Mitglieder und
294 Haushalte umfassenden Arbeitsgemeinschaft Mietervereine
Bizonale Siedlung Frankfurt am Main-Griesheim e. V. mit der
Aussage in der Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998,
bei der Privatisierung bundeseigener Wohnungsbestände gehe die
Koalition sozialverträgliche Wege wie Genossenschaftsgründun-
gen, Mieterprivatisierungen oder Erhalt einzelner Gesellschaften
bei größerer Wirtschaftlichkeit?
D
Frau Kollegin Ostrowski,
das Angebot der Arbeitsgemeinschaft Mietervereine Bi-
zonale Siedlung lag auch nach einer Nachbesserung deut-
lich unter dem Wert der betroffenen Wohneinheiten. Der
Arbeitsgemeinschaft wurde daher mitgeteilt, dass ihrem
Kaufangebot nicht näher getreten werden konnte. Ein
großer Teil der Wohneinheiten der Siedlung ist für eine
Mieterprivatisierung vorgesehen, sodass in diesem Rah-
men Wünsche von Mietern hinsichtlich eines Erwerbs
berücksichtigt werden können.
Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin,
meine Frage lautete, inwieweit der Verkauf an Viterra, zu
dem Sie sich entschlossen haben, mit der Koalitionsver-
einbarung vereinbar ist. Deshalb muss ich jetzt noch ein-
mal nachfragen. In der Koalitionsvereinbarung haben Sie
sich auf folgende Formulierung geeinigt: Bei der Privati-
sierung bundeseigener Wohnungen geht die Koalition so-
zialverträgliche Wege, wie, jetzt kommt es – es folgt eine
Aufzählung –, Genossenschaftsgründungen, Mieterpriva-
tisierungen oder Erhalt einzelner Gesellschaften bei
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Dr. Bernd Protzner
20489
größerer Wirtschaftlichkeit. Ich bemerke: Der Verkauf an
Dritte ist dort nicht vermerkt. Davon abgesehen glaube
ich auch nicht, dass die Reihenfolge bei der Erarbeitung
der Koalitionsvereinbarung zufällig gewählt wurde.
Stimmen Sie mir darin zu, dass Sie bei Ihrer Entschei-
dung nach anderen Kriterien vorgegangen sind, als Sie in
Ihrer Koalitionsvereinbarung festgelegt haben, indem Sie
sich für das finanziell bessere Kaufangebot von Viterra,
das rund 70 000 DM pro Wohneinheit ausmachte, anstatt
für das Kaufangebot der sich gründen wollenden Mieter-
genossenschaft, das rund 55 000 DM pro Wohneinheit
ausmachte, entschieden haben?
D
Frau Kollegin Ostrowski,
ich habe Ihnen in meiner Antwort schon gesagt, dass
ein großer Teil der Wohneinheiten der Siedlung für
Mieterprivatisierungen vorgesehen ist, sodass diese in ei-
nem zweiten Schritt auch erfolgen werden. Allerdings
darf ich auch darauf aufmerksam machen, dass die
Bundesregierung nach der Bundeshaushaltsordnung dazu
verpflichtet ist, marktgerechte Preise zu erzielen und nicht
unter Wert zu verkaufen.
Ich habe eine zweite
Nachfrage und komme noch einmal auf die Mieterprivati-
sierungen zurück, weil mich interessiert, ob alle 666 Woh-
nungen einbezogen worden sind.
D
Nein, nur ein Teil. Ich kann
Ihnen nicht sagen, wie groß dieser ist.
Okay, das würde mich
aber noch interessieren. – Ich muss aber noch einmal
nachhaken: Aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten heraus
verstehe ich Sie; damit habe ich auch keine Probleme.
Fakt ist aber, dass Sie sich genau das in Ihrer Koalitions-
vereinbarung nicht vorgenommen haben. Dort steht
nichts von wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Dort steht,
dass Sie, wenn Sie privatisieren, in einer bestimmten Rei-
henfolge vorgehen usw. – nichts anderes.
D
Frau Ostrowski, selbstver-
ständlich beachten wir das. Man kann aber natürlich durch
eine Koalitionsvereinbarung geltendes Recht nicht außer
Kraft setzen. Selbstverständlich wird jeder, der eine Ko-
alitionsvereinbarung schließt, dies auf der Grundlage des
geltenden Rechts tun. Die Bundeshaushaltsordnung hat
vorher gegolten und sie gilt auch nachher.
Ich rufe die
Frage 39 der Kollegin Ostrowski auf:
Wie vereinbart sich damit gleichzeitig, dass die bundeseigene
Treuhandliegenschaftsgesellschaft nahezu zugleich in Lauchham-
mer/Brandenburg rund 300 Wohnungen zu einem Preis verkauft,
der weit unter dem Verkehrswert liegt, obwohl ein Angebot der
Stadt über mehr als den dreifachen Betrag des Preises und ein An-
gebot eines anderen Bewerbers über mehr als den zweieinhalbfa-
chen Betrag des Preises vorgelegen hat?
D
Der vereinbarte Kaufpreis
für die 310 verkauften Wohneinheiten resultiert aus der
jetzigen Marktsituation. Bei den Verkaufsverhandlungen,
die mit insgesamt 15 Investoren geführt wurden, war für
die Wohnungen angesichts der hohen Bewirtschaftungs-
verluste und einer Leerstandsquote von über 80 Prozent
ein höherer Kaufpreis nicht durchsetzbar.
Das angesprochene Kaufangebot der Stadt Lauchham-
mer stammt aus dem Jahre 1996. Ein aktuelles Kaufange-
bot der Stadt Lauchhammer hat der Treuhandliegen-
schaftsgesellschaft nicht vorgelegen. Die Stadt hat auch
keinerlei Kaufabsichten signalisiert. Sie hat mit Schreiben
vom 24. Januar 2000 mitgeteilt, dass sie gegen einen Ver-
kauf der Wohnungsbestände an Dritte keine Einwände
habe. An der öffentlichen Ausschreibung der Wohnungs-
bestände durch die Treuhandliegenschaftsgesellschaft,
die am 24. bzw. 25. Juni 2000 erfolgte, hat sich die Stadt
nicht beteiligt.
Auch das genannte Angebot eines anderen Bewerbers
kam für die Treuhandliegenschaftsgesellschaft nicht in-
frage, da dieses einen gebäudeweisen Ankauf beinhaltete,
bei dem erst nach Sanierung und erfolgreicher Vermie-
tung der nächste Gebäudeankauf erfolgen sollte. Dieses
Angebot entsprach damit nicht der Zielsetzung der Treu-
handliegenschaftsgesellschaft.
Zusatzfrage.
Ich habe Zweifel daran,
dass Sie, wenn Sie bundeseigene Wohnungen für rund
45 DM pro Quadratmeter verkaufen – das ist nach über-
einstimmenden Aussagen des Bürgermeisters und des
Landrates deutlich unter dem in Lauchhammer ortsübli-
chen Wert –, die Haushaltsordnung einhalten.
Abgesehen davon wollte ich Sie fragen, ob Ihnen be-
wusst ist, dass die TLG, indem sie Wohnungen total unter
Wert an einen Dritten verkauft, obwohl sie in das Stadt-
entwicklungskonzept der Stadt Lauchhammer eingebun-
den ist – Lauchhammer hat einen exorbitant hohen Woh-
nungsleerstand, die kommunale Gesellschaft befindet
sich bereits im Insolvenzverfahren, es herrscht eine hohe
Arbeitslosigkeit etc. –, dem Erwerber dieser Liegenschaf-
ten einen wirtschaftlichen Vorteil verschafft. Das ist näm-
lich unbestritten. Aufgrund dieses wirtschaftlichen Vor-
teils, wenn er ihn sich nicht direkt als Gewinn einsteckt,
ist der Erwerber natürlich in der Lage, die Wohnungen zu
einer Dumpingmiete auf den Markt zu werfen. Dies wird
die TLG Genossenschaft, die vormals zu einem zehnfach
höheren Preis als dem späteren Verkaufspreis ausgegrün-
det wurde und die sowieso schon zwischen Leben und
Sterben hängt, mit Sicherheit in den Ruin treiben.
Mein Problem ist: Sind Sie sich bewusst, dass Sie die
Zielstellungen Ihres Stadtumbauprogramms, die der zu-
ständige Minister vorantreibt, vollkommen konterkarie-
ren und die Möglichkeit, den desolaten Wohnungsmarkt
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Christine Ostrowski
20490
in Lauchhammer in Ordnung zu bringen, nicht genutzt ha-
ben?
Künftig,
Frau Kollegin, bitte keine Kurzinterventionen, sondern
eine Frage! – Frau Staatssekretärin.
D
Sehen Sie: Dieser ganze
Wohnungskomplex ist mit einem negativen Bewirtschaf-
tungsergebnis von 360 000 DM pro Jahr verbunden.
Dafür ist insbesondere ein äußerst ungünstiger Wärmelie-
ferungsvertrag verantwortlich. Dieser Wärmelieferungs-
vertrag musste vom Käufer der Gesamtliegenschaft
zwangsweise übernommen worden und ist noch ziemlich
lange, bis 2014, gültig. Er wäre übrigens auch dann wei-
ter gültig, wenn man die Wohnungen abreißen würde.
Dies stellt damit eine erhebliche Kostenbelastung von
monatlich etwa 100 DM pro Wohneinheit dar. Das muss
man dann bei den von Ihnen angenommenen Erträgen ge-
genrechnen.
Für die dadurch entstandene schwierige Vermarktungs-
situation ist nicht zuletzt die Stadt Lauchhammer verant-
wortlich, da sie seinerzeit als Gesellschafterin des Unter-
nehmens für den Wärmelieferungsvertrag verantwortlich
war. Ich will dies der Stadt Lauchhammer nicht schuldhaft
vorwerfen. Es hat Entscheidungen gegeben, die in den
Folgejahren tatsächlich zu großen Verwerfungen geführt
haben. Es sind auch nicht alle Entscheidungen, weder die
damaligen Entscheidungen der Stadt noch heutige Ent-
scheidungen der Bundesregierung bzw. der Treuhand Lie-
genschaftsgesellschaft, wie man besser sagen muss, dazu
geeignet, ein Grundsatzproblem zu lösen, was sich zum
Beispiel dadurch kennzeichnet, dass in den Wohnungen
80 Prozent Leerstand herrscht. Das löst man nicht da-
durch, dass man sie an jemand anderen verkauft.
Ungeachtet der konkre-
ten Dinge wie des Wärmelieferungsvertrages haben Sie
am Beispiel Ihrer ehemaligen Bundeswohnungen die Si-
tuation fast aller ostdeutschen Wohnungsunternehmen in
den Ballungsräumen und Städten sehr treffend beschrie-
ben. – Dies vorausgeschickt, habe ich eine zweite Nach-
frage.
Ich habe hier eine Antwort des Ministers für Stadtent-
wicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Brandenburg
auf eine mündliche Anfrage eines Abgeordneten vor mir
liegen. Ich wollte Sie fragen, ob Sie den Aussagen, die ich
jetzt zitieren werden, zustimmen. Wenn Sie den Aussagen
nicht zustimmen, möchte ich wissen, aus welchen Grün-
den Sie daran zweifeln bzw. was Sie anzweifeln.
Der Minister antwortet einem Landtagsabgeordneten:
Über die Wohnungsverkäufe der TLG in Lauchham-
mer erhielt die Landesregierung lediglich durch Mit-
teilungen aus der Presse Kenntnis. ... Seit Dezem-
Wohnungsbestandes in Lauchhammer jeweils unter
Beteiligung der TLG durchgeführt. Der TLG war
also bekannt, dass ein Erfolg versprechender Stadt-
umbauprozess nur unter Einbeziehung ihrer
310 WE ... in eine gemeinsame Planung des Stadt-
umbaukonzeptes möglich sein wird. Der nunmehr
erfolgte Verkauf der Wohnungen an einen zusätzli-
chen Konkurrenten zu einem Kaufpreis von 1/10
dessen ..., was den Genossenschaften 1995/96 ab-
verlangt wurde, gefährdet den bisher gemeinsam be-
schrittenen Weg und die Existenz der in Lauchham-
mer ansässigen Wohnungsunternehmen.
D
Frau Kollegin, ich kann das
fachlich nicht beurteilen, was der Minister für Stadtent-
wicklung, Wohnen und Verkehr dort geäußert hat. Ich
kenne diesen Brief nicht. Ich kenne natürlich auch den
Vorgang im Einzelnen nicht.
Ich darf aber darauf hinweisen: Sie haben mir gerade
als Preis die Zahl von 45 DM pro Quadratmeter genannt,
was in der Tat sehr wenig ist. Wenn dies ein Zehntel des-
sen ist, was im Jahre 1995 bezahlt worden ist, dann waren
das damals 450 DM. Das war auch zu damaliger Zeit
niedrig. In der Zwischenzeit sind die Preise weiter gefal-
len. Deswegen ist der Markt mit dem von vor sechs Jah-
ren leider nicht mehr vergleichbar.
Ich danke
Ihnen, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Arbeit und Sozialordnung. Die Fragen werden
von der Parlamentarischen Staatssekretärin Ulrike
Mascher beantwortet.
Ich rufe die Frage 40 des Kollegen Dr. Klaus Grehn
auf:
Auf welchen Erkenntnissen beruhen angesichts der anders lau-
Arbeit und Sozialordnung, Walter Riester, dass „die Ausweitung
des Mainzer Modells auf ganz Rheinland-Pfalz folgerichtig und
sinnvoll“ sei, da angeblich unterschiedliche regionale Rahmenbe-
dingungen einen erheblichen Einfluss auf die Inanspruchnahme
und den Erfolg dieses Modells haben?
U
Herr Kollege Grehn,
der erste Zwischenbericht zum arbeitsmarktpolitischen
Sonderprogramm „Chancen und Anreize zur Aufnahme so-
zialversicherungspflichtiger Tätigkeiten“ – abgekürzt
CAST – der Bundesregierung kommt zu dem Ergebnis,
dass nach einem Jahr Laufzeit die Inanspruchnahme des
Sonderprogramms mit bislang 592 Förderfällen hinter den
Erwartungen zurückgeblieben sei. Diese Feststellung gelte
in besonderem Maße für das Modell der Saar-Gemein-
schaftsinitiative, auf das lediglich 13 Prozent aller bis dahin
bewilligten CAST-Förderfälle entfielen.
Nicht zuletzt deshalb wurden im Einvernehmen mit
den Sozialpartnern zum 1. Mai 2001 die Förderkonditio-
nen des Sonderprogramms CAST großzügiger ausgestal-
tet. Der erste Zwischenbericht bezieht sich auf Daten mit
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Christine Ostrowski
20491
dem Stand von Ende August. Die Änderungen der För-
derkonditionen konnten sich daher noch nicht in den Er-
gebnissen niederschlagen, da derartige Veränderungen
erst mit zeitlicher Verzögerung wirken.
Das Sonderprogramm CAST ist weitergelaufen. Dem
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung lagen
bei der von Ihnen zitierten Einschätzung bereits Ergeb-
nisse zum Stand Ende Oktober vor. Bis dahin wurden ins-
gesamt 782 Personen gefördert. Davon entfielen auf das
Mainzer Modell 654 Förderungen, sodass sich die Zahl
der dortigen Förderfälle binnen zwei Monaten um 140 er-
höht hat.
Mit dieser Entwicklung ist das Mainzer Modell auch
im Vergleich mit anderen so genannten Kombilohnmo-
dellen, die in mehreren Bundesländern erprobt werden,
bisher am erfolgreichsten umgesetzt worden. Diese Ein-
schätzung teilt in seinem jüngsten Gutachten auch der
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirt-
schaftlichen Entwicklung. Dass unterschiedliche regio-
nale Rahmenbedingungen einen erheblichen Einfluss auf
Inanspruchnahme und Erfolg arbeitsmarktpolitischer In-
strumente, wie das Mainzer Modell, haben können, ist
schon dem Zwischenbericht zu entnehmen.
Aus diesem Grund wird darin auch die unterschiedli-
che Arbeitsmarktlage in den Förderregionen näher unter-
sucht. Bisher betraf das in Rheinland-Pfalz Koblenz,
Mayen, Montabaur und Neuwied. Hierbei zeigt sich, dass
verdichtete Arbeitsamtsbezirke mit starker Dienstleis-
tungsorientierung und eher günstiger Arbeitsmarktlage,
wie zum Beispiel der Arbeitsamtsbezirk Mainz, bislang
fehlten. Die zum Jahresbeginn geplante Ausweitung des
Mainzer Modells auf das gesamte Bundesland Rheinland-
Pfalz ist daher folgerichtig und sinnvoll und ermöglicht
breitere Erkenntnisse über die Wirkungsweise des Main-
zer Modells.
Zusatz-
frage?
Frau Staatssekretärin, wie
bewerten Sie angesichts der Ausweitung des Modells auf
das gesamte Land Rheinland-Pfalz die Tatsache, dass von
414 Betrieben, wie sie in dem Zwischenbericht genannt
sind, lediglich 46 mehr als eine geförderte Arbeitskraft be-
schäftigten?
U
Ich denke, das hat
damit zu tun, dass ein solch neues Fördermodell – auch
wenn es so erfolgreich wie das Mainzer Modell ist – eine
gewisse Zeit braucht, bis es anläuft, bis es bekannt wird
und man Vertrauen in ein solches Modell hat.
Eine weitere
Zusatzfrage?
Frau Staatssekretärin, haben
bei Ihren Überlegungen über die Ausdehnung des Main-
zer Modells – ich beziehe mich darauf, weil es ja erfolg-
reich war, wie Sie dargestellt haben – auch die Ergebnisse
der Studie eine Rolle gespielt, wonach sich die Verteilung
auf die einzelnen Wirtschaftsbereiche auf 0,0 Prozent bis
32,9 Prozent beläuft?
U
Ich habe Ihnen ge-
sagt, dass wir vor allen Dingen eine Ausweitung in einen
verdichteten Arbeitsamtsbezirk mit einer starken Dienst-
leistungsorientierung ermöglichen wollen, weil gerade
eine starke Dienstleistungsorientierung – nach allem, was
in verschiedenen Gutachten immer wieder dargestellt
wird – ein wichtiger Punkt für die Erweiterung von Be-
schäftigungsmöglichkeiten ist.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Brüderle.
Das ist ja in der Tat ein lei-
der nur sehr bescheidener Erfolg, auch wenn die Zahlen
im Vergleich zu anderen Ansätzen etwas besser sind. Will
die Bundesregierung nicht stattdessen andere Modellver-
suche auf den Weg bringen, durch die die Grenze, bis zu
der eine pauschalierte Besteuerung erfolgt, in der Höhe
wesentlich nach oben angepasst wird – 1 200 oder
1 500 DM –, um Bewegung in den Arbeitsmarkt zu brin-
gen? Es ist sehr gut für jeden Einzelnen, der auf dem Ar-
beitsmarkt unterkommt, aber die Zahlen, die Sie genannt
haben, belegen doch, dass das angesichts der Herausfor-
derungen auf dem Arbeitsmarkt wirklich nur ein sehr klei-
ner Tropfen auf einen heißen Stein ist. Ich glaube, dass
man es allein mit der Ausweitung dieses Ansatzes nicht
schaffen wird, die arbeitsmarktpolitischen Herausforde-
rungen zu bewältigen. Sind Sie nicht auch der Meinung,
dass man bei der Reform der 630-Mark-Verhältnisse Feh-
ler gemacht hat, dass man nun über seinen eigenen Schat-
ten springen und – das war bislang ein Tabu – anders an-
setzen sollte?
U
Herr Kollege
Brüderle, wenn Sie durch die Blume fragen, ob wir eine
Änderung der Regelungen zum 630-DM-Gesetz beab-
sichtigen, dann antworte ich Ihnen, dass wir eine solche
Änderung im Moment nicht beabsichtigen.
Ich rufe die
Frage 41 des Kollegen Dr. Klaus Grehn auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die vorliegende sehr kriti-
sche CAST-Studie zu den Erfolgen des Mainzer Modells und wie
sieht die Zwischenbilanz in den brandenburgischen Arbeitsamts-
bezirken Eberswalde und Neuruppin aus?
U
Anders, als die
Fragestellung von Herrn Grehn vermuten lässt, bewertet
der erste Zwischenbericht zum arbeitsmarktpolitischen
Sonderprogramm die Erfolge des Mainzer Modells nicht
„sehr kritisch“. Die Autoren kommen vielmehr zu der von
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 207. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. Dezember 2001
Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
20492
mir bereits erwähnten Schlussfolgerung, dass nach einem
Jahr Laufzeit die Inanspruchnahme des Sonderpro-
gramms hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. Die
Bundesregierung teilt im Grundsatz diese Einschätzung.
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Bewertung
der Fallzahlen auch vom gewählten Maßstab abhängt.
Vergleicht man die Fallzahlen mit anderen, derzeit in der
Bundesrepublik laufenden Modellversuchen wie etwa
dem Einstiegsgeld in Baden-Württemberg, dann stellt
man fest, dass sich das Mainzer Modell in Rheinland-
Pfalz durchaus sehen lassen kann. Auch muss bedacht
werden, dass innovative Ansätze erst im Bewusstsein der
Handelnden in den Unternehmen und in den Verwaltun-
gen verankert werden müssen. Dies braucht Zeit.
Als Zwischenbilanz für die beiden brandenburgischen
Arbeitsamtsbezirke Eberswalde und Neuruppin lässt sich
festhalten, dass das Mainzer Modell in Brandenburg mit
bislang 101 Förderfällen schwächer läuft als in Rhein-
land-Pfalz mit derzeit 553 Förderfällen. Warum dies so
ist, kann nicht abschließend beantwortet werden. Tatsache
ist, dass in den vier rheinland-pfälzischen Arbeitsamts-
bezirken die Arbeitslosenquote im Oktober 2001 zwi-
schen 5,5 Prozent und 6,9 Prozent und damit um ein Viel-
faches unter der Arbeitslosenquote in Neuruppin mit
17,4 Prozent und in Eberswalde mit 19,0 Prozent lag.
Im Endeffekt ist der Arbeitsmarkt in Rheinland-Pfalz
sicherlich aufnahmefähiger als der in Brandenburg. Hier
zeigt sich erneut, dass unterschiedliche regionale Rahmen-
bedingungen einen erheblichen Einfluss auf Inanspruch-
nahme und Erfolg arbeitsmarktpolitischer Instrumente
wie das des Mainzer Modells haben können.
Ich lasse
noch eine Zusatzfrage zu.
Frau Staatssekretärin, warum
haben Sie mit Wirkung vom 1. Mai 2001 die Förderdauer
von 18 auf 36Monate verdoppelt, obwohl die individuelle
Förderdauer im Modellversuch laut Zwischenbericht im
Durchschnitt nur 13 Monate betragen hat? Erwarten Sie,
dass sich dadurch positive Effekte erzielen lassen, viel-
leicht in Sachsen, wo sich die Zahl der im Rahmen des
Mainzer Modells Geförderten – das betrifft den Bereich
Chemnitz – um 300 Prozent auf ganze vier erhöht hat?
U
Die Verbesserung
der Konditionen, die Verlängerung der Laufzeit, war das
Ergebnis von Beratungen zwischen den Vertretern der
Tarifpartner im Bereich der Selbstverwaltung, die darauf
hingewiesen haben, dass sich eine Verlängerung der För-
derdauer günstig auf die Inanspruchnahme auswirken
könnte.
Ich danke
Ihnen, Frau Staatssekretärin. Die übrigen Fragen werden
schriftlich beantwortet.
Ich danke insbesondere auch dem Parlamentarischen
Staatssekretär Walter Kolbow, der die Stellung gehalten
hat, obwohl es aussichtslos zu sein schien, dass noch Fra-
gen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums
der Verteidigung aufgerufen werden.
Wir sind am Ende unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 13. Dezember 2001,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.