Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gratuliere ich
den beiden Kollegen Dietrich Austermann und Klaus
Kirschner nachträglich zu ihrem 60. Geburtstag und dem
Kollegen Joachim Schmidt zu seinem
65. Geburtstag. Ich spreche ihnen die besten Glückwün-
sche des ganzen Hauses aus.
Sodann möchte ich eine neue Kollegin und einen neuen
Kollegen begrüßen. Für den Abgeordneten Dietmar
Schütz , der am 31. Oktober 2001 auf seine
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat,
hat die Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller am
1. November 2001 die Mitgliedschaft im Deutschen Bun-
destag erworben.
Als Nachfolger für den Abgeordneten Gunnar Uldall,
der am 6. November 2001 auf seine Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag verzichtet hat, hat der Abgeordnete
Klaus Francke, den wir schon aus früheren Wahlperio-
den kennen, am 7. November 2001 die Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue
Kollegin und den neuen Kollegen herzlich.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Anspruch des Bundeskanzlers, die Lohnnebenkosten un-
ter 40 Prozent senken zu wollen, angesichts der Wirklich-
keit steigender Beiträge
2. a) Abgabe einer Erklärung des Bundeskanzlers: Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an der Bekämpfung des
internationalen Terrorismus
b) Beratung des Antrags der Bundesregierung: Einsatz bewaff-
neter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der ge-
meinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die
USA auf Grundlage des Art. 51 der Satzung der Vereinten
Nationen und des Art. 5 des Nordatlantikvertrags sowie
der Resolutionen 1368 und 1373 (2001) des Sicher-
heitsrats der Vereinten Nationen Drucksache 14/7296
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
3. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Ju-
gendpolitisches Programm der Bundesregierung Chan-
cen im Wandel Drucksache 14/7275
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Versorgungsänderungsgesetzes 2001
Drucksachen 14/7223, 14/7257
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwufs eines Gesetzes zur Änderung des Anerken-
nungs- und Vollstreckungsausführungsgesetzes Druck-
sache 14/7207
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwufs eines Gesetzes für die Feststellung des Wirtschafts-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
19281
198. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Beginn: 9.00 Uhr
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Schröter,
Eckhardt Barthel , Hans-Werner Bertl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Dr. Antje Vollmer, Grietje Bettin, Rita
Grießhaber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Reform der deut-
schen Filmförderung Drucksache 14/7178
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Wiesehügel, Dieter Maaß , Dr. Axel Berg, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Werner Schulz , Franziska Eichstädt-
Bohlig, Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zukunft
der deutschen Bauwirtschaft Drucksache 14/7297
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing. Rainer
Jork, Dr. Gerhard Friedrich , Thomas Rachel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:
Lehrstellenmangel in den neuen Bundesländern
bekämpfen Reformen in der beruflichen Bildung vo-
rantreiben Drucksache 14/7281
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Auschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über elektroni-
sche Register und Justizkosten für Telekommunikation
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
Drucksache 14/7348
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Dr. Wolfgang Götzer
Volker Beck
Rainer Funkte
Dr. Evelyn Kenzler
b) Beratung der Beschlussempehlung und des Berichts des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Raktorsicher-
heit zu der Verordnung der Bundesregie-
rung: Verordnung zur Umsetzung des Europäischen
Abfallverzeichnisses Drucksachen 14/7091, 14/7195
Nr. 2.1, 14/7339
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Mehl
Georg Girisch
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Mas-
sive Mehrkosten bei den Baumaßnahmen im Parlaments-
und Regierungsviertel in Berlin sowie Verantwortung der
Bundesbaugesellschaft
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel,
Dr. Ditmar Staffelt, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Andrea Fischer
, Werner Schulz (Leipzig), Kerstin Müller (Köln), wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN: Faire Wettbewerbsbedingungen für
die Werftindustrie in Mecklenburg-Vorpommern Druck-
sache 14/7295
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Luther,
Wolfgang Dehnel, dirk Fischer , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU: Instandhaltungs-
werke der Deutschen Bahn AG in Delitzsch, Chemnitz, Op-
laden und Zwickau erhalten neue Investoren für Stendal,
Leipzig-Engelsdorf und Neustrelitz Drucksache 14/7282
Überweisungsvorschlag:
Ausschusss für Vekehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
9. Erste Bratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Aufhebung des Gesetzes zur
Förderung der Rationalisierung im Steinkohlenbergbau
Drucksache 14/7238
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
10. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabili-
tierungsgesetzes Drucksache 14/7283
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
11. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes zu dem
Gesetz zur Einführung des Wohnortprinzips bei Hono-
rarvereinbarungen für Ärzte und Zahnärzte Drucksa-
chen 14/5960, 14/6410, 14/6450, 14/6699, 14/7342
Berichterstattung:
Abgeordnete Hildegard Wester
12. Zweite und dritte Bratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
Drucksache 14/7354
Berichterstattung:
Abgeordnete Sebastian Edathy
Dr. Hans-Peter Uhl
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
13. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Bestimmung der Schwakungsreserve in
der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten
Drucksache 14/7284
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Präsident Wolfgang Thierse
19282
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
14. Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann,
Horst Seehofer, Brigitte Baumeister, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Keine systemwidrigen Ein-
griffe bei der Schwankungsreserve Drucksache 14/7292
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Auschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
15. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Fördern und Fordern
Sozialhilfe modern gestalten Drucksache 14/7293
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
16. Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia Maier, Dr. Klaus
Grehn, Dr. Heidi Knake-Werner, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS: Eine Grundsicherung in die Arbeits-
losenversicherung einführen Drucksache 14/7294
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
17. Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia Maier,
Dr. Barbara Höll, Dr. Klaus Grehn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS: Die Sozialhilfe armutsfest gestalten
Drucksache 14/7298
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Ausschuss-
überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerk-
sam:
Die in der 179. bzw. 190. Sitzung des Deutschen Bun-
destages überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwürfe
sollen nachträglich dem Haushaltsausschuss gemäß
§ 96 GOBT überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Neure-
gelung des Rechts des Naturschutzes und der
Landschaftspfelge und zur Anpassung ande-
rer Rechtsvorschriften
Drucksache 14/6378
Überwiesen:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss § 96 GO
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neurege-
lung des Rechts des Naturschutzes und der
Landschaftspflege und zur Anpassung ande-
rer Rechtsvorschriften
Drucksache 14/6878
Überwiesen:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss § 96 GO
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden?
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
a) Abgabe einer Erklärung des Bundeskanzlers
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an der Bekämpfung des internationalen Terro-
rismus
b) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei
der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion
auf terroristische Angriffe gegen die USA auf
Grundlage des Art. 51 der Satzung der Verein-
ten Nationen und des Art. 5 des Nordatlan-
tikvertrags sowie der Resolutionen 1368
und 1373 des Sicherheitsrats der Verein-
ten Nationen
Drucksache 14/7296
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS
zur Regierungserklärung vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eine Stunde vorgesehen, wobei die Fraktionen der FDP
und PDS jeweils zwei Minuten zusätzliche Redezeit er-
halten sollen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es
so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler, Gerhard Schröder.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der Deutsche Bundestag unterstützt die Bereitschaft
der Bundesregierung, den Bekundungen der unein-
geschränkten Solidarität mit den Vereinigten Staaten
konkrete Maßnahmen des Beistands folgen zu las-
sen. Dazu zählen politische und wirtschaftliche
Unterstützung sowie die Bereitstellung geeigneter
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Präsident Wolfgang Thierse
19283
militärischer Fähigkeiten zur Bekämpfung des inter-
nationalen Terrorismus.
Dies hat dieses Hohe Haus bereits am 19. September die-
ses Jahres mit großer Mehrheit beschlossen. Es geht jetzt
darum, die Konsequenzen aus diesem Beschluss des
Deutschen Bundestages zu ziehen.
Rufen wir uns in Erinnerung: Am 11. September 2001
haben skrupellose, kaltblütige Terroristen mit entführten
Flugzeugen Anschläge in New York und Washington ver-
übt. Diesen barbarischen Attentaten sind Tausende un-
schuldiger Menschen zum Opfer gefallen. Ich kann verste-
hen, wenn Einzelne, sogar viele Einzelne angesichts des
Grauens der Bilder, die man nicht täglich ertragen kann, zur
Verdrängung dessen neigen, was geschehen ist. Das ist
menschlich nachvollziehbar. Aber dies kann und darf nicht
die Leitlinie politischer Entscheidungen sein; denn diejeni-
gen, die politische Entscheidungen dieser Tragweite zu tref-
fen haben, können und dürfen, so sehr sie das individuell be-
dauern mögen, nicht verdrängen, sondern sie müssen immer
wieder den Gegebenheiten ins Auge schauen und die ge-
legentlich leider notwendigen Konsequenzen ziehen.
Das ist der Grund, warum der Sicherheitsrat der Ver-
einten Nationen schon unmittelbar nach den Anschlägen
vom 11. September die völkerrechtlich verbindliche Re-
solution 1368 einstimmig verabschiedet hat. Darin wird
festgestellt auch das gilt es immer wieder in Erinnerung
zu rufen , dass die Angriffe eine Bedrohung des interna-
tionalen Friedens und der Sicherheit darstellen und dass
die Folge dessen die legitimierte Inanspruchnahme des
Selbstverteidigungsrechtes nach Art. 51 der Charta der
Vereinten Nationen ist. Mir ist es im Hinblick auf die Öf-
fentlichkeit wichtig hier im Hohen Hause weiß man das
ja , festzustellen, dass alle Maßnahmen einschließlich
der militärischen exakt auf dieser völkerrechtlich ver-
bindlichen Basis getroffen worden sind, also durch die
Staatengemeinschaft und durch das internationale Recht
in vollem Umfang legitimiert sind.
Der NATO-Rat hat am 4. Oktober dieses Jahres erst-
malig in der Geschichte des Bündnisses den Bündnisfall
nach Art. 5 des NATO-Vertrages festgestellt. Das ist eine
Entscheidung von großer Tragweite, die uns übrigens
nicht nur formal, also nach den Buchstaben des Vertrages,
verpflichtet. Nein, ich denke, unsere Verpflichtung geht
weiter, als lediglich eine Bündnispflicht zu erfüllen. Wir
haben gemeinsam immer wieder darauf hingewiesen,
dass insbesondere die Angriffe auf New York und Wa-
shington, also die Angriffe auf die Vereinigten Staaten von
Amerika, nicht nur Angriffe auf die Werte waren, nach de-
nen sich die Amerikaner politisch konstituieren, sondern
auch Angriffe auf jene Werte, die für uns politisch konsti-
tutiv sind, nämlich die Werte des Grundgesetzes. Deshalb
geht es nicht nur um eine formale Verpflichtung, die aus
Bündnispflichten resultiert. Das ist sie auch und das ist
bereits wichtig genug. Es geht vielmehr darum: Solida-
rität darf in einem Bündnis keine Einbahnstraße sein. Wir
haben über Jahrzehnte Solidarität erfahren. Deshalb ist es
schlicht unsere Pflicht das entspricht unserem Verständ-
nis von Selbstachtung , wenn wir in der jetzigen Situa-
tion Bündnissolidarität zurückgeben.
In der Öffentlichkeit sind zum Beispiel die Fragen ge-
stellt worden: Warum leistet ihr denn Solidarität? Ist denn
der Erfolg dieser Bündnisleistung gewährleistet? Nie-
mand kann das sagen, jedenfalls nicht mit letzter Sicher-
heit. Aber was wäre das für eine Solidarität, die wir vom
Erfolg einer Maßnahme abhängig machten?
Deswegen denke ich: Wir haben uns gemeinsam, also das
gesamte Hohe Haus ich habe eingangs aus dem ent-
sprechenden Beschluss des Bundestages zitiert , zu un-
eingeschränkter Solidarität verpflichtet. Wir haben sie
jetzt als Konsequenz aus unseren eigenen Entscheidungen
auch zu leisten.
Vor diesem Hintergrund hat die amerikanische Regie-
rung konkrete Anfragen an uns gerichtet. Sie umfassen
die Bereitstellung von ABC-Abwehrkräften, einer Einheit
zur Evakuierung von Verletzten, von Spezialkräften der
Bundeswehr, von Lufttransportkräften zum Transport von
Personen und Material sowie von Seestreitkräften zum
Beispiel zur Kontrolle des freien Schiffsverkehrs und zum
Schutz von Schiffen mit gefährlicher Ladung. Das Bun-
deskabinett hat gestern beschlossen, dieser Bitte der Ver-
einigten Staaten zu entsprechen. Wir erfüllen damit die an
uns gerichteten Erwartungen und leisten das, was uns ob-
jektiv möglich ist und was in dieser Situation politisch
verantwortet werden kann.
Alles in allem werden an der Operation Enduring
Freedom maximal 3 900 deutsche Berufs- und Zeitsol-
daten beteiligt sein. Das ist eine Obergrenze, die auf der
Basis der konkreten Anforderungen berechnet worden ist.
Ich habe in jeder öffentlichen Verlautbarung darauf hin-
gewiesen, dass man diese Zahlen nicht als exakte Zahlen
nehmen kann; diese Obergrenze ist aber festgestellt und
steht auch in dem Antrag, den die Bundesregierung dem
Deutschen Bundestag zugeleitet hat. Ein gleichzeitiger
Einsatz aller Soldaten ist nicht zu erwarten.
Das Mandat ist nach unserer Auffassung richtiger-
weise auf zwölf Monate begrenzt. Dies entspricht auch
den Erwartungen unserer Bündnispartner. Bei einer Ver-
längerung müsste der Deutsche Bundestag erneut befasst
werden. Mir ist wichtig, festzustellen, dass letzte Ent-
scheidungen über Einsätze in vollem Umfang bei der
Bundesregierung verbleiben. Ebenso wichtig ist mir,
festzuhalten, dass keine Absicht besteht, die militärischen
Maßnahmen auf ein anderes Land auszudehnen. Im Übri-
gen, kann es Einsätze ich betone das nur mit Zustim-
mung der Regierung des entsprechenden Landes geben.
Das ist die Konsequenz dessen, was wir vorschlagen.
Zunächst geht es nur um die Bereitstellung der deut-
schen Kräfte natürlich um die Bereitstellung zu einem
Einsatz , auch wenn der Bundestag schon jetzt um die
Zustimmung zu einem späteren Einsatzbeschluss gebeten
wird.
Bezogen auf die juristischen Bedenken, die gelegent-
lich geäußert worden sind, will ich sagen, dass das Ver-
fahren, das wir Ihnen vorschlagen, nicht neu ist. Genauso
hat der Bundestag in völligem Einklang mit der Verfas-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundeskanzler Gerhard Schröder
19284
sung und der Rechtslage bei seinem Kosovo-Beschluss
vom 16. Oktober 1998 gehandelt.
Mir ist besonders wichtig festzuhalten: Es geht weder
um eine deutsche Beteiligung an Luftangriffen noch um
die Bereitstellung von Kampftruppen am Boden. Der Bei-
trag, den wir leisten wollen, ist auch Ausdruck unserer
Bereitschaft, der gewachsenen Verantwortung Deutsch-
lands in der Welt durch konkretes Handeln Rechnung zu
tragen. Es muss deutlich werden: Es geht nicht um ir-
gendeine außenpolitische Strategie; es geht um die Ver-
tretung der eigenen Interessen und um den Schutz der ei-
genen Werte, nach denen wir leben und weiter leben
wollen.
Natürlich stellen sich viele Menschen in Deutschland
jetzt besorgt die Frage, welche Konsequenzen der deutsche
Beitrag für uns hat und insbesondere für die Soldaten ha-
ben wird. Niemand hat darauf eine endgültige Antwort. Je-
dem nicht zuletzt mir ist bewusst, das jeder Ausland-
seinsatz Risiken und Gefahren in sich birgt. Aber klar ist,
dass die Bundesregierung alles tun wird, um die bestmög-
liche Sicherheit unserer Soldaten zu gewährleisten.
Im Übrigen sind wir nicht die einzigen, die gebeten
worden sind, ihrer Verantwortung auch durch einen mi-
litärischen Beitrag zur Bekämpfung des internationalen
Terrorismus nachzukommen. Kanada und Australien
zählen ebenso wie Großbritannien das ist bekannt , die
Türkei, die Tschechische Republik sowie Frankreich und
Italien als weitere europäische Partner zu den Staaten, die
sich an den Maßnahmen beteiligen. Auch das gilt es zu be-
denken, wenn hier im Hohen Hause darüber nachgedacht
wird, ob man zustimmen kann und will oder nicht. Auch
die Konsequenzen für Gemeinsamkeiten mit unseren
Partnern in Europa sind bei einer politisch verantwortlich
zu treffenden Entscheidung zu berücksichtigen.
Die militärischen Operationen richten sich auf der
Grundlage der Resolution 1368 des Weltsicherheitsrates
gegen das terroristische Netzwerk von Osama Bin Laden
und gegen das den Terrorismus unterstützende Talibanre-
gime in Afghanistan. Ich bitte Sie, sich in Erinnerung zu
rufen und niemals zu vergessen, dass es sich um ein Ge-
waltregime handelt, das den Tod vieler Tausend Afghanen,
vor allem Kinder und Frauen, Unterdrückung und
Massenvertreibung, auch Akte kultureller Barbarei zu ver-
antworten hat. All das fand statt das ist für die öffentli-
che Diskussion wichtig , lange bevor die militärischen
Maßnahmen gegen dieses Regime begonnen hatten.
Wenn es ein Versäumnis der internationalen Staaten-
gemeinschaft gibt, dann dies das sollten wir in einer sol-
chen Debatte selbstkritisch eingestehen , dass wir alle
nach dem Abzug der vormaligen Sowjettruppen aus
Afghanistan dieses Land und die Barbarei in diesem Land
viel zu lange nicht beachtet haben.
Es handelt sich um ein Regime, das darüber hinaus
terroristische Bestrebungen mit dem Ziel fördert, die
Stabilität arabischer und muslimischer Staaten zu er-
schüttern wiederum mit gefährlichen außen- und si-
cherheitspolitischen Folgen nicht nur für die angegrif-
fenen Vereinigten Staaten, sondern für die gesamte
zivilisierte Welt. Deshalb betone ich noch einmal: Der
Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist nicht
allein mit militärischen Mitteln zu gewinnen; das wissen
wir sehr wohl. Deshalb müssen wir dauerhafte Anstren-
gungen auf vielerlei Ebenen unternehmen, um dieser He-
rausforderung zu begegnen. Wir können und dürfen den
militärischen Beitrag daher nicht losgelöst von einer sol-
chen umfassenden Strategie, einer Strategie für Sicherheit
und für Stabilität in der Welt, diskutieren.
Meine Damen und Herren, während meiner Reise nach
Pakistan, Indien, China und dann auch Russland in der
vergangenen Woche habe ich eine große Übereinstim-
mung darüber feststellen können, dass die Überwindung
des Talibanregimes als wesentliche Voraussetzung für
eine menschenwürdige Zukunft Afghanistans gesehen
wird. Auf die Staatengemeinschaft kommen in diesem
Zusammenhang langfristig enorme Aufgaben zu. Das gilt
vor allem für die Europäische Union. Ich bin der Auf-
fassung, dass in dem Prozess, den man Post-Taliban-
Prozess nennt, nicht nur die Nationalstaaten, die ganz
natürlicherweise Adressat der Beistandserwartungen der
angegriffenen Amerikaner waren und sind, Gesicht zei-
gen müssen, sondern dass das ist auch in dem Gespräch
deutlich geworden, das die europäischen Regierungschefs
am letzten Sonntagabend in London geführt haben vor
allem auch das integrierte Europa, das dabei ist, eine ge-
meinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu schaffen, Ge-
sicht zeigen und seine Rolle wahrnehmen muss. Wir in
Deutschland treten dafür ein, dass dies für Europa mög-
lich wird und dann auch so geschieht.
Es geht jetzt in erster Linie um humanitäre Anstren-
gungen, mit denen das Leid von Millionen von Afghanen
gelindert werden kann. Viele scheinen das Ausmaß der
humanitären Katastrophe noch gar nicht richtig erfasst
zu haben. Es geht dabei nicht nur um die Versorgung von
Flüchtlingen, von Flüchtlingen übrigens das gilt es her-
vorzuheben , die völlig unabhängig von den militä-
rischen Maßnahmen, die angeordnet worden sind, weil sie
notwendig sind, auf der Flucht waren und sind, sondern es
geht auch um die Versorgung von Menschen, die als Folge
der Unterdrückung und der Unfähigkeit des Regimes Hun-
ger leiden. Wir müssen befürchten, dass Abertausende ver-
hungern. Auch um diese Menschen geht es uns.
Jedenfalls müssen und werden wir unsere Anstren-
gungen zur Abwehr von Hunger und Flüchtlingselend
noch einmal verstärken. Wenn diesem so vielfach gebeu-
telten Land nach Beseitigung des Terrorregimes eine
Perspektive gegeben werden soll, dann brauchen wir auch
eine Vorstellung davon und die Bereitschaft dazu, den
Wiederaufbau zu unterstützen.
Nicht zuletzt wird es darum gehen, an den Rahmenbe-
dingungen für das friedliche Zusammenleben der Bevöl-
kerungsgruppen Afghanistans mitzuwirken. Ich sage noch
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundeskanzler Gerhard Schröder
19285
einmal: Wir treten gemeinsam mit unseren europäischen
Partnern für eine Lösung ein, die nicht von außen oktroy-
iert sein darf das ist übrigens auch die Auffassung unse-
rer amerikanischen Freunde , sondern die sich aus dem
Land heraus entwickeln muss. Es geht um eine Lösung, die
alle ethnischen Gruppen einbezieht und die die berechtig-
ten Interessen der Nachbarstaaten berücksichtigt.
Dabei kann diese Lösung für eine gewisse Zeit nur un-
ter dem Dach der Vereinten Nationen herbeigeführt wer-
den. In diesem Prozess dürfen sich Europa und damit
Deutschland ihrer Verantwortung nicht entziehen und sie
werden es auch nicht tun.
Darüber hinaus wollen und werden wir unsere Zusam-
menarbeit mit den zentralasiatischen Staaten ausbauen.
Wir sind daran interessiert, eine Destabilisierung durch
den von Afghanistan ausgehenden internationalen Terro-
rismus zu vermeiden.
Schließlich dürfen wir in unseren Bemühungen um
eine Lösung des Nahostkonfliktes nicht nachlassen. Der
ungelöste Nahostkonflikt darf keine Berufungsgrundlage
für das verbrecherische Handeln der Terroristen sein.
Bezogen auf die Anstrengungen zur Lösung dieses Kon-
flikts, gilt auch: Es gibt keine direkte Beziehung zwischen
dem internationalen Terrorismus und dem schwelenden
Konflikt im Nahen Osten. Anders ausgedrückt: Auch wenn
dieser Konflikt morgen gelöst wäre, dann dürfte man nicht
nachlassen, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen,
weil er unabhängig von diesem Konflikt besteht.
Die Lösung des Konfliktes natürlich auch aus sich
selbst heraus ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil er
den Terroristen die Mobilisierung von Massen für ihr ver-
brecherisches Handeln immer wieder erlaubt hat und
wenn wir zu keiner Lösung kommen weiterhin erlau-
ben wird.
Der unermüdliche Einsatz des Bundesaußenministers
zur Überwindung der Gegensätze in der Region hat den
Respekt vieler seiner und vieler meiner Kollegen. Er ver-
dient auch unseren Respekt und unsere Anerkennung.
Wir würden die Möglichkeiten Deutschlands dabei
geht es auch, aber nicht nur um Personen falsch ein-
schätzen, weil wir sie überschätzten, wenn wir glaubten,
dass dieser Konflikt allein durch unsere oder durch
gemeinsame europäische Anstrengungen zu lösen
wäre. In dieser zutiefst Besorgnis erregenden Situation ist
es erforderlich, dass insbesondere die Vereinigten Staaten
erkennen, dass sie im Nahen Osten auf höchster Ebene
möglicherweise gemeinsam mit Russland, mit der Eu-
ropäischen Union und naturgemäß mit den Vereinten Na-
tionen eine herausgehobene Verantwortung für die Lö-
sung dieses Konflikts tragen.
Die Eindämmung des internationalen Terrorismus ver-
langt das ist klar große Anstrengungen und vor allen
Dingen einen langen Atem. Wir haben ein gemeinsames
Interesse, die militärischen Operationen zu einem raschen
und erfolgreichen Ende zu führen. Wir begrüßen aus-
drücklich die Zusage der amerikanischen Regierung, alle
nur möglichen Vorkehrungen zu treffen, um zivile Opfer
zu vermeiden.
Gerade mit Bezug auf die öffentliche Debatte bitte ich
auch in diesem Fall um Fairness. Die Fairness besteht
darin, dass man nicht einerseits sagt, man solle so vor-
gehen, dass möglichst wenig zivile Opfer zu beklagen
sind, andererseits aber zugleich den Vorwurf erhebt, dass
ein solches Vorgehen dann naturgemäß länger dauert, als
wenn man anders vorginge. Beides lässt sich nicht gut
verbinden.
Man muss sich entscheiden. Ich denke, auch das gehört
zur Redlichkeit im Umgang miteinander und im Umgang
mit unseren Partnern und muss bei Entscheidungen im
Deutschen Bundestag beachtet werden.
Mit unseren humanitären Bemühungen machen wir zu-
gleich deutlich, dass sich die militärischen Operationen
eben nicht gegen das afghanische Volk richten, sondern
gegen den internationalen Terrorismus, der vom Taliban-
regime unterstützt wird, welches insoweit Teil des inter-
nationalen Terrorismus ist. Allein Deutschland hat übri-
gens das können wir ruhig selbstbewusst sagen in den
vergangenen Jahren humanitäre Leistungen in Höhe von
mehr als 100 Millionen DM erbracht. Afghanistan war
das gilt ungeachtet der selbstkritischen Bemerkungen,
die ich gemacht habe immer ein Schwerpunktland un-
serer humanitären Hilfe. Auch deswegen haben wir in die-
sem Jahr den Vorsitz in der Afghanistan Support Group
inne.
Mindestens ebenso wichtig wie militärisches und hu-
manitäres Engagement sind politische und diplomatische
Bemühungen. Wirtschaftliche Maßnahmen ebenso wie
die notwendige Zusammenarbeit der Nachrichtendienste
müssen hinzukommen. Schließlich müssen wir uns auch
der geistigen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus
stellen. Das heißt, wir müssen uns vor allem der Tatsache
stellen, dass Terroristen kulturelle, soziale und politische
Missstände für ihre mörderischen Zwecke instrumenta-
lisieren. Diese geistige Auseinandersetzung haben wir im
Dialog mit den muslimischen Gesellschaften zu führen,
die dabei auch das gilt es einzufordern auch ihrer ei-
genen Verantwortung nachkommen müssen, um das Ziel
einer gemeinsamen friedlichen und humanen Entwick-
lung zu erreichen.
Nur auf der Grundlage eines so umfassenden Konzep-
tes und gemeinsamen Handelns wird die internationale
Koalition im Kampf gegen den Terrorismus am Ende er-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundeskanzler Gerhard Schröder
19286
folgreich sein. Dieser Erfolg ist nicht nur notwendig, son-
dern davon bin ich überzeugt er wird auch erreicht
werden. Wir stehen im Kampf gegen den Terrorismus vor
einer großen Herausforderung. Sie ist nicht zu bewäl-
tigen, ohne Risiken einzugehen. Niemand hat das be-
hauptet und niemand kann das behaupten. Sie birgt aber
auch die Chance, Gefahren für die friedliche Existenz und
das friedliche Zusammenleben der Völker zu Beginn des
21. Jahrhunderts dauerhaft zu beseitigen.
Ich will aber noch auf eines hinweisen: Bei der anste-
henden Entscheidung geht es auch um die Bündnisfähig-
keit Deutschlands, also darum, dass wir die richtige
Konsequenz aus dem, was wir alle miteinander erklärt
und bekannt haben, ziehen. Ich möchte mich in diesem
Zusammenhang ausdrücklich dafür bedanken, dass es
möglich gewesen ist, die ganze Zeit über so miteinander
umzugehen und uns gegenseitig so zu informieren, wie
das dem Thema angemessen ist. Diesen Dank spreche ich
dem ganzen Haus aus, allen, die dabei sind. Ich habe den
Fraktions- und Parteivorsitzenden zugesagt ich habe das
auch dem Bundeskabinett berichtet, welches das zustim-
mend zur Kenntnis genommen hat , dass ich diese ange-
messene Informationspolitik auch weiterführen werde,
insbesondere dann, wenn es um die Konsequenzen aus
dem hoffentlich mit breiter Mehrheit gefällten Beschluss
in der nächsten Woche geht.
Mehr als 50 Jahre lassen Sie mich das abschließend
sagen, meine Damen und Herren haben die Vereinigten
Staaten in Solidarität zu uns gestanden. Es waren nicht zu-
letzt die Amerikaner, die uns die Rückkehr in die Völker-
gemeinschaft ermöglicht, die unsere Freiheit garantiert
und letztlich unsere staatliche Einheit und deren Werden
unterstützt haben.
Über viele Jahrzehnte haben wir diese Solidarität
Amerikas für selbstverständlich gehalten und haben un-
seren Nutzen daraus gezogen. Bündnissolidarität ist aber
keine Einbahnstraße. Deshalb geht es jetzt nicht nur,
aber auch darum, unseren praktischen Beitrag zur Soli-
darität, die unseren gemeinsamen Werten, unseren ge-
meinsamen Zielen und unserer gemeinsamen Zukunft in
Sicherheit und Freiheit gilt, zu leisten. Wir tun das, wie
sich zeigt, in offener, in demokratischer und auch in kriti-
scher Diskussion; das ist kein Nachteil in unserer Gesell-
schaft. Ich hoffe aber auch, dass wir das in großer Ge-
schlossenheit und mit einem entsprechenden Ergebnis
tun.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Am 19. September, we-
nige Tage nach den Terroranschlägen von New York und
Washington, haben wir dem amerikanischen Volk hier im
Deutschen Bundestag mit außergewöhnlich großer Mehr-
heit unsere uneingeschränkte Solidarität im Kampf gegen
den Terrorismus zugesagt. In dieser und in der nächsten
Woche steht für Deutschland die Klärung der Frage an, ob
den Worten von der uneingeschränkten Solidarität auch
Taten folgen, ob wir bereit sind, Risiken und Gefahren bei
der Bekämpfung des internationalen Terrors mitzutragen.
Wir wissen: Eine so weit reichende Entscheidung ist von
uns bisher noch nie gefordert worden.
Wir haben wiederholt festgestellt Herr Bundeskanz-
ler, Sie haben das in Ihrer Regierungserklärung erneut und
richtigerweise getan , dass die Terroranschläge nicht nur
gegen die USA gerichtet waren. Wir alle ich denke, das
gilt auch für die meisten Menschen in Deutschland sind
uns bewusst geworden: Die Anschläge hätten auch Paris,
Frankfurt, London oder Berlin treffen können. Diese Er-
kenntnis verbindet uns mit Amerika und in der NATO.
Diese Erkenntnis ist Grundlage der internationalen Alli-
anz gegen den Terrorismus.
Der Wille zur Verteidigung der Freiheit ist die Grund-
lage der von Ihnen, Herr Bundeskanzler, zu Beginn zi-
tierten Resolution des UN-Sicherheitsrates. Die erstma-
lige Feststellung des Bündnisfalles in der NATO und das
Recht zur Selbstverteidigung nach der Charta der Ver-
einten Nationen sind die unbezweifelbare völkerrechtli-
che Grundlage für den seit dem 7. Oktober auch mit
militärischen Mitteln geführten Kampf gegen den Terro-
rismus.
Wir dürfen heute von dieser Stelle, von Deutschland
aus keinen Zweifel daran lassen, dass auch wir bereit sind,
einen militärischen Beitrag zu leisten, um diesen Kampf
erfolgreich zu bestehen.
Neu für uns ist, dass ein solcher militärischer Einsatz
fernab von Deutschland notwendig sein soll. Wir müssen
uns klar darüber sein, dass die geographische Entfernung
in der Welt des 21. Jahrhunderts keine Bedeutung mehr
hat. Die Globalisierung bringt uns nicht nur große wirt-
schaftliche Vorteile, sie bedeutet auch globale Verantwor-
tung in der Gemeinschaft zivilisierter Völker.
Es gibt das sage ich all denjenigen, die beabsichtigen,
den Antrag der Bundesregierung abzulehnen nur schein-
bar die Alternative, sich herauszuhalten und stattdessen
die anderen, die sich schon entschieden haben, den Weg
weiter gehen zu lassen. Mit klarem Verstand und
Überzeugung müssen wir sagen, dass ein deutscher
Sonderweg, ein Sich-Heraushalten in unserer Welt eine
Illusion ist. Deutschland trägt Verantwortung wie andere
Staaten dieser Welt auch.
Ich möchte deshalb für die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion zunächst feststellen: Wir sind der festen Über-
zeugung, dass es richtig ist, den Amerikanern und allen
anderen Nationen der Anti-Terror-Allianz auch mit
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundeskanzler Gerhard Schröder
19287
militärischen Mitteln im Kampf gegen den Terrorismus
beizustehen. Wir werden uns auch in der Opposition un-
serer Verantwortung stellen.
Wir unterstützen die Bundesregierung bei ihrem Vor-
haben, Einheiten der Bundeswehr zu entsenden, um mit-
zuhelfen, die terroristischen Strukturen zu zerschlagen.
Wir tun dies auch hier sind wir uns einig, Herr Bundes-
kanzler , weil wir den Vereinigten Staaten von Amerika
die Freiheit und ganz wesentlich auch die Einheit unseres
Landes verdanken.
Aber damit kein Zweifel entsteht, sage ich: Dank an Ame-
rika allein ist es nicht, warum wir handeln. Genauso wich-
tig ist, dass die deutsche Beteiligung am militärischen
Einsatz gegen den Terrorismus in unserem eigenen natio-
nalen Interesse liegt.
Herr Bundeskanzler, ich will in diesem Zusammen-
hang die Irritationen ansprechen, die gestern entstanden
sind und die ich durch Ihre Regierungserklärung sowie
durch die darin enthaltene Wortwahl im Vergleich zu den
Erklärungen, die von der amerikanischen Administration
abgegeben worden sind, für nicht ausgeräumt halte. Ich
möchte angesichts dieser Irritationen betonen, dass wir
nur hoffen können, dass Sie nach Konsultationen mit der
amerikanischen Regierung nicht nur auf deren Anforde-
rung reagiert haben, sondern selbst die Initiative ergriffen
haben. Denn nur dann ist die Begründung, im Interesse
des eigenen Landes zu handeln, auch wirklich glaubhaft.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion brauchen Sie sich,
Herr Bundeskanzler, jedenfalls nicht hinter einer ameri-
kanischen Anforderung zu verstecken. Sie können sagen,
wie es wirklich ist.
Zu unserem eigenen Interesse zählt auch, dass wir
ernsthaft und gewissenhaft abwägen, ob wir es verant-
worten können, die Soldaten der Bundeswehr in diesen
Einsatz zu schicken, in den gefährlichsten Einsatz das
ist ohne Zweifel der Fall, wie Sie selbst gesagt haben ,
den die Bundeswehr je zu bestehen hatte.
Ich kann die Unruhe bei Ihnen verstehen. Aber diese
Probleme, meine Damen und Herren von der SPD und
den Grünen, müssen Sie in den nächsten Tagen unter sich
klären.
Wir erwarten von Ihnen, Herr Bundeskanzler, Ihrer
Regierung und insbesondere vom Verteidigungsminister,
dass nicht nur der konkrete Einsatz beschlossen wird, son-
dern dass zuvor alles getan wird, um unsere Soldaten opti-
mal auf diesen Einsatz vorzubereiten und sie im Einsatz
zu schützen.
Wir fordern Sie und Ihre Regierung seit nunmehr drei Jah-
ren aus leider immer dringlicher werdendem Anlass auf,
mehr für die Bundeswehr zu tun. Sie haben die Bundes-
wehr hinsichtlich der Ausrüstung in den letzten drei Jah-
ren so stark vernachlässigt, dass ihre Einsatz- und Bünd-
nisfähigkeit das sind nicht meine Worte, sondern die des
Generalinspekteurs der Bundeswehr nicht mehr in
vollem Umfang gewährleistet ist. Wenn Sie Soldaten jetzt
in einen Einsatz schicken, der schwieriger und gefährli-
cher ist als alle Einsätze, die in den vergangenen zehn Jah-
ren beschlossen worden sind, dann erwarten diese Solda-
ten und ihre Familien von Ihnen, Herr Bundeskanzler,
dass Sie in der Verantwortung Ihres Amtes alles, aber auch
wirklich alles tun, um den Soldaten einen optimalen
Schutz zu gewährleisten.
Diese Verantwortung tragen Sie, Herr Bundeskanzler,
auch nach einem zustimmenden Parlamentsbeschluss.
Diese Verantwortung nimmt Ihnen das Parlament nicht ab.
Die Lage in und um Afghanistan ist sehr viel unüber-
sichtlicher und sehr viel schwieriger als bei allen Einsät-
zen zuvor. Es ist deswegen aus unserer Sicht völlig selbst-
verständlich, dass der Deutsche Bundestag nicht an die
Stelle der politischen und militärischen Führung der
eingesetzten Streitkräfte tritt. Wir können Einzelheiten
der tatsächlich eingesetzten Soldaten, der Einsatzzeit-
punkte, der Einsatzorte und der Einsatzziele nicht festle-
gen. Dies kann auch die Bundesregierung heute noch
nicht. Zum Teil dürfen die Einsätze aus Gründen des
Schutzes der Soldaten auch überhaupt nicht oder erst nach
vollständigem Abschluss des Einsatzes bekannt werden.
Aus diesen Gründen enthält der Beschluss des Bun-
deskabinetts vom gestrigen Tag richtigerweise einen
großen Handlungsspielraum für die Bundesregierung und
für den Einsatz deutscher Soldaten. Dieser notwendige
Handlungsspielraum, Herr Bundeskanzler, darf aber Sinn
und Zweck des von unserer Verfassung gebotenen Parla-
mentsvorbehalts bei sich möglicherweise verändernden
Umständen nicht infrage stellen.
Deshalb sagen wir: Die Größe des Einsatzes, die territo-
riale Ausdehnung des Einsatzgebietes und die Dimension
der Aufgabe, die es jetzt zu verantworten gilt, erfordern
eine angemessene Möglichkeit der Überprüfung unserer
Zustimmung, die die Bundesregierung in der nächsten
Woche erhalten soll. Diese Überprüfung muss gegebe-
nenfalls auch vor Ablauf der zwölfmonatigen Frist, die
Sie beantragt haben, durch den Bundestag selbst erfolgen
können. Für uns gibt es jedenfalls zur Dauer des Mandats
Beratungsbedarf in den nächsten Tagen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Friedrich Merz
19288
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal auf die
humanitäre Katastrophe in Afghanistan selbst zu spre-
chen kommen. Das furchtbare Schicksal, das die Men-
schen in Afghanistan seit einem Jahrzehnt zu tragen ha-
ben, das jetzt in vielen Fernsehbildern wieder gezeigt
wird, ist nicht die Folge der militärischen Schläge gegen
das Talibanregime, sondern es ist das menschenverach-
tende Talibanregime selbst, das die Verantwortung trägt.
Sie haben auf die Dimension dieser Katastrophe bereits
hingewiesen. In den letzten zehn Jahren sind über
4 Millionen Menschen aus Afghanistan geflohen und
über 300 000 Kinder im Land verhungert. Westliche
Hilfseinrichtungen werden beim Zugang systematisch be-
hindert; sie werden bedroht und zum Teil aus dem Land
gejagt. Bis heute weigern sich die Machthaber im Süden
des Landes, Flüchtlingslager des Roten Kreuzes an der
pakistanischen Grenze zu ermöglichen. Deswegen will
auch ich noch einmal ganz klar sagen: Wir führen keinen
Krieg gegen Afghanistan, sondern wir bekämpfen Terro-
risten und ein unmenschliches, menschenverachtendes
Regime, das sie deckt.
In diesem Zusammenhang, Herr Bundeskanzler, hat der
britische Außenminister vollkommen zu Recht die Fest-
stellung getroffen, dass eine Feuerpause das Leiden des
afghanischen Volkes nur verlängern würde. Er hat Recht.
Herr Bundeskanzler, ich will es bei dieser Gelegenheit
auch sagen: Wir sind nicht bereit, eine Arbeitsteilung der-
gestalt vorzunehmen, dass Mitglieder Ihrer Regierung öf-
fentlich sagen, es müsse eine Feuerpause eintreten, und
damit sozusagen wie ein Friedensengel durch das Land
rauschen Sie wissen genau, wen ich meine: die Minis-
terin für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und wir, diejenigen, die Ihre Politik unterstützen, als die
Kriegstreiber in diesem Land genannt werden. Diese Ar-
beitsteilung geht nicht.
Je schneller dieses unmenschliche Regime der Taliban ge-
stürzt wird, desto besser ist es für das afghanische Volk
und die gesamte Region.
Meine Damen und Herren, nach Beendigung der mi-
litärischen Aktionen muss die internationale Hilfe wieder
verstärkt werden. Aber auch dann, Herr Bundeskanzler,
müssen Ihren Worten Taten folgen; denn hier geht es um
die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik: im Inneren, in
der Außenpolitik, aber auch gegenüber den Menschen, die
unsere Unterstützung und unsere Hilfe brauchen.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Bereits am 19. September hat der
Deutsche Bundestag mit sehr deutlicher Mehrheit die
große Solidarität mit dem am 11. September angegriffe-
nen Amerika zum Ausdruck gebracht, die in den Tagen
der Tragödie von New York und Washington von den
Menschen in Deutschland ausging und zugleich von der
deutschen Politik aufgegriffen wurde. Es hieß, diese Soli-
darität werde nicht verbal oder virtuell, sondern konkret
sein.
Schon damals, acht Tage nach den Terroranschlägen,
haben wir uns zu politischer und wirtschaftlicher Unter-
stützung sowie zur Bereitstellung geeigneter militärischer
Fähigkeiten zur Bekämpfung des internationalen Terro-
rismus bekannt. Dann folgte in dem Beschluss ein Satz,
den ich zitiere:
Über diese Maßnahmen ist nach Kenntnis der ameri-
kanischen Unterstützungswünsche in eigener Verant-
wortung und gemäß der verfassungsrechtlichen Vor-
gaben zu entscheiden.
Genau an diesem Punkt sind wir heute angelangt: Die
amerikanische Regierung hat ihre Wünsche artikuliert,
die Bundesregierung hat daraufhin erklärt, welche Art der
Unterstützung sie für leistbar und geeignet hält. Herr Kol-
lege Merz, selbstverständlich hat die Bundesregierung da-
bei unsere eigenen Interessen vertreten; Sie sollten nicht
mit einer so kleinkarierten Philisterei unsere Debatte be-
lasten, wie Sie es getan haben.
Weil es in Deutschland nach unserer Verfassung in sol-
chen Fällen ein Entscheidungsrecht des Deutschen Bun-
destages, den so genannten Parlamentsvorbehalt, gibt,
müssen wir jetzt prüfen und entscheiden, ob wir die Vor-
schläge der Regierung für überzeugend und verantwort-
bar halten.
Nach dem Kabinettsbeschluss sollen fünf Kategorien
militärischer Fähigkeiten bereitgestellt und im Bedarfs-
fall auch eingesetzt werden. Lassen Sie mich diese etwas
näher beleuchten:
Erstens. Wer will eigentlich widersprechen, wenn
Deutschland Sanitätskräfte, besonders solche zur Ret-
tungsevakuierung von verwundeten Zivilisten oder Sol-
daten, bereitstellen will?
Zweitens. Dasselbe gilt für Lufttransportmittel, die
ebenso militärisches Gerät wie zivile Hilfsgüter aufneh-
men können.
Drittens. Die Bundeswehr hat gerade mit dem Spür-
panzer Fuchs besonders anerkannte ABC-Schutzkräfte.
Einen Teil davon jetzt auf einen eventuellen Einsatz vor-
zubereiten macht Sinn, auch wenn wir alle hoffen, dass
dieser Einsatz gar nicht notwendig wird.
Viertens. Marinekräfte sollen zum Beispiel am Horn
von Afrika den Seetransport schützen, also in einer
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Friedrich Merz
19289
Region, in der es in den vergangenen Wochen schon einen
Anschlag auf ein Fahrzeug gegeben hat und weitere Ter-
rorangriffe auf die zivile Seeschifffahrt nicht ausge-
schlossen werden können.
Fünftens. Schließlich geht es um 100 Mann Spezial-
kräfte, die über polizeiähnliche Zugriffsmöglichkeiten im
so genannten Hit-and-Run-Verfahren verfügen und be-
sonders geeignet sind, identifizierte mutmaßliche Täter
dingfest zu machen.
Zu diesen fünf Fähigkeiten nennt der Kabinettsbe-
schluss jeweils zahlenmäßige Obergrenzen, die sich auf
die genannten 3 900 Soldaten addieren.
Die Fachausschüsse werden alle Einzelheiten sorgfäl-
tig beraten. Aber schon jetzt kann man den Eindruck ge-
winnen, dass diese Zusammenstellung von zahlenmäßig
limitierten militärischen Fähigkeiten die Grenze des
Leistbaren und des Verantwortbaren nicht überschreitet.
Ich möchte aber betonen, dass für die SPD-Bundes-
tagsfraktion einige Punkte in diesem Zusammenhang be-
sonders wichtig sind. Wir finden es richtig und wichtig,
dass in Kapitel 7 hinsichtlich des Einsatzgebietes eine
eindeutige Eingrenzung des Operationsrahmens für die
deutschen Kräfte ausdrücklich festgelegt wird. Diese Ein-
grenzung heißt: Afghanistan oder Länder, bei denen eine
Zustimmung der Regierung vorliegt. Wir betonen diesen
Punkt deshalb so ausdrücklich, weil wir davon überzeugt
sind, dass der Kampf gegen den Terrorismus auf die große
politische Allianz, die sich gebildet hat, angewiesen ist.
Diese große politische Allianz ist gegenwärtig davon ab-
hängig, dass der Kampf gegen den Terrorismus einen Tä-
terbezug bewahrt. Die Spuren der Täter vom 11. Septem-
ber führen nun einmal nach Afghanistan und nirgends
anders hin.
Wichtig ist für uns auch die Frage, mit welcher Sicher-
heit wir ausschließen können, dass die bereitzustellenden
deutschen Kräfte nicht in Szenarien geraten können, in
denen das Geschehen von unserer Seite weder kontrolliert
noch gesteuert werden kann. Deswegen war für uns die
Aussage des Bundeskanzlers wichtig er hat sie eben
noch einmal wiederholt und wir verlassen uns auf
sie , dass es bei jedem Einsatz deutscher Kräfte bei einer
Entscheidung in deutscher Verantwortung und auch bei
einer deutschen Kommandoverfügung bleiben wird.
Schließlich weise ich auf einen dritten wichtigen Punkt
hin. Unsere Verfassung sieht vor, dass der Bundestag zu der
Entscheidung, welche und wie viele militärische Kräfte für
wie lange und für welche Zwecke bereitgestellt und einge-
setzt werden, seine Zustimmung geben muss. Das Bundes-
verfassungsgericht hat uns aber auch klar gemacht, dass
Entscheidungen über die Modalitäten, die Umfänge und die
Dauer der Einzeleinsätze Sache der Exekutive sind.
Der Kabinettsbeschluss ersucht uns nun, die
Einzelentscheidungen für zwölf Monate in die Hand der
Bundesregierung zu legen. Es ist unbestreitbar vernünf-
tig, Herr Kollege Merz, bei den Besonderheiten der
terroristischen Herausforderung einen solchen relativ lan-
gen Zeitraum vorzusehen, aber dieser Antrag enthält auch
ebenso unbestreitbar Elemente eines Vertrauens-
vorschusses. Herr Bundeskanzler, wir sind bereit zu die-
sem Vertrauen, aber wir bitten Sie zugleich da unter-
scheidet sich meine Bitte von der von Herrn Merz um
eine Rückzahlung in Raten, nämlich in Form regelmäßi-
ger und detaillierter Informationen an den Deutschen
Bundestag über den Verlauf, die Ergebnisse und die Er-
fahrungen mit den deutschen Einsätzen im Kampf gegen
den weltweiten Terrorismus.
In diesem Punkt präzisiere ich diese Bitte sogar noch.
Das Kapitel 5 Einzusetzende Kräfte gibt Obergrenzen
für die einzelnen militärischen Fähigkeiten an, also bei-
spielsweise 1 800 Mann Seestreitkräfte und 100 Mann
Spezialkräfte. Dann ist aber davon die Rede, dass es auch
unterhalb der Gesamtobergrenze je nach Einsatzerforder-
nis Abweichungen von den genannten Einzelgrößenord-
nungen geben kann. Im Extremfall könnte das eine Um-
kehrung dieser Kräfteverhältnisse bedeuten. Wir wissen
natürlich ganz genau, dass das praktisch gar nicht möglich
wäre. Es ist aber, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, der
Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion als ein Ergebnis
unserer gestrigen vielstündigen Beratungen, der Bundes-
verteidigungsminister solle bei signifikanten Abweichun-
gen von diesen Einzelgrößenordnungen die Fachaus-
schüsse informieren und sie kontinuierlich befassen,
natürlich nicht im Sinne konstitutiver Beschlüsse, son-
dern im Sinne einer fachlichen Begleitung.
Wir glauben, dass eine entsprechende Zusage von Ihnen,
so zu verfahren, die weitere Beratung des Kabinettsbe-
schlusses in den Ausschüssen erleichtern würde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stellen uns jetzt
der Aufgabe, eine verantwortbare deutsche militärische
Beteiligung im Kampf gegen den Terrorismus freizuge-
ben. Wir wissen dabei sehr gut: Das militärische Vorgehen
ist notwendig, aber allein nicht hinreichend. Es muss zu-
gleich ein politisches Gesamtkonzept geben.
In den letzten Wochen ist deutlich geworden: Im poli-
tischen Bereich hat die Bundesregierung gleich auf meh-
reren Feldern stark an Profil gewonnen. Das ist interna-
tional anerkannt worden und das unterstützen wir hier
ausdrücklich. Kein einziges Land hat so schnell und ener-
gisch die Mittel für humanitäre Hilfe heraufgesetzt, von
16 auf 86 Millionen DM. Das wirkt sich auf die Versor-
gungslage vor Ort bereits aus.
Es gibt sonst kein so großes Engagement bei der Frage der
politischen Perspektiven in dieser Region und für Afgha-
nistan. Bei dem so genannten Post-Taliban-Prozess und
bei der Nahostpolitik schauen heute doch wirklich viele
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Gernot Erler
19290
auf Europa und auf Deutschland, wenn es darum geht, die
Friedensverhandlungen endlich wieder aufzunehmen.
Herr Außenminister, wir unterstützen voll Ihren Ein-
satz und Ihre Vermittlungsversuche, die darauf abzielen,
diesen Friedensprozess wieder aufzunehmen.
Aber eines muss klar bleiben und das sollte uns auch bei
dem folgenden Beratungsprozess begleiten: Wer weiter-
hin will, dass die Bundesregierung in diesem politischen
Bereich gestaltend etwas beiträgt, der kann nicht eine Ar-
beitsteilung zwischen risikolosen und risikobehafteten
Aufgaben wollen, sondern der muss auch einen risikorei-
chen militärischen Beitrag der Bundesrepublik Deutsch-
land unterstützen. Unsere Freunde und Alliierten werden
eine solche Arbeitsteilung, bei der wir das politisch Kon-
zeptionelle, das Populäre, das Risikolose und alles andere
die anderen machen, nicht akzeptieren. Das ist auch der
Grund, weshalb schon jetzt 14 verschiedene Länder in Eu-
ropa und jenseits des Atlantiks entweder militärische Zu-
sagen gemacht oder sie in Aussicht gestellt haben: weil
eine solche Arbeitsteilung nicht geht.
Wenn wir jetzt darangehen, die Zusagen, die wir ge-
macht haben, auch einzulösen, dann machen wir uns
keine Illusionen. Wir alle gehen, was die Reaktionen der
Menschen in unseren Wahlkreisen anbelangt, schweren
Tagen und schwierigen Diskussionen entgegen. Die öf-
fentliche Meinung ist gespalten. Die Verunsicherung rührt
auch daher, dass es bei der Planung und Durchführung der
militärischen Operationen in Afghanistan offensichtlich
eine Reihe von Fehleinschätzungen und einige zum Teil
tragische Fehlentwicklungen gab. Es war übrigens Ame-
rika selbst, wo eine öffentliche kritische Diskussion da-
rüber begonnen wurde.
Die Unterteilung auch da unterscheide ich mich von
Herrn Merz in Friedensengel auf der einen Seite und
Kriegstreiber auf der anderen Seite
hat niemand gemacht und sie ist auch völlig unsinnig.
Wir müssen uns alle, Herr Merz, den kritischen Fragen
und Positionen von Bürgern,
von Menschenrechtsorganisationen, von Kirchen und
Verbänden offen und zur Argumentation bereit stellen und
uns mit ihnen auseinander setzen. Dazu gehört auch ein
eigenes Risiko für uns als gewählte Abgeordnete. Aber
darauf möchte ich besonders hinweisen wie wir das
machen, wie überzeugend und wie entschlossen wir das
tun, das wird auch von außen sehr genau beobachtet, ganz
besonders in den arabischen und islamisch geprägten
Ländern, deren gemäßigte Regierungen ein unvergleich-
lich höheres Risiko eingegangen sind, als sie sich in die-
ser herausfordernden Situation an die Seite von Amerika
und in diese große Allianz gestellt haben, und die dabei
bleiben, auch wenn sie täglich mit gewaltsamen Demons-
trationen fanatisierter Gegner konfrontiert werden.
Wir sind darauf angewiesen, dass sie bei dieser Linie blei-
ben. Aber das heißt, wenn wir ihnen helfen wollen, müs-
sen auch wir bei unserer Linie bleiben. Aufmunternde
Worte allein reichen nicht.
Ich meine, dass wir für die kommenden schwierigen
Beratungen noch eine Klarheit mitnehmen sollten. Wir
alle sind auch und nicht zuletzt dafür gewählt worden, den
Menschen Sicherheit zu geben. Nach dem 11. September
müssen wir dafür zusätzliche Anstrengungen erbringen.
Nicht zufällig werden in diesem Haus parallel, praktisch
gleichzeitig, Antiterrorpakete zur inneren Sicherheit und,
wie heute, Maßnahmen zur äußeren Sicherheit beraten,
also defensive und offensive Schutzmaßnahmen. Wer die
Verantwortung für die offensiven Maßnahmen, also den
militärischen Druck gegen die Netze des Terrors und ihre
Beschützer, nicht übernehmen will, der muss automatisch
mehr im Inneren tun,
also noch mehr die Freiheitsrechte einer offenen demo-
kratischen Gesellschaft einschränken, um mehr passiven
Schutz zu schaffen.
Das ist ein wichtiges Argument bei der Diskussion
darüber, ob der Antrag der Bundesregierung auf die Be-
reitstellung und den Einsatz zahlenmäßig begrenzter mili-
tärischer Kräfte mit einem verantwortbaren Auf-
gabenradius unsere Zustimmung verdient oder nicht. Wir
stellen uns auch in diesem Punkt unserer Verantwortung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundes-
kanzler, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung auf die
Erklärung des Deutschen Bundestages vom 19. Septem-
ber Bezug genommen. Ebenso hat der Kollege Merz seine
Rede begonnen. Ich möchte darauf aufmerksam machen,
dass in dieser Regierungserklärung unter Bezugnahme
auf die Entscheidung des Deutschen Bundestages die
Rede von der uneingeschränkten Solidarität mit den Ver-
einigten Staaten und davon ist, dass konkrete Maßnahmen
des Beistands folgen werden.
Wir Freien Demokraten haben dieser Erklärung hier im
Deutschen Bundestag am 19. September einstimmig
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Gernot Erler
19291
zugestimmt. Wir wussten damals um die Konsequenz die-
ser Entscheidung und wir wissen auch heute darum.
Man sollte mit den folgenden Worten vorsichtig sein.
Aber ich glaube, dass die Bezeichnung Zäsur, vielleicht
sogar historische Zäsur, für unsere Außen- und Sicher-
heitspolitik an dieser Stelle zutrifft. Deswegen sollte sich
jeder gleich, ob er auf der Oppositionsseite oder auf der
Regierungsseite ist der besonderen Verantwortung in die-
ser Stunde und auch in der nächsten Woche bewusst sein.
Danach wird sich die Außen- und Sicherheitspolitik
Deutschlands verändert haben.
Wir haben einen gemeinsamen Kampf gegen den Ter-
rorismus zu führen. Dabei gibt es keine Neutralität. Es
wird in Diskussionen gelegentlich so getan, als könne es
bei der Bekämpfung von Terror eine neutrale Position der
Deutschen geben. Wir Deutschen sind bei der Bekämp-
fung des internationalen Terrorismus nicht neutral. Das
sind wir auch und gerade deshalb nicht, weil wir selber
von diesem internationalen Terrorismus bedroht sind.
Die Menschen der zivilisierten Welt, egal, welcher Re-
ligion sie angehören, müssen diesen Kampf gemeinsam
führen; denn sie sind alle bedroht. Mir liegt daran, dies im
Hinblick auf manche Diskussion, die zurzeit feuilletonis-
tisch in Deutschland geführt wird, klarzustellen. Das ist
kein Kampf von Glauben gegen Glauben. Das ist kein
Kampf von Christen gegen Moslems. Das ist übrigens
auch kein Kampf des Westens gegen Afghanistan. Es ist
der selbstverteidigende Kampf des Rechts gegen das Un-
recht des Terrors.
Wir alle haben jetzt in der Tat schwierige Diskussionen
vor uns, Herr Kollege Erler. Aber ich kann uns allen nur
eine Empfehlung geben, wenn ich mir das an dieser Stelle
erlauben darf: Stimmungen muss man sehr ernst nehmen,
auch wenn sie in unseren Wahlkreisen und in unserer Be-
völkerung manchmal heftig ausschlagen. Aber letzten En-
des erwarte ich ganz persönlich, dass sich kein Abgeord-
neter des Deutschen Bundestages in dieser Frage zum
Resonanzboden von Stimmungen macht, sondern dass er
diese Entscheidung aus sich selbst heraus verantwor-
tungsbewusst und mit Festigkeit trifft.
Wenn wir in dieser Frage nur das Echo von Stimmun-
gen wären, dann würden wir vielleicht auf Parteitagen
oder da oder dort von irgendwelchen Gruppen begeistert
gefeiert werden, aber wir würden unserer Verantwortung
nicht gerecht.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle eines sagen, weil Sie
an den Herrn Kollegen Merz auch kritische Worte gerich-
tet haben. Ich meine, mit Verlaub gesagt, dass die Bemer-
kungen des Herrn Kollegen Merz völlig zutreffend sind.
Das gilt insbesondere für die Bemerkung hinsichtlich der
Arbeitsteilung der Regierenden. Ich sage Ihnen das auch
deshalb, weil sich in der gesamten Diskussion bisher kein
Regierungsmitglied, kein Vertreter der Koalitionsfrak-
tionen darüber beklagen konnte, dass die Opposition
gleich, welche Fraktion man betrachtet ihrer staats-
politischen Verantwortung nicht gerecht geworden wäre.
Es ist doch in Wahrheit so: Der Bundeskanzler muss sich
in der Außen- und Sicherheitspolitik gelegentlich auf die
Opposition mehr verlassen, als er sich auf die eigenen
Leute verlassen kann.
Wenn Sie Herrn Kollegen Merz hier jetzt kleinkarierte
Kritik unterstellen, dann möchte ich Ihnen sagen: Ich habe
mir in der Diskussion in den letzten beiden Tagen, auch
nach den Unterrichtungen im Bundeskanzleramt, bei Ih-
nen, Herr Bundeskanzler, einmal vorgestellt, was jetzt in
Deutschland eigentlich los wäre, wenn die alte Koalition
noch die Regierungsverantwortung hätte.
Die halbe Bundesregierung müsste man vor Bundeswehr-
kasernen von Sitzblockaden wegtragen.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Sie heute lernen
müssen, dass man Frieden und Freiheit nicht mit Sitz-
blockaden sichert.
Es kommt jetzt darauf an, dass wir eine wehrhafte Demo-
kratie sind. So wie wir nach innen wehrhaft sein müssen,
müssen wir auch nach außen wehrhaft sein, sonst legen
wir die Axt an die Wurzel unseres Gemeinwesens.
Meine Damen und Herren, wir Freien Demokraten un-
terstützen den Kurs einer wehrhaften Demokratie und es
ist dabei aus unserer Sicht völlig klar, dass die Deutschen
hier mehr Verantwortung übernehmen müssen als in Form
von finanziellen Leistungen. Aber gerade weil die Oppo-
sition hier diese Verantwortung wahrnimmt, will ich an
dieser Stelle doch noch auf einige Dinge hinweisen.
Die Tatsache, Herr Bundeskanzler, dass Sie in der Un-
terrichtung im Bundeskanzleramt und anschließend vor
der Presse sagen, es habe fünf konkrete Anforderungen
der Vereinigten Staaten gegeben, und der amerikanische
Verteidigungsminister dem noch am selben Tag expressis
verbis widersprochen hat, ist an sich schon bedenklich ge-
nug. Aber dass gestern der deutsche Verteidigungsminis-
ter behauptet, es gebe sogar eine schriftliche Anforderung
der Vereinigten Staaten, im Fernsehen auch noch ein Brief
gezeigt wird und Sie rufen: Das stimmt! dazu kann ich
Ihnen nur sagen: Herr Bundesverteidigungsminister,
wenn es diese schriftliche Anforderung gibt, wie Sie es
gesagt haben, dann möchte ich als Abgeordneter diese
schriftliche Anforderung sehen, hier in diesem Hohen
Hause. Denn die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Guido Westerwelle
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Es kann nicht in Ordnung sein, dass auf diese Art und
Weise mit Nebel Politik gemacht wird, um die Eigenen
ruhig zu stellen. Das ist nicht vernünftig und das können
wir nicht akzeptieren.
Ich will eine zweite Sache anmerken, die wir in der
nächsten Woche und in den Beratungen sicherlich noch
weiter diskutieren werden. Das ist nämlich die Frage, wer
jetzt eigentlich handelt. Ich finde es gut, Herr Bundes-
kanzler, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass für
Deutschland die nationale Endentscheidung bestehen
bleibt. Aber die Frage ist, wenn man bündnispolitisch ei-
nen Schritt weiter denkt, schon berechtigt: Das Bündnis
hat den Bündnisfall ausgerufen, wer aber handelt jetzt?
Handelt das Bündnis? Handeln die Amerikaner? Handeln
die 14 Staaten, von denen im Augenblick die Rede ist?
Handeln wir Deutsche? Die bündnispolitische Qualität
dieses Vorgangs ist in meinen Augen noch nicht reflektiert
und das wird in den Ausschüssen eine wichtige Aufgabe
der nächsten Woche sein.
Zu dem Zweiten, das Sie gesagt haben. Herr Bundes-
kanzler, Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie am Sonn-
tagabend einen so genannten kleinen Gipfel gehabt haben.
Sie haben so ein wenig darauf hingewiesen, als sollte das
noch Anerkennung finden. Ich möchte Ihnen aus meiner
Sicht sagen: Gerade weil wir bereit sind, Ihre Außen- und
Sicherheitspolitik zu unterstützen, müssen diese kriti-
schen Anmerkungen erlaubt sein. Ich stelle mir schon die
Frage: Soll das die neue Qualität der Außenpolitik
Europas werden, dass wir künftig in kleinen Zirkeln in
Wahrheit Europa entmachten?
Nein, das ist nicht das, was wir uns an europäischer Poli-
tik auch in diesen Fragen vorgestellt haben. Aus unserer
Sicht ist das nicht sinnvoll.
Eine letzte Bemerkung, weil wir die abschließende De-
batte in der nächsten Woche führen werden und heute der
entsprechende Antrag nur eingebracht wird. Ich möchte
Sie bitten, Herr Bundeskanzler, die Frage der Befristung
wirklich noch einmal zu überdenken. Wir haben die der-
zeit laufende Mazedonienentscheidung zu Recht auf drei
Monate begrenzt, um anschließend neu zu bewerten und
zu entscheiden. Deswegen frage ich mich, warum wir eine
zwölfmonatige Grenze setzen. Frau Kollegin Merkel und
Herr Kollege Stoiber haben gestern ebenfalls darauf hin-
gewiesen. Ich sage Ihnen aus meiner Sicht: Wenn wir eine
Parlamentsarmee haben wollen, wenn sich das Parlament
insgesamt für die Bundeswehr verantwortlich fühlen will,
dann sollte nach meiner Überzeugung das Parlament in
dieser Woche nicht quasi einmal nicken, einmal entschei-
den, und dann in einem Jahr, vielleicht nach der Bundes-
tagswahl, noch einmal gefragt werden. Dann sollte hier
diese wichtige, vielleicht sogar historische Entscheidung
immer wieder zur Diskussion stehen. Das mag Ihnen in-
nenpolitisch manches Bauchgrimmen bescheren. Dem
können Sie sich aber nicht entziehen. Wir müssen hier in
kürzeren Fristen zusammenkommen, um den Erfolg und
die Akzeptanz dieser Entscheidung, die wir mit zu treffen
bereit sind, zu diskutieren.
Ich erteile Bundes-
minister Joseph Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundes-
kanzler und die Vorredner haben darauf hingewiesen, dass
es sich bei der jetzt anstehenden Entscheidung um eine
der schwierigsten und auch schwerwiegendsten Entschei-
dungen des Deutschen Bundestages, der Bundesrepublik
Deutschland in der Außen- und Sicherheitspolitik handeln
wird. Diese schwierige und schwerwiegende Entschei-
dung wirft selbstverständlich die Frage auf, ob es nicht
gangbare, verantwortbare Alternativen dazu gibt.
Es ist eine Entscheidung, die auf die Frage gründet:
Krieg oder Frieden? Es ist d i e zentrale Entscheidung.
Deutschland tut sich vor dem Hintergrund unserer eigenen
Geschichte besonders schwer. Nicht umsonst ist die Men-
schenwürde in Art. 1 des Grundgesetzes als unantastbar
gesetzt worden: aufgrund der Erfahrungen mit Kriegen
und furchtbarer, blutiger Diktatur. Diese Erfahrung sitzt,
quer durch alle Generationen und quer durch alle politi-
schen Lager, sehr tief; wir haben das im Zusammenhang
mit dem Kosovo-Krieg alle gespürt und erlebt. Der Krieg
in diesem Land hat furchtbare Verheerung mit sich ge-
bracht; an diesem Gebäude kann man es sehen. Aber vor
dem Krieg war die Unterdrückung, war die Diktatur,
wurde die Menschenwürde mit Füßen getreten. Das führte
zur Zerstörung Deutschlands und auch dieses Gebäudes.
Insofern haben wir eine Verantwortung, die sich nicht
nur auf dem Imperativ gründen kann, alles zu tun, um Ge-
walt zu vermeiden. Vielmehr müssen wir der Gewalt dort
entgegentreten, wo sie die elementarsten Grundsätze
friedlichen Zusammenlebens gefährdet.
Krieg ist widerwärtig. Es gibt keinen klinisch sauberen
Krieg. Zum Wesen des Krieges gehört es vor allen Din-
gen, dass es auch unschuldige Opfer gibt. Oft werden, wie
wir wissen, die Ungerechten zuletzt getroffen; es werden
viele Gerechte getroffen. Angesichts der Tragweite der
Entscheidung, vor der wir stehen, verstehe ich insofern all
die Skrupel, verstehe ich auch die Emotionen. Aber ich
möchte an diesem Punkt nochmals darauf hinweisen das
habe ich bei meinen jüngsten Reisen, auch in vielen Ge-
sprächen, wiederholt erfahren : Nicht Amerika hat an-
gegriffen. Es ist Amerika, es ist das amerikanische Volk,
das angegriffen wurde, und zwar nicht zum ersten Mal.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Guido Westerwelle
19293
Am 11. September wurde das Furchtbare, das schon
1993 geplant war nämlich mit einem mörderischen At-
tentat den Nordturm des World Trade Center auf den Süd-
turm stürzen zu lassen , Wirklichkeit. Auf diese ver-
suchten Attentate haben die USA damals nicht militärisch
reagiert. In den USA wird jetzt eine Debatte darüber ge-
führt, ob das nicht ein Fehler war. Man hat polizeilich rea-
giert, man hat ermittelt, man hat die Beteiligten festge-
nommen, vor Gericht gestellt und rechtsstaatlich
verurteilt. Das alles hat den 11. September nicht verhin-
dert.
Niemand, meine Damen und Herren, führt Krieg gegen
Afghanistan. Und so furchtbar es ist: Es gibt so etwas wie
eine pazifistische realpolitische Konsequenz. Wir können
nicht überall humanitär intervenieren, das Elend zwar se-
hen, unser Bestes mit endlichen Mitteln versuchen aber
nicht allerorts etwas dagegen tun.
Dieselben Kräfte haben in Ägypten zugeschlagen. Die-
selben Kräfte haben in Algerien im vergangenen Jahr-
zehnt ein Desaster verursacht, das bis zu 100 000 bzw.
150 000 Toten führte. Wir sind betroffen; ich meine das
mit tiefem Ernst. Aber wir können nicht überall eingrei-
fen. Auch das himmelschreiende Unrecht in Afghanistan
ist nicht der hinreichende Grund für die Abwägung aller
Möglichkeiten, sondern die Tatsache, dass seit dem
11. September von Afghanistan in Verbindung mit
al-Qaida und Bin Laden eine Gefahr für den Weltfrieden
und damit auch für uns ausgeht.
Dies hat und muss Konsequenzen haben; wir müssen jetzt
eingreifen. Ich sage das besonders vor dem Hintergrund
der Grundüberzeugung meiner Partei und meiner Frak-
tion, die gerade aus der Forderung Nie wieder Krieg!
hervorgegangen ist.
Herr Westerwelle, es geht hier das haben auch Sie ge-
sagt; ich weiß, dass wir hier die gleiche Position haben
um die elementaren Grundwerte unserer Demokratie.
Aber dazu gehört eben auch, dass es immer wieder junge
Menschen geben wird, die das Recht auf Sitzblockaden
wahrnehmen wollen. Das ist auch gut so; das ist richtig so.
Ich rufe hier nicht zu Sitzblockaden auf, auch wenn ich
mir nicht sicher bin, Herr Glos, ob Sie Ihre Kandidaten-
frage in der CDU/CSU am Ende nicht noch mit Sitz-
blockaden entscheiden werden.
Aber das ist eine völlig andere Frage.
Ich rufe hier nicht zu Sitzblockaden auf. Vielmehr
stelle ich fest: Zum Wesen einer offenen Gesellschaft, ei-
ner Demokratie gehört es auch, dass junge Menschen
Sitzblockaden machen.
Man wird mit ihnen diskutieren und ihnen entgegentreten.
Da, wo sie das Recht übertreten, wird das Recht durchge-
setzt werden.
Meine Damen und Herren, welches Verständnis von
Demokratie haben Sie eigentlich, wenn Sie schon bei ei-
ner solch einfachen Aussage hier im Plenum einen der-
artigen Aufstand machen?
Zurück zur Sache. Die entscheidenden Konsequenzen,
die wir aus dem 11. September ziehen müssen, beruhen
auf der Grundlage der Sicherheitsratsresolutionen der
Vereinten Nationen.
In den Sicherheitsratsresolutionen 1368 und 1373 wird
klar gemacht, dass es hier um eine Gefahr für den Welt-
frieden geht, dass wir in der Tat alles tun müssen, um dem
derzeit bestehenden terroristischen Netzwerk das Hand-
werk zu legen und all denen, die angegriffen werden,
Beistand zu leisten. Das wurde durch Ausrufen des Bünd-
nisfalles gemäß Art. 5 des NATO-Vertrages deutlich
gemacht; der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen.
Die entscheidende Frage das ist die Kernfrage , vor
der wir stehen und um deren Beantwortung wir uns nicht
drücken können, ist man mag viel über die Strategie, die
die USA eingeschlagen haben, diskutieren und sie mei-
netwegen auch kritisieren; die USA tun das selbst : Kön-
nen wir in dieser Situation, in der die Bevölkerung und die
Regierung der Vereinigten Staaten angegriffen wurden,
unseren wichtigsten Bündnispartner, der auf diesen An-
griff antwortet und sich gegen diesen Angriff auf klarer
völkerrechtlicher Grundlage zur Wehr setzt, allein lassen,
ja oder nein? Diese Entscheidung hat dieses Haus zu tref-
fen.
Wenn diese Entscheidung mit Nein beantwortet wird,
wird das weitreichende Konsequenzen für die Bundesre-
publik Deutschland, für deren Sicherheit und deren Bünd-
nisfähigkeit haben.
Ich füge hinzu: Dies wird weitreichende Konsequenzen
auch für die weitere Entwicklung Europas haben. Denn
alle unsere Partner in Europa führen die gleiche innenpo-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundesminister Joseph Fischer
19294
litische Diskussion. Alle eingeschlossen Großbritan-
nien haben die gleiche innenpolitische Stimmung. Aber
alle wichtigen Partner kommen zu der Konsequenz, dass
es für sie, für Europa und für unsere gemeinsame Sicher-
heit ein fataler Fehler wäre, wenn wir die USA alleine
ließen.
Deswegen werden wir uns jetzt dieser Frage zuwenden
müssen. Auch an diesem Punkt geht es nicht darum, ir-
gendein Ziel auszusuchen, sondern es ist für mich ein-
deutig, wer die Haftung für die Anschläge vom 11. Sep-
tember dieses Jahres zu übernehmen hat. Er hat sie
übernommen. Es ist eindeutig, dass das Talibanregime
nicht nur die eigene Bevölkerung unterdrückt, sondern
dass das Talibanregime Osama Bin Laden und sein Netz-
werk aktiv unterstützt und ihm Rückzugsmöglichkeiten
bietet.
An dieser Erkenntnis führt kein Weg vorbei. Wir mei-
nen es ernst damit, dass es sich hier um eine Gefahr für
den Weltfrieden handelt. Ich bin der festen Überzeugung:
Wenn wir nichts tun, werden weitere Aktionen folgen. Es
wird nicht so sein, dass Zuwarten irgendetwas positiv ver-
ändern wird. Auch wenn wir uns in anderen Bereichen po-
litisch und humanitär engagieren, wird es nicht so sein,
dass irgendetwas anders werden wird. Wir werden mit
dieser Herausforderung fertig werden müssen. Das ist die
ganze bittere Wahrheit.
Dazu wird gehören, dass man die Rückzugsgebiete
dieses terroristischen Netzwerkes nicht mehr akzeptiert,
dass man dort die notwendigen militärischen Maßnahmen
ergreift und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, basie-
rend auf den Grundwerten, für die wir einstehen, alles tut,
damit dieses Netzwerk zerschlagen und zerstört wird und
nicht weiter das Leben unschuldiger Menschen gefährden
kann.
In diesem Zusammenhang hat der Bundeskanzler ein
Gesamtkonzept vorgestellt. Besonderes Augenmerk ver-
dient eine große internationale Anstrengung. Ich werde in
New York nochmals mit allem Nachdruck in der Rede vor
der Generalversammlung der Vereinten Nationen und
in den vielen Gesprächen, die dort zu führen sind, anspre-
chen, dass wir eine große humanitäre Anstrengung für das
afghanische Volk in seiner Bedrängnis leisten und dass
wir eine politische Lösung dabei werden die kommen-
den Gespräche in den vor uns liegenden Tagen in New
York eine zentrale Rolle spielen voranbringen.
Mit diesem Krieg, der schon 22 Jahre andauert, muss
Schluss sein. Das afghanische Volk braucht eine Perspek-
tive zum Wiederaufbau in Frieden. Es darf nicht mehr hin-
genommen werden, dass in diesem Land die höchste
Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen weltweit herrscht,
dass dieses Land eine dauerhafte Katastrophe für die
Menschen darstellt, in dem Interessen von regionalen
Mächten und Kriegsherren sowie die Unterdrückung
durch die Taliban dazu geführt haben, dass dieses Volk
seit 22 Jahren keine Perspektive hat.
Auch dem müssen wir uns verpflichtet fühlen, wenn
wir uns entscheiden, gemeinsam mit unseren Partnern mi-
litärisch einzugreifen. Ich denke, diese politische Per-
spektive ist gemeinsam mit der humanitären Unterstüt-
zung von zentraler Bedeutung.
Lassen Sie mich an diesem Punkt etwas ansprechen:
die Lösung der Regionalkonflikte. Ich will es anders for-
mulieren: Ich halte es für ziemlich verantwortungslos,
wenn behauptet wird, der Nahostkonflikt sei die Ursache
für Bin Laden und Israel trage an der Entwicklung des is-
lamistischen Terrorismus Schuld. Ich halte dies für eine
verantwortungslose These, weil Israel an der Invasion der
Sowjetunion in Afghanistan nicht schuld gewesen ist. Is-
rael ist am Kaschmir-Konflikt nicht schuld. Israel ist an
den innenpolitischen Problemen auf der arabischen Halb-
insel und in anderen Staaten nicht schuld. Israel ist an der
Katastrophe von Algerien nicht schuld. All das muss man
wissen. Auch muss man wissen, Herr Westerwelle, dass
Israel seit seiner Gründung in der arabischen Welt instru-
mentalisiert wird.
Kollege Fischer, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bonitz?
Nein, ich möchte mit meinen Ausführungen zum Ende
kommen.
Dies möchte ich eindeutig klarstellen. Wir sollten all
jenen, die in der Öffentlichkeit etwas anderes behaupten,
entgegentreten. Der Bundeskanzler hat zu Recht gesagt:
Wenn wir morgen den Nahostkonflikt gelöst hätten, wäre
das Problem des islamistischen Terrorismus mitnichten
gelöst. Dennoch ist es sehr wichtig, dass wir die Regio-
nalkonflikte lösen. Das ist der entscheidende Punkt. Wir
müssen im Nahostprozess vorankommen. Wir setzen da-
rauf, dass unsere amerikanischen Partner im Rahmen die-
ser Antiterrorkoalition erneut die Führung übernehmen,
und zwar auf der Grundlage gemeinsamer Positionen.
Diese Chance zur Zusammenarbeit mit Europa, mit Russ-
land und dem VN-Generalsekretär hat es noch nie gege-
ben. Das sehen wir als einen ganz entscheidenden Punkt
an.
Wir diskutieren hier über die Frage von Krieg und Frie-
den. Die Angriffe des islamistischen Terrorismus auf New
York und Washington waren kalte Berechnung. Der
Tod Tausender Menschen wurde kalt berechnend in Kauf
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundesminister Joseph Fischer
19295
genommen, um einen großen Konflikt in der islamisch-
arabischen Welt, im Nahen und Mittleren Osten, aus-
zulösen. Weitere Anschläge werden folgen, wenn wir sie
nicht verhindern können, wenn wir den Terroristen nicht
das Handwerk legen. Europa ist ein Nachbar dieser Re-
gion. Zu meinen, dass wir zuwarten könnten, ist ein
großer Irrtum; denn wenn die Terroristen erfolgreich
wären, dann würden wir in einem Maße mit der Frage von
Krieg und Frieden konfrontiert werden, wie es sich die
meisten Menschen Gott sei Dank heute noch nicht ein-
mal träumen lassen.
Wir sind an dieser Konfliktregion zu nah dran, als dass
wir uns der Illusion hingeben könnten, wir könnten uns
heraushalten. Der Einsatz von Gewalt ist die Ultima Ra-
tio und muss immer die Ultima Ratio bleiben. Aber wenn
man mit Gewalt konfrontiert wird und weiß, dass sie hin-
ter der nächsten Ecke lauert, dann wird man sich gegen sie
wehren müssen. Aber dabei dürfen wir, wie gesagt, nie
vergessen, dass der Einsatz von Gewalt die Ultima Ratio
ist. Wir dürfen vor allen Dingen auch nicht vergessen,
dass die Probleme in dieser Region politisch und humani-
tär gelöst werden müssen; denn im Kern sind sie poli-
tische Probleme.
Wenn wir uns etwas vorzuwerfen haben, dann ist es die
Tatsache, dass wir im vergangenen Jahrzehnt die Illusion
hatten, eine Friedensdividende einnehmen zu können,
ohne Investitionen in den Frieden vorzunehmen.
Nein, ich möchte Ihnen erklären, woran das liegt ich
hoffe, Sie wollen jetzt nicht eine Debatte führen, die an
diesem Punkt unangebracht wäre : Der Rückzug der Ers-
ten Welt in den Unilateralismus die USA haben ihn
Schritt für Schritt vollzogen ist durch die Anschläge
vom 11. September unterbrochen worden. Für mich ist
eine der Lektionen des 11. Septembers, dass die USA
nicht wieder in den Unilateralismus zurückgestoßen wer-
den dürfen. Wer das nicht einsieht, der verkennt, dass die
USA gemeinsam mit Europa eine große Chance haben,
Konflikte zu lösen, und der begreift nicht, dass Friedens-
politik im 21. Jahrhundert vor allen Dingen multilaterale
Verantwortungspolitik bedeutet, dass wir nie wieder ei-
nen Rückzug der reichen Welt zulassen dürfen wenn
man vor der Entscheidung steht, ob man militärisch han-
deln soll oder nicht, ist es meistens schon zu spät , dass
wir uns vielmehr im Rahmen einer präventiven Friedens-
politik mit der Lösung der Probleme der Dritten Welt, ins-
besondere in Asien und Afrika, beschäftigen müssen ich
betone: präventiv, nicht militärisch und dass die Länder
der reichen Welt das gemeinsam tun müssen.
Wir müssen die Vereinten Nationen deshalb stärken.
Sie werden in Afghanistan eine bedeutende Rolle spielen.
Ich behaupte, die Debatte über die Reform der Vereinten
Nationen beginnt jetzt erst. Auch hier haben wir im Rah-
men unserer Entscheidungsbefugnisse Verantwortung zu
übernehmen. Die Entscheidung Deutschland nimmt
nicht teil würde auch eine Schwächung Europas bedeu-
ten und würde letztendlich bedeuten, dass wir keinen Ein-
fluss auf die Gestaltung einer multilateralen Verantwor-
tungspolitik hätten. Genau darum wird es in den
kommenden Jahren gehen.
Ich bedanke mich.
Ich erteile dem Kolle-
gen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Der amerikanische Professor
David Fromkin hat man höre und staune bereits vor
24 Jahren gesagt:
Es ist die Strategie der Terroristen, ihr Ziel nicht
durch ihre Handlungen, sondern durch die Reaktio-
nen darauf zu erreichen.
Ich denke, mit dieser Überlegung sind wir auch heute kon-
frontiert, wenn wir uns die Frage stellen: Vereiteln Bom-
ben auf Afghanistan die Ziele der Terroristen oder bedie-
nen sie deren wahnsinnige Logik nur?
Nach vier Wochen Krieg gegen Afghanistan stellt sich
die Frage nach der Bilanz. Keines der selbst gesteckten
Ziele ist bisher erreicht worden: Die Sicherheit in den Ver-
einigten Staaten und in Europa hat sich für die Bürgerin-
nen und Bürger nicht spürbar erhöht. Die internationalen
terroristischen Strukturen sind nicht beseitigt. Das
Talibanregime regiert weiter. Die Antiterrorkoalition
bröckelt. Des Weiteren droht eine Destabilisierung im ara-
bischen und zentralasiatischen Raum. Ich möchte in die-
sem Zusammenhang nur auf die gefährliche Situation in
Kaschmir hinweisen.
Der PDS ist in diesen schwierigen Tagen häufig unter-
stellt worden, sie suche nur nach einfachen Antworten.
Das Gegenteil ist der Fall. Wir tun uns im Ringen um
diese Antworten ebenso schwer wie Sie. Ich will Ihnen
aber eines sagen: Auch wer wie wir zugibt, nicht alles zu
wissen, muss nicht zwingend einen falschen Weg mitge-
hen.
Herr Bundeskanzler, das hat überhaupt nichts damit zu
tun, dass wir die Ereignisse des 11. September verdrängen
wollten. Das ist nicht der Fall.
In dieser schwierigen Situation sagen wir: Wir wissen,
dass Krieg das falsche Mittel im Kampf gegen den Ter-
rorismus ist.
Krieg vermehrt die terroristische Gefahr, er schränkt sie
nicht ein. Der Kampf gegen den Terrorismus ist zu ge-
winnen, ein Krieg aber nie.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundesminister Joseph Fischer
19296
Weil wir gegen den Krieg als Mittel gegen den Terroris-
mus sind, sagen wir auch Nein zur deutschen Kriegsbe-
teiligung.
Wir finden, dass die deutsche Beteiligung die Situation
verschlimmert. Wir haben uns immer für die Wahrneh-
mung der diplomatischen politischen Mission des Bun-
desaußenministers ausgesprochen; man kann das nachle-
sen. Aber die Spielräume, die Deutschland bislang hatte,
sind mit dem Eintritt in die Kriegshandlungen dahin.
Herr Bundeskanzler, Sie haben noch vor kurzem gesagt:
Risiko ja, Abenteuer nein. Wir fürchten, das ist nun hinfäl-
lig. Wir fürchten, dass jetzt ein militärisches Abenteuer be-
ginnt, und zwar schon deshalb, weil Sie die relativ einfache
Frage nicht beantworten können: Was muss geschehen, da-
mit deutsche Soldaten zurückkehren? In welcher Situation,
Herr Bundeskanzler, befinden wir uns: Bündnisfall, Bei-
standsfall oder Kriegszustand? Sagen Sie das den Men-
schen in Deutschland. Sie haben ein Recht darauf.
Ich will zu dem Antrag kommen. Es gab heute weiter-
hin Irritationen darüber, auf welche Weise es zu dieser
Anforderung kam. Ich will Ihnen etwas sagen, was Sie
vielleicht nicht erwarten: Nach dem, was mir bekannt ist,
hat der Bundeskanzler über das Zustandekommen dieser
Anforderung korrekt informiert. Diese Tatsache ist von
Oppositionskollegen in Zweifel gezogen worden. Herr
Bundeskanzler, ich stelle die einfache Frage: Wenn es sol-
che anhaltenden Irritationen gibt, warum haben Sie dann
nicht die Möglichkeit genutzt, vor dem Bundestag das
konkrete Zustandekommen dieser Anforderungen mög-
lichst unter Zuhilfenahme von Schriftstücken klarzu-
stellen? Das wäre durchaus möglich gewesen. In diesem
Zusammenhang hätten Sie nicht die Kronzeugenschaft
der PDS gebraucht.
Der Antrag wirft gewaltige Fragen auf: Was bedeuten die
riesigen Einsatzgebiete, über die schon geredet wurde?
Was heißt geltende Einsatzregeln für militärische Ge-
walt? Wie kommen Spürpanzer zum Einsatz, wenn
Deutschland nicht am Boden agieren will? Können Pan-
zer fliegen?
Sie setzen ausschließlich auf die Nordallianz. Die
Nordallianz mag in der Lage sein, gegen die Taliban das
eine oder andere Gefecht zu gewinnen. Die Schlacht oder
den Kampf gegen den Terrorismus kann die Nordallianz
nicht erfolgreich bestreiten.
Es darf nicht vergessen werden, dass die Nordallianz und
die Taliban zusammen seinerzeit mit über 6 Milliarden
Dollar für den Kampf gegen die Sowjets aufgerüstet wur-
den.
Herr Bundeskanzler, Sie haben völlig zu Recht das
nicht hinzunehmende Elend von Frauen in Afghanistan
angesprochen. In diesem Punkt von der Nordallianz ir-
gendetwas an Verbesserung zu erwarten ist doch eine
glatte Illusion.
Ich möchte Sie vor allem diejenigen Kolleginnen und
Kollegen, die beabsichtigen, dem vorliegenden Antrag
zuzustimmen bitten: Lassen Sie nicht zu, dass erneut ein
Vorratsbeschluss gefasst wird. Der Antrag, mit dem wir es
zu tun haben, ist eine Art Freibrief.
Im Text ist sogar das Wort Ermächtigung enthalten.
Lassen wir nicht zu, dass die Souveränität des Parlaments
eingeschränkt wird. Lassen wir auch nicht zu, dass mit
kritischen Stimmen in dieser gesellschaftlichen Situation
vonseiten der Regierungskoalition und vonseiten des
Bundeskanzlers weiter so umgegangen wird wie bisher.
Herr Bundeskanzler, der Maulkorb, den Sie der IG
Metall verpasst haben, gehört genau zu der von mir kriti-
sierten Position. In diesem Zusammenhang will ich an ei-
nes erinnern: Bundeskanzler Kohl hat so manchen Strauß
mit den Gewerkschaften ausgefochten, aber den Gewerk-
schaften das Recht auf Friedenspolitik abzusprechen ist
ein Novum, das erst unter Rot-Grün eingeführt worden
ist, und das wollen wir so nicht hinnehmen.
Das ist leider kein Blödsinn.
Ich wünschte mir, es wäre Blödsinn, Herr Kollege.
Im Übrigen spricht die Delegitimierung aller Kriegs-
kritiker nicht etwa für Souveränität dieser Regierung, son-
dern für Schwäche im Umgang mit Kritikerinnen und Kri-
tikern.
Meine Damen und Herren, ich denke, es gibt noch im-
mer die Chance zur Umkehr auf diesem Weg. Noch ha-
ben wir eine Woche Zeit bis zur Beschlussfassung. Lassen
Sie uns umkehren und wieder hinkommen zu einer Do-
minanz des Politischen, des Diplomatischen, des Juristi-
schen, meinethalben auch des Polizeilichen! Lassen Sie
uns von der uneingeschränkten Solidarität zu dem kom-
men, was wir im Deutschen Bundestag kritische Solida-
rität genannt haben! Lassen Sie uns für wirksame Flücht-
lingshilfe und Aufbauhilfe in Afghanistan eintreten! Ich
sage noch einmal: Wenn dem globalisierten Terror der
globalisierte Krieg folgte, dann hätte sich nicht die Logik
der Zivilisation, sondern dann hätte sich der Wahnsinn der
Terroristen durchgesetzt und das können und wollen wir
nicht zulassen.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, fällt mir zum
Schluss nur ein, Ihnen zuzurufen: Sagt Nein!
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Roland Claus
19297
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort dem Kollegen Werner Schulz.
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Kollege Claus, Sie haben die uneingeschränkte
Solidarität Deutschlands infrage gestellt und abgelehnt,
eine Solidarität, die bedeutet, dass kein Bereich von Hilfe
und Unterstützung von vornherein ausgeschlossen ist,
eine Solidarität, die nicht zuerst nach Garantieleistung
fragt, sondern die Notwendigkeit sieht. Uneinge-
schränkte Solidarität heißt nicht bedingungslose Soli-
darität.
Bedingungslose Solidarität, Gregor Gysi, hat es von 1980
bis 1989 in einem Teil Deutschlands gegeben, in einer
Zeit also um das einmal deutlich zu machen , als du und
viele andere deiner Partei
als Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei
in fester Waffenbrüderschaft an der Seite der Sowjetunion
standen.
Es gibt ein Maß von Heuchelei, finde ich, das unerträglich
ist.
Die Probleme von heute haben etwas mit der Vergan-
genheit zu tun, und zwar sehr konkret.
Was die gewundenen Erklärungen zu Mauerbau und
Zwangsvereinigung angeht, so muss ich sagen: Da waren
viele von uns noch nicht geboren oder noch Kinder. Aber
Afghanistan ist ein anderer Konflikt.
Ich will einen ganz interessanten Zacken aus meiner
Biografie erwähnen, der seit 1990 im Handbuch des Deut-
schen Bundestages steht. Ich habe nicht gedacht, dass das
in irgendeiner Weise noch einmal eine Rolle spielen
würde.
Ich bin 1980 mit meiner halb fertigen Dissertation von
der Humboldt-Universität geflogen, weil ich Protest ge-
gen den Einmarsch der Russen in Afghanistan gewagt
habe. Von der SED habe ich da von Kritik kein Sterbens-
wörtchen gehört. Ihre Position heute wäre glaubwürdiger,
wenn Sie keine einfachen Antworten geben würden,
sondern wenn Sie erklären könnten, warum Sie in dem
grausamen Krieg damals neun Jahre lang bedingungslose
Solidarität geübt haben und sich heute bei der Beteiligung
am Kampf gegen den Terrorismus verweigern. Das müs-
sen Sie der deutschen Öffentlichkeit erklären!
Kollege Claus, Sie ha-
ben die Gelegenheit zu einer Erwiderung.
Herr Kollege Schulz, Sie kön-
nen sich mit der Mehrheit im Deutschen Bundestag mög-
licherweise auf den Verweis auf die Geschichte meiner
Partei zurückziehen. Sie können unsere Kritik an Ihnen
auf diese einfache Art zurückweisen.
Sie können aber eines nicht zurückweisen: In dieser
Gesellschaft gibt es inzwischen viel mehr Stimmen als die
aus meiner Partei und aus meiner Fraktion, die sagen, dass
die Begrifflichkeit von der uneingeschränkten Solida-
rität für dieses Land ein unheilvolles Bekenntnis war,
weil es dazu führt, dass es zu einer bedingungslosen Soli-
darität kommt. Ich muss hier doch nicht die Namen der
Prominenten aufzählen angefangen von Günter Grass
über viele weitere Schriftsteller , die in diese Kritik ein-
gestimmt haben. Wir werden an unserer Position festhal-
ten. Dabei werden wir uns auf den Rückhalt in unserer
Gesellschaft stützen können. Die Mehrheitsverhältnisse
sehen dort anders aus als hier, im Deutschen Bundestag.
Ich erteile das Wort
dem Bundesminister Rudolf Scharping.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In mehreren
sicherheits- und außenpolitischen Debatten in diesem
Parlament hat eine Erkenntnis eine Rolle gespielt, die
auch heute wichtig ist: Allein, also für sich, können Staa-
ten ihre Sicherheit wenn überhaupt, dann nur schwer ge-
währleisten; sie sind auf Zusammenarbeit angewiesen.
Zusammenarbeit ist nicht nur wegen der Bedrohung in
Form eines zwischenstaatlichen Krieges diese Wahr-
scheinlichkeit ist sehr gering geworden erforderlich,
sondern auch, weil Zusammenarbeit zur Gewährleis-
tung gemeinsamer Sicherheit die unabdingbare Voraus-
setzung für den Schutz vor asymmetrischen Bedrohungen
ist. Es geht beispielsweise um Bedrohungen, die zwar
nicht unmittelbar von Staaten ausgehen, aber möglicher-
weise von ihnen unterstützt werden. Das kann der Fall bei
terroristischen Bedrohungen sein.
Ich muss offen sagen: Bestimmte Teile der Debatte
sind in meinen Augen zu sehr innenpolitisch motiviert.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 200119298
Wir haben es mit einer ernsten, den Weltfrieden und die
globale Stabilität herausfordernden Bedrohung zu tun.
Wir haben es mit einer Bedrohung zu tun, die auf das Er-
zeugen von Angst und Unsicherheit in den westlichen,
den offenen, den freiheitlichen Gesellschaften zielt. Wir
haben es mit einer Bedrohung zu tun, die über diesen Weg
zugleich die Stabilität der arabischen, islamisch geprägten
Gesellschaften und Staaten in Gefahr bringen will.
Es ist deshalb wichtig allerdings ist es erstaunlich,
dass dieser Gesichtspunkt bei unseren Erwägungen hier
kaum eine Rolle spielt , dass die arabische Welt in dieser
sehr herausfordernden, schwierigen und mit schwerwie-
genden Entscheidungen verbundenen Situation ausdrück-
lich gesagt hat: Weder die Taliban noch Osama Bin Laden
können sich auf den Islam berufen. Die islamischen Staa-
ten verurteilen den Terrorismus und engagieren sich
genauso übrigens aus wohl erwogenen eigenen Interes-
sen gegen diese Entwicklung im Rahmen einer interna-
tionalen Koalition.
Wenn es stimmt, dass man sich gegen Bedrohungen
dieser Art besser und erfolgversprechender gemeinsam
wehren kann, dann wird deutlich, worin unsere Interessen
und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen bestehen.
Es gibt einen untrennbaren Zusammenhang zwischen der
Freiheit und der Sicherheit offener Gesellschaften, demo-
kratischer Rechtsstaaten im Innern, und der Gewährleis-
tung ihrer äußeren Sicherheit.
Vor diesem Hintergrund beantwortet sich nicht nur die
Frage, ob wir die Vereinigten Staaten aus Gründen der So-
lidarität, der historischen Dankbarkeit oder aus anderen
Gründen unterstützen. Nein, es geht um viel mehr: Es geht
um unser eigenes Interesse an der Bewahrung der Frei-
heit, der Rechtsstaatlichkeit, der demokratischen Sub-
stanz der eigenen Gesellschaft. Wir müssen uns gegen ter-
roristische Bestrebungen wehren und dürfen nicht in die
Gefahr kommen, zum Spielball von Entscheidungen zu
werden, die nicht wir, sondern die terroristischen Organi-
sationen Gewissenlose und zum Teil scheinbar Ver-
rückte treffen; denn anders kann man das, was Herr Bin
Laden gegenüber den Vereinten Nationen, dem General-
sekretär und den Führungen arabischer und islamisch ge-
prägter Staaten gesagt hat, nicht qualifizieren.
Wenn das unter uns klar ist, können wir die Frage stellen,
ob wir das Richtige tun. Wenn wir allerdings unseren Bür-
gerinnen und Bürgern signalisieren würden, dass das rich-
tige Tun ausschließlich aus Militärischem bestünde, be-
gingen wir einen schweren Fehler.
Wie wir alle wissen, ist das Handeln mehrdimensional.
Es bezieht Fragen der inneren Sicherheit, der Finanzquel-
len, der Ausbildung, der Organisationsstruktur und vor al-
len Dingen weit reichende außen- und sicherheitspoliti-
sche Bemühungen ein. Es bezieht den Versuch ein, die
Nachbarstaaten zu stabilisieren und regionale Konflikte,
zum Beispiel in Kaschmir, im Nahen Osten und andern-
orts, die eine explosive Kraft entfalten können, einzu-
dämmen. Auf all das das wird oft genug übersehen
nehmen die militärischen Maßnahmen, die heute
durchgeführt werden, nicht nur Rücksicht, sondern sie
folgen diesen politischen Zielen. Anders könnte man
um es mit einem scheinbar technischen Detail zu unter-
mauern nicht erklären, dass während des Krieges gegen
den Irak zur Befreiung Kuwaits pro Tag 1 500 bis 2 000
und während des Krieges im Kosovo pro Tag 250 bis
300 militärische Einsätze geflogen wurden, jetzt aber
stark limitiert nur etwa 100 pro Tag.
Wer in der deutschen Öffentlichkeit entweder behaup-
tet oder die Behauptung verbreitet, es gebe Flächenbom-
bardements und einen sinnlosen, überbordenden und
überschießenden Einsatz militärischer Mittel, der versteht
entweder die Fakten nicht bzw. will sie nicht verstehen
oder er hat ein anderes Interesse.
Dann kann man die Frage stellen, ob die militärischen
Maßnahmen und deren Unterstützung durch Bereitstel-
lung von Fähigkeiten der Bundesrepublik Deutschland
diesen Zielen gerecht werden. Diese Frage kann man von
zwei Seiten her beantworten. Die eine Frage lautet: Was
geschieht, wenn nichts geschieht und wir uns nicht betei-
ligen? Wir werden zum Spielball des Terrors. Wir ver-
lieren unsere Fähigkeit, Amerika zu beeinflussen und eine
auf multilaterale Verantwortung und gemeinsames Vorge-
hen abzielende Politik durchzusetzen. Wir verspielen un-
sere eigenen Möglichkeiten in der NATO. Wir sondern
uns von den europäischen Staaten, von Frankreich, Groß-
britannien, Italien, Spanien, Tschechien und Polen, ab.
Wir verlieren unseren Einfluss bei der Gestaltung der
Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union.
Hier steht nicht nur der Erfolg des Kampfes gegen den
Terrorismus auf dem Spiel, sondern hier steht auch die
Rolle der Bundesrepublik Deutschland in einer sich
entwickelnden, auf multilateraler Verantwortung beru-
henden Politik innerhalb der NATO und der Europäischen
Union zur Debatte.
Die zweite Frage lautet: Wen ermutigen wir, wenn wir
nicht zum Erfolg dieses Ringens beitragen? Was wird in
den arabischen und den islamisch geprägten Gesellschaf-
ten los sein, wenn sich der Eindruck verfestigt, wir seien
nicht tapfer und standhaft genug, um dieses Ringen zu ei-
nem erfolgreichen Ende zu führen? Die Ermutigung des
Terrorismus und von Radikalismen, die daraus erwach-
sen würden, würde unabsehbare Folgen für Freiheitlich-
keit, das Maß an Offenheit und die demokratische Natur
unserer Gesellschaften haben. Wir sollten uns da nichts
vormachen.
Im Lichte all dieser Fragen will ich hinsichtlich der Un-
terstützung der Bundesrepublik Deutschland sagen: Der
Antrag der Bundesregierung folgt nicht nur, sondern er
geht weit über das Maß an Präzisionen hinaus, welches
das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung
vom 12. Juli 1994 verlangt hat. Dort steht:
Der der Regierung von der Verfassung für außen-
politisches Handeln gewährte Eigenbereich exekuti-
ver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit wird
durch den Parlamentsvorbehalt nicht berührt. Das
gilt insbesondere hinsichtlich der Entscheidung über
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundesminister Rudolf Scharping
19299
die Modalitäten, den Umfang und die Dauer der
Einsätze, die notwendige Koordination in und mit
Organen internationaler Organisationen.
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer von der
FDP?
Im Augenblick nicht. Ich bitte dafür um Verständnis.
Wenn man diese Passage des Urteils zugrunde legt, dann
wird leichter deutlich, worin unsere Fähigkeiten bestehen:
Sie sind im Wesentlichen defensiv und werden im We-
sentlichen in Deutschland bereitgestellt.
Sie, Herr Kollege Westerwelle, wissen hinsichtlich der
Frage der Koordination in und mit Organen internationa-
ler Organisationen, im Fall der NATO auch mit Bünd-
nispartnern so gut wie ich: Wenn ein Bündnispartner seine
Anforderungen als geheim einstuft, ist allein er in der
Lage, diese Einstufung zu verändern. Wir können das
nicht. Das wissen Sie so gut wie ich.
Der Zweifel, der gesät werden soll, hat eine innenpoli-
tische Intention, hat darüber hinaus aber auch eine außen-
politische Wirkung. Wenn es von einem amerikanischen
Regierungsmitglied eine missverständliche Formulierung
gegeben hat, dann darf das nicht dazu führen, dass wir in
Deutschland plötzlich beginnen, kleinkarierte Debatten
darüber zu führen, welche Anforderungen in welcher
Form vorliegen. Jeder von uns, jeder, der an solchen Pro-
zessen beteiligt ist, weiß doch, dass Anforderungen das
ist völlig normal auf operative Kategorien umgerechnet
werden können.
Herr Minister, Sie müs-
sen zum Ende kommen. Ihre Redezeit ist überschritten.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, zum Schluss
möchte ich auf folgenden Punkt aufmerksam machen: Die
Fähigkeiten, die bereitgestellt werden sollen, können zum
Teil sehr schnell verfügbar gemacht werden. Das betrifft
die medizinische Evakuierung und den Lufttransport. Sie
bedürfen zum Teil einer sehr sorgfältigen Vorbereitung
und auch das betrifft beispielsweise Spezialkräfte ge-
meinsamer Ausbildung.
Meine dringende Bitte ist, dass wir im Parlament und
in der Regierung uns auch angesichts des einen oder an-
deren spekulativen Berichts nicht selber in Hektik verset-
zen und uns zu Spekulationen verleiten lassen, die einer
nüchternen, abwägenden und verantwortungsbewuss-
ten Entscheidung alles andere als förderlich sind.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Entgegen meiner ur-
sprünglichen Absicht möchte ich einige Bemerkungen zu
dem machen, was wir heute hier gehört haben. Zum einen
ist der Außenminister wieder rückfällig geworden und hat
offen zum Gesetzesbruch aufgerufen.
Sitzblockaden sind eine Nötigung. Wenn in Gorleben
nicht nachdrücklich zu Sitzblockaden aufgerufen würde,
müssten wir 18 000 Polizisten weniger einsetzen.
Paulus, einer der beliebtesten Heiligen in der katholischen
Kirche, war vorher Saulus. Ich weiß nicht, ob auch er zwi-
schendurch rückfällig geworden ist.
Zweitens. Herr Bundeskanzler, ich fand, es gab wieder
eine unsägliche Rede von der PDS. Die PDS wird von Ih-
nen, was Information und Einbeziehung ins Parlament an-
geht, noch immer gleichberechtigt behandelt.
Gerade angesichts dessen, was der Kollege Schulz heute
gesagt hat, sollten Sie sich das einmal durch den Kopf ge-
hen lassen. Dabei sollten Sie insbesondere darüber nach-
denken, ob es angesichts der Schwierigkeiten in unserer
Zeit angemessen ist, dass es gemeinsame Regierungen
mit der PDS gibt.
Sie haben bekanntlich über eine französische Zeitung di-
rekt aus Indien ein Machtwort darüber gesprochen, was
in Berlin zu geschehen hat. Ein ähnliches Machtwort soll-
ten Sie, diesmal vielleicht über eine deutsche Zeitung, für
Mecklenburg-Vorpommern oder in Sachsen-Anhalt spre-
chen.
Ein weiterer Punkt. Herr Bundeskanzler, ich bitte Sie
sehr herzlich, dass Sie den verbliebenen Widerspruch auf-
lösen; Ihr Verteidigungsminister war dazu entweder nicht
in der Lage, konnte oder wollte es nicht. Dieser Wider-
spruch besteht darin, dass Sie heute ich habe genau zu-
gehört einmal von einer konkreten Anfrage der ameri-
kanischen Regierung gesprochen haben, mit der wir es zu
tun hätten, also von einer Anfrage und nicht von einer An-
forderung.
Sie haben dann später gesagt Sie können es im Pro-
tokoll nachlesen : Wir sind der Aufforderung nachge-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundesminister Rudolf Scharping
19300
kommen. Ich weiß aber immer noch nicht, ob es eine
Anfrage, Aufforderung oder ein Angebot war. Ich stehe
natürlich zu dem, was hier gesagt worden ist. Es ist rich-
tig, dass wir unsere Hilfe anbieten müssen, weil wir Mit-
glied dieser Antiterrorkoalition sind. Aber wenn in einer
so schwierigen und ernsten Situation der Bundeskanzler
die Fraktionsvorsitzenden des Parlaments einlädt und an-
schließend die deutsche Öffentlichkeit unterrichtet, dann
hat dieses Parlament einen Anspruch auf die Wahrheit und
einen Anspruch darauf, genau zu erfahren, wie es gewe-
sen ist. Wir würden die Entscheidung auch mit tragen,
wenn es keine konkrete Aufforderung gegeben hätte, Herr
Bundeskanzler.
Wie es an anderer Stelle aussieht, ist nicht unser Bier und
wird auch nicht Maßstab unseres Abstimmungsverhaltens
sein. Darauf können Sie sich verlassen.
Herr Bundeskanzler, viele sagen, wir seien eine
schlechte Opposition, weil wir trotz dieser Schwierigkei-
ten bereit sind, die Bundesregierung zu stützen. Ich finde,
dass die Aufgabe der Opposition selbstverständlich das
Kontrollieren und das Offenlegen von Widersprüchen ist.
Wir sind aber auch gewählt, das Beste für unser Land zu
erreichen. Es ist gut für dieses Land und seine Zukunft
und für die Sicherheit seiner Menschen, wenn wir fest an
der Seite der Verbündeten stehen. Hier geht es nämlich
auch um deutsche Interessen. Es liegt im deutschen Inte-
resse, dass der Terror überall dort, wo er sich zeigt, be-
kämpft und ausgemerzt wird.
Dass man vorher nicht genau sagen kann, wo, wie und
wann möglicherweise Spezialtruppen eingesetzt werden
heute sagt man zu solchen Aktionen hit and run , das
wissen wir alle. Wir verlangen das auch nicht. Wir wollen
nicht, dass solche Aktionen vorher in Ortsvereinen und in
Ortsverbänden, auf lokalen Parteitagen und auf Landes-
parteitagen diskutiert werden, bevor in den Fraktionen des
Parlaments darüber beraten wird, ob da oder dort zuge-
griffen werden kann. Wir haben Vertrauen in das Handeln
der militärischen Führung, wir haben Vertrauen in die
Amerikaner und wir haben Vertrauen in Sie. Denn Sie ha-
ben in dieser Zeit eine gute Figur gemacht.
Deswegen haben Sie es eigentlich nicht nötig, dass Sie ge-
rade diesen gefährlichen Einsatz mit Zweifeln belasten.
Es wäre vielleicht ganz gut, wenn Sie ein paar Worte dazu
sagen würden, wie es wirklich gewesen ist.
Wir möchten natürlich auch das sind wir unseren Sol-
daten und auch denen, die uns gewählt haben, schuldig ,
dass wir nach angemessener Zeit erneut damit befasst
werden, damit dem Parlament eine Zwischenbilanz vor-
gelegt werden kann und damit es über die Erfolgsaus-
sichten diskutieren kann. Ich habe eigentlich wenig Zwei-
fel, dass Sie dann wieder unsere Zustimmung bekommen.
Deshalb lautet meine Bitte: Überlegen Sie es sich, ob die
Befristung nicht auf ein halbes Jahr begrenzt sein sollte,
damit wir uns nach dieser Zeit damit erneut befassen kön-
nen! Wir selbst können die im Antrag vorgesehene Befris-
tung nicht ändern. Deshalb habe ich diesen Punkt an die-
ser Stelle angesprochen.
Eine letzte Bemerkung. Herr Bundeskanzler, beziehen
Sie diejenigen, die Verantwortung mit übernehmen, stär-
ker ein. Ich glaube, dass diesbezüglich bei uns noch ein
entsprechendes Gremium fehlt. Wir brauchen für diese
schwierige Zeit ich befürchte, sie wird nicht leichter ein
Gremium, das auch Verantwortung mit übernimmt. Dazu
gehört natürlich, dass vorher vertraulich informiert wird.
Die Zustimmung des Parlaments sie ist ohne Zweifel
vorhanden ist möglicherweise leichter zu erreichen als
eine ständige Zustimmung und der Konsens der Mehrheit
der deutschen Öffentlichkeit, die man in schwierigen
Zeiten braucht. Das wird letztlich nicht ohne die
CDU/CSU gehen. Deshalb meine Bitte, entsprechende
Überlegungen anzustellen. Wenn Sie uns im Interesse un-
seres Landes brauchen, stehen wir selbstverständlich zur
Verfügung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind uns
alle in diesem Hause darüber klar, dass wir in schwierigen
Zeiten über schwierige Fragen diskutieren. Wir sollten
weder die Geschichte verharmlosen, um rascher Zustim-
mung zu bekommen, noch und das geht auch an die
Adresse der veröffentlichten Meinung zu sehr Panik und
Hektik verbreiten. Wenn ich heute in großen Boulevard-
zeitungen lesen muss, wie gefährdet wir sind und welch
schlimme Anschläge wir möglicherweise zu erwarten ha-
ben, wenn wir zustimmen, dann beunruhigt das. Vielleicht
könnte der Bundesinnenminister auch dazu ein paar
Worte sagen; denn wir wollen keine Verunsicherung, son-
dern Sicherheit der Bevölkerung und auch Sicherheit für
die Zukunft. Bei all diesen Maßnahmen haben Sie uns an
Ihrer Seite.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-
sprache. Der Antrag der Bundesregierung auf Drucksache
14/7296 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden. Der Haushaltsausschuss
soll den Antrag abweichend von der Tagesordnung jedoch
nur gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen be-
kommen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der PDS
auf Drucksache 14/7333 soll an dieselben Ausschüsse
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? Das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
4 a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie-
rung
Jugendpolitisches Programm der Bundesregie-
rung: Chancen im Wandel
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Michael Glos
19301
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kerstin Griese, Hildegard Wester, Iris Gleicke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Christian Simmert,
Marieluise Beck , Volker Beck (Köln),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zukunft gestalten Kinder und Jugendliche
stärken
Drucksachen 14/5284, 14/6415
ZP 3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Jugendpolitisches Programm der Bundesregie-
rung Chancen im Wandel
Drucksache 14/7275
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Zur Großen Anfrage der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen liegt je ein Entschließungsan-
trag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen sowie der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinhalb Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend, Christine Bergmann.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum ersten Mal
wird im Bundestag über ein ressortübergreifendes
Regierungsprogramm für die junge Generation gespro-
chen. Das ist sehr gut so. Es zeigt, welchen Stellenwert
diese Bundesregierung der Jugendpolitik zumisst.
Unter dem Titel Chancen im Wandel haben wir ein
Zehnpunkteprogramm vorgelegt, an dessen Bearbeitung
sich alle Ressorts beteiligt haben. Wir stellen in diesem
Programm unsere jugendpolitische Reformpolitik dar, die
sowohl die Weiterentwicklung bewährter Programme
einschließt als auch neue Projekte beinhaltet.
Jugendpolitik heißt für uns nicht nur Politik für, son-
dern auch Politik mit der Jugend.
Wir nehmen die junge Generation als Partner ernst. Wir
wollen sie dabei unterstützen, ihren eigenen Weg in unse-
rer Gesellschaft und im zusammenwachsenden Europa zu
finden. Wir alle sind auf die junge Generation angewie-
sen, auf ihre Ideen und ihre Anregungen. Nur so bleibt un-
ser Land offen für die Zukunft. Kein Bereich der Politik,
ob Arbeit, Wirtschaft oder Soziales, ob Außen- oder In-
nenpolitik, kann es sich leisten, die Interessen der Ju-
gendlichen zu vernachlässigen.
Wir leben in einer Zeit des schnellen gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Wandels und Jugendliche müssen
sich diesem Wandel in ganz besonderer Weise stellen. Sie
brauchen dabei unsere Unterstützung. Es geht darum, ihre
Fähigkeiten und Talente zu fördern. Es geht aber auch da-
rum, Jugendliche aufzufordern, eigenständig und selbst-
bewusst in die Zukunft zu gehen, sich gut zu qualifizieren,
sich einzumischen, mitzureden und sich für die Demo-
kratie zu engagieren.
Diese Bundesregierung will, dass Jugendliche in Frei-
heit und in Sicherheit aufwachsen. Ich denke, dass auch
die vorangegangene Diskussion dazu einen wesentlichen
Beitrag geleistet hat. Jugendliche sollen ihre Persönlich-
keit frei entwickeln können und sie sollen das in einem
Klima der sozialen Anerkennung und des menschlichen
Zusammenhalts tun können. Sie sollen das in dem Gefühl
tun können, sichere materielle Grundlagen und Perspekti-
ven für ihr Leben zu finden.
Mit dem Zehnpunkteprogramm verfolgen wir zwei
wesentliche jugendpolitische Ziele. Zum einen geht es da-
rum, der jungen Generation bessere und gerechte Chan-
cen auf Arbeit und Bildung zu ermöglichen, zum anderen
darum, die Erziehung zu Demokratie, Toleranz und
Weltoffenheit verstärkt zu fördern.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich angesichts
der aktuellen Ereignisse und der vorangegangenen Dis-
kussion einen Gedanken hinzufügen: Die Terroranschläge
vom 11. September haben uns gezeigt, wie verletzlich un-
sere offenen Gesellschaften sind. Insoweit ist es verständ-
lich, dass alle, insbesondere die Jugendlichen das merke
ich im Moment in vielen Diskussionen mit Jugendlichen,
aber auch mit Kindern , beunruhigt sind. Daher sage ich
ihnen an dieser Stelle, dass sie sich in ihren Wünschen und
Lebensplänen nicht verunsichern lassen, sondern an ihnen
festhalten sollen. Darin hat mich die Debatte, die wir ge-
rade geführt haben, bestärkt. Der Bundeskanzler hat heute
Morgen deutlich gemacht, dass die Bundesregierung
ebenso entschlossen wie besonnen handelt. Ich bin froh,
dass es in diesem Hause eine breite Zustimmung zu die-
ser Politik der Bundesregierung gibt. Hier geht es auch
um Sicherheit und Freiheit für Jugendliche.
Klar ist, dass wir unsere demokratischen Werte künftig
entschiedener als bisher verteidigen müssen. Dazu ist das
innenpolitisch Notwendige auf den Weg gebracht worden.
Es gibt in unserer Gesellschaft aber auch Unsicherheiten,
Vorurteile und Klischees im Umgang miteinander. Das le-
bendige Gespräch über unterschiedliche kulturelle, reli-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Präsident Wolfgang Thierse
19302
giöse und ethnische Hintergründe muss nicht nur bei Ju-
gendlichen, bei ihnen aber in besonderer Weise eine
größere Rolle spielen.
Diesen so genannten interkulturellen Dialog wird die
Bundesregierung stärker fördern.
Damit wollen wir erreichen, dass Jugendliche ein Wissen
um Gemeinsamkeiten, aber auch um Unterschiede ent-
wickeln, aus dem der gegenseitige Respekt, das Verständ-
nis und das Interesse aneinander wachsen können. Zugleich
geht es darum, das Wissen um die eigenen Werte voranzu-
bringen. Dieser Prozess braucht Zeit; aber dieser Dialog
muss mehr denn je gefördert werden, um in unserem Land
das freie und friedliche Zusammenleben von Jugendlichen
mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen auf Dauer
zu ermöglichen. Daher habe ich alle Jugendverbände und
Träger der Jugendarbeit, die von uns gefördert werden, auf-
gefordert, im kommenden Jahr in ihrer Arbeit deutliche
Schwerpunkte bei diesem Thema zu setzen. In meinem
Haus werden gerade zusätzliche Projekte vorbereitet.
Wir werden auch den internationalen Jugend-
austausch weiter ausbauen. Im letzten Jahr haben
350 000 junge Menschen am internationalen Jugendaus-
tausch teilgenommen. Wir alle wissen, dass dieser Aus-
tausch gut geeignet ist, das Zusammenleben von Jugend-
lichen zu fördern.
In diesen Jugendaustausch sollen künftig mehr Jugendli-
che aus allen Schulformen einbezogen werden, woran es
heute an der einen oder anderen Stelle noch hapert. Auch
soll dieser Austausch stärker mit der Arbeitswelt Jugend-
licher verknüpft werden. Schließlich sollen mehr junge
Menschen aus Migrantenfamilien an ihm beteiligt wer-
den, als es bisher der Fall ist.
Die Bundesregierung arbeitet daran, alle Jugendlichen
an der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwick-
lung teilhaben zu lassen. Vor drei Jahren haben wir damit
begonnen, unsere neue Jugendpolitik mit konkreten Pro-
grammen umzusetzen. Dabei hat die Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit höchste Priorität. Das, was wir hier in
den letzten Jahren erreicht haben, kann sich sehen lassen:
Wir haben das Bündnis für Arbeit ins Leben gerufen, ei-
nen Ausbildungskonsens gefunden und unter anderem mit
dem Sofortprogramm JUMP die Arbeitslosigkeit von Ju-
gendlichen beträchtlich abgebaut. Die Jugendarbeitslo-
sigkeit ist von 11,8 Prozent im Jahre 1998 auf 8,6 Prozent
Ende Oktober 2001 gesunken.
Jeder Jugendliche, der arbeitslos ist, ist einer zu viel. Aber
an diesen Zahlen wird deutlich, was unsere Programme
bewegt haben.
Auch auf dem Ausbildungsmarkt ist die Trendwende
erreicht: Seit dem vergangenen Jahr übersteigt die Zahl
der unbesetzten Stellen die Zahl der noch nicht vermittel-
ten Bewerberinnen und Bewerber. In diesem Zusammen-
hang rufe ich in Erinnerung, dass wir 1998 eine Bugwelle
von mehreren Hunderttausend Jugendlichen übernom-
men haben, die seit zwei und mehr Jahren auf einen Aus-
bildungsplatz und damit auf eine Chance im Hinblick auf
das Berufsleben gewartet haben. Wir haben diese Bug-
welle weitestgehend abgebaut.
Ich kann mich erinnern, dass bis 1998 in jedem Som-
mer die Schlagzeilen mit der Zahl der Jugendlichen ge-
füllt waren, die noch auf einen Ausbildungsplatz warte-
ten. Dies ist drastisch zurückgegangen.
Ich kann mich nicht erinnern, in diesem Jahr solche Zah-
len gelesen zu haben. Dies ist das Ergebnis der verstärk-
ten Anstrengungen in diesem Bereich.
Natürlich haben wir noch Probleme. Vor allem gibt es
deutliche regionale Unterschiede zwischen Ost und West.
Wir wissen, dass die meisten Ausbildungsplätze im Osten
mit staatlichen Mitteln gefördert werden und hier noch
viel zu tun ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Nein, jetzt nicht. Das
können wir nachher klären.
Meine Damen und Herren, das JUMP-Programm wird
bis Ende 2003 fortgesetzt. Wir werden dafür jährlich rund
2 Milliarden DM aufwenden. 50 Prozent dieser Mittel
darauf sollte sich Ihre Frage sicher beziehen fließen in
die neuen Länder.
Insgesamt konnten seit 1999 aufgrund dieses Programms
rund 333 000 junge Menschen gefördert werden. Wie Sie
wissen, haben wir für die neuen Länder zusätzliche Pro-
gramme wie zum Beispiel das Bund-Länder-Programm
aufgelegt, um Ausbildungsplätze zu schaffen, weil die
Not dort so groß ist.
Diese Politik wird selbstverständlich fortgesetzt.
Mit dem Job-Aqtiv-Gesetz werden die arbeitsmarktpo-
litischen Instrumente weiterentwickelt und reformiert.
Wir wollen, dass allen arbeitslosen Jugendlichen inner-
halb von sechs Monaten nach Eintritt der Arbeitslosigkeit
ein Arbeitsplatz, eine Ausbildung bzw. eine Umschulung
angeboten oder der Erwerb von Berufserfahrung ermög-
licht wird. Das werden wir mithilfe individueller Einglie-
derungsvereinbarungen, durch die entsprechende Ange-
bote bereitgestellt werden, auch schaffen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
19303
Wir haben uns allerdings nicht nur um die Quantitäten
gekümmert. Auch hinsichtlich der Qualität der Berufs-
ausbildung haben wir eine ganze Menge erreicht. Wir ha-
ben Berufsbilder modernisiert und neue Berufsbilder ge-
schaffen, weil das dazu beiträgt, dass Jugendliche bessere
Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben; denken wir an das
Beispiel der Informations- und Telekommunikationsin-
dustrie.
Die entscheidende Grundlage für die Berufschancen
von Jugendlichen sind gute Bildung und Ausbildung. Das
sind auch wichtige Voraussetzungen, um am gesellschaft-
lichen Leben teilzunehmen und um sich in der Informati-
onsgesellschaft des 21. Jahrhunderts orientieren zu kön-
nen. Unsere Gesellschaft hat dabei die Aufgabe, allen
Jugendlichen entsprechend ihrer Begabung Bildung und
Ausbildung zu ermöglichen. Wir haben diese Aufgabe als
Auftrag angenommen. Diese Bundesregierung hat eine
Bildungsoffensive gestartet und wird die Ausgaben im
nächsten Jahr zum vierten Mal in Folge auf dann rund
16,4 Milliarden DM erhöhen. Wir haben hierfür also
jährlich mehr Geld aufgewandt.
Auch in die Modernisierung der Hochschulen wurde er-
heblich mehr Geld investiert. Wir streben gleichen Zu-
gang zu Bildung und bestmögliche Ausbildung für alle an.
Ebenso haben wir bei der Ausbildungsförderung wie-
der mehr Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit
hergestellt. Das war auch dringend nötig. Mehr als
80 000 Schülerinnen und Schüler sowie Studentinnen und
Studenten haben seit diesem Jahr zusätzlich Anspruch auf
BAföG. Im Rahmen der BAföG-Reform haben wir rund
1,3 Milliarden DM zusätzlich mobilisiert, weil eben nicht
der Geldbeutel der Eltern über Zukunftschancen von Kin-
dern entscheiden darf, sondern einzig die Fähigkeiten der
Kinder.
Es geht uns aber auch um die Jugendlichen, die mit den
herkömmlichen Möglichkeiten nicht erreicht werden und
die von diesen Programmen nicht profitieren. Deswegen
werden wir im Rahmen des Regierungsprogramms
Chancen im Wandel im nächsten Jahr ein neues Pro-
gramm in sozial schwachen Regionen starten, in dessen
Rahmen gezielt individuelle Kompetenzen und soziale
Schlüsselqualifikationen der Jugendlichen gefördert wer-
den.
Dabei wird ein abgestimmter Mix von sozial-, jugend-
und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen eingesetzt.
Dafür stehen im nächsten Jahr 25 Millionen DM zur Ver-
fügung.
Wir haben mit dem Programm Entwicklung und
Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten Er-
fahrungen gemacht und wissen, dass es nicht ausreicht,
nur staatliche Angebote zu machen, sondern dass wir in
diesen Regionen die Zusammenarbeit aller brauchen. Wir
fordern die Jugendlichen stärker, wir fordern die Eltern
stärker, wir fordern die Sozialpartner, wir treten an die
Unternehmen heran. Es besteht wirklich eine Zusammen-
arbeit, um ein Klima zu schaffen, in dem Jugendliche
auch ermutigt werden, ein Stück begleitet werden und ei-
nen Einstieg in die Berufswelt finden. Das ist uns wichtig,
weil uns keiner verloren gehen darf, auch nicht diejeni-
gen, die die Schule oder eine Ausbildung abgebrochen ha-
ben. Sie müssen ihre Chance bekommen. Die Erfahrun-
gen mit E & C zeigen, dass dies durchaus möglich ist.
Wenn wir über Chancengleichheit reden, reden wir
aber nicht nur über sozial Benachteiligte; es geht auch um
Chancengleichheit zwischen Jungen und Mädchen. Da
haben wir eine ganze Menge aufzuholen. Wir wissen zum
Beispiel, wie wenig junge Frauen sich in dem zukunfts-
trächtigen Bereich der Berufe der Informations- und
Kommunikationstechnologien wiederfinden. Deswegen
haben wir über die Initiative D 21 eine ganze Menge ins
Rollen gebracht, Betriebe gewonnen, die Ausbildungs-
plätze zur Verfügung stellen, die werben. Wir unterstützen
dies, auch mit finanziellen Mitteln. Ich denke, dass wir
unser Ziel erreichen müssen, in diesen Bereichen bis zum
Jahr 2005 40 Prozent Mädchen zu haben.
Der Umgang mit den neuen Informations- und
Kommunikationstechnologien wird immer mehr zur
Schlüsselqualifikation. Deshalb hat die Bundesregierung
unter dem Motto Anschluss statt Ausschluss das Kon-
zept IT in der Bildung entwickelt. Hier stehen im Zeit-
raum von 2000 bis 2004 rund 1,4 Milliarden DM zur Ver-
fügung. Das ist nicht wenig. Außerdem haben wir es in
Zusammenarbeit mit der Wirtschaft erreicht, dass bis
Ende des Jahres alle Schulen, Berufsschulen und Hoch-
schulen mit Computern und Internetanschlüssen ausge-
stattet werden. Das ist ein Riesenerfolg; hier ist eine Rie-
senlücke geschlossen worden.
Natürlich wollen wir immer noch mehr erreichen; das
ist klar. Deswegen geht es darum, die Einrichtungen der
Jugendarbeit ans Netz zu bringen. Wir werden zusammen
mit Unternehmen mittelfristig die rund 50 000 Jugend-
hilfeeinrichtungen mit Computern und Internet ausstat-
ten. Hier laufen zurzeit konkrete Verhandlungen, damit
wir bald mit der ersten Tranche beginnen können; denn
wir wollen auch Bildungsangebote bereitstellen, die über
eine Bildungsplattform an Jugendliche herangebracht
werden können.
Wir alle kennen die Klagen, die junge Generation sei
politikverdrossen, sie habe eine zunehmend größere Dis-
tanz zur Politik, sie traue der Politik nicht zu, dass ihre
Probleme gelöst würden. Häufig wird auch beklagt, dass
die junge Generation egoistisch, nicht mehr bereit sei,
Verantwortung zu übernehmen oder sich dauerhaft zu en-
gagieren. Meine Erfahrung spricht dagegen. In meinen
Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern und vielen Ju-
gendlichen vor Ort stelle ich immer wieder fest, dass Ju-
gendliche erstens in vielen Bereichen aktiv sind, zweitens
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
19304
eine große Bereitschaft haben mitzumachen, etwas zu tun,
etwas zu verändern, aber häufig auf Barrieren stoßen. Das
heißt, das Angebot an Jugendliche, sich aktiv zu beteili-
gen, entspricht durchaus nicht den Wünschen, die Ju-
gendliche tatsächlich haben.
An diesem Punkt müssen wir anknüpfen. Wir wollen
die Möglichkeiten für Jugendliche, sich in unserer Ge-
sellschaft zu engagieren, ausbauen. Da haben wir schon
einiges erreicht. Denken wir daran, dass wir in den letzten
Jahren eine beträchtliche Steigerung der Zahlen der Plätze
für ein freiwilliges soziales und freiwilliges ökologisches
Jahr zu verzeichnen hatten. Wir werden das Angebot in
diesem Bereich im nächsten Jahr noch einmal um 50 Pro-
zent aufstocken können. Wir werden nicht nur mehr
Plätze zur Verfügung stellen können, sondern das An-
gebot auch auf andere Bereiche ausdehnen, auf den Be-
reich der Kultur und den Bereich des Sportes; dort laufen
schon jetzt Modelle. Darüber hinaus werden wir berufs-
orientierende und berufsqualifizierende Elemente in die
Freiwilligendienste aufnehmen. Außerdem wollen wir
die Freiwilligendienste flexibler gestalten, damit junge
Menschen freiwilliges Engagement besser in ihre per-
sönliche Lebensplanung einpassen können.
Ich habe es schon angesprochen: Wenn über Jugendli-
che geredet wird, dann häufig im Zusammenhang mit Pro-
blemen, Gewalt, Drogenkonsum, Erziehungsnotstand
und Ähnlichem. Ich halte das für falsch. Es ist schlicht-
weg falsch, Kinder und Jugendliche vor allem als Pro-
blemgruppe zu sehen; denn junge Leute sind in der Mehr-
zahl engagiert.
Wenn sie Kontakt mit der Politik und der Verwaltung ha-
ben, dann wollen sie nicht hören, was alles nicht geht,
sondern sie wollen hören, was machbar ist. Daran, denke
ich, mangelt es manches Mal.
Deshalb haben wir vor wenigen Tagen die Bundesini-
tiative Beteiligungsbewegung gestartet. Wir werben
damit für eine stärkere Beteiligung junger Menschen in
der Politik vor Ort, in Schulen, in Verbänden, in Kommu-
nen. Unser Ziel ist es, Politik erlebbar und erfahrbar zu
machen. Wir möchten außerdem, dass die Institutionen
für Jugendliche transparenter und auch zugänglicher wer-
den. Es gibt eine große Bereitschaft von Jugendorganisa-
tionen, Freizeiteinrichtungen, Ausbildungsstätten, Schu-
len und Kommunen, hier mitzumachen, um mehr Be-
teiligungsmöglichkeiten für Jugendliche zu schaffen. Wir
müssen uns einfach stärker für die Ideen und Anregungen
der Jugendlichen öffnen. Ich freue mich jedenfalls da-
rüber, dass es so viel Bereitschaft zur Mitwirkung gibt.
Wir wollen das aber noch ausweiten. Wir werden im
nächsten Jahr eine neue experimentelle Form der Beteili-
gung von Jugendlichen für Jugendliche unbürokratisch
fördern. Wir möchten, dass Jugendliche selbst für sich
Projekte machen. Sie sollen nicht nur darüber entschei-
den, ob sie ein Angebot annehmen, sondern sie sollen Pro-
jekte mit entwickeln können. Dafür werden wir im Rah-
men des Kinder- und Jugendplans Mittel zur Verfügung
stellen; denn ich meine, wir gewinnen die aktive Beteili-
gung der Jugendlichen vor allem, wenn wir ihnen Verant-
wortung geben und ihren Projekten Vertrauen schenken.
Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht. Denken
wir nur an das Aktionsprogramm Jugend für Demokratie
und Toleranz gegen Rechtsextremismus und Gewalt.
In diesem Zusammenhang haben Jugendliche selbststän-
dig Projekte entwickelt. Sie haben Anstöße in ihrer Kom-
mune gegeben und Initiativen gestartet, um Fremden-
feindlichkeit zu bekämpfen, um bürgerschaftliches En-
gagement in diesem Bereich zu unterstützen. Sie haben
die von ihnen entwickelten Projekte selbst umgesetzt.
Sie wissen, in diesem Jahr standen 90 Millionen DM
für diese Arbeit zur Verfügung. Im nächsten Jahr werden
Mittel in gleicher Höhe bereitstehen. Meiner Ansicht nach
stärken wir damit nicht nur das aktive zivile Engagement
der jungen Generation für unsere freiheitliche und weltof-
fene Demokratie, sondern wir erreichen auf diese Weise
auch mehr Überzeugungskraft, mehr Glaubwürdigkeit,
mehr Vertrauen und mehr Begeisterung bei Jugendlichen.
Das ist nicht von oben zu verordnen; das wissen wir. Da
muss man Jugendlichen Möglichkeiten geben, sich selbst
zu erproben und sich Verdienste zu erwerben.
Die Bundesregierung verfolgt eine Politik, in der die
Interessen der Jugendlichen bei der Gestaltung der Zu-
kunft schon heute mit einbezogen werden. Dieses Prinzip
der Nachhaltigkeit verfolgen wir in allen Ressorts. Das
reicht vom Schutz unserer Umwelt bis zur Sanierung der
öffentlichen Haushalte. Ziel ist es, der Jugend ebenso gute
Chancen einzuräumen, wie sie vorangegangene Genera-
tionen als selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen
konnten. Uns ist dabei immer bewusst: Wie wir heute mit
der jungen Generation umgehen, welche Perspektiven wir
ihnen ermöglichen, welche Werte wir ihnen vermitteln,
entscheidet darüber, wie unsere Gesellschaft morgen aus-
sehen wird.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Chancen im
Wandel mit diesem Titel ist das jugendpolitische
Programm der Bundesregierung überschrieben worden.
Aber was sagt er aus? Nichtssagender geht es kaum. Wir
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
19305
warten schon seit Jahren auf die Verwirklichung der an-
gekündigten Gesetze, Frau Ministerin.
In der für unser aller Zukunft so wichtigen Jugendpolitik
ist in den Jahren der rot-grünen Regierungszeit kaum et-
was passiert,
und das, obwohl sich die Lebensbedingungen von Ju-
gendlichen in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich
verändert haben. Der ökonomische Strukturwandel, der
sich vollzogen hat, erzeugt einen enormen Anpassungs-
druck. Der gesellschaftliche Wandel hin zu Eigenverant-
wortlichkeit bedeutet Freiheit, aber auch mehr Risiko und
Unsicherheit.
Die Mehrheit der Jugendlichen von heute ist in ihren
Lebensplänen mobiler und flexibler als frühere Genera-
tionen. Das Problem aber ist: Wer den Anforderungen an
Mobilität und Flexibilität nicht entspricht oder nicht ent-
sprechen kann, ist von Benachteiligungen und sozialer
Ausgrenzung bedroht. Um dieser Gefahr zu begegnen,
haben Sie in den drei Jahren Ihrer Regierungszeit nichts
getan. Im Gegenteil: Der Druck, der auf Familien, Kin-
dern und Jugendlichen lastet, hat sich verstärkt.
Für uns steht fest, dass Politik für die Jugend und mit
der Jugend auf einem Wertefundament basieren muss.
Werte wie Toleranz, Ehrlichkeit, Offenheit, Vertrauen und
Moral müssen erlernt und vorgelebt werden.
Das Selbstvertrauen der jungen Generation in die eigenen
Fähigkeiten und Fertigkeiten muss gefördert werden.
Soziale Kompetenz ist die Grundvoraussetzung für
eine stabile Persönlichkeit. Zur Schaffung positiver Leit-
bilder unter Förderung der Beteiligung junger Menschen
ist eine enge Verzahnung der familien-, jugend- und bil-
dungspolitischen Programme und Initiativen notwendig.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Nutzung
von Internet, Video und Computer nimmt immer mehr zu.
Angesichts dieser Entwicklung ist ein verstärkter Ju-
gendmedienschutz erforderlich und Sie haben wieder
keinen Ton dazu gesagt, Frau Ministerin.
Die Bundesregierung hat hier bisher nichts getan. Gerade
bei diesem wichtigen Thema Medienschutz versagt sie
auf der ganzen Linie.
Kinder und Jugendliche sind heute einer Überflutung
von Darstellungen ausgesetzt, die Gewalt verharmlosen.
Dies hat weit reichende Folgen. Die Reaktion auf die Er-
eignisse des 11. September macht es deutlich. Dass Kin-
der den Terroranschlag als tolle Action bezeichnen, zeigt,
dass sie nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unter-
scheiden können.
Auch der so genannte Eventradikalismus lässt sich auf die
Gewöhnung der Jugend an Gewalt und Brutalität zurück-
führen. Der Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Ge-
waltdarstellungen ist daher eine dringend notwendige
Aufgabe, der die Bundesregierung nicht gerecht wird.
Die Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen
für die junge Generation ist und bleibt eine der größten
Herausforderungen der nächsten Jahre. Damit allen jun-
gen Menschen Chancen auf einen Ausbildungs- und Ar-
beitsplatz eröffnet werden, müssen Wirtschaft, Staat und
Arbeitsverwaltung zusammenarbeiten. Gefordert ist eine
Wirtschaftspolitik, die das Wachstum fördert und nicht
durch einschränkende Gesetze behindert.
Dazu müssen Impulse für neue Technologien und Un-
ternehmen gesetzt und ein wirtschaftsfreundliches Klima
erzeugt werden. Junge Menschen, die den Weg in die Aus-
bildungs- und Arbeitswelt aus eigener Kraft nicht finden,
müssen durch den Staat unterstützt werden. Das Jugend-
sofortprogramm JUMP ist dafür nicht geeignet, wie die
Erfahrungen zeigen. Und wenn Sie nun JUMP in das
SGB III bringen wollen wie Sie in Ihrem Entschlie-
ßungsantrag ankündigen wird es dadurch nicht er-
folgreicher werden.
Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Deutschland, Frau
Ministerin, auf einem besorgniserregend hohen Stand. Im
letzten Jahr waren in Deutschland fast 430 000 junge
Menschen unter 25 Jahren arbeitslos. Mehr als die Hälfte
von ihnen war ohne eine Berufsausbildung. Bei den unter
20-Jährigen waren es sogar 77 Prozent. Entgegen Ihrer
Behauptung, die gestern im Ausschuss gefallen ist, gibt es
in der Bundesrepublik langzeitarbeitslose Jugendliche.
Im Juni letzten Jahres waren es 18 817 junge Menschen
unter 25 Jahren, die ein bis zwei Jahre arbeitslos waren,
und 2 368, die sogar länger als zwei Jahre arbeitslos wa-
ren.
Auch im europäischen Vergleich nimmt Deutschland
bei der Jugendarbeitslosigkeit einen beschämenden Platz
ein. Die Quote der arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jah-
ren war in den Niederlanden um die Hälfte niedriger. In
Portugal, Irland, Österreich und Luxemburg war sie eben-
falls niedriger als in Deutschland. In diesen Ländern sank
auch die Jugendarbeitslosigkeit zwischen 1999 und 2001
kontinuierlich, in Deutschland stieg sie aber stetig an. Im
Durchschnitt lag die Jugendarbeitslosigkeit in Deutsch-
land 1998 bei 9 Prozent, im Jahr 1999 bei 9,2 Prozent und
im letzten Jahr, Frau Ministerin, im Durchschnitt bei
9,5 Prozent. Und da sprechen Sie von Erfolg? Ich sehe
hier nur Misserfolg.
Durch die verschiedenen arbeitsmarktpolitischen In-
strumente wurden 1998 noch rund 472 000 Arbeitslose
unter 25 Jahren gefördert; im letzten Jahr waren es um
50 000 weniger. Auch die Teilnehmerzahlen des Jugend-
sofortprogramms gingen von 87 000 im Jahre 1999 auf
77 000 im letzten Jahr zurück.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Maria Eichhorn
19306
In den neuen Bundesländern waren im letzten Jahr
156 000 Jugendliche arbeitslos; das sind 16,6 Prozent der
unter 25-Jährigen. Diese Zahl bedeutet, dass die Jugend-
arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern im letzten
Jahr um 13 Prozent angestiegen ist. Wo kann man da von
Erfolg sprechen?
Als Folge der Arbeitslosigkeit fühlen sich die Jugend-
lichen sinnlos, ungebraucht. Sie finden nicht ihren Platz
in der Gesellschaft. Sie selber sprechen in Ihrem Pro-
gramm davon, dass ein erfolgreicher Einstieg in die Ar-
beitswelt gegen Perspektivlosigkeit hilft. Warum nur ha-
ben Sie dann so lange tatenlos zugesehen?
Der gewünschte Erfolg Ihres Programms ist nicht einge-
treten. Belügen Sie sich doch nicht selbst!
Bayern hatte im Jahr 2000 nach Baden-Württemberg
mit 4,8 Prozent die niedrigste Jugendarbeitslosenquote.
Grundlage dafür sind die gute bayerische Schulpolitik
und eine Reihe von gezielten Initiativen, die wirksam ge-
worden sind. Die Verankerung solcher erfolgreichen
Strukturen und Ideen fehlt in Ihrem Programm. Das
JUMP-Programm ist, meine Damen und Herren, un-
wirksam.
Mehr als 70 Prozent der Teilnehmer gehören nicht zu
der Gruppe der anvisierten Leistungsschwachen. Zudem
sind die ausländischen Jugendlichen in den Maßnahmen
unterrepräsentiert. Aber auch andere Problemgruppen des
Arbeitsmarktes werden durch dieses Programm nicht er-
reicht: Jugendliche ohne Schulabschluss stellen nur
14,1 Prozent der Teilnehmer. Nur ungefähr jeder Dritte be-
ginnt nach Ende der Maßnahme eine Ausbildung oder eine
Beschäftigung. Der Rest, nämlich zwei Drittel, ist weiter-
hin arbeitslos oder wechselt die Maßnahme. Diese Fakten
stehen in keinem Verhältnis zu den jährlich fast 2 Milliar-
den DM, die Sie aufwenden, und in keinerlei Verhältnis zu
dem, was Sie behaupten, Frau Ministerin.
Wir benötigen mehr differenzierte Ausbildungsberufe,
auch für weniger qualifizierte Jugendliche. Zudem muss
die Maxime Qualifikation schafft Integration stärker
umgesetzt werden. Die in Deutschland lebenden auslän-
dischen Jugendlichen sind immer weniger in Berufen und
Betrieben integriert. Etwa ein Drittel der ausländischen
Jugendlichen verlässt die beruflichen Schulen ohne einen
Abschluss. Das sind doppelt so viele wie bei den deut-
schen Jugendlichen. Mehr als die Hälfte der 18- bis 20-
jährigen Nichtdeutschen hat keinen Berufsabschluss.
Wenn Sie jetzt in Ihrem Gesetz zur Zuwanderung die
Obergrenze für das Zuzugsalter bei 14 Jahren ansetzen,
haben ausländische Jugendliche auch in Zukunft kaum
Chancen zur Integration.
Die Qualifizierung junger ausländischer Arbeitsloser
durch die verschiedenen Förderprogramme der Bundes-
anstalt für Arbeit muss intensiviert werden. Ausbildungs-
projekte, in denen Zweisprachigkeit gezielt genutzt wird,
müssen vermehrt gefördert werden.
Meine Damen und Herren, wir fordern Sie auf, durch
wirksame Reformen in der Arbeitsmarkt-, Bildungs-
und Sozialpolitik endlich die Jugendarbeitslosigkeit in
Deutschland zu senken.
Aufgrund der in den nächsten Jahren noch steigenden
Zahl von Schulabgängern muss eine vernünftige beruf-
liche Perspektive für alle Jugendlichen aufgezeigt wer-
den. Den unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten
muss mehr als bisher Beachtung geschenkt werden. Wir
fordern Sie auf, für eine effizientere Umsetzung Ihres
JUMP-Programms zu sorgen. Dafür ist auch die Integra-
tion in und mit den Betrieben notwendig. Primär sollten
Benachteiligte, zum Beispiel Jugendliche ohne oder mit
schlechtem Schulabschluss, gefördert werden, und dies
zuerst in strukturschwachen Gebieten.
So ist auch bei der Verweigerung zumutbarer Angebote
konsequent vorzugehen: Im Rahmen von flächendecken-
den Kombilöhnen könnte eine Öffnung des Arbeitsmark-
tes für gering qualifizierte Jugendliche erreicht werden.
Mit dieser Maßnahme würden bisher nicht nachgefragte
Arbeitsplätze in Niedriglohnbereichen entstehen und be-
setzt werden können. Für jugendliche Sozialhilfeemp-
fänger sind stärkere Anreize zu schaffen, damit sie eine
Ausbildung annehmen.
So stellen wir uns ein glaubwürdiges jugendpolitisches
Programm vor. Die Jugendlichen in der Bundesrepublik
Deutschland haben einen Anspruch auf konkrete Ange-
bote und auf konkrete Maßnahmen. Wo bleibt die Umset-
zung Ihrer Wahlversprechen von 1998?
Der Schriftsteller Heinrich Seidel sagt:
Was sich in uns in späteren Jahren zu Bäumen aus-
wächst, findet seine Wurzelkeime in frühen Jugend-
eindrücken.
Frau Ministerin, es wird höchste Zeit, dass Sie einen
fruchtbaren Nährboden bereiten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Iris Gleicke.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Wenn wir für die Jugendlichen glaub-
würdige Perspektiven entwickeln wollen, dann müssen
wir dies im Dialog mit den Jugendlichen tun. Wenn wir er-
reichen wollen, dass Jugendliche Vertrauen in die Zukunft
gewinnen, dann müssen wir ihr Vertrauen gewinnen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Maria Eichhorn
19307
Unsere Debatte wird von der deutschen Beteiligung an
militärischen Einsätzen gegen den internationalen Terro-
rismus überschattet. Dabei geht es um die Bewahrung von
Freiheit und Demokratie. Dies der nachwachsenden Ge-
neration deutlich zu machen, und zwar nicht im Sinne
irgendeiner billigen Propaganda, sondern in Form eines
offenen, ernsthaften Gesprächs, halte ich für eine funda-
mentale Aufgabe.
Jugendliche haben ein sehr feines Gespür dafür, ob ihre
berechtigten Fragen mit Sprechblasen beantwortet oder
ernst genommen werden.
Genau wie wir müssen die Jugendlichen in dieser und mit
dieser Gesellschaft leben und zurechtkommen. Was nützt
eine Politik und sei sie auf all ihren Feldern auch noch
so nachhaltig , wenn sie in der nächsten Generation nicht
fortgesetzt wird? Politik muss sich tauglich zeigen, die
Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu lösen.
Wir können und sollten darüber diskutieren, welche
Werte und Botschaften unsere Gesellschaft den Jugend-
lichen vielfach vermittelt. Geht es wirklich nur darum, er-
folgreich zu sein, gut auszusehen und gut zu verdienen?
Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Jugendlichen eine
Chance haben wollen, etwas aus ihrem Leben zu machen?
Jugendliche wollen sich vom Elternhaus lösen und ihr ei-
genes Leben leben. Das ist ein ganz natürlicher Prozess,
den alle Eltern kennen. Ich glaube, die jungen Leute wol-
len in ihrer überwiegenden Mehrheit ihre persönliche Zu-
kunft gestalten. Sie sind davon überzeugt, das auch hin-
zubekommen. Wenn sie diese Chance nicht bekommen,
dann steht die Wertschätzung des Einzelnen in der Ge-
meinschaft auf dem Spiel und das individuelle Selbst-
wertgefühl gerät in Gefahr.
Wir wissen: In der Jugend gibt es oft rasch wechselnde
Orientierungen, Stimmungslagen und Verhaltensweisen.
Jugendliche, die zu der Überzeugung gelangen, keine
Chance zu haben, sind stärker als andere anfällig für
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit oder Antise-
mitismus. Wer unzufrieden ist, wer keine Anerkennung
findet, wer dem Druck nicht standhält und sich als Ver-
sager fühlt, sucht und findet Sündenböcke. Das geht oft
mit Alkohol- und Drogenmissbrauch einher.
Aber nach ihren Lebenszielen befragt, setzen Jugend-
liche heute Sicherheit, Geborgenheit, Recht und Ordnung,
soziale Gerechtigkeit, Verantwortungsbewusstsein und
Freiheit ganz oben auf die Werteskala. Das Heranwachsen
im vereinten Deutschland muss deshalb von einem stär-
keren Gemeinschaftsgefühl für unsere Demokratie ge-
prägt sein.
Schon in der Familie, in Schulen und in Vereinen muss
demokratische Kultur eingeübt, gepflegt und ausgebaut
werden. Die Beteiligung der jungen Generation am poli-
tischen Meinungsbildungsprozess ist deshalb ein zentra-
les Element der Stabilität und Weiterentwicklung einer
Demokratie, die lebendig sein will und lebendig sein
muss, wenn sie nicht in Formeln erstarren soll.
Die Beteiligung von Jugendlichen am politischen und
gesellschaftlichen Leben muss deshalb noch viel stärker
im öffentlichen Bewusstsein verankert werden. Wichtig
erscheinen mir vor allem solche Ansätze, die Dialog und
Beteiligung in den Mittelpunkt stellen und nicht auf ein-
zelne Felder der Politik reduziert bleiben. Jugendpolitik,
die sich selbst ernst nimmt, Jugendpolitik in unserem Ver-
ständnis ist eine Querschnittsaufgabe und damit eine
ressortübergreifende Aufgabe.
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große An-
frage dokumentiert die Verankerung der Jugendpolitik in
den verschiedenen Politikfeldern.
Lassen Sie mich einige der wichtigsten dieser Poli-
tikfelder beispielhaft nennen. Wir haben das BAföG ver-
bessert, weil wir Gerechtigkeit und Chancengleichheit wol-
len. Diese Chancengleichheit, für die Sozialdemokraten
immer gekämpft haben, nahm im Zuge der geistig-mora-
lischen Wende des Herrn Dr. Kohl schweren Schaden.
Den Konservativen ging es damals darum, die Inte-
ressen selbsternannter Eliten zu bedienen. Die Bilanz die-
ser nach 1990 auch dem Osten der Republik aufgestülp-
ten Ideologie war von deprimierender Trostlosigkeit: eine
Jugendarbeitslosigkeit, Frau Kollegin Eichhorn, in Re-
kordhöhe, verbunden mit einem für die Volkswirtschaft
katastrophalen Fachkräftemangel.
Dem Land wurde damit unermesslicher Schaden zuge-
fügt. Wir brauchen Ausbildungsplätze und Arbeit für alle
Jugendlichen. Die Jugendarbeitslosigkeit muss deshalb
weiter bekämpft werden, gerade in dieser schwierigen
wirtschaftlichen Situation.
Mit Recht sagen junge Leute: Was nützt uns die Freiheit,
wenn wir keine Arbeit und keine Perspektive haben? Des-
halb wird das JUMP-Programm, das Sie von der Union
immer abschaffen wollten, weitergeführt. Nach dem Rede-
beitrag von Frau Eichhorn kann man immer noch nicht da-
von ausgehen, dass sich Ihre Meinung geändert hat. Wir
werden uns von Ihnen aber nicht beirren lassen.
Ihr Realitätsverlust ist wirklich erstaunlich. Als wir die
Regierung übernommen haben, lag die Jugendarbeitslo-
sigkeit bei über 12 Prozent. Jetzt liegt sie bei 8,6 Prozent.
Ich finde es zynisch und ärgere mich darüber, dass Sie
dies nicht als Erfolg für jeden einzelnen jungen Menschen
in diesem Lande ansehen.
Ihre Ignoranz macht mich wütend!
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Iris Gleicke
19308
Die Jugendarbeitslosigkeit ist bei uns die niedrigste in
Europa. Das war unter Ihrer Regierung nicht der Fall.
Herr Haupt, wir werden Ihrem Redebeitrag gespannt
folgen.
Die technologische Entwicklung der Medien und die
neuen Kommunikationstechnologien mit ihrem wachsen-
den Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitskräften müssen
weiter in die Ausbildungsgänge einbezogen werden. Des-
halb haben wir damit begonnen, neue Berufsbilder und
Berufsmodule zur besseren Anerkennung der Ausbildung
zu schaffen und die Ausbildungsverordnungen zu ent-
rümpeln. Wir werden dafür sorgen, dass Mädchen und
junge Frauen an dieser Entwicklung ordentlich beteiligt
werden.
Wir wollen die Chancen nutzen, die in den modernen
Kommunikationsformen liegen. Deshalb haben wir die
Schulen ans Netz gebracht. Auch die Jugendfreizeit-
einrichtungen werden wir ans Netz bringen. Es geht um
die gerechte Teilhabe. Es geht darum, Benachteiligungen
zu verhindern und Missbrauch im Umgang zu vermeiden.
Die Jugendlichen erwarten von der Politik in erster Linie
die verlässliche Ausgestaltung einer Chancengesellschaft
mit realistischen Optionen und praktischen Lösungsange-
boten für ihre Lebensplanung.
Zur Lebensplanung gehört mit neuem Stellenwert auch
die Familie. Es geht für junge Frauen und Männer um die
tatsächliche Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Eine
aktive Gleichstellungspolitik muss und wird ohne jede
ideologische Begleitmusik mehr Gerechtigkeit schaffen.
Politik, die die gerechte Teilhabe aller zum Ziel hat,
steht vor einer doppelten Aufgabe: Einerseits muss sie
sicherstellen, dass jungen Menschen die Kompetenzen
vermittelt werden, die über gesellschaftlichen und wirt-
schaftlichen Fortschritt von morgen entscheiden. Ande-
rerseits muss sie angesichts steigender und neuer
Qualifikationsanforderungen die soziale Ausgrenzung
von Jugendlichen verhindern. Entscheidungen über die
Köpfe der Betroffenen hinweg darf es dabei nicht geben.
Es gilt, einen konkreten und lebensnahen Dialog mit den
Jugendlichen zu führen. Es geht um einen Dialog, in dem
die Gesprächspartner einander ernst nehmen. Wir wollen
diesen Dialog.
Wir vertrauen dabei darauf, dass die heutige junge Ge-
neration nicht weniger solidarisch ist als die jungen Ge-
nerationen vor ihr und dass sie ebenso viele Ideale hat.
Diese Solidarität, diese Sehnsucht nach Gerechtigkeit
findet man überall. Man muss sie nur sehen wollen. Man
findet sie in unserem reichen Land bei engagierten Ju-
gendlichen an den Schulen und den Universitäten sowie
bei erfolgreichen Jungunternehmern. Man findet sie aber
auch bei den Ärmsten der Armen, bei den gescheiterten
Existenzen und bei den so genannten Verlierern unserer
Gesellschaft, die oft an Jahren noch so jung und deren Ge-
sichter schon so entsetzlich alt sind.
Mich bedrückt es sehr, wenn ich höre, wie junge Leute
von Losern oder von Asis reden. Ich glaube, dahinter
verbergen sich zumeist eigene Ängste und die hilflose
Einsicht, dass es noch immer zu wenig Gerechtigkeit gibt.
Wir können den jungen Leuten nur dann etwas von dieser
Angst und Hilflosigkeit nehmen, wenn sie spüren, dass
wir es mit ihnen ernst meinen und dass wir sie brauchen,
wenn wir die Zukunft erfolgreich meistern wollen.
Die Politik der sozialen Kälte in diesem Land haben
wir überwunden. Jetzt arbeiten wir daran, gemeinsam mit
der jungen Generation ein Klima der sozialen Wärme zu
schaffen.
Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Klaus Haupt für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Das jugendpolitische Programm
der Bundesministerin Bergmann mit dem Titel Chancen
im Wandel ist erhellend, zukunftsweisend und trotzdem
nichts sagend. Jugendpolitik soll als Querschnittspolitik
verankert werden. Dieser außerordentlich neuartig anmu-
tende Ansatz findet das wird Sie überraschen unsere
heftigste Zustimmung.
Aktivierende Jugendpolitik soll ein Leitbild sein. Die
Stärken der Jugendlichen sollen gefördert werden. Wun-
derbar! Wir wollen, so heißt es, die Jugendlichen als
Partner gewinnen und setzen ... auf eine breite Allianz
mit der Jugend. Frau Bergmann, das findet unsere nach-
haltige Unterstützung.
Das jugendpolitische Programm Chancen im Wandel
liest sich wie ein Kompendium aller wohlmeinenden Ab-
sichtserklärungen, die in Sachen Jugendpolitik in diesem
Hohen Hause unbestritten sind.
Aber einen jugendpolitischen Quantensprung kann ich je-
denfalls in diesem Programm nicht erkennen.
Ausbildung und Qualifizierung der Jugend entschei-
den über die Zukunft unserer Gesellschaft. Ja, der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Iris Gleicke
19309
weltweite Wettbewerb beginnt im Klassenzimmer. Doch
Ihre bildungspolitischen Aktivitäten sind recht beschei-
den geblieben. Wir haben einen zukunftsweisenden Ent-
wurf zum Bundesausbildungsförderungsgesetz vorgelegt.
Sie haben ihn abgelehnt. Wir haben verschiedene Anträge
zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Uni-
versitäten vorgelegt. Sie haben sie abgelehnt. Deutsch-
lands Studierende treten im Durchschnittsalter von
28,5 Jahren in das Berufsleben ein. Das ist im Vergleich
zu unseren europäischen Partnern fünf Jahre zu spät.
Das hat Gründe: Die mehr als überfällige Hochschul-
reform in Deutschland kommt ebenso wenig voran wie
die Abschaffung der Wehrpflicht und damit einherge-
hend des Zivildienstes. Auch die Abschaffung des
13. Schuljahres ist schon lange im Gespräch. Zur
Verkürzung der überlangen Ausbildungszeiten in
Deutschland wäre sie dringend wünschenswert.
Die junge Generation zahlt den Preis solcher Reformträg-
heit in Deutschland.
Wir haben auch Anträge zur Weiterbildung, zum
Berufsausbildungssystem, zur Förderung des naturwis-
senschaftlichen Unterrichts an deutschen Schulen und
zum Wirtschaftsunterricht vorgelegt. Einige sind noch in
der parlamentarischen Beratung. Dürfen wir angesichts
der jetzigen Debatte darauf hoffen, dass Sie diesen Anträ-
gen zustimmen werden, obwohl sie von der FDP sind?
Das wäre eine Chance zum Wandel von Absichtser-
klärungen hin zu wirklich erreichten Zielen. Es sollte uns
allen bewusst sein, dass Bildung d i e soziale Frage des
21. Jahrhunderts ist.
Es ist schon mehrfach von meinen Vorrednern darauf
hingewiesen worden: Jugendarbeitslosigkeit ist das
schwerwiegendste jugendpolitische Problem in unserem
Lande. Die FDP begrüßt es daher, dass die Bun-
desregierung auf diesem Feld noch gesteigerten Hand-
lungsbedarf sieht. Frau Gleicke, ich komme aus einer Re-
gion mit einer Arbeitslosenrate von 24 Prozent. Die
Notwendigkeit staatlicher Feuerwehrprogramme ist für
mich unbestritten. Aber: Immer neue Staatsprogramme
helfen nicht, der Jugendarbeitslosigkeit auf Dauer Herr zu
werden.
Das zeigt die Entwicklung der Arbeitsmarktdaten sehr
deutlich. Trotz Rückenwind durch die demographische
Entwicklung bekanntlich scheiden pro Jahr etwa
250 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr aus
dem Arbeitsleben aus, als Personen auf den Arbeitsmarkt
drängen verschärft sich die Arbeitsmarktlage in
Deutschland. Saisonbereinigt steigt die Zahl der Arbeits-
losen und damit auch der betroffenen Jugendlichen konti-
nuierlich an. Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen stieg
in diesem Jahr im Westen um 1,5 Prozent, im Osten sogar
um 2,5 Prozentpunkte.
Ein nachhaltiger Abbau der Jugendarbeitslosigkeit ist
nur dann zu erreichen, wenn die Rahmenbedingungen in
Deutschland wieder stimmen.
Wir brauchen endlich ein radikal vereinfachtes Steuersys-
tem, einen umfassenden Bürokratieabbau und eine mutige
Bildungsreform.
Ich komme noch darauf.
Viele Gesetze, die die Bundesregierung in den letzten
drei Jahren fabriziert hat, stehen zu diesem Erfordernis
leider in krassem Widerspruch. Ich muss in diesem Zu-
sammenhang an die unsinnige Neuregelung der 630-DM-
Arbeitsverhältnisse erinnern, die auch und vor allem Ju-
gendliche betrifft.
Weiter erinnere ich an die Neuregelung des Kündigungs-
schutzes, die nicht vor Kündigungen, aber wirksam vor
Neueinstellungen schützt. Ich erinnere an Ihren Versuch,
die so genannte Scheinselbstständigkeit zu bekämpfen,
das Gesetz bezüglich der Pflicht zur Teilzeitbeschäfti-
gung, das völlig an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes
vorbeigeht,
oder die Verschärfung des Betriebsverfassungsgesetzes,
die unsere mittelständischen Unternehmen in einem Re-
gelungswust ersticken lässt. Hinzu kommen Wirtschafts-
blocker wie Ökosteuer oder die angekündigte Erhöhung
der Tabak- und der Versicherungsteuer.
Zudem hat die Bundesregierung eingestanden, dass sie ihr
Ziel, die Lohnnebenkosten unter 40 Prozent zu drücken,
nicht erreichen wird.
Wenn bisher drei Viertel aller Ausbildungsplätze in
Handwerk und Mittelstand entstanden sind, dann ist es
doch richtig zu sagen: Die beste Ausbildungsplatzpolitik
ist eine gute Mittelstandspolitik.
Der Mittelstand braucht Entlastung und Luft. Nur so kann
er Motor für mehr Beschäftigung und Ausbildung sein.
Weder akute Staatsprogramme noch Regulierungswut
werden das Problem der Jugendarbeitslosigkeit lösen
können.
Das Problem verschärft sich, wenn man die Situation
in den neuen Ländern betrachtet: Hier hat die Jugend
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Klaus Haupt
19310
eine so schlechte Perspektive, dass die Mobileren und
Qualifizierteren abwandern. In meinem schönen Sachsen
beispielsweise wird die Einwohnerzahl von heute 4,4 Mil-
lionen bis zum Jahr 2030 auf 3,6 Millionen zurückgehen.
Pro Jahr machen sich 6 000 Jungen und Mädchen im
Lehrlingsalter auf, um ihrer Heimat den Rücken zu keh-
ren. Wie sollen Länder in Zukunft existieren, denen die
Hoffnungsträger den Rücken kehren, weil sie keine Chan-
cen haben? Die Perspektivlosigkeit der Jugend, die zu
geringen Chancen sind doch auch die Hauptursachen für
ein Demokratiedefizit, das wir bei einem Teil der Ju-
gendlichen feststellen. Die Lösung des Problems der Per-
spektivlosigkeit ist die zentrale Aufgabe. Demokratie
muss sich auf diesem Feld als handlungsfähig erweisen.
Wenn junge Menschen keine Perspektive haben, sich
in den Städten und Gemeinden, in denen sie zu Hause
sind, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und beruflich
eine Zukunft zu haben, wird es schwer, die daraus folgen-
den Frustrationen aufzufangen und die viel beschworene
Bürgergesellschaft zu stärken. Wir müssen der Jugend
Chancen bieten, Talente und Fähigkeiten zu entfalten so-
wie eine Aufgabe zu haben. Dazu gehören die Stärkung
der ehrenamtlichen Tätigkeit in unserer Gesellschaft, ein
attraktives und modernes Angebot der Vereine für Sport
oder Kultur und gesellschaftliches Engagement. Hier ist
nicht nur der Staat, sondern unsere Gesellschaft als
Ganzes und auch jeder Einzelne gefordert.
Darüber hinaus muss Demokratie natürlich erlebbar,
erfahrbar sein. Wir müssen schon den ganz jungen Men-
schen die Möglichkeit geben, mitzureden, mitzugestalten,
mitzuentscheiden. Die UN-Kinderrechtskonvention sieht
ein solches Recht zur Partizipation ausdrücklich vor.
Aber die Kinder in unserem Land erfahren zu wenig über
ihre Rechte. Die in der Konvention festgelegten Rechte
müssen sich endlich auch in den Lehrplänen unserer
Schulen und in den Ausbildungsplänen für Lehrer wie-
derfinden. Nur wer seine Rechte kennt, kann sie nutzen.
Nur dann wird die freiheitlich-demokratische Grundord-
nung für die jungen Menschen erfahrbar.
Auch internationale Verständigung und friedliches
Zusammenleben müssen für Jugendliche erfahrbar sein,
damit die Ängste vor Globalisierung, vor Migration und
vor mulitkulturellen Begegnungen abgebaut werden kön-
nen. Deshalb ist es richtig, dass es verstärkt Programme
geben muss, die solche Erfahrungen möglich machen. Es
muss in Projekte der Weltoffenheit der Jugendlichen in-
vestiert werden mit Schwerpunkt in den neuen Bundes-
ländern. Dazu gehört die verstärkte Förderung des inter-
nationalen Jugendaustauschs für alle Schulformen.
Die FDP fordert mit Nachdruck auch die Errichtung
eines deutsch-russischen Jugendwerks.
Gerade mit der Jugend Russlands muss ein Austausch zu-
stande kommen, damit auch auf dieser Ebene das größte
Land Europas in die europäische Völkergemeinschaft,
wie es sich Präsident Putin in seiner denkwürdigen Rede
an diesem Platz wünschte, besser eingebunden wird.
Schließlich muss für die junge Generation insgesamt
erfahrbar werden, dass es eine Gerechtigkeit zwischen
den Generationen gibt. Den heutigen jungen Be-
rufstätigen muten wir beispielsweise zu, gleichzeitig für
die Rente der gegenwärtigen Ruheständler aufzukommen
und für die eigene Rente privat vorzusorgen. Dieser
Druck wird sich verstärken. Die demographischen Fakten
sprechen da eine eindeutige Sprache.
Junge Menschen wollen heute durchaus Familie grün-
den, aber die junge Generation möchte Familie und Beruf
verbinden können.
Beide Bereiche sind für drei Viertel der Jugendlichen
gleichermaßen wichtig. Das belegt die 13. Shell-Jugend-
studie sehr deutlich. Doch gerade Familien mit Kindern
sind unverhältnismäßigen Belastungen ausgesetzt. Kin-
der dürfen in unserer Gesellschaft nicht zum Wohlstands-
risiko werden. Die gesellschaftlichen Gegebenheiten
müssen es der jungen Generation ermöglichen, ihre
individuellen Lebensentwürfe zu verwirklichen, ohne auf
Kinder zu verzichten. Kindertagesbetreuung in ihren un-
terschiedlichen Formen schafft dafür eine wichtige Vo-
raussetzung. Ein umfassendes und flexibles Betreuungs-
angebot ist Voraussetzung für eine kinderfreundlichere
Gesellschaft. Dazu gehört aber nicht nur der Rechtsan-
spruch auf einen Kindergartenplatz; vielmehr müssen
Betreuungskosten auch steuerlich absetzbar sein. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich bin sogar der Meinung,
dass wir gemeinsam darüber nachdenken sollten, wie
dafür gesorgt werden kann, dass ein Kinderbetreuungs-
platz in Deutschland ebenso kostenfrei ist wie der Schul-
besuch.
Meine Damen und Herren, Chancen im Wandel wird
die Jugend in Deutschland nur haben, wenn unsere Ge-
sellschaft endlich die Chance zum Wandel ergreift und der
Jugend wirklich neue Perspektiven eröffnet. Mit schönen
Ankündigungen und einer Sammlung guter Absichten
und Erklärungen ist es wirklich nicht getan.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Christian Simmert.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Streckenweise hatte man das Gefühl, Sie be-
fänden sich eher in einer wirtschaftspolitischen als in ei-
ner jugendpolitischen Debatte, Herr Kollege.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Klaus Haupt
19311
Ganz interessant wäre es, Ihre Vorschläge zu lesen,
wenn Sie sie zu Papier gebracht hätten. Man muss aber
feststellen, dass heute weder die CDU/CSU noch die FDP
einen eigenständigen Antrag vorgelegt hat. Ein Ände-
rungsantrag zu unserem Antrag liegt vor, aber ansonsten
sehen wir von der Opposition herzlich wenig.
Die Regierungskoalition hat gehandelt und das finden
wir gut.
Es wird Sie nicht überraschen, meine Damen und Herren,
dass Bündnis 90/Die Grünen das Aktionsprogramm der
Bundesregierung als richtigen Impuls begrüßen. Beson-
ders in den Bereichen der Ausbildung trotz der Kritik
der Opposition und der Förderung des Engagements Ju-
gendlicher liegen die gemeinsamen Erfolge, die wir in
diesem Aktionsprogramm gebündelt haben.
Das wird man draußen sehr deutlich wahrnehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Simmert,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Haupt?
Ich möchte mich erst einmal ein Stück weit warm laufen.
Vielleicht kann ich später ein paar Fragen beantworten.
Frau Lenke, ganz ruhig.
Mit JUMP, dem Aktionsprogramm zur Senkung der
Jugenderwerbslosigkeit, sind seit 1999 über 300 000 Ju-
gendliche gefördert worden. Junge Frauen werden ent-
sprechend ihrem Anteil an der Erwerbslosigkeit gefördert.
50 Prozent der Mittel werden inzwischen für Jugendliche
in den neuen Bundesländern eingesetzt. Das Programm
hat also Erfolg. Bündnis 90/Die Grünen sind deshalb er-
folgreich dafür eingetreten, dass bewährte Instrumente in
die Regelförderung, die das Job-Aqtiv-Gesetz vorsieht,
überführt werden.
Sicherlich könnte die Entwicklung der Jugenderwerbs-
losigkeit noch positiver sein. Auch ich bin mir bewusst,
dass es über JUMP hinaus wesentlich mehr Anstrengun-
gen bedarf. Doch das zu tun liegt bekanntermaßen nicht
ausschließlich in der Hand der Politik, sondern vor allem
in der Hand der Arbeitgeberinnen und der Arbeitgeber.
Auch das muss man sehen.
Wir können nicht damit zufrieden sein, dass zurzeit nur
57 Prozent aller Betriebe ausbildungsberechtigt sind. Das
Recht auf Ausbildung gilt für alle; denn alle jungen
Frauen und Männer brauchen gleiche Chancen. Weil das
so ist, ist aus grüner Sicht gerade die berufliche Benach-
teiligtenförderung zu intensivieren. Die stärkere Zusam-
menarbeit von Schulen und Ausbildungsträgern ist
hierfür unabdingbar; deshalb begrüßen wir das Programm
Berufliche Qualifizierung für Zielgruppen mit besonde-
rem Förderbedarf. Wir legen allerdings ein besonderes
Augenmerk auf die Tatsache, alle Jugendlichen in die
Lage zu versetzen, moderne Informations- und Kommu-
nikationstechnologien zu nutzen.
Wir sehen die Gefahr einer digitalen Spaltung in Deutsch-
land. Für uns ist es unabdingbar, diese zu verhindern.
Meine Kollegin Grietje Bettin wird darauf später noch ge-
nauer eingehen.
Ziel unserer Politik ist es heute, Rahmenbedingungen
zu schaffen, die dazu beitragen, dass junge Menschen für
sich eine Zukunft sehen. Die Zugangsgerechtigkeit bei
der Ausbildung herzustellen ist dafür die Grundlage.
Diese Anstrengung allein genügt aber nicht. Für
Bündnis 90/Die Grünen stehen die Stärkung der Zivil-
gesellschaft, der Kampf gegen Rechtsextremismus und
für Toleranz sowie die Erweiterung des internationalen
Erfahrungsschatzes von jungen Menschen ebenfalls auf
der Agenda.
Die meisten Jugendlichen suchen gerade heute Mög-
lichkeiten, sich in der Gesellschaft zu engagieren. Sie zei-
gen große Neugier auf Europa und auf außereuropäische
Länder. Für die Politik gilt es, diese Neugier aufzugreifen
und zu fördern. Das werden die Koalitionsfraktionen tun.
Ich möchte, dass meine Tochter Pia in einer interkultu-
rellen, in einer offenen Welt groß wird. Ich möchte, dass
sie die Chancen dazu erhält, und, wie alle anderen Kinder
in dieser Gesellschaft, eine Struktur vorfindet, die dies er-
möglicht.
Mit der Novellierung des Gesetzes zur Förderung eines
freiwilligen sozialen Jahres und des Gesetzes zur Förde-
rung eines freiwilligen ökologischen Jahres werden wir
neue Möglichkeiten für dieses Engagement schaffen.
Junge Menschen werden rechtlich und sozial besser ab-
gesichert. Das freiwillige Jahr wird künftig auch in neuen
Bereichen, wie im Sport, in der Kultur und im Denkmal-
schutz, sowohl im In- als auch im Ausland ermöglicht.
Gerade der Ausbau der Freiwilligendienste bietet aus
grüner Sicht verstärkt die Möglichkeit für Jugendliche,
ihre soziale und interkulturelle Kompetenz zu steigern.
Aber nicht nur die Freiwilligendienste, beispielsweise die
ausgezeichnete Arbeit von Aktion Sühnezeichen, sondern
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Christian Simmert
19312
auch der Jugendaustausch Herr Haupt, in diesem
Punkt haben Sie Recht sind ein wichtiges Instrument.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass von der rot-grünen Bun-
desregierung die Förderung auch mit Blick auf Ost-
europa ausgebaut wird. Das kann in der Tat nicht das
Ende der Fahnenstange sein. Da gebe ich Ihnen vollkom-
men Recht.
Die Möglichkeiten für Jugendliche, ihre eigene Umge-
bung mitzugestalten, müssen aus unserer Sicht ausgebaut
werden, wenn Demokratie für junge Menschen erfahrbar
werden soll. Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Schule,
in der Berufsausbildung, im Studium und im Alltag sind
notwendig, damit Jugendliche ihren Platz in der Gesell-
schaft selbstbewusst einnehmen können. Nur wenn Betei-
ligung an Entscheidungsprozessen erlebt wird, findet
auch wirklich eine Auseinandersetzung mit den Gegeben-
heiten statt. Deshalb ist meine Fraktion der Auffassung,
dass wir über das Aktionsprogramm hinaus weitere
Schritte unternehmen müssen. Die ASten brauchen zum
Beispiel das allgemeinpolitische Mandat, da das den Ein-
fluss der Studierenden stärkt.
Junge Menschen in außerbetrieblichen Ausbildungsstät-
ten benötigen mehr Mitbestimmungsrechte. Letztere wird
die Koalition im Berufsbildungsgesetz verankern.
Meine Damen und Herren, Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz sind nicht aus-
schließlich Jugendprobleme. Dennoch müssen wir auch
in der Jugendpolitik Gewalt von rechts deutlich entge-
gentreten. Bündnis 90/Die Grünen setzt sich deshalb für
eine starke Zivilgesellschaft ein. Mit den Programmen
Civitas und Xenos übernimmt die Bundesregierung
Verantwortung im Opferschutz und für die Förderung von
Initiativen und Projekten, die sich für eine demokratische
Gesellschaft engagieren. Wir freuen uns, tragen diese Pro-
gramme doch, zumindest ein bisschen, eine grüne Hand-
schrift.
Aber nicht nur der Bund, auch die Länder und Kommu-
nen stehen in der Verantwortung, lokale Partnerschaften
und Netzwerke gegen Rechtsextremismus und zur Stär-
kung der Zivilgesellschaft auszubauen. Bündnis 90/Die
Grünen sehen den präventiven Ansatz des Kinder- und Ju-
gendhilfegesetzes als zentral für die offene Jugend- und
Jugendverbandsarbeit an. Wir begrüßen, dass die Bun-
desregierung ihre Anstrengungen in diesem Bereich fort-
setzt.
Wir fordern die Bundesregierung jedoch auch auf, be-
stehende Leistungen und Hilfen für Kinder und Jugend-
liche mit Migrationshintergrund zu öffnen, also den ein-
geschlagenen Weg noch ein Stück weiterzugehen.
Interkulturelle Kompetenzen der politisch und adminis-
trativ Handelnden sind hier mindestens genauso gefragt
wie Angebote für jugendliche Migrantinnen und Migran-
ten. Die ungleichen Zukunftsperspektiven von Jugendli-
chen mit und ohne Migrationshintergrund, die immer
noch existieren, sind für uns nicht akzeptabel.
Wir sollten alle gemeinsam dafür kämpfen und uns ein-
setzen, dass Jugendliche insgesamt bessere Chancen be-
kommen als zurzeit. Wir sind alle gemeinsam aufgerufen,
das umzusetzen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Klaus
Haupt, FDP.
Lieber Kollege Simmert, Sie ha-
ben mich zu Beginn zweimal persönlich angesprochen,
deswegen nehme ich mir die Freiheit heraus, zu reagieren.
Erstens. Sie warfen mir vor, der wirtschaftspolitische
Sprecher zu sein. Ich lege Wert darauf, dass ich noch der
jugendpolitische Sprecher meiner Fraktion bin. Ich habe
mich hier bloß befleißigt, Ihrem Anspruch, Jugendpolitik
als Querschnittsaufgabe zu verstehen, gerecht zu werden
und umfassend über den Tellerrand hinauszuschauen.
Dass die FDP das auch zu ihrem Grundsatz gemacht hat,
erkennen Sie daran, dass der wirtschaftspolitische Spre-
cher hier selbstverständlich zugegen ist, weil die jugend-
politische Debatte so wichtig ist.
Zweite Bemerkung: Ich bin etwas enttäuscht, dass Sie
meinen Sachverstand als Kollegen im Ausschuss eher ge-
ring einschätzen. Sie haben mir ja fast unterstellt, dass ich
hier am Rednerpult bloß dahergeschwätzt hätte.
Selbstverständlich, Sie sagten, nichts liege vor. Zur Eh-
renrettung muss ich sagen, dass zwei Papiere vorliegen,
eines von den Koalitionsfraktionen SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen und ein fast so dickes von einer im Mo-
ment noch etwas kleineren Partei, das in der Fraktion
durchzubringen ich mir erlaubt habe. Ich denke einmal,
dass Sie mit dem Ausdruck des Bedauerns die Aussage
zurücknehmen, dass es keine Papiere seitens der FDP
bzw. des Kollegen Haupt gebe.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung, Herr
Kollege Simmert, bitte.
Eine ganz kurze Erwiderung: Von meiner Partei sind nicht
nur Mitglieder der Fraktion anwesend, die sich im wirt-
schaftlichen Bereich auskennen, sondern auch unsere
Staatssekretärin ist bei der Debatte zugegen. Von daher
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Christian Simmert
19313
möchte ich noch einmal deutlich machen, dass natürlich
auch wir über den Tellerrand hinausschauen. Es sind auch
noch Vertreter weiterer Ministerien anwesend, die diese
Debatte verfolgen.
Das ist auch nichts Außergewöhnliches, sondern eher eine
Selbstverständlichkeit.
In der Tat haben Sie hierzu ein Papier vorgelegt. Aller-
dings hätten Sie ruhig einmal darauf eingehen können. Ich
wäre sehr daran interessiert, mit Ihnen eine wirkliche Aus-
einandersetzung über die Positionen zu führen und nicht
bloß immer wieder Themen wie Ökosteuer und 630-DM-
Jobs als Kernaussagen in einer jugendpolitischen Debatte
zu hören. Das ist mir einfach zu wenig. Ich glaube, das
geht den Kolleginnen und Kollegen ähnlich.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin in
der Debatte ist die Kollegin Angela Marquardt für die
PDS-Fraktion.
Angela Marquardt (von der PDS mit Beifall
begrüßt): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Da mich die Kurzintervention Ihres Kollegen Schulz
sehr wütend gemacht hat, will ich es mir nicht sparen, am
Anfang meiner Rede darauf hinzuweisen, dass wir hier
ein jugendpolitisches Programm diskutieren, das im Kern
aussagt ich zitiere :
Zum Kernbestand unserer Demokratie gehört die
Fähigkeit, Konflikte in einer Atmosphäre gegenseiti-
ger Toleranz und Akzeptanz auszuhandeln und fried-
lich zu lösen.
Heute früh hat dieselbe Bundesregierung, auch Ihr
Kollege Werner Schulz, den Kriegseinsatz der Bundes-
wehr gerechtfertigt und damit das Mittel der Gewalt zur
Konfliktlösung sozusagen legitimiert. Ich weiß nicht, wer
mehr Zynismus und Heuchelei an den Tag legt: diejeni-
gen, die zumindest Fragen stellen, oder diejenigen, die
Kritik an dem Vorgehen zurückweisen.
Auch das sind Werte, die man Jugendlichen vorleben
sollte.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass in Ihrem Pro-
gramm und in Ihrem Entschließungsantrag viele richtige
und wichtige Punkte stehen. Bildung und Ausbildung sind
die Voraussetzung für einen chancengleichen Start ins Be-
rufsleben; das ist hier schon angesprochen worden. Sie
sind die Basis für die Entwicklung unserer Gesellschaft.
Niemand, weder Staat noch Wirtschaft, darf sich der Ver-
antwortung entziehen, die Grundlage dafür zu legen, dass
Bürgerinnen und Bürger nicht immer mehr für die Schul-
ausbildung und das Studium ihrer Kinder zahlen müssen.
Das bedeutet für mich auch, dass Schülerinnen und
Schüler an weiterführenden allgemeinbildenden Schulen
und an Berufsfachschulen endlich Zugang zum Schüler-
BAföG bekommen müssen.
Unter Ihren Qualifizierungsprogrammen loben Sie vor
allem immer das JUMP-Programm. Ich will nicht ver-
hehlen, dass es jungen Leuten Chancen geboten hat. Aber
der Erfolg des Programmes kann nicht nur an der Zahl der
geförderten Jugendlichen gemessen werden. Es muss
auch darum gehen, wie viele Jugendliche tatsächlich den
Sprung in das Berufsleben geschafft haben.
Wenn man diesen Maßstab zugrunde legt, dann muss man
feststellen, dass die Bilanz relativ mager aussieht. Die
Förderung besteht nämlich auch aus Trainingsprogram-
men und Maßnahmen, die die Motivation und die Ar-
beitsbereitschaft fördern sollen usw. Hier werden also
nicht ausschließlich Ausbildungsplätze oder Jobs ge-
schaffen, sondern es sind Maßnahmen, die vor allem zur
Bereinigung der Statistik beitragen.
Natürlich, Christian, entziehen sich viele Unternehmen
nach wie vor ihrer Verantwortung für die Ausbildung. Als
ich noch bei der SPD Politik gemacht habe, hat sie eine
Umlagefinanzierung gefordert; das muss ich nicht wei-
ter erklären. Nun frage ich mich aber: Warum stehen Sie
nicht mehr zur Umlagefinanzierung? Warum setzen Sie
sie nicht durch, obwohl Sie sie jahrelang gefordert haben?
Frau Bergmann, in Ihrem Programm steht, dass der Ar-
beitgeber, wenn er Jugendliche für eine Qualifizierung
freistellt, das Gehalt weiter zahlt. Das ist auch richtig. Was
ich an dieser Situation aber nicht verstehe, ist, warum Sie
den Unternehmen anbieten, diese Kosten teilweise zu
übernehmen. Der Staat ist doch nicht für die Finanzierung
der Wirtschaft verantwortlich.
Die Wirtschaft muss gezwungen oder was natürlich sehr
viel besser ist davon überzeugt werden, die Verantwor-
tung für Qualifizierung und Ausbildung ihres eigenen
Nachwuchses zu übernehmen und dies zu finanzieren.
Dabei hat der Staat nicht die Aufgabe, der Wirtschaft das
Geld zuzuschieben.
Da wir gerade beim Geld sind: Auch die Kindergeld-
erhöhung wird an dieser Stelle immer wieder gelobt. Ich
finde, jede Erhöhung ist ein wichtiger Schritt. Sie müssen
aber zugeben, dass die Kindergelderhöhung und die da-
durch entstandenen Mehrausgaben zum Teil durch die
steuerliche Höherbelastung der Alleinerziehenden gegen-
finanziert werden. Dazu hatte die PDS einen Vorschlag
gemacht, auf den ich aber nicht näher eingehe; wir haben
oft genug darüber diskutiert.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Christian Simmert
19314
Zu Recht ist hier die Medienbildung angesprochen
worden. Ich finde, das ist ein Thema, dem sich die Bun-
desregierung wirklich widmet, das sie immer wieder auf
die Tagesordnung setzt. Ich freue mich darüber, dass, wie
Sie verkünden, alle Schulen mit Internetzugängen und
PCs ausgestattet werden sollen. Aber Sie müssen zuge-
ben, dass dieses zum Teil von den Schulen und Eltern sel-
ber finanziert werden muss. Wo das nicht möglich ist, set-
zen Sie mit Ihrer D-21-Initiative auf die Wirtschaft. Ich
habe kein Problem damit, dass die Wirtschaft für die Qua-
lifizierung sozusagen blechen soll. Man kann aber nicht
nur auf die Wirtschaft setzen. Der Staat darf sich seiner
Verantwortung nicht entziehen. Wenn nämlich Medien-
bildung ausschließlich vom Sponsoring und damit von
der Gunst der Wirtschaft abhängig ist diese Tendenz
können wir beobachten , dann kann das schief laufen.
Wir alle in diesem Hause wissen unabhängig davon, wie
man zum Sponsoring steht , dass es interessenfreies
Sponsoring durch die Wirtschaft nicht gibt.
Diese Bedenken möchte ich zumindest zum Ausdruck
bringen.
Ich finde es gut ich weiß nicht, ob es zum ersten Mal
schriftlich formuliert wurde , dass es in dem Ent-
schließungsantrag eine kleine Passage zur Filtersoftware
gibt. Auch Sie sagen, dass Filtersoftware kein geeigneter
Jugendmedienschutz ist. Frau Eichhorn, ich muss Ihnen
sagen: Nicht das Internet ist das Problem, sondern dieje-
nigen, die es für Gewaltverherrlichung und für den
Rechtsextremismus missbrauchen.
Deswegen muss man nicht gegen das Internet vorgehen,
sondern gegen diejenigen, die auf der Straße den Rechts-
extremismus repräsentieren. Man sollte aber nicht das In-
ternet zensieren.
Ich habe mich gefreut, dass das Thema Rechtsextre-
mismus in den letzten Wochen und Monaten eine derar-
tig breite Aufmerksamkeit gefunden hat. Aber die eine
oder andere Maßnahme ist inkonsequent oder nicht zu
Ende gedacht. Gerade auf diesem Gebiet geht es nicht
ausschließlich darum, den rechtsextremen Jugendklubs
Geld zu geben, damit mit diesen Jugendlichen gearbeitet
werden kann. Es geht im Gegenteil darum, die Gegenkul-
tur zu fördern, das heißt, antirassistische Jugendinitiati-
ven zu fördern und aufzubauen. Wir brauchen eine Ge-
genbewegung; man sollte sich nicht ausschließlich nur
immer an den Rechten abarbeiten.
Es sollten vielmehr inhaltliche Voraussetzungen geschaffen
werden, dass auch andere Strukturen entstehen können.
Wenn Sie der Meinung sind, dass das Engagement der
Jugendlichen unterstützt werden muss, dann bitte ich Sie
an dieser Stelle: Streichen Sie antirassistische und anti-
faschistische Jugendinitiativen aus dem Verfassungs-
schutzbericht! Hören Sie auf, sie zu beobachten und durch
die Polizei zu kriminalisieren!
Diese Initiativen sind in vielen Orten das gilt gerade für
die neuen Bundesländer; ich bin dort viel unterwegs
praktisch die einzigen, die einer Nazidominanz in den
Kommunen Widerstand entgegensetzen.
Rassismus ist nun einmal das Fundament des heutigen
Rechtsextremismus. Ich bin froh, dass auch Sie der Mei-
nung sind das ist in den Anträgen deutlich geworden ,
dass Rassismus ein Ausgangspunkt für Rechtsextremis-
mus ist. Wenn aber die deutsche Wirtschaft gute Aus-
länderinnen und Ausländer auswählt, wenn gleichzeitig
die anderen gefälligst draußen bleiben sollen und wenn
vor dem Hintergrund der Ereignisse des 11. Septembers
ausländische Studierende in der Bundesrepublik in Anträ-
gen als Terroristen per se stigmatisiert werden, dann kann
man Jugendliche nicht von ihrem rechten Weg abbringen,
sondern dann arbeitet man ihren Überzeugungen zu.
Mich hat ein wenig gewundert, dass das Thema
Drogenpolitik völlig fehlt. Sie wurde zwar angespro-
chen, aber die Probleme wurden nicht thematisiert. Auch
wenn es nicht allein ein jugendspezifisches Thema ist, so
muss man doch sagen, dass gerade junge Menschen Um-
gang mit weichen Drogen haben. Ich habe mich schon ge-
wundert, warum gerade Rot-Grün Sie haben in der Ver-
gangenheit immer die Legalisierung von weichen Drogen
wie zum Beispiel Cannabis gefordert in diesem Punkt
nichts unternommen hat. Seit Rot-Grün regiert, ist dieses
Thema leider nicht wieder aufgetaucht.
Lassen Sie mich zum Schluss auf das Thema politische
Partizipation eingehen. Niemand wird bestreiten, dass
dieses Thema wichtig ist. Wir müssen Formen finden,
damit junge Leute Spaß an Politik haben. Ihre
Beteiligungsbewegung ist daher eine gute Initiative. Sie
darf aber nicht nur zum Zuschauen verkommen, sondern
sie muss das Engagement von jungen Leuten fördern.
Wenn aber, wie in Berlin geschehen, während der Schul-
zeit eine Schülerdemonstration stattfindet und Schülerin-
nen und Schüler Tadel und Verweise dafür bekommen,
weil sie an dieser Demonstration teilgenommen haben
ihnen wurde von Lehrerinnen und Lehrern sozusagen
verboten, an dieser Demonstration teilzunehmen , dann
bin ich doch sehr verwundert. Jetzt engagieren sich Ju-
gendliche endlich einmal und sofort bekommen sie eines
auf den Deckel.
Frau Bergmann, Sie haben während der Präsentation
des Projektes Beteiligungsbewegung gesagt, dass man
auch nach der Schule demonstrieren kann. Aber warum
sollen sich Jugendliche nicht auch einmal während der
Schulzeit engagieren?
Schule muss Allgemeinbildung vermitteln. Da muss auch
die politische Partizipation Bestandteil der Bildung sein.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Angela Marquardt
19315
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Marquardt, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Wenn ein Engagement
gleich wieder abgebügelt wird, entsteht natürlich Poli-
tikverdrossenheit. Das kann ich verstehen. Ich bin aber
frohen Mutes, dass sich das ändern wird.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Kol-
legin Kerstin Griese für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Eigentlich ist die Wahrnehmung
vieler Jugendlicher richtig: Jugendliche spielen in der Po-
litik keine oder eine zu geringe Rolle. Das, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, ändern wir gerade, und zwar auch
schon seit 1998. Wir stellen Kinder und Jugendliche, ihre
Interessen und Perspektiven in den Mittelpunkt.
Lassen Sie mich etwas zu Herrn Haupt sagen, der be-
hauptet hat, es seien nur schöne Worte im Regierungspro-
gramm zu finden. Neben schönen Worten finden Sie auch
eine ganze Menge Fakten, Programme und finanzielle
Mittel. Wenn Sie die Antwort auf die Große Anfrage Ju-
gend durchlesen, sehen Sie, was wir alles getan haben,
um diesen Bereich zu verstärken.
Sie haben selbst gesagt, Bildung sei das Wichtigste. Da
stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Aber schauen Sie doch
einmal in Ihre Regierungszeit zurück! Sie haben den Bil-
dungsetat permanent gekürzt. Die FDP war in dieser Re-
publik fast 30 Jahre an der Regierung. Wir haben die Kür-
zungen aufgehoben, wir investieren jetzt wieder in
Bildung.
Das ist für die Zukunft der jungen Generation wichtig.
Ich gehöre mit 34 Jahren noch zu den jungen Abge-
ordneten in diesem Hohen Hause. Ich glaube nicht, dass
alle Probleme damit gelöst sind, wenn ausschließlich
junge Leute Interessen in der Politik vertreten. Aber die
Verstocktheit und die Blockaden der Regierung Kohl
wurden auch durch einen Generationenwechsel abgelöst.
Ein Bestandteil dieses Generationenwechsels sind viele
jüngere Abgeordnete und wenn Sie sich die Zahlen anse-
hen, so sehen Sie, dass die vor allem auf den Bänken der
Regierungsfraktionen, der SPD und der Grünen, zu finden
sind.
Das stimmt. Doppelt so viele junge Abgeordnete wie bei
Ihnen von der CDU/CSU, Frau Heinen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir machen ein An-
gebot an die Jugendlichen. Wir wollen zum Einsatz für
unsere demokratische Gesellschaft herausfordern. Der
Vorwurf, Jugendliche würden nicht gefragt, gilt nicht
mehr. Wir machen Angebote zur Diskussion und zur Mit-
gestaltung. Ich mache Politik, das ist der Slogan der
Beteiligungsbewegung, die von der Ministerin ins Leben
gerufen worden ist und die in dieser Woche begonnen hat.
Zuerst einmal hört jetzt die Politik zu, wenn Jugendliche
den Ministerinnen und Ministern ihre Meinung sagen. Ich
finde, das ist auch gut so.
Jugendliche geben oft Anstöße für gesellschaftliche
Debatten und Bewegungen, die ein gerechteres Miteinan-
der der Menschen zum Ziel haben. Gerade nach den An-
schlägen vom 11. September haben wir alle beobachtet,
wie Tausende von Jugendlichen, wie zig Schulklassen
ihre Solidarität mit den USA, ihre Toleranz, aber auch ihre
Friedenssehnsucht ausgedrückt haben vor der amerika-
nischen Botschaft in Berlin und in vielen anderen Städten
in der Bundesrepublik. Ich denke, dieses Engagement
muss man würdigen.
Dies zeigt auch, dass Jugendliche nicht unpolitisch
sind. Sie interessieren sich zum Beispiel für den Ausstieg
aus der Atomenergie, für den Abbau der Staatsschulden,
für eine gesunde Umwelt und für einen interessanten Job.
Genau von diesen Entscheidungen hängt die Zukunft un-
serer Gesellschaft ab. Deshalb bedeutet unsere Jugendpo-
litik, dass alle Ressorts, vom Arbeitsministerium bis zum
Wirtschaftsministerium, von der Bildung bis zur Entwick-
lungshilfe, die Belange von Kindern und Jugendlichen be-
achten und fördern; denn und das steht bei uns im Mit-
telpunkt Generationengerechtigkeit ist ein Ziel unserer
Politik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kinder und Jugend-
liche wollen sich engagieren und die Gesellschaft gestal-
ten. Sie wollen sich selbst organisieren; das ist das
Prinzip der Jugendverbände. Um kontinuierliche Partizi-
pation zu gewährleisten, ist die Arbeit der Jugendver-
bände unverzichtbar. Deshalb möchte ich an dieser Stelle
den Aktiven im Deutschen Bundesjugendring und seinen
Mitgliedsverbänden, in denen Millionen von Jugendli-
chen ehrenamtlich aktiv sind, für ihre wichtige Arbeit
danken.
Ich freue mich, dass Gaby Hagmans, die Vorsitzende des
Deutschen Bundesjugendrings, an dieser Debatte teil-
nimmt.
Ich möchte insbesondere auf ein Thema eingehen.
Beim Rechtsextremismus stehen wir vor einem gesamt-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 200119316
gesellschaftlichen Problem. Es wäre falsch, allein Ju-
gendliche für Gewalt und Fremdenfeindlichkeit verant-
wortlich zu machen, und es wäre genauso falsch, allein
nach Ostdeutschland zu gucken.
Die Ursachen sind vielfältig das wissen und akzeptieren
wir hoffentlich alle : mangelnde Ausbildungs- und Ar-
beitsperspektiven, fehlender Halt in der Familie und die
Suche nach einfachen Lösungen, um nur einige zu nen-
nen. Deshalb gehört für Sozialdemokraten die Bekämp-
fung von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit
zu den wichtigsten Aufgaben unserer Politik. Eine konti-
nuierliche Jugendpolitik ist die beste Prävention gegen
Rechtsextremismus.
Wir müssen dabei neben den natürlich notwendigen re-
pressiven Maßnahmen gerade diejenigen Jugendlichen,
die sich schon in Richtung Rechtsextremismus orientie-
ren und Gewaltbereitschaft zeigen, in die gesellschaftli-
che Mitte zurückholen. Und wir müssen das tun wir mit
unseren Programmen auch, Frau Marquardt diejenigen,
die in der Mitte der Gesellschaft stehen und sich für De-
mokratie und Toleranz einsetzen, aktiv unterstützen.
Hier haben wir Schwerpunkte gesetzt. Unser Pro-
gramm heißt Jugend für Toleranz und Demokratie,
womit wir betonen, wofür sich die Jugendlichen einset-
zen sollen. In diesem Jahr haben wir die Stärkung des
demokratischen Engagements junger Menschen mit
30 Millionen DM gefördert. Aus diesen Mitteln wird zum
Beispiel der Ideen- und Aktionswettbewerb der Evangeli-
schen Jugend, Auf dich kommt es an, gefördert, dessen
Symbol ein Spiegel ist, der nicht nur den Einzelnen, son-
dern auch die Welt dahinter zeigen soll. Die SPD-Fraktion
setzt sich für die Verstetigung dieser Haushaltsmittel ein.
Ihnen von der CDU/CSU ist dazu ja nur eingefallen, das
Wort Rechts zu streichen, wobei Sie meines Erachtens
die tatsächlichen Probleme in unserem Land verkennen.
Des Weiteren erwähne ich das Programm Civitas, das
in diesem Jahr mit 10 Millionen DM Projekte zur Bera-
tung, Ausbildung und Unterstützung von Initiativen ge-
gen Rechtsextremismus und zur Opferberatung in den
neuen Bundesländern fördert. Gerade Ansätze, in denen
sich Jugendliche auf der lokalen Ebene für Jugendliche
engagieren, halte ich für besonders sinnvoll. Zum Bei-
spiel arbeiten in Sachsen im Netzwerk Demokratie und
Courage, das von der DGB-Jugend unterstützt wird,
Schülerinnen und Schüler mit anderen Schülern in Works-
hops daran, Vorurteile zu erkennen und zu hinterfragen.
Das ist ein sinnvoller Beitrag zum Abbau von Fremden-
feindlichkeit.
Schließlich nenne ich das Programm Xenos Leben
und Arbeiten in Vielfalt, das antirassistische und arbeits-
marktbezogene Maßnahmen verknüpft. Dieses Pro-
gramm ist deshalb so wichtig, weil es dort ansetzt, wo
Menschen gemeinsam arbeiten und lernen. Dazu gehören
zum Beispiel Konfliktmanagement und interkulturelles
Training in Berufsschulen. Das ist eine sinnvolle Präven-
tionsarbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein wichtiges Feld ist
die internationale Jugendarbeit. Gerade nach dem
11. September halten wir es für wichtig, die intensive Aus-
einandersetzung mit anderen Ländern, Kulturen und Re-
ligionen zu verstärken. Daher habe ich mich auch über die
geplante Aufstockung der Mittel für das deutsch-polni-
sche Jugendwerk und über die Eröffnung des Koordinie-
rungsbüros für den deutsch-israelischen Jugendaustausch
in Wittenberg gefreut.
Wir halten die Verbesserung der sozialen Situation
benachteiligter Kinder und Jugendlicher für eine wichtige
Aufgabe. Kinder und Jugendliche sollen gemeinsam auf-
wachsen und miteinander lernen und leben. Das ist am
besten in Kinderbetreuungseinrichtungen möglich. Der
Ausbau der Kinderbetreuung ist ein wichtiger Schritt zur
sozialen Integration.
Wenn Frau Eichhorn in jeder Debatte das Bundesland
Bayern hervorhebt, muss ich sie wirklich nach der Be-
treuung der unter Dreijährigen in Bayern fragen. Hier
sieht Bayern nämlich ganz schlecht aus.
Dazu gehört auch, dass Kinder mit Migrationshintergrund
in Betreuungseinrichtungen besser die deutsche Sprache
lernen können, was für die Integration unerlässlich ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Willy Brandt rief
Anfang der 70er-Jahre der jungen Generation zu: Mehr
Demokratie wagen. Viele von denen, die hier zumin-
dest auf dieser Seite des Hauses sitzen,
kommen aus dieser Generation und haben sich davon an-
gesprochen gefühlt. Heute sagt die Bundesregierung von
Gerhard Schröder und Christine Bergmann: Den Ju-
gendlichen Chancen geben. Jetzt kommt es darauf an,
diese Chancen wahrzunehmen. Deshalb, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, müssen wir den Jugendlichen zeigen,
dass die Politik nicht jugendverdrossen ist. Die rot-grüne
Bundesregierung hat damit angefangen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Klaus Holetscheck für die Fraktion der CDU/CSU.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Kerstin Griese
19317
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie haben 1998 ver-
sucht, die Jugendlichen mit viel Show, trendigen Kino-
spots und Slogans zu umwerben. Am 1. Mai hat die Ju-
gend dem Kanzler höchstpersönlich gezeigt, was sie von
ihm hält. Der Spiegel schreibt dazu:
Tausend jugendliche Besucher der Job-Parade in
Schwerin haben Bundeskanzler Gerhard Schröder
ausgepfiffen. Geplant war eine Diskussion mit Ju-
gendlichen zum Thema Arbeitslosigkeit. Angesichts
der Buh-Rufe verabschiedete sich der Bundeskanz-
ler nach wenigen Minuten mit dem Satz: Ich wün-
sche euch eine Menge Spaß, machts gut und feiert
schön!
So kann man natürlich auch das Thema Jugendarbeitslo-
sigkeit behandeln.
Wir sind uns doch einig, dass Sie bei der Jugendpolitik
nicht viel zu bieten haben. Das Programm spricht für sich.
Was Sie schon am Anfang der Wahlperiode getan haben,
wiederholen Sie auch am Schluss: Sie versuchen, kurz-
fristig etwas aufzulegen, was sich gut anhört; aber Taten
lassen Sie den guten Sprüchen nicht folgen.
Außerdem kaschieren Sie Ihre mangelhafte Jugendpolitik
mit einer Großen Anfrage aus den eigenen Reihen. Allein
das sagt schon fast alles.
Das Thema Jugendarbeitslosigkeit ist eines der zen-
tralen Themen; darüber sind wir uns über die Parteigren-
zen hinweg einig.
Ihr Programm JUMP erreicht nicht das, was Sie und viele
andere sich davon versprochen haben. Die Zahlen der Ju-
gendarbeitslosigkeit in Europa Frau Kollegin Eichhorn
hat es vorhin schon dargestellt , die das europäische sta-
tistische Amt herausgibt, sprechen für sich: So beträgt die
Jugendarbeitslosigkeit in Dänemark 6,9 Prozent, in Portu-
gal 8,9 Prozent, in Österreich 5,8 Prozent, in Irland 5,9 Pro-
zent, in den Niederlanden 4,1 Prozent, in Luxemburg
7,1 Prozent. Spitzenreiter ist Deutschland mit 9,5 Prozent.
Diese Fakten können wir doch nicht wegdiskutieren.
Genauso wenig können wir die Tatsache wegdiskutie-
ren, dass ganze Regionen in den neuen Ländern ausblu-
ten, dass die jungen Menschen dort keine Lehrstellen
mehr finden, dass sie ihre Region, ihre Heimat verlassen
müssen und wir dort ein Riesenproblem haben. Das sind
die Fakten, denen Sie sich stellen müssen. Wir müssen
diesen Trend mit allen Mitteln stoppen.
Kollege Simmert, wenn wir über Jugendarbeitslosig-
keit sprechen, müssen wir auch über die Wirtschaft spre-
chen, weil die Wirtschaft die Rahmenbedingungen setzt.
Wir müssen über den Mittelstand sprechen. 80 Prozent
der Ausbildungsplätze werden vom Mittelstand zur Ver-
fügung gestellt. Die Politik Ihrer Regierung trägt nicht
dazu bei, dass sich der Mittelstand in Deutschland entfal-
ten kann. Das 630-DM-Gesetz, das Gesetz zur Bekämp-
fung der Scheinselbstständigkeit, die Ökosteuer, das Be-
triebsverfassungsgesetz, die Steuerreform das alles
sind Gesetze gegen den Mittelstand, Gesetze gegen die
Ausbildung von Jugendlichen in der Bundesrepublik
Deutschland.
Wenn man sich den Internetauftritt des Programms
JUMP anschaut auch das ist recht interessant , so fin-
det man dort einen Jugendlichen, den man über viele Hin-
dernisse zum Arbeitsamt treiben muss. Manchmal hat
man das Gefühl, dass Ihre Politik in der Wirklichkeit nicht
anders ist. Es werden viele Knüppel zwischen die Beine
geworfen und heraus kommt ziemlich wenig.
Wir haben zahlreiche Anträge zur Förderung des Mit-
telstandes gestellt; wir debattieren nachher darüber. Sie
hätten die Chance gehabt, auf diesen Zug aufzuspringen
und tatsächlich etwas für die Ausbildung in unserem Land
zu tun.
Beim Thema neue Medien zeigt sich genau dasselbe
Bild. Die Impulse für die Initiative Schulen ans Netz
wurden noch in unserer Regierungszeit gegeben. Von Ih-
nen kommt relativ wenig.
Wir sprachen vorhin das Thema Jugendschutz an. In
Ihrem Programm taucht dieser Punkt so gut wie gar nicht
auf. So müssen wir wirklich aufpassen, dass wir auf die-
sem Gebiet nicht insgesamt zum Schlusslicht werden.
Familienpolitik ist ebenfalls eine wichtige Facette der
Jugendpolitik. Eine werteorientierte, ganzheitliche Fami-
lienpolitik ist einer der besten Ansätze für eine wirksame
Jugendpolitik.
Wir haben ein Konzept; Sie haben keines.
Auch die Novelle zum Gesetz über Freiwilligendiens-
te ist bereits seit langem angekündigt. Bis jetzt habe ich
sie immer noch nicht gesehen. Wo sind denn die entspre-
chenden Gesetzentwürfe? Ich hoffe, sie kommen bald;
denn Sie haben in der Koalitionsvereinbarung groß an-
gekündigt, Sie wollten etwas für die Freiwilligen im Aus-
land tun.
Bis jetzt haben wir noch nichts gesehen. Wir warten und
werden das kritisch begleiten. Wir hoffen, dass Sie dies-
bezüglich einmal Wort halten.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 200119318
Was mich wirklich ärgert, ist Ihre Missachtung des
Ehrenamtes. Ich erlebe in meiner Heimatstadt Bad
Wörishofen, dass viele Vereine dort eine wirklich gute Ju-
gendarbeit leisten. Bei Ihnen vermisse ich allerdings
Bemühungen um die Stärkung des Ehrenamtes. Sie haben
einerseits eine Enquete-Kommission eingerichtet, aber
andererseits vieles verhindert, wodurch bürgerschaftli-
ches Engagement sich hätte entfalten können und wirk-
lich gefördert worden wäre.
Unterstützen Sie die Vereine in der Bundesrepublik
Deutschland! Sie leisten eine wertvolle Jugendarbeit.
Meine Damen und Herren, es ist relativ wenig passiert.
Ihr Programm Chancen im Wandel sollten Sie auf das
letzte Jahr Ihrer Regierungsarbeit anwenden; denn ich bin
sicher, der Wähler versteht das anders: Er wird Sie zur
zukünftigen Opposition wandeln.
Die Leute können sehr gut unterscheiden, was Show,
was Verpackung und was Inhalt ist. Das können auch die
Jugendlichen sehr gut.
Nicht nur in der Jugendpolitik, aber auch da machen Sie
viel Show und haben viel Verpackung, aber wenig Sub-
stanz und wenig Inhalte.
Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf: Geben
Sie der Jugend Zukunft, geben Sie ihr Perspektive! Tun
Sie etwas und machen Sie nicht nur Sprüche!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Grietje Bettin für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ju-
gendpolitische Programm der Bundesregierung trägt den
Titel Chancen im Wandel. Große Chancen liegen auch
in dem Bereich, mit dem sich der Bericht unter dem Titel
Medienkompetenz für alle befasst und auf den ich mich
in dieser Rede konzentrieren möchte.
In einem medialen Zeitalter, in dem Programme immer
mehr nach kommerziellen als nach inhaltlichen An-
sprüchen gestaltet werden, gewinnt die Fähigkeit der Be-
völkerung, verantwortungsbewusst mit Medien umzuge-
hen, ständig an Bedeutung. Dies gilt insbesondere für
Kinder und Jugendliche. Medienkompetenz umschreibt
hierbei die grundlegende Fähigkeit eines Individuums,
sich in einer von Medien geprägten Welt zurechtzufinden
und entsprechend zu handeln. Der Einzelne soll befähigt
werden, Wirkung und Ziele von Medien zu verstehen und
aus dem Spektrum der Angebote bewusst auszuwählen,
statt der Flut medialer Eindrücke passiv ausgesetzt zu
sein.
Dies beinhaltet neben dem notwendigen Erwerb tech-
nischen Wissens hauptsächlich die so genannte qualitative
Medienkompetenz, also die inhaltliche Auseinanderset-
zung mit Informationen. Gerade um die Entstehung einer
medialen Zweiklassengesellschaft zu vermeiden, ist die
Förderung von Medienkompetenz aufgrund ihrer alltägli-
chen Relevanz für die politische Partizipation der Men-
schen ganz entscheidend.
Die Vermittlung von Medienkompetenz ist also ein
sehr breit gefächertes Aufgabengebiet. Um größtmögli-
che Wirkung zu erzielen, sollte bei der Entwicklung von
Konzepten angesichts der sich rapide verändernden
Medienlandschaft und der ständig neuen technischen Er-
rungenschaften jede Statik vermieden werden. Zukunfts-
offene Konzepte sind also gefragt. Vor allem jedoch müs-
sen diese stets so genau wie möglich auf ihre Adressaten
abgestimmt sein.
Nahe liegend scheint uns hier zunächst eine Differen-
zierung nach Altersgruppen. Wichtiger jedoch ist die ge-
sellschaftliche Rolle der Adressaten, zum Beispiel dieje-
nige als Elternteil, als Verbraucher oder auch als politisch
Interessierter, die eine jeweils eigene Form von Medien-
kompetenz einfordert. Außerdem ist noch die Funktion
der Mediennutzung zu beachten, etwa ob es sich um Un-
terhaltung, Weiterbildung oder Information handelt. Für
eine effiziente Vermittlung von Medienkompetenz ist die
Beachtung dieser von mir gerade genannten Kriterien von
sehr großer Bedeutung.
Die Bundesregierung ist hier auf einem sehr guten Weg.
Bis Ende 2001 werden alle Schulen und Berufsschulen in
Deutschland mit Internetzugängen ausgestattet sein.
Ausdrücklich begrüßen wir ebenfalls die Initiative
Jugendarbeit ans Netz, mit der auch Freizeiteinrichtun-
gen für Kinder und Jugendliche ans Netz angeschlossen
werden sollen.
Mängel sehen wir bei den bereits bestehenden bundes-
weiten Projekten jedoch noch in deren mangelnder Ver-
knüpfung sowie der häufig fehlenden wissenschaftlichen
Begleitforschung. Als sinnvollen Ansatz zur Lösung die-
ser Probleme befürworten Bündnis 90/Die Grünen die
Schaffung eines bundesweiten Netzwerks, welches die
Kommunikation zwischen einzelnen Trägern verbessern
und bedarfsgerechte Modellprojekte entwickeln soll.
Hierzu haben Bündnis 90/Die Grünen ein Konzept ent-
wickelt, das wir bereits mit großem Erfolg der Öffent-
lichkeit präsentiert haben. Unser Konzept sieht folgende
Eckpunkte vor: Wir streben die Schaffung einer Plattform
an, welche die Kommunikation zwischen den einzelnen
Trägern optimieren und koordinieren soll. Als Aufgaben
dieser Koordinierungsstelle sehen wir unter anderem die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Klaus Holetschek
19319
Bestandsaufnahme der bereits bestehenden Projekte zur
Förderung von Medienkompetenz, das Aufzeigen von
Trends, Lücken und Defiziten in diesem Bereich, das Ent-
wickeln und Anbieten konkreter zielgruppenspezifischer
Modellprojekte und die Aktivierung der Kommunikation
innerhalb und außerhalb des Netzwerks.
Bündnis 90/Die Grünen und die rot-grüne Bundesre-
gierung sind also mit konkreten Programmen und Kon-
zepten bereits bestens auf die Herausforderungen der In-
formationsgesellschaft vorbereitet.
Medienkompetenz ist hierbei eine der wichtigsten Quali-
fikationen für unsere Kinder und Jugendlichen, um fit im
Umgang mit neuen Medien zu sein. Technische Kompe-
tenz allein reicht jedoch bei weitem nicht aus. Es geht
vielmehr darum, den sinnvollen Umgang mit den neuen
und alten Medien zu lernen. Die sozialen und pädagogi-
schen Komponenten dürfen hierbei niemals zu kurz kom-
men. Erst dann können wir sagen: Unsere Kids sind wirk-
lich medienfit.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Thomas Dörflinger für die Fraktion der
CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Chancen im Wandel toll! Si-
cherheit im Wandel noch toller! Merken Sie was? Die
frappierenden Wortähnlichkeiten legen den Verdacht
nahe, dass mindestens der Titel, wenn nicht auch der In-
halt dieses Barackenpapierchens
aus der Feder des Kollegen Müntefering stammt.
Es ist völlig legitim das haben auch wir gemacht , dass
man in Regierungsprogramme den einen oder anderen
Tropfen Parteipolitik einfließen lässt. Aber man sollte es
ein kleines bisschen unauffälliger und ein kleines biss-
chen handwerklich besser machen, als Sie das tun.
Ein Programm soll das also sein. Ein Programm ist je-
doch getreu dem Wortstamm auf die Zukunft gerichtet.
Sie aber listen auf über 25 Seiten lediglich das auf, was
Sie mehr oder weniger erfolgreich bereits getan haben. In-
sofern ist das kein Programm, sondern eigentlich ein Epi-
gramm. Was denn in drei Teufelsnamen hat bei aller
Wichtigkeit dieses Themas der Ausstieg aus der Kern-
energie mit der Jugendpolitik zu tun? Das könnte man
auch an vielen anderen Beispielen deutlich machen. Wenn
man das Epigramm inhaltlich reduziert, ist der Wert
schlussendlich unter einem Mikrogramm.
Eben ist von den Entschließungsanträgen gesprochen
worden, die dem Deutschen Bundestag noch zugeleitet
werden. Lassen Sie mich einige Bemerkungen dazu ma-
chen.
Wenn sich die Regierungsfraktionen mit einem Ent-
schließungsantrag an die Regierung wenden, dann ist es
normalerweise so, dass die Lobeshymnen nur so sprudeln.
Das ist hier nicht so; denn es wird an einigen Stellen deut-
lich auf Versäumnisse hingewiesen.
So wird beispielsweise unter Punkt A 14 ausgeführt,
die Bundesregierung solle etwas für den Kinder- und
Jugendmedienschutz tun. Das findet unsere volle Zu-
stimmung. Zu diesem Thema haben wir einen Antrag im
Plenum eingebracht, den Sie allerdings abgelehnt haben.
Ich frage mich, wann Sie in diesem Bereich endlich etwas
tun. Es geht nicht darum dieser Vorwurf wurde vorhin
an die Kollegin Eichhorn gerichtet , das Internet zu ver-
bieten. Das Internet kann man genauso wenig verbieten
wie Regen. Das ist Unsinn. Es geht darum, vernünftige
Regelungen zu finden, um denjenigen das Handwerk zu
legen, die das Internet missbrauchen. Darauf warten wir.
Es finden sich noch viel tollere Dinge. So findet sich in
dem Entschließungsantrag von Rot-Grün die Forderung,
die Förderung nach dem Kinder- und Jugendplan
zukünftig daraufhin abzuklopfen, ob das Prinzip von
Gender Mainstreaming dort eingehalten wurde oder nicht.
Das erinnert mich an die ebenfalls von Rot-Grün erho-
bene Forderung, in die Verdingungsordnung für Bauleis-
tungen den Passus aufzunehmen, dass es darauf an-
komme, ob der Betrieb, an den zu vergeben sei, eine
Gleichstellungsbeauftragte beschäftige oder nicht.
Wie soll denn in Deutschland noch etwas funktionieren,
wenn Sie alles mit Bürokratie überziehen? Das ist weder
denjenigen, denen es nutzen soll, noch der Politik förderlich.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Grietje Bettin
19320
Bezeichnend ist der Kollege Holetschek hat darauf
hingewiesen , dass weder in dem angeblichen Pro-
gramm Chancen im Wandel noch in dem Entschlie-
ßungsantrag von Rot-Grün das Wort Verein vorkommt.
Man kann doch nicht ein Programm oder einen Ent-
schließungsantrag zur Jugendpolitik in Deutschland for-
mulieren und dabei das, was in Vereinen zwischen Flens-
burg und Garmisch in Deutschland geschieht, mit keinem
Wort erwähnen.
Das zeigt, dass Sie gegenüber der etablierten Jugend-
verbandsarbeit im Grunde genommen ein tiefes Miss-
trauen haben;
denn der Passus, Herr Schmidt, findet sich in Ihrem Ent-
schließungsantrag unter der Unterüberschrift Neues En-
gagement fördern. Da Sie neues Engagement fördern
wollen, sind Sie offensichtlich mit dem bisherigen nicht
zufrieden. Sonst bedürfte es dieser Überschrift nicht.
Lassen Sie mich einige Worte zu dem Entschließungs-
antrag der FDP sagen. Es geht um den Wegfall der Ab-
zugsfähigkeit beispielsweise von Kosten für hauswirt-
schaftliche Beschäftigungsverhältnisse, die Senkung des
Ausbildungsfreibetrages, der Wegfall des Haushaltsfrei-
betrages für Alleinerziehende ab 2005. Herr Kollege
Haupt hat schon darauf hingewiesen.
Ich war gestern beim Parlamentarischen Abend der
Deutschen Landfrauen.
Die Beteiligung von Regierungsseite war erstaunlicher-
weise relativ dünn. Genau diese Punkte sind dort ange-
sprochen worden. Die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf leidet unter ebendiesen Maßnahmen. Politik für
den ländlichen Raum ist das, was Sie hier tun, auch nicht
gerade. Deswegen sollten Sie wenigstens hin und wieder
die Gelegenheit nutzen, um mit den Verbänden ins Ge-
spräch zu kommen, und im Plenum des Deutschen Bun-
destages nicht nur sagen, dass Sie das getan hätten.
Meine Damen und Herren, Politik muss Perspektiven
eröffnen. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie beispielsweise
eine Aussage zur Zukunft der Jugendhilfe treffen dazu
findet sich in diesem Programm nichts und dass sich
darin eine Aussage dazu findet, wie denn die Förderung
von Jugendprojekten zukünftig erfolgen soll, eher institu-
tionell, was die Verbandsarbeit angeht, oder projektbezo-
gen. Wie wollen Sie das in Zukunft händeln? Auch dazu
findet sich keine Aussage.
Verschiedentlich ist auf die Ausbildungsplatzsituation
in Deutschland abgehoben worden. Wollen Sie zukünftig
auch im Rahmen der Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpo-
litik für diesen Bereich etwas tun oder verlassen Sie sich
auf das, was beim Programm JUMP entweder mehr oder
weniger herauskommt, sowie auf das, was das Bündnis
für Arbeit außer schönen Pressekonferenzen und Fern-
sehterminen noch so alles produziert, nämlich nichts? Das
führt uns im Grunde überhaupt nicht weiter.
Meine Damen und Herren, es ist selten, dass die Uni-
onsfraktion mit der PDS einig ist. Aber der Hinweis, dass
sich in dem Programm zur Drogenpolitik keine Aussage
befindet, stimmt.
Das mag sein; das steht heute aber nicht zur Debatte.
Heute steht das Programm der Bundesregierung Chan-
cen im Wandel zur Debatte und darin befindet sich keine
Aussage zur Drogenpolitik.
Es geht schlussendlich darum: Wenn Sie beispiels-
weise den interkulturellen Dialog fördern wollen, dann
sind wir sehr dafür. Aber zunächst einmal müssen Sie jun-
gen Menschen eine Orientierung vermitteln, eine Orien-
tierung auch über das Gemeinwesen der Bundesrepublik
Deutschland, damit man anschließend fähig ist, sich mit
anderen Kulturen und anderen Gesellschaften auseinan-
derzusetzen.
Es ist auch richtig, wie Isa Vermehren kürzlich bei
Biolek gesagt hat, dass man einem jungen Menschen
zunächst einmal beibringen muss, worüber er redet, bevor
man ihn zur Kritikfähigkeit erziehen kann. Das ist die
natürliche Abfolge der Dinge und genau die halten Sie
nicht ein.
Jugendpolitik in Deutschland braucht nicht Reglemen-
tierung, sondern Freiräume. Junge Menschen in Deutsch-
land wollen einfach etwas tun. Lassen Sie sie!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Par-
lamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.
W
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke,
die Debatte hat gezeigt, dass mit dem heute zur Diskus-
sion stehenden Programm der Bundesregierung Chancen
im Wandel die Jugendpolitik ein ganzes Stück nach vorn
gebracht wird. Wir verdeutlichen mit dieser Debatte un-
sere politischen Prioritäten für die Jugend und für die Zu-
kunft unseres Landes. Dass Bildung dabei ein zentrales
Handlungsfeld für die Sicherung von Chancengleichheit
und -gerechtigkeit ist, ist selbstverständlich.
Herr Dörflinger, bei all den Themen, über die wir heute
diskutieren, wird natürlich zugleich auch deutlich, dass
die Situation, in der wir mit unserer Politik angefangen
haben, für die Jugendlichen in vielen Bereichen nicht
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Thomas Dörflinger
19321
berauschend war. Machen Sie nicht den Fehler, mit dem
Finger auf Wunden zu zeigen, die aber durch Ihre Untätig-
keit entstanden sind und die wir gerade schließen.
War denn bei Ihrer früheren Arbeitgeberin Frau Nolte das
Thema Zukunftschancen von Migrantenkindern in
Deutschland ein wirkliches Thema? Was haben Sie da
eigentlich getan? Wurde nicht in den 90er-Jahren die
Chance in dieser Gesellschaft vertan, die Konsequenzen
von De-facto-Einwanderung zur Kenntnis zu nehmen und
ein zukunftsorientiertes Konzept für junge Menschen zu
entwickeln, die aus anderen Ländern kommen und in
Deutschland aufwachsen?
Jetzt bauen wir Ihre Versäumnisse ab.
Herr Dörflinger, ich fand, wie gesagt, interessant, dass
Sie in Ihrer Rede versucht haben, mit Ihren praktischen
Erfahrungen die Untätigkeit einer früheren Ministerin ein
bisschen zu kompensieren, von der heute keiner mehr re-
det, was auch Gründe hat.
Bildung und Qualifizierung sind die wichtigsten Vo-
raussetzungen für die Verwirklichung von Lebenschan-
cen. Die Zukunft des Einzelnen sowie die gesellschaft-
liche und wirtschaftliche Entwicklung hängen natürlich
ganz entscheidend davon ab, ob es uns gelingt, heute so-
wohl das Wissen als auch die sozialen und kulturellen
Kompetenzen zu vermitteln, die gerade junge Menschen
brauchen.
Eine qualifizierte Ausbildung ist als Voraussetzung
für eine eigene Berufstätigkeit heute noch entscheidender,
noch wichtiger. Sie ist gerade für unsere jungen Menschen
die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Deshalb ist
die Investition in Bildung im besten Sinne Investition in
die Zukunft unserer jungen Menschen.
Meine Damen und Herren, die Leistungsfähigkeit un-
seres Bildungssystems entscheidet maßgeblich darüber,
ob der Generationenvertrag in unserer Gesellschaft auch
vonseiten der jungen Menschen als solidarischer Vertrag
verstanden wird.
Deshalb müssen die jungen Menschen von uns erwarten,
dass Bildung nach wie vor ein Bereich der öffentlichen
Verantwortung bleibt. Bildung ermöglicht Teilhabe am
politischen und gesellschaftlichen Leben, ist Navigati-
onshilfe in einer Welt, die ständig komplexer wird. Sie
fördert und fordert Persönlichkeiten.
Es ist schon deutlich gemacht worden, dass die 90er-
Jahre unter Ihrer Regierung Jahre des Rückgangs der Aus-
gaben für Bildung und Forschung waren. Das haben wir
kräftig korrigiert.
Das Jahr 2002 wird das vierte Jahr, in dem die Bildungs-
ausgaben des Bundes trotz eines strengen Haushaltskon-
solidierungskurses steigen werden.
Wenn darüber gesprochen wird, dass dieses Programm
keine Zukunftsaussagen enthält, dann will ich Ihnen eines
kurz sagen: Heute Abend wird hier im Bundestag über die
Reform des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes
gesprochen. Es ist eine Reformruine, die Sie uns hinter-
lassen haben, die nicht funktioniert hat, und wir verspie-
len dort einen entscheidenden Baustein auch im Sinne ei-
ner zukunftsorientierten Mittelstandspolitik. Wir wollen
vielen jungen Menschen, auch und gerade aus dem Be-
reich des Handwerks, die interessiert und qualifiziert sind,
die Chance bieten, sich staatlich gefördert fortzubilden,
ihren Meister zu machen, Betriebe zu gründen und damit
zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Ausbildungsplät-
zen beizutragen. Das ist unser praktischer Baustein, um
im Sinne einer wohlverstandenen Mittelstandspolitik die
Chancen junger Menschen zur Weiterqualifikation, zu
Unternehmensgründungen und zur Schaffung von Aus-
bildungs- und Arbeitsplätzen zu realisieren.
Ich will einen zweiten Punkt nennen. Natürlich ist die
Situation auf dem Ausbildungsmarkt nach wie vor ange-
spannt. Aber man muss doch darauf hinweisen, dass der
Ausbildungskonsens im Bündnis für Arbeit nun im drit-
ten Jahr zu einer schrittweisen Entspannung auf dem Aus-
bildungsmarkt beiträgt. Wir sind Gott sei Dank in diesem
Jahr erstmals wieder in der Situation letztmalig war das
etwa 1993/94 der Fall , dass die gegenwärtig verfügba-
ren Ausbildungsangebote, betrieblich wie öffentlich
geförderte, bundesweit gesehen ausreichen, um jedem un-
vermittelten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anbie-
ten zu können.
Ich will das nicht schönreden. Natürlich ist die Situation
in Ostdeutschland und übrigens auch in einigen Regionen
Westdeutschlands nach wie vor besorgniserregend. Des-
halb hat das Bundesministerium für Bildung und For-
schung mit den Ländern vereinbart, dass auch weiter, bis
2004, außerbetriebliche Ausbildungsplätze die notwen-
dige Ergänzung zu den Ausbildungsanstrengungen der
Wirtschaft in Ostdeutschland darstellen sollen.
Zum Thema Was hat sich eigentlich getan? will ich
Sie noch zart darauf hinweisen, dass Sie im BAföG-Be-
reich allein in den letzten fünf Jahren Ihrer Regierungs-
zeit 700 Millionen DM eingespart haben. Während also
den jungen Menschen von Ihnen 700 Millionen DM ge-
nommen worden sind, schaffen wir es in einem Ruck,
1,1 Milliarden DM zusätzlich für das BAföG zu mobili-
sieren.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
19322
Somit können wir wieder davon reden, dass junge Men-
schen nicht aufgrund ihrer sozialen Herkunft in der Ent-
faltung ihrer Begabungsreserven gebremst werden, son-
dern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft ihre
Bildungschancen auch im Hochschulbereich wahrneh-
men können. Wir hoffen, dass an Schulen und Hochschu-
len dadurch 80 000 junge Menschen zusätzlich Anspruch
auf eine Ausbildungsförderung erhalten, die diesen Na-
men auch verdient.
Ich will noch auf einen weiteren Punkt Bezug nehmen,
den Sie in der Debatte angesprochen haben. Wir haben im
Bündnis für Arbeit mit den Gewerkschaften und mit den
Arbeitgebern Maßnahmen zur Erhöhung der Bildungs-
und Berufsbeteiligung von jungen Migrantinnen und Mi-
granten beschlossen, die, so hoffen wir, in den nächsten
Jahren greifen werden. Denn über eines sollten wir uns
doch hier klar sein: Wir haben in den 90er-Jahren das
war nicht nur ein Versagen der alten Bundesregierung
die Probleme infolge fehlender Integration junger Men-
schen dramatisch unterschätzt und sind gut beraten, an
dieser Stelle keine Scheindiskussion zu führen. Das muss
unser gemeinsames Anliegen sein. Die Reform des Zu-
wanderungsgesetzes wird denken Sie an die Frage der
Sprachausbildung den nächsten Baustein unserer
Bemühungen bilden, dass junge Menschen aus Migran-
tenfamilien durch eine Förderung des Sprachunterrichts,
durch eine Förderung im Bildungssystem zum vollen Mit-
glied der Gesellschaft werden können. Gerade diese Men-
schen brauchen nämlich ihre zweite Chance in der Bil-
dung, wenn sie im ersten Schritt nicht den Weg in den
Arbeitsmarkt gefunden haben.
Lassen Sie mich mit zwei kurzen Bemerkungen zum
Thema Multimedia schließen. Beim Amtsantritt dieser
Regierung waren 15 Prozent der deutschen Schulen an
das Netz angeschlossen; vor wenigen Wochen ist nun-
mehr die letzte Schule an das Netz angeschlossen worden.
Wir sind, europäisch gesehen, nach einem hoffnungslosen
Rückstand in die Spitzengruppe vorgerückt,
auch deshalb, weil wir das in Partnerschaft mit der Wirt-
schaft und zusammen mit den Bundesländern organisie-
ren konnten.
Ein zweiter Punkt. Wir wissen alle: Es ist gut, dass
diese Ausrüstung da ist. Aber Medienkompetenz in die-
sem Sinne funktioniert nur, wenn mit diesen neuen Me-
dien vernünftige Lerninhalte vermittelt werden. Dass das
Bundesministerium für Bildung und Forschung in vier
Jahren 650 Millionen DM dafür in die Hand nehmen wird,
um Bildungssoftware für die berufliche Aus- und Weiter-
bildung an Schulen und Hochschulen zur Verfügung zu
stellen, wird den nächsten Schritt sicherstellen: Die tech-
nischen Möglichkeiten werden zu einer neuen Qualität in-
teressanten Unterrichts führen. So wird im Multimedia-
zeitalter verhindert werden, dass diejenigen, die keine
Computer zu Hause haben, benachteiligt sind gegenüber
denjenigen, die in ihren Familien alles vorfinden. Das
können wir nur verhindern, wenn in den Bildungseinrich-
tungen attraktive, multimediagestützte Angebote zur Ver-
fügung stehen.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Ursula Heinen für die Fraktion der
CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Das Magazin Der Spiegel
hat in seiner Ausgabe vor 14 Tagen mit vier Berliner Jung-
wählern über ihre Wahlentscheidung vom 21. Oktober
2001 gesprochen. Julian, ein etwa 20 Jahre alter Fotogra-
fenauszubildender vom Prenzlauer Berg, hat zum Ab-
schluss des Interviews gesagt:
Die meisten in unserem Alter haben keinen Glauben
mehr daran, etwas verändern zu können ...
Weiter sagte er:
Die Politik kann in Wahrheit viel weniger schaffen,
als Politiker uns immer glauben machen wollen.
Dies, Frau Ministerin Bergmann, ist erschütternd.
Zeigt es uns doch die wachsende Distanz zwischen der
Politik und den jungen Menschen bei uns.
Dabei kennzeichnet die heutige junge Generation al-
les andere als Pessimismus und Null-Bock-Stimmung.
In der Shell-Studie wurde festgestellt sie ist vom Kol-
legen Haupt schon angesprochen worden , dass sich
Jugendliche im Alter von 15 bis 24 Jahre durch beson-
deren Optimismus und besondere Leistungsbereit-
schaft auszeichnen. Mehr als die Hälfte aller Jugendli-
chen antwortet auf die Frage, wie sie ihre persönliche
Zukunft einschätzen, eher zuversichtlich. Nur 9 Pro-
zent sehen sie eher düster. In Ihrer Antwort auf die
Große Anfrage zur Jugendpolitik sprechen Sie selbst von
der großen Bereitschaft junger Menschen zum Engage-
ment.
Das sind Fakten, die uns eigentlich sehr froh stimmen
müssten wenn nicht das immer weiter nachlassende po-
litische Interesse erkennbar wäre. In der Shell-Studie
um sie noch einmal zu zitieren heißt es dazu:
Die Jugendlichen entfernen sich nicht etwa bewusst
vom politischen System, sie lassen es mehr und mehr
links liegen.
Wie begegnet die rot-grüne Bundesregierung dieser
Entwicklung? Drei Jahre nach der Ankündigung schlägt
die Jugendministerin ein Programm vor. Chancen im
Wandel heißt es und soll so das hehre Ziel der jungen
Generation bessere und gerechtere Chancen auf Arbeit,
Bildung und Teilhabe ermöglichen und die Erziehung zu
Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit verstärken. Dies
sind Ziele, die wir alle hier im Deutschen Bundestag un-
terstützen können und wollen. Doch wenn Sie sich dieses
Programm einmal genauer anschauen, dann erkennen Sie
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
19323
leider: Es ist heiße Luft und ist mit heißer Nadel gestrickt
worden.
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Da heißt das
Kap. III: Wandel gestalten Generationengerechtigkeit
sichern. Immerhin sind Sie zu der Einsicht gelangt, dass
dies ein wichtiges Thema ist. Wo aber bleibt die ernsthafte
und glaubwürdige Befassung mit dieser Aufgabe? Wenn
Ihnen die Generationengerechtigkeit so sehr am Herzen
liegt, warum haben Sie dann den Antrag meiner Fraktion
abgelehnt, in dem wir mehr Generationengerechtigkeit ge-
fordert haben und verlangt haben, dass sich die heutige Po-
litik an den Erfordernissen von Morgen messen lassen
muss? Wo bleibt eine Diskussion darüber, dass Gesetze,
die wir heute machen, auch daraufhin geprüft werden müs-
sen, wie sie auf künftige Generationen wirken?
Wenn Ihnen Nachhaltigkeit und Generationenge-
rechtigkeit so sehr am Herzen liegen, warum ist dieses
Programm dann nur Lyrik? Warum stellen Sie in der Wirt-
schaftspolitik, in der Sozialpolitik und in der Finanzpoli-
tik nicht die Weichen so, dass künftige Generationen
Chancen für eine gute Zukunft haben?
Sie betrachten Ihr jugendpolitisches Programm als
Querschnittsaufgabe. Das ist absolut richtig. Dann erwar-
ten wir von Ihnen aber auch, dass Sie Ihren Ressortkolle-
gen Druck im Hinblick auf eine generationengerechte Po-
litik machen, und zwar in allen Politikfeldern, Frau
Bergmann.
Lassen Sie mich noch ein anderes Beispiel nennen: In
Ihrem Programm treten Sie energisch für mehr Mitspra-
cherechte und Teilhabemöglichkeiten junger Menschen
ein. Sie sprechen in Ihrer Antwort auf die Große Anfrage
in diesem Zusammenhang sogar von prioritär. Auch das
unterstützen wir. Denn Jugendliche brauchen mehr Mit-
spracherechte in der Politik. Aber wie sieht die praktische
Umsetzung aus? Sie machen eine Kampagne Sie selbst
sprachen von einer bundesweiten Beteiligungswoche ,
laden 50 junge Menschen ein und die Bundesjustizminis-
terin unterhält sich mit Berliner Schülern über Konflikt-
lotsen. War es das? Teilhabe an politischen Entscheidun-
gen heißt etwas ganz anderes. Teilhabe heißt, dass wir
junge Menschen und ihre Anliegen ernst nehmen, dass wir
Projekte entwickeln, die Jugendliche stärker in die Politik
einbinden, und keine Experimente durchführen, wie Sie
es vorhin genannt haben.
Ich nenne als Beispiel Baden-Württemberg, wo es in
vielen Kommunen Kinder- und Jugendparlamente gibt,
wo junge Menschen sehr früh lernen, ihre wichtigen In-
teressen zu formulieren und durchzusetzen. Selbst der
Deutsche Bundestag veranstaltet regelmäßig Jugend und
Parlament. Die CDU wird auf ihrem Parteitag im De-
zember einen Jugendparteitag durchführen.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich die Wert-
schätzung des Bundeskanzlers in der Bezeichnung, die er
für Ihr Ministerium gebraucht hat, zeigt, nämlich:
Ministerium für Familie und Gedöns. Frau Bergmann, ich
kann Ihnen dazu nur eines sagen: Das würde ich mir nicht
bieten lassen. Das dürfen Sie sich im Interesse der jungen
Menschen bei uns in Deutschland nicht bieten lassen.
Alle Jugendstudien zeigen, dass sich junge Menschen
immer dann engagieren, wenn sie das Gefühl haben, sie
können mitbestimmen und etwas erreichen. Deshalb: Ma-
chen Sie mit der Beteiligung Ernst. Machen Sie keine
Kampagnen und politische Inszenierungen, sondern Kon-
zepte. Unterstützen Sie wirkliche Beteiligungsformen.
Dann werden junge Menschen in Deutschland wieder
Freude haben, Politik zu machen. Dann wird auch Julian,
den ich eingangs erwähnt habe, vielleicht Sie und Ihre Po-
litik wieder ernst nehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Redner ist
der Kollege Rolf Stöckel für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Frau Eichhorn, Sie haben angemahnt, die
moralische Basis und die Werte zu nennen, die der Kin-
der- und Jugendpolitik der rot-grünen Bundesregierung
zugrunde liegen. Auch wir hätten damals, als Sie die geis-
tig-moralische Wende zu Beginn Ihrer Regierungszeit an-
gekündigt hatten, gerne erfahren, was denn der Inhalt die-
ser geistig-moralischen Wende sein sollte. Die FDP, Herr
Haupt, hat in 29 Jahren Regierungsbeteiligung auch in
sozialliberalen Koalitionen jugendpolitische Initiativen
blockiert.
Wenn ich diese alle aufzählen wollte, dann würden meine
fünf Minuten Redezeit mit Sicherheit nicht ausreichen.
Ich will Ihnen sagen, welche Botschaft, die an die Kin-
der, Jugendlichen und Eltern gerichtet ist, sich durch das
Aktionsprogramm und die Antwort auf die Große Anfrage
durchzieht: Gleich welcher Herkunft und welchen Ge-
schlechts, in welcher Familienform auch immer lebend,
ob ehelich oder unehelich geboren, Kinder und Jugend-
liche sind die Zukunft des Landes und müssen beteiligt
werden.
Ferner: Ihr habt gleiche Rechte und Chancen, aber auch
soziale Pflichten. Ihr seid unserem Staat gleich viel wert.
Er bietet euch Schutz. Ihr sollt ohne Gewalt und in einer
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Ursula Heinen
19324
möglichst gesunden Umwelt aufwachsen. Ihr sollt bei al-
len kulturell angeeigneten Unterschieden, weil ihr per-
sönlich einzigartig seid, friedlich zusammenleben, Viel-
falt, Demokratie und Pluralismus als Reichtum begreifen
und unvermeidbare Konflikte friedlich lösen lernen.
Damit ihr die neuen Herausforderungen in einer sich im-
mer schneller wandelnden Welt bestehen könnt, tun wir
alles, um euch die bestmögliche Ausbildung zu ermög-
lichen. Allerdings gehören Risiken und Scheitern, Be-
hinderungen und Schwächen zum Leben. Aber diese Ge-
sellschaft lässt niemanden fallen. Sie lässt euch nicht am
Rande liegen.
Wir wissen partei- und fraktionsübergreifend, dass es
bei allen Bemühungen noch viel zu tun gibt, um diese
Botschaft für alle Kinder in diesem Land Wirklichkeit
werden zu lassen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist
aber, dass Kinder- und Jugendpolitik gemäß dem Kin-
der- und Jugendhilfegesetz als wichtige Querschnittsauf-
gabe auf allen politischen Ebenen im Bund, den Ländern
und Kommunen anerkannt und umgesetzt wird. Deshalb
begrüßen wir ausdrücklich, dass die Bundesregierung
die Ministerin hat dies in ihrer Erklärung untermauert
deutliche Zeichen gesetzt hat und in ihren Anstrengungen
selbst bei angespannter Haushaltslage auch in Zukunft
nicht nachlassen wird.
Dabei ist der Abbau der Staatsverschuldung und das, was
wir zukünftigen Generationen hinterlassen werden, nicht
minder wichtig. Wir sind überzeugt, dass Kinder Träger ei-
gener Rechte sind, orientiert an der UN-Kinder-
rechtekonvention, die die ganzheitliche Förderung, die Be-
teiligung der Kinder an Entscheidungen, die ihre Belange
betreffen, und den Schutz der Kinder als gleichrangige Ziele
einer umfassenden Kinder- und Jugendpolitik versteht.
Der mit der letzten Kindschaftsrechtsreform ein-
geschlagene Weg der Stärkung der Rechtsstellung des Kin-
des, des gemeinsamen Sorgerechts und der Berücksich-
tigung des Kindeswillens im Umgangsrecht wird
konsequent weitergegangen. Das Gesetz zur Ächtung der
Gewalt in der Erziehung und die Begleitkampagne Mehr
Respekt vor Kindern haben deutlich gemacht, dass wir
ernsthaft ein Klima erzeugen wollen, in dem Kinderfreund-
lichkeit ein konstitutives Merkmal der Gesellschaft wird.
Wir wollen die Eltern in ihrer Verantwortung und Er-
ziehung, die sie leisten, unterstützen und gemeinsam mit
Ländern, Kommunen, freien Trägern und Jugendverbän-
den Angebotsstrukturen schaffen, die den heutigen An-
forderungen an berufliche und familiäre Gleichstellung,
Mobilität, Flexiblität und Integration entsprechen. Erst
diese Regierung hat die Rahmenbedingungen mit dem
Teilzeitgesetz sowie mit den entsprechenden Verbesse-
rungen im Gesetz zum Erziehungsgeld und zur Elternzeit
geschaffen.
Es ist längst überfällig Herr Haupt hat darauf hinge-
wiesen , dass die Verbesserung der Angebote im Ele-
mentarbereich von null bis sechs Jahren sowie der
Horte, Kindergärten und bei der Ganztagsbetreuung
nicht nur im Sinne der Vereinbarkeit von Familie und Be-
ruf, sondern auch im Sinne der Erfüllung einer grundle-
genden Bildungsaufgabe der Gesellschaft verstanden
wird. In den ersten Lebensjahren werden die grundlegen-
den Rollen, Verhaltens- und Einstellungsmuster einge-
übt. Kompetenzen zur Lösung sozialer Konflikte werden
erlernt. Neugierde, Fantasie, Kreativität und Selbstbe-
wusstsein werden entwickelt oder auch nicht. Das, was in
dieser Phase versäumt wird, kann auch in Schulen, die
noch so viel Wissen einpauken, die wieder strenger und
ordentlicher werden sollen und die noch so viele Internet-
anschlüsse haben, kaum ausgebügelt werden.
Nachdem der Rechtsanspruch auf einen Kindergarten-
platz ab 3 Jahren unter großen Anstrengungen der Länder
und Gemeinden sowie unter unserer Mitarbeit während
Ihrer Regierungszeit verwirklicht wurde, gilt es jetzt
hier ist auch der Bund in der Pflicht , die nächste Qua-
litätsstufe zu erreichen.
Die Opposition macht es sich nach Jahren eigener Ver-
säumnisse zu leicht, wenn sie jetzt das ist populistisch
und völlig unrealistisch die Einführung eines Familien-
geldes von 1 200 DM pro Monat vorschlägt. Das war der
Vorschlag von Herrn Stoiber.
Im FDP-Antrag wird erst gar keine Zahl genannt. Ich
halte das schlicht für unseriös.
Die rot-grüne Regierungsmehrheit wird keine Ver-
sprechungen machen, die nicht einzuhalten sind.
Die Förderung der Familien und der Kinder steht weiter-
hin im Mittelpunkt unserer Regierungspolitik. Deshalb
bitte ich um Unterstützung für unseren Entschlie-
ßungsantrag. Wir werden uns von unserer Linie nicht ab-
bringen lassen. Darauf können sich die Familien und
Kinder verlassen.
Das Wort
hat nun die Kollegin Marlene Rupprecht für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Kolle-
ginnen und Kollegen! Es wurde sehr viel Blumiges und
Wolkenreiches gesagt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Rolf Stöckel
19325
Ich bin wie meine Ministerin der Ansicht, dass man kon-
krete Dinge vortragen muss. Das hat sie ebenso wie
meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der
SPD getan. Ich werde Ihnen zum Schluss meiner Rede
ein konkretes Projekt vorstellen.
Vorweg möchte ich Ihnen, Herr Dörflinger, sagen: In
der Tagesordnung wird auf unsere Große Anfrage, Druck-
sache 14/5284, und auf die Antwort der Bundesregierung,
Drucksache 14/6415, hingewiesen. Diese hätten Sie sich
anschauen müssen. Es wird auch auf das Jugendpro-
gramm verwiesen. Sie sollten sich die Tagesordnung beim
nächsten Mal genauer anschauen.
Ich möchte meinen Kollegen aus Bayern, die sich zum
Ehrenamt geäußert haben, sagen: Wir haben als Erstes die
Übungsleiterpauschale um 50 Prozent angehoben und den
Kreis der Berechtigten erweitert.
Wenn Sie über Bayern reden, dann muss ich Ihnen
sagen ich wohne seit 30 Jahren gern in Bayern : Sie
sollten einmal dafür sorgen, dass das Kinder- und Jugend-
hilfegesetz eines der guten Gesetze aus Ihrer Re-
gierungszeit tatsächlich umgesetzt wird und nicht in ir-
gendeiner Schublade bleibt. Die Umsetzung dieses
Gesetzes wäre dringend notwendig. Die Menschen rufen
danach.
Trotzdem ist sie bisher immer wieder gescheitert. Daran
sollten Sie arbeiten, anstatt hier überflüssige Reden zu
halten.
Im Jahr des Ehrenamtes ist es neben all dem, was schon
erwähnt worden ist, ganz selbstverständlich und nahe lie-
gend, dass wir die Freiwilligendienste an die modernen
Anforderungen anpassen.
Sie wissen: Seit vielen Jahren besteht für junge Men-
schen, die sich ganz bewußt für andere Menschen oder die
Umwelt einsetzen wollen, die Möglichkeit, ein so ge-
nanntes freiwilliges soziales Jahr, ein freiwilliges ökolo-
gisches Jahr oder einen Freiwilligendienst im europä-
ischen Ausland abzuleisten.
Junge Menschen können bisher zwischen dem 17. bzw.
dem 16. und dem 27. Lebensjahr einen freiwilligen Dienst
für zwölf Monate absolvieren. Sie erhalten dafür von den
Trägern ein Taschengeld, Unterkunft und Verpflegung;
also keine Entlohnung im eigentlichen Sinn.
Die eben von mir angesprochene Altersregelung in Be-
zug auf das 17. bzw. 16. Lebensjahr führte bisher dazu,
dass der Großteil der an den Programmen beteiligten Ju-
gendlichen fast ausschließlich Abiturientinnen und Abitu-
rienten sind. Junge Menschen mit Hauptschulabschluss
gibt es in den Freiwilligendiensten faktisch nicht. Ursache
dafür ist aber nicht ein Desinteresse an diesen Program-
men, sondern die bisher gesetzlich vorgeschriebene Min-
destaltersgrenze. Hauptschülerinnen und Hauptschüler
müssen eine zeitliche Lücke zwischen Schulpflicht und
Beginn des Freiwilligendienstes überbrücken. Deshalb
haben sie häufig solche Dienste nicht geleistet.
Unsere Reform erfüllt die Forderung, endlich auch et-
was für Hauptschülerinnen und Hauptschüler zu tun. Wir
eröffnen den Zugang zu den Freiwilligendiensten, in-
dem wir ihn nicht mehr an eine Altersgrenze binden, son-
dern im Gesetz die Regelung über die Altersgrenze durch
die Formulierung nach Erfüllung der Vollzeitschul-
pflicht ersetzen. Damit eröffnen wir Chancengleichheit
für alle Jugendlichen,
vor allem für diejenigen, die bisher kaum die Chance hat-
ten, solche Dienste leisten zu können. Das betrifft bei-
spielsweise benachteiligte Jugendliche oder Jugendliche
im Osten, die bisher selten ein solches Angebot wahrneh-
men konnten.
In all den Jahren wurden die Freiwilligendienste ent-
gegen der landläufigen Meinung, die Jugend wolle sich
gesellschaftlich nicht mehr engagieren stark nachge-
fragt. Seit 1993 hat sich die Zahl der Teilnehmerinnen und
Teilnehmer um 70 Prozent erhöht. Nach wie vor fragen
mehr junge Menschen Plätze nach als angeboten werden.
Das heißt: Wir können bisher nicht so viele Plätze anbie-
ten, wie benötigt werden.
Damit eine Erweiterung der Einsatzfelder und damit
eine Ausweitung des Platzangebotes erreicht werden
kann, können nun auch in Einrichtungen für außerschu-
lische Jugendbildung und Jugendarbeit Freiwilligen-
dienste abgeleistet werden. Darunter fallen zum Beispiel
Sport und Kultur. Ich habe heute Morgen festgestellt, dass
der Berliner Rundfunk aktueller ist als Sie. Er hat nämlich
bereits mitbekommen, was wir vorhaben. Er hat darüber
berichtet, dass die Berliner Theater für diesen Bereich der
Freiwilligendienste Plätze bereithalten. Ich finde das ganz
hervorragend.
Die bisherigen gesetzlichen Rahmenbedingungen se-
hen einen Einsatz im Inland und EU-Ausland vor. Wir se-
hen das als eine Einengung und haben deshalb die Frei-
willigendienste auf das Nicht-EU-Ausland ausgeweitet.
Das betrifft zum Beispiel Israel oder auch Australien. Bei
einem Besuch dort konnte ich feststellen, dass Freiwilli-
gendienste angeboten werden, die aber bisher nicht ange-
nommen werden konnten, weil es die rechtliche Lage
nicht zuließ. In Altersheimen, in denen Auswanderer un-
tergebracht sind, deren Muttersprache Deutsch ist und die
im Alter wieder auf ihre Muttersprache zurückgreifen,
wären junge deutsche Freiwillige ganz herzlich willkom-
men. Das war bisher nicht machbar, wird aber nach der
Gesetzesänderung machbar sein. Wir werden allerdings
einen obligatorischen Vorbereitungsdienst und eventuell
einen Sprachkurs einführen, da die Jugendlichen einen
Schutz brauchen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Marlene Rupprecht
19326
Im Inland wollen wir die Freiwilligendienste flexibili-
sieren, das heißt, der Dienst kann bis zu 18 Monaten aus-
gedehnt und in zeitlichen Abschnitten innerhalb eines
Zeitraums von 24 Monaten abgeleistet werden. Das ist das
Neue. Wir haben ebenfalls das ist eine Erweiterung für
das freiwillige soziale und für das freiwillige ökologische
Jahr ein Angebot für Zivildienstleistende geschaffen. Sie
können statt Zivildienst diesen Dienst leisten; das wird
angerechnet. Der Einsatz von Jugendlichen, die einen
Freiwilligendienst machen, im Zivildienst soll allerdings
nicht auf Kosten der bisherigen Plätze gehen, sondern es
sollen zusätzliche Plätze zur Verfügung gestellt werden.
Wir wissen: Rund 13 000 junge Menschen leisten jähr-
lich einen Freiwilligendienst. Dieser Freiwilligendienst
darf aber nicht zum Nachteil und zum Risiko der Jugend-
lichen und ihrer Eltern werden. Deshalb sind die Jugend-
lichen sozialversicherungsrechtlich abgesichert. Die
Eltern erhalten für die Kinder im In- und Ausland Kin-
dergeld. Mit ihrem Träger haben sie eine Vereinbarung zu
treffen, damit sie dann auch etwas vorweisen können. Es
muss schriftlich vereinbart werden, wie der Dienst ausge-
staltet ist. Am Ende des Dienstes werden sie das ist ganz
neu auf Verlangen ein Zeugnis bekommen, das ihre
berufliche Qualifikation bescheinigt.
Es ist unbestritten, dass freiwilliges soziales und öko-
logisches Engagement die persönliche Entwicklung der
teilnehmenden Jugendlichen fördert. Es kann ebenfalls
zur Berufsfindung und -orientierung beitragen. In einer
Welt, in der Verantwortungsbewusstsein, Offenheit und
Flexibilität zur Lebensbewältigung und auch zur Lebens-
qualität beitragen, kann ein freiwilliger Dienst, auch im
Ausland, die beste Schule fürs Leben sein.
Durch eine massive Ausweitung der Mittel realisieren
wir so einen wichtigen Baustein im jugendpolitischen
Programm. Wir hoffen, dass die Bundesländer ihren An-
teil an dieser Reform entsprechend umsetzen.
Damit, denke ich, haben wir einen wichtigen Teil erfüllt.
Wir haben nicht Luftblasen produziert, sondern konkrete
Schritte unternommen. Ich hätte mir gewünscht, auch Sie
hätten das getan. Wir haben ein Programm von 38 Seiten.
Das Programm Ihrer 16 Jahre hätte auf eine Seite gepasst.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Wer stimmt für
den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/7330
zu der Großen Anfrage? Gegenprobe! Enthaltungen?
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS ange-
nommen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 14/7299 zu der Großen Anfrage?
Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen
die Stimmen der FDP abgelehnt.
Zusatzpunkt 3. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 14/7275 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Das
Haus ist damit einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Bartholomäus Kalb, Heinz Seiffert,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zum Bürokratieabbau für kleine und mit-
telständische Betriebe
Drucksache 14/6633
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu dem Antrag der Abgeord-
neten Hansjürgen Doss, Peter Rauen, Ernst
Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Chancen des Mittelstandes in der globalisierten
Wirtschaft stärken
Drucksachen 14/5545, 14/6094
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Norbert Barthle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Steuerliche Gleichstellung des Mittelstands
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann
Otto Solms, Hildebrecht Braun ,
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Steuerliche Benachteiligung des Mittelstands
beseitigen
Drucksachen 14/5551, 14/5962, 14/6687
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Gerda Hasselfeldt
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses zu
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Marlene Rupprecht
19327
dem Antrag der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt,
Heinz Seiffert, Norbert Barthle, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU
Wiederherstellung des umfassenden Rechts auf
Vorsteuerabzug
Drucksachen 14/5223, 14/6448
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Heidemarie Ehlert
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu dem Antrag der Abgeord-
neten Dr. Ditmar Staffelt, Jelena Hoffmann
, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Werner Schulz , Michaele Hustedt,
Andrea Fischer , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Neue Mittelstandspolitik Motor für Beschäf-
tigung und Innovation
Drucksachen 14/5485, 14/5973
Berichterstattung:
Abgeordneter Hansjürgen Doss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Auch zu
diesem Vorschlag gibt es keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Dr. Hansjürgen Doss das Wort. Er spricht
für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident!
Meine lieben Kollegen! Diese Debatte steht im Schatten
der gravierenden Entscheidungen zur Weltpolitik, zur
Terrorismusbekämpfung und zum Militäreinsatz, die im
Hohen Hause zu treffen sind. Dabei ist die Lage unserer
Wirtschaft so ernst, dass sie meines Erachtens unsere un-
geteilte Aufmerksamkeit haben müsste. Wenn ich die Auf-
merksamkeit, die ich hier feststellen kann, zu bewerten
hätte, würde ich sagen: Daran können wir noch arbeiten,
nicht nur bei uns Abgeordneten so sage ich einmal
selbstkritisch ,
sondern auch auf der Regierungsbank, auf der nur die
Staatssekretärin Wolf sitzt.
Gut, weiter hinten sitzen noch mehr.
Die Wirtschaftsinstitute sagen uns, dass Deutschland
am Rande einer Rezession steht. Doch das ist noch nicht
genug: Die Regierungskoalition tut alles dafür, dass es
noch schlimmer kommt. Während in dieser schwierigen
weltwirtschaftlichen Lage überall die Steuern gesenkt
werden, werden bei uns ab dem 1. Januar 2002 Versiche-
rungsteuer, Tabaksteuer und Ökosteuer erhöht. Des Wei-
teren wird darüber spekuliert, die Vermögensteuer wieder
einzuführen. So wird man in Deutschland kein Wachstum
erreichen, sondern Attentismus herbeireden. Wirtschafts-
politik hat bekannterweise sehr viel mit Psychologie zu
tun.
Nachdem wir uns im Wirtschaftsausschuss gestern da-
rüber unterhalten hatten, dass wir auch in der Wirt-
schaftspolitik ein Stück zusammenrücken müssen, war
die darauf folgende Diskussion über Maßnahmen, Entlas-
tungen für den Mittelstand zu erreichen, ausgesprochen
ernüchternd. Unser diesbezüglicher Versuch ist an der
rot-grünen Mehrheit gescheitert. Statt für mehr Entlas-
tung zu sorgen, wurde für mehr Belastung gesorgt, und
das in einer für mich unerträglichen Form.
Frau Scheel, vielen Dank für Ihren Zwischenruf.
Finanzbeamte sollen in Zukunft ohne vorhergehende
Ankündigung und ohne Tatverdacht Unterlagen in Unter-
nehmen prüfen können.
Ich halte das für unerträglich.
Das erinnert mich an Stasi-Methoden und ist eines
Rechtsstaats nicht würdig. Das muss ich hier mit aller
Nachdrücklichkeit sagen.
Ein weiteres Beispiel: Unternehmen sollen für die
nicht abgeführte Umsatzsteuer ihrer Zulieferer in Haftung
genommen werden. Unglaublich! Das kann kein Mensch
überblicken, verantworten oder kontrollieren. Ehrliche
Unternehmer haften für die schwarzen Schafe, die es
selbstverständlich auch gibt.
Die Auszahlung der Vorsteuererstattung wird künftig
von Sicherheitsleistungen abhängig gemacht. Sie wissen
um die Eigenkapitalquote der mittelständischen Betriebe.
Zusätzliche Sicherheitsleistungen schränken die Liqui-
dität weiter ein. Das ist doch absurd. Ich weiß nicht, wie
man sich so etwas einfallen lassen kann.
Die Bundesregierung sieht im Unternehmertum in
Deutschland nach wie vor eine Art Selbstbedienungsla-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
19328
den, in dem man je nach Bedarf zugreift und den man un-
gestraft abzockt. Das ist unerträglich!
Die Ergebnisse, die sich in der Zwischenzeit eingestellt
haben, sind eindeutig.
Das rot-grüne Netzwerk der Regulierungen liegt wie
Mehltau auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt.
Ich erinnere noch einmal daran penetrant sein ist ganz
wichtig und gehört zum politischen Handwerkszeug ,
dass die Neuregelung der 630-Mark-Jobs einen flexiblen
Personaleinsatz nahezu unmöglich macht. Es handelt sich
um ein Schwarzarbeiterförderungsgesetz. Wie Sie alle
wissen, ist die Schwarzarbeit das Einzige, was in
Deutschland wächst. Mittlerweile werden 16 Prozent des
Bruttosozialprodukts durch Schwarzarbeit erwirtschaftet.
Unerträglich!
Das Gesetz gegen die so genannte Scheinselbststän-
digkeit ist ein Selbstständigkeitsverhinderungsgesetz.
Die Ökosteuer ist eine Mittelstandssondersteuer. Der
Rechtsanspruch auf Teilzeit macht die Personalplanung in
mittelständischen Unternehmen nahezu unmöglich. Der
Attentismus, den das neue Betriebsverfassungsgesetz er-
zeugt hat, ist für den Mittelstand katastrophal. Es schafft
Kosten, Bürokratie sowie Fremdbestimmung und es de-
motiviert die Unternehmen.
Mit der Steuerreform wurden die großen Kapitalge-
sellschaften einseitig entlastet, während der Mittelstand
auf 2005 vertröstet wurde. Das Versprechen, die Lohnzu-
satzkosten zu senken, wurde bekanntermaßen nicht ein-
gehalten.
Die verheerende Folge rot-grüner Politik für den Mittel-
stand ist, dass die Kosten der Betriebe gestiegen sind und
weiter steigen. Der Umfang der Bürokratie eskaliert und
die Handlungsspielräume der Mittelständler werden im-
mer enger. Die Kapitalbeschaffung wird gleichzeitig im-
mer schwieriger. Zudem steht Basel II als weiteres Unge-
mach am Firmament.
Wir wollen Sie nur ermutigen. Folgen Sie unseren Vor-
schlägen und schon geht es in Deutschland aufwärts.
Vielen Dank für Ihren Hinweis!
Die Konkurrenz durch Staatsbetriebe, ABM und
Schwarzarbeit ist unerträglich.
Im Übrigen haben Sie Recht, wenn Sie darauf hinwei-
sen, dass sich der Bundeskanzler in dieser Form eingelas-
sen hat. Auch ich finde das gut. Das ist einer der wenigen
Punkte, die wir positiv zur Kenntnis nehmen können.
Wir stellen fest, dass sich die Konjunktur im Sturzflug
befindet. Meines Erachtens müsste deswegen das Plenum
voll und die Regierungsbank besetzt sein; schließlich geht
es hier um die nationale Wirtschaft. Bekanntermaßen ist
ohne eine funktionierende Wirtschaft alles nichts. Ich
halte auch die Aufmerksamkeit ich habe das schon ein-
mal erwähnt vonseiten der Bundesregierung hier für
nicht überwältigend.
Die Konkursraten nehmen drastisch zu. Hartmut
Schauerte wird darauf noch eingehen. Im ersten Halbjahr
wurde ein Plus von 18 Prozent verzeichnet. Banken und
Großindustrie überbieten sich bei Entlassungen von Mit-
arbeitern. Im Mittelstand herrschen praktisch Einstel-
lungsstopp und Existenzangst. Deutschland ist das
Wachstumsschlusslicht in Europa. Die Arbeitslosenzahl
steigt und erreicht bald die 4-Millionen-Grenze. Das darf
nicht unter den Teppich der augenblicklichen Situation
gekehrt werden, das muss uns elektrisieren. Die Steuer-
einnahmen gehen dramatisch zurück, den Sozialversiche-
rungen fehlen Milliardenbeträge und die Gewerkschaften
haben bereits hohe Lohnforderungen angedroht. Wenn
diese höheren Löhne noch dazukommen, dann gnade uns
Gott.
Diese wirtschaftliche Misere lässt sich auf den Punkt
bringen: Die Arbeitnehmer verdienen netto zu wenig und
kosten brutto zu viel. Unsere Betriebe ächzen unter der
hohen Steuer- und Abgabenlast. Deswegen fordern wir:
Runter mit dem Einkommensteuerspitzensatz auf weniger
als 40 Prozent! Weg mit der Ökosteuer! Sie wirkt sich ver-
heerend aus, ist schlecht und bekanntermaßen eine Ar-
beitsplatzvernichtungsteuer.
Stattdessen sollten nachhaltige Reformen unserer sozia-
len Sicherungssysteme durchgeführt werden, damit die
Sozialversicherungsbeiträge endlich unter 40 Prozent sin-
ken.
Meine Damen, meine Herren, die Investitionen im
Bundeshaushalt Sie wissen das bewegen sich auf ein
Nachkriegsrekordtief zu. Die deutsche Bauwirtschaft
muss diese Politik mit einem schmerzhaften Schrump-
fungsprozess und einem massiven Beschäftigungsabbau
bezahlen. Sie wissen alle: In den letzten fünf Jahren ging
die Zahl der dort Beschäftigten von 1,4 Millionen auf
940 000 zurück. Der Abwärtstrend ist ungebrochen. Wir
fordern deshalb mehr Finanzmittel für den beschleunigten
Ausbau von Straßen, Schienenwegen und kommunaler
Infrastruktur.
Es gibt ein paar Ankündigungen, das finde ich auch gut.
Ich hoffe nur, dass sie am Ende dann auch eingehalten
werden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Hansjürgen Doss
19329
Die Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung
dient einzig und allein der Verschleierung der Arbeitslo-
sigkeit. Sie ist mit erheblichen Wettbewerbsverzerrungen
zulasten mittelständischer Betriebe verbunden. Wir
fordern deshalb: Der Wildwuchs bei den Arbeitsbe-
schaffungsmaßnahmen muss endlich beseitigt werden.
Sonst kann mittelständisches Gewerbe keine Steuerkraft
entwickeln und nicht erfolgreich wirtschaften. Wir for-
dern ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren und die
Reduzierung von bürokratischen Auflagen.
Ich will ein paar Beispiele nennen: Zur Neuregelung
der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse hat das
Arbeitsministerium einen Leitfaden herausgegeben, der
50 Seiten umfasst und 19 verschiedene Fallgestaltungen
aufführt.
Statistisch gesehen muss jeder Handwerksbetrieb im
Jahr durchschnittlich 324 Stunden für Hand- und Spann-
dienste aufwenden, das sind 40,5 Arbeitstage je Be-
schäftigten. Jeder Handwerksbetrieb wird durch solche
administrative Leistungen pro Jahr mit über 31 000 DM
belastet. Anders als die Großkonzerne verfügen mittel-
ständische Betriebe über keine Stabsabteilungen, die
sich durch diesen Wust an bürokratischen Vorschriften
wühlen können.
In dieser Lage ist die Metapher des Bundeskanzlers
von der ruhigen Hand verfehlt. Investoren und Verbrau-
cher brauchen Signale, die den Weg nach vorne weisen.
Jedes weitere Zögern würde der Wirtschaft und dem Mit-
telstand teuer zu stehen kommen. Wir brauchen eine kon-
zertierte Offensive für den Mittelstand. Rot-grüne Brems-
klötze müssen aus dem Weg geräumt werden. Nicht die
ruhige Hand von Herrn Schröder, sondern energisches
Zupacken ist gefragt.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Machen Sie
es so, wie wir vorschlagen, und es geht mit uns aufwärts.
Für die
SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Jelena Hoffmann.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
muss gestehen, dass es mir schwer fällt, nach der Diskus-
sion von heute früh zur Tagesordnung überzugehen. Wir
müssen heute trotzdem den wichtigen Themenbereich
Mittelstand beraten.
Die rund 3,3 Millionen mittelständischen Unterneh-
men und Selbstständigen bilden das Herzstück der deut-
schen Wirtschaft. Wenn man über Wirtschaft in Deutsch-
land spricht, wird man immer über den Mittelstand spre-
chen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
wenn Sie unsere Mittelstandspolitik, Herr Hinsken, ohne
parteipolitische Vorurteile betrachten, werden Sie zuge-
ben müssen, dass die Bundesregierung eine breite
Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen an-
bietet
und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mittel-
standsfreundlich gestaltet.
Nehmen Sie das Aktionsprogramm Mittelstand der
Bundesregierung. Darin werden zentrale Themen eines
konkurrenzfähigen Mittelstandes aufgegriffen: Innovati-
onsfähigkeit, die Aus- und Weiterbildung, das Gründer-
klima sowie die Exportfähigkeit der Unternehmen.
Die Innovationsfähigkeit unseres Mittelstandes
braucht Forschung und Entwicklung auf höchstem Ni-
veau. Viele kleine und mittlere Unternehmen können aber
selber nicht immer entsprechende Entwicklungskapazitä-
ten aufbringen. Deshalb unterstützen wir die Kooperation
und Vernetzung zwischen Unternehmen und Forschungs-
einrichtungen. Im vorigen Jahr haben rund 1 650 KMUs
davon profitiert. Die Modernisierung der Bereiche Aus-
und Weiterbildung ist durch die Reform von 54 Ausbil-
dungsverordnungen sowie der Meisterprüfung in Gang
gesetzt worden. Zusätzlich wurden 18 neue Ausbildungs-
berufe geschaffen, die die Wirtschaft dringend braucht.
Eine absolute Notwendigkeit in Deutschland ist es, ein
gutes Geschäftsklima und Gründungsklima zu stärken.
Impulse dafür erwarten wir von der Errichtung von Exis-
tenzgründerlehrstühlen und der Förderung von Existenz-
gründungen. Auslandsmesseförderung und Hermesbürg-
schaften, die vernünftige Kreditfinanzierung auch im
Rahmen der Basel-II-Entscheidungen und die Verringe-
rung der Steuern- und Abgabenlast sind wichtige Maß-
nahmen zur Stärkung unseres Mittelstandes.
Oder zum Beispiel die Steuerreform und die Unter-
nehmensteuerreform: Wir entlasten den Mittelstand bis
zum Jahr 2005 um netto 30 Milliarden DM.
Das brauchen Sie nicht zu glauben, Frau Kollegin, das
sind Tatsachen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Hansjürgen Doss
19330
Die Gesamtheit der Steuerzahler behält circa 96 Milliar-
den DM in der Tasche. Hinzu kommen Erleichterungen
durch die zweite Stufe des Familienleistungsausgleichs.
Ich weiß, dass ein Teil dieser Entlastungen durch die hohe
Inflationsrate von Anfang bis Mitte dieses Jahres aufge-
braucht wurde und dass die Sparquote in Deutschland
wächst. Und doch kann man die Augen nicht vor der Tat-
sache verschließen, dass die Steuerentlastungsmaßnah-
men die Kaufkraft der Bevölkerung stärken. Dies wie-
derum dient dem Mittelstand und kräftigt die
Binnenkonjunktur, die in den letzten Jahrzehnten ver-
nachlässigt wurde.
Das ist vor allem in Ostdeutschland nicht zu unterschät-
zen, da die Exportaktivität nicht immer zu den Stärken der
ostdeutschen Unternehmen gehört. Kleine Unternehmen
und Handwerker agieren meist regional und sind in einer
besonderen Weise auf die einheimische Kaufkraft ange-
wiesen.
Wir haben auch den schwierigen, aber bitter notwendi-
gen Prozess der Haushaltskonsolidierung konsequent
eingeleitet. Ohne die Sanierung des Staatshaushaltes
würde uns in der Zukunft das Geld für mehr Existenz-
gründungen, für Forschung und Entwicklung, für Bildung
und für andere notwendige Maßnahmen gerade für kleine
und mittlere Unternehmen fehlen.
Es ist zwar Ihr gutes Recht, sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen von der Opposition, noch mehr Entlastun-
gen für die Wirtschaft von uns zu fordern, etwa das Vor-
ziehen der Steuerreform. Ich bitte Sie aber: Fassen Sie
sich erst einmal an die eigene Nase und fragen Sie sich
selbst, um wie viele Milliarden Sie den Mittelstand ent-
lastet haben, als Sie an der Regierung waren.
Weiterhin möchte ich, dass Sie sich fragen, womit
mehr positive Impulse für die Wirtschaft zu erreichen
sind: mit einer schnelleren steuerlichen Entlastung um
weitere knapp 13 Milliarden DM oder mit gezielten, lang-
fristig wirkenden Investitionen in die Zukunft des Mittel-
standes?
Für beides reicht leider das Geld nicht aus, da Sie uns ei-
nen riesigen Schuldenberg hinterlassen haben.
Meine verehrten Damen und Herren der CDU/CSU-
Fraktion, in Ihrem Antrag über die Chancen des Mittel-
standes in einer globalisierten Welt fordern Sie die Bun-
desregierung auf, einige Maßnahmen zur Entbüro-
kratisierung zu überprüfen. Zu diesem Thema ist der
Antrag der Opposition das muss ich deutlich sagen
sehr dünn geraten. Denn das, was Sie fordern, ist ja schon
längst im Prozess der Umsetzung.
Im März dieses Jahres hat die Bundesregierung den
Bericht über den Stand der Initiative Abbau bürokrati-
scher Hemmnisse vorgestellt. Über 80 Maßnahmen das
können Sie in dem Bericht nachlesen sind bereits um-
gesetzt oder in Vorbereitung. Ich gebe zu: Noch sind es
keine großen Sprünge, eher kleinere Notwendigkeiten,
die das Leben eines Unternehmers erleichtern. Darunter
befinden sich: die Vereinfachung und Angleichung von
Formularen und Statistiken, die Vereinheitlichung von
Verdienstbescheinigungen, die Überprüfung der Gewer-
beordnung und anderer Verordnungen, eine Datenbank
für Existenzgründer oder eine einheitliche Wirtschafts-
nummer.
Aber ich erzähle Ihnen ja nichts Neues, liebe Opposi-
tionskolleginnen und -kollegen. Auch unter Ihrer Regie-
rung hat die so genannte Waffenschmidt-Kommission
Empfehlungen zum Abbau von Bürokratie erarbeitet.
Doch weiter als zur Herausgabe einer Broschüre im Jahre
1994 sind Sie nicht gekommen, obwohl Sie noch vier
Jahre regieren konnten.
Das stimmt; aber es waren auch einige positive Dinge
enthalten. Vielleicht liegt es daran, dass Sie sich sonn-
tags in Ihren Reden vor den Verbänden in den Wahlkrei-
sen weniger Bürokratie wünschen, aber montags im Bun-
destag die Interessen der einzelnen Branchen oder
Handwerker vertreten und mehr Regulierungen fordern.
Unsere Regierung hat ihre Energie in die praktische Um-
setzung investiert.
Jetzt möchte ich ein Thema ansprechen, das für die Zu-
kunft des Mittelstandes besonders wichtig ist: die Durch-
führung des Generationswechsels. Dazu machen Sie in
Ihrem Antrag keinen konkreten Vorschlag, obwohl von
der Frage, wie die Nachfolge geregelt werden soll, jedes
Jahr fast 80 000 Unternehmen und damit fast 1 Million
Arbeitsplätze betroffen sind. Heute sind fast 35 Prozent
der Unternehmerinnen und Unternehmer zwischen 50
und 60 Jahre alt. Aber über die Frage der Nachfolgerege-
lung wird wenig diskutiert. So kommt es dazu, dass jedes
Jahr etwa 6 000 Unternehmen stillgelegt werden. Das
Bundeswirtschaftsministerium hat zusammen mit Ver-
bänden, Vertretern der Wirtschaft, des Kreditwesens und
der freien Berufe die Kampagne nexxt ins Leben geru-
fen und einen One-Stop-Shop eingerichtet. Planungshil-
fen und Beratungen stehen schnell und unkompliziert im
Internet zur Verfügung.
Die Anhebung des Freibetrages bei Betriebsveräuße-
rungen von 60 000 auf 100 000 DM und die Wiederein-
führung des halben Steuersatzes beim Verkauf des Be-
triebes ab dem 55. Lebensjahr sind vernünftige Elemente
für den Prozess der Übernahme eines Unternehmens, wo-
bei ich allerdings gestehen muss, dass unsere Finanzspe-
zialisten lieber eine andere Lösung herbeigeführt hätten.
Sie sehen, dass wir vieles tun. Wir helfen, wo es geht. Wir
können aber nur unterstützen und nicht die Initiative der
Unternehmen ersetzen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Jelena Hoffmann
19331
Damit komme ich zu meinem letzten Thema: die Er-
weiterung der Europäischen Union. Dieses Thema liegt
mir als ostdeutsche Abgeordnete besonders am Herzen,
weil ich aus einer Region komme, die 60 Kilometer von
der tschechischen Grenze entfernt ist. Während wir hier in
Berlin mehr über die Chancen der EU-Osterweiterung
sprechen, wird an der Grenze über Risiken diskutiert.
Deshalb ist es wichtig, dass die Bundesregierung darauf
besteht, dass die Übergangsfristen zustande kommen und
flexibel gestaltet werden. Wir haben dafür gesorgt, dass
die EU-Kommission ein Programm zur Stärkung der
Grenzregionen auflegt, und wir haben die Investitionszu-
lage für diese Regionen erhöht.
Unternehmen in den neuen Bundesländern haben gute
Voraussetzungen für den Handel mit Osteuropa. Kurze
Wege, die hohe Qualität der Leistungen, traditionell gute
Kontakte zu den osteuropäischen Standorten und Länder-
kenntnisse verschaffen unseren ostdeutschen Unterneh-
men einen guten Vorsprung. Kleine und mittlere Unter-
nehmen können hier ihre Chancen nutzen und wir werden
sie auf diesem Weg begleiten.
Vielen Dank.
Ich erteile
dem Kollegen Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Es ist höchste Zeit, dass wir uns im Bun-
destag Zeit nehmen, über die Situation im deutschen
Mittelstand zu reden. Vergegenwärtigen Sie sich die Zei-
tungen von gestern oder heute. Die Süddeutsche Zei-
tung, die ja der Regierung nicht gerade böse gesonnen
ist, sondern in der Grün-Rot gut behandelt wird, schreibt
vom Abschwungkanzler; in der FAZ ist die Rede vom
Schlusslicht in der europäischen Entwicklung und der
Bundesbankpräsident, Herr Welteke das ist keiner von
uns, sondern ein Sozi, ein langjähriger aktiver Sozialde-
mokrat , schildert in der FAZ in düsteren Farben die
Entwicklung und die Situation. Sie können doch nicht
länger die Opposition beschimpfen, wenn sie die Wahr-
heit sagt.
Der Mittelstand ist das Rückgrat der Entwicklung in
unserem Land. Im Mittelstand sind zwei Drittel der
Arbeitsplätze, 80 Prozent der Ausbildungsplätze und über
die Hälfte der gesamten Wertschöpfung Deutschlands. Ich
habe nie verstanden, weshalb Grün-Rot den Mittelstand
so schlecht behandelt
mit einer Schieflage in der Steuerreform, nach der Groß-
konzerne sofort die volle Entlastung bekommen und der
Mittelstand sie erst in Raten bis 2005 bekommt.
Wir haben eine Schieflage bei der Veräußerung von
Unternehmensbeteiligungen und viele andere Punkte
mehr. Die SPD sprach einmal von ihrem Eigenanspruch
für soziale Gerechtigkeit. Was ist da sozial, was ist ge-
recht, wenn die Großkonzerne bevorzugt werden und der
Mittelstand diskriminiert wird?
Sie haben ein schlechtes Gewissen.
Deshalb haben Sie jetzt die Reinvestitionsrücklage auf
den Weg gebracht. Da dachte ich: Hoppla, die machen we-
nigstens mal ein Stückchen Ausgleich. Aber was Sie
jetzt auf den Weg gebracht haben, ist eine Witznummer.
Ich nenne die 50 000 Euro, die gestern im Wirtschafts-
ausschuss beschlossen wurden. Alle sozialdemokrati-
schen Mitglieder und alle grünen Mitglieder haben ge-
meinsam mit den anderen die Auffassung vertreten, dass
der Ansatz in keiner Weise richtig ist, sondern dass 1 Mil-
lion DM angemessen wäre, um hier überhaupt eine Wir-
kung zu erzielen.
Sie haben wider besseres Wissen Ihrer Fachleute und Ih-
rer Wirtschaftspolitiker Unsinn beschlossen, um ein biss-
chen Kosmetik in die Landschaft zu schmieren. Ihr
schlechtes Gewissen muss bleiben, weil Sie hier keine
Verbesserungen für den Mittelstand auf den Weg bringen.
Sie müssen die schon beschlossenen nächsten Schritte der
steuerlichen Entlastung vorziehen,
damit sie schneller wirken, damit die Konjunktur nicht
völlig abschmiert. Wir gehen doch auf ein Nullwachstum
zu und möglicherweise in die Rezession hinein. Ich
glaube nicht, dass das, was bisher auf den Weg gebracht
worden ist, hilft, das zu vermeiden.
Langfristig müssen darüber hinaus Steuern weiter ge-
senkt werden. Vor allen Dingen muss das Steuersystem
vereinfacht werden. Sie haben überhaupt nichts verein-
facht.
Alles ist komplizierter geworden. Das ist gerade für den
Mittelstand besonders schlimm. Wir haben ein klares, ein-
faches Steuermodell: 15, 25 und 35 Prozent und Schluss
damit.
Die Grünen haben im Bundestag die Maske fallen las-
sen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Jelena Hoffmann
19332
Der Obergrüne, Herr Joseph Fischer, hat hier das Ende des
Niedrigsteuerstaats verkündet.
Also will er einen Hochsteuerstaat.
Dann kommt Rezzo Schlauch, hechelt hinterher und ver-
kündet das Ende des Minimalstaats. Ich weiß nicht, in
welchem Land der lebt. Wir haben rund 50 Prozent Staats-
anteil in Deutschland. Wollen Sie wieder 70 Prozent oder
wollen Sie eine totale Staatswirtschaft in Deutschland?
Dann kommt noch Herr Bsirske, ein Grüner, Vorsitzender
der ÖTV, jetzt von der Gewerkschaft Verdi, die nach dem
Zusammenschluss ständig Mitglieder verliert. Der will
die Vermögensteuer wieder einführen. Das ist doch klar
die Marschrichtung grüner Politik. Herr Fischer sagt:
Ende des Niedrigsteuerstaats, Herr Schlauch sagt:
Ende des Minimalstaats und Herr Bsirske, ein Grüner,
fordert die Einführung der Vermögenssteuer.
Das ist ein tolles Programm. Da wird klar, was Grüne wol-
len: Mehrbelastung, höhere Steuern, mehr Staat, mehr
Staatseinfluss. Das ist genau die falsche Richtung. So sen-
ken wir in Deutschland die Arbeitslosigkeit nie. So errei-
chen wir auch nie einen Fortschritt in der Wachstumsdy-
namik.
Hier liegen Sie absolut falsch.
Hören Sie lieber zu und denken Sie nach. Sie sollten ein-
mal ernst nehmen, was die Menschen denken. Die Ar-
beitslosigkeit steigt in diesem Jahr von Monat zu Monat.
Die Sachverständigen sagen vorher, dass die Arbeitslosig-
keit im Winter eine Höhe von 4,3 Millionen erreichen wird.
Sie müssen die Menschen, die mit ihren Familien draußen
stehen und Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes haben,
ernst nehmen. Aber für die tun Sie nichts; darüber gehen Sie
arrogant hinweg. Genau dies ist die Situation.
Auch die grünen Feigenblätter, Frau Scheel und Herr
Metzger, laufen immer, wenn Unsinn beschlossen wird,
draußen herum und sprechen von Steuersenkungen und Ver-
einfachungen. Herr Metzger sprach erst jetzt wieder von
dem bürokratischen Monster der 630-DM-Verträge. Aber
sie sind Unsinn. All diejenigen, die draußen lautstark Kritik
üben, haben hier in diesem Hause die Hand gehoben und zu-
gestimmt. Es ist unaufrichtige Politik, so vorzugehen.
Die nächste Chance, die Steuern zu erhöhen, werden
die Grünen morgen haben. Morgen werden die Erhöhun-
gen der Tabak- und der Versicherungsteuer beschlos-
sen. Dies ist ein weiterer Schritt in der Strategie der Grü-
nen hin zu Nullwachstum. Bald werden sie ihr Ziel er-
reicht haben.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, dass alle Berei-
che falsch strukturiert sind. Ein Beispiel ist die Öko-
steuer: In Deutschland bezahlen wir die Rentenversiche-
rungsbeiträge an der Tankstelle. Wer jetzt weniger Auto
fährt, gefährdet die Sozialkassen.
Die Schlussfolgerung daraus ist: Rasen für die Rente.
Ein anderes Beispiel ist die Raucherbesteuerung nach
der Devise Sicherheit durch Tabak. Wer jetzt weniger
raucht Frau Fischer, unsere ehemalige Gesundheitsmi-
nisterin, raucht ja Gott sei Dank viel , gefährdet damit die
Sicherheit.
Wahrscheinlich werden Sie bald entdecken, dass Sie jah-
relang sträflich den Zivilschutz vernachlässigt haben.
Vielleicht kann man ja auch noch das Trinken besteuern.
Dann müssen wir noch saufen für die zivile Sicherheit
in diesem Lande.
Das nenne ich ein wirklich rundes Konzept für mehr
Arbeitsplätze in Deutschland!
Ausschlaggebend ist, dass Sie es geschafft haben, das
Klima für den Mittelstand in diesem Land ganz entschei-
dend kaputt zu machen.
Die Unternehmer haben einfach keine Lust und Freude
mehr daran, Unternehmer zu sein, wenn sie mit dem Ver-
dacht, sie würden Umsatzsteuer hinterziehen, politisch
kriminalisiert werden, wenn sie eine Zwangsteilzeit auf-
erlegt bekommen, wenn sie nicht nur mit ihren Mitarbei-
tern, sondern auch mit den Gewerkschaftsfunktionären
sprechen müssen und wenn sie als Scheinselbstständige
eingestuft werden.
Dadurch haben Sie ein Klima geschaffen, das exakt
dazu führt, dass im Mittelstand große Schwierigkeiten be-
stehen. Aber er ist der Hoffnungsträger für Arbeitsplätze
in Deutschland. Die Großkonzerne haben schon Stellen-
streichungen angekündigt: Siemens in der Größenord-
nung von 17 000, die Post von 5 000 und die Hypo-Ver-
einsbank von 9 000.
Ja, aber so ist es. Wir sind für die Mittelständler und die
kleinen Leute. Die Hilfeschreie des Mittelstandes über-
hören Sie geflissentlich.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Rainer Brüderle
19333
Wenn das Handwerk heute verkündet AP hat es gemel-
det , dass 200 000 Arbeitsplätze im Mittelstand akut ge-
fährdet sind,
dann müssten bei Ihnen alle Alarmglocken schrillen, so-
dass Sie eine Trendumkehr vornehmen. Weil Sie dies
nicht tun, ist die Situation so, dass wir mit unserem Null-
wachstum das Schlusslicht in Europa sind.
Kein Land der Europäischen Union ist hinsichtlich seiner
Wachstumsrate in einer schlechteren Situation als
Deutschland. Dies ist das Ergebnis Ihrer Politik. Ich bin
sicher, dass Werner Schulz, wenn er später spricht, wieder
als Hofsänger von Rot-Grün verkünden wird, dass wir das
Land nicht schlecht reden sollen. Aber irgendwann müs-
sen Sie die Wahrheit einmal hören, damit Sie vielleicht
nachdenken und ihre Politik verändern.
Entscheidend ist, dass der Mittelstand durch dieses
Klima und solch eine Stimmung extrem behindert wird.
Denn Mittelstand ist auch eine Geisteshaltung, die Geis-
teshaltung, sich etwas zuzutrauen, etwas anzupacken und
Hand anzulegen, statt die Hand aufzuhalten.
Sie haben den Arbeitsmarkt nicht flexibilisiert. Es
rächt sich fatal, dass Sie in diesem Bereich nichts getan
haben. Die bescheidenen Reformen der alten Regierung
sie hätte mehr tun müssen haben Sie als Erstes aufge-
hoben.
Jetzt wundern Sie sich, dass es mit dem Arbeitsmarkt
nicht aufwärts geht. Die Zahl von 4,3 Millionen Arbeits-
losen ist eine dramatische Zahl. Leider müssen wir noch
so manches befürchten. Denn die Folgen des 11. Septem-
ber sind in die aktuellen Konjunkturdaten noch gar nicht
mit eingegangen.
Frau Fischers Gesundheitspolitik ist gescheitert. Da-
raufhin ist sie geschasst worden. Auch in dem Bereich der
Gesundheitsreform tun Sie nichts mehr, weil Sie Angst
haben, den Bürgern vor der Wahl die Wahrheit zu sagen
und die möglichen Lösungen umzusetzen, damit wir vo-
rankommen.
Ich möchte Ihnen noch einen konkreten Vorschlag für
den Fall, dass Sie die Arbeitslosenversicherung re-
formieren, mit auf den Weg geben: In die Arbeitslosen-
versicherung haben Sie sehr viel hineingepackt. Die
Fremdlasten der Arbeitslosenversicherung betragen rund
25 Milliarden DM. Reduzieren Sie die Arbeitslosenversi-
cherung wieder auf eine Versicherung gegen Einkom-
mensausfall durch die wirtschaftliche Entwicklung. Dann
können Sie den Beitrag sogar um zwei Punkte senken.
Aber senken Sie ihn doch wenigstens um einen Punkt, da-
mit die Differenz zwischen Brutto und Netto geringer
wird, damit die Anreize zur Schwarzarbeit in diesem Land
geringer werden und damit die Lohnnebenkosten in die-
sem Land wenigstens ein bisschen gedämpft werden.
Sie kommen ja nicht unter 40 Prozent, wie Sie verkündet
haben, sondern marschieren im Eilschritt auf 43 Prozent
zu. Das ist natürlich auch ein Faktor, der die Neigung des
Mittelstandes, Neueinstellungen vorzunehmen und neue
Arbeitsplätze zu schaffen, sehr erhöhen wird.
Sie haben gerade im Bereich des Mittelstandes noch
die Chance, durch schnelles Handeln die Weichen anders
zu stellen; wenn Sie nichts tun, wird es weiter so laufen
wie bisher. Die Arbeitslosigkeit wird weiter von Monat zu
Monat steigen. Sie zerstören das Klima in einem Sektor,
der für die gesellschaftliche Stabilität im Land entschei-
dend ist. Der Mittelstand ist nicht nur Beschreibung klei-
ner und mittlerer Unternehmen, sondern er ist der Anker
in unserer Gesellschaft.
Mittelständler sind Menschen, die mit ihrem Vermö-
gen, mit ihrem Eigentum voll für ihre Entscheidungen
einstehen, anders als Funktionäre, die im Extremfall ihren
Arbeitsplatz verlieren und eine Abfindung bekommen,
Das sind Leute, die ihr komplettes Eigentum verlieren
können, wenn sie Fehlentscheidungen treffen.
Deshalb ist es besonders wichtig, die Qualität von Ent-
scheidungen im Mittelstand in unserem Land zu erhalten.
Deshalb ist eine gute Mittelstandspolitik auch eine gute
Beschäftigungs- und eine gute Wachstumspolitik. Wer
dem Mittelstand faire Chancen gibt, gibt auch der Wirt-
schaft faire Chancen für ihre Entwicklung. Noch haben
Sie Zeit, das Allerschlimmste zu verhindern. Das gelingt
nicht, wenn Sie weiter uneinsichtig den Mittelstand kne-
beln, ihn behindern, statt ihm Freiraum zu geben, wenn
Sie ihn mit noch mehr Bürokratie belasten. Diejenigen,
die in diesem Land etwas machen wollen, bekommen ge-
radezu bürokratische Handschellen angelegt.
Sie können mitschreiben, damit Sie es verstehen. Ich
weiß, der erste Versuch kommt bei Ihnen nicht an, aber
Sie haben die Chance, die Rede nachzulesen. Beim drit-
ten Mal werden Sie vielleicht die Kernpunkte erkennen.
Deshalb ist es gut, dass es Protokolle gibt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Rainer Brüderle
19334
Entscheidend ist die Weichenstellung für den Mittel-
stand. Hierin liegt die einzige Chance, die weitere ver-
heerende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt abzuwen-
den.
Es ist klar, dass Sie von der PDS da nicht mitkommen.
Sie träumen immer noch vom Staatssozialismus. Er ist
schon gegen die Wand gefahren. Aber Sie haben jetzt neue
Verbündete, die offenbar Ihre früheren Fehler wiederho-
len wollen.
Vielen Dank.
Ich gebe
nunmehr der Parlamentarischen Staatssekretärin beim
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, der Kol-
legin Margareta Wolf, das Wort.
M
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man muss sich
als Parlamentarier bisweilen die Frage stellen, mit wem
Herr Brüderle überhaupt spricht, wenn er in diesem Ho-
hen Haus eine Rede hält und vorgibt, mit uns zu sprechen.
Ich kann mich nicht erinnern, von Herrn Brüderle in den
letzten zweieinhalb Jahren schon einmal eine andere Rede
gehört zu haben.
Herr Brüderle, vielleicht sollten Sie sich einmal bei den
Verbänden und beim Mittelstand erkundigen, wie die Ihre
platten Schönwetterreden finden. In ihnen ist kein Kon-
zept enthalten.
Vielleicht sollten Sie sich dort auch einmal erkundigen,
was sie von Ihrer Regierungsfähigkeit halten.
Es gab nie so hohe Steuern in Deutschland wie unter
Schwarz-Gelb Ihre Partei hat meistens den Wirtschafts-
minister gestellt , es gab nie eine so hohe Haushaltsver-
schuldung wie unter einem FDP-Wirtschaftsminister, es
gab auch nie so hohe Lohnnebenkosten.
Das, was Sie hier gerade wieder abgeliefert haben, spricht
auch nicht dafür, dass Sie etwas hinzugelernt hätten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie
mir zu Beginn meines Beitrages, den Wirtschaftsminister
zu entschuldigen. Er hätte gern an dieser Debatte teilge-
nommen, liegt aber mit einer sehr schmerzhaften Krank-
heit zu Bett. Ich hoffe, dass Sie dafür Verständnis haben.
Einer aktuellen Umfrage des Bundesverbandes der
jungen Unternehmer zufolge erwartet jeder dritte deut-
sche Mittelständler trotz der sich abschwächenden Kon-
junktur steigende Gewinne. Das sollten wir positiv zur
Kenntnis nehmen. Ähnliche Umfragen gibt es von der
KfW und von den Wirtschaftsjunioren. Auch die Zahl der
Beschäftigten steigt laut diesen Umfragen. 27,8 Prozent
wollen zusätzlich Personal einstellen, 21,8 Prozent dage-
gen Personal abbauen.
Wir haben heute Morgen über die Beteiligung der Bun-
deswehr und die Bereitstellung deutscher Einsatzkräfte
gesprochen. Wir wissen alle, dass seit dem 11. September
in unserer Bevölkerung und in unseren Betrieben eine
große Verunsicherung herrscht. Von daher wäre es, ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, im
Interesse des Gemeinwohls und auch im Interesse unserer
Wirtschaft und der Beschäftigung, wenn wir fraktions-
übergreifend auf Nebelkerzenwerferei verzichten und
eher gemeinsam darum werben würden, dass weiter in un-
serem Land investiert wird.
Wir haben in Europa insgesamt im Moment eine sehr
schlechte wirtschaftliche Situation; das will ich gar
nicht kleinreden. Wir haben eine Rezession in Japan und
in Amerika. Aber zu sagen, dass wir nichts für den Mit-
telstand tun und hier Wahlkampfhuberei veranstalten, ist
schlicht und ergreifend unverantwortlich.
Wir werden für den Mittelstand allein in diesem Jahr
5,6 Milliarden Euro über ERP und Eigenkapitalhilfe aus-
geben. Die KfW und die DtA reichen in diesem Jahr ein
Volumen von mehr als 7,5 Milliarden Euro für den Mit-
telstand durch.
Frau Kolle-
gin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst
Hinsken?
M
Ich möchte jetzt
erst einmal diese Punkte zu Ende bringen. Herr Hinsken,
immer gerne, aber jetzt bringen Sie mich bitte nicht aus
dem Konzept.
Ich finde die Situation, auch die wirtschaftliche, wirk-
lich nicht lustig.
Ein zweiter Punkt, der auf der Tagesordnung steht
und das schon seit Jahrzehnten, Herr Kollege Hinsken
ist die Unternehmensnachfolge. Darum hat sich bis 1998
kein Mensch gekümmert,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Rainer Brüderle
19335
mit der Folge, dass wir im Moment 80 000 Unternehmen
pro Jahr haben, bei denen die Nachfolgefrage nicht ge-
klärt ist.
Daran hängen auch zahlreiche Arbeitsplätze.
Wir haben im Mai zusammen mit den Verbänden des
Handwerks, der Wirtschaft und der freien Berufe eine
Kampagne beschlossen, Herr Kollege Kolb, bei der wir
gemeinsam die Fragen der Unternehmensnachfolge re-
geln. Der Deutsche Steuerberatertag hat sich am Montag
mit der Frage beschäftigt; denn es ist eine ganz wichtige
Frage für die Zukunft unseres Standortes Deutschland.
Die Kollegin Hoffmann hat darauf hingewiesen: Wir
haben in den letzten zweieinhalb Jahren über 40 Ausbil-
dungsberufe modernisiert und wir haben 20 neue Ausbil-
dungsordnungen geschaffen, zusammen mit den Sozial-
partnern. Das war ganz wichtig. Vor allem in den neuen
Berufen entstehen zahlreiche neue Ausbildungsplätze, die
auch nachgefragt werden. Ich finde, das ist ein sehr posi-
tiver Punkt.
Nächster Punkt. Wir haben das Meister-BAföG refor-
miert. Herr Catenhusen hat vorhin schon darauf hinge-
wiesen. Ihres funktionierte nicht. Jetzt unterstützen wir
ganz direkt die Meisterschüler und sind sehr optimistisch,
dass das endlich greift.
Nächster Punkt. Wir haben die Kampagne Famili-
enfreundlicher Betrieb gestartet, weil wir natürlich
wissen, dass die Betriebe aufgrund der demographischen
Entwicklung in zwei, drei Jahren qualifiziertes Personal
nachfragen werden. Sie alle wissen, dass Frauen heute
besser qualifiziert sind als Männer. Hier sind wir tätig. Mit
unserem Außenhandelsportal, das wir mit den Verbänden
gegründet haben Ixpos , tun wir auch etwas für die Ex-
portfähigkeit des deutschen Mittelstandes.
Außerdem haben wir um dies als Letztes zu nen-
nen seit 1998 42 Existenzgründerlehrstühle gegründet.
Ich könnte zahllose weitere Beispiele nennen und da-
rüber referieren. Ich erspare mir das jetzt. Wir haben hier
ein umfassendes Programm vorgelegt, das Sie einmal stu-
dieren sollten.
Zu den Steuern. Schon in diesem Jahr entlasten wir
den Mittelstand durch die Steuerreform um 13,7 Milliar-
den DM. Insgesamt man kann es nicht oft genug sa-
gen wird die Entlastung des Mittelstandes 30 Milliar-
den DM betragen.
Unsere Reform ist solide finanziert. Indem wir sie stu-
fenweise verwirklichen, tragen wir dem elementaren Ziel
der Haushaltskonsolidierung Rechnung. Ich freue mich
darüber, dass wir von sehr ordnungspolitisch gestrickten
Journalisten, wie zum Beispiel Herrn Barbier, hierbei
nachhaltig unterstützt werden. Die Opposition muss uns
einmal sagen, ob sie Haushaltskonsolidierung will oder
neuerdings ein absoluter Keynes-Anhänger ist und eine
Politik des schnellen Geldes vertritt.
Gestern konnten wir im Handelsblatt lesen, dass
Konsolidierung das beste Wachstumsprogramm sei.
Dort bescheinigt ein Wissenschaftler, nämlich Joachim
Scheide, dieser Bundesregierung Folgendes:
Eine neue Welt in der Finanzpolitik scheint sich
anzubahnen, waren doch zuvor Haushaltslöcher häu-
fig dadurch gestopft worden, dass man Steuern oder
Sozialabgaben erhöhte.
Damit haben wir aufgehört.
Wir werden durch ein Konsolidierungsprogramm auf dem
Wachstumspfad fortschreiten. Das sind wir schon unseren
Kindern schuldig.
Im Übrigen wissen Sie auch, dass die jüngsten Emp-
fehlungen des Kieler Instituts genau in diese Richtung
weisen, nämlich in die Richtung eines konsequenten Kon-
solidierungskurses.
Ich möchte Sie um noch eines bitten: Hören Sie endlich
auf mit der These, die Steuerreform benachteilige die Wirt-
schaft. Sie kennen die Deutsche-Bank-Research-Studie
und Sie kennen die Boston-Consult-Studie. Ich könnte Ih-
nen jetzt zahllose Studien präsentieren. Das mache ich aber
nicht. Diese These stimmt schlicht und ergreifend nicht.
Was Sie vertreten, Herr Kolb, zeigt letztlich nur, dass Sie
die Komplexität der Fragestellung offensichtlich immer
noch nicht ausreichend erkannt haben, wenngleich wir
jede Woche in diesem Haus eine Lehrveranstaltung dazu
durchführen.
Nein, die Mittelständler sind nicht zu blöd. Mit denen
rede ich im Gegensatz zu Ihnen täglich. Ein Vergleich
von Durchschnittssteuersätzen greift entschieden zu
kurz. Das aber machen Sie immer. Bei einem soliden Ver-
gleich muss zum Beispiel in beiden Fällen an den Durch-
schnittssteuersätzen angesetzt werden ich glaube, das
wissen Sie eigentlich auch , muss die Gewerbesteueran-
rechnung bei Personenunternehmen berücksichtigt wer-
den, muss das Ausschüttungsverhalten der Kapitalgesell-
schaften in die Überlegungen einbezogen werden; nicht
zuletzt darf der Blick auf die Rechtsnachfolge nicht ver-
gessen werden.
Herr Kollege Brüderle, wir werden unseren mittel-
standsfreundlichen Kurs auch mit der Fortsetzung der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf
19336
Unternehmensteuerreform konsequent beibehalten. Sie
haben vorhin gesagt, das, was gestern im Finanzausschuss
beschlossen worden ist, sei absurd.
Ich möchte aus der Pressekonferenz von Herrn Philipp
zitieren. Herr Philipp ist bekanntermaßen der schärfste
Kritiker dieser Bundesregierung, was vielleicht mit sei-
nem Parteibuch zu tun hat. Zitat:
Wir sehen mit Erleichterung, dass unsere Argumente
für Nachbesserungen im laufenden Gesetzgebungs-
verfahren am so genannten Unternehmensteuer-
fortentwicklungsgesetz bei den Vertretern der Koali-
tionsfraktionen überzeugt haben. Wir begrüßen es
sehr, dass der Finanzausschuss gestern die Behaltefris-
ten beim Mitunternehmererlass und der so genannten
Realteilung für Personenunternehmen gestrichen hat.
Auch die Nachbesserung der Reinvestitionsrücklage
für Personenunternehmen durch die Ausweitung der
Übertragungsmöglichkeiten auf Grundstücke und
Maschinen ist aus unserer Sicht ein richtiger Schritt ...
So der ZDH-Präsident Dieter Philipp.
Frau Kolle-
gin, gestatten Sie nunmehr eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Rainer Brüderle?
M
Nein, von Herrn
Brüderle möchte ich jetzt keine Zwischenfrage beantwor-
ten. Ich möchte aber nicht verhehlen, dass meine Frak-
tion, das Wirtschaftsministerium und auch ich es für
glücklicher gehalten hätten, wenn es zu keiner Deckelung
bei der Reinvestitionsrücklage gekommen wäre. Aber da
kann Herr Brüderle im Kontext der Beratungen des Bun-
desrates vielleicht noch seine bekannten Strippen ziehen.
Dieses war nicht mit dem Prinzip der Haushaltskonso-
lidierung vereinbar, wenngleich ich mir wirklich ge-
wünscht hätte, wir wären hier ohne Deckel ausgekommen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu einem wei-
teren Punkt kommen. Sie wissen, ein zentrales Anliegen
unserer Mittelstandspolitik ist die Sicherstellung der Unter-
nehmensfinanzierung. Das betrifft sowohl die Bereitstel-
lung von Eigen- wie von Fremdkapital. Auf ERP, KfW, DtA
und die Eigenkapitalhilfe habe ich vorhin hingewiesen.
Im Hinblick auf Basel II setzt sich die Bundesregierung
intensiv dafür ein, dass bei den neuen Regelungen für die
Eigenkapitalunterlegung mittelstandspolitische Belange
eine zentrale Berücksichtigung finden.
Herr Doss hat vorhin dankenswerterweise schon den
Kanzler erwähnt. Wir konnten gegen alle anderen euro-
päischen Länder durchsetzen, dass es eine weitere Kon-
sultationsrunde gibt. Ich glaube, dass dies Gelegenheit
bietet, Benachteiligungen gerade bei den langfristigen
Krediten, wie Basel sie vorsieht, aufzuheben und die
Frage der Anerkennung von Sicherheiten und den Einsatz
von Retail-Portfolios im Sinne von kleinen und mittleren
Unternehmen zu regeln.
Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich sage
auch ganz deutlich: Eine Benachteiligung deutscher Mit-
telständler durch Basel II wird es mit der Bundesregie-
rung nicht geben Punkt.
Darüber hinaus werden wir mit unserer öffentlichen
Förderung weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Kredit-
finanzierung leisten. Der Stellenwert der Haftungsent-
lastung bei der Förderung wird immer größer. Hierzu
gehören natürlich auch neue Instrumente, wie die Ver-
briefung von Mittelstandskrediten, die die KfW allen
Gruppen der Kreditwirtschaft anbietet. Dies führt zu einer
Entlastung der Banken von Kreditrisiken das ist gerade
angesichts der gegenwärtigen Wettbewerbssituation sehr
wichtig und schafft neue Spielräume für Mittelstands-
kredite.
Darüber hinaus wir bleiben mit dem Denken ja nicht
stehen denken wir zusammen mit der Kreditwirtschaft,
vornehmlich den öffentlich-rechtlichen und den Raiffei-
senbanken, über die Einführung von Globaldarlehen für
Mittelstandskredite nach. Kreditinstitute würden auf
diese Weise in bestimmten Segmenten eine Rahmenzu-
sage erhalten. Nach vorgegebenen Regeln entscheiden sie
dann selbst und legen auch Laufzeit und Tilgungsmoda-
litäten fest.
Ich denke, dass diese Globaldarlehen grundsätzlich
mehr Flexibilität in der Ausgestaltung von neuen, kosten-
günstigeren Finanzierungsmöglichkeiten für den Mittel-
stand schaffen würden.
Der hohe Kapitalbedarf wachstumsstarker Unterneh-
men lässt sich das wissen wir inzwischen alle nur mit
echtem Eigenkapital finanzieren. Hier brauchen wir die
organisierten Kapitalmärkte. Die brauchen wir mehr denn
je. Damit die Börsen ihre Finanzierungsfunktion wahr-
nehmen können, muss das Vertrauen der Anleger wieder
gewonnen werden. Es muss im Falle des Neuen Marktes
neu gewonnen werden.
Dazu dient in erster Linie der vom Finanzminister vor-
gelegte Entwurf des Vierten Finanzmarktförderungsge-
setzes, der sowohl auf eine Verbesserung des Anleger-
schutzes als auch auf eine erhöhte Funktionsfähigkeit der
Börsen abzielt, diese auch wettbewerbsfähig macht.
Darin werden auch die von meinem Haus angeregten Vor-
schläge zur Einbeziehung der Arbeit der Analysten ent-
halten sein, die zu mehr Markttransparenz und Marktinte-
grität beitragen werden.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen, ich
finde es ausgesprochen bedauerlich, dass der Deutsche
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf
19337
Presserat, wie ich finde, seiner Verantwortung gegenüber
dem Neuen Markt nicht gerecht wird, wenn er sich aus
diesem Verfahren ausgeklinkt hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Ab-
schluss vielleicht noch das eine oder andere Wort zur
Bürokratie. Die Kollegin Hoffmann hat ja schon relativ
viel gesagt.
Vorab vielleicht ein Satz zu dem Gesetzentwurf der
CDU/CSU, den wir heute beraten. Ehrlich gesagt, ver-
ehrte Kollegen, ich hätte mir unter einer Überschrift, die
da heißt Bürokratieabbau für kleine und mittelständische
Betriebe, mehr erwartet als lediglich die Änderung der
Buchführungsgrenzen in § 141 der Abgabenordnung. Das
steht in Ihrem Antrag drin.
Erstens ist das nicht schrecklich neu; ich habe bereits
im März dieses Jahres im Bericht Abbau bürokratischer
Hemmnisse angekündigt, dass wir die Anhebung der
Buchführungspflichtgrenzen beabsichtigen. Möglicher-
weise ist Ihnen bekannt, dass der BMF
hören Sie erst einmal zu Ende zu die Länder mit
Schreiben vom 19. April dieses Jahres um Stellungnahme
gebeten hat und es wird nunmehr eine Entscheidung ge-
troffen. In der Sache stimmen wir hier ganz grundsätzlich
überein. Wir machen das auch.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Steuerpo-
litik und der Abbau von Bürokratie sind Beispiele dafür,
was wir gemacht haben. Die 80 Punkte hat Frau
Hoffmann schon angesprochen.
Für meine Begriffe ist das Schlimmste, was wir jetzt
machen können das tun Sie leider im Moment , Kon-
junkturpessimismus zu verbreiten, Schlechtreden der
wirtschaftlichen Lage zu verbreiten. Wir sind hier alle ge-
fordert, gemeinsam die Verantwortung für die kleinen und
mittleren Unternehmen zu übernehmen.
Eine letzte Bemerkung, Herr Präsident, zu den 630ern.
Meine Fraktion wie auch das Wirtschaftsministerium so-
wie Herr Schartau aus NRW, wir werden mit dem Bun-
desarbeitsministerium, mit allen Akteuren Gespräche
über eine Erleichterung führen, über den Abbau von Büro-
kratie in diesem Bereich. Ich könnte mir vorstellen, dass
kurzfristig die Versicherungsbeiträge von einer zentralen
Stelle eingezogen und dann nach einem vorher festgeleg-
ten Schlüssel von dieser Stelle an die Krankenkassen wei-
ter verteilt werden können. Ich kann mir auch vorstellen,
dass man von den monatlichen Kontrollmeldungen weg
zugunsten einer Halbjahres- oder Jahresfrist kommt.
Wir sind hier im Gespräch. Ich finde es wichtig, wenn
uns die BfA sagt, der Verwaltungsaufwand sei für diese
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dreimal so hoch
wie für normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Deshalb werde ich mich als Mittelstandsbeauftragte der
Bundesregierung hier für eine Vereinfachung einsetzen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne haben der
Präsident der Republik Malta und seine Delegation Platz
genommen. Ich heiße Sie im Namen des Hauses herzlich
willkommen.
Es ehrt uns, dass Sie im Rahmen Ihres Besuches Gele-
genheit nehmen, den Deutschen Bundestag hier im
Reichstagsgebäude zu besuchen.
Sie vertreten ein Land, das mit Geschichte und Kultur
in der europäischen Tradition tief verankert ist. Auch des-
wegen freuen wir uns darauf, Malta in naher Zukunft im
Kreise der Mitglieder der Europäischen Union begrüßen
zu können.
Ich hoffe, dass Ihre Gespräche und Begegnungen hier in
Deutschland dazu beitragen, die guten und vertrauensvol-
len Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern weiter
zu vertiefen. Wir wünschen Ihnen noch einen angenehmen
Aufenthalt in unserem Lande und eine gute Rückkehr.
Nun liegen zwei Wünsche auf Kurzintervention vor.
Ich gebe zunächst dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb das
Wort, dann dem Kollegen Ernst Hinsken. Wenn sie das
möchte, kann die Parlamentarische Staatssekretärin an-
schließend erwidern. Herr Kollege Kolb.
Frau Staatssekretärin
Wolf, auch ich möchte die Gelegenheit nehmen, zunächst
Ihrem Minister die besten Genesungswünsche zu über-
bringen. Sagen Sie ihm aber auch: Es genügt nicht, dass
er gesund wird, sondern es ist an der Zeit, dass er sich wie-
der einmal in die wirtschaftspolitische Debatte einmischt.
Das nämlich ist das Problem: In dieser Bundesregierung
gibt es keine Stimme des Mittelstandes mehr. Wenn sich
einmal jemand äußert so wie Sie in der 630-Mark-
Frage, unterstützt von meinem Kollegen Rainer
Brüderle , dann wird das im Nachhinein als Privatmei-
nung hingestellt. Das ist einer der Gründe, warum die Frus-
tration im Mittelstand in Deutschland so ausgeprägt ist:
weil diese Regierung keine Ahnung mehr von den Pro-
blemen hat und sich nicht mehr damit identifiziert.
Wir müssen hier auch nicht schlechtreden, Frau Kolle-
gin Wolf. Die Bundesregierung hat gestern im Ausschuss
für Arbeit und Sozialordnung die Karten auf den Tisch ge-
legt: Sie gehen davon aus, dass wir im nächsten Jahr im Jah-
resdurchschnitt 3,9 Millionen Arbeitslose haben werden.
Zu der Bildung eines solchen Durchschnitts gehört ganz
zwangsläufig, dass die Arbeitslosigkeit in einzelnen Mo-
naten des Jahres deutlich oberhalb von 4 Millionen liegen
wird. Darüber hinaus gehen Sie in Ihren Prognosen davon
aus, dass es praktisch keinen Zuwachs bei der Beschäfti-
gung geben wird. Das ist die nackte Realität. Wir wollen Sie
nur sensibilisieren, damit Sie sich endlich der Realität stel-
len. Das ist auch der Hintergrund dieser Debatte.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf
19338
Debatte heißt im Übrigen, miteinander zu reden,
auch Widerspruch zuzulassen. Ich finde es schon dreist,
Frau Staatssekretärin bei allem Respekt vor der Bun-
desregierung , wenn Sie sich hier hinstellen und sich, um
es deutlich zu sagen, mit fremden Federn schmücken,
aber gleichzeitig Zwischenfragen ausweichen. So geht es
nun wirklich nicht.
Wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit
will ich dies nur an wenigen Punkten deutlich machen. Sie
haben gesagt, wir hätten in der letzten Legislaturperiode
nichts für die Existenzgründung getan. Das Gegenteil ist
der Fall. Wir haben die Existenzgründungsförderung auch
für Unternehmensübernahmen geöffnet. Das war ein
ganz entscheidender Schritt dafür, dass Unternehmens-
übernahmen die ja in der Regel mit einer umfassenden
Finanzierung verbunden sind möglich geworden sind.
Zum Thema Existenzgründungslehrstühle: Wenn
Sie ehrlich sind, Frau Staatssekretärin, geben Sie zu, dass
deren Einrichtung auf eine Initiative Ihres Vorgängers im
Amt, nämlich des damaligen Staatssekretärs Heinrich
Kolb, FDP, zurückzuführen ist
und dass schon in der letzten Legislaturperiode die ersten
dieser Lehrstühle erfolgreich gegründet wurden.
Ich sage Ihnen noch ein Letztes: Wir brauchen uns über
Existenzgründungen und Unternehmensübernahmen
überhaupt keine Gedanken mehr zu machen, wenn wir es
nicht schaffen, in diesem Land ein Klima herbeizuführen,
in dem Menschen bereit sind, sich zu engagieren und un-
ternehmerisch tätig zu werden. Das ist das Hauptproblem
der rot-grünen Politik: dass Sie zwar kokettieren mit den
Unternehmen, aber nach wie vor ein klassenkämpferisch
motiviertes Problem mit dem Unternehmer haben. Das
eine lässt sich aber von dem anderen nicht trennen. Un-
ternehmen ohne Unternehmer gibt es nicht. Solange Sie
das nicht einsehen, haben Sie ein Problem.
Kollege
Ernst Hinsken.
Sehr geehrte Frau
Staatssekretärin, wenn Sie meine Zwischenfrage zugelas-
sen hätten, dann bräuchte ich mich jetzt nicht einzubrin-
gen. Gerade heute haben Sie wieder Dinge angesprochen,
die für den Mittelstand als nachrangig zu sehen sind. Die
neuralgischen Punkte aber, die den Mittelstand belasten,
haben Sie einfach außen vor gelassen. Deshalb möchte ich
Sie als Erstes fragen, verehrte Frau Wolf persönlich
schätze ich Sie ja : Was haben Sie bislang Sie sind jetzt
fast ein Jahr im Amt als Mittelstandsbeauftragte der
Bundesregierung konkret für den Mittelstand geleistet?
Als Zweites: Warum haben Sie in Ihrer Rede Sie hat-
ten ja eine Menge Redezeit nicht darauf verwiesen, dass
die Steuerbelastungsquote, im Gegensatz zu dem, was
vorher gesagt wurde, nicht sinkt, sondern insbesondere
für die Betriebe nach wie vor bei über 40 Prozent liegt? Es
kann nicht sein, dass der Mittelstand hier außen vor ge-
lassen wird. Warum haben Sie nichts zu dem Versprechen
der Bundesregierung gesagt, die Sozialquote auf unter
40 Prozent zu senken? Warum haben Sie nicht angespro-
chen, dass die Bundesregierung, insbesondere Bundes-
kanzler Schröder, vor drei Jahren zugesagt hat, die Staats-
quote zu senken? Überall gibt es Erhöhungen; ansonsten
tut sich beim Mittelstand nicht viel. Sie bringen, wie ich
eingangs sagte, sehr viele unbedeutende Dinge ein; ich
möchte sie nicht noch einmal der Reihe nach vortragen.
Warum haben Sie nichts zu den großen Themen gesagt,
die insbesondere den Mittelstand belasten, zum Beispiel
zur 630-DM-Regelung, zur Verschlechterung der Bedin-
gungen befristeter Arbeitsverhältnisse, zu den von die-
ser Regierung zurückgenommenen Kürzungen bei der
Lohnfortzahlung, zur weiteren Senkung der Schwellen-
werte im Rahmen der Kleinbetriebsregelung, zu dem
den Mittelstand sehr belastenden Betriebsverfassungs-
gesetz Kollege Doss hat bereits darauf hingewiesen ,
das einfach durchgepaukt wurde und ein Schlag in das
Gesicht des Mittelstandes ist, oder zur Einführung eines
Rechtsanspruches auf Teilzeitarbeit?
Frau Wolf, ich frage Sie: Was haben Sie konkret für den
Mittelstand getan? Auf öffentlichen Veranstaltungen wer-
den wir immer wieder gefragt, was wir für den Mittelstand
tun. Wir müssen dann immer kleinlaut darauf verweisen,
dass wir in der Opposition sind und dass sich die Men-
schen noch ein bisschen gedulden müssen, Herr Staffelt,
bis wir wieder an der Regierung sind, um dann erneut eine
Mittelstandspolitik aufzulegen, die der Mittelstand
benötigt. Diese wird die Bundesrepublik Deutschland
nach vorne bringen und nicht dazu führen, dass, wie allein
im letzten Jahr geschehen, 50 000 mittelständische Be-
triebe in Insolvenz gegangen sind. Das waren übrigens
18 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Das berührt den Mit-
telstand. Dazu haben Sie nichts gesagt.
Frau Kolle-
gin Wolf, bitte.
M
Herr Hinsken,
ich würde gerne einmal von Ihnen zu einer solchen Ver-
anstaltung eingeladen werden, auf der Sie kleinlaut darauf
verweisen, dass Sie leider nicht an der Regierung sind. Ich
würde gerne einmal erleben, dass Sie kleinlaut sind.
Aber dies nur als Vorbemerkung, Herr Kollege. Auch ich
schätze Sie.
Herr Kollege Hinsken, Sie haben gerade wieder den
gesamten Katalog von der Teilzeitarbeit bis hin zur Be-
triebsverfassung heruntergebetet. Ich werde schriftlich
darauf eingehen. Denn wir sprechen hier andauernd
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Heinrich L. Kolb
19339
darüber. In jeder Sitzungswoche gibt es eine Aktuelle
Stunde zu diesem Thema.
Aber auf zwei Punkte möchte ich eingehen: Zunächst
zur Betriebsverfassung. Das entsprechende Gesetz gibt
es das wissen Sie seit 1921. Das haben nicht wir er-
funden.
Es wurde regelmäßig modifiziert.
Es ist einfach so. Dass in kleinen und mittleren Unter-
nehmen Betriebsräte gebildet werden, steht seit 1921 im
Gesetz.
Herr Hinsken, wenn Sie mir jetzt nicht zuhören, werden
Sie mir in der nächsten Woche die gleiche Frage stellen.
Für die kleinen und mittleren Unternehmen ändert sich
tatsächlich nur das Wahlverfahren. Für größere Unterneh-
men mit mehr als 200 Arbeitskräften Stichwort: Schwel-
lenwertabsenkung ändert sich wirklich etwas. Das ist
richtig.
Er hat ja über die kleinen und mittleren Unternehmen
gesprochen.
Nächster Punkt: die Teilzeitarbeit. Sie haben mich ge-
fragt, was ich durchsetzen konnte. Das Ministerium
konnte durchsetzen, dass nach zwei Jahren überprüft
wird, ob das Teilzeitgesetz tatsächlich eine taugliche
Grundlage dafür ist, in den Betrieben mehr Teilzeitbe-
schäftigung durchzusetzen.
Wenn es dies nicht ist, wird darüber zu diskutieren sein,
ob dieses Gesetz nicht abgeschafft werden sollte.
Im Vergleich zu allen anderen europäischen Staaten hat-
ten wir bis 1998 ein geringes Volumen an Teilzeitarbeits-
kräften. Deshalb haben wir dieses Gesetz beschlossen. Es
greift aber erst bei Betrieben ab 16 Mitarbeitern.
Auf den Rest Ihres Kataloges, Herr Hinsken, werde ich
schriftlich eingehen denn ich habe ja nur eine geringe
Redezeit , damit Sie auf Ihren Veranstaltungen nicht
mehr kleinlaut sein müssen.
Eines möchte ich noch im Hinblick auf den Bürokra-
tieabbau feststellen: In Zusammenarbeit mit den Ländern
haben wir durchgesetzt Sie können sich vorstellen, dass
das relativ schwierig war , dass man Handelsregisterein-
tragungen, Lohnsteuer- und Einkommensteuererklärun-
gen, Gewerbeanmeldungen jetzt online, das heißt über
das Internet, vornehmen kann. Wir verhandeln mit den
Ländern über eine einheitliche Wirtschaftsnummer. Das
würde ein erhebliches Maß an Bürokratie abbauen. Wir
haben das Land Bayern dankenswerterweise dafür ge-
winnen können, mit uns einen Probelauf hinsichtlich der
Einführung einer einheitlichen Wirtschaftsnummer durch-
zuführen.
Meinem Hause und meiner Fraktion möchte ich auch
das zugute halten, was gestern im Finanzausschuss im Zu-
sammenhang mit den Begriffen Reinvestitionen, Mit-
unternehmererlass und Realteilung beschlossen wor-
den ist. Das ist den mittelstandspolitischen Aspekten der
Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung ganz maßgeb-
lich im positiven Sinne anzulasten.
Herr Kolb, stellen Sie mir eine Frage und ich beantworte
sie. Das Krakeele, das Sie in jeder Debatte anfangen, ist
kein Beitrag. Man kann kaum sein eigenes Wort verstehen.
Was haben wir gemacht?
Herr Kolb, Sie haben Recht: Sie haben sich in der Zeit, in
der Sie den Job hatten, den ich heute habe, um die Frage
der Finanzierung bei einer Unternehmensnachfolge
wirklich gekümmert.
Aber Unternehmensübernahmen sind ein breit angelegtes
Problem. Dem haben wir uns zugewandt. Es ist weniger
eine Frage des Geldes als vielmehr ein psychologisches
Problem. Herr Hirche, lachen Sie ruhig, aber es ist so, dass
unser alter guter Mittelstand mit der Herr-im-Haus-Men-
talität die Übergabe eher als einen Verlust von Lebensleis-
tung wahrnimmt.
Deshalb müssen wir diese Frage aus ihrer Nische heraus-
holen. Der Verlust der Lebensleistung tritt erst dann ein,
wenn der Betrieb nach dem Ausscheiden nicht qualifiziert
weitergeführt wird. Daher müssen wir dem Mittelständler
vornehmlich mit den Steuerberatern helfen und ihm sa-
gen: Dein Lebenswerk lebt nur dann weiter, wenn du dich
frühzeitig um eine Nachfolge kümmerst. Das ist ein
schwerwiegendes psychologisches Problem, mit dem wir
uns beschäftigen.
Es ist richtig, dass das Bundeswirtschaftsministerium
meines Wissens ab 1996 mit der DtA in Richtung Exis-
tenzgründungen etwas angeschoben hat. Wenn ich es rich-
tig in Erinnerung habe, hatten wir 1998 zwei Existenz-
gründerlehrstühle. Jetzt sind es 42.
Wir haben hier sehr viel getan. Wir führen inzwischen
auch Unternehmenswettbewerbe in den Schulen durch,
um damit die Schulen für die Wirtschaft zu öffnen, weil
wir genau diese neue Unternehmenskultur für mehr
Selbstständigkeit in diesem Land etablieren wollen.
Ich bedanke mich.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf
19340
Für die
Fraktion der PDS erteile ich dem Kollegen Rolf Kutzmutz
das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Wir haben im März dieses Jahres über
einen Teil der heute vorliegenden Anträge geredet. Wei-
tere Anträge sind hinzugekommen. Während die Koali-
tion erklärt, alles was sie tue, sei gut und diene dem Mit-
telstand, kommt aus der CDU/CSU und der FDP
permanent der Ruf nach Vorziehen der nächsten Stufe
der Steuerreform.
Aus meiner Sicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, geht Ihre Forderung am Leben vorbei.
30 Milliarden DM an vorgenommenen Steuersenkungen
haben nicht zu einer Stabilisierung oder gar zu einem Auf-
schwung in der Wirtschaft geführt. Die Rezession ist da
oder zumindest in Sicht. Ostdeutschland trifft sie beson-
ders hart. Woher nehmen Sie die Gewissheit das frage
ich mich immer wieder, wenn Sie Ihre Anträge vorstel-
len , dass weitere Steuersenkungen das Handeln der
Wirtschaft im gewünschten Maße beeinflussen?
Steuerausfälle wären in jedem Fall die Folge. Dann
würden Sie wieder nach Geld vom Staat zur Förderung
des Mittelstandes rufen, das nicht vorhanden ist. In be-
wegten Zeiten wie jetzt sind Verlässlichkeit auch der fis-
kalischen Rahmenbedingungen gerade für die Wirt-
schaft wichtiger als ungedeckte Schecks auf die Zukunft.
Was haben denn Bushs milliardenschwere Steuerschecks
wie auch die Zinspolitik der Fed in den USA bisher ge-
bracht? Nichts.
Der 11. September dieses Jahres hat die Welt verändert.
Angst und Unsicherheit schlagen ebenso wie der Krieg in
Afghanistan auf die Wirtschaft durch. Für diesen Krieg
werden Sie sich mit haftbar machen, wenn Sie dem An-
trag folgen, der heute früh gestellt wurde. Er fördert we-
der Zuversicht noch Vertrauen.
Unsicherheit ist die eine Seite der Wirtschaftslage. Wer
aber jetzt, wie es bei den Vorrednern Herrn Doss und
Herrn Brüderle zu hören war, wieder darüber philoso-
phiert, Spitzensteuersätze zu senken, der kurbelt nicht
die Wirtschaft an, sondern nur die Umverteilung von un-
ten nach oben. Soziale Netze werden zwangsläufig zer-
rissen. Noch mehr Menschen geraten ins gesellschaftliche
Aus. Von deren Kaufkraft aber hängen gerade die Mittel-
ständler ab.
Den Mittelstand gibt es nicht, obwohl wir uns das im-
mer wieder vormachen. Es gibt eine Vielfalt an Defini-
tionen. Viele ziehen die Grenze bei 500 Beschäftigten.
Die EU hat schon 1996 die Obergrenze bei 250 Beschäf-
tigten festgelegt. Herr Schauerte hat eine eigene Defini-
tion. Er sagt ich zitiere aus dem Kopf, Sie können mich
berichtigen : Jeder, der Pleite gehen kann, ohne dass der
Staat eingreift, ist ein Mittelständler.
Es gibt noch eine weitere Definition. Ich habe sie in der
vergangenen Woche von einem Herrn der Dresdner Bank
gehört. Diese Definition hat mich wirklich fasziniert. Er
hat gesagt: Bei uns ist jeder ein Mittelständler, der eine
Mark Umsatz macht. Ich sage Ihnen: Ausgerechnet die
Dresdner Bank, die sich von den Mittelständlern verab-
schiedet hat und diese bittet, die Bank zu wechseln, weil
sie zu viel Arbeit machten, bietet eine solche Definition
zum Mittelstand. Deshalb ist es falsch, vom Mittelstand
an sich zu sprechen. Wir müssen die Differenziertheit des
Mittelstandes zur Kenntnis nehmen.
Ich selbst bin im Offenen Wirtschaftsverband kleiner
und mittlerer Unternehmer, Selbstständiger und Freibe-
rufler organisiert. In diesem Verband sind Unternehmer
organisiert, in deren Betrieben zwei, drei, zehn und da-
rauf bin ich ganz stolz 30 Mitarbeiter beschäftigt sind.
Solche Betriebsgrößen sind in Ostdeutschland der Regel-
fall. Sie selber haben immer auf die 500 000 Selbst-
ständigen und die 3,2 Millionen Beschäftigten hingewie-
sen. Man braucht keine Eins in Mathematik und kein
Abitur, das man erst nach 13 Schuljahren machen kann,
um den Durchschnitt auszurechnen. Ich sage Ihnen eines:
Diese Selbstständigen haben nichts von der Diskussion
über die Höhe des Spitzensteuersatzes. Die haben auch
keine Anteile an Kapitalgesellschaften, die sie verkaufen
könnten, um einen Vorteil zu erzielen, der sich in einer
kleinen, begrenzten steuerfreien Investitionsrücklage aus-
drückt. Wie viele Mittelständler kennen Sie, die, gemes-
sen an der Zahl der Beschäftigten und der geschaffenen
Arbeitsplätze, unter diese Regelung fallen?
Mittelständischen Betrieben in der Größenordnung,
wie ich sie vorhin aufgelistet habe, hilft höchstens eine be-
fristete steuerfreie Investitionsrücklage für ihre laufen-
den Einkünfte. Aber vor allem muss es um eine dezentrale
Strukturpolitik, um mehr Aufträge, um eine bessere Zah-
lungsmoral und um weniger Bürokratie gehen darin
stimmen wir überein , wenn die öffentliche Hand den
Mittelstand tatsächlich fördern will.
Da helfen keine Selbstbeweihräucherung, kein Aussitzen
und auch keine Kampagnen.
In der gestrigen Sitzung des Unterausschusses ERP
wurde zum Beispiel festgestellt, die Nachfrage nach Exis-
tenzgründer- und Mittelstandsdarlehen sei dramatisch
rückläufig. Aber es wird nicht als Erstes darüber nachge-
dacht, wie man schnellstens neue Förderinstrumente ent-
wickeln kann, damit in diesem Bereich wieder Arbeits-
plätze geschaffen werden. Nein, es wird konstatiert:
Es gibt keine Liquiditätsprobleme, um den Anteil von
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001 19341
Daimler-Chrysler an den milliardenschweren Kosten für
die Entwicklung eines Superjumbos zu einem Drittel
vorzufinanzieren. Allein dieses kleine Beispiel zeigt: In
der Ordnungspolitik muss umgesteuert werden.
Dazu gehört für uns natürlich auch das Austrocknen
der Schwarzgeldströme der Terroristen. Aber auch
Steuerbetrug muss bestraft und vor allen Dingen gesell-
schaftlich geächtet werden; denn aus gesetzlichen Steuer-
lasten tatsächliche zu machen hilft, öffentliche Haushalte
zu konsolidieren und verlässlich in Arbeitsplätze mün-
dende Investitionen zu organisieren. Solche Arbeits-
plätze, meine Damen und Herren von der Koalition, ent-
stehen jedoch kaum auf sechsspurigen Autobahnen. Da
hat ein Mittelständler keine Chance. Die hat er vielmehr
vor Ort, bei der Befriedung des regional ermittelten Infra-
strukturbedarfs. Es muss also über wachsende statt sin-
kende kommunale Investitionspauschalen geredet wer-
den.
Nehmen wir ein Beispiel für eine mittelstandsfreundli-
che Energiepolitik. Statt um das für den Jahreswechsel
geplante Verhinderungsgesetz für Kraft-Wärme-Kopp-
lungs-Anlagen muss es um eine konsequent vorangetrie-
bene Energiewende gehen.
Noch mehr erneuerbare Energien und dezentrale KWK-
Anlagen wären nicht nur praktizierte Sicherheitspolitik,
wenn ich an die seit dem 11. September zu Recht stärker
gewordenen Ängste vor den Gefahren der Atomkraft-
werke und ihrer Abfälle denke. Sie wären auch nicht nur
praktizierte Umweltpolitik, sondern eben auch Mittel-
standspolitik. Sie hilft nicht nur den überwiegend
mittelständischen Anlagenbauern, sondern schafft und si-
chert viel mehr Arbeit für Wartungsunternehmen und an-
dere Dienstleister, als es in bestehenden Großanlagen
möglich ist, und das ohne einen einzigen Steuercent; denn
die Beschaffung und Verteilung öffentlicher Mittel sind
nur eine Seite der Medaille. Bessere Zahlungsmoral da-
rauf habe ich schon hingewiesen; Herr Hinsken hat mir
sogar zugestimmt und ein neue Chancen schaffendes In-
solvenzrecht beispielsweise würden Kreativität für neue
zusätzliche Arbeitsplätze ebenfalls viel eher als noch so
niedrige Steuern freisetzen.
Ebenso sollten Vorschläge zur Entbürokratisierung wie
der heute in erster Lesung beratene CDU/CSU-Antrag zur
steuerlichen Buchführungspflicht von der Koalition
ernsthaft und ohne Ansehen ihrer Herkunft geprüft wer-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir sind in einem
Boot; wir stimmen darin überein, dann halte ich es für
notwendig und richtig, das kurzfristig umzusetzen. Das
gilt natürlich auch für Anträge der PDS.
Ich finde es schon bemerkenswert, wenn die Berliner
Zeitung in ihrer Ausgabe vom 31. Oktober, also nach der
Wahl in Berlin, unter der Überschrift Berliner Wirtschaft
fordert transparente Verwaltung den Chef eines Berliner
Wirtschaftsklubs mit folgenden Worten zitiert:
Um Verfahren effektiv zu gestalten, können wir uns
gut an Mecklenburg-Vorpommern orientieren.
In der Tat arbeitet das seit April bestehende neue Tandem
aus Arbeitsminister Helmut Holter und Wirtschaftsminis-
ter Otto Ebnet vergleichsweise gut, auch und gerade für
die Mittelständler und die Existenzgründer.
Das ist doch ein Minister Ihrer Partei. Sie können auf-
stehen, wenn Sie wollen. Er ist übrigens ein Bayer. Dann
können die anderen auch noch aufstehen.
Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Strukturpolitik wer-
den von beiden Ministern als Beschäftigungspolitik
praktiziert. Deshalb entstehen Netzwerke. Deshalb wer-
den Existenzgründungen unterstützt. Deshalb gibt es auch
den Vorschlag zu einem Bündnis für Arbeit, für Aufträge
und Ansiedlungen.
Mein letzter Satz, Herr Präsident: Wenn wir den Mit-
telstand nur vom Materiellen her begreifen, wenn man die
Zugehörigkeit zum Mittelstand sozusagen nur aus der
Steuertabelle ablesen kann, ist dem Mittelstandsbegriff
meiner Meinung nach eine sehr gefährliche Wendung ge-
geben. Das hat Ludwig Erhard 1956 gesagt. Ich sage Ih-
nen: Was 1956 richtig war, ist auch heute richtig. Es geht
um verlässliche Rahmenbedingungen, die man überprü-
fen muss, und es geht um tatsächliches, praktisches Han-
deln.
Danke schön.
Nun gebe
ich dem Kollegen Dr. Ditmar Staffelt für die Fraktion der
SPD das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Es ist leider wenig begeis-
ternd, wenn wir die Debatte alle Monate wieder so kann
ich fast sagen mit ähnlichen Argumenten führen,
ohne dass es eine notwendige sachliche Auseinanderset-
zung mit den derzeitigen Problemen auf makroökono-
mischer Ebene gibt.
Ich bin entzückt von Herrn Brüderle, der gestern im
Wirtschaftsausschuss in der ihm eigenen Art die neue
Sachlichkeit und Nachdenklichkeit betont hat, heute aber
wieder genau das gemacht hat, was wir seit Monaten von
ihm kennen, nämlich ein kleines Affentheater für die
Wählerinnen und Wähler der FDP.
Das ist nicht ausreichend, Herr Brüderle. Wenn das alles
so einfach wäre, hätten Sie in all den Jahrzehnten, in de-
nen Sie die Bundesrepublik Deutschland politisch geführt
haben, alle Probleme des Mittelstandes lösen können. Das
haben Sie augenscheinlich nicht gemacht. Vielmehr wa-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Rolf Kutzmutz
19342
ren wir nach der Übernahme der Regierung gehalten, eine
Vielzahl von Verbesserungen vorzunehmen, die unmittel-
bar den kleinen und mittleren Unternehmen zugute ge-
kommen sind.
Lassen Sie mich etwas zu den Rahmendaten sagen:
Wir können zwar im Moment das müssen Sie wissen
noch so viele kleine Schritte vorbereiten und Entschei-
dungen treffen, aber wichtig ist der Gesamtrahmen. Für
die Gestaltung des Gesamtrahmens hat diese Regierung
unendlich viel mehr getan als Sie in den 16 Jahren Ihrer
Regierungszeit.
Das ist auf internationaler Ebene unbestritten. Sowohl
im Hinblick auf die OECD als auch den IWF gilt: Die
Bundesrepublik Deutschland hat den Einstieg in die Mo-
dernisierung durch Haushaltskonsolidierung, Steuer- und
Rentenreform realisiert.
Ihnen wird in den Gesprächen mit Experten in den Verei-
nigten Staaten von Amerika immer wieder gesagt: Ihr müsst
auch etwas bei der Deregulierung eurer Arbeitsmärkte tun.
Zu diesem Thema sagen wir: Die Tarifpartner sollen ge-
meinsam mit der Bundesregierung ihren Beitrag dazu
leisten, die notwendigen Spielräume zu schaffen.
Herr Kol-
lege Staffelt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Hirche?
Nein, das möchte ich nicht.
Ich möchte hinzufügen, dass alleine das Job-Aqtiv-Ge-
setz bereits einen Rahmen bietet, um vielzählige Mög-
lichkeiten und Räume für neue Formen der Beschäftigung
zu finden.
Sie ignorieren immer alles, was wir liefern. Wir haben
den bekannten Brief von Herrn Müller und Herrn Riester
an die Vertreter der großen Verbände in Deutschland ge-
lesen. In diesem Brief wird minutiös aufgeführt, was das
Job-Aqtiv-Gesetz bietet, was die Verbände fordern und
welche Möglichkeiten das Job-Aqtiv-Gesetz vorsieht.
Das alles nehmen Sie gar nicht zur Kenntnis. Sie sind
nicht bereit, sich auf den Weg zu begeben, der die einzige
Chance bietet, gemeinsam an den richtigen Stellschrau-
ben zu drehen.
Zur Frage des Vorziehens der Steuerreform kann ich
Ihnen nur sagen: Wir sind doch nicht ideologisch verna-
gelt und wollen dies deshalb nicht tun, weil wir keine wei-
tere Senkung der Steuern oder keine weiteren Vorteile für
die Arbeitnehmerschaft oder die Selbstständigen in unse-
rem Lande wünschten. Ganz im Gegenteil! Wir fragen uns
nur, ob weitere Steuersenkungen tatsächlich die Effekte
an den Märkten erzielen, die zu einer wirklichen Bele-
bung der Konjunktur insgesamt beitragen. Viele wirt-
schaftswissenschaftliche Institute unterstützen uns in der
Auffassung, dass das im Moment nichts brächte.
Herr Brüderle hat gerade gestern, wie bekannt, im Aus-
schuss gesagt, wir seien in einer schwierigen Zeit, in ei-
ner Zeit der weltwirtschaftlichen Anspannung und Krise.
Da ist es natürlich, dass viele seien es Privathaushalte
oder auch Unternehmen das, was sie an zusätzlichen
Einnahmen aus der Steuerreform haben, sparen, zurück-
legen, daraus Reserven bilden; Sie nannten das
Eichhörncheneffekt. Das ist ein Effekt, der auch dann,
wenn wir die Steuerreform vorziehen, nicht ohne weiteres
außer Kraft gesetzt werden kann, der weiter wirkt, weil er
in hohem Maße psychologisch bedingt ist.
Lassen Sie mich noch eines zum Thema Verantwortung
sagen. Ich finde es ziemlich verantwortungslos, dass Sie
die derzeitige Gesamtsituation so herunterreden ich sage
ganz ausdrücklich: herunterreden und damit genau einen
Effekt erzielen, den wir heutzutage gar nicht gebrauchen
können: Die Hoffnungen, die auch die wirtschaftswissen-
schaftlichen Institute für die Belebung der Konjunktur im
nächsten Jahr sehen, werden wieder kaputtgemacht. Maß-
nahmen wie die heutige Zinssenkung um 50 Basispunkte
seitens der EZB laufen sozusagen wieder ins Leere. Wir
tragen hier Verantwortung. Sie haben gar nicht das Recht,
nur parteipolitische Polemik zu betreiben.
Auch Sie haben Verantwortung für dieses Land, selbst wenn
Sie in der Opposition sind, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich noch einmal darauf verweisen, dass
wir in den letzten Monaten eine Vielzahl von Maßnah-
men getroffen haben. Sie wissen das sehr genau. Ich
könnte alle diese Maßnahmen noch einmal aufzählen und
vielleicht muss man es ja auch tun. Also: Reinvestitions-
zulage, Aussetzung der Abschreibungstabellen, Solidar-
pakt II für Ostdeutschland von zentraler Bedeutung ,
Job-Aqtiv-Gesetz ich habe davon gesprochen , Stadt-
umbau Ost wesentlicher Punkt zur Belebung der Bau-
wirtschaft , Vergaberecht die Novellierung steht an
und Zukunftsinvestitionsprogramm. Das ist schon ein
Maßnahmenpaket, das sich sehen lassen kann. Deshalb
sehe ich überhaupt keinen Grund, die Kritik, die von Ih-
nen hier vorgetragen wird, ernst nehmen zu müssen. Wir
können sehr selbstbewusst auf das verweisen, was wir in
den letzten Monaten für kleine und mittlere Unternehmen,
für den Mittelstand getan haben.
Auch damit kann ich Sie konfrontieren. Sie reden ein-
fach irgendetwas daher.
Das ist etwas, was ich nicht vertragen kann.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Ditmar Staffelt
19343
Schauen Sie sich einmal die Steuerquote im interna-
tionalen Vergleich an! Deutschland 22,9, Dänemark 48,5,
Schweden 38,5, Italien 30,3, Großbritannien 30,3 Pro-
zent. Was sollen wir denn noch alles machen?
Schauen Sie sich die Belastung des Mittelstands an!
Frankreich 46,8 Prozent, Niederlande 32 Prozent, USA
32 Prozent, Deutschland 31 Prozent. Das kann sich im in-
ternationalen Vergleich doch sehen lassen!
Unternehmensgründungen: Im Jahr 1996 gab es klägli-
che 137 000 Unternehmensgründungen, 1997 nur 129 000.
In diesem Jahr sind es 202 000 Unternehmensgründungen.
Meine Damen und Herren, Sie gehen einfach darüber
hinweg, ignorieren alles und sagen: Die gehen serien-
weise Pleite. So kann man in Fragen der deutschen Wirt-
schaft doch nicht ernsthaft debattieren.
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Auch bei den freien Be-
rufen, bei den Selbstständigen Sie behaupten ja immer,
das sei Ihre Klientel; das hat sich glücklicherweise nach-
haltig geändert gibt es eine Zunahme um mehr als 20 000
mit dem Effekt, dass insgesamt weitere 80 000 Menschen
bei diesen Selbstständigen beschäftigt werden.
Es ist also Quatsch, hier nur von einer Negativbilanz zu
reden. Wir können eine Vielzahl von Indikatoren aufwei-
sen, die besagen: Wir haben die richtigen Rahmenbedin-
gungen gesetzt. Da, wo es möglich ist, und da, wo es
erforderlich ist, werden wir diese Rahmenbedingungen
davon können Sie ausgehen auch weiter verbessern.
Schließlich will ich an dieser Stelle ein Wort zu einem
Punkt sagen, der für Sie ganz typisch ist. Die Schwarz-
arbeit ist ein wesentliches Thema, das uns drückt. Kaum
haben wir damit begonnen, Maßnahmen zur Bekämpfung
von Schwarzarbeit einzuleiten Ähnliches gilt für andere
Bereiche, wo Steuerhinterziehung praktiziert wird; Herr
Kutzmutz hat das angesprochen , schon sind die FDP
und im Zweifel auch die CDU/CSU die Ersten, die
schreien. Wenn Sie nicht einmal bereit sind, Maßnahmen
zur Herstellung ordentlicher Wettbewerbsbedingungen
mitzutragen es geht darum, im wirtschaftlichen Wettbe-
werb die Ehrlichen besser als die Unehrlichen zu stellen ,
dann sollten Sie sich nicht über Verzerrungen wundern,
die einen Einfluss auf die Arbeitslosenzahlen haben und
die Unternehmen kaputtmachen.
In dieser Hinsicht sind Sie gegenüber dem braven Hand-
werksmeister, der sich bemüht, Steuern zu zahlen und sich
an Recht und Gesetz zu halten, nicht wirklich ehrlich.
Das sollten Sie einmal nacharbeiten, Herr Brüderle.
Summa summarum: Wir sollten weiterhin über Mittel-
stand reden. Halten Sie sich ein Stück mehr daran, Sach-
lichkeit zu üben! Wir sind immer gesprächsbereit, gerade
in Bezug auf Fragen der Wirtschaft.
Sie kennen mich: Ich bin immer bereit, mit Ihnen und al-
len, die daran interessiert sind, diesen Dialog zu führen.
Um es ehrlich zu sagen: Es kommt mir zum Halse heraus,
dass ich mir anhören muss, wie Sie gebetsmühlenartig
dieselben Provokationen vortragen.
Das bringt uns keinen Schritt weiter. Ändern Sie Ihre Art!
Vielleicht helfen die Koalitionsverhandlungen in Berlin
ein bisschen dabei, dass Sie auf den Teppich zurückkeh-
ren. Herr Brüderle, in diesem Sinne!
Danke.
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Peter
Ramsauer.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Her-
ren! Lieber Herr Kollege Staffelt, was wir uns von Ihnen
soeben haben anhören müssen, war mehr als eine mittel-
standspolitische Geisterbahnfahrt. Das, was Sie hier alles
erzählt und als Bündel von Maßnahmen für den Mit-
telstand bezeichnet haben, ist nichts anderes als die
Gesamtheit der Folter- und Marterinstrumente, die Sie in
den letzten drei Jahren zur Traktierung des Mittelstands
eingeführt haben.
Dass Sie einige Maßnahmen mittlerweile zurückgenom-
men haben, liegt daran, dass Sie eingesehen haben, wozu
das Ganze führt.
Das nennen Sie dann Maßnahmenbündel.
Lieber Herr Kollege Staffelt, wenn es wirklich so wäre,
wie Sie gesagt haben und wie es uns die Mittelstandsbe-
auftragte der Bundesregierung, die Kollegin Wolf, in
ihren regierungsamtlichen Verlautbarungen hat wissen
lassen, dann hätte sie kein mittelstandspolitisches Papier,
das das Datum 30. Oktober trägt, vorlegen müssen. Darü-
ber wurde leider in viel zu wenigen Zeitungen berichtet.
Ich komme auf dieses Papier noch zu sprechen.
Schlimm ist, dass die rot-grüne Bundesregierung mit
dieser Politik die gesamte mittelständische Wirtschaft in
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Ditmar Staffelt
19344
Deutschland in den verheerenden Sog ihrer katastropha-
len Wirtschafts- und Sozialpolitik hineinzieht. Dass Sie
jetzt versuchen, diese Entwicklung hinter der Außenpoli-
tik zu verstecken, lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Die
Rutschbahn, auf der wir in die wirtschaftspolitische
Katastrophe geraten, besteht nicht erst seit dem 11. Sep-
tember, sondern schon viel länger, nämlich seit mehr als
drei Jahren.
Sie können das von Ihnen produzierte wirtschaftliche
Chaos nicht hinter dem 11. September verstecken. Sie
sind seit drei Jahren an der Regierung und seit drei Jahren
geht das Wachstum massiv zurück.
Im Oktober wurde eine verheerende Arbeitslosenstatis-
tik vorgelegt. Die Beratungen des Bundeshaushalts für
das nächste Jahr sind, weil die Grundannahmen nicht
mehr stimmen, nur noch Makulatur. Das i-Tüpfelchen ist
Ihre Reaktion: Sie erhöhen die Steuern. Eine aberwit-
zigere Idee hätten Sie nicht haben können. Sie bewirken
dadurch nämlich das Gegenteil von dem, was wir brau-
chen. Was Sie tun, ist Gift für die Konjunktur, denn es
hemmt die Investitionsbereitschaft der Unternehmen und
es hemmt den privaten Konsum.
Freilich ist es nichts anderes als eine Schwäche des Fi-
nanzministers, wenn er es nicht einmal fertig bringt,
ganze 0,6 Prozent des geplanten Haushaltsvolumens an
anderer Stelle einzusparen.
Indem Sie das jetzt dadurch hereinholen wollen, dass
Sie die Mittel für Investitionen im Haushalt kürzen, ma-
chen Sie wiederum genau das Falsche. Sie haben in den
letzten drei Jahren die Investitionsquote im Bundeshaus-
halt ohnehin laufend zurückgefahren. Wer bei den Inves-
titionen kürzt, der nimmt diesem Land ein Stück seiner
Zukunft. Investitionen kürzen heißt Zukunft verbauen.
Genau das werfen wir der rot-grünen Bundesregierung
vor.
Dass die Konjunktur schwächelt, hat seine Gründe.
Man darf sich darüber nicht wundern, wenn man sieht,
dass gerade der Wachstumsmotor Mittelstand regelrecht
abgewürgt wird. Es ist verschiedentlich auf das lange
Sündenregister hingewiesen worden. Sie haben mit der
Neuregelung der 630-Mark-Verträge ein flexibles Ar-
beitsmarkt- und Beschäftigungsinstrument praktisch voll-
kommen unbrauchbar gemacht. Genauso schlimm ist,
dass Sie mit dem Gesetz zur Scheinselbstständigkeit auch
die Möglichkeit, flexibel in die Selbstständigkeit hinein-
zugleiten, verbaut haben. Was soll da noch Ihr Gerede von
mehr jungen Unternehmen und mehr jungen Menschen,
die sich selbstständig machen sollen?
Kündigungsschutz, Rechtsanspruch auf Teilzeit man
kann nicht oft genug sagen, dass mit dem Teilzeitgesetz
die Personalplanung gerade für mittelständische Unter-
nehmen zu einem Lotteriespiel verkommen ist.
Das haben Sie zu verantworten, da Sie durch eine völlig
falsche Sozialpolitik leider Gottes noch zusätzliche Be-
schäftigungshürden in den Betrieben errichten.
Der Mittelstand, der bei der letzten Bundestagswahl
von Gerhard Schröder nicht ganz ohne Erfolg umworben
wurde, ist schwer enttäuscht. Er ist weder gefördert noch
gestärkt oder unterstützt worden. Er ist vielmehr abge-
zockt, getäuscht und gemolken worden.
Meine Damen und Herren, man spürt so richtig, dass es
in dieser Bundesregierung, angefangen beim Wirtschafts-
minister über die Mittelstandsbeauftragte bis hin zum
Bundeskanzler, niemanden gibt, der sich in das Ge-
schehen in einem mittelständischen Betrieb hineindenken
kann und sich mit dem Mittelstand wirklich identifiziert.
Sie als Allerletzter, Herr Staffelt. Weil Sie sich nicht
wirklich mit dem Mittelstand identifizieren, kann auch
keine glaubwürdige Mittelstandspolitik von Ihnen ge-
macht werden.
Das beste Beispiel hierfür haben wir in dieser Woche
vorgelegt bekommen, als der Sozialminister Walter
Riester über Sie, Frau Wolf, hergefallen ist und auf Sie
wegen Ihrer Vorschläge eingedroschen hat. Ich habe bis-
her immer geglaubt, dass man von Ihnen als Mittel-
standsbeauftragte, liebe Frau Kollegin Wolf, überhaupt
nichts hören wird, und habe in Ihnen deswegen eigentlich
immer das personifizierte mittelstandspolitische Desin-
teresse dieser Bundesregierung gesehen. Jetzt haben Sie
endlich das finde ich toll mit Datum vom 30. Oktober
ein Papier mit der Überschrift Gedanken zur Mittel-
standspolitik vorgelegt. Darin sind hochinteressante
Ansätze enthalten, die wirklich diskussionswürdig sind.
Sie nehmen zum Beispiel unter der Überschrift Steuer-
politik Bezug auf die Reinvestitionsrücklage, deren Ein-
führung im Rahmen des Gesetzes zur Fortentwicklung
der Unternehmensteuerreform geplant ist. Ich zitiere aus
dem Papier:
Durch eine in der Debatte befindliche Deckelung bei
100 000 DM
für diese Rücklage
wird die notwendige Wirkung bei den mittelständi-
schen Unternehmen verfehlt,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Peter Ramsauer
19345
der Vorwurf der Ungleichbehandlung gegenüber den
Veräußerungsgewinnen der Kapitalgesellschaften
geradezu bestätigt.
Klarer kann man nicht unter Beweis stellen, wie falsch Ihr
Gesetzentwurf ist. Liebe Frau Wolf, ich stimme Ihnen hier
zu.
Klar, dass Sie das anders sehen. Es ist nämlich so, dass
die grüne Frau Wolf mit einem glühenden mittelstandspo-
litischen Spieß in Ihren mittelstandspolitischen Wunden
und Defiziten herumstochert. Das soll sie ruhig tun, ge-
rade auch auf diesem Feld.
Unter dem Stichwort Absenkung der Lohnneben-
kosten heißt es:
Es ist gelungen, die Rentenbeiträge um 1,2 Prozent-
punkte abzusenken. Dabei dürfen wir nicht stehen
bleiben.
Es müssen alle Anstrengungen unternommen wer-
den, im nächsten Jahr das Ziel der Sozialversiche-
rungsbeiträge von 40 Prozent zu erreichen.
Wenn es so wäre, wäre es schön, liebe Frau Wolf. Ich
glaube aber, Sie verwechseln die Richtung der Entwick-
lung beim Gesamtsozialversicherungsbeitrag. Wir wer-
den nächstes Jahr bei 41,5 oder 41,6 Prozent landen.
Zu den 630-DM-Beschäftigungsverhältnissen schrei-
ben Sie:
Die 630-DM-Beschäftigungsverhältnisse müssen für
Beschäftigte und Arbeitgeber attraktiver werden.
Wie kommt mir das denn vor? Das klingt ja so, als ob wir
dieses Instrument kaputtgemacht hätten. Nein, diese Re-
gierung hat es kaputtgemacht. Wenn man weiter liest
dazu fehlt leider die Zeit , merkt man: Ihr ganzes
mittelstandspolitisches Papier, liebe Frau Wolf, ist eine
Anklageschrift gegen die Wirtschafts- und Mittelstands-
politik dieser Bundesregierung.
Ich wünsche mir, dass dieses Papier, liebe Frau Wolf, zu
großer Berühmtheit kommt.
Ich habe dann in einer Agenturmeldung gelesen ich
zitiere auch daraus :
Müllers
der Wirtschaftsminister ist gemeint
Sprecherin Regina Wierig erklärte am Montag in
Berlin, bei Wolfs Vorstoß handele es sich um ein per-
sönliches Papier der Staatssekretärin als Grünen-Ab-
geordnete und nicht um ein Papier des Wirtschafts-
ministeriums.
Wenn Sie sich vom eigenen Wirtschaftsminister zurück-
pfeifen lassen würden, dann hätte ich dafür noch Ver-
ständnis. Dass er das aber nicht einmal selber macht, son-
dern eine Sprecherin beauftragt, ist mehr als eine
Beleidigung, die ich mir an Ihrer Stelle nicht gefallen
ließe.
Meine Damen und Herren, die paar Beispiele allein
zeigen schon, dass in der Politik dieser Regierung jegli-
che Mittelstandskomponente fehlt. Der Bundeskanzler,
d
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es nützt nichts. Diese Lippenbe-
kenntnisse und Sonntagsreden, die wir heute wieder
gehört haben auch von Ihnen, Herr Staffelt , nimmt Ih-
nen niemand mehr ab.
Was vor uns liegt, steht in der Kontinuität dieser bisher
schon falschen Wirtschaftspolitik und Mittelstandspoli-
tik: Erhöhung der Ökosteuer, weitere angekündigte Steu-
erreformschritte, die gerade dem Mittelstand wehtun, die
Abschreibungsbedingungen, die Sie verschlechtert ha-
ben, das Betriebsverfassungsgesetz, das gerade die mit-
telständischen Betriebe Ihre Argumente haben den Vor-
wurf nicht entkräftet, Frau Wolf mit Bürokratiekosten
belastet, und das ist das Allerbeste in Ihrer Pipeline das
von Ihnen vorgelegte Steuerverkürzungsbekämpfungsge-
setz es ist schon schwierig, das auszusprechen. Dieses
Gesetz ebnet den Weg für die Rollkommandos der
Finanzämter hinein in die mittelständischen Betriebe
und noch schlimmer es stellt alle Mittelständler unter
den Generalverdacht, Steuerhinterzieher zu sein.
Auch das dürfen wir nicht durchgehen lassen. Das fördert
nicht gerade das Vertrauen in die Regierungspolitik.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung
und der Koalition, Sie kennen leider Gottes nur Unter-
nehmen ab einer bestimmten Größenordnung. Der Bezug
zu kleinen Betrieben fehlt Ihnen. Der Fall Holzmann hat
vor Jahren schon eindrucksvoll bewiesen, dass Ihnen nur
daran liegt, mitbestimmte Großbetriebe unter staatlichen
Schutz zu stellen und den Mittelstand an den Rand zu
drängen. Anders wäre es nicht möglich, dass der Unter-
schied zwischen einem Industriebetrieb wie Holzmann
und einem Mittelständler der ist: Wenn Holzmann Pleite
macht, kommt der Bundeskanzler selbst nach Frankfurt;
wenn das Gleiche einem Mittelständler passiert, dann
kommt der Gerichtsvollzieher. Auch das dürfen wir Ihnen
nicht durchgehen lassen.
Wo man bei einer Bundesregierung wenigstens ein
bisschen mittelstandspolitische Seele erwarten würde, ha-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Peter Ramsauer
19346
ben Sie von Rot-Grün von jeher nur Hornhaut gehabt.
Leider Gottes deutet auch alles darauf hin, dass dies so
bleibt.
Wir wollen eine Offensive für den Mittelstand. Die An-
träge, die wir heute vorgelegt haben, beinhalten dies; nicht
zuletzt, weil Mittelstandspolitik auch Arbeitsplatzför-
derung ist. Ein Mittelständler denkt nicht wie derzeit
viele Industrie- und Großbetriebe. Er überlegt nicht: Wie
kann ich Arbeitsplätze abbauen? Vielmehr überlegt er, da
er ein intensives Verhältnis zu seiner Belegschaft hat: Wie
kann ich die Arbeitsplätze in meinem Betrieb erhalten?
Bei einem Mittelständler geht es vielleicht weniger um
den Shareholder-Value. Er überlegt aber: Wie kann ich
meine Belegschaft vergrößern und wie kann ich in meiner
Region, draußen auf dem flachen Land, attraktive
Arbeitsplätze bieten und auch im Niedriglohnsektor den-
jenigen von Nutzen sein, die auf der Straße stehen?
Wir von der CSU haben das Credo unserer Wirt-
schaftspolitik auf folgenden Nenner gebracht: 3 mal 40.
Das heißt, die Staatsquote unter 40 Prozent drücken, den
Spitzensteuersatz unter 40 Prozent drücken und den
Gesamtsozialversicherungsbeitrag unter 40 Prozent
drücken. Mit Rot-Grün werden wir das leider Gottes nicht
erreichen.
Die Bilanz dieser rot-grünen Bundesregierung sieht
auf mittelstands- und wirtschaftspolitischem Gebiet mise-
rabel aus. Man muss sagen, dass alle Ziele und damit das
Klassenziel ein Vorrücken ist eigentlich nicht möglich
verfehlt wurden. Sie haben den Arbeitsmarkt verkommen
und verlottern lassen.
Sie haben Reformen vertagt. Wenn Sie jetzt wenigstens
noch etwas anpacken würden! Ihre Haltung ist durch
Feigheit und durch Angst vor dem Wähler geprägt. Des-
wegen ist Ihre Mittelstandspolitik noch nicht einmal ein
Placebo.
Der Bundeskanzler hat in seiner ersten Regierungser-
klärung am 10. November 1998, also fast auf den Tag ge-
nau vor drei Jahren, erklärt:
Vor uns liegen gewaltige Aufgaben. Die Menschen
erwarten, dass eine bessere Politik für Deutschland
gemacht wird. Wir wissen: Ökonomische Leistungs-
fähigkeit ist der Anfang von allem.
Ich sage dazu: Ihre ökonomische Unfähigkeit ist der An-
fang vom Niedergang.
Für den Mittelstand ist diese Bundesregierung leider zum
Langzeithärtetest geworden.
Der Mittelstand empfindet die Wirkung Ihrer Wirt-
schafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik so wie die Wir-
kung, die die Brandrodung auf den tropischen Regenwald
hat. Mittelständer sagen immer häufiger: Wir halten es un-
ter diesen Rahmenbedingungen nicht mehr aus. Sie er-
kennen mehr und mehr, dass sie verheizt werden und dass
sie als Stimmvieh missbraucht worden sind. Deswegen
gehen wir ganz sicher davon aus, dass Sie bei der nächs-
ten Bundestagswahl für diese Politik vom Mittelstand die
Quittung erhalten werden.
Ich erteile
dem Kollegen Klaus Lennartz für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Ramsauer,
während Ihrer Rede habe ich Ihren neuen wirt-
schaftspolitischen Sprecher, Herrn Wissmann, beobach-
tet. Ich habe gesehen, wie er kopfschüttelnd den Saal ver-
ließ. Ich kann mir das nur so erklären, dass er mit Ihrer
Rede nicht einverstanden war. Er hat demonstrativ den
Saal verlassen. Ich würde mich an Ihrer Stelle einmal bei
ihm erkundigen, woran das wohl gelegen haben könnte.
Ich habe Verständnis für sein Verhalten.
Ich habe eine Frage an Sie, Herr Kollege Ramsauer. Sie
haben eben vom Mittelstand gesprochen. Sie haben Zah-
len genannt, die zeigen, dass 46 Prozent aller Bruttoinves-
titionen durch den Mittelstand geleistet werden, dass der
Mittelstand 70 Prozent aller Ausbildungsplätze und
80 Prozent aller Arbeitsplätze stellt. Sind Ihnen diese Zah-
len erst seit den Jahren 1998/99 bekannt geworden oder
gab es diese Zahlen schon vorher? Warum haben Sie Ihre
Politik nicht an diesen Zahlen ausgerichtet, Herr Kollege
Ramsauer? Sie machen in Verbalradikalismus. Dabei hat-
ten Sie 16 Jahre lang Zeit, praktische Politik zu machen.
Warum haben Sie das nicht getan?
Wenn Sie in dieser Frage mit dem Finger auf uns zeigen,
dann zeigen vier Finger auf Sie zurück, Herr Kollege.
Wenn es um den Mittelstand geht, dann verfährt die
Opposition gerne nach dem Ballonprinzip:
Es gibt viel heiße Luft für den Auftrieb. Aber bei der ers-
ten Berührung mit der Realität des Machbaren platzt der
Ballon. Zurück bleibt nur heiße Luft und Sie fallen auf
den Boden der Tatsachen zurück.
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat vor drei Wochen
Basel II öffentlich als nicht akzeptabel für unseren Mit-
telstand bezeichnet
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Peter Ramsauer
19347
und offenen Widerstand dieser Regierung bei der EU an-
gekündigt. Wo waren Sie eigentlich?
Wo waren Sie? Wer hat sich dazu geäußert? Wo war Frau
Merkel? Wo war Herr Merz? Wo war Herr Stoiber? Wo
war Herr Schäuble? Wo waren Sie? Waren Sie noch in der
Unterhaltung darüber, wer etwas sagen darf? Gab es
Kompetenzgerangel um die Frage: Wer darf diese Posi-
tion des Kanzlers unterstützen? Das war Politik für den
Mittelstand. Ich hätte gern von Ihnen ein klares Wort
gehört, dass Sie in diesen den Mittelstand betreffenden
Grundsatzfragen die Position der Bundesregierung un-
mittelbar unterstützen würden. Sendepause bei Ihnen!
Das ist Ihre Politik.
Ihre Blaupausenpolitik ist schon Makulatur, bevor sie die
Werkstatt erreicht. Das macht Sie, meine Damen und Her-
ren von der Opposition, bei den Menschen nicht gerade
glaubwürdig.
Sie haben in Ihrer 16-jährigen Regierungszeit mehr
Probleme als Lösungen hinterlassen; das kann man Ihnen
nicht oft genug sagen. Sie befinden sich in einem psy-
chologischen Verdrängungsprozess. 1 500 Milliarden DM
Schulden haben Sie in dieser Republik hinterlassen. Fast
5 Millionen Menschen haben Sie in die Arbeitslosigkeit
getrieben. Wir hatten die höchste Steuer- und Abgaben-
last, meine Damen und Herren. Das ist Ihre Politik.
Lieber Herr Kollege, der Sie hier als ehemaliger Staats-
sekretär sprechen: Ich habe Verständnis dafür, dass man
versucht, seine positiven Ergebnisse darzustellen. Aber es
gehört auch ein Stück Redlichkeit dazu, selbstkritisch zu
sein und Fehler, die man gemacht hat, einzugestehen. Sie
haben mit Ihrer Regierung Fehler genug gemacht.
Nein, wir schauen nach vorn. Wir kommen noch dazu,
keine Sorge. Wir müssen diese Fehler Schritt für Schritt
abbauen, das heißt, wir müssen unseren Konsolidie-
rungskurs beibehalten. Falls Sie es nicht verstehen: Das
heißt Ordnung schaffen bei dem, was Sie uns hinterlassen
haben.
Das ist eine Herkulesarbeit, die von uns durchgeführt wer-
den muss. Das ist kein einfacher Weg, aber wir gehen ihn
konsequent und zielorientiert.
Meine Damen und Herren, die Wiedergewinnung der
Zukunftsfähigkeit in Deutschland erfordert Verantwor-
tung, auch und gerade über den Tag hinaus. Deshalb sind
die Reformvorhaben dieser Bundesregierung als langfris-
tige Prozesse angelegt.
Wir gehen einen geraden Weg, auch wenn er manchmal
steil ist. Zukunftsinvestitionen statt Zinszahlungen, Zu-
kunftsinvestitionen statt Neuverschuldung das sind die
Wege, die wir gehen.
Durch unsere Steuerpolitik werden Bürger und Wirt-
schaft, Handwerk, Handel und Gewerbe im Jahr 2005 im
Vergleich zu 1998 um rund 93 Milliarden DM entlastet,
Privathaushalte um rund 68 Milliarden DM, und über
30 Milliarden DM geben wir zugunsten des Mittelstandes.
Ich sage Ihnen ganz offen: 30 Milliarden Mittelstands-
entlastung. Herr Brüderle, haben Sie diese Zahlen irgend-
wann in Ihren letzten Regierungsjahren aufweisen kön-
nen? Sie haben davon gesprochen, aber nicht gehandelt.
Reden ersetzt nicht das Handeln, auch bei Ihnen nicht.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wir ha-
ben Steuersenkungen nicht auf Pump durchgeführt, so
wie Sie es gemacht haben.
Unsere Steuersenkungen sind lang erwartete Entlastun-
gen, die im Mittelstand bestehende Arbeitsplätze sichern
und neue schaffen. Wir handeln und schaffen günstige
und verlässliche Rahmenbedingungen, die Mittelstand,
Handwerk, Handel und Gewerbe helfen. Beispielhaft
nenne ich den Eingangssteuersatz, der von 25,9 Prozent
im Jahre 1996 auf den historischen Tiefstand von 15 Pro-
zent im Jahr 2005 sinkt. Das hätten Sie ebenfalls machen
können. Die Steuerquote sinkt bereits 2001 auf den his-
torischen Tiefstand von 21,5 Prozent. Kennen Sie eigent-
lich noch Ihre Zahlen, Herr Ramsauer? Oder ist das
auch wieder ein psychologischer Verdrängungsprozess?
24 Prozent Steuerquote, das waren Ihre Zahlen.
Der Spitzensteuersatz sinkt von 53 Prozent im Jahre 1998
auf 42 Prozent im Jahr 2005. Das ist der niedrigste Spit-
zensteuersatz seit Bestehen der Bundesrepublik Deutsch-
land.
Durch unsere Steuerreform stehen sich rund 90 bis
95 Prozent aller persönlich haftenden Einzel- und Perso-
nenunternehmer besser als Kapitalgesellschaften. Denn
um die Steuerbelastung einer Kapitalgesellschaft zu errei-
chen, müsste ein verheirateter Unternehmer im Jahr 2005
ein Einkommen von rund 480 000 DM erzielen, ein ledi-
ger ein Einkommen von fast 250 000 DM.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Klaus Lennartz
19348
Jetzt kommen wir einmal zur Realität: Fast 80 Prozent
genau gesagt: 78 Prozent aller unserer Unternehmer
verdienen nur circa 100 000 DM im Jahr. Das heißt kon-
kret, also in der Realität: Das, was wir durchführen, be-
deutet Entlastung.
Herr Ramsauer, ich lese Ihnen einmal aus der Druck-
sache 14/5551 einen Satz vor, den Sie als Begründung
eingefügt haben. Sie schreiben:
Umfragen haben ergeben, dass viele mittelständische
Unternehmen, welche mit einem Einkommensteuer-
spitzensatz von bis zu 48,5 Prozent belastet werden,
vor dem Hintergrund des niedrigen Körperschaft-
steuersatzes von 25 Prozent und der Steuerbefreiung
bei Veräußerungsgewinnen beim Verkauf von Betei-
ligungen in die Rechtsform der Kapitalgesellschaft
flüchten.
Hören Sie mal: Mit welchen Attributen soll ich diesen
Satz belegen? Unkenntnis? Lüge? Hirngespinst? Ver-
gessen Sie einfach, Herr Kollege, dass zu dieser Körper-
schaftsteuer auch noch die Gewerbesteuer addiert werden
muss?
Denn dann kämen Sie auf ungefähr 39,6 Prozent. Wir ha-
ben den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent gesenkt. Wenn
Sie dann noch die Grundfreibeträge einrechnen, sehen
Sie, dass wir für die Personengesellschaften mehr getan
haben, als Sie jemals auch nur zu tun gedacht haben. Aber
damit müssen Sie sich selber auseinander setzen.
Herr Kol-
lege Lennartz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Ramsauer?
Ja, gerne.
Herr Kol-
lege Ramsauer, bitte.
Herr Kollege
Lennartz, sind Sie wenigstens bereit einzugestehen, dass
Sie eine wesentlich umfangreichere Steuerreform für
den Mittelstand, die Wirtschaft und die Bürger auch noch
wesentlich früher hätten haben können,
wenn Sie nicht vor 1998 zwei fertige Steuerreformen
mit einer unverantwortlichen Obstruktionspolitik à la
Lafontaine verhindert hätten?
Sie stellen sich hierher und tun so, als hätten Sie das
steuerpolitische Rad neu erfunden. Unter dem Finanz-
minister Theo Waigel haben wir unsere Steuerreformen
durchgeführt. Aber Sie haben sie im Bundesrat mit einer
roten Mehrheit kaputtgemacht. Deswegen ist das, was Sie
machen, Heuchelei. Sind Sie wenigstens bereit zuzu-
gestehen, dass Sie im Bundesrat ein paar Mal alles ka-
puttgemacht haben?
Herr Kollege, Sie hatten zu
einer Zwischenfrage angesetzt und sind zu einem um-
fangreichen Wortbeitrag gekommen.
Ein bisschen Contenance muss noch sein. Hören Sie
sich lieber meine Antwort an. Ich habe mir Ihre Frage ja
auch angehört. Man sollte schon die mitteleuropäischen
Gepflogenheiten einhalten.
Herr Ramsauer, was haben wir denn verhindert? Herr
Kollege Spiller hat Ihnen von diesem Pult aus doch schon
mehrfach gesagt, dass wir Ihrer Steuerreform damals
natürlich nicht zustimmen konnten. Denn Sie hatten nur
die Großunternehmen im Fokus. Nur, wir wollten den
Mittelstand entlasten, wie wir es auch getan haben.
Das ist der entscheidende Punkt. Wir haben das Gröbste
im Interesse des Mittelstandes verhindert. Genau das, was
Oskar Lafontaine und wir alle damals zugesagt haben, set-
zen wir jetzt durch diesen Gesetzentwurf um.
Frau Kollegin, darauf komme ich noch einmal zurück.
Herr Ramsauer, ich gehe noch auf Ihre Frage ein. Wenn
Sie schon eine Frage stellen, dann müssen Sie auch meine
Antwort ertragen. Ich frage Sie: Wo sind Ihre Vorlagen,
aus denen hervorgeht, dass Sie den Steuersatz auf 42 Pro-
zent und den Eingangssteuersatz auf 15 Prozent senken
wollen? Wo sind sie? Ich habe das nirgendwo gelesen.
Herr Ramsauer, ich war immer noch bei Ihnen. Aber
ich entlasse Sie jetzt. Ich kann mir vorstellen, dass Sie un-
ter der Bürde dieser Worte zusammenbrechen. Dafür habe
ich Verständnis.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Unter-
nehmer, von denen ich sprach, sparen im Vergleich zu
1998 im Jahre 2005 rund 25 Prozent ihrer Steuerbe-
lastung. Die von der Opposition häufig vorgebrachten Be-
hauptungen, dass unsere Steuerreform eine Benachtei-
ligung des persönlich haftenden Mittelständlers zur Folge
hätte, sind mit den Zahlen, die ich eben vorgetragen habe,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Klaus Lennartz
19349
eindrucksvoll widerlegt. Ich sage Ihnen: Das Gegenteil ist
der Fall.
Herr Kollege Spiller, Ihnen gebührt ein ausdrücklicher
Dank von uns allen. Denn gestern haben wir im Finanz-
ausschuss die Fortentwicklung des Unternehmensteu-
errechtes verabschiedet. Ich bin Herrn Philipp, dem Prä-
sidenten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks,
der dies sehr gelobt hat, äußerst dankbar. Sie wissen ja
selbst, Herr Spiller, wie schwer es war, bestimmte Punkte
noch einzubringen. Deshalb verstehe ich es nicht, wenn
Sie von Union und FDP die erreichten Erleichterungen
beispielsweise hinsichtlich der Umwandlung und Um-
strukturierung von Personenunternehmen mit Wirkung
zum 1. Januar 2002 oder hinsichtlich der Reinvestition
von Erlösen aus der Veräußerung von Beteiligungen an
Kapitalgesellschaften, die gegenüber dem Regierungsent-
wurf auch dank Ihrer Mithilfe erweitert wird, schlecht re-
den.
Glauben Sie nicht, dass Frau Staatssekretärin Wolf
ebenso wie wir beim reinvestierten Gewinn einen Betrag
von 1 Million oder 300 000 Euro lieber gesehen hätte als
die jetzt festgelegten 50 000 Euro?
Meine Damen und Herren, akzeptieren Sie doch bitte,
dass dieses Gesetz ein Anfang war. Wir hätten noch mehr
getan, wenn Sie uns nicht eine solche Verschuldung hin-
terlassen hätten. Sie müssen doch die Kausalität sehen.
Ich sage in diesem Hause sehr offen: Das war hinsichtlich
der reinvestierten Gewinne der Einstieg. Da wir die
Regierung im Jahr 2002 wiederum stellen werden es
kommt kein Einspruch von Ihnen; ich bedanke mich ,
werden wir diese Bemühungen fortsetzen,
sodass wir dann auch die nächsten Schritte auf diesem
Gebiet realisieren können.
Herr Kol-
lege Lennartz, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Präsident, ich werde
Ihren Worten aufmerksam folgen.
Meine Damen und Herren, um Ihnen die gestern be-
schlossene Zahl noch nachzuliefern: Zu den 30 Milli-
arden DM, um die wir bereits entlastet haben, kommt eine
zusätzliche Entlastung von circa 450 Millionen DM
hinzu. Mit dieser deutlichen Entlastung haben wir finan-
zielle Freiräume geschaffen.
Herr Präsident, gestatten Sie mir noch zwei Bemer-
kungen.
Nein, ich
kann Ihnen leider keine Bemerkungen mehr gestatten.
Dann nur noch eine Bemer-
kung.
Sie haben
Ihre Redezeit schon um zwei Minuten überschritten.
Bitte, Herr Kollege Lennartz, kommen Sie zum
Schluss.
Meine Damen und Herren,
durch diese Politik dies nur noch als letzte Bemerkung
und die Freiräume, die wir dadurch geschaffen haben, ist
die Zahl der Patentanmeldungen in der Bundesrepublik
auf rund 110 000 angestiegen. Wir wissen, dass wir nur
drei Ressourcen haben: Braunkohle, Steinkohle und Salz.
Die wichtigste Ressource ist unser Wissen. In diese Res-
source investieren wir. Die Mittel für diese Investition
werden durch unsere Steuerreform freigesetzt.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Hartmut Schauerte von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr
Kollege Lennartz, ich habe mir gerade vorgestellt, ein
Mittelständler hätte Sie hier reden hören. Ihm wäre durch
den Kopf gegangen: Uns brennt der Dachstuhl, unsere
Sorgen sind enorm, und hier wird von einem Charakter-
darsteller ich will nicht beschreiben, welcher Art von
Charakter ein Schauspiel in theatralischen Einzel-
stückchen vorgeführt, das mit der Wirklichkeit nichts,
aber auch gar nichts zu tun hat.
So sollten wir mit dem Thema nicht umgehen.
Wir stehen am Beginn einer schweren Rezession. Sie
wird heftiger sein, als wir im Moment sagen und be-
schreiben wollen, denn auch wir wollen nicht unnötig
Angst verbreiten.
Man könnte auf Angstmacherei und die Beschreibung ei-
ner schlimmen Wirklichkeit ein Stück weit verzichten,
wenn wir den Eindruck haben könnten, dass die Sozial-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Klaus Lennartz
19350
demokraten und die Regierung das Problem genauso ernst
nehmen, wie es das verdient. Wenn man aber den Ein-
druck hat, dass sie diese Tatsache eher als fast normal und
unausweichlich ansehen, dann muss man den Druck er-
höhen und beschreiben, was denn droht; sonst kommt
man nicht weiter.
Ich will jetzt überhaupt nicht streiten, ob wir mit unse-
ren Vorschlägen oder Sie mit Ihren Vorschlägen Recht
haben. Es ist aber immer wichtig, zunächst einmal den
Tatbestand zu verdeutlichen. Wir können feststellen: In-
folge dessen, was Sie in den letzten drei Jahren beschlos-
sen haben, gibt es einen konkreten, jetzt messbaren Be-
fund, der sich bei der Arbeitslosigkeit zeigt. Sie liegt
heute um 160 000 Personen niedriger als im Okto-
ber 1998. Die Arbeitslosigkeit ist also in drei Jahren um
160 000 gesunken. Ich will gar nicht die Versprechungen
des Bundeskanzlers in Erinnerung rufen, der noch im
Frühjahr von 3 oder 3,5 Millionen Arbeitslosen sprach. Im
Moment steigt diese Zahl.
Dieser Rückgang der Arbeitslosigkeit um 160 000 be-
deutet, dass sie im Jahr um durchschnittlich etwa 50 000
abgebaut wurde, obwohl altersbedingt 200 000 Arbeit-
nehmer mehr ausgeschieden als nachgewachsen sind.
Wenn Sie in dem Tempo weitermachen Sie wollen ja
Ihren Kurs, den Sie als richtig beschreiben, fortsetzen ,
werden Sie 15 Jahre brauchen, um auf die 3 Millionen zu
kommen, die der Kanzler als Ziel am Ende dieser
Legislaturperiode im nächsten Jahr noch für richtig ge-
halten hat.
Das kann Sie doch nicht zufrieden stellen! Das ist eine
Situation, die Ihnen Angst machen muss.
Das Wirtschaftswachstum ist an keiner Stelle zufrie-
den stellend und macht auch uns nicht froh. Wir können
zwar sagen, dass dort, wo die CDU in Deutschland regiert,
die Wachstumsraten doppelt so hoch sind wie dort, wo die
SPD regiert; aber das macht uns nicht froh, denn Sie re-
gieren in vielen Gegenden. Deswegen ist das Wachstum
unter jedem akzeptablen Niveau. Es gilt leider die Aus-
sage: Je röter eine Regierung, desto schlechter sind die
Wachstumsraten,
im Osten wie im Westen unseres Vaterlandes. Das können
Sie nicht wegdefinieren.
Baden-Württemberg hat eine halb so hohe Arbeitslo-
sigkeit wie Nordrhein-Westfalen und ein doppelt so hohes
Wirtschaftswachstum wie Nordrhein-Westfalen, und die
halb so hohe Arbeitslosigkeit in Baden-Württemberg
nimmt doppelt so schnell ab wie in Nordrhein-Westfalen.
Nordrhein-Westfalen hat 18 Millionen Einwohner. Das
sind 3 Millionen Einwohner mehr, als alle neuen Länder
zusammen haben das als kleinen Einwurf zur Begrün-
dung, warum wir in Deutschland nicht vom Fleck kom-
men. Da können Sie doch nicht sagen: Alles, was wir ge-
macht haben, ist gut, wir sind sehr zufrieden, die Dinge
laufen, worüber regen sich die Leute eigentlich auf?
Ich könnte Ihnen das mit Prozentzahlen belegen. In
Nordrhein-Westfalen droht jetzt ein Nullwachstum in der
Wirtschaft. So schreibt es Herr Klemmer vom RWI-Insti-
tut, ein durchaus angesehener Mann.
Was erzählen Sie denn hier, Herr Lennartz, über die
Steuerquote und die Abgabenquote? Die Abgabenquote
in Deutschland betrug im Oktober 1998 42,3 Prozent. Bis
Februar 2001 eine andere Zahl haben wir nicht ist sie
auf 43 Prozent gestiegen. Die volkswirtschaftliche Steu-
erquote lag am Ende unserer Regierungszeit bei 22 Pro-
zent. Heute liegt sie bei 23,1 Prozent. Das heißt, die Ab-
gaben und die Steuern sind gestiegen. Jetzt können Sie
sagen, Sie hätten doch alles Mögliche gemacht. In Ord-
nung, aber das Ergebnis ist eher schlechter denn besser
geworden und das kann uns doch nicht zufrieden stellen.
Mich interessiert eine Fragestellung vor dem Hinter-
grund der Diskussion über den Terroranschlag. Wir haben
auf diesen Anschlag in Bezug auf die Sicherheitspolitik
umfassend reagiert, konsequent und weitgehend überein-
stimmend. Sie hatten dabei eine ausgesprochen verant-
wortungsvolle Opposition. Eine solche Opposition hätten
wir uns in den zurückliegenden Jahren in der einen oder
anderen Fragestellung wirklich gewünscht.
Aber das tun wir aus eigenem Antrieb. Wir haben in al-
lem, was die Sicherheit betrifft, so grundlegend reagiert,
Frau Scheel, dass zum Beispiel die eigentlich eingetra-
genen Pazifisten mittlerweile Ja zum Kriegseinsatz sagen.
So viel ist in unseren Köpfen angesichts einer konkreten
Bedrohung verändert worden.
Wir haben jetzt eine Bedrohung durch den Abschwung,
durch die Rezession, die unsere Menschen existenziell er-
fassen wird, möglicherweise mehr als der Terroranschlag;
denn da geht es wirklich um ihre tägliche Situation. Aber
Sie sind nicht bereit, darüber nachzudenken, ob Sie etwas
ändern müssen, sondern Sie sagen: Wir haben doch alles
richtig gemacht, was regt ihr euch denn eigentlich auf?
Ich will unsere Vorschläge gar nicht einzeln einbringen
und sagen, das und das müsst ihr tun, sondern nur fest-
stellen: Die Situation ist atemberaubend schlecht und wir
können nicht einfach so weitermachen. Wir warten auf
Vorschläge, wo Sie etwas ändern wollen. Sonst müssen
Sie sich gefallen lassen, dass wir sagen: Sie sind mit der
Situation so zufrieden, dass Sie meinen, dass alles so blei-
ben kann, wie es ist. Das kann doch wohl nicht wahr sein.
Aber die Ergebnisse, die ich benannt habe, sind doch zu-
treffend beschrieben und Sie beschleunigen sie eher in die
negative Richtung! Aber Sie erklären hier: Was habt ihr
eigentlich? Greift uns nicht an!
Wir haben Maßnahmen über Maßnahmen vorgeschla-
gen. Jede einzelne wurde abgelehnt und von Ihnen kommt
fast nichts, und das vor einem Hintergrund, der wirklich
bedrückend ist. Die einzige Reaktion auf den Terroran-
schlag, die Sie weltweit als Erster und Einziger praktiziert
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Hartmut Schauerte
19351
haben, war eine Steuererhöhung das hilft. Sie erhöhen
die Steuern insgesamt: die Versicherungsteuer um 2 Mil-
liarden DM, die Tabaksteuer um 4 Milliarden DM, die
nächste Stufe der Ökosteuer bedeutet eine Erhöhung um
7 Milliarden DM. Das macht insgesamt 13 Milliar-
den DM. Allein mit diesen Maßnahmen zerstören Sie die
Konsumpotenziale im kommenden Jahr um 0,8 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts. Das ist Ihre Methode. Ich ga-
rantiere Ihnen: Die Dinge werden noch viel schlimmer,
wenn Sie nicht umsteuern, auch im Sinne des Mittelstan-
des.
Dass Sie umsteuern, wollten wir mit dieser Debatte errei-
chen.
3,3 Millionen Mittelständler werden keine Menschen
mehr einstellen, wenn sie Angst haben. Ihre Politik macht
ihnen mittlerweile Angst.
Ja, was denn sonst?
Alles andere ist doch dummes Zeug. Herr Philipp, der ein
enger Freund von mir ist, hat Ihnen geschrieben, dass er
dankbar dafür ist, dass Sie einen eigenen Fehler korrigie-
ren. Sie können doch aber nicht erwarten, dass Sie dafür
besonders gelobt werden. Es ist die Korrektur Ihrer Feh-
ler, für die er sich bei Ihnen bedankt. Es ist ein Dank dafür,
dass Sie im Ansatz vernünftig geworden sind und von un-
vernünftigem Tun ablassen. Nun loben Sie sich doch nicht
für einen solchen selbstverständlichen Vorgang!
Gehen Sie in den Mittelstand hinein, dann werden Sie
feststellen: Er hat Angst. Er stellt nicht ein, sondern er ent-
lässt. Im Handwerk drohen 200 000 zusätzliche Arbeits-
lose. Das ist die Wirklichkeit. Die Verantwortung dafür
können Sie nicht auf die damalige Regierung oder die
Verschuldung schieben; das ist auf Ihre dreijährige Re-
gierungskunst zurückzuführen. Sie aber ändern nichts.
Herr Kol-
lege Schauerte, kommen Sie bitte zum Schluss.
Einen Schlussge-
danken möchte ich noch äußern. Jeden Tag gehen mehr
als 150 Unternehmen Konkurs. Jeden Tag verlieren dabei
mehr als 1 500 Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz. Es brennt
unter dem Dachstuhl. Sie aber sitzen hier, verteidigen Ihre
Linie und sagen: Wir haben nichts zu tun. Tun Sie end-
lich etwas und werden Sie den Menschen mit ihren Sor-
gen gerecht. Es ist höchste Zeit, ernsthaft Korrekturen
vorzunehmen.
Herzlichen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Simone Violka von der
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Ramsauer, ich
habe die ersten beiden Seiten meiner vorbereiteten Rede
beiseite gelegt, weil ich zu Ihnen noch etwas sagen
möchte.
Was die Wirtschaftskompetenz anbelangt, so empfehle
ich Ihnen, einfach einmal die Biografien in den Hand-
büchern zu lesen. Sie werden in allen Reihen einige Leute
finden, die über Wirtschaftskompetenz verfügen.
Ich kann Ihnen einiges von wirtschaftskompetenten
Leuten erzählen, die noch vor der Regierungsübernahme
mit wehendem Mantel in die Betriebe gekommen sind
und als Erstes gefragt haben, wie groß denn ihr Dienst-
wagen sei, und erst als Zweites gefragt haben, was die
Firma überhaupt herstellt.
Das kann ich Ihnen sagen.
Die Leute hatten das muss ich Ihnen leider sagen auch
Ihren Dialekt. Aber der Generalverdacht kam vorher von
einer anderen Seite. Die Kompetenz habe ich am eigenen
Leib erlebt. Ich habe auch erlebt, dass sich Leute plötzlich
Wirtschaftskompetenz holen mussten, um zu überleben.
Gucken Sie einmal in die Bücher hinein; da werden Sie si-
cherlich einige Biografien dazu finden.
Was das Thema Holzmann angeht, so fragen Sie doch
einmal nach, wie viele kleine Mittelständler bei Holz-
mann drangehangen haben. Glauben Sie vielleicht, ein
einziger von den Parkettlegern oder Fensterbauern hätte
eine müde Mark gesehen? Denken Sie vielleicht, die Ban-
ken hätten auf ihren Anteil an der ganzen Sache verzich-
tet? Sie sind die Ersten. Die Banken kriegen bei einem
Konkurs immer die großen Brocken das wissen Sie ganz
genau und für die kleinen Mittelständler bleibt über-
haupt nichts mehr übrig. Das müssten Sie eigentlich wis-
sen, wenn Sie für sich Wirtschaftskompetenz in Anspruch
nehmen.
Gehen Sie einmal durch das gesamte Land und fragen
Sie, wie viele Mittelständler im Osten wie im Westen
drangehangen haben, die heilfroh waren, dass es diese Fi-
nanzspritze gab, weil sie dadurch die Möglichkeit hatten,
ihr Geld zu bekommen.
Wir haben den Eingangssteuersatz bis zur letzten Stufe
um 11 Prozent gesenkt. Davon profitieren vor allem
kleine und mittlere Einkommen und natürlich auch viele
kleine, weniger ertragsstarke Unternehmen und Familien-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Hartmut Schauerte
19352
betriebe. Dazu kommt noch die Entlastung durch die
pauschalierte Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Ein-
kommensteuerschuld. Die Abschaffung der Gewerbe-
steuer ist eine Forderung vieler Mittelständler. Aber das
ist nicht machbar das wissen Sie ganz genau , weil
dann auch die Städte und Gemeinden laut schreien. Durch
die pauschalierte Anrechnung werden die Mittelständler
jedoch zumindest entlastet.
Wichtig für den Mittelstand ist auch die Absicherung
im Alter. Häufig ist die Betriebsveräußerung ein elemen-
tarer Bestandteil. In diesem Fall wurde der Steuerfreibe-
trag von 60 000 DM auf 100 000 DM erhöht. Es sind also
40 000 DM mehr steuerfrei.
Außerdem wird alternativ zur Fünftelungsregelung
einmal im Leben der halbe Steuersatz gewährt. Diese
Regelung gilt ab dem Veranlagungszeitraum 2001 für Un-
ternehmer mit Vollendung des 55. Lebensjahres, bei dau-
ernder Berufsunfähigkeit auch früher. Somit können aus-
scheidende Unternehmer Gewinne aus Veräußerung und
Aufgabe von landwirtschaftlichen, gewerblichen und
freiberuflichen Betrieben und Mitunternehmeranteilen
mit dem halben durchschnittlichen Steuersatz besteuern
lassen. Dies geschieht noch unter Berücksichtigung des
Freibetrags von 100 000 DM.
Neuerdings behauptet die CDU/CSU auch noch, es
gebe bei der Aufgabe von Gewerbebetrieben eine Ver-
schärfung; Teile des Mitunternehmeranteils seien nicht
mehr steuerbegünstigt. Richtig ist, dass diese Änderung
lediglich eine Verwaltungsanweisung ausräumt, für die es
nie eine Rechtsgrundlage gab. Das betrifft aber nicht den
Bäckermeister oder den Fliesenleger, der seinen Betrieb
an den Sohn oder an die Tochter übergibt, sondern eher
den Rechtsanwalt, der sich nicht sofort total aus seiner
Kanzlei zurückziehen will und daher nur Anteile aufgibt,
sich also nur stückchenweise zurückzieht. Wenn er sich
dann endgültig aus dieser Kanzlei zurückzieht und auch
all die stillen Reserven aufgedeckt werden, stehen natür-
lich auch ihm alle Steuervergünstigungen zur Verfügung.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Tat-
sache, dass die CDU/CSU-Fraktion gestern im Ausschuss
keinen Änderungsantrag zu genau diesem Punkt einge-
bracht hat. Da kam nichts!
Dann kommen wir noch einmal zu dem aufflackernden
und immer wieder unterstellten Vorwurf der Opposition,
der Mittelstand würde gegenüber den Kapitalgesellschaf-
ten immens benachteiligt. Das ist schlicht und einfach
falsch. Herr Lennartz hat es Ihnen doch vorhin vor-
gerechnet. In der letzten Stufe müsste ein verheirateter
Einzelunternehmer ein zu versteuerndes Einkommen
von 480 000 DM haben und ein Lediger eines von
250 000 DM. Erst dann hätte er den gleichen Steuersatz
wie eine Körperschaft, nämlich 38,6 Prozent.
Jetzt verraten Sie mir doch bitte mal, welcher Mittel-
ständler so einen Gewinn hat. Das ist ja kein Jahresum-
satz, das ist Gewinn. Herr Hinsken, wie viele Ihrer Kolle-
gen im Konditoreigewerbe haben denn solche Gewinne
im Jahr?
Fragen Sie doch einmal! Ich kenne viele Mittelständler,
die wären heilfroh, wenn sie nur die Hälfte davon hätten.
Schauen Sie doch einmal in die Einkommensteuerstatistik
hinein. 95 Prozent der Steuerpflichtigen mit gewerblicher
Tätigkeit machen Einkünfte unter 250 000 DM geltend
und 78 Prozent sogar unter 100 000 DM. Das heißt, Sie
vertreten an dieser Stelle den Mittelstand, allerdings nur
in Größenordnungen von 5 Prozent. Dann sagen Sie doch
aber auch den Mittelständlern vor Ort, dass Sie hier nur
5 Prozent der Mittelständler vertreten wollen.
Wir brauchen alle den Mittelstand. Es ist Aufgabe von
allen, diesen Mittelstand auch in Land und Kommune zu
unterstützen, so weit es geht. Wenn Sie jetzt auch noch
einwerfen, dann senkt doch die Steuern für den Mittel-
stand weiter, dann muss ich leider auf den Konsolidie-
rungskurs verweisen.
Wenn wir so mit Geld umgehen würden wie Sie, hätten
wir wahrscheinlich in ein paar Jahren noch ein paar Mil-
lionen oder Milliarden Schulden mehr.
Aber die Steuerreform steht nicht auf tönernen Füßen,
sondern sie ist real kalkuliert und da ist für Steuersenkun-
gen kein Spielraum mehr. Weitere Schritte würden die
Konsolidierung gefährden. Das würde bedeuten: keine
Absenkung der Staatsverschuldung, keine Absenkung der
Zinsausgaben und keine größer werdenden Ausgaben-
spielräume in Zukunft.
Es gibt aber nicht nur eine zukünftige Generation, die
mit dem Bundesetat zurecht kommen muss, es gibt auch
eine zukünftige Generation der Mittelständler, die entwe-
der den Familienbetrieb weiterführen oder auch neue
Unternehmen gründen. Diese zukünftigen Unternehmer-
generationen brauchen auch dann existenzfördernde Rah-
menbedingungen. Die können nur gewährt werden, wenn
wir jetzt mit der Haushaltskonsolidierung den Grundstein
dafür legen. Daher werden wir nicht vom Kurs abweichen
und diesen Weg auch weitergehen.
Vielen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Zu Tagesordnungspunkt 5 a: Interfraktionell wird
die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksa-
che 14/6633 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vor-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Simone Violka
19353
schläge? Das ist nicht der Fall; dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 5 b: Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie auf Drucksache 14/6094 zu dem Antrag der Fraktion
der CDU/CSU mit dem Titel Chancen des Mittelstandes
in der globalisierten Wirtschaft stärken.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/5545 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? Wer ist dagegen? Wer enthält
sich? Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 c: Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksa-
che 14/6687. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/5551 zur steu-
erlichen Gleichstellung des Mittelstandes abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Wer enthält sich? Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP.
Weiterhin empfiehlt der Finanzausschuss die Ablehnung
des Antrages der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/5962
mit dem Titel Steuerliche Benachteiligung des Mittel-
stands beseitigen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? Die
Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsver-
hältnissen angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 d: Wir kommen jetzt zur Be-
schlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU zur Wiederherstellung des
umfassenden Rechts auf Vorsteuerabzug, Drucksache
14/6448. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 14/5223 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? Wer enthält
sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS.
Tagesordnungspunkt 5 e: Schließlich stimmen wir ab
über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt-
schaft und Technologie auf Drucksache 14/5973 zu dem
Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen mit dem Titel Neue Mittelstandspolitik Motor
für Beschäftigung und Innovation. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5485 anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt
dagegen? Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung
ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen von CDU/CSU, FDP und PDS.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis g und Zu-
satzpunkt 4 a bis 4 f sowie Zusatzpunkt 18 auf:
33. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fort-
führung des Solidarpaktes, zur Neuordnung des
bundesstaatlichen Finanzausgleichs und zur Ab-
Drucksache 14/7256
Überweisungsvorschlag:
Sonderausschuss Maßstäbe-/ Finanzausgleichsgesetz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergän-
zung der Leistungen bei häuslicher Pflege von
Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemeinem
Drucksache 14/7154
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Fortsetzung der
Dienstrechtsreform
Drucksache 14/3458
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 98/8/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998
über das Inverkehrbringen von Biozid-Produkten
Drucksache 14/7007
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 19. September 2000 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Tschechi-
schen Republik über die gegenseitige Hilfeleis-
tung bei Katastrophen und schweren Un-
glücksfällen
Drucksache 14/7096
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Tourismus
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Fleischhygienegesetzes
Drucksache 14/7153
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
19354
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Irmgard
Schwaetzer, Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Finanzierung von Umschulungsmaßnahmen
Drucksache 14/5692
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Versorgungsände-
rungsgesetzes 2001
Drucksachen 14/7223, 14/7257
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Anerkennungs- und Vollstreckungs-
ausführungsgesetzes
Drucksache 14/7207
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sonder-
Drucksache 14/7259
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Schröter, Eckhardt Barthel , Hans-Werner
Bertl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer,
Grietje Bettin, Rita Grießhaber, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Reform der deutschen Filmförderung
Drucksache 14/7178
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Wiesehügel, Dieter Maaß , Dr. Axel Berg,
weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Werner Schulz ,
Franziska Eichstädt-Bohlig, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zukunft der deutschen Bauwirtschaft
Drucksache 14/7297
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU
Lehrstellenmangel in den neuen Bundeslän-
dern bekämpfen Reformen in der beruflichen
Bildung vorantreiben
Drucksache 14/7281
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
ZP 18 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 12. Juli 2001 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Volksre-
publik China über Sozialversicherung
Drucksache 14/7246
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen.
Der Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit China
über Sozialversicherung, Drucksache 14/7246 Zusatz-
punkt 18 , soll zur federführenden Beratung an den Aus-
schuss für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung
an den Ausschuss für Gesundheit überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 34 a
bis 34 l sowie zu den Zusatzpunkten 5 a und 5 b. Es han-
delt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Zunächst Tagesordnungspunkt 34 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung von Vorschriften aus den Berei-
chen des Verkehrs-, Bau- und Wohnungswesens
sowie der Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Drucksache 14/6810
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
19355
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Drucksache 14/7251
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hermann Kues
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Ge-
genstimmen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist
damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Übereinkom-
mens vom 14. Juli 1967 zur Errichtung der
Weltorganisation für geistiges Eigentum
Drucksache 14/6260
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
Drucksache 14/7273
Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Dr. Norbert Röttgen
Volker Beck
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/7273, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Ge-
setzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung des Euro im Berufsrecht der
Rechtspflege, in Rechtspflegegesetzen der or-
dentlichen Gerichtsbarkeit und in Gesetzen des
Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts
Drucksache 14/6371
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
Drucksache 14/7349
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Dr. Norbert Röttgen
Hans-Christian Ströbele
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Ge-
genstimmen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist
damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 d:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Wahl-
statistikgesetzes
Drucksache 14/6538
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
Drucksache 14/7125
Berichterstattung:
Abgeordnete Barbara Wittig
Erwin Marschewski
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/7125,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. Gegenstimmen? Enthaltungen? Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU gegen
die Stimmen von FDP und PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Ge-
genstimmen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
CDU/CSU gegen die Stimmen von FDP und PDS ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 34 e:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. März
2001 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und Malta zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein-
kommen und vom Vermögen
Drucksache 14/7039
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
19356
Zweite und dritte Beratung und Schlussabstim-
mung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 19. April 2001 zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und Kanada zur Vermeidung
der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und bestimmter an-
derer Steuern, zur Verhinderung der Steuer-
verkürzung und zur Amtshilfe in Steuersachen
Drucksache 14/7041
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
Drucksache 14/7353
Berichterstattung:
Abgeordnete Heidemarie Ehlert
Klaus Lennartz
Heinz Seiffert
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7353, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 14/7039 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, sich zu erheben. Gegenstimmen? Enthaltungen?
Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7353, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 14/7041 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. Gegenstimmen? Enthaltun-
gen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Ge-
genstimmen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist
damit einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-
tionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 34 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 304 zu Petitionen
Drucksache 14/7161
Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Die Sammelübersicht 304 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der
FDP bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 305 zu Petitionen
Drucksache 14/7162
Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Die Sammelübersicht 305 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der
FDP bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 306 zu Petitionen
Drucksache 14/7163
Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Die Sammelübersicht 306 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der
FDP bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 307 zu Petitionen
Drucksache 14/7164
Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Die Sammelübersicht 307 ist mit dem glei-
chen Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 308 zu Petitionen
Drucksache 14/7165
Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Die Sammelübersicht 308 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von
CDU/CSU, FDP und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 309 zu Petitionen
Drucksache 14/7166
Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Sammelübersicht 309 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS bei Gegenstimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses
Sammelübersicht 310 zu Petitionen
Drucksache 14/7167
Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Sammelübersicht 310 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der FDP bei Ge-
genstimmen der PDS angenommen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 5 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
19357
über elektronische Register und Justizkosten
für Telekommunikation ERJuKoG
Drucksache 14/6855
Beschlussempfehlung und Bericht
des Rechtsausschlusses
Drucksache 14/7348
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Dr. Wolfgang Götzer
Volker Beck
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 5 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschlusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu der Ver-
ordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Umsetzung des Europäischen
Abfallverzeichnisses
Drucksachen 14/7091, 14/7195 Nr.2.1,
14/7339
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Mehl
Georg Girisch
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck-
sache 14/7091 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Die Beschlussempfehlung ist damit einstim-
mig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Massive Mehrkosten bei den Baumaßnahmen
im Parlaments- und Regierungsviertel in Berlin
sowie Verantwortung der Bundesbaugesell-
schaft
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner für die
antragstellende Fraktion hat der Kollege Dr. Uwe-Jens
Rössel von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Nach vorliegenden Informa-
tionen verursachen der Umbau des Reichstagsgebäudes,
der Neubau des Bundeskanzleramtes sowie die neuen Ge-
bäude für den Deutschen Bundestag Mehrkosten in einem
Umfang von insgesamt etwa einer halben Milliarde DM.
Geplant waren Gesamtkosten in einem Umfang von
3,0 Milliarden DM. Zum Vergleich: Diese Mehrkosten
machen die Hälfte des Bundesumwelthaushaltes im
Jahr 2001 aus. Das zeigt die Größenordnung.
Auf der Grundlage der bislang geprüften Abrechnun-
gen werden beispielsweise beim Neubau des Bundes-
kanzleramtes die geplanten Kosten in Höhe von 398 Mil-
lionen DM auf mindestens 513 Millionen DM anwachsen.
Das sind 115 Millionen DM mehr, als ursprünglich ge-
nehmigt. In der Kostenexplosion der Bundesbauten ist
aber längst noch nicht das Ende der Fahnenstange er-
reicht. Es muss mit weiteren 300 Millionen DM bis
500 Millionen DM Mehrkosten gerechnet werden. Nach
wie vor sind nämlich Rechnungen zwischen bau-
ausführenden Firmen und der Bundesbaugesellschaft
Berlin in dreistelliger Millionenhöhe strittig.
Vielen Firmen, die am Bau der Bundesbauten beteiligt
waren, drohen wegen nicht bezahlter Rechnungen seitens
der Bundesbaugesellschaft weiterer Arbeitsplatzabbau,
weitere Kurzarbeit und sogar Insolvenzen. Dies geschieht
in einer Zeit, in der die Lage bei der Bauwirtschaft, beim
Bauhandwerk und beim Baunebenhandwerk zusehends
dramatischer wird. Bereits jetzt, so die Zahlen, gibt es
über 650 000 arbeitslose Bauleute in Deutschland. Das ist
eine fürwahr unverantwortliche Situation.
Herr Kollege Kampeter, ich freue mich, dass Sie sich
schon jetzt so aktiv an der Debatte beteiligen. Ich will
Ihnen an dieser Stelle sagen: Die genannten Baumaßnah-
men haben selbstverständlich das Antlitz im Spreebogen
und das Stadtbild verändert. Die Glaskuppel auf dem
Reichstagsgebäude ist in der Tat ein Besuchermagnet.
Aber die von der Bundesbaugesellschaft Berlin mit be-
schränkter Haftung gemanagten Bauvorhaben sind auch
von Gigantismus ich verweise nur auf das Bundeskanz-
leramt , von akuten Qualitätsmängeln, von damit einher-
gehenden, teilweise erheblichen Terminüberschreitungen
und schließlich von hohen Mehrkosten begleitet. Die
Bauleistungen der Bundesbaugesellschaft, deren 100-
prozentiger Gesellschafter der Bund ist, können etwas
salopp formuliert als Management von Pleiten, Pech und
Pannen charakterisiert werden.
Die PDS hatte 1992 im Bundestag die Bildung der
Bundesbaugesellschaft diese war schon damals sachlich
nicht gerechtfertigt vehement abgelehnt und sieht sich
in dieser Entscheidung bis heute bestätigt. Ich möchte
auch nicht verhehlen, dass die Privatisierung damals vor
allem von CDU/CSU und FDP massiv vorangetrieben
worden ist.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
19358
Anlässlich der Unterzeichnung des Gesellschafter-
vertrages am 10. September 1993 erklärte die damalige
schwarz-gelbe Bundesregierung, dass mit der Wahl der
privaten Rechtsform anstelle der Bundesbaudirektion
die jetzt folgenden Worte sollte man sich auf der Zunge
zergehen lassen eine flexiblere Planung und Untersu-
chung der Baumaßnahmen möglich ist. Aufgabe der
privaten Gesellschaft sei es, für eine zügige und insbe-
sondere auch sparsame ich betone: sparsame Um-
setzung der Baumaßnahmen zu sorgen.
Die jetzt vorliegende Bilanz hinsichtlich der Bauten
am Spreebogen zeigt, dass die Bundesbaugesellschaft
selbst und ihre Aufsichtsgremien, darunter auch das Bun-
desministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
und das Bundesministerium der Finanzen, so manche der
ihr übertragenen Aufgaben mit Füßen getreten haben. Die
Privatisierung hat auch in diesem Falle die Fakten
liegen auf dem Tisch zu einem Fiasko geführt. Zu of-
fensichtlich ist, dass sie damals wohl in erster Linie ver-
anlasst worden ist, um den Spitzenmanagern der Bau-
gesellschaft Topgehaltskonditionen zu verschaffen, die
nach dem öffentlichen Dienstrecht nicht, und zwar auch
nicht annähernd, möglich gewesen wären. Für diese er-
heblichen Mehrkosten sollen wiederum die Steuer-
zahlerinnen und Steuerzahler aufkommen. Wir meinen:
Kein Kavaliersdelikt! Unverantwortliche Lage!
Die PDS-Fraktion verlangt, dass die Bundesregierung
den gesamten Vorgang gründlich auswertet. Dem Deut-
schen Bundestag sind umgehend kontrollfähige Schluss-
folgerungen vorzulegen. Auch die Einsetzung eines parla-
mentarischen Untersuchungsausschusses ist denkbar und
sollte geprüft werden.
Die Verantwortlichen sind unter anderem auch mithilfe
der vorhandenen Haftungsregelungen persönlich zur Re-
chenschaft zu ziehen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Bun-
desregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatsse-
kretär Achim Großmann.
A
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bun-
destag hat am 20. Juni 1991 beschlossen, seinen Sitz von
Bonn nach Berlin zu verlegen.
Dies bedeutete, dass in kurzer Zeit ein immenses Bauvo-
lumen realisiert werden musste. Uns stellte sich eine ein-
zigartige Aufgabe in einer bisher völlig unbekannten
Größenordnung. Die damalige Bundesregierung und der
Deutsche Bundestag diskutierten und überlegten gemein-
sam, wie diese Herausforderung am effektivsten zu be-
wältigen wäre. Die vorhandenen Kapazitäten der Bauver-
waltung darüber bestand über alle Parteigrenzen hinweg
Einigkeit waren jedenfalls für diese einmalige Aufgabe
nicht ausgelegt und so wurde unter Leitung der damaligen
Bundesbauministerin Irmgard Schwaetzer von der FDP
die Gründung einer privatrechtlichen Gesellschaft auf
Zeit favorisiert.
Im zweiten Zwischenbericht der Konzeptkommission
des Ältestenrates des Deutschen Bundestages vom
17. Juni 1992 wird auf Folgendes hingewiesen:
Zur zügigen Bewältigung der Baumaßnahmen von
Bundestag und Bundesregierung im Wettbewerbsge-
biet Spreebogen soll eine Bau-GmbH im Eigentum
der Bundesrepublik Deutschland gegründet werden,
die die grundsätzlich vorgeschriebene Verantwor-
tung des zuständigen Bundesministers gegenüber
dem Deutschen Bundestag wahrt
Weiter heißt es, dass alle grundlegenden Entscheidungen
für Bauvorhaben des Deutschen Bundestages von diesem
selbst getroffen ... werden. Dies ist unter anderem Auf-
gabe der Baukommission des Ältestenrates des Deut-
schen Bundestages, die zugleich als Beirat der Bundes-
baugesellschaft fungiert und in der auch nur zur
Information Mitglieder der PDS-Fraktion sitzen.
Im selben Zwischenbericht steht das ist ein ganz
wichtiger Satz :
Die Einflussmöglichkeiten des Bundesministers für
Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, nament-
lich auch durch die baufachlichen Prüfungen, müs-
sen im Interesse der Effektivität auf ein Mindestmaß
zurückgeführt werden und im Rahmen des haus-
haltsrechtlich Erforderlichen auf Stichproben und
Plausibilitätskontrollen beschränkt sein.
Das war ein klarer Hinweis auf das, was damals vom Par-
lament und von der alten Bundesregierung gewollt war,
nämlich möglichst wenig Einfluss auf das Agieren der
Bundesbaugesellschaft.
Auch im dritten Zwischenbericht der Konzeptkommis-
sion des Ältestenrates vom 17. Januar 1994 werden unter
Nummer 4, Bundesbaugesellschaft Berlin mbH, die so-
eben zitierten Ausführungen des zweiten Zwischenbe-
richts deutlich hervorgehoben.
Das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen ist der Baugesellschaft gegenüber nicht wei-
sungsbefugt und auch ist nicht im Unterschied zur Bau-
verwaltung deren oberste technische Instanz. Die somit
reduzierten Aufgaben nimmt die Bundesregierung, dem
privatwirtschaftlichen Charakter der Bundesbaugesell-
schaft und den zugrunde liegenden Verträgen entspre-
chend, verantwortungsvoll wahr.
Alle Verträge des Bundes mit der Bundesbaugesell-
schaft also Gesellschaftsvertrag, Rahmenvertrag und
die Projektverträge sind erst nach Zustimmung des
Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages
geschlossen worden. Somit war der Deutsche Bundestag
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Uwe-Jens Rössel
19359
an allen maßgeblichen Entscheidungen bezüglich seiner
Bauvorhaben intensiv beteiligt.
Nun einige Worte zur zeitlichen Entwicklung. Die
Bundesbaugesellschaft Berlin wurde am 19. September
1993 in Berlin gegründet. Entsprechend dem Gesell-
schaftervertrag obliegt der BBB die Organisation und die
Koordination der Planung und Durchführung von Bau-
maßnahmen.
Die Bundesbaugesellschaft handelt eigenverantwort-
lich. Zu ihren Baumaßnahmen gehört zum Beispiel der
Umbau des Reichstagsgebäudes, termingerecht fertigge-
stellt zur Eröffnung im April 1999. Herr Rössel, da Sie al-
les zusammengefasst haben, sollten wir auch noch sagen,
dass nach dem jetzigen Stand die Kosten für das Reichs-
tagsgebäude, die ursprünglich auf 600 Millionen DM ver-
anschlagt wurden, auf 607 Millionen DM geschätzt wer-
den. Allerdings sind noch einige Rechnungen strittig,
sodass wir unter Umständen punktgenau bei 600 Milli-
onen DM landen könnten. Man muss also die einzelnen
Gebäude, die Sie alle in einen Topf geworfen haben, sehr
unterschiedlich beurteilen.
Zu den Baumaßnahmen zählen weiter die Betriebs-
kindertagesstätte und die Neubauten des Bundeskanzler-
amtes, des Paul-Löbe-Hauses, des Jakob-Kaiser-Hauses
und des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses. Die meisten
dieser Gebäude sind in Betrieb genommen; beim Jakob-
Kaiser-Haus hat der Umzug im Oktober 2001 begonnen.
Das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus wird am spätesten
fertig gestellt. Hinzu kommen natürlich auch die In-
frastrukturmaßnahmen, die parallel dazu durchgeführt
werden.
Wie Ihnen bekannt ist, standen alle Baumaßnahmen
terminlich unter höchstem Zeitdruck. Die Terminpläne
waren von Anfang an sehr ehrgeizig und die Bundesbau-
gesellschaft hat alle Anstrengungen unternommen, diese
einzuhalten. So schlug sie zum Beispiel ein Überlappen
der einzelnen Leistungsphasen vor. Der Haushaltsaus-
schuss des Deutschen Bundestages hat am 20. September
1995 einvernehmlich der teilweise überlappenden Pla-
nung Entwurfs- und Ausführungsplanung und der vor-
gezogenen Bauausführung der Baugruben für die großen
Neubaumaßnahmen zugestimmt.
Zusätzlich wurden alle diese Neubaumaßnahmen
durch unvorhersehbare Gründungsprobleme bzw. -schä-
den unterschiedlich in Ursache und Umfang belastet,
die einen gestörten Bauablauf zur Folge hatten. Teilweise
wird gesagt, man hätte sich den Boden genauer ansehen
müssen. Hätte man das getan, so hätte das nur zur Folge
gehabt, dass man schon damals zu höheren Kostenschät-
zungen gekommen wäre. Im Ergebnis hätten sich ähnli-
che Summen ergeben. Die Klärung der Ursachen und
Haftungsfragen in zeitaufwendigen Gutachter- und Ge-
richtsverfahren sind beim Jakob-Kaiser-Haus und beim
Marie-Elisabeth-Lüders-Haus noch nicht abgeschlossen.
Dies bezieht sich auf die gestörten Bauabläufe. Ich will
auch anmerken, dass wir über Regressforderungen an Fir-
men nicht nur nachdenken, sondern der Aufsichtsrat da-
rüber schon entschieden hat.
Ein Wort zu den Mehrkosten. Ein detaillierter Bericht
der Bundesbaugesellschaft zu den Mehrkosten und deren
Ursachen wurde dem Haushaltsausschuss seitens der
Bundesregierung vorgelegt und von ihm gestern, also in
seiner Sitzung am 7. November 2001, zur Kenntnis ge-
nommen. Am Vortag haben wir den Berichterstattern die
Möglichkeit gegeben, auch mit den Verantwortlichen der
Bundesbaugesellschaft darüber ausführlich zu sprechen.
Herr Rössel, Sie haben sich wegen eines Fraktionstermins
vorzeitig verabschiedet. Wenn Sie bei der Informations-
veranstaltung geblieben wären, dann hätten Sie sich Ihre
Rede heute hier sparen können.
Nach diesem Bericht ist voraussichtlich mit insgesamt
rund 200 Millionen DM Mehrkosten wegen Baugrund-
schäden und des dadurch bedingten gestörten Bauablaufs
bei den Baumaßnahmen zu rechnen. Diese Baugrund-
schäden waren aus den vor Baubeginn aufgestellten Bau-
grundgutachten ich habe schon darauf hingewiesen
nicht vorherzusehen. Unabhängig davon werden seitens
der Bundesbaugesellschaft bei den einzelnen Bauvorha-
ben Mehrkosten in Höhe von 374 Millionen DM erwartet.
Dabei ist das Restrisiko schon eingerechnet, das Sie ge-
rade noch draufgesattelt haben. Ihre Zahlen stimmen also
nicht.
Es hat sich übrigens herausgestellt, dass bei den Ver-
handlungen die Firmen Forderungen in dreistelliger Mil-
lionenhöhe zurückgezogen haben. Das zu Ihrem Vorwurf,
Rechnungen würden nicht bezahlt. Hätten wir denn unbe-
rechtigt gestellte Rechnungen bezahlen sollen? Wäre das
für die Steuerzahler der richtige Weg gewesen? Nein, der
richtige Weg ist, mit den Firmen knallhart zu verhandeln;
denn nicht alle Firmen legen Rechnungen vor, an die man
direkt einen Haken machen kann.
Das hat dem Steuerzahler Kosten in dreistelliger Millio-
nenhöhe erspart.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal hervorheben,
dass die Baukostensteigerungen ihre Ursache weder in
zusätzlichen Nutzerwünschen noch in einer qualitativ
höheren Bauausführung hatten. Die Mehrkosten hatten
verschiedene Ursachen: Im Bereich der Planung und Aus-
schreibung wurden Planungsfortschreibungen, Massen-
mehrungen und Bauumstellungen erforderlich. Es gab
Störungen im Bauablauf. Daraus resultierten Verschie-
bungen der Fertigstellungstermine. Schließlich dauert da-
durch der erforderliche Interimsbetrieb länger und auch
das kostet Geld.
Grundsätzlich sind erst nach Vorliegen und Endab-
rechnung der Schlussrechnungen, was noch geraume Zeit
nach Baufertigstellung in Anspruch nehmen wird, ab-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Parl. Staatssekretär Achim Großmann
19360
schließende Angaben zu den endgültigen Kosten möglich,
aber vom Bauablauf her sind bei fertig gestellten Gebäu-
den keine Risiken mehr vorhanden.
Der Haushaltsausschuss hat in seiner Sitzung am
16. Mai 2001 den Bundesrechnungshof gebeten, zur Ver-
tragsgestaltung sowie zu Fragen der Haftung der Bundes-
baugesellschaft wegen der Nichteinhaltung von Kosten
und Terminen Stellung zu nehmen. Auch dieser Bericht
des Rechnungshofs ist dem Haushaltsausschuss in der
gestrigen Sitzung vorgelegt und dort zur Kenntnis ge-
nommen worden.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass es keine An-
haltspunkte für ein Fehlverhalten der Geschäftsführer
oder der Aufsichtsratsmitglieder der Bundesbaugesell-
schaft gibt. Wir alle ärgern uns über die Mehrkosten, die
mit so großen Bauwerken nun einmal zusammenhängen.
Wir haben einige Gebäude ohne Mehrkosten, einige mit
deutlichen Mehrkosten fertig gestellt. Über die Ursachen
habe ich gesprochen. An dieser Stelle müssen wir, meine
ich, Gerechtigkeit walten lassen. Die Bundesbaugesell-
schaft hat weitestgehend gut gearbeitet und das sollte man
an dieser Stelle auch einmal festhalten.
Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dietmar Kansy
von der CDU/CSU-Fraktion.
Ein Glück für
dich, dass du nicht auf meine Landesliste musst!
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Es ist wohl wahr: Es läuft etwas nicht gut mit der
BBB. Wenn etwas nicht gut läuft, werden Schuldige ge-
sucht. Das ist überall im Leben so. Das ist auch im deut-
schen Parlament so,
auch bei den Bundestagsbauten, Herr Kollege Wagner,
und bei der Entwicklung der Kosten für diese Bauten.
Aber wenn man dabei in Kenntnis der derzeitigen Sach-
lage Showdebatten anzettelt,
dann ist das nicht zielführend, dann ist das nicht auf-
klärend, dann ist das eher vernebelnd. Wenn Sie auch
noch gleichzeitig weniger Geld für mehr Bauarbeiter aus-
geben wollen, wie beantragt, dann ist das nicht mehr
nachzuvollziehen.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns einmal da-
ran erinnern, wie das alles begann. Staatssekretär
Großmann hat es angedeutet. Ich will noch etwas mehr
Klartext reden.
Als wir 1993 nach zweijähriger Diskussion die BBB
gegründet haben, war eine Hoffnung, die lange Klagelita-
nei über die damalige Bundesbaudirektion, mit der wir
unsere Parlamentsbauten in Bonn gebaut haben, in Berlin
nicht erneut anstimmen zu müssen.
Ja, das war unsere Hoffnung. Hauptkritikpunkte an der
Bundesbauverwaltung waren damals nicht ausreichende
Termintreue, nicht ausreichende Kostentreue
und nicht ausreichende Mängelbeseitigung vor Übergabe
der Gebäude. Ich erinnere Sie an die spektakuläre Über-
nahme unseres Parlamentsneubaus in Bonn. Während der
Haushaltsrede von Theo Waigel traten derartige techni-
sche Probleme auf, dass wir für ein halbes Jahr wieder ins
Wasserwerk ziehen mussten.
Wir haben etwas Neues versucht. Die BBB hat nun
Probleme, unter anderem mit den Baukosten. Wie auch
der Bericht des Bundesrechnungshofes an den Haushalts-
ausschuss zeigt, ist es jetzt dennoch zu früh, Vorverurtei-
lungen vorzunehmen. Wenn man den Bericht des Bun-
desrechnungshofes an den Haushaltsausschuss mit dem
Bericht, den der Bundesminister für Verkehr, Bau und
Wohnungswesen in gleicher Sache dem Parlament zu-
kommen ließ, vergleicht, dann ist man ausreichend sach-
kundig, um zu dem Ergebnis zu kommen: Man sollte
natürlich weiterhin zielstrebig daran arbeiten, endgültige
Klarheit zu schaffen. Das gilt auch in Bezug auf die Mehr-
kosten, die die PDS pauschal als massiv bezeichnet.
Weil es gerade so schön passte der Staatssekretär hat
schon darauf hingewiesen , haben Sie in Ihrer Rede auch
angesprochen, dass für das Reichstagsgebäude statt
600 Millionen DM 607 Millionen DM ausgegeben wur-
den. Der Anstieg der Kosten um ungefähr 1 Prozent geht
auf die Mehrwertsteuererhöhung während der Bauzeit
zurück. Das wurde noch gar nicht erwähnt.
Gerade angesichts des Ergebnisses, das wir im Hin-
blick auf den Umbau des Reichstagsgebäudes erzielt ha-
ben, hätte ich Ihnen wirklich den guten Rat gegeben, die-
ses Gebäude in dieser Debatte überhaupt nicht in den
Mund zu nehmen.
Neben dem Reichstagsgebäude gibt es das Jakob-
Kaiser-Haus, unser Sorgenkind, was die Parlamentsbau-
ten angeht. Ich darf auf Folgendes hinweisen: Die
Kostenschätzung stammt aus dem Jahr 1994. In diesem
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Parl. Staatssekretär Achim Großmann
19361
Zeitraum wurde das Berlin/Bonn-Gesetz verabschiedet.
Seitdem sind mehr als sieben Jahre vergangen.
Bei der Errichtung des Jakob-Kaiser-Hauses, unseres
Problemkindes Sie können es den Berichten entnehmen ,
kam es wenn man die Kosten für die einzelnen Gewerke
zusammenfasst zu Mehrkosten in der Größenordnung
von 12 bis 16 Prozent. Zwar sind die Kosten in diesen Jah-
ren für Rohbauten nicht so stark angestiegen, wie es
früher immer der Fall war; allerdings entfallen mehr als
50 Prozent der Kosten für unsere Bauten auf die techni-
schen Gewerke. Wer davon redet, dass es in dem Zeitraum
von mehr als sieben Jahren Kostensteigerungen von über
12 Prozent gab, der hat das alles nicht berücksichtigt. Es
wäre zielführender, in der Debatte ein Stückchen Fairness
walten zu lassen, als nur deswegen populistisch auf dem
politischen Gegner herumzuhauen, weil es gerade in die
Landschaft passt.
Mit der Konstruktion der BBB hat sich das ganze Par-
lament die Möglichkeit genommen Staatssekretär
Großmann hat es bereits gesagt , irgendjemandem in die-
ser Gesellschaft direkte Anweisungen zu geben.
Wir haben uns aus dem operativen Geschäft zurückge-
zogen.
Ja, so war es. Nachdem wir beim Umbau des Parla-
mentsgebäudes in Bonn mit den Beamten sehr große Pro-
bleme hatten, haben wir uns gedacht, dass wir es beim
Umbau des Parlamentsgebäudes in Berlin mit einer neuen
Konstruktion versuchen. Nachdem wir alles aufgeklärt
haben, sollten wir den Mut haben zu bilanzieren. Wir wis-
sen dann vielleicht, wie wir es in der Zukunft besser ma-
chen. Ich wehre mich nur gegen billige Vorverurteilungen
von wem auch immer , bevor der Bundesrechnungshof
und andere die Kosten unserer Bauvorhaben endgültig be-
urteilt haben.
Langer Rede kurzer Sinn: Lassen Sie uns auf dem Tep-
pich bleiben!
Erst sollte man sich informieren, dann sollte man nach-
denken und erst dann sollte man Aktuelle Stunden bean-
tragen! Besser noch ist es, Aktuelle Stunden dieser Art gar
nicht zu beantragen.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Franziska Eichstädt-
Bohlig von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
ginnen und Kollegen! Was die Schuldfrage angeht, soll-
ten wir es uns nicht ganz so einfach machen.
Als Erstes möchte ich ganz deutlich sagen: Ich glaube
nicht, dass wir hier über das Thema der privatrechtlichen
Konstruktion streiten müssen. Wir sollten nicht der
Rechtskonstruktion die Schuld in die Schuhe schieben.
Wenn noch mehr Zeit vergangen ist, dann sollte der Rech-
nungshof einmal in einer sehr ernsten Form und auf der
Grundlage vernünftiger Kriterien einen Vergleich zwi-
schen der Arbeitsweise des Bundesbauamtes und der Ar-
beitsweise der BBB im Hinblick auf die von diesen
Behörden durchgeführten Projekte vornehmen. Man
könnte dann sehen, ob wir aus den Erfahrungen mit der
privatrechtlichen Konstruktion à la longue Konsequenzen
ziehen müssen. Das könnte dabei helfen, die Effizienz der
Arbeit des Bundesbauamtes zu hinterfragen. Ich bitte da-
rum, das Thema privatrechtliche Konstruktion geson-
dert zu behandeln. Jedes Unternehmen, das Projektmana-
gement bei Bauten solcher Größenordnung betreibt, hat es
mit unerwarteten Kostensteigerungen, mit Terminplänen
und mit Mängeln zu tun. Von daher halte ich es für rich-
tig, die Effizienzfrage zu stellen. Aber ich bin nicht dafür,
gleich das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Da gerade ich, seitdem ich an dem ganzen Verfahren
beteiligt bin, am deutlichsten Kritik ausgesprochen habe
und immer wieder gewarnt und geschimpft habe sowie
der Bundesbaugesellschaft Berlin sehr viele Vorhaltungen
gemacht habe, möchte ich an dieser Stelle angesichts der
enormen Bauvolumina und Probleme, die abzuwickeln
und zu bewältigen waren, der BBB meinen Dank aus-
sprechen. Ich bin der Meinung, dass sich Kritik auf der ei-
nen Seite und Anerkennung auf der anderen Seite nicht
ausschließen müssen. Wir sollten vielmehr die richtige
Relation bei beidem bewahren.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen von daher ist
diese Aktuelle Stunde gar nicht einmal so schlecht , auf
ein paar Punkte hinzuweisen. Hierbei spielt der Aspekt
eine Rolle, dass ich glaube, dass es falsch wäre, einseitig
alles nur der BBB in die Schuhe zu schieben;
vielmehr tragen auch wir als Parlament und unsere Bau-
kommission ich sage bewusst: wir und der damalige
Haushaltsausschuss ein Stück Mitverantwortung für eine
Reihe von wirklichen Fehlentscheidungen, die damals
schon hätten erkannt werden können.
Als Erstes nenne ich die Zeitplanung. Es ist zu viel Zeit
in der Vorentscheidungsphase vertan worden,
während die eigentlich geplante Bauzeit vom ersten Tag
an das haben Leute, die davon Ahnung hatten, sofort ge-
sehen zu knapp bemessen war.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
19362
Der zweite Punkt ist, dass die Kostenobergrenze in
Höhe der berühmten 20 Milliarden DM, die vom Haus-
haltsausschuss gesetzt worden war, meines Erachtens sehr
großzügig bemessen war; aus meiner damaligen Sicht war
sie zu hoch angesetzt. Einen aus meiner Sicht entschei-
denden Fehler im Zusammenhang damit habe ich den Ar-
chitekten und der BBB bis heute nicht verziehen, nämlich
dass sie mit der Kostenplanung für die jeweiligen Projekte
gnadenlos bis knapp an die Obergrenze gegangen sind. Es
wurde teilweise nicht einmal ein Sicherheitseinbehalt von
10 Prozent vereinbart. Angesichts derartig komplizierter
Projekte hätten mindestens 20 Prozent Sicherheitseinbe-
halt vorgesehen werden müssen. Die Schuld dafür sollte
man nicht nur einer Seite anlasten, sondern sie muss so-
wohl der Auftraggeber- als auch der Auftragnehmerseite
angerechnet werden.
Der dritte Fehler war, dass die BBB der Meinung war,
dass über das Vergabeverfahren Kosten eingespart wer-
den könnten. Es war ein großer Fehler zu hoffen, dass die
Kosten durch Konkurrenz so gedrückt werden könnten,
dass die Gesamtkosten abnähmen. Stattdessen ist gleich
beim ersten Anlauf, weil die BBB die Gründungs-
probleme nicht ernst genommen hat, das ganze auf dem
Vergabeverfahren beruhende Vertragssystem mit den
verschiedenen Auftragnehmern wie Dominosteine zu-
sammengebrochen. Dadurch entstand eine Kette von Kos-
tensteigerungen, Zeitverzögerungen und Nachtragsver-
fahren, die uns heute noch belasten. Insofern liegt aus
meiner Sicht der Grund für diesen Fehler in der Anfangs-
phase, als diese Projekte festgelegt worden sind.
Ich spreche noch einen Punkt deutlich an, der mich da-
mals sehr geärgert hat: Dass die Bundesbaugesellschaft
Berlin die Gründungsprobleme schon in der Planungs-
phase nicht ernst genommen hat, halte ich wirklich für ein
sehr ernstes Versäumnis; denn von den Fachleuten vor Ort
hat es deutliche Warnungen gegeben. Aber die BBB
meinte in dieser Frage war sie wohl sehr westdeutsch
geprägt , dass der Berliner Baugrund und das hier vor-
handene Urstromtal keine ernst zu nehmenden Faktoren
seien und dass sie deshalb diesbezügliche Warnungen in
den Wind schlagen könnte. Auf diese Auffassung sind wir
alle gemeinsam hereingefallen. Darauf gehen ja auch die
Kostensteigerungen hauptsächlich zurück und auch die
Folgeeffekte haben sehr viel damit zu tun.
Ich weiß, dass meine Redezeit gleich zu Ende ist.
Trotzdem möchte ich noch deutlich meine Kritik bei den
Architekten anmelden. Diese haben zu sehr auf Design
und zu wenig auf den Gebrauchswert geachtet
und ihrerseits die Gelegenheit genutzt wohl in der Mei-
nung, dass man es bei einem so noblen Bauherrn, den man
nur einmal in seinem Berufsleben bekommt, machen
könnte , praktisch bis an die Oberkante Unterlippe zu ge-
hen. Wir spüren das ja auch heutzutage ich möchte das
deutlich sagen , dass der Architektenkollege Braunfels
die Länge der Wegstrecken, die wir vom Reichstag bis zu
unseren Büros zurücklegen müssen, nicht beachtet hat.
Ich finde, das sind schon schlimme Architektenfehler.
Last but not least ein weiterer Fehler, den sich das Par-
lament selbst zuschreiben muss: Das sind die zu kleinen
Arbeitsräume. Da ist einfach aus der Angst heraus das alte
Maß 18 Quadratmeter aus dem Schürmann-Bau fort-
geschrieben worden.
Insofern wird alle Parlamentarier uns selbst und unsere
Nachfolger das Problem verfolgen, dass wir Luxusde-
sign in Foyers, in Fluren und in Treppenhäusern haben,
dass wir als Arbeitsräume aber kleine Buchten haben, de-
ren Gebrauchswert wirklich nicht den Aufgaben ange-
messen ist, die wir und unsere Mitarbeiter und Mitarbei-
terinnen zu erledigen haben. Das halte ich für den
gröbsten Fehler. Den sollten wir aber auch gemeinsam
schultern; daran ist nicht die BBG schuld.
Ich danke Ihnen allen. Wir haben da viel nachzuarbei-
ten. Das sollten wir gemeinsam tun und nicht rechthabe-
risch gegeneinander.
Als
nächster Redner hat der Kollege Jürgen Koppelin von der
FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Man darf hier noch einmal daran
erinnern: Aufgabe der Bundesbaugesellschaft sollte es
sein, für eine zügige und insbesondere auch sparsame
Umsetzung der Baumaßnahmen hier in Berlin zu sorgen.
Das war die Leitlinie. Nun muss man vergleichen und ab-
checken, ob wirklich alles so gelaufen ist. Ich sage einmal
an Bündnis 90/Die Grünen und an die PDS gerichtet: Es
ist richtig, Sie haben früher eine andere Haltung gehabt,
auch zu dieser Bundesbaugesellschaft.
Das hat sich nicht geändert. Ich muss Ihnen allerdings
auch sagen: Ich halte ein Parlament, ich halte Abgeord-
nete für völlig überfordert, wenn sie solche Baumaß-
nahmen in der Form begleiten sollten, wie Sie das damals
vorgesehen hatten.
Insofern war es schon richtig, eine solche Gesellschaft zu
gründen. Das Parlament selbst konnte doch eigentlich nur
zusammen mit dem damaligen und dem jetzigen Bundes-
bauministerium sowie mit der Bundesbaugesellschaft
Rahmenrichtlinien für termingerechtes Bauen erstellen
und die Kostenentwicklung entsprechend begleiten.
Heute müssen wir feststellen, dass diese gute Zielset-
zung, die wir damals hatten, enttäuscht worden ist. Die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Franziska Eichstädt-Bohlig
19363
Bundesbaugesellschaft hat uns deutlich gemacht: Sie ist
weder in der Lage, termingerecht zu bauen, noch ist sie in
der Lage, den Kostenrahmen einzuhalten.
Die Bundesbaugesellschaft besonders das werfe ich
ihr vor hatte sich allerdings auch verpflichtet, den Bund
unverzüglich zu unterrichten, wenn absehbar wäre, dass
die Kostenobergrenze und die vereinbarten Termine nicht
eingehalten werden könnten. Lieber Herr Kollege Kansy
ich spreche Sie als Vorsitzenden der Baukommission an ,
wir alle müssen uns vorwerfen lassen, dass wir zu lange all
das geglaubt haben, was uns in schriftlichen Berichten von
der Bundesbaugesellschaft präsentiert worden ist; dazu ha-
ben Sie leider nicht Stellung genommen. Wir sind doch
alle völlig überrascht gewesen da haben wir selber nicht
so hinterfragt, wie es in unserer Verantwortung gestanden
hätte; ich schließe mich da mit ein , dass wir 14 Tage vor-
her noch einen Bericht von der Bundesbaugesellschaft be-
kommen hatten und dann auf einmal das Chaos herrschte.
Das kann doch alles nicht wahr sein. Sie haben uns
schlecht informiert; sie haben uns falsch informiert. Vor al-
lem das werfe ich ihnen vor. Wir konnten das teilweise
nicht begleiten, weil wir falsche Informationen hatten. Sie,
auch Sie persönlich, haben das alles leider zu oft geglaubt.
Es reicht nicht, dem Präsidenten bei der Einweihung den
goldenen Schlüssel zu überreichen; vielmehr muss man
das in seinem Job auch entsprechend begleiten.
Insofern ist das Ganze zu einem Trauerspiel geworden.
Wir haben eine Kostenexplosion; die Bundesbaugesell-
schaft deutet selber an, dass die Mehrkosten über 500 Mil-
lionen DM betragen. Ich befürchte allerdings, dass sie
sich in einer Sache wieder vertan haben: Es sind nicht
D-Mark, sondern Euro. Wir kommen also fast an 1 Milli-
arde DM heran, befürchte ich.
Ich sage Ihnen ganz offen: Wenn ich mir die Berichte
noch einmal anschaue, die wir von der Bundesbaugesell-
schaft bekommen haben, dann muss ich feststellen, dass
ich denen heute kein Wort mehr glaube kein Wort mehr!
Die Umzugstermine sind zigmal gekippt worden. Warum
sind sie nicht realistisch gewesen?
Lieber Herr Kansy, ich spreche Sie auch noch einmal
persönlich an.
Trotzdem müssen Sie sich das anhören. Ich will Sie ja
nicht persönlich angreifen. Daran sind noch mehrere Ab-
geordnete aus allen Fraktionen beteiligt; ich sehe Sie aber
gerade und Sie haben es zu sehr verteidigt.
Wir haben nebenan das Gebäude eingeweiht. Das
sollte eine Einweihung sein? Ich hatte eher den Eindruck,
es war eine Feierstunde wie auf einem Richtfest. So sah
es dort jedenfalls aus. Das sind doch Dinge, die wir uns
nicht bieten lassen können.
Es sind so viele Berichte geschrieben worden. Sie ha-
ben alle nicht gestimmt. Das werfe ich der Bundesbauge-
sellschaft vor. Dann kommt plötzlich der Hammer: die
großen Beträge, die großen Nachforderungen.
Was ist mit den vielen Verfahren? Natürlich weiß jeder:
Bei einer so großen Bauangelegenheit wird es auch Pro-
zesse geben. Wir haben bereits jetzt weit über 20 Pro-
zesse. Schauen Sie sich einmal die Summe an, um die es
dabei geht.
Wir sprechen alle auch sehr viel von Privatwirtschaft.
Glauben Sie denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
ein Privatunternehmer so bauen könnte, wie der Bund hier
gebaut hat, dass ein privater Unternehmer Kostenüber-
schreitungen in dieser Größenordnung akzeptieren
könnte? Er wäre längst pleite!
Die Gesellschaften, die für uns bauen, und auch die
Bundesbaugesellschaft wissen natürlich, dass der Bund
nicht Pleite gehen kann und dass man alles machen kann,
weil das schon irgendwie zurechtgebogen werden wird
und weil zum Schluss diverse Kommissionen und Gre-
mien alles abnicken werden.
Man kann diese Mängel nicht mit Wasserschäden und mit
Störungen in der Bauanfangsphase entschuldigen. Ich
habe die Befürchtung, dass schon von Anfang an einiges
schief gelaufen ist, worüber uns die Bundesbaugesell-
schaft nicht informiert hat.
Wenn hier davon gesprochen wurde, es sei knallhart
verhandelt worden so hat es der Herr Staatssekretär ge-
sagt , dann frage ich mich, warum der Bundestags-
präsident teilweise persönlich mit den Unternehmen ver-
handeln musste, um noch einiges in Gang zu bringen.
Das soll knallhartes Verhandeln gewesen sein?
Wir Freien Demokraten hätten es deshalb begrüßt,
wenn ein Untersuchungsausschuss eingesetzt worden
wäre.
Ich sage Ihnen ganz offen: Wir alle tragen Verantwortung.
Es geht nicht darum, zu sagen, dieser und jener hat
Schuld. Das gesamte Parlament trägt die Verantwortung.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Jürgen Koppelin
19364
Wir hätten der deutschen Öffentlichkeit zeigen können,
dass wir zu unserer Verantwortung stehen und dass wir
aus Fehlern lernen. Im Vorgespräch der Kollege Rössel
war dabei haben CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen unseren Vorschlag nicht unterstützt. Ich gebe zu,
dass die PDS bereit war, die Einsetzung eines Untersu-
chungsausschusses zu unterstützen.
Eine solche Maßnahme wäre besser gewesen. Dann hät-
ten wir der Öffentlichkeit zeigen können, dass wir als Par-
lament zu unseren Fehlern stehen.
Ich kann nur festhalten: Das Kapitel Bundesbaugesell-
schaft ist für uns nicht abgeschlossen.
Wir werden Konsequenzen ziehen müssen. Es werden
personelle Konsequenzen bei der Bundesbaugesellschaft
gezogen werden. Es werden Fragen nach der Haftung von
Geschäftsführern der Bundesbaugesellschaft zu stellen
sein.
Die Bundesbaugesellschaft hat den Bund als Bauherrn
lächerlich gemacht und ihn bis auf die Knochen blamiert,
indem sie ihn als unfähigen Bauherrn in der Öffentlichkeit
vorgeführt hat. Das Ergebnis können wir heute sehen.
Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Gabriele Iwersen von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Es ist eine Freude, zuzuhören, wie hier
ein Haufen Blinder von der Farbe redet. Anders kann man
es wirklich nicht bezeichnen.
Es mag ja sein, dass der eine oder andere von Ihnen lesen
kann. Aber von der Planung und von der Bauausführung
haben offensichtlich alle, die bisher geredet haben mit
Ausnahme der Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig , keine
Ahnung.
Dietmar Kansy schwebt über allen Dingen. Ihn kann
man wirklich nicht dazu zählen.
Ein Punkt ist jedenfalls klar: Es bedurfte einiger Zeit
für die vorbereitende Planung, da zum Beispiel eine ent-
sprechende Bauleitplanung fehlte. Wettbewerbe mussten
durchgeführt und entschieden werden. Dafür musste
zugegebenermaßen viel Zeit aufgewendet werden. Auf
denjenigen, die daran gearbeitet haben, lastete ein gewal-
tiger Druck. Aus der Sicht von Außenstehenden sind fünf
Jahre für die Verwirklichung eines solchen Projektes und
die Durchführung des Umzuges viel Zeit. Das stimmt im
Grunde genommen auch. Wenn man die Vorlaufzeit, also
die Planungsphase und die Genehmigungsphase, abzieht,
dann kommt man auf Bauzeiten von fünf bis sechs Jahren.
Das ist eigentlich eine angemessene Zeit für die Erstel-
lung von Gebäuden dieser Größenordnung.
Ich komme auf den Reichstag zu sprechen. Früher
wurde er als ein alter, grauer Kasten, der finster und ab-
weisend ist, eingestuft. Er hat aber durch den Umbau sehr
an Qualität gewonnen und hat sich zu einem Symbol für
diese Demokratie entwickelt. Das wäre unter der Regie
der PDS niemals möglich gewesen. Da können Sie sicher
sein.
Eines ist klar: Es ist ein Meisterstück, einen Umbau
dieser Größenordnung mit einer Kostenüberschreitung
von nur etwa 2 Prozent durchzuführen. Wenn Sie ein biss-
chen Ahnung von der Materie hätten, dann könnten Sie
das auch würdigen.
Ich habe Ahnung. Sie werden sich noch wundern.
Nun reicht es langsam!
Eines ist jedenfalls völlig klar und eindeutig: Die Be-
völkerung sieht es anders als Teile dieses Parlaments.
Über die Frage, ob es ein alter, grauer Kasten ist oder
nicht, wurde mit den Füßen abgestimmt. So verhält es sich
auch mit anderen Teilbereichen dieses Parlamentsviertels.
Aus dem Innern, von denen, die jeden Tag gucken, ob
die Klopapierrolle richtig hängt, geschmäht und mit Kri-
tik überzogen, hat sich das Reichstagsgebäude ganz ein-
deutig zu einem Anziehungspunkt für die Berliner und für
ihre Gäste und vor allen Dingen für unsere Gäste ent-
wickelt. Das ist eine hervorragende Leistung. Die Bau-
kommission hat es begleitet aus der entsprechenden Dis-
tanz, die uns zugemutet worden ist. Trotzdem haben wir
kräftig gestritten und durchaus auch Veränderungen her-
beigeführt,
Frau Eichstädt-Bohlig hauptsächlich gegen Waschbecken
kämpfend und ich für Behindertentoiletten kämpfend. Da
hatten wir ausnahmsweise sogar die Unterstützung von
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Jürgen Koppelin
19365
Herrn Dr. Seifert. Das ist die einzige Stelle, an der wir
über diese Kommission bewusst Mehrkosten verursacht
haben, weil wir die Barrierefreiheit dieser Gebäude her-
beiführen wollten. Es war sicherlich schon ein bisschen
spät; aber es ist noch relativ gut gelungen und es hat natür-
lich auch Geld gekostet.
Wir haben ja nicht nur dieses Gebäude vorzuweisen.
Das Kanzleramt ist genauso mit unheimlich viel Kritik
überzogen worden; Sie haben es vorhin schon gesagt. Es
wird von Gigantomanie und dergleichen mehr gespro-
chen.
Das Gebäude ist seiner Nutzung angemessen. Es hat
natürlich auch eine gewisse Symbolkraft. Die Tatsache,
dass trotz der kritischen Würdigung die Leute sich ganz
schlicht und einfach darum reißen, auch nur einen Blick
in das Gebäude werfen zu können, ist ein Glücksfall für
diese Demokratie. Das muss ich Ihnen sagen.
Man hat mit den Bauten tatsächlich Neugier und Interesse
am Regieren und an der Arbeit dieses Parlaments erzeugt.
Dafür sollten wir dankbar sein.
Dass die BBG ihre Arbeit nicht in jeder Hinsicht so ge-
macht hat oder so hat durchführen können, wie wir es uns
erhofft haben, steht außerhalb jeder Diskussion. Der Bun-
desrechnungshof hat dazu seine Meinung geäußert und
sicherlich ist es auch noch nicht das Ende der Untersuchun-
gen. Für uns ist vor allen Dingen die Gegenüberstellung der
beiden Systeme wichtig das hat auch Frau Eichstädt-
Bohlig schon erwähnt , um daraus Konsequenzen für
spätere öffentliche Baumaßnahmen zu ziehen.
Ich glaube, wir haben mit dieser Aktuellen Stunde der
Öffentlichkeit wieder einmal gezeigt, wie unzufrieden
deutsche Parlamentarier mit allem sind, was man ihnen
präsentiert. Dem einen ist das Zimmer mit 18 Quadrat-
metern zu klein. In Bonn hatten fast alle eineinhalb Zim-
mer, à 18 Quadratmeter.
Als die Grünen auftauchten und das Gebäude voll war,
bekamen sie Plätze in einem größeren Haus mit größeren
Räumen. Sie haben hinter dem Museum gesessen.
Frau Kol-
legin Iwersen, kommen Sie bitte zum Schluss. Wir sind in
der Aktuellen Stunde und Sie haben ihre Redezeit schon
um eine Minute überschritten.
Sie können sich jedenfalls
darauf verlassen, dass alle, die vorher größere Räume hat-
ten,
die neuen Räume jetzt als zu klein erachten. Diejenigen
aber, die vorher in gleich großen Räumen arbeiten muss-
ten, sind höchstgradig zufrieden damit, dass sie so schöne
Büros haben. Ich möchte mich glattweg noch beim Ar-
chitekten bedanken.
Als
nächster Redner hat der Kollege Bartholomäus Kalb von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin,
ich fand es nicht sehr charmant, dass Sie den hier anwe-
senden Kollegen vorwerfen, sie würden von den Dingen re-
den wie die Blinden von der Farbe. Ich nehme nicht an, dass
Sie den Fachkollegen Wagner, Frau Kollegin Eichstädt-
Bohlig, den Kollegen Kansy und Ihre Staatssekretärin
persönlich beleidigen wollten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ja rich-
tig, dass die Bundesbaugesellschaft gegründet wurde, um
die Maßnahmen im Spreebogen abzuwickeln. Durch die
Gründung der Bundesbaugesellschaft sollte vermieden
werden, dass wir ähnliche Erfahrungen machen müssten
wie bei einer Reihe von Baumaßnahmen in Bonn.
Wir haben mit der Gründung der Bundesbaugesell-
schaft Hoffnungen und Erwartungen in Bezug auf Zeit-
disziplin und Kostendisziplin verbunden. Diese Er-
wartungen haben sich so nicht erfüllt, vielleicht zum Teil
auch nicht erfüllen lassen.
Ich tue mich persönlich schwer, wenn ich jetzt in der
Begründung für die Kostensteigerungen lesen muss, dass
ein ganz wesentlicher Teil, nämlich rund 200 Millionen
DM, mit so genannten baugrundbedingten Mehrkosten
begründet werden. Jeder, der die Verhältnisse in Berlin ein
wenig kennt, weiß, wie hoch das Grundwasser hier steht,
und auch, wie ungünstig die Bodensituation für Bauvor-
haben ist. Das war vorhersehbar und nicht etwa unvor-
hersehbar.
Allerdings wäre es auch nicht ganz fair, der Baugesell-
schaft allein die Schuld zu geben.
Die dramatische Entwicklung der Bauwirtschaft in den
zurückliegenden Jahren hat zu einem ruinösen Wettbe-
werb geführt. Die Unternehmen kauften und kaufen sich
die Aufträge so sagt man in der Branche und kalkulie-
ren Preise, die von vornherein kein Auskommen garantie-
ren können.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Gabriele Iwersen
19366
Umso schlechter die Angebotspreise und die Submis-
sionsergebnisse sind, umso stärker ist natürlich der Drang,
das fehlende Geld über Nachtragsforderungen und Nach-
tragsangebote wieder hereinzubekommen. Das ging und
geht dann zu Lasten des Steuerzahlers und so mancher
mittelständischer Betriebe, die als Subunternehmer tätig
waren.
Das ist im Übrigen auch nicht nur ein Problem bei den
Bauten des Bundes und des Bundestages, sondern mitt-
lerweile auch bei fast allen öffentlichen Aufträgen. Ein öf-
fentlicher Bauherr ein Parlament allzumal ist in einer
ungleich ungünstigeren und schwächeren Situation als je-
der andere Bauherr. Auch das muss man bedenken. Das
liegt natürlich auch an der Dichte der Regelungen und des
Regelwerkes angefangen bei der HOAI über die VOB,
die VOL, die EU-Koordinierungsrichtlinie, die besonde-
ren Richtlinien zur Durchführung von Bauten des Bundes
bis hin zu dem, was es in diesem Bereich sonst noch alles
gibt.
Wir sollten die Gelegenheit zum Anlass nehmen, in-
tensiv darüber nachzudenken, wie dieses Regelwerk und
auch die Vergabepraxis geändert werden müssen. Ge-
rade gestern haben wir im Haushaltsausschuss die Frau
Präsidentin des Bundesrechnungshofes gebeten, uns in
dieser Frage noch einmal mit Rat und Tat zur Seite zu
stehen.
Frau Kollegin, bei Ihnen hat vorhin etwas durchge-
schimmert, das mich ein wenig an die Arroganz mancher
Leute erinnert. Wir müssen über die Macht der Planer und
Architekten mit ihren tatsächlichen und vermeintlich sehr
weit reichenden Rechten am Bauwerk nachdenken.
Ich bin nämlich schon der Meinung, dass wir nicht für die
Architekten bauen, sondern die Architekten für uns.
Natürlich ist es gut, wenn sich ein Architekt etwas einfallen
lässt und ein Bauwerk bzw. ein Gebäude schön ist was im-
mer man subjektiv darunter verstehen mag. Die Anforde-
rungen der Nutzer und die Nutzerfreundlichkeit Frau
Kollegin, dafür haben Sie auch meine Zustimmung soll-
ten bei Baumaßnahmen im Mittelpunkt stehen und nicht
zur Nebensächlichkeit verkommen. Genau diesen Ein-
druck haben aber viele Kolleginnen und Kollegen dieses
Hauses. Wenn Parlamentarismus funktionieren soll, müs-
sen auch die Arbeitsbedingungen des, ich betone ein-
fachen Abgeordneten Helmut Esters hätte früher gesagt:
der Abgeordneten zu Fuße in Ordnung sein. Funktiona-
lität und Attraktivität eines Bauwerkes müssen sich nicht
gegenseitig ausschließen.
Ich persönlich finde es im Sinne unseres Parlaments
und unserer parlamentarischen Demokratie beispiels-
weise sehr gut das ist vorhin schon angeklungen , dass
der Sitz unseres Parlaments, der Reichstag mit seiner
Kuppel, so interessant, imposant und attraktiv geworden
ist. Wenn ich die Zahlen recht in Erinnerung habe, dann
haben mittlerweile mehr als 5 Millionen Besucher hier
Zugang gefunden; sie haben sich das Bauwerk angesehen
und sind in die Kuppel gegangen. Ich denke, es ist auch
für uns, für die Demokratie und für die Arbeit des Parla-
ments sehr positiv, wenn das Parlamentsgebäude eine sol-
che Aufmerksamkeit erfährt, wie es offensichtlich der Fall
ist.
Der Reichstag mit seiner Kuppel ich erinnere daran,
dass die sehr nachdrückliche Anregung dazu aus dem Par-
lament kam ist mittlerweile unbestritten zum Wahrzei-
chen Berlins und auch des wiedervereinigten Deutsch-
lands geworden.
Das ist gut für unsere parlamentarische Demokratie. Ich
habe nicht gesagt: Das ist gut so.
Nächster
Redner ist der Kollege Hans Georg Wagner von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wenn Peter Conradi dem Parlament noch
angehörte das ist ja leider nicht der Fall , stünde Kol-
lege Kansy nicht so allein da.
Herr Kansy, ich kann Sie beruhigen. Die Tatsache, dass
von den neun Rednern außer Herrn Staatssekretär
Großmann, der dem Haushaltsausschuss nicht angehört
sechs Redner Mitglied des Haushaltsausschusses sind, be-
deutet natürlich auch, dass wir ein schlechtes Gewissen
haben. An der Schaffung der Bundesbaugesellschaft wa-
ren wir seinerzeit nicht ganz unbeteiligt. Es ist zwar nicht
das herausgekommen, was wir uns vorgestellt hatten, aber
wir standen in Kenntnis der in Bonn entstandenen Bauten
der Sache in den vorangegangenen Jahren immer sehr kri-
tisch gegenüber.
Man sollte die ganze Angelegenheit einmal aus einem
anderen Blickwinkel betrachten. Ich bin stolz auf das, was
wir hier in Berlin gebaut haben. Ich bin auch froh darüber,
dass wir einen internationalen Architekten- und Ingeni-
eurwettbewerb dazu ausgeschrieben haben. Alle Bauten
sind auf der Grundlage von Wettbewerbsergebnissen ent-
standen. Deshalb unterscheidet sich das moderne Berlin,
die jetzige Bundeshauptstadt, auch von dem Zucker-
bäckerstil auf der anderen Seite, in der ehemaligen Haupt-
stadt der DDR. Die Stalinallee war ein Komplex, der den
Bauten in Moskau nachempfunden war. Sie von der PDS
kennen den stalinistischen Zuckerbäckerstil noch aus ei-
gener Anschauung.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bartholomäus Kalb
19367
Wenn ich das transparente Gebäude des Deutschen
Bundestages mit dem Palast der Republik vergleiche, des-
sen Außenhaut noch steht, dann erscheint der Reichstag,
der Sitz des Deutschen Bundestages, als transparentes
Gebäude einer lebendigen Demokratie.
Wir können stolz darauf sein, dass das so ist und wir da-
mals für Weltoffenheit und Transparenz gesorgt haben.
Mich als einen der Vertreter der deutschen Architekten
freut, dass junge deutsche Architekten Wettbewerbe in
Berlin gewonnen haben. Das zeigt die Qualitäten meines
Berufsstandes und das ist erfreulich und gut so.
In einem Punkt teile ich völlig die Auffassung, die
Bartholomäus Kalb geäußert hat. Es geht um die Haltung
der Bauwirtschaft, aber nicht nur in Bezug auf die Bauten
des Bundes. Das bezieht sich in gleicher Weise auf die
Bahn; sie ist privatisiert und somit ein privater Bauherr.
Als solcher erlebt es auch die Bahn, dass bei den Aus-
schreibungen Preise angeboten werden, die nicht gehalten
werden können.
Es ist sehr schwierig, die wirtschaftliche Prüfung nach der
VOB vorzunehmen. Bei den später eingehenden Nachträ-
gen legen die Firmen eine Unverschämtheit an den Tag,
die man nicht akzeptieren kann.
Verschiedene Bauten sind innerhalb des vorgegebenen
Preislimits errichtet worden. Zum Beispiel wurde das von
uns zu verantwortende Gebäude der Deutschen Parla-
mentarischen Gesellschaft unterhalb des vereinbarten
Preises erstellt. Wenn sich der Bauherr intensiv darum
kümmert, kann man ein Gebäude also durchaus auch zu
geringeren Kosten als vorgesehen errichten.
Ansonsten muss die Moral in der Bauwirtschaft wieder
besser werden, denn ich kann es nicht akzeptieren, dass in
der deutschen Bauwirtschaft Firmen mit ganz großen Na-
men, die ja auch die von Präsidenten sind, auf ihrer Bau-
stelle acht deutsche Bauarbeiter beschäftigen, während
alle anderen aus dem Ausland stammen, für 3 oder 4 DM
pro Stunde arbeiten und bei uns schon die Tariflöhne in-
frage gestellt werden.
Das ist nicht zu akzeptieren.
Bekanntlich wird man aus Schaden klug. Wir werden
also versuchen, auch dies künftig noch etwas intensiver zu
untersuchen, obwohl das ganz schwierig ist.
Nun zur Bundesbaugesellschaft selbst. In der Tat dach-
ten wir damals, wenn wir eine private Bundesbaugesell-
schaft mit der Durchführung eines solchen Baus beauftra-
gen, die Mitsprache des Parlaments auf die Mitwirkung
einer Baukommission reduzieren, dann läuft das alles viel
besser. Das Ergebnis ist meiner Meinung nach eine Wie-
dergutmachung an der Bundesbaudirektion. Es wurde ge-
sagt, dabei komme nichts Gutes heraus. Beispiele dafür
sind das Hotel Petersberg, der Schürmann-Bau und das
Parlamentsgebäude. Bei allem, was in Bonn entstanden ist,
kritisierten wir, dass sie es einfach nicht hinkriegen. Aber
siehe da das ist ein Grund, darüber nachzudenken , die
privaten Firmen, die Bundesbaugesellschaft haben die
gleichen Probleme wie die Bundesbaudirektion. Das
spricht also nicht unbedingt gegen die Qualität der
Bundesbaudirektion. Vielleicht ist es auch ein Teil Wie-
dergutmachung, dass dies so ist.
Nun müssen wir natürlich sehen, wie das alles bezahlt
wird. Denn es gab ja doch Baupreisexplosionen, zum Teil
natürlich auch bedingt durch die Umstände, die Grün-
dungsverhältnisse genannt worden sind, die allerdings
bei der Gründung hätten vorhersehbar sein müssen. Nach
meiner Einschätzung war das nicht der Fall. Es ist auch
nicht entsprechend gehandelt worden.
Ich sage zusammenfassend: Ich freue mich, dass wir
eine so große Transparenz in das Gebäude gebracht haben
und dass das Gebäude wirklich angenommen wird. Sie
hören vermutlich genau wie ich, dass viele, nicht nur die
Besuchergruppen, unbedingt in die Kuppel wollen; denn
die Kuppel ist das Wahrzeichen der deutschen Demokra-
tie nach der Wiedervereinigung geworden. Das wird an-
erkannt und man versteht, dass das auch etwas mehr kos-
ten muss. In dieser Größenordnung hätte es nicht sein
müssen, aber es ist nun einmal so. Wo gehobelt wird, da
fallen Späne und dann bleiben Baukostensteigerungen
nicht aus.
Wir sollten insgesamt zufrieden sein, der Bevölkerung
danken, dass sie diese Bauwerke annimmt, und uns
freuen, dass das demokratische Leben hier transparent
dargestellt werden kann.
Schönen Dank.
Das Wort
hat nun der Kollege Dr. Ilja Seifert von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Wir reden heute über Baupreissteigerungen
und über die Verantwortung der Bundesbaugesellschaft,
nicht über 18-Quadratmeter-Räume und nicht über die
Schönheit der Kuppel. Das ist ein anderes Thema und da-
rüber können wir ein anderes Mal reden.
Aber dass wir hier auf morastigem Boden stehen, das
lernt jeder Berliner Schüler und jede Berliner Schülerin
im Heimatkundeunterricht. Man hätte es also wissen kön-
nen. Der Grund dafür, dass das jetzt noch als Hauptargu-
ment für alle weiteren Verzögerungen genannt wird, liegt
darin, dass die Baugesellschaft, als der Fehler passierte,
sich nicht getraut hat, alle Verträge zu kündigen und neue
zu schließen. Das hätte etwas gekostet, aber es wäre bes-
ser gewesen. Bis heute ist noch nicht einmal klar: War es
der Gutachter, war es die Baugesellschaft, war es die Bau-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Hans Georg Wagner
19368
firma, die Fehler gemacht haben? Das ist ja wohl ziemlich
lächerlich.
Aber das Problem liegt eigentlich woanders. Der Be-
schluss 1991 lautete Herr Kansy hat daran erinnert ,
dass der Umzug von Bonn nach Berlin innerhalb von fünf
Jahren stattfinden sollte.
Innerhalb von vier Jahren; ich war schon etwas großzü-
gig. Nach fünf Jahren waren gerade mal die Planungen
abgeschlossen, weil mit sehr großer Energie verhindert
wurde, dass der Umzug schnell stattfinden konnte. Wenn
der Umzug schnell stattgefunden hätte, dann wären solche
Prachtbauten überhaupt nicht möglich gewesen, dann
hätte es von der baulichen Substanz her ein anderes
Parlament und eine andere Regierung gegeben. Dann
wäre Berlin hier in Mitte nicht zugebaut worden. Wir ha-
ben, als wir noch in Bonn waren, immer gesagt, es soll
keine Stadt in der Stadt entstehen. Was haben wir denn
jetzt hier? Wir haben eine Stadt in der Stadt. Man kann
hier nicht mehr wohnen.
Es ist eine Stadt, die ein Magnet ist, aber hier wohnen
keine Menschen mehr, sie arbeiten hier nur; das hatten wir
schon zu DDR-Zeiten so.
Ich kann mich sehr gut daran erinnern, Frau Iwersen.
Das ändert nichts an der Tatsache, dass man hier eine an-
dere städtebauliche Variante hätte finden können als diese
Klotzhäuser, die das ist ja nun eine Tatsache keine
vernünftigen Arbeitsbedingungen für uns und für unsere
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bieten, mit denen aber
die Stadt zugebaut wurde.
Das ist das Problem, vor dem wir stehen: Die Verzöge-
rungen, die am Anfang durch Konzeptkommissionen,
durch Beamte, die umzugsunwillig waren, usw. stattge-
funden haben, führen zu einem großen Teil der Mehrkos-
ten, die wir jetzt haben. Dass die privatwirtschaftlich or-
ganisierte Bundesbaugesellschaft nicht in der Lage war,
diese Mehrkosten und diese Verzögerungen zu verhindern
wie es alle von Ihnen, mit Ausnahme der PDS, vermu-
tet haben , kommt dann noch erschwerend hinzu.
Ich finde es ziemlich unanständig von den Geschäfts-
führern der Baugesellschaft, wenn sie immer sagen, dass
sie auch das zahlen. Nein, das bezahlt nicht die Bundes-
baugesellschaft, das bezahlen die Frauen und Männer in
diesem Lande, die Steuern zahlen. Das ganze Geld wird
von Steuern finanziert. Insofern hätte es auch die Bun-
desbaudirektion ausgeben können; das wäre kein Unter-
schied gewesen. Ein Unterschied hätte lediglich darin
bestanden, dass die Gehälter der Chefs der Bundesbauge-
sellschaft etwas üppiger sind als die von hochrangigen
Beamten der Bundesbaudirektion, die jedoch auch gut be-
zahlt werden.
Mir geht es um Folgendes: Wenn wir eine ehrliche
Schlussbilanz ziehen ich gebe Herrn Dr. Kansy Recht:
Wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen , dann müs-
sen wir sagen: Große Fehler wurden aufgrund der Verzö-
gerungstaktik innerhalb des Bundestages, der Regierung
und der Beamtenschaft gemacht. Man muss jedoch fest-
stellen, dass sie wirkungsvoll gearbeitet haben.
Es haben Schlampereien stattgefunden, indem Gege-
benheiten in der Stadt einfach nicht zur Kenntnis genom-
men wurden. Wie gesagt, das mit dem Baugrund ist das
Lächerlichste, was man sich vorstellen kann.
Eine Schlamperei ist vor allem, dass man nicht den
Mut aufgebracht hat zu sagen: Wenn sich sowieso schon
alles so weit verzögert, dass wir keinen Zeitplan mehr ein-
halten können, keine Firma mehr an ihren Zeitplan erin-
nern können, auch kein Vertrag mehr eingehalten werden
muss, weil ohnehin alle Zeitpläne durcheinander sind,
dann machen wir einen Neuanfang. Wir kündigen die Ver-
träge, schreiben neu aus und schließen neue Verträge
ab. Das aber hat nicht stattgefunden.
Jetzt können wir nur noch Schadensbegrenzung betrei-
ben. Dies wird das will ich deutlich sagen in der Bau-
kommission mit großem Verantwortungsbewusstsein ver-
sucht, wenn auch der Erfolg nur begrenzt möglich ist, weil
wir uns jeglichen Eingriffs in die Baugesellschaft selbst
beraubt haben, indem Sie sie privatwirtschaftlich organi-
siert haben. Das ist nun einmal so.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Steffen Kampeter von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte
nähert sich dem Ende.
Jeder, der zugehört hat, wird wissen, dass Bauen in der
Demokratie ein ausgesprochen komplexer und schwieri-
ger Vorgang ist. Wenn ich in die Runde schaue, dann stelle
ich fest, dass hier eine Reihe von Expertinnen und Exper-
ten sitzt. Bezogen auf das gesamte Parlament wird deren
Zahl die Größe einer Hundertschaft überschreiten. Bauen
in der Demokratie ist für jeden, der baut, ein ungewöhn-
lich schwieriger Vorgang.
Bei aller Mäkelei, die vonseiten der PDS vorgetragen
wird,
müssen wir uns einfach einmal überlegen, was dabei he-
rausgekommen ist. Wenn ich mir das Regierungsviertel
mit dem Kanzleramt und den Neubauten anschaue und
sehe, wie viele Menschen tagtäglich zum Teil ein bis zwei
Stunden Schlange stehen und sich am Bundeskanzleramt
die Nasen platt drücken, dann muss ich sagen: Trotz die-
ses komplexen Vorganges, Bauen in der Demokratie, ist
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Ilja Seifert
19369
das Ergebnis eine gute Visitenkarte für die Bundesrepu-
blik Deutschland, auf die wir wirklich stolz sein können.
Die Frage, die hier aufgeworfen worden ist, lautet: Ge-
hen wir beim Bauen in der Demokratie verantwortungs-
voll mit den Steuergeldern um, die uns die Menschen an-
vertraut haben?
Das ist die zentrale Frage. Es hat in den Beiträgen der PDS
keinen Beleg dafür gegeben, dass das anders ist.
Auch der Bericht des Rechnungshofs belegt nicht, dass
vonseiten des Parlaments Schickimicki gemacht worden
ist, durch Mehrforderungen Geld verschwendet worden
ist. Es gibt unabweisbare Mehrkosten und solche, die hät-
ten verhindert werden können. Die Mehrkosten, von
denen heute gesprochen worden ist, waren in der Regel
unabweisbar und sind nicht durch irgendwelche Sperenz-
chen aus dem parlamentarischen Bereich hervorgerufen
worden. Das muss an dieser Stelle einmal festgehalten
werden.
Es hat mich schon etwas betroffen gemacht, dass der
Kollege Seifert hier von Prachtbauten gesprochen hat.
Herr Kollege Seifert, vor etwas mehr als zehn Jahren war
hier der Todesstreifen, war hier Wüste. Das, was jetzt ent-
standen ist, ist das Ergebnis einer normalen demokrati-
schen Entwicklung,
die Sie nicht mit der Gigantomanie totalitärer Systeme
und dem Begriff Prachtbauten denunzieren können.
Den Menschen, die hier oben sitzen und uns besuchen,
scheint es insgesamt zu gefallen. Sie kommen gerne hier-
her. Ich höre gelegentlich Kritik, aber das betrifft Ge-
schmacksfragen. Auch ich finde nicht alles super. Aber im
Grunde ist das zu unterstützen, was der Kollege Wagner
gesagt hat: Wir können stolz darauf sein, wie offen und
transparent sich die Demokratie hier im Spreebogen zeigt.
Ich will darauf hinweisen, dass der Anlass unserer De-
batte ein Rechnungshofbericht ist. Im Rechnungshofbe-
richt muss man die Frage stellen: Hat da irgendeiner einen
Fehler gemacht? Als Mitglied des Haushaltsausschusses
sage ich: Wir sind sehr daran interessiert, dem auf die Fin-
ger zu klopfen und ihm die Hammelbeine lang zu ziehen,
wenn irgendjemand einen Fehler gemacht hat, ob es nun
der Geschäftsführer der Bundesbaugesellschaft ist oder
ob es die ausführenden Firmen sind. Wir müssen aber
rechtlich dazu in der Lage sein. Daran müssen wir nicht
erst durch die Aktuelle Stunde der PDS erinnert werden,
sondern es ist die ureigenste Aufgabe des Haushaltsaus-
schusses, sorgfältig darauf zu achten, dass wir sparsamer
mit den Steuergeldern umgehen und die Aufgaben ehrlich
erledigt werden.
Wir sind dabei nicht ohne Fehler. Aber wenn wir Hin-
weise bekommen, wo wir etwas besser machen können,
nehmen wir sie begierig auf und setzen sie um. Ich glaube
zwar nicht, dass wir noch einmal einen solchen Umzug
veranstalten können, aber für zukünftige Bauvorhaben
und für zukünftige komplexe Bauaufgaben werden wir als
Haushaltsausschuss im Interesse aller Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler über alle Parteigrenzen hinweg darauf
achten, dass mit der Mark oder zukünftig mit dem Euro
der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler vernünftig umge-
gangen wird.
Ich will auch einmal eine Lanze für den Rechnungshof
brechen. Der Rechnungshof ist ein wichtiger Partner des
Parlaments. Er gibt uns Hinweise, er kontrolliert überall
da, wo öffentliche Gelder in Anspruch genommen und
ausgegeben werden, er gibt uns Ratschläge. Er ist manch-
mal unangenehm. Insbesondere wenn man in der Regie-
rungsverantwortung ist, möchte man den Rechnungshof
gelegentlich abschaffen, weil er unangenehme Fragen
stellt.
Aber er ist ein unverzichtbares Hilfsinstrument. Deswe-
gen glaube ich, dass der Rechnungshof besser als jeder
Untersuchungsausschuss, weil er dauerhaft für uns tätig
ist Informationen geben kann, wie wir das Sparsam-
keitsgebot umsetzen können.
Ich will abschließend darauf hinweisen: Dies war eine
Aktuelle Stunde, die ausschließlich vom Populismus der
PDS geprägt worden ist.
Sie war nicht von sachlichen Erwägungen getragen.
Wenn heute der Kollege Rössel hier beklagt hat, dass
zu große Kosten entstanden sind, und im gleichen Satz er-
klärt, dass die Rechnungen noch nicht bezahlt sind, dann
zeigt das, wie schizophren die politische Argumentation
der PDS ist.
Abschließend will ich einen Sparvorschlag machen.
Wir haben vorhin vom Palast der Republik gesprochen.
Die PDS verlangt, dass wir ihn restaurieren. Weder will
ich das Gesellschaftssystem restaurieren, noch glaube ich,
dass wir nach der Asbestsanierung irgendeine zusätzliche
Mark geben sollten, um den Palast der Republik so her-
zustellen, dass er uns an die SED-Herrschaft erinnert.
Dies ist ein Sparvorschlag, von dem ich mir wünschen
würde, dass ihn auch die PDS rasch aufgreift.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Steffen Kampeter
19370
Das Wort
hat jetzt noch einmal die Kollegin Franziska Eichstädt-
Bohlig von Bündnis 90/Die Grünen.
Sie darf auch zweimal reden.
haben, habe ich mich doch noch einmal gemeldet, und
zwar zum Beitrag des Kollegen Koppelin. Aber jetzt
möchte ich auch dem Kollegen Kampeter antworten.
Egal, mit und ohne Ehre.
Sie fordern einen parlamentarischen Untersuchungs-
ausschuss, Kollege Koppelin. Da möchte ich nur sagen:
Wohlan! Ich glaube, wir werden als Erstes die Entschei-
dung von Frau Schwaetzer zu untersuchen haben;
denn sie hat praktisch Mitverantwortung. Das Folgende
möchte ich in Ihrer beider Richtung für die Zeit ab 1994,
wo ich dabei war, ganz deutlich sagen deswegen habe
ich mich noch einmal gemeldet : Sie, Kollege Kampeter,
haben eben erklärt: Wenn wir im Haushaltsausschuss Hin-
weise bekommen, wo wir etwas besser machen können,
dann nehmen wir sie ernst. Da wollte ich hier noch ein-
mal deutlich sagen: In der letzten Legislaturperiode hat
unsere Fraktion und habe ich persönlich sehr viele Hin-
weise gegeben und Sie haben sie nicht ernst genommen.
Wir haben einen Unterausschuss beantragt, weil wir wuss-
ten, dass nicht nur unsere Parlamentsbauten, sondern auch
die Regierungsbauten insgesamt ein riesiges Volumen
ausmachen. Da war Kostenkontrolle dringend erforder-
lich. Sie haben es abgelehnt.
Sie haben den Unterausschuss abgelehnt; Sie haben die
Kostenkontrolle abgelehnt. Ich habe intensiv dafür ge-
worben, von diesem Tunnelprojekt Abschied zu nehmen,
weil wir wussten, dass dieses Tunnelprojekt wesentlich
teurer werden würde, als uns damals von der BBB gesagt
worden ist. Es ist mehr als doppelt so teuer geworden. Wir
wissen bis heute nicht, welche Kosten in den anderen Pro-
jekten versteckt sind.
Sie haben es abgelehnt, diese Argumente ernst zu neh-
men. Sie haben damals als Mehrheit im Haushaltsaus-
schuss alle Warnungen in den Wind geschlagen, die wir
Ihnen gegeben haben. Von daher muss ich sagen: Es ist
schon eine Ironie der Geschichte, wenn Sie meinen, jetzt
einen Untersuchungsausschuss beantragen zu sollen, um
nachträglich noch einmal zu prüfen, warum die Gründung
schief gegangen ist. Da machen Sie sich wirklich selbst
lächerlich. Sie sollten sich an Ihre eigene Nase fassen,
statt im Nachhinein selbstgefällig die Schuld auf andere
schieben zu wollen. Das finde ich echt nicht fair. Sie soll-
ten sich überlegen, wo Sie selbst Verantwortung haben,
und nicht große Sprüche machen, dass Sie allen Hinwei-
sen nachgegangen seien. Seien Sie also bitte etwas ehrli-
cher!
Ausdruck für diese Anerkennung war auch die Tatsache,
dass Bundeskanzler Schröder vor nicht allzu langer Zeit
die Behördenzentrale in Berlin besucht und sich unmittel-
bar einen Eindruck von der Leistungsfähigkeit der
Behörde verschafft hat.
Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit bleibt
auch in Zukunft eine notwendige innenpolitische Auf-
gabe. Der Zeitablauf mag die Akzente verändern, aber er
mindert nicht die Bedeutung, im Gegenteil: Je größer die
Zahl derer wird, die keine eigene Erinnerung an die DDR
haben, und je weiter die Erinnerung der Mitlebenden
durch neue Erfahrungen und Probleme überlagert wird,
umso wichtiger wird es, Ursachen, Verläufe und Struktu-
ren auch der totalitären Staatsstruktur der ehemaligen
DDR wissenschaftlich zu erhellen und gesellschaftlich zu
erörtern. Die Überwindung der Folgelasten auch der
materiellen der ehemaligen DDR wird umso erfolgrei-
cher sein, je mehr es zugleich gelingt, eine gesellschaftli-
che Verständigung über die untergegangene Diktatur und
die aus ihr zu ziehenden Konsequenzen zu finden.
Die quellengestützte Kenntnis der historischen und
ideologischen Wurzeln der Diktatur, ihrer Durchset-
zungsmechanismen und ihrer Herrschaftspraxis beugt
nachträglichen Legendenbildungen vor und immunisiert
gegen neue totalitäre Gefahren. Die Einsicht, die die bei-
den Enquete-Kommissionen zur DDR-Aufarbeitung for-
muliert haben und der der Deutsche Bundestag zuge-
stimmt hat, bleibt richtig ich zitiere :
Zu den geistigen Grundlagen einer innerlich gefes-
tigten Demokratie gehört ein von der Gesellschaft
getragener antitotalitärer Konsens.
Die Aufarbeitung der Diktatur ist somit politische Bil-
dung für die Demokratie. Darum bleibt sie auch weiterhin
notwendig.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit dient, wenn sie
richtig betrieben wird, aber auch der inneren Verständi-
gung in der Gesellschaft. Denn diese Verständigung setzt
zwei Dinge voraus: zum einen die Bereitschaft zur Wahr-
heit und zur Ehrlichkeit, zum anderen die Bereitschaft
zum Verständnis der sehr unterschiedlichen Bedingun-
gen, unter denen die Menschen im West- und Ostteil
Deutschlands 45 Jahre lang ihr Leben zu gestalten hatten.
Zur Veranschaulichung: Ende der 80er-Jahre auch das
belegen die Stasi-Akten kamen in der DDR auf 180 Ein-
wohner ein hauptamtlicher und zwei inoffizielle Stasi-
Mitarbeiter. Es kommt darauf an, zu verstehen, dass die
Verurteilung des diktatorischen Systems keine Verurtei-
lung der Menschen bedeutet, die genötigt waren, in die-
sem System zu leben. Es kommt darauf an, denjenigen
Gehör zu verschaffen, die unter diesem System gelitten
haben, die durch Verlust von Leben, Gesundheit, Freiheit
oder Eigentum, aber auch durch Verlust von Bewegungs-
und Entfaltungschancen zu Opfern und zu Geschädigten
dieses Systems geworden sind.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundesminister Otto Schily
19372
Zu einer Zwischenbilanz der Aufarbeitung der Stasi-
Unterlagen gehört gewiss auch die Beantwortung der
Frage, inwieweit durch die bisherige Praxis Unklarheiten
im Stasi-Unterlagen-Gesetz oder bei seiner Anwendung
erkennbar geworden sind.
In den zurückliegenden Monaten hat eine lebhafte
Diskussion über die Frage stattgefunden, inwieweit Stasi-
Unterlagen über Personen der Zeitgeschichte, Inhaber
politischer Funktionen oder Amtsträger für Forschung,
politische Bildung und Medien zur Verfügung zu stellen
sind. Die Diskussion entzündete sich zwar an einem pro-
minenten Einzelfall, aber sie hat darüber hinaus grundsätz-
liche Bedeutung.
Es geht dabei den Beteiligten das nehme ich auch für
mich in Anspruch nicht um eine Einschränkung der Auf-
arbeitung. Es geht vielmehr allein um die Frage der
rechtsstaatlichen Sicherung der Persönlichkeitsrechte
derer, über die die Stasi Informationen zusammengetra-
gen hat. Die Persönlichkeitsrechte von Personen der Zeit-
geschichte sowie Funktions- und Amtsträgern, die zu Op-
fern von Stasi-Maßnahmen geworden sind, müssen
beachtet werden. Man darf nicht vergessen, dass die
meisten der dort zusammengetragenen Informationen auf
rechtsstaatswidrigem Wege gewonnen sind. Das Verwal-
tungsgericht Berlin hat mit seinem noch nicht rechtskräf-
tigen Urteil vom 4. August 2001 bestätigt, dass solche In-
formationen grundsätzlich nur mit Einwilligung der
Betroffenen zugänglich gemacht werden dürfen.
Es ist notwendig, dass Betroffene von Stasi-Maßnah-
men davor geschützt werden, dass unrechtmäßig gewon-
nene vertrauliche Informationen über sie ohne ihre Zu-
stimmung verwendet werden. Es ist allerdings auch
notwendig, dass der Schutz, den das Stasi-Unterlagen-
Gesetz den Betroffenen, untechnisch gesprochen: den
Opfern von Stasi-Maßnahmen gewährt, nicht solchen
Personen zugute kommt, die das Unterdrückungssystem
mitgestaltet und mitgetragen haben.
Ich bin der Auffassung, dass wir in der Frage der He-
rausgabe personenbezogener Informationen die notwen-
dige Austarierung zwischen Persönlichkeitsschutz einer-
seits und Aufarbeitungsinteresse andererseits im Lichte
der inzwischen vorliegenden Erfahrungen nochmals über-
denken sollten. Das könnte im Rahmen einer Anhörung
des Deutschen Bundestages geschehen. Dabei könnte
auch die weitere Frage geprüft werden, ob diese Austa-
rierung auch bei der Regelung des § 14 des Stasi-Unter-
lagen-Gesetzes gelungen ist, die die Anonymisierung
oder Vernichtung archivierter Unterlagen vom 1. Janu-
ar 2003 an ermöglicht. Auf diese Frage haben in letzter
Zeit wieder namhafte Historiker hingewiesen, obwohl ich
natürlich nicht der Auffassung bin, dass die Historiker
dankbar sein sollten, dass es die Stasi gegeben hat, ohne
die sie ihre historischen Forschungen nicht leisten könn-
ten.
Zum weiteren Vorgehen ist geplant, dass eine frak-
tionsübergreifende Arbeitsgruppe, an der sich das BMI
und die Behörde beteiligen, diese Fragen erörtern und da-
bei die Ergebnisse der bevorstehenden Anhörung auswer-
ten wird. Auf der Grundlage der Überlegungen und Emp-
fehlungen dieser Arbeitsgruppe wird dann zu entscheiden
sein, ob eine Novellierung des Gesetzes erforderlich ist,
um für die Arbeit der Behörde die notwendige Rechts-
sicherheit und für die Betroffenen den notwendigen Per-
sönlichkeitsschutz zu gewährleisten.
Lassen Sie mich abschließend auf Folgendes hinwei-
sen: Vor zwölf Jahren, im Herbst und im Win-
ter 1989/1990, wurden in der DDR und in Ostberlin Stasi-
Quartiere besetzt, MfS-Akten vor der Vernichtung
gerettet und für die Aufarbeitung sichergestellt. Den Zu-
gang zum Herrschaftswissen der Geheimpolizei zu öffnen
war ein Akt der Selbstbefreiung. Der Prozess der Befrei-
ung setzt sich seither in der nunmehr gesetzlich geregel-
ten Nutzung dieses Wissens fort. Wir brauchen dieses
Wissen für den gesellschaftlichen Dialog über Ursachen,
Strukturen und Konsequenzen der Diktatur. Wir können
für die innere Einigung und die demokratische Stabilisie-
rung unseres Landes nichts Besseres tun, als diesen ge-
sellschaftlichen Dialog mit Offenheit, dem Willen zur
Ehrlichkeit auch da, wo sie schmerzt und mit wech-
selseitiger Aufgeschlossenheit fortzuführen.
Aufgabe der Politik bleibt es, hierfür die notwendigen
Grundlagen und Mittel weiterhin sicherzustellen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hartmut Büttner.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir behandeln heute ganz bewusst gemeinsam den Fünf-
ten Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten mit der
Erinnerung an die Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-
Gesetzes vor zehn Jahren.
Es war der wichtigste Auftrag der DDR-Bürgerbewe-
gung, die Hinterlassenschaft des untergegangenen Minis-
teriums für Staatssicherheit nicht zu vernichten, sondern
sie den ehemals Unterdrückten zu öffnen. Diese Grund-
sätze hatte zuerst die frei gewählte Volkskammer und
dann auch der Deutsche Bundestag aufgegriffen. Schließ-
lich wurde nach intensiven Beratungen das Stasi-Unter-
lagen-Gesetz am 20. Dezember 1991 mit großer Mehr-
heit verabschiedet.
Dieses Gesetz ist nach Geist und Buchstabe zuallererst
ein Gesetz zugunsten der Bespitzelten. Dem Einzelnen
sollte Klarheit über das Einwirken der Stasi auf seinen
Persönlichkeitsbereich gegeben werden. Die Chance, die
eigene Biografie in Ordnung zu bringen, haben immerhin
gut 1,8 Millionen Menschen genutzt. Allein 1992 prassel-
ten 520 000 Anträge auf Akteneinsicht auf die damals
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundesminister Otto Schily
19373
neu errichtete Behörde nieder. Aber das Interesse hat sich
auch heute noch nicht erschöpft. Jeden Monat Herr
Schily hat schon darauf hingewiesen gehen durch-
schnittlich 10 000 neue Anträge ein. Die Opfer sollten
weiterhin davor geschützt werden, noch heute durch
Stasi-Materialien in ihren Persönlichkeitsrechten beein-
trächtigt zu werden.
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist außerdem ein Veröf-
fentlichungsgesetz, das ausdrücklich die historische, po-
litische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des
MfS gewährleisten und fördern will. Schließlich gibt die
Behörde der Bundesbeauftragten an alle öffentlichen und
nicht öffentlichen Stellen die erforderlichen Informatio-
nen für die vielfältigen, im Gesetz genannten Verwen-
dungszwecke. Bei zahlreichen Fragen der Rehabilitierung
bieten häufig allein die Stasi-Akten die Möglichkeit eines
Beweises. Strafverfolgungsbehörden erhalten Informatio-
nen über Straftaten und Verbrechen, die im Zusammen-
hang mit dem SED-Regime begangen worden sind. Vor
allem wurden bisher 1,6 Millionen Anträge von öffent-
lichen und nicht öffentlichen Stellen auf Überprüfung ei-
ner etwaigen Tätigkeit im Staatssicherheitsdienst gestellt.
Das Gesetz erfüllt aber auch eine nachgewiesene Funk-
tion des Schutzes vor ungerechtfertigten Beschuldigun-
gen. Ein negativer Beweis ist häufig nur mithilfe der
Stasi-Unterlagen möglich und kann mittlerweile sehr
rasch erbracht werden. Wie viele Menschen sind bei uns
politisch hingerichtet worden, als die Behörde noch nicht
über entsprechende Möglichkeiten verfügte! Das Wort
Stasi reichte vollkommen aus, um so manchen politisch
unmöglich zu machen.
Andere Zahlen belegen, wie enorm die Arbeitsbelas-
tung der circa 3 000 Mitarbeiter der Behörde der Sonder-
beauftragten ist und wie intensiv die im Gesetz vorgese-
henen Möglichkeiten genutzt worden sind. Auch hierzu
hat Herr Schily etliche Zahlen und Daten genannt. Inter-
essant ist, dass in den letzten zehn Jahren 4 907 267 An-
träge und Ersuche Stand September dieses Jahres an
die Behörde herangetragen wurden.
Viele Abgeordnete des Deutschen Bundestages hatten
bei der Erarbeitung des Gesetzes große Bedenken hin-
sichtlich der Nennung der Klarnamen der Täter gegen-
über den Opfern. Heute kann ich durchaus mit etwas
Stolz verkünden: Unser Vertrauen in den Gerechtigkeits-
sinn der Menschen war richtig. Bisher ist kein einziger
Fall bekannt geworden, in dem sich ein Opfer an dem
nunmehr identifizierten Täter gerächt hat. Die Menschen
sind also verantwortlich mit dem Wissen um ihre eigene
Vergangenheit umgegangen. Das ist ein ganz wesent-
licher Punkt.
Der Tätigkeitsbericht zeigt aber auch sehr deutlich,
dass die Stasi kein reines DDR-, sondern durchaus ein ge-
samtdeutsches Problem war.
Immer mehr Menschen wird heute bewusst, dass das Mi-
nisterium für Staatssicherheit auch im alten Bundesgebiet
sehr aktiv war. Das wachsende Interesse in den westlichen
Bundesländern ist auch daran zu erkennen, dass etwa ein
Fünftel aller Anträge auf Akteneinsicht von Bürgern aus
dem Westen Deutschlands gestellt wird. Wir wissen jetzt
auch, dass die Gleichung Opfer gab es in West und Ost;
aber der Stasi-Täter kam ausschließlich aus Deutschland
Ost nicht nur zu undifferenziert, sondern einfach falsch
ist.
Im Laufe der Jahre haben 20 000 bis 30 000 Westdeutsche
als inoffizielle Mitarbeiter für das MfS gearbeitet. Manch
ein westdeutscher Redakteur wird hoffentlich etwas
demütiger, wenn er sich an eine seiner oft sehr reiße-
rischen Berichterstattungen über die Stasi-Verseuchung
im Osten Deutschlands erinnert. Eine solche undifferen-
zierte Betrachtungsweise hat nicht nur das Selbstwertge-
fühl der Menschen aus den neuen Ländern hart getroffen.
Es hat auch dazu beigetragen, den Graben in den Herzen
und Hirnen der Deutschen zu vertiefen. Sie ließ auch kei-
nen Raum für die Wahrheit, die durch diesen Tätigkeits-
bericht ans Licht kommt. In der DDR waren die Men-
schen, die Anstand bewahrten und Zivilcourage zeigten,
in der Mehrheit. Trotz schwierigster Umstände in einer
Diktatur scheiterten drei von fünf Anwerbeversuchen des
Staatssicherheitsdienstes. In Westdeutschland wurde eine
Stasi-Mitarbeit zumeist freiwillig ohne die vielfältigen
Pressionen des SED-Staates erklärt.
Vielfach wird geringschätzig gemeint, wir hätten auch
dieses schwierige Problem unserer Geschichte typisch
deutsch geregelt, und zwar mit Akribie, mit Sorgfalt und
mit einer Behörde. Viele von denen, die uns dafür ge-
scholten oder auch nur belächelt haben, stehen heute in ei-
ner Reihe von interessierten Besuchern. Wir erleben der-
zeit ein gewaltiges Interesse aus allen Teilen der Welt an
diesem deutschen Lösungsweg. Das Erbe der Diktaturen
war in allen postkommunistischen Ländern Mittel- und
Osteuropas ähnlich. Es wurden aber sehr unterschiedliche
Wege beschritten, um die Diktatur der kommunistischen
Parteien und Repressionsorgane aufzuarbeiten. Die Ber-
liner Normannenstraße und die 15 Außenstellen der
Behörde der Sonderbeauftragten wurden zu Pilgerstätten
für ausländische Besucher. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz
ist zu einem Exportschlager geworden.
Mittlerweile gibt es kaum noch eine politische Kraft,
die die Richtigkeit der Entscheidung des Deutschen Bun-
destages aus dem Jahr 1991 anzweifelt. Im Gegenteil:
Fast jeder will dabei gewesen sein. Das ist eine ganz aus-
gezeichnete Entwicklung das ist wirklich gut so , zeigt
sie doch, dass wir mit den damals getroffenen Grundaus-
sagen richtig lagen. Die getroffenen Regelungen waren
ohne Beispiel und Vorbild. Hingegen betrachten viele ge-
standene westdeutsche Juristen das Stasi-Unterlagen-Ge-
setz auch zehn Jahre nach dessen In-Kraft-Treten als
Fremdkörper in der deutschen Rechtsordnung. Dabei
wäre es gänzlich unmöglich gewesen, mit rein westlich
juristischen Maßstäben der Aufarbeitung einer menschen-
feindlichen Diktatur gerecht zu werden. Wenn ein ganzer
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Hartmut Büttner
19374
Staat auf rechtswidrigen Grundlagen basiert, dann konnte
im Nachhinein niemand allein die Messlatte des Rechts-
staates anwenden wollen. Die mögliche Alternative wäre
die Vernichtung der Stasi-Akten gewesen. Nur, dann hät-
ten die Opfer niemals erfahren, ob und wann sie Ziel von
Maßnahmen des Staatssicherheitsdienstes gewesen wa-
ren.
Es war für die Akzeptanz dieses Gesetzes in der Be-
völkerung sehr wichtig, dass wir uns über Parteigrenzen
hinweg einigen konnten. Außer der PDS und einigen Ab-
geordneten der Grünen stimmten alle Mitglieder des
Deutschen Bundestages 1991 für das Stasi-Unterlagen-
Gesetz. 1991 bildete sich eine Koalition der Vernunft aus
SPD, FDP, Grünen und der Union, welche auch die bis-
herigen fünf Novellierungen dieses Gesetzes einver-
nehmlich erarbeitet und politisch getragen haben.
Im Jahr 10 seines Bestehens steht das Stasi-Unterla-
gen-Gesetz vor einer großen vielleicht seiner größten
Belastungsprobe. Die Aufgeregtheit dieser Tage über die
Auswirkungen des Urteils des Berliner Verwaltungsge-
richts zur Verwendung von Stasi-Unterlagen für For-
schung und Medien droht die großartige Akzeptanz des
Stasi-Unterlagen-Gesetzes in der Bevölkerung in den
Hintergrund zu drängen. Die Gefahr der heutigen Diskus-
sion ist, dass einige, denen die ganze Richtung nicht passt,
Morgenluft wittern und am liebsten das ganze Gesetz über
Bord werfen würden. Ich kann in diesem Zusammenhang
nur zu Besonnenheit und Augenmaß raten.
Von dem Rechtskonflikt sind etwa 1 400 der 2 000 vor-
liegenden Anträge von Forschern und Medien betroffen.
Alle anderen Bereiche der Arbeit der Stasi-Unterlagen-
Behörde sind vom Berliner Urteil nicht tangiert. Die Ak-
teneinsicht, die Überprüfung auf eine mögliche Stasi-
Mitarbeit und andere Formen der Aufarbeitung der Arbeit
des Staatssicherheitsdienstes können weiter so durchge-
führt werden wie bisher. Insoweit sind auch Äußerungen
unseres Kollegen und Bundestagspräsidenten Wolfgang
Thierse, das Urteil bedeute das Ende des öffentlichen Um-
gangs mit den Stasiakten, falsch und, wie ich meine, auch
ein wenig fatalistisch.
Ich finde es gut, dass durch das Urteil der Persönlich-
keitsschutz der Bespitzelten und Abgehörten verstärkt
wird, auch wenn diese Menschen Politiker, Amtsträger
oder Personen der Zeitgeschichte sind. Damit ist die auch
von mir seit langem vertretene Interpretation durch das
Berliner Verwaltungsgericht als richtig anerkannt wor-
den. Für einen Nichtjuristen ist das eigentlich gar nicht
schlecht.
Sollte das Urteil unverändert Rechtsgültigkeit erlan-
gen, dann brächte meiner Meinung nach ein Wirkungs-
bereich allerdings größte Schwierigkeiten mit sich. Die
Aufarbeitung der Akten von früheren DDR-Funk-
tionären, beispielsweise von Richtern, Bürgermeistern
oder Abgeordneten, wäre dann ebenfalls von deren Ein-
willigung abhängig. Sie bekämen damit die Macht, be-
stimmte Informationen zurückzuhalten oder Zeitge-
schichte in ihrem Sinne zu beeinflussen. Ich hoffe, dass
die Koalition der Vernunft die Kraft und die Kreativität
hat, auch für diesen Problemkreis eine einvernehmliche
Lösung zu erarbeiten. Dieser inhaltliche Konflikt darf kei-
nesfalls sämtliche anderen Aufgaben überdecken und die
Aufarbeitungskräfte völlig lähmen.
Leider, Frau Präsidentin, sind durch diese Diskussion
auch die ursprünglich geplanten Beratungen des Deut-
schen Bundestages kräftig zurückgeschnitten worden.
Von dem geplanten zweitägigen Symposium ist lediglich
diese Debatte am späten Donnerstagnachmittag übrig ge-
blieben. Schade! Ich hätte gerade im Interesse der Milli-
onen von Opfern eine etwas ausführlichere Behandlung
durch den Deutschen Bundestag für angemessener gehal-
ten.
Wir hätten dann sicherlich auch vielen Menschen in an-
gemessenerer Form Dank sagen können, die sich um die
Aufarbeitung und die Bewältigung der zweiten deutschen
Diktatur verdient gemacht haben.
Danken müssen wir zuerst den mutigen, couragierten
Menschen in der DDR.
Danken müssen wir all den beteiligten Kollegen, de-
nen in der frei gewählten Volkskammer ebenso wie de-
nen im Deutschen Bundestag, welche die Grundlagen für
ein bürgerfreundliches Stasi-Unterlagen-Gesetz gelegt
haben.
Danken müssen wir vor allem auch Joachim Gauck,
der diese Behörde entscheidend geprägt hat. Was für ein
größeres Kompliment über seine Verdienste kann es noch
geben, als wenn man auch heute noch von der Gauck-
Behörde spricht?
Danken möchten wir aber ebenso der engagierten und
im guten Sinne des Wortes streitbaren Nachfolgerin
Marianne Birthler.
Nicht zuletzt danken wir den 3 000 Mitarbeitern der
Behörde.
Sie alle haben sich um die Aufarbeitung der Diktatur
und für das friedliche Zusammenleben der Menschen in
Deutschland verdient gemacht.
Ich darf feststellen: Das Stasi-Unterlagen-Gesetz hat
sich grundsätzlich bewährt. Der 20. September 1991 war
ein guter Tag für Deutschland und ein guter Tag für unsere
Demokratie.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Cem Özdemir.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Marianne Birthler! Sie werden sich vielleicht darüber
wundern, dass zu diesem Tagesordnungspunkt ein anato-
lischer Schwabe spricht. In meiner Fraktion gab es einige
Diskussionen darüber, wer dazu sprechen soll, und wir
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Hartmut Büttner
19375
haben uns ganz bewusst dafür entschieden, nicht einen
Abgeordneten aus den neuen Ländern sprechen zu lassen;
denn Herr Büttner hat Recht mit dem, was er gesagt hat,
nämlich dass es um ein gesamtdeutsches Anliegen geht,
dass es nicht ausschließlich ein Problem der neuen Län-
der ist. Vielmehr ist dieses Gesetz ein Gesetz für die Bun-
desrepublik Deutschland. Damit ist in der Rechtsge-
schichte der Bundesrepublik Deutschland eine neue Seite
geschrieben worden. Darauf können Ossis wie Wessis,
Nordis wie Südis, alle gemeinsam stolz sein. Dieses Ge-
setz hat sich bewährt und es gibt keinerlei Veranlassung,
diese Seite zu schließen oder zu sagen, dass wir die Auf-
arbeitung beendet hätten. Im Gegenteil, meine Damen
und Herren.
Ich möchte diese Gelegenheit auch nutzen, um namens
meiner Fraktion Marianne Birthler, ihrem Vorgänger
Joachim Gauck, aber auch allen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der Behörde herzlich zu danken. Die Bitte
geht an Sie, diesen Dank wohl namens aller Fraktionen an
all Ihre Mitarbeiter weiterzugeben. Wir sind stolz auf die
Arbeit dieser Behörde und sind der Meinung, dass sich
diese Behörde nicht nur bewährt hat, sondern dass ihre Ar-
beit fortgesetzt werden muss.
Ich möchte nicht vergessen, in meinen Dank diejenigen
Parlamentarierinnen und Parlamentarier einzuschließen,
die an der Erarbeitung des Gesetzes beteiligt waren. Ich
will nicht diejenigen aufzählen, die noch heute im Bun-
destag sind. Stellvertretend für andere möchte ich aber
diejenigen nennen, die heute nicht mehr im Bundestag
sind: Ich denke an Ingrid Köppe vom damaligen Bünd-
nis 90, aber auch an Burkhard Hirsch von der FDP-Frak-
tion, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass es die-
ses Gesetz heute gibt. Das sollte man heute nicht
vergessen, denn wir verdanken ihnen, dass dieses Gesetz,
das sich bewährt hat, heute ein fester Bestandteil der
Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist.
Der Kollege Büttner hat bereits auf die große Zahl de-
rer hingewiesen, die bis heute Anfragen stellen, um Ein-
blick in die Akten zu nehmen. Die Zahl von fast 5 Milli-
onen Antragstellerinnen und Antragsteller zeigt, dass
diejenigen, die die Akten damals heimlich vernichten, die
sie schließen wollten, die sie bunkern oder den Betroffe-
nen auf andere Weise entziehen wollten, nicht Recht hat-
ten. Diese Enteignung der Menschen ist gescheitert und
sie wird auch in Zukunft scheitern. Wir alle stehen in der
Verpflichtung gegenüber denjenigen, die damals die
friedliche Revolution in den neuen Ländern möglich ge-
macht haben. Es gilt heute auch derjenigen zu gedenken,
die dazu beigetragen haben, dass wir heute ein vereinig-
tes Deutschland haben, dass Ost und West zusammen-
wachsen konnten.
Ich möchte die Gelegenheit aber auch nutzen, mich an
die Kolleginnen und Kollegen von der Union zu richten.
Ich weiß, dass der Fall Helmut Kohl sehr kontrovers dis-
kutiert wird. Ich möchte alle bitten das gilt für alle Frak-
tionen , keine unzulässige Vermischung zwischen dem
Parteispendenskandal, der mit dem Fall Helmut Kohl ver-
bunden ist er muss bei anderer Gelegenheit aufgearbei-
tet werden , und der Arbeit der so genannten Stasi-Un-
terlagen-Behörde vorzunehmen. Wir würden der Behörde
und dem Gesetz mit einer solchen Vermischung nicht ge-
recht werden.
Das gilt sowohl für diejenigen, die ein Interesse an der
Aufklärung dieses Falls haben, als auch für diejenigen,
die ein Interesse an der Weiterarbeit der Behörde haben.
Ich habe die Rede vorhin so verstanden, dass es inter-
fraktionell ein Bemühen gibt, eine Verständigung zu er-
zielen. Für meine Fraktion kann ich sagen das gilt si-
cherlich auch für die anderen Fraktionen , dass wir im
Interesse der Behörde bereit sind, eine vernünftige Lö-
sung zu finden. Wir müssen all diejenigen zurückweisen,
die versuchen, anhand dieses Falles die Arbeit der
Behörde einzuschränken oder gar zu beenden.
Eine gesetzliche Klarstellung ist nach dem, was wir ge-
genwärtig wissen, sicherlich notwendig. Wir müssen die
Ergebnisse der geplanten Anhörung im Innenausschuss
abwarten. Namens meiner Fraktion sage ich: Wir müssen
darauf achten, dass wir bei einer Neufassung keine neuen
Gräben zwischen Ost und West aufreißen.
Mich hat die Darstellung von Marianne Birthler sehr
beeindruckt. Sie hat darauf hingewiesen das wusste ich
als jemand, der im Westen aufgewachsen ist, bisher nicht ,
dass es auch in den neuen Ländern auf lokaler Ebene
Funktionäre gab, die sich dem Missbrauch durch die Stasi
entzogen haben.
Nicht jeder Funktionär hat sich durch die Stasi missbrau-
chen lassen. Auch das muss man in diesem Kontext er-
wähnen und deutlich machen.
Deshalb wäre eine Beschränkung auf Funktionäre nicht
gerechtfertigt und falsch. Wir müssen auch heute darauf
achten, dass wir keine Gesetze machen, die denjenigen,
die kein Interesse daran haben, dass die Gräben zwischen
Ost und West zugeschüttet werden, die Arbeit erleichtern.
Zum Schluss möchte ich namens meiner Fraktion den
Opfern der Verfolgung durch die Stasi danken, die auf be-
eindruckende Art und Weise der Versuchung widerstan-
den haben, Rache zu nehmen. Unter den Opfern befinden
sich auch einige Kolleginnen und Kollegen aus unserem
Hause; eine Kollegin wird nachher noch selbst sprechen.
Sie widerstanden der Versuchung, obwohl Schreckliches
mit ihnen gemacht wurde, Rache zu üben. Vergebung
kann nur von den Opfern ergehen, nicht vom Staat. Die
Einzigen, die das Recht haben, zu vergeben, sind die Op-
fer. Auf deren Stimme müssen wir heute hören.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Cem Özdemir
19376
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Schmidt-Jortzig.
Frau Präsiden-
tin! Verehrte Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Fünfte
Tätigkeitsbericht der früher des so genannten Stasi-
Unterlagen-Beauftragten der volle Titel ist, wie der
Bericht zu Recht vermerkt, etwas sperrig stellt ein be-
sonderes Ereignis dar. Er gibt Anlass für eine Zwischen-
bilanz. Dies nicht nur, weil dieser Bericht der erste ist, den
Sie, verehrte liebe Frau Birthler, während Ihrer Amtszeit
hier vorlegen, sondern auch, weil gemäß unserem Dezi-
malbewusstsein ein Jubiläum zu beachten und zu begehen
ist. Auch ich will mich dieser Zwischenbilanz stellen.
Insgesamt kann man sicherlich das ist in den Beiträ-
gen bisher in hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck
gekommen sagen, dass sich Auftrag und Arbeit der
Stasi-Unterlagen-Behörde in hohem Maße bewährt ha-
ben. Das können und dürfen auch Streitigkeiten nicht ver-
decken, die sich an Einzelpunkten entzündet haben und
gewiss immer wieder einmal entstehen mögen. Das Ge-
heimnis für dieses erfolgreiche Wirken ist nach meiner
Sicht der ganz überwiegende Bezug aller Bemühungen
auf die Opfer bzw. wie es im Stasi-Unterlagen-Gesetz
heißt die Betroffenen der systematischen staatlichen Be-
spitzelung in der DDR, genauer könnte man vielleicht
noch von den Getroffenen sprechen. Eben deren Verlet-
zungen, Schädigungen, Traumatisierungen und Gerech-
tigkeitsenttäuschungen sind ja Punkte, welche einen
rechtsbewussten, republikanischen, demokratischen Staat
wie die Bundesrepublik Deutschland auf den Plan rufen
mussten. Denn die Empfindungen und Bedürfnisse seiner
Bürger bezüglich dieser Punkte machen seine Legitima-
tionsgrundlage aus und die Ernstnahme und Verarbeitung
eben dieser psychologischen wie atmosphärischen Bedin-
gungen können Integration der bisher Ausgegrenzten be-
wirken.
Ganz offenbar hat auch gerade dieser Punkt so bei-
spielgebend gewirkt, dass sich verschiedene Staaten, de-
ren Ordnung sich aus einer totalitären in eine freiheitlich-
demokratische gewandelt hat, an Auftrag, Einrichtung
und Arbeit des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterla-
gen zu orientieren versuchten. Darauf ist ja auch schon
Bezug genommen worden. Ich denke da nicht nur an die
vielen Konversionsstaaten in Mittel- und Osteuropa, son-
dern auch und speziell etwa an Südafrika oder an Chile.
Erst vorgestern haben wir in der deutsch-polnischen Par-
lamentariergruppe von einem Polen, der die dortigen
Verhältnisse genauestens kennt, gehört, dass die Brüche,
die Uneinheitlichkeit, das öffentliche Desinteresse oder
das würden wir sagen die Politikverdrossenheit der
polnischen Gesellschaft, die sich zuletzt etwa auch in der
niedrigen Wahlbeteiligung niedergeschlagen hat, mit da-
rauf zurückzuführen seien, dass man eben eine Auf-
arbeitung, wie sie in Deutschland die Stasi-Unterlagen-
Behörde leistet, dort nicht vorgenommen hat.
Mir scheint, meine Damen und Herren, die Besinnung
auf dieses Kernanliegen der Gesetzgebungsinitiative von
vor zehn Jahren ist angesichts der Tatsache, dass
womöglich wegen Zunahme des zeitlichen Abstandes
oder auch kurzfristiger anderer Aktualitäten die Kon-
stellationen auch zu anderen Zwecken stärker genutzt
werden sollen, besonders wichtig. § 1 des Gesetzes vom
20. Dezember 1991 hat eindeutig die Ermöglichung des
Zugangs durch die betroffenen Einzelnen zu den von der
Stasi über sie gesammelten Informationen und den Schutz
der Persönlichkeitsrechte dieser Opfer seinen Regelun-
gen als Ziel vorgegeben. Die allgemeine wissenschaftli-
che Aufarbeitung der Stasi-Tätigkeit und die öffentliche
Information darüber sind erst danach aufgeführt worden
und dürfen die Grundintention nicht verwischen.
Wenn ich es richtig sehe, hat bisher die Tätigkeit der
Stasi-Unterlagen-Behörde diesen Vorgaben auch in aller
Regel Rechnung getragen. Wo man einmal die Persön-
lichkeitsrechte des betroffenen Einzelnen gegenüber dem
öffentlichen Informationsbedürfnis und -interesse hint-
anstellen wollte, ist das rasch beanstandet worden. Das
geschah etwa 1995 durch das Kieler Landgericht gegen
den bekannten Untersuchungsausschuss des Schleswig-
Holsteinischen Landtages; in einem anderen Fall ist das
1996 durch den Bundesbeauftragten für Datenschutz mo-
niert worden und hat jüngst darauf wurde schon hinge-
wiesen das Berliner Verwaltungsgericht einschreiten
lassen. Bei circa 5 Millionen Benutzungsanträgen, davon
über 250 000 solchen auf Herausgabe von Unterlagen,
war das aber stets die absolute Ausnahme. Die Be-
hauptung jedenfalls, es habe eine langjährige Gegenpra-
xis der Behörde gegeben, ist augenscheinlich falsch; denn
wo immer sonst das allgemeine Informationsinteresse
die Offenlegung auch von Persönlichkeitsdaten bewirkt
hat, geschah dies immer mit Zustimmung der betroffenen
Einzelnen.
Diese Linie das soll mein Fazit sein muss auch
künftig durchgehalten werden, und zwar natürlich selbst
dann das richte ich insbesondere an Sie, Herr Özdemir,
der Sie richtigerweise von Gräben, die wir nicht auf-
reißen, sondern zuschütten sollen, gesprochen haben ,
wenn die Betroffenen respektive die Opfer der Bespitze-
lung damals wie heute bekannte Personen sind oder wa-
ren, und völlig unabhängig davon, ob sie damals oder
heute ihren Wohnsitz im Westen oder im Osten hatten
oder haben.
Im Übrigen begrüßen wir es auch das sei noch ange-
merkt, ist aber selbstverständlich; wir haben das auch
schon persönlich ausgedrückt , dass demnächst noch
eine Sachverständigenanhörung die fortdauernde
Gediegenheit der in ihrem Großteil immerhin schon zehn
Jahre alten Gesetzestatbestände und die Entwicklungs-
perspektiven der Stasi-Behörden-Arbeit ausführlich aus-
leuchten soll. Wenn es auch noch gelingt, dass die
Behörde selber eine etwas breiter angelegte, durchaus re-
präsentative Veranstaltung zu diesem Thema plant, dann
ist das nicht nur der Sache dienlich, sondern würde gleich-
falls sehr begrüßt werden.
Danke sehr.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001 19377
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Birthler!
Frau Birthler, Sie haben die Bitte geäußert, dass wir uns
zehn Jahre nach In-Kraft-Treten des Stasi-Unterlagen-Ge-
setzes Gedanken über die Erfahrungen und über die Pro-
bleme machen müssen. Ausgangspunkt ist hierbei der
Rechtsstreit zwischen Ihrer Behörde und dem früheren
Bundeskanzler Kohl bzw. dem Innenminister Schily.
Wir halten diese Auseinandersetzung auf jeden Fall für
notwendig; denn wir meinen auch, dass sich eine ganze
Reihe von Problemen, deren Aufarbeitung jetzt angesagt
ist, in diesen zehn Jahren angehäuft haben. Dabei muss
von vornherein klar sein, dass Betroffene auch in Zukunft
ein uneingeschränktes Recht auf Einsicht in ihre Akten
haben. Daran darf auf gar keinen Fall gerüttelt werden.
Wir erleben aber jetzt im Fall Kohl den Versuch einer
Änderung des Umgangs mit den Stasi-Akten. Ich plä-
diere dabei keineswegs für ein Vorgehen nach dem Mus-
ter Gleiches Unrecht für alle. Ganz im Gegenteil: Es
darf nicht sein, dass jetzt nur für Kohl verboten wird, was
vorher jahrelang für Menschen mit Ostbiografien erlaubt
war und möglicherweise auch in Zukunft erlaubt sein
wird.
Fakt ist nämlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU, dass die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Vergan-
genheit bei Personen aus der ehemaligen DDR durchaus
locker mit personenbezogenen Informationen an die
Öffentlichkeit getreten ist, obwohl diese Personen Opfer
oder Betroffene im Sinne des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
waren.
Herr Büttner, Sie wissen ganz genau, auf welchen Fall
ich hier anspiele.
Dieser Fehler sollte von der Behörde meines Erachtens
auch eingestanden werden, wenn es um die Aufarbeitung
geht. Ansonsten bleibt der bittere Eindruck, dass erneut
Westprominente gegenüber Ostprominenten privilegiert
werden bzw. dass durch Westprominente diese Diskus-
sion überhaupt erst möglich geworden ist. Das können Sie
wohl nicht bestreiten.
Des Weiteren stellt sich die Frage nach der Aufarbei-
tung der deutsch-deutschen Geschichte. Im Streit zwi-
schen Kohl und der Stasi-Unterlagen-Behörde geht es
auch um den Konflikt zwischen dem Recht der Öffent-
lichkeit auf Aufklärung des Regierungshandelns und dem
Anspruch des Einzelnen auf Schutz seiner Persönlichkeit.
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts hat deutlich
gemacht das ist schon gesagt worden , dass es eine
Rechtsunsicherheit bei der Anwendung von § 32 des
Stasi-Unterlagen-Gesetzes gibt. Dieser Paragraph ist
beispielsweise für die Forschung nicht ohne Bedeutung.
Hier müssen einige Punkte geklärt werden. Wörtlich heißt
es in § 32:
... stellt der Bundesbeauftragte folgende Unterlagen
zur Verfügung: ... Unterlagen mit personenbezoge-
nen Informationen über Personen der Zeitge-
schichte, Inhaber politischer Funktionen oder Amts-
träger in Ausübung ihres Amtes,
jetzt folgt der Halbsatz, der diesen Streit ausgelöst hat
soweit sie nicht Betroffene oder Dritte sind.
In diesem Zusammenhang möchte ich sagen: Wenn
Kohl abgehört wurde, dann ist er ein Betroffener. Das ha-
ben wir immer gesagt. Die Daten, die durch illegales Ab-
hören gesammelt wurden, haben unserer Meinung nach
nichts in der Öffentlichkeit zu suchen, auch nicht ange-
sichts der Tatsache, dass Kohl eine Person der Zeitge-
schichte ist. Trotzdem bleibt das Problem in der Auseinan-
dersetzung, in der es um Erkenntnisse über das Denken und
Handeln der Spitzenpolitiker der Bundesrepublik geht.
Ich denke, wer die deutsch-deutsche Geschichte ver-
nünftig aufarbeiten und ausleuchten will, der muss die
Akten von zeitgeschichtlicher Relevanz insgesamt auf
den Tisch legen. Mit diesem Konflikt, wie weit geforscht
werden kann, und mit den vorhandenen zeitgeschichtli-
chen Interessen muss man sich meiner Meinung nach aus-
einander setzen; denn auch in den Akten, die über Kohl
existieren, gibt es politisch interessante Punkte, die für die
Aufarbeitung sehr wichtig sein können.
Es darf ebenfalls nicht zu einer einseitigen Aufarbei-
tung kommen. Im Moment besteht die Gefahr im doppel-
ten Sinne des Wortes. Bei anderen Archiven gibt es Sperr-
fristen von zum Teil mehreren Jahrzehnten, während die
Akten der früheren DDR offen liegen. Problematisch ist
auch, dass die Stasi-Unterlagen-Behörde im Augenblick
die Akten zusätzlich sortiert es gibt Wissenschaftler, die
das zurzeit kritisieren und nur die Akten herausgibt, von
denen sie meint, sie herausgeben zu können. Ob die
Behörde will oder nicht, übt sie auch hier einen indirek-
ten Einfluss auf die Aufarbeitung der Geschichte aus.
Wir stehen hier also vor einem doppelten Problem der
Gleichbehandlung. Was für den Umgang mit staatlichen
Akten der früheren DDR gilt, muss auch für die Akten der
früheren Bundesrepublik Deutschland gelten. Persön-
lichkeitsrechte für Menschen mit Westbiografien müssen
auch für Menschen mit Ostbiografien gelten.
Das gilt es aufzuarbeiten, wenn die Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts im Fall Kohl gefallen ist. Wir
begrüßen es, dass es hierzu, wie der Innenminister an-
gekündigt hat, eine Anhörung geben soll.
Dabei ist nicht nur das Stasi-Unterlagen-Gesetz zu prü-
fen. Viel wäre geholfen, wenn wir die Fristen für die Ge-
heimhaltung aller Regierungsakten verkürzen und den
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 200119378
Zugang dazu verbessern würden. Dazu würde auch
gehören, den Zugang der Öffentlichkeit zu den Akten aller
Geheimdienste, also auch der westdeutschen, zu korri-
gieren.
Das sage ich ganz bewusst als Westdeutsche, die der Mei-
nung ist, dass diese einseitige Aufarbeitung nicht weiter
bestehen darf.
Das wäre unserer Meinung nach ein Schritt zu mehr de-
mokratischer Transparenz und zur besseren Kontrolle der
Regierung mit Auswirkungen auch auf die aktuelle Poli-
tik. Das wäre auch ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit und
Gleichbehandlung im Umgang mit der deutsch-deutschen
Geschichte.
In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerk-
samkeit.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Gisela Schröter.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Fünften
Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterla-
gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.
Wir tun dies in einer Zeit, in der wir zugleich innen- und
außenpolitische Antworten von größter Tragweite auf die
Ereignisse des 11. September finden müssen. Ich wünsche
mir, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für unsere heu-
tige Debatte trotzdem nicht geschmälert wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir nehmen heute
nicht nur einen jährlichen Tätigkeitsbericht zur Kenntnis;
alle meine Vorredner haben schon darauf hingewiesen.
Ich möchte mich dem Dank an die Behörde und an sämt-
liche Mitarbeiter, auch in den Außenstellen, die in den
letzten Jahren eine ganz wichtige und sehr gute Arbeit ge-
leistet haben, anschließen.
Gestern haben wir den ersten Bericht von Marianne
Birthler entgegengenommen. Ich freue mich, sie heute
hier begrüßen zu können. Allmählich gewöhnt man sich
auch an den Namen Birthler-Behörde, ich denke, auch
dank des entschiedenen Auftretens von Frau Birthler.
Eine Bemerkung am Rande: Wenn wir in der letzten
Zeit die Frage einer Novellierung des Stasi-Unterlagen-
Gesetzes auch kontrovers diskutiert haben, sind wir uns,
denke ich, in einem auf alle Fälle einig. Eine Gesetzesän-
derung ist unstrittig: Überall, wo im Gesetz der Bundes-
beauftragte steht, sollte jetzt die Bundesbeauftragte
oder der oder die Bundesbeauftragte stehen.
Ich denke, dass wir das bei der nächsten Gelegenheit er-
ledigen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir blicken auf zehn
Jahre Erfahrung mit einem Gesetz zurück. Meine Vorred-
ner haben aus ihrer jeweiligen Position darauf zurückge-
blickt. Gestatten Sie mir, auch einmal meine Gedanken
dazu hier zu sagen.
Auf der Grundlage dieses Gesetzes konnten bereits
Hunderttausende das ist richtig Aufschluss über die
näheren Umstände und Hintergründe ihrer individuellen
Lebens- und oftmals auch Leidensgeschichte bekom-
men. Ich möchte auch hier daran erinnern, dass es einige
gibt unter anderem zwei Freunde von mir , die es nicht
mehr erlebt haben, weil sie sich aufgrund des Drucks, der
auf sie ausgeübt wurde, das Leben genommen haben.
Diese Opfer standen nicht im Mittelpunkt oder in der Öf-
fentlichkeit. Meine Freunde kamen aus einem kleinen
thüringischen Städtchen, wo man nicht die Möglichkeit
hatte, irgendetwas zu mobilisieren, um auf sich aufmerk-
sam zu machen. Es ist mir wichtig, heute an sie zu erin-
nern, weil es mir wirklich ein Bedürfnis ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Stasi-Unterla-
gen-Gesetz ist auch mit entscheidend dafür, dass die Men-
schen aus den neuen Ländern in der Gesellschaft des ver-
einten Deutschlands angekommen sind. Mehr noch, die
Aufarbeitung der eigenen Geschichte ist eine Vorausset-
zung dafür, dass die Menschen nicht nur in der Demokra-
tie ankommen, sondern auch den Blick auf die gemein-
same Zukunft richten und an ihrer Gestaltung teilnehmen
können.
Als Ostdeutsche möchte ich an dieser Stelle aber auch
die Bilanz von zehn Jahren Stasi-Unterlagen-Gesetz beto-
nen, weit über den integrativen und die Einheit festigen-
den Beitrag hinaus. Dass wir uns mit den MfS-Unterlagen
beschäftigen und uns fragen, wie wir damit umgehen wol-
len, darf nicht zu einer lästigen Aufgabe werden, die sich
in wenigen Jahren von selbst erledigt. Nein, in der Ausei-
nandersetzung mit einem diktatorischen Regime liegt die
große Chance, die Grundpfeiler unseres freiheitlich-de-
mokratischen Gemeinwesens zu stärken.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, 1989 und 1991 ha-
ben wir uns ganz bewusst dafür entschieden, aus den Feh-
lern nach 1945 zu lernen, wo man die Geschichte nicht
sofort richtig aufgearbeitet hat, wo man bestimmten Kon-
frontationen aus dem Wege gegangen ist. Wir wissen,
diese Vergangenheit hat uns immer wieder eingeholt.
Diese Erfahrungen wollten wir mit dem Stasi-Unterlagen-
Gesetz vermeiden. Heute, nach zehn Jahren, können wir
sagen: Das ist uns gelungen.
Auf diesem Wege, liebe Kolleginnen und Kollegen, müs-
sen wir weiter gehen.
Ganz bewusst haben wir uns dafür entschieden, die
Unterlagen des MfS nicht, wie vorhin schon gesagt wor-
den ist, dem Bundesarchivgesetz zu unterwerfen, in dem
lange Sperrfristen vorgesehen sind. Wir wollten die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Ulla Jelpke
19379
Offenlegung, die direkte Konfrontation mit den Zeugnis-
sen eines menschenverachtenden Regimes.
Heute, nach zehn Jahren, können wir sagen: Dieses
Stasi-Unterlagen-Gesetz ist kein Auslaufmodell. Viel-
mehr ist es nach wie vor im positivsten Sinne des Wortes
eine ostdeutsche Mitgift für die Festigung der freiheitlich-
demokratischen Zukunft der Bundesrepublik.
Ich denke, dem entspricht auch das breite Spektrum der
Aufgaben der Behörde, die ich hier nicht alle zu wieder-
holen brauche. Schon ein flüchtiger Blick in den vorlie-
genden Tätigkeitsbericht gibt ein anschauliches Bild von
der Vielfalt und der Notwendigkeit dieser Aufgaben. Über
die Zahl der Bürger, die nach wie vor dort Einsicht neh-
men wollen und auch können, ist vorhin schon gespro-
chen worden.
Die jüngste Geschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
ist auch darauf wurde hingewiesen von einer Verunsi-
cherung über die Anwendung seiner Normen es geht
um bestimmte Paragraphen gekennzeichnet. Es gibt Pa-
ragraphen, über die neun Jahre lang nicht diskutiert
wurde, die in jüngster Vergangenheit aber um so heftiger
infrage gestellt worden sind. Die Beauftragte selber hat
den Gesetzgeber um eine Präzisierung gebeten. Ich
denke, dass wir dieser Bitte auch nachkommen werden.
Es ist darauf hingewiesen worden, dass wir eine Exper-
tenanhörung durchführen werden. Wir sollten auch darü-
ber diskutieren, wie wir weiter damit umgehen.
Ich meine: Zehn Jahre Erfahrungen mit dem Stasi-Un-
terlagen-Gesetz sind ein guter Anlass, um eine umfas-
sende Bestandsaufnahme zu machen. Wir sollten uns
dann unabhängig von noch ausstehenden Rechtsprechun-
gen darüber unterhalten, ob es einen Novellierungsbedarf
gibt und wenn ja, wo und in welcher Weise. Das sollten
wir vollkommen offen diskutieren. Ich denke, hier sind
wir auf einem guten Weg. Dabei werden wir natürlich
nach den Intentionen des Gesetzgebers fragen müssen, als
er 1991, nach einer fast zweijährigen Debatte, das Stasi-
Unterlagen-Gesetz beschlossen hat. Diese Intentionen
dürfen wir nicht außer Acht lassen.
Ich weiß, dass wir damals ganz heftig darum gestritten ha-
ben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ob es dabei zu einer
Akzentverschiebung kommt, wird sich erst am Ende der
Debatte und nicht schon am Anfang, also erst nach der
Anhörung, zeigen. Ich bitte, dass wir ganz offen mit die-
ser schwierigen Problematik umgehen.
Gleichgültig, ob und in welchen Punkten es am Ende
zu einer Novellierung kommt: Für mich ist entscheidend,
dass die eminent wichtigen Aufgaben des Stasi-Unterla-
gen-Gesetzes für die innere Verfassung unserer Gesell-
schaft dadurch nicht infrage gestellt werden. Der Beitrag
dieses Gesetzes für die politische Kultur in unserem Land
ist beträchtlich. Damit kein Raum für Missverständnisse
bleibt, möchte ich noch einmal klarstellen: Hierbei geht es
nicht nur um die Aufarbeitung von DDR-Geschichte. Ich
bin meinen Kollegen dankbar, die darauf hingewiesen ha-
ben. Es ist ein Teil deutscher Geschichte. Deshalb haben
hier nicht nur Ostdeutsche die Aufgaben zu erledigen; es
geht uns alle an.
In einer Zeit, in der der freiheitlich-demokratische
Rechtsstaat seine Wehrhaftigkeit gegen terroristische
Bedrohungen verstärken muss, bekommen die MfS-Un-
terlagen und der Umgang mit ihnen eine zusätzliche Be-
deutung. In seiner Monströsität ist dieses Erbe Mahnung
dafür, wohin es führen kann, wenn das Verhältnis zwi-
schen Freiheit und Sicherheit aus der Balance gerät.
Damit sind das Stasi-Unterlagen-Gesetz und auf sei-
ner Grundlage die Arbeit der Behörde beständige Auf-
forderung, dass wir dieses Spannungsverhältnis ebenso
wie das Verhältnis zwischen den Persönlichkeitsrechten
und dem öffentlichen Informationsinteresse immer wie-
der ausbalancieren. Dieser Prozess spiegelt rechtsstaatli-
che Normalität wider. Wenn die Balance gelingt, festigen
wir auch die freiheitlich-demokratischen Grundlagen un-
seres Zusammenlebens im Osten wie im Westen: in unse-
rer gemeinsamen deutschen Demokratie.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Vera Lengsfeld.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der größte Teil der Mitglieder
dieses Hauses ist sich einig, dass das Stasi-Unterlagen-
Gesetz eine Erfolgsgeschichte ist. Ich erinnere noch ein-
mal daran, dass diese Akten geöffnet worden sind, damit
die Opfer von Stasiverfolgung ihre Akten einsehen kön-
nen. Sie haben das in einer verantwortungsvollen Art und
Weise getan. Jedenfalls ist es nicht zu dem vor der Ak-
tenöffnung prophezeiten Bürgerkrieg gekommen, auch
nicht zu allen anderen Gräueltaten, aber sie hat natürlich
zu einem geführt: Mit der Öffnung der Stasi-Akten wurde
das Gerüst einer Diktatur bloßgelegt und es wurden die
Täter, die dieser Diktatur gedient haben, kenntlich ge-
macht.
Bevor ich auf diesen Punkt zu sprechen komme, weise
ich auf eines ganz entschieden hin. Da die Akten vor allen
Dingen für die Opfer geöffnet worden sind, muss auch der
Opferschutz in der Weise, wie er zu Beginn intendiert
war, erhalten bleiben. Ich persönlich würde mich gegen
alles wehren, was diesen Opferschutz einschränkte, unab-
hängig davon, ob es sich bei diesen Opfern um unbe-
kannte Personen oder so genannte Personen der Zeitge-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Gisela Schröter
19380
schichte handelt. Das ist kein Ost-West-Problem, sondern
ein Täter-Opfer-Problem. Diese Tatsache darf in dieser
Debatte nicht verwischt werden.
Ich bin auch im Zweifel, ob diese Stasi-Unterlagen vor-
dergründig als Material für Geschichtsaufarbeitung ge-
schützt werden müssen, denn sie sind zum Beispiel hin-
sichtlich der Stasi-Vermerke über die Opfer eher
unzuverlässig. In anderer Hinsicht sind sie sehr zuverläs-
sig. Sie sind sehr hilfreich für die Identifikation der Tä-
ter. Auch das ist bei vermuteten 20 000 bis 30 000 West-
spionen kein Problem von Ost oder West.
Ich nutze die Gelegenheit, um einmal vorzuführen,
welches Demagogenstück uns heute von der PDS zuge-
mutet wurde. Jetzt sind nur noch drei Abgeordnete dieser
Fraktion anwesend. Zwei davon waren inoffizielle Mitar-
beiter der Staatssicherheit.
Frau Abgeordnete Jelpke, Sie zelebrierten hier das Kla-
gelied der geschundenen Ostbiografie. Ich zeige Ihnen jetzt
eine exemplarische Ostbiografie eines im Plenarsaal anwe-
senden Abgeordneten auf. Ich spreche von Professor
Heinrich Fink, IM Heiner. Als er Chef der Christlichen
Friedenskonferenz war und Bärbel Bohley, Freia Klier und
andere, unter anderem auch ich, im Stasigefängnis saßen
und anschließend abgeschoben wurden, hatte IM Heiner
von der Staatssicherheit den Zersetzungsauftrag, diese Ab-
geschobenen in Kirchenkreisen des Westens zu diffamie-
ren. Er hat diesen Auftrag zuverlässig erfüllt.
Dieser Mann sitzt heute im Bundestag und kann hier
sprechen. Von geschundener Ostbiografie kann in diesem
Zusammenhang überhaupt nicht die Rede sein. Eher frage
ich mich, wie dem berechtigten Anliegen der Bürgerbe-
wegung, dass inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit
zumindest nicht mehr in herausragenden politischen
Funktionen tätig sein sollen, in diesem Falle Rechnung
getragen wurde.
Ich führe gleich ein noch viel bekannteres Beispiel an,
weil man dieses Lied von der PDS immer hört.
In dieser ganzen Stasi-Diskussion wird immer gesagt, Po-
litiker aus dem Osten mussten sich gefallen lassen, was
man Kohl nicht zumuten will. In diesem Zusammenhang
wird immer von Dr. Gregor Gysi gesprochen. An dieser
Stelle verlese ich, was der Bundestag festgestellt hat und
was in diesem Hohen Hause noch nicht verlesen worden ist.
Nach dem Ergebnis einer sorgfältigen Recherche unter
Auswertung von über 1 000 Blatt IM-Akten hat der Im-
munitätsausschuss Folgendes festgestellt:
Dr. Gysi hat nach Überzeugung des Ausschusses
seine Anwaltstätigkeit
in der DDR
dazu benutzt, um im Rahmen seiner inoffiziellen
Zusammenarbeit mit dem MfS Informationen über
seine Mandanten zu liefern und Arbeitsaufträge des
MfS auszuführen. Die Überprüfung der verschiede-
nen Mandatsverhältnisse hat in jedem der genannten
Fälle ergeben, dass Rechtsanwalt Dr. Gysi personen-
bezogene Informationen, Einschätzungen und Be-
wertungen zu seinen Mandanten an das MfS weiter-
gegeben hat.
Aber er hat noch mehr gemacht:
Dr. Gregor Gysi hat in der Zeit seiner inoffiziellen
Tätigkeit Anweisungen seiner Führungsoffiziere
über die Beeinflussung seiner Mandanten ausgeführt
und über die Erfüllung seiner Arbeitsaufträge berich-
tet. Er hat sich hierauf nicht beschränkt, sondern
auch eigene Vorschläge an das MfS herangetragen.
Dr. Gysi hat seine herausgehobene berufliche Stel-
lung als einer der wenigen Rechtsanwälte in der
DDR genutzt, um als Anwalt auch international be-
kannter Oppositioneller die politische Ordnung der
DDR vor seinen Mandanten zu schützen. Um dieses
Ziel zu erreichen, hat er sich in die Strategien des
MfS einbinden lassen, selbst an der operativen Bear-
beitung von Oppositionellen teilgenommen und
wichtige Informationen an das MfS weitergegeben.
Auf diese Erkenntnisse war der Staatssicherheits-
dienst zur Vorbereitung seiner Zersetzungsstrategien
dringend angewiesen. Das Ziel dieser Tätigkeit unter
Einbindung von Dr. Gysi war die möglichst wirk-
same Unterdrückung der demokratischen Opposition
in der DDR.
Dieser Mann sitzt heute nicht nur im Bundestag, son-
dern auch in allen Talkshows. Die große Frage ist immer:
War er es oder war er es nicht? Ich sage es Ihnen hier von
diesem Pult aus: Er war es.
Leider ist meine Redezeit zu Ende; sonst hätte ich Ih-
nen noch einmal erklärt, wie die Zersetzungspläne der
Staatssicherheit ausgesehen haben, die jetzt durch die Ak-
tenöffnung offensichtlich geworden sind. Diese Zer-
setzungspläne gingen bis hin zur Planung von Morden.
Mein Freund Jürgen Fuchs hat drei solcher Mordan-
schläge überstanden; einer davon betraf seine ganze
Familie. In diese Zersetzungspläne der Staatssicherheit
eingebunden zu sein war kein Kavaliersdelikt, sondern ist
eine Sache, zu der man, wenn man sich als Volksvertre-
ter und vor allen Dingen als Vertreter ostdeutscher Inte-
ressen aufspielt, wenigstens ehrlich stehen sollte. Das tut
Dr. Gregor Gysi leider nicht.
War das jetzt eine Zwischenfrage? Dann würde ich sie
gerne noch beantworten.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vera Lengsfeld
19381
Die Redezeit ist
zu Ende.
Darüber habe ich im-
mer und überall offen geredet. Jeder, der mich kennt, und
jeder, der das liest, was ich veröffentlicht habe das kön-
nen auch Sie in meinen Büchern nachlesen , weiß, dass
ich das immer ganz offen sage. Es besteht, bitte schön, ein
Unterschied, ob man in irgendeiner Partei gewesen ist
das waren Sie ja auch
oder ob man für die Staatssicherheit gearbeitet hat und
sich in die Zersetzungspläne der Staatssicherheit hat ein-
binden lassen. Das ist Ihr Problem.
Ich weise darauf
hin, dass Kollegen dieses Hauses, die persönlich ange-
sprochen worden sind, das Recht haben, zu ihrer Person
Stellung zu nehmen, wenn sie das möchten.
Als Nächste hat die Bundesbeauftragte für die Stasi-
Unterlagen, Marianne Birthler, das Wort.
Marianne Birthler, Bundesbeauftragte für die Unter-
lagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deut-
men und Herren! Zehn Jahre sind seit der Verabschiedung
des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vergangen. Das ist ein
guter Anlass für mich, zu Ihnen zu sprechen. Sie haben am
14. November 1991 den Weg dafür frei gemacht, dass die
Aufarbeitung des Unrechts einer Diktatur so erfolgen
konnte, wie es historisch und weltweit bisher nie möglich
war. Sie haben seither parteiübergreifend dafür Sorge ge-
tragen, dass nicht nur die rechtlichen Grundlagen, son-
dern auch die nötigen Ressourcen für die Arbeit meiner
Behörde zur Verfügung standen. Dies hier zu würdigen ist
mir eine große Freude.
Der Bundestag war damals, wie schon einmal in der
deutschen Geschichte, herausgefordert, mit der Hinterlas-
senschaft einer Diktatur umzugehen, mit den Wunden der
Opfer und ihrer Hoffnung auf Gerechtigkeit, mit Verbre-
chen, für die es kein Strafrecht gab, mit Staatsdienern, de-
nen ihr Staat abhanden gekommen war, mit den politi-
schen und kulturellen Schäden einer Gesellschaft nach
fast sechs Jahrzehnten in zwei Diktaturen.
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist ein eindrücklicher Be-
leg für das Bemühen, 17 Millionen Menschen nicht nur in
die Bundesrepublik zu integrieren, sondern sich auch ih-
rer Geschichte zu stellen. Grundlage dafür war die Ent-
schiedenheit, mit der die Abgeordneten der Volkskam-
mer zuvor die Öffnung der Stasi-Akten im Übrigen
gegen die Skepsis beider Regierungen durchgesetzt hat-
ten.
Niemand konnte damals wissen, welche Wirkungen
dieses Gesetz entfalten würde. Ob den Opfern der Stasi
die erhoffte Genugtuung zuteil werden würde, ob Men-
schen überhaupt wünschten, ihre Akten zu sehen, auch ob
die Stasi-Akten für die zeitnahe Aufarbeitung durch Me-
dien und Wissenschaft genutzt würden, musste sich erst
erweisen. Und: Welche Folgen würde es haben, wenn die
Namen der Täter offenkundig würden?
Um es kurz zu sagen: Das Gesetz hat sich als überaus
praxistauglich erwiesen und wurde in einem unerwarteten
Maß in Anspruch genommen. Die Zahlen sind heute
schon mehrfach genannt worden. Abgesehen von den
Überprüfungen vor allem im öffentlichen Dienst deutet
nichts auf einen Rückgang der Nachfrage hin. Letzteres
ist die einzige Aufgabe nach dem Stasi-Unterlagen-Ge-
setz, die zeitlich befristet wurde.
Wichtigstes Ziel der Aktenöffnung war, es den Opfern
der Diktatur zu ermöglichen, ihr Schicksal aufzuklären.
Die Begegnung mit der Wahrheit war und ist oft schmerz-
haft. Manche wagen es erst jetzt, nach jahrzehntelangem
Abstand, ihre Akte einzusehen. Billiger aber als mit die-
sem Schmerz ist die Überwindung von Unrecht, ist die
von vielen ersehnte individuelle oder auch gesellschaftli-
che Versöhnung nicht zu haben.
Mit der Aktenöffnung war auch die Hoffnung darauf
verbunden, dass das Personal in öffentlichen Ämtern, in
Behörden, Schulen oder auch Rundfunkanstalten zumin-
dest hinsichtlich einer Zusammenarbeit mit der Stasi un-
belastet sein sollte.
Eine glückliche Entscheidung des Gesetzgebers war
es, dass die Behörde darauf beschränkt ist, auf Antrag
Auskünfte zu erteilen. Die Bewertungsmaßstäbe, auch die
Verfahren, sind in der Praxis von Ländern und Kommu-
nen sehr unterschiedlich. Überprüfungsverfahren verlan-
gen Augenmaß und viel Mühe. Gute Erfahrungen werden
überall dort gemacht, wo zum einen Verfahren und Maß-
stäbe transparent waren und wo zum anderen eine diffe-
renzierte Einzelfallüberprüfung erfolgte.
Die Erforschung von Struktur und Wirkungsweise des
MfS schließlich erbrachte wichtige Erkenntnisse über das
Wesen von Diktaturen. Überwachung und Repression wa-
ren Schlüsselfunktionen für den Machterhalt der SED.
Die Arbeit im Archiv, die Publikationen, die Öffentlich-
keitsarbeit, die Ausstellungen und Veranstaltungsreihen,
die neuen Ansätze für die politische Bildungsarbeit in
Schulen und mit Jugendlichen können hier nur erwähnt,
aber nicht beschrieben werden.
Wichtig ist mir gerade im Hinblick auf die Frage, wie
diese Akten auch für Jugendliche nutzbar gemacht wer-
den können der Hinweis darauf, dass die Akten eben
nicht nur Beispiele für Verrat und Schande enthalten, son-
dern auch zahllose Beispiele für Mut und für ganz alltäg-
liche Anständigkeit Hunderttausender.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 200119382
Wenig bekannt in der Öffentlichkeit ist die Tatsache,
dass sich in den Unterlagen des MfS erhebliche Bestände
an NS-Akten befanden. Sie sind im Übrigen auch ein Be-
leg dafür, dass die SED recht instrumentell mit diesem
Erbe umgegangen ist. Mit ihrer Hilfe ist die Aufarbeitung
mancher Verbrechen aus der Zeit des nationalsozialisti-
schen Regimes erst heute ermöglicht worden.
Zu den Aufgaben der Behörde in diesem Zusammen-
hang gehört auch ein Antrag von Yad Vashem. Auf diesen
Antrag hin wurden bislang 90 000 Kopien herausgegeben.
Herr Büttner hat schon darauf hingewiesen: Im Zuge
der Erfüllung all dieser Aufgaben nimmt das Interesse an
der Aufarbeitung der kommunistischen Diktaturen
über Ländergrenzen hinweg zu. Die Stasi-Unterlagen-
Behörde der Bundesrepublik Deutschland gilt aufgrund
ihres Erfahrungsvorlaufs als Modell und ist gefragter
Partner für Informationsaustausch und Kooperation. Ge-
nauso wie mein Vorgänger Joachim Gauck pflege ich
diese Kontakte sehr gern, nicht zuletzt mit Blick auf die
Perspektive eines gemeinsamen Europas. Wenn wir ein
europäisches Gemeinwesen begründen wollen, so gehört
dazu auch die Beschäftigung mit der europäischen Ge-
schichte.
Der Kommunismus war ja nicht nur ein nationales, son-
dern ein europäisches Phänomen. Ich persönlich meine,
dass die Zeit für eine europäische Institution, die sich der
Erforschung des Kommunismus in Europa widmet, bald
gekommen sein müsste.
Nachdem das Verwaltungsgericht Berlin im Juli dieses
Jahres der Klage von Dr. Helmut Kohl stattgegeben hat,
liegt das Verfahren nun beim Bundesverwaltungsgericht.
Aber wie auch immer die Entscheidung ausfallen wird,
deutlich geworden ist längst, dass die Frage, wessen Ak-
ten unter welchen Bedingungen an wen herausgegeben
werden dürfen, der politischen Klärung bedarf. Ich freue
mich deshalb, dass sich der Bundestag dieser Frage an-
nehmen wird.
Die Hinterlassenschaft der Stasi ist nun einmal so be-
schaffen, dass die für die Aufarbeitung wichtigen Infor-
mationen auf das Engste mit personenbezogenen Infor-
mationen verwoben sind. Genau dies war der Grund
dafür, dass der Gesetzgeber die Nutzung personenbezo-
gener Daten ermöglicht hat, obwohl diese nahezu aus-
schließlich rechtswidrig erhoben wurden. Ihre Nutzung
freilich ist an strenge Restriktionen gebunden, die seitens
meiner Behörde seit Jahren peinlichst beachtet werden.
Eine dieser Bindungen ist die Zweckbindung aus dem § 1
des Gesetzes.
Nun kann man ja Verständnis für sehr viel Neugierde
haben, auch Verständnis dafür, dass der Aufklärungswille
sehr groß ist. Aber ich sage hier eindeutig: Das Stasi-Un-
terlagen-Gesetz ist für die Aufklärung der MfS-Tätigkeit
wenn Sie so wollen: für die Aufklärung der DDR-Dik-
tatur gemacht worden und nicht für die Aufklärung der
bundesdeutschen Spendenaffären.
Dass die Herausgabe von Daten sowohl bei Mitarbei-
tern wie auch bei Betroffenen stets unter der Maßgabe
überwiegend schutzwürdiger Belange erfolgt, haben wir
in vielen Fällen erlebt. Wenn wir in den letzten zehn Jah-
ren in der Behörde Klagen oder Beschwerden bekommen,
so bezogen sie sich im Allgemeinen fast ausschließlich
darauf, dass wir zuviel anonymisiert, zuviel gestrichen
oder abgedeckt haben und nicht zu wenig.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch noch
auf einen Zungenschlag eingehen, der gelegentlich im
Zusammenhang mit dem Aktenstreit in der Öffentlichkeit
zu hören ist, der aber meines Erachtens der Richtigstel-
lung bedarf. Man kann sicherlich nicht abstreiten: Die
Tatsache, dass die Stasi auch im Westen sehr aktiv war, hat
die Sensibilitäten auch im Westteil unseres Landes erhöht.
Aber eines ist einfach nicht wahr: dass wir in der Vergan-
genheit Unterlagen nach unterschiedlichen Maßstäben
herausgegeben hätten, je nachdem ob es sich um Ost- oder
Westdeutsche handelte.
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz sieht einfach verschiedene
Verfahren vor, je nachdem ob es sich um Mitarbeiter oder
Betroffene handelt. Und das macht den Unterschied aus.
Ich bin gar nicht sicher, ob ich auf Zwischenrufe rea-
gieren darf. Ich glaube nicht. Ich würde es gerne tun.
Trotz dieser Klagen über eine zu restriktive Handha-
bung bei der Herausgabe der Akten muss ich darauf hin-
weisen: Das Gesetz, auf dessen Grundlage wir arbeiten,
lässt nichts anderes zu, denn es ist eben beides. Es ist zu-
gleich Aktenöffnungs- und Datenschutzgesetz.
Ich bin sehr froh, dass die Debatte aus Anlass des Fünf-
ten Tätigkeitsberichtes nicht hinter der zum Teil heftig ge-
führten Debatte über die Herausgabe von Unterlagen nach
§§ 32 und 34 verschwindet. Das hätte die Arbeit, die seit
zehn Jahren in dieser Behörde geleistet wird, nicht ver-
dient.
Trotzdem wird uns diese Frage noch reichlich beschäfti-
gen.
Zehn Jahre nach seiner Verabschiedung ist festzustel-
len, dass das Interesse an den Stasi-Akten nicht nur bei
den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern wach und leben-
dig geblieben ist. In diesen Wochen und Monaten gibt es
zahlreiche Veranstaltungen, Tagungen und Diskussionen
zum Thema und ich darf Sie natürlich auch von hier aus
schon zur Festveranstaltung der Behörde aus Anlass des
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Marianne Birthler
19383
zehnten Jahrestages der Verabschiedung des Gesetzes am
28. November sehr herzlich einladen.
Das Ende der Aufarbeitung, der berühmte Schluss-
strich, ist nicht in Sicht. Er wäre auch weder wünschens-
wert noch machbar; denn die Erfahrung mit der ersten
deutschen Diktatur zeigt, dass sich nach dem Ende einer
Diktatur im Laufe der Jahrzehnte immer neue Fragen stel-
len und nach Antwort verlangen. Elf Jahre, das ist keine
lange Zeit.
Wir sind damit
am Ende der Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/7210 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
7. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, Anita Schäfer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Rahmenbedingungen für die Tourismuswirt-
schaft innerhalb der Europäischen Union
Drucksachen 14/5841, 14/6955
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Dage-
gen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlos-
sen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Klaus Brähmig.
Sehr geehrte Frau Prä-
sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Glaube, Liebe
und Hoffnung zeichnen die momentane Wirtschaftspoli-
tik der rot-grünen Bundesregierung aus. Die rot-grüne
Bundesregierung glaubt an die Omnipotenz des Staates.
Auch für die Wirtschaftspolitik gilt das Motto: Alle Macht
geht vom Staate aus. Die rot-grüne Bundesregierung liebt
ein Jahr vor der Bundestagswahl wieder die unbrauchba-
ren wirtschaftspolitischen Ansätze der Gewerkschafts-
lobby. Das Motto lautet: Tausche neue Mitte gegen alte
Linke.
Die rot-grüne Bundesregierung hofft auf einen erneuten
Aufschwung der Weltwirtschaft. Das Motto lautet: Lieber
die Politik der ruhigen Hand als aktive Wirtschaftspolitik
mit handwerklichem Können.
Die Hoffnung auf den Aufschwung wird allerdings
spätestens in der Sonne des Spätsommers 2002 dahin-
schmelzen. Warum? Weil Sie mit dem Job-Aqtiv-Gesetz
den zweiten und dritten Arbeitsmarkt zusätzlich subven-
tionieren, anstatt mit Kombilöhnen Bewegung in den ers-
ten Arbeitsmarkt zu bringen; weil Sie mit dem neuen Mit-
bestimmungsrecht den Faktor Arbeit zusätzlich um
mehrere Milliarden DM belasten und ausschließlich die
Arbeitnehmerrechte ausweiten, anstatt die unternehmeri-
sche Freiheit zu stärken; weil Sie durch die Erhöhung der
Tabak-, Versicherung- und Ökosteuer die Kauf- bzw. In-
vestitionskraft von Bürgern und Unternehmen zusätzlich
abschöpfen, anstatt eine schnelle und umfassende Steuer-
erleichterung durchzusetzen.
Ich bin davon überzeugt: Am 22. September 2002 wer-
den Sie die Quittung für vier verlorene Jahre bei der Ent-
wicklung Deutschlands im weltweiten Wettbewerb erhal-
ten.
Neben diesen grundsätzlichen Fehlern, die Sie in der
Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik begehen, lassen Sie
aber auch den Mut vermissen, in die Wachstumsbranche
Tourismus zu investieren, die weltweit als Jobmotor gilt.
Eine Expertenkommission der Europäischen Union errech-
nete für den Zeitraum bis 2010 allein innerhalb der EU ein
Potenzial von 3,3 Millionen neuen Arbeitsplätzen in der
Tourismuswirtschaft. Auch nach dem 11. September 2001
gilt der Tourismus als Hoffnungsträger bei der Sicherung
bestehender und der Schaffung neuer Arbeitsplätze übri-
gens nicht exportierbarer Arbeitsplätze in Deutschland.
Durch kreative Entscheidungen und die richtige Festle-
gung der Prioritäten könnte auch Deutschland von der
Leitökonomie des 21. Jahrhunderts profitieren. Während in
anderen Ländern Europas der Entwicklung des Tourismus
und anderer Dienstleistungssektoren eine sehr hohe Prio-
rität eingeräumt wird, führt dieser Bereich in Deutschland
vergleichsweise ein Schattendasein. Genau aus diesem
Grund hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion diese Große
Anfrage zu den Rahmenbedingungen für die Tourismus-
wirtschaft innerhalb der Europäischen Union eingebracht.
Die uns vorliegende Antwort der Bundesregierung do-
kumentiert mit umfangreichem Zahlenmaterial, dass die
deutsche Tourismuswirtschaft bei wichtigen Kennzahlen
der europäischen Konkurrenz hinterherhinkt. Deutsch-
land sitzt nicht im Führerhaus der Lokomotive, sondern
im Bremserhäuschen.
An folgenden Beispielen möchte ich das verdeutlichen.
Spanien und Großbritannien stellen aus öffentlichen Kas-
sen jährlich 151 bzw. 114 Millionen DM für nationale
Tourismuswerbung zur Verfügung. Selbst das kleine Ös-
terreich investiert hier 68 Millionen DM.
Deutschland fällt mit 42 Millionen DM deutlich zurück.
Beim Vergleich der Pro-Kopf-Ausgaben sind wir sogar
das absolute Schlusslicht der Europäischen Union.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Marianne Birthler
19384
Während die Schweiz und Österreich nach den Terror-
anschlägen auf New York und Washington sogar noch zu-
sätzliche Finanzmittel für das Auslandsmarketing bereit-
stellen, wurde der Antrag der CDU/CSU-Fraktion, die
Mittel für die DZT um bescheidene 6 Millionen DM auf-
zustocken, von den Koalitionsfraktionen in den Aus-
schüssen brüsk abgebügelt. Die Begründung lautet, es sei
kein Geld für dieses dringend notwendige Standortmar-
keting vorhanden bzw. die Union habe keine Deckungs-
vorschläge eingebracht.
Gleichzeitig werden innerhalb von kürzester Zeit
500 Millionen DM für die Erhöhung der Kosten der Bun-
desbauten in Berlin als überplanmäßige Ausgaben dekla-
riert und durch den Haushaltsausschuss abgenickt. Das-
selbe geschieht bei den EXPO-Kosten sowie bei den
Kosten für andere aktuelle Ereignisse. Das Totschlag-
argument, es sei kein Geld für Standortmarketing vorhan-
den, gilt also nur für gewisse Teilbereiche der Etat-
planung.
Aber nicht nur bei der Etatplanung scheinen andere eu-
ropäische Regierungen die richtigen Prioritäten zu setzen.
Auch die Steuerpolitik wird von allen anderen europä-
ischen Regierungen innovativ zur Tourismusförderung
eingesetzt. Der in Deutschland gültige normale Mehr-
wertsteuersatz von 16 Prozent ist im Vergleich zu ande-
ren EU-Ländern niedrig. Betrachten wir aber das per-
sonalintensive Hotel- und Gaststättengewerbe und die
Freizeitwirtschaft, dann wenden fast alle europäischen
Konkurrenten einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf
diese Dienstleistungen an. Der Vorteil für unsere unmit-
telbaren Nachbarn bei den Kosten für die Beherbergung
beträgt in Österreich 6 Prozent, in den Niederlanden 10,
in Frankreich 11,5 und in Luxemburg sogar 13 Prozent.
Dort wird nationale Steuerpolitik zum Standortmarketing
genutzt.
Ich frage die rot-grüne Bundesregierung: Wo bleibt die
versprochene Initiative zur Harmonisierung der Mehr-
wertsteuersätze? Wo bleibt die Initiative für einen er-
mäßigten Mehrwertsteuersatz in Deutschland?
Wie andere europäische Regierungen ihre Freizeitwirt-
schaft stützen bzw. wie sie mit hohen Subventionen zur
weiteren Wettbewerbsverzerrung beitragen,
sieht man am Beispiel der Freizeitparks: Der Europa-
Park Rust der mittelständischen Unternehmerfamilie
Mack steht unter anderem in direkter Konkurrenz mit dem
Freilichtmuseum Ecomusée in Ungersheim im Elsass.
Der französische Konkurrent erhielt im Gegensatz zum
Europa-Park eine Startspritze von 30 Millionen DM.
Euro-Disney in Paris erhielt vom französischen Staat so-
gar 500 Millionen DM. Auch beim ebenfalls in Ungers-
heim geplanten Bioscope-Freizeitpark beteiligt sich die
französische Regierung mit 120 Millionen DM. Zusätz-
lich übernimmt Paris eine Beteiligung von 49 Prozent und
damit auch 49 Prozent der Anlaufverluste. Nach der An-
laufphase soll die Beteiligung an die Betreibergesellschaft
Parc Asterix abgetreten werden.
Unser deutscher Mittelstand geht bei Investitionsvor-
haben auf Bittstellertour bei den Banken und die franzö-
sische Konkurrenz wird mit Subventionen hochgepäp-
pelt.
Unser Mittelstand will keine Subventionen, aber er
möchte Chancengleichheit im europäischen Wettbewerb.
Ich frage Herrn Wirtschaftsminister Müller: Wo bleibt die
Initiative zur Beseitigung dieser eklatanten Wettbewerbs-
nachteile für unsere mittelständischen Unternehmen?
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Fragen über Fra-
gen, aber es gibt leider keine Antworten.
Genau in 54 Tagen, am 1. Januar 2002, erhalten
Deutschland und elf weitere Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union eine einheitliche Währung: den Euro. Dies
ist ein historischer Augenblick. Dieses Datum stellt ge-
rade für die europäische Tourismusbranche eine große
Chance dar. Denn von Görlitz bis zur Algarve und von
Sizilien bis nach Helsinki sorgt der Euro ab dem 1. Januar
2002 für einzigartige Preistransparenz. Mein Vorwurf an
die rot-grüne Bundesregierung lautet: Durch wirtschafts-
politische Fehlentscheidungen und Untätigkeit beim Ab-
bau von Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU be-
trügen Sie Deutschland um seine Chance auf neue
Arbeitsplätze.
Selbst das von uns initiierte Jahr des Tourismus in
Deutschland haben Sie leider ungenutzt verstreichen las-
sen.
Meine Forderung an die Bundesregierung lautet: Sorgen
Sie endlich für fairen Wettbewerb in Europa! Sorgen Sie
endlich für Chancengleichheit in Europa! Sorgen Sie end-
lich für die Interessen des deutschen Mittelstandes!
Herr Kollege
Brähmig, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Klaus Brähmig
19385
Herr Kollege, würden Sie
mir bitte einmal erklären, wie Sie denn auf die Idee kom-
men, dass die Bundesregierung im Bereich des Tourismus
im Bremserhäuschen sitzt? Ich möchte Sie nur darauf
hinweisen, dass Sie in Ihrer Regierungszeit die Zahlungen
an die DZT, die in Millionenhöhe erfolgen, gnadenlos he-
rabstufen wollten. Darf ich Sie darauf hinweisen, dass wir
es trotz der von Ihnen übernommenen Staatsverschuldung
geschafft haben, die Zahlungen an die DZT Jahr für Jahr zu
erhöhen und dass wir heute bei 45 Millionen DM liegen?
Sie haben eben von wirtschaftspolitischen Fehlent-
scheidungen gesprochen. Ich wäre Ihnen dankbar gewe-
sen, wenn Sie heute bei der Mittelstandsdebatte anwesend
gewesen wären. Dann hätten Sie erfahren, was in den letz-
ten drei Jahren alles gemacht wurde. Ich möchte Ihnen
gern ein Beispiel geben, zu dem Sie Stellung beziehen
sollten.
Frau Kollegin,
Sie tun etwas, was Sie bei einer Zwischenfrage nicht ma-
chen dürfen, nämlich eine Rede halten. Sie haben sich zu
einer Zwischenfrage gemeldet, die in der Regel aus einer
einzigen Frage besteht.
Würden Sie mir bitte er-
klären
Nein, Frau Kol-
legin, Sie dürfen nicht weiter fragen. Sie müssen stehen
bleiben, während Sie jetzt Ihre Antwort bekommen.
Zu dem Vorwurf, ich sei
bei der Mittelstandsdebatte nicht dabei gewesen: Ich habe
sie mir im Fernsehen in meinem Büro angesehen. Ich
denke, meine Kollegen haben mich bei der Diskussion gut
und seriös vertreten. Sie haben den Finger in die offene
Wunde gelegt und die Defizite aufgezeigt. Ich habe ange-
sprochen, was der Wirtschaftsstandort Deutschland drin-
gend braucht.
Frau Kollegin Roth, ich habe einen längeren Brief an
Herrn Staatssekretär Mosdorf zu dem Thema DZT ge-
schrieben. Ich hoffe, dies mildert Ihre Einstellung zu der
Problematik der Förderung. Das ist eine Schallplatte, die
Sie seit dem Dezember 1998 auflegen. Wenn Sie es wün-
schen, kann ich dies gern noch einmal darstellen. Sie wis-
sen genau wie ich, dass wir uns in der Bundesregie-
rung 1996 dafür eingesetzt haben, dass die DZT
fortbesteht. Wir haben das damals mit Herrn Dr. Kaub
und mit seiner Nachfolgerin, der Geschäftsführerin Frau
Schörcher, vernünftig geregelt.
Es hat Überlegungen gegeben, die Mittel des Bundes
für die Deutsche Zentrale für Tourismus zu reduzieren.
Allerdings müssen Sie wissen, dass der damalige Verwal-
tungschef der DZT, Herr Klein, bei uns im Ausschuss zu
Protokoll gegeben hat, er brauche kein Geld vom Steuer-
zahler, sondern er bringe 50 Millionen DM aus der Porto-
kasse der Wirtschaft mit.
Natürlich war der damalige Wirtschaftsminister, Herr
Rexrodt, aber auch Finanzminister, Herr Waigel, darüber
nicht böse. Herr Waigel hat schon damals dafür Sorge ge-
tragen, dass die Staatsfinanzen konsolidiert werden.
Das ist keine Erfindung der Regierung Schröder/Fischer.
Nicht erst seit dem Oktober 1998 wird versucht, die
Staatsfinanzen zu konsolidieren, sondern dies war eine
klare Option der Regierung von Helmut Kohl.
Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Sie können dies
bei jeder Gelegenheit in die öffentliche Diskussion brin-
gen. Ich bin gern bereit, noch einmal einen detaillierten
Brief an Herrn Wirtschaftsminister Müller, an Frau Kol-
legin Irber oder Herrn Mosdorf zu schreiben, wenn dies
gewünscht wird. Allerdings habe ich mich mit Herrn
Staatssekretär Mosdorf insofern geeinigt, als wir das
Thema nach einer gründlichen Klärung im beiderseitigen
Interesse bei dem jetzigen Sachstand belassen. Ich hoffe,
dass Sie sich an diese Abmachung halten. Wenn Sie das
nicht wollen, kann ich mich darauf einstellen.
Das Wort hat
jetzt der Herr Staatssekretär Mosdorf.
S
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedaure sehr,
Herr Brähmig, dass Sie sich zu Beginn Ihrer Rede darauf
konzentriert haben, bei einem so wichtigen Thema Partei-
polemik zu betreiben.
Ich muss sagen: Sie müssen sich einmal entscheiden,
ob Sie mehr oder weniger Staat wollen. Am Anfang haben
Sie uns vorgeworfen, der Staat würde zu sehr eingreifen.
Nachher haben Sie pausenlos mehr Eingriffe vom Staat
gefordert. Was wollen Sie denn nun? Sie müssen sich
schon entscheiden. Es geht nur eines von beiden.
Es ist wichtig, dass wir uns mit dem Thema Tourismus
seriös beschäftigen. Seriös heißt, dass wir nicht nur die
Große Anfrage der CDU/CSU gewissenhaft beantworten,
Herr Brähmig. Sie haben sich schließlich nachhaltig auf
die Fakten gestützt, die wir Ihnen als Antwort gegeben ha-
ben. Vielmehr müssen wir uns in der jetzigen Situation
mit Sonderfaktoren beschäftigen. Es ist klar, dass in der
Zeit nach dem 11. September weniger interessant ist, wie
viele Mitarbeiter Frankreich oder Italien in ihrer Touris-
musbehörde beschäftigen. Von größerem Interesse ist,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 200119386
wie die weltweiten Auswirkungen der Ereignisse vom
11. September aussehen werden. Dazu haben Sie wenig
gesagt.
Das mache ich auch. Warten Sie doch einmal ab! Ich
merke, wie gespannt Sie darauf warten, endlich etwas
Neues zu hören, nachdem Sie von Ihrem Kollegen nichts
Neues erfahren haben. Nach der Rede von Herrn Brähmig
kann ich Ihre Ungeduld verstehen.
Der 11. September bedeutete für die gesamte Dienst-
leistungswirtschaft, insbesondere für die Tourismus- und
Luftverkehrswirtschaft, einen erheblichen Einschnitt. Die
jetzt vorliegenden Daten belegen, dass das Aufkommen
im Luftverkehr deutlich zurückgegangen ist. So ist bei-
spielsweise das Flugverkehrsaufkommen in Europa seit
dem 11. September um 18,9 Prozent zurückgegangen.
Das hat natürlich auch etwas mit der Entwicklung im Tou-
rismus zu tun. Viele touristische Ziele sind unmittelbar
von den Folgen der Anschläge vom 11. September be-
troffen. Viele Hotels stehen leer und müssen um ihr wirt-
schaftliches Überleben kämpfen.
Eines muss man aber klar sagen: Die ersten Zahlen, die
nach dem 11. September veröffentlicht wurden und die
uns jetzt vorliegen, signalisieren, dass jetzt sehr viel mehr
Deutsche im Inland Urlaub machen. Das wollen wir doch
eigentlich ohne jemanden davon abhalten zu wollen,
drei- oder viermal im Jahr nach Mallorca zu fliegen; das
ist die private Entscheidung jedes Einzelnen : dass mehr
Deutsche im Schwarzwald, in der schönen Gegend rund
um den Bodensee, an der Ostsee oder im Bayerischen
Wald Urlaub machen. Warum sollen die Deutschen das
nicht tun? Die ersten Zahlen das ist ganz wichtig sig-
nalisieren einen positiven Trend beim Inlandtourismus.
Sie wissen, dass diese Bundesregierung in den letzten
drei Jahren sehr viel für den Tourismus getan hat. Das hat
sich übrigens in der Tourismusbranche auch herumge-
sprochen. Sie ist für uns ein wichtiger Partner. Diese
Branche erkennt an, dass wir trotz der erheblichen Kon-
solidierungsanstrengungen, die wir unternehmen müssen,
weil uns ansonsten die Staatsverschuldung schier zu er-
drosseln droht, sehr viel für die Förderung des Touris-
mus getan haben.
Die Zahlen sind durchaus positiv. Mit 19 Millionen
Ankünften von Touristen aus dem Ausland lag Deutsch-
land weltweit auf Rang zehn der beliebtesten Reiseländer.
Unter den EU-Mitgliedstaaten belegt es Platz 5, wobei
man nicht vergessen darf, dass es in Europa sehr wichtige
und interessante Reiseländer wie Spanien, Frankreich und
Italien gibt, die sehr hohe Touristenzahlen aufweisen. Der
Zuwachs von 10,5 Prozent im Jahr 2001 bezogen auf die
internationale Reisetätigkeit lag deutlich über dem von
der Welttourismusorganisation ermittelten Durchschnitts-
wert von 7,4 Prozent. Trotz dieser hohen Vorgabe aus dem
vergangenen Jahr, die hauptsächlich auf die EXPO
zurückzuführen ist, gab es bis August dieses Jahres einen
Zuwachs von 1 Prozent. Ich finde, das ist ein positiver
Grundtrend, der gerade unserer heimischen Wirtschaft
sehr hilft. Das wird auch bestätigt. Die touristischen Re-
gionen merken, dass sich viele für Deutschland interes-
sieren.
Wir haben die Absicht, dies auszubauen. Das ist der
Grund, Herr Brähmig, warum wir seit unserem Regie-
rungsantritt die DZT gestärkt haben. Deshalb sollten Sie
nicht von Einigung mit mir sprechen, wenn es um die Sa-
che geht; denn die DZT bekam das ist völlig unstrittig
1997 Zuwendungen in Höhe von 35 Millionen DM.
Das ist Fakt. Theo Waigel hat damals angekündigt dafür
kann Herr Brähmig nichts , dass die Höhe der Zuwen-
dungen auf 20 Millionen gesenkt werden müsste.
Dafür könnt ihr Herrn Brähmig keine Schuld geben. Er
hat doch auf Theo Waigel gar keinen Einfluss gehabt.
Wenn man keinen Einfluss auf die Politik hat, dann darf
man sich auch nicht wundern.
Herr Staatsse-
kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord-
neten Feibel?
S
Nein, ich
möchte gerade die Ungeduld des Abgeordneten mit neuen
Fakten befriedigen. Deshalb möchte ich fortfahren.
Wir haben die Zuwendungen an die DZT um über
20 Prozent erhöht. Im nächsten Jahr werden 44 Milli-
onen DM an die DZT fließen.
Das ist eine Riesenleistung, wenn man bedenkt, dass wir
gleichzeitig einen Haushalt mit einer enormen Staatsver-
schuldung sanieren. Das wird auch fortgesetzt werden,
weil wir der Auffassung sind, dass die enormen Potenziale
der Tourismusbranche international stärker vermarktet
werden müssen. Das werden wir weiterhin engagiert tun.
Die DZT ist für uns eine wichtige Agentur. Die Probleme,
die die DZT während Ihrer Regierungszeit hatte, sind
Gott sei Dank überwunden. Ich bin froh darüber; denn
wir haben mit der DZT einen Partner in der wichtigen
Tourismusbranche, den wir dringend brauchen, gerade
wenn wir viele unserer Freunde aus Amerika und Asien
für Deutschland interessieren wollen.
Im Bereich des Welttourismus ist auch in Zukunft mit
guten Wachstumsraten zu rechnen; davon bin ich über-
zeugt. Wir werden alles tun müssen, um unseren Anteil an
diesem Welttourismus weiter zu erhöhen. Die Bundes-
regierung wird deshalb ihre Konzeption weiter verfolgen:
Stärkung des Mittelstands, Fortführung der Steuerreform
mit den entsprechenden Wirkungen, weitere Entlastung
des Staates mit der gleichzeitigen Chance, auch investiv
etwas zu tun, und Fortsetzung der Investitionsförderung
mittels Gemeinschaftsaufgabe. Das betrifft gerade die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
19387
Tourismusbranche. Sie wissen, dass wir auf diesem Feld
sehr viel investiert haben. Es handelt sich um einen drei-
stelligen Millionenbetrag, der der Tourismusbranche zu-
gute kommt. Auch für die neuen Bundesländer spielen
diese Maßnahmen eine große Rolle; ich denke speziell an
die Ziel-1-Gebiete. Unsere Kollegen aus den neuen Bun-
desländern wissen das; auch Sie, Herr Brähmig, wissen
das. Wir machen eine Menge. Sie sollten unsere Aktivitä-
ten nachhaltig unterstützen. Dann haben wir eine gute
Chance voranzukommen.
Das Jahr des Tourismus hat inzwischen positive Er-
gebnisse. Wir haben das Projekt gemeinsam auf die
Schiene gesetzt und daran gearbeitet; das war nicht ein-
fach. Ich möchte mich ausdrücklich bei allen Mitgliedern
des Hauses herzlich dafür bedanken, dass sie das Jahr des
Tourismus nachhaltig unterstützt haben. Es handelt sich
um ein ganz wichtiges Projekt.
Aus der Idee ist eine starke Gemeinschaftsaktion ge-
worden. Insbesondere durch das Sponsoring der Bahn,
der Post und der Reisebranche wird es ein erfolgreiches
Jahr werden. Wenn wir nächstes Jahr das Jahr des Öko-
tourismus ausrufen auch als UNO-Thema, das uns
ebenso in Bezug auf Nachhaltigkeit berührt; es handelt
sich um eine besondere Qualität von Tourismus, auf die
gerade Gäste in Deutschland Wert legen , dann ist das
eine Verlängerung der Aktivitäten, die wir eingeleitet ha-
ben, um den Tourismusstandort Deutschland zu stärken.
Wir glauben, dass wir exzellente Angebote haben, und
zwar sowohl in den neuen als auch in den alten Bundes-
ländern. Wir sollten alles tun, um diese Angebote interna-
tional zu vermarkten; nach dem 11. September zwar in ei-
nem schwierigeren Umfeld, aber in einem Umfeld, in dem
die Menschen gerade auf Nachhaltigkeit und Qualität
Wert legen.
Vielen Dank.
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Feibel das Wort.
Herr Staatssekretär
Mosdorf, Sie haben leider keine Zwischenfrage zugelas-
sen. Deshalb bin ich dafür dankbar, meine Meinung zu
Ihren Auslassungen auf diese Weise kundtun zu können.
Die Sondersituation nach dem 11. September es gibt
wirklich eine Sondersituation hätte es angebracht er-
scheinen lassen, dass Sie heute auf diese Problematik ein-
gegangen wären.
Das haben Sie leider nicht gemacht. Die Sondersituation
für die Reisebranche in Deutschland bedeutet, dass so-
wohl bei den Reiseveranstaltern als auch bei den Reise-
mittlern derzeit ein Einbruch von 25 bis 30 Prozent fest-
zustellen ist. Das sind gigantische Zahlen.
Vor allen Dingen gilt das, wenn man nicht wie Sie
und Ihr Minister immer nur die Umsatzzahlen, sondern
auch die Renditezahlen dieser Branche betrachtet. Die
Renditerate liegt seit Jahren bei 0,6 bis 0,8 Prozent.
Ich kenne kaum eine andere Branche, die eine so geringe
Umsatznettorendite hat. Man muss sich vorstellen, was es
vor dem Hintergrund einer solch geringen Rendite bedeu-
tet, wenn der Umsatz um 25 bis 30 Prozent einbricht.
Die betroffenen mittelständischen Unternehmen er-
warten keine Subventionen, wie das hier ständig in Zwi-
schenrufen behauptet wird. Die Bundesregierung muss
sich aber überlegen, in welcher Weise sie diesem Gewerbe
behilflich sein kann. Die Reisebranche will keine Bürg-
schaften oder Hilfen in Höhe von 100 Millionen DM, wie
das bei der Bauwirtschaft geschehen ist, wo der Bundes-
kanzler als Retter erschienen ist. Das muss auf diesem
Feld nicht sein.
Aber irgendwo hat auch die Tourismusbranche in
Deutschland eine gewisse Gleichbehandlung einzufor-
dern. Eine solche Gleichbehandlung haben Sie heute lei-
der nicht in Aussicht gestellt. Deshalb würde ich Sie da-
rum bitten: Vielleicht nutzen Sie die Gelegenheit der
Erwiderung auf meine Intervention dazu, einmal darzule-
gen, was die Bundesregierung nun wirklich zu tun ge-
denkt, um in dieser außerordentlich schwierigen Situation
insbesondere den mittelständischen, aber auch den großen
Unternehmen das Überleben zu sichern. Es geht in dieser
Branche auch um etliche tausend Arbeitsplätze und es
geht natürlich auch darum, dass die ganze Hotellerie und
Gastronomie in Europa in Mitleidenschaft gezogen wird.
Sicherlich ist es erfreulich, dass in Deutschland die Um-
sätze steigen, und es ist sicherlich auch erfreulich, dass bei
den erdgebundenen Transportmitteln Umsatzzuwächse zu
verzeichnen sind. Aber insgesamt haben Sie das eigentli-
che Problem, nämlich das Problem der Zeit nach dem
11. September, nicht angesprochen und Sie haben keine
Perspektiven eröffnet. Darum möchte ich Sie jetzt sehr
herzlich bitten.
S
Verehrter Herr
Kollege Feibel, Sie sind erst seit Ende 1999 in diesem Ho-
hen Hause.
Sie wissen doch noch gar nicht, was ich sagen will.
Seien Sie nicht so aufgeregt, seien Sie ganz ruhig! Ich
freue mich sehr darüber, dass wir mit Ihrem Sachverstand
im Tourismusausschuss eine gute Ergänzung bekommen
haben. Sie kommen aus der Branche und kennen sich da
gut aus.
Das ändert nichts daran, dass wir heute eine Große An-
frage Ihrer Fraktion zu beantworten hatten, in der es um
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
19388
viele Detailfragen geht, aber nicht um die eigentlich wich-
tige Frage der Situation nach dem 11. September. Wir
müssen uns in der Regierung damit pausenlos beschäfti-
gen. In den neun Minuten meiner Redezeit konnte ich
nicht alle Details darlegen. Das werden Sie verstehen. Ich
bin aber gern bereit, Ihnen das noch einmal im Detail
darzulegen.
Sie haben jetzt vor allem die Reiseveranstalter ange-
sprochen, die in der Tat am meisten davon betroffen sind.
Wir wissen, dass es in der heimischen Tourismuswirt-
schaft eher positive Signale gibt. Da bemerkt man auch
leichte Gesteinsverschiebungen, indem manche sagen:
Bevor ich dahin oder dorthin fliege, mache ich lieber Ur-
laub zu Hause. Das ist ein positiver Trend, den wir ei-
gentlich erreichen wollten.
Bei den Reiseveranstaltern und den Reisemittlern spielt
diese Frage der Buchung von Fernreisen, insbesondere
von Flugreisen, aber in der Tat eine ganz große Rolle. Das
ist keine Frage.
Deshalb noch einmal meine Bitte: Lassen Sie uns die
Branche insgesamt betrachten. Die Branche insgesamt
umfasst auch unsere Hotellerie und Gastronomie und die-
jenigen, die in der heimischen Tourismusbranche tätig
sind und die jetzt positive Zahlen verspüren. Auch dies re-
gistrieren wir. Wir sind dabei, uns an vielen Fronten mit
einer Reihe von schwierigen Fragen, auch wirtschaftlich
schwierigen Fragen der unmittelbaren Auswirkungen des
11. September zu befassen.
Gegenstand der heutigen Debatte ist jedoch die Beant-
wortung der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU,
auf die wir sehr faktenreich, zum Beispiel auch mit einer
ganzen Reihe von Umfragen, die in europäischen Nach-
barstaaten durchgeführt worden sind, antworten. Was
Herr Brähmig und Sie angesprochen haben, sind alte The-
men, zum Beispiel die Steuerharmonisierung. Herr
Brähmig, schütteln Sie nicht den Kopf! Sie haben uns
keine harmonisierten Steuern hinterlassen.
Wir und auch der Bundesfinanzminister arbeiten an
vielen Fronten und in vielen Bereichen an der Harmoni-
sierung. Da brauchen wir Ihre Unterstützung, aber nicht
Ihre Polemik.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit
einem Wort zum 11. September beginnen. Die FDP-Frak-
tion hat gestern einen Antrag im Deutschen Bundestag
eingebracht, in dem ein ganzes Bündel von Maßnahmen
zur Abfederung der Folgen des 11. September vorge-
schlagen wird. In den fünf Minuten Redezeit habe ich jetzt
keine Möglichkeit, das alles hier darzustellen. Auf einen
einzigen Punkte möchte ich aber schon eingehen.
Sicherheit ist eine staatliche Hoheitsaufgabe. Es kann
nicht sein, dass wir auf der einen Seite eine höhere Si-
cherheit vorschreiben, höhere Standards verlangen und
dass wir auf der anderen Seite das alles auf die Reise-
büros, Veranstalter und Kunden überwälzen. Der Staat hat
die Aufgabe, hier einzutreten.
Ich möchte jetzt auf das Thema der heutigen Ausspra-
che kommen. Verehrter Herr Staatssekretär Mosdorf, Sie
haben am Thema vorbei argumentiert. Das Thema heißt:
Rahmenbedingungen für die Tourismuswirtschaft in der
Europäischen Union. Worum geht es denn? Zum 1. Ja-
nuar 2002 wird der Euro als Bargeld eingeführt. Das wird
die Landschaft im Tourismus, den Wettbewerb im Touris-
mus selbstverständlich verändern. Dem Kunden, auch
dem Privatkunden, ist es dann ziemlich egal, ob er in Kehl
oder in Straßburg, in Maastricht oder in Aachen, in Lin-
dau oder in Bregenz übernachtet. Das wird Folgen für die
stark mittelständisch geprägte Tourismuswirtschaft ha-
ben. Der Hinweis von vorhin war schon richtig. Ich habe
die Mittelstandsdiskussion, die heute stattfand, hier im
Plenarsaal verfolgt. Wir können an das, was da gesagt
wurde, unmittelbar anknüpfen: Es geht nicht um irgend-
welche tollen Programme oder um das Leeren des Sub-
ventionstopfes, sondern darum, dass unsere mittelständi-
sche Wirtschaft Wettbewerbsbedingungen vorfindet, die
einen fairen Wettbewerb mit unseren Nachbarländern
ermöglichen. Das ist die Kernfrage.
Ich bin überzeugt, dass unser Mittelstand in diesen
Wettbewerb eintreten wird. Er ist leistungsfähig und er
verfügt über eine hohe Qualität. Jetzt ist die Politik gefor-
dert, auf das Datum 1. Januar 2002 hin bestimmte Dinge
zu verändern.
Erstens. Wenn in unseren Nachbarländern, zum Bei-
spiel in Frankreich Kollege Brähmig hat es erwähnt ,
Freizeitparks mit Subventionen in Millionenhöhe be-
glückt werden,
was bei uns zum Glück nicht der Fall ist, dann hat unsere
Bundesregierung die Aufgabe, durch ein entsprechendes
Eintreten bei der EU dafür zu sorgen, dass das nicht län-
ger der Fall ist.
Zweitens. In den Ländern der Europäischen Union gibt
es unterschiedliche Mehrwertsteuersätze. Das war zwar
in der Vergangenheit hinzunehmen, ist es aber nicht mehr
nach der Euroeinführung. Deshalb muss für die Hotelle-
rie jetzt ein reduzierter Mehrwertsteuersatz eingeführt
werden.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mosdorf?
Eine Frage des Abgeord-
neten Mosdorf gestatte ich immer gern.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
19389
Lieber Herr Kollege
Burgbacher, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
das Bundesfinanzministerium und damit unsere Bundes-
regierung bei der EU-Kommission die Überprüfung die-
ser Subventionen veranlasst hat?
Herr Abgeordneter
Mosdorf, wenn das so ist, dann begrüße ich das aus-
drücklich.
Ich nehme das sehr gern zur Kenntnis.
Wir diskutieren hier allerdings über Rahmenbedingun-
gen. Ich bitte Sie wirklich, dieses Anliegen zu verfolgen;
denn die jetzige Situation ist für unsere privaten Unter-
nehmer ein riesiges Problem.
Ich komme auf einen weiteren Punkt zu sprechen. In
allen 15 Mitgliedsländern der Europäischen Union wird
theoretisch das Trinkgeld besteuert. Faktisch findet diese
Besteuerung aber in 10 von 15 EU-Ländern überhaupt
nicht statt. Ich finde die entsprechende Antwort der Bun-
desregierung interessant; denn auf meine Anfrage vor
zwei Jahren hat die Bundesregierung noch etwas ganz an-
deres gesagt.
Was bedeutet die unterschiedliche Steuerpraxis für die
heimische Wirtschaft? Bei uns bekommt ein Kellner ei-
nen Steuerbescheid ich habe das neulich in Berlin wie-
der erfahren , der ihn zu einer Nachzahlung in Höhe von
7 000 DM verpflichtet. Ein anderes Beispiel: Ein Hotel
mit Restaurantbetrieb am Rhein hat einen Bescheid über
eine Nachzahlung in Höhe von 26 000 DM Sozialbeiträge
plus 11 000 DM Säumniszuschlag bekommen, beruhend
auf Schätzungen über die Höhe von Trinkgeld. In den an-
deren Ländern lacht man darüber, weil dergleichen bei ih-
nen überhaupt nicht kontrolliert wird.
Das geht nicht. Deshalb sage ich: Die Trinkgeldbesteue-
rung muss weg, und zwar lieber heute als morgen.
Den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU muss
ich sagen: Ich bitte Sie wirklich, endlich über Ihren Schat-
ten zu springen und dem FDP-Antrag zuzustimmen.
Es gibt ein weiteres Problem. Es gibt in der Euro-
päischen Union sehr viele unterschiedliche Auflagen,
Standards und Normen, unter denen gerade kleine und
mittlere Betriebe sehr leiden. Fragen Sie einmal in einem
deutschen Hotel oder in einem Restaurant am Rhein, was
kontrolliert wird, und dann tun Sie dasselbe im angren-
zenden Ausland. Wir müssen ganz einfach zur Kenntnis
nehmen, dass es für die Betriebe um unterschiedliche
Kosten geht. Dieses Problem muss untersucht und Ände-
rungen müssen vorgenommen werden.
Selbstverständlich muss auch noch anderes getan wer-
den. Herr Staatssekretär Mosdorf, Sie haben darauf hin-
gewiesen. Wir müssen die Strukturen beim Deutschland-
tourismus verändern. Wir müssen auch mehr Geld für die
Deutsche Zentrale für Tourismus aufbringen.
Noch eines sei zu diesem Thema gesagt: Ich möchte
nicht, dass ein Einstieg in eine europäische Tourismus-
politik stattfindet. Ich bin sehr wohl dafür, einheitliche
Daten zu erheben und aussagefähige Statistiken zu erstel-
len. Ich wende mich aber dagegen, etwa Kompetenzen an
Brüssel abzugeben.
Die entsprechenden Aufgaben können wir sehr gut alleine
und im internationalen Wettbewerb bewältigen.
Ich komme zum Schluss. Die FDP hat im Zusammen-
hang mit der Beratung der Beantwortung der Großen An-
frage einen Entschließungsantrag vorgelegt. Er beinhal-
tet, Herr Staatssekretär, eine ganz konkrete Auflistung
von Dingen, die jetzt zu tun sind und auch in der Debatte
angesprochen wurden, um unsere kleinen und mittelstän-
dischen Unternehmen fit für den Euro zu machen. Ich
bitte Sie sehr herzlich, das aufzugreifen, und Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen, diesem Antrag zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
Die Kollegin
Sylvia Voß hat gebeten, Ihre Rede zu Protokoll geben zu
können.1) Sind Sie damit einverstanden? Dann verfah-
ren wir so.
Jetzt hat das Wort die Abgeordnete Rosel Neuhäuser.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon oft gesagt wor-
den, dass wir heute über die Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage Rahmenbedingungen für die Tou-
rismuswirtschaft innerhalb der Europäischen Union und
einen Entschließungsantrag der FDP diskutieren. Ich kann
vorneweg sagen, dass wir die Antwort zur Kenntnis neh-
men, den Antrag der FDP aber leider aus verschiedenen
Gründen ablehnen werden.
Beim Durchlesen der Großen Anfrage haben wir oft
darüber nachgedacht, ob wir die Antworten kommen-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 200119390
1) Anlage 2
tieren sollen oder ob wir nicht lieber überlegen sollten,
inwieweit wir die Rahmenbedingungen für die Tou-
rismuswirtschaft innerhalb der EU verbessern und die
Tourismuswirtschaft unterstützen können. Wir sind uns
sicherlich darüber einig, dass, obwohl sich die Tou-
rismuswirtschaft in den letzten Jahren als sehr krisenfest
erwiesen hat, nach dem 11. September nichts mehr ist,
wie es einmal war, denn die Tourismusbranche wurde von
diesen Ereignissen besonders betroffen. Viele Desti-
nationen auf allen fünf Kontinenten verzeichnen riesige
Einbrüche. Einige Zahlen hat Herr Mosdorf hier darge-
stellt.
Fluggesellschaften, Reiseveranstalter, die Hotellerie
und weitere nachfolgende bzw. angegliederte Dienstleis-
tungsunternehmen sehen sich einer schwierigen Situation
gegenüber. Diese Situation macht es notwendig, dass die
für den Tourismus zuständigen nationalen und europä-
ischen Institutionen einen wirksamen Beitrag zur Ent-
wicklung des Tourismus leisten. Das heißt, dass sich die
europäischen Länder möglichst an gemeinsamen Zielen
bei der Entwicklung des Tourismus orientieren. Das be-
deutet aber auch, dass man sich darüber klar werden muss,
wie die Akteure aller Ebenen des europäischen Tourismus
die nachhaltige Entwicklung der Branche durch Verbes-
serung der föderalen Zusammenarbeit unterstützen kön-
nen. Obwohl die wirtschaftlichen und sozialen Auswir-
kungen des Tourismus, die Chancen, die er bietet, und
seine zunehmend grenzüberschreitenden Verflechtungen
analysiert wurden, bleibt sein Potenzial oft noch unge-
nutzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wussten Sie eigent-
lich, dass innerhalb der Europäischen Union die techni-
schen Standards Herr Burgbacher hat darauf hinge-
wiesen und nicht nur diese so weit auseinander driften,
dass beispielsweise im grenzüberschreitenden Schienen-
verkehr zwischendurch die Loks gewechselt werden müs-
sen, weil die nationalen Eisenbahnsysteme untereinander
nicht kompatibel sind? Wissen Sie auch, wie oft ich um-
steigen muss, um von meinem Heimatort Seebach oder
aus Eisenach nach Bordeaux zu kommen, um vielleicht
einmal einen guten Rotwein zu trinken? Das gilt auch für
andere Richtungen, zum Beispiel für die Verbindung nach
Oslo. Wussten Sie, dass die Qualifikationsmerkmale sehr
unterschiedlich und die sozialpolitischen Bedingungen
sowie Gesundheits- und Arbeitsschutzbestimmungen für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überall anders
sind?
Genau diese Details stehen aber nicht im Vordergrund,
wenn man Europa nur als Reiseland sieht, an dessen in-
neren Grenzen man keinen Pass mehr zeigen muss und in
dem es ein einheitliches Zahlungsmittel gibt. Offensicht-
lich geht es aber in der europäischen Politik um weit mehr.
Wohin soll also die Reise gehen? Wenn man über Rah-
menbedingungen und über Wettbewerbsbedingungen im
Euroland spricht, dann können wir nicht nur an betriebs-
wirtschaftliche Probleme wie höchste Qualität der Pro-
dukte, gleiche Marktzugangsbedingungen für alle Unter-
nehmen oder umweltfreundliche Produkte denken. Es
geht nämlich in diesem Bereich um mehr. Es muss auch
um den Wettbewerb um die geringste Arbeitslosigkeit und
um hohe soziale Standards gehen. Nur in dieser Kopplung
sehe ich eine Chance, in den unterschiedlich entwickelten
Regionen regionale Wirtschaftskreisläufe aufzubauen,
die dazu führen, dass die Menschen sozial abgesichert
werden und dadurch natürlich auch die Kaufkraft gestärkt
wird.
Wenn wir über die Rahmenbedingungen der Touris-
muswirtschaft in einem gemeinsamen Europa reden, dann
ist es sicherlich auch notwendig, über eine Harmonisie-
rung der Steuern nachzudenken. Entsprechend einer Ini-
tiative des Europaparlaments war es möglich, unter ande-
rem arbeitsintensive Leistungen mit einem ermäßigten
Mehrwertsteuersatz zu belegen. Tatsächlich entschied
sich ein Großteil der europäischen Länder darunter al-
lerdings nicht Deutschland , diese Möglichkeit mit ihren
eventuellen positiven Auswirkungen auf den Arbeits-
markt wenigstens zu testen. Selbstverständlich könnten
wir einer Erhöhung des Freibetrags für freiwillig gege-
bene Trinkgelder zustimmen.
Es müssen aber durchgängige Regelungen für alle be-
troffenen Branchen getroffen werden. Das Gastgewerbe
darf nicht bevorteilt werden. Es gibt auch noch andere
Branchen in diesem Dienstleistungsgewerbe.
Wir plädieren für eine Anhebung der bisherigen Nied-
riglöhne, die gerade in diesem Bereich geläufig sind. Wir
sind für gesicherte Einkünfte der Beschäftigten statt steu-
erfreier Trinkgeldgeschenke.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hinsken.
Werte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als die CDU/CSU-
Fraktion diese Anfrage eingereicht hat, wussten wir nicht,
was auf uns zukommt. Damals war die Welt noch in Ord-
nung. Seit dem 11. September hat sie sich verändert. Ge-
rade im Tourismusbereich müssen wir feststellen, dass
dieser 11. September ein besonders schwarzer Tag war. Er
wirkt sich katastrophal auf das Reisegeschehen und auf
alles, was dazugehört, aus. Wir können und müssen täg-
lich feststellen, dass immer neue Hiobsbotschaften über
uns hereinbrechen.
So hörten wir gestern, dass wieder eine der ältesten eu-
ropäischen Fluggesellschaften, die belgische Sabena,
Pleite gemacht hat.
Wir nehmen zur Kenntnis, dass allein in den ersten sechs
Wochen seit dem 11. September die Buchungen in den
Reisebüros um 75 000 zurückgegangen sind; das
entspricht 15 Prozent. Das sind fundierte Zahlen, die
von Start Amadeus, einer Buchungsgesellschaft, gelie-
fert wurden. Wir müssen feststellen, dass gerade die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Rosel Neuhäuser
19391
Deutschen ihre Ferienplanung für die Wintermonate aus-
gesetzt haben und eine kleine Pause einlegen.
Ich meine aber auch, dass ein kleiner Hoffnungs-
schimmer vorhanden ist. Wir können jetzt feststellen, dass
die Buchungen seit einigen Tag wieder anziehen. Gerade
wir Deutsche als Reiseweltmeister haben allen Anlass, al-
les zu tun, um den Mitbürgern die schönsten Tage, die
schönsten Wochen des Jahres zu verschönern und sie teil-
haben zu lassen, damit sie diese Zeit so verbringen kön-
nen, wie sie das wünschen. Deshalb sind jetzt nicht nur die
Reisewirtschaft, die Carrier und alle, die in diesem Be-
reich beschäftigt sind, sondern auch wir Politiker aufge-
fordert, die Ängste zu nehmen und vor allen Dingen den
Verunsicherungen zu begegnen.
Allerdings muss ich sagen, dass Patentrezepte für den
Umgang mit der Krise bislang noch nicht gefunden wor-
den sind. Wenn wir aber alles daran setzen, das Vertrauen
in das Reisen wieder herzustellen, dann leisten wir einen
großen Beitrag dazu, dass sich die Tourismuswirtschaft
wieder erholen und weiterentwickeln kann.
Ich möchte das aufgreifen, was Staatssekretär Mosdorf
hier gesagt hat. Er hat ohne Zweifel gerade auf dem Touris-
mussektor einige Akzente gesetzt und gute Arbeit geleistet.
Darum bedauere ich es, dass er in den nächsten Deutschen
Bundestag nicht mehr einziehen möchte. Die SPD wird
durch diesen Verlust ärmer. Das sage ich, weil ich so emp-
finde. Ich meine schon, Herr Staatssekretär Mosdorf, sa-
gen zu dürfen, dass die Bundesregierung richtig gehandelt
hat, weil sie sich bereit erklärt hat, die übernommene Haf-
tungsgarantie für die Airlines bis Ende Januar zu ver-
längern.
Es handelt sich aber um eine weitere Wettbewerbsver-
zerrung, wenn deutsche Fluggesellschaften künftig für die
Garantie ein Entgelt zahlen müssen, aber andere Länder
wie Großbritannien oder Portugal den Unternehmen eine
kostenlose Haftungsübernahme anbieten. Renommierte
Verkehrspolitiker wie der Vorsitzende des Verkehrsaus-
schusses des Deutschen Bundestages, Herr Kollege
Oswald, sind hier anwesend. Ich bitte deshalb darum, dass
man gerade vonseiten der Verkehrspolitik Einfluss nimmt,
dass in diesem Bereich die Wettbewerbsverzerrungen in-
nerhalb Europas nicht weiter verschärft werden, sondern
dass man endlich harmonisiert, was insbesondere die deut-
sche Tourismuswirtschaft dringend braucht.
Herr Staatssekretär Mosdorf hat bezüglich des Touris-
mus von der Erdgebundenheit gesprochen; Klaus Brähmig
und Ernst Burgbacher haben diesen Punkt ebenfalls ange-
sprochen. Wenn wir aus der aktuellen Situation Kapital
schlagen wollen wir wissen nämlich, dass die Menschen
zwar nicht mehr so viel fliegen, aber auf den Urlaub nicht
verzichten wollen , dann müssen wir alles tun, um die vie-
len Wettbewerbsverzerrungen, die wir in der Bundesrepu-
blik Deutschland haben, endlich zu beseitigen.
Ich fordere deshalb, dass die Rahmenbedingungen ver-
bessert werden. Sonst kann sich unser Land als Reiseziel
gegenüber den Mitkonkurrenten auf der europäischen
Ebene nicht behaupten, weil die Urlauberströme an unse-
rem Land vorbeiführen.
Ich sage das deshalb, weil innerhalb Europas und auch
innerhalb der Bundesrepublik Deutschland 83 Prozent der
Urlaubsreisen und der Tagesausflüge mit dem PKW bzw.
mit dem Omnibus unternommen werden. Ich möchte dazu
anmerken, verehrte Frau Kollegin Irber, dass die Bundes-
republik Deutschland das Land ist, das innerhalb der Euro-
päischen Union, ja weltweit mit Abstand die höchsten Steu-
ern auf Benzin hat, nämlich 72 Prozent. Nehmen wir uns
ein Beispiel an Österreich. Dort liegt die Steuerbelastung
um 10 Prozentpunkte niedriger, nämlich bei 62 Prozent.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Roth?
Selbstverständlich
gerne.
Bitte.
Herr Kollege, Sie be-
schweren sich über die Wettbewerbsverzerrungen. Wür-
den Sie mir bitte einmal erklären, wie es sein kann, dass
die Bundesregierung das Rabattgesetz und die Zugabe-
verordnung abgeschafft hat, weil sie für unsere Unter-
nehmen wettbewerbsschädigend waren, dass aber die
CDU/CSU-Fraktion dagegen gestimmt hat? Sie hat in
diesem Punkt die Bundesregierung nicht unterstützt und
nicht klar gesagt, dass das Rabattgesetz und die Zugabe-
verordnung wettbewerbsschädigend waren. Sie haben der
Abschaffung nicht zugestimmt.
Verehrte Frau Kollegin
Roth, gerade im Hinblick auf die Abschaffung des Ra-
battgesetzes haben wir immer wieder gesagt, dass einige
positive Aspekte zu verzeichnen sind. Wir haben aber
auch mit Vertretern von Verbänden, beispielsweise von
Reisebüroverbänden, gesprochen, die von der Abschaf-
fung negativ betroffen sind. Solange es in der Europä-
ischen Union keine Harmonisierung auf diesem Gebiet
gibt und solange es zu weiteren Wettbewerbsverzer-
rungen kommt, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die
Union dagegen stimmt; denn wir sind nur für ganze und
nicht für halbe Sachen.
Ich habe eben gesagt, dass die steuerliche Belastung
von Benzin in Österreich viel niedriger ist als bei uns.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Ernst Hinsken
19392
Gerade bezogen auf die Ökosteuer haben Sie ja die Mög-
lichkeit, diejenigen, die mit dem Auto in Urlaub fahren
möchten, zu entlasten. 28 Pfennig sind es ab dem 1. Ja-
nuar kommenden Jahres. Das bedeutet für einen Nord-
deutschen, der Urlaub in Süddeutschland verbringen
möchte, oder für einen Süddeutschen, der Urlaub an der
Nord- oder Ostsee verbringen möchte, bei 200 Liter Sprit,
die er benötigt, eine Mehrbelastung von weit über 50 DM.
50 DM entsprechen bei uns in Bayern: einem Mittagessen
für eine vierköpfige Familie.
Das muss in dieser Debatte einmal gesagt werden.
In keinem anderen Land greift der Staat als Fiskus dem
einzelnen Bürger und dem Autofahrer tiefer in die Tasche
als bei uns.
Das ist aber noch nicht alles. Wir müssen leider feststel-
len, dass die Ökosteuer für die Hotellerie und die Gastro-
nomie weitere negative Auswirkungen hat. Es kann nicht
von der Hand gewiesen werden, dass ein mittelständi-
scher Betrieb mit 40 bis 50 Betten durch die Ökosteuer
Jahr für Jahr mit 10 000 DM belastet wird. Das Geld fällt
für ihn nicht als Manna vom Himmel, sondern er muss es
erwirtschaften. Er kann es nur erwirtschaften, indem er
die Öktosteuer umlegt. Dies führt zu einem höheren Preis.
Und aufgrund des höheren Preises sind die Leute dann
nicht mehr bereit, den Urlaub bei ihm zu verbringen. Sie
gehen dann ins Ausland, wo diese Belastungen nicht zu
tragen sind.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Irber?
Ja, gerne.
Bitte sehr.
Kollege Hinsken, ist Ihnen
bekannt, dass wir im Jahr 2000 die höchsten jemals statis-
tisch erfassten Übernachtungszahlen in Deutschland zu
verzeichnen hatten, nämlich 326 Millionen Übernachtun-
gen, und dies trotz Ökosteuer?
Sie sagen es selbst, Frau
Kollegin Irber, trotz Ökosteuer. Es wären nämlich viel
mehr gewesen, gäbe es diese Ökosteuer nicht,
weil dann Urlaub bei uns in der Bundesrepublik Deutsch-
land interessanter geworden wäre. Ich bin Ihnen für diese
Zwischenfrage, die Sie ja teilweise schon selbst beant-
wortet haben, dankbar.
Meine Damen und Herren, es ist ja nicht nur diese
Wettbewerbsverzerrung festzustellen. Es geht auch um
verschiedene andere Dinge, die uns belasten, die uns be-
wegen müssen. Ich frage Sie und frage uns alle: Erstens.
Warum ist in zwölf Ländern der Europäischen Union
das ist auch Thema unserer Anfrage die Mehrwert-
steuer im Beherbergungsbereich niedriger als bei uns?
Zweitens. Warum ist in zehn Ländern der Europäischen
Union die Mehrwertsteuer im Freizeitbereich niedriger
als bei uns?
Drittens. Warum ist in acht Ländern der Europäischen
Union der Mehrwertsteuersatz in der Gastronomie niedri-
ger als bei uns?
Das ist doch deshalb so, weil die Bundesregierung hier
nicht schaltet und weil sie das Interesse der Tourismus-
wirtschaft nicht so im Auge hat, wie es sein könnte.
Ich frage des Weiteren, verehrte Kolleginnen und Kol-
legen: Worauf führen Sie es zurück und ist das EU-kon-
form? , dass die Griechen jetzt ein Kopfgeld von 78 DM
pro Urlauber einführen?
Passen Sie auf, sonst wissen Sie nicht Bescheid, und
wenn Sie nicht Bescheid wissen, können Sie nicht mitre-
den! Nur, damit das klar ist. Durch Schreien allein wird
man nicht klug.
Sie müssen zuhören und überlegen. Sie können auch
aufstehen und sich zu einer Zwischenfrage melden. Dann
bekommen Sie auch eine Antwort von mir.
Ist es EU-konform, meine Damen und Herren, wenn,
wie ich vor vier Wochen in Erfahrung brachte, in Spanien
Senioren über 60 Jahre in Ein-, Zwei-, Drei- und Vier-
Sterne-Hotels in saisonschwachen Zeiten den Urlaub um
20 bis 30 Prozent billiger verbringen dürfen als sonst? Das
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Ernst Hinsken
19393
ist doch wettbewerbsverzerrend. Wenn bei uns ein Vor-
schlag kommt, der in diese Richtung geht, dann wird das
verneint. Bei uns heißt es immer: Das geht nicht.
Geht nicht gibts nicht. Wir müssen überlegen, was wir
tun können und was wir tun müssen, um der Tourismus-
wirtschaft auf die Beine zu helfen.
Herr Kollege, Sie ha-
ben Ihre Redezeit weit überschritten.
Verehrte Frau Präsiden-
tin, ich danke Ihnen herzlich für Ihre Nachsicht. Aber das
war notwendig, damit ich vor allen Dingen den Kollegin-
nen und Kollegen auf der linken Seite einiges an Nach-
hilfeunterricht erteilen konnte.
Unser aller Aufgabe ist es gerade jetzt vor dem Wech-
sel von der D-Mark zum Euro , alles zu tun, damit sich
die deutsche Tourismuswirtschaft in Europa und auch
weltweit behaupten kann.
Herzlichen Dank.
Nun hat der Kollege
Eckhard Ohl das Wort für die SPD-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr
Hinsken, um Sie kennen zu lernen, würde ich selbst dann
nach Bayern fahren, wenn die Ökosteuer 50 Pfennige be-
trüge, so sympathisch sind Sie mir durch Ihren Vortrag
eben geworden.
Sehr verehrte Damen und Herren der CDU/CSU-Frak-
tion, Sie stellen eine merkwürdige Große Anfrage, indem
Sie in der Einleitung bereits mit Unterstellungen und
Schlussfolgerungen arbeiten, das dazu gehörige Fakten-
wissen dann aber erst abfragen.
Deshalb ist sicherlich kein Böser, wer da Schlimmes
denkt. Trotzdem sind die Fragen zum Tourismus im um-
fassenden Sinne sehr informativ
und eine gute politische Möglichkeit, um ein positives Re-
sümee unserer Tourismuspolitik zu ziehen und auf durch-
aus vorhandene Reserven aufmerksam zu machen.
Die Welttourismusorganisation ermittelt trotz ho-
her Schwankungen in den vergangenen Jahren stets ein
über den anderen Branchen liegendes Wachstum und pro-
gnostiziert dies auch für die kommenden Jahre.
So ist weltweit die Zahl der Touristen im Jahr 2000 um
7,4 Prozent auf fast 700 Millionen gestiegen. Die von der
Europäischen Union eingesetzte High-Level-Group
schätzt anhand der aktuellen Entwicklung, dass die Zahl
der internationalen individuellen Touristenbewegungen
in Europa zwischen 1995 und 2010 um 57 Prozent zu-
nehmen werde. Das ist für 2,8 Millionen Beschäftigte in
Deutschland eine erfreuliche Prognose, die sich in den
letzten Jahren mehr als bewahrheitete.
Weil der Anteil Deutschlands im Jahre 2000 die euro-
päische Durchschnittsrate deutlich übertraf, was der Op-
position verborgen blieb, war das Jahr 2000 das Rekord-
jahr überhaupt; die Steigerungsrate war in Deutschland
um 10,5 Prozent höher als die des weltweiten Tourismus.
Dieser positive Trend aus den Vorjahren fand im Jahre
2000 erfreulicherweise auch in den neuen Bundeslän-
dern seine Fortsetzung. So erhöhten sich die Touristen-
ankünfte um 8 Prozent und die Übernachtungen um
10 Prozent, was zeigt, dass die Gäste länger als früher
bleiben, wenngleich gerade in den neuen Bundesländern
große Reserven und regionale Unterschiede zu verzeich-
nen sind, denen ich mich noch kurz zuwenden werde. Den
Anteil der rot-grünen Bundesregierung an dieser positi-
ven Entwicklung und die perspektivische Sichtweise, die
uns erwarten lässt, dass es noch besser wird, hat der
Staatssekretär soeben erläutert.
Der geringe gestalterische Spielraum, der Ihnen, meine
sehr verehrten Damen und Herren der Opposition, neben
der Beschäftigung mit sich selbst, wie täglich den Medien
zu entnehmen ist, politisch noch bleibt, sollte von Ihnen
konstruktiver und ehrlicher genutzt werden, als Sie es mit
Ihrer Großen Anfrage getan haben.
Die Welttourismusorganisation, die Europäische
Union und sämtliche nationalen Fachgremien bestätigten
zum Zeitpunkt Ihrer Anfrage eine erfolgreiche nachhal-
tige Entwicklung der Tourismuswirtschaft. Im Gegensatz
dazu stellten Sie am 3. April eine Große Anfrage, in der
Sie als Binsenweisheit einen sich verschärfenden Wettbe-
werb entdecken, schlechtere wirtschaftliche Standortfak-
toren herbeireden, was den Bemühungen der Tourismus-
wirtschaft vollkommen zuwider läuft, und damit unser
Produkt, den Tourismus, auch in der Europäischen Union
schlechtreden.
Damit verdienen Sie sich die Einschätzung, an der Rea-
lität vorbei nicht konstruktiv und ehrlich zu agieren.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Ernst Hinsken
19394
Ich bezweifle, dass der Vorspann Ihres Fragenkatalogs
in seinem Wortlaut dem Interesse unserer Tourismuswirt-
schaft entspricht.
Unter vollkommener Negierung der Zusammenhänge, die
eine zunehmend globalisierte Weltwirtschaft mit sich
bringt, unter Negierung schneller durchschlagender
Schwankungen auf der Grundlage wesentlich vergrößer-
ter Wettbewerbszonen verfolgen Sie die Strategie, den
deutschen Wirtschaftsstandort schlechtzureden.
Weder begreifen Sie durchaus vorhandene Probleme, die
diese Entwicklung mit sich bringt, als Herausforderung
noch helfen Sie bei der Lösung; vielmehr stellen Sie sie
als national hausgemacht dar, um so auf billige und pri-
mitive Weise daraus politisch Kapital zu schlagen.
Leider hat uns der 11. September mit etwas konfron-
tiert, was in keiner Kalkulation, auch nicht in der der Tou-
rismuswirtschaft, mehr vorkam, nämlich mit der Angst
um Frieden und Sicherheit. Dadurch verliert leider Ihr
Argument, dass andere EU-Mitgliedstaaten niedrigere
Flugtransportkosten haben und somit eine profitablere Art
der Ausweitung zu neuen Zielorten als bessere Rahmen-
bedingungen in Anspruch nehmen können. Uns alle er-
schreckt, dass es auf einmal nicht mehr nur um Wettbe-
werb, sondern um Solidarität unter Wettbewerbern geht,
um den Terrorismus erfolgreich zu bekämpfen.
Auf 39 Fragen erhalten Sie 39 Antworten, die belegen,
dass eine Benachteiligung der deutschen Tourismuswirt-
schaft durch die nationalen Rahmenbedingungen in
keiner Weise gegeben ist.
Wäre dies deutlich geworden, kämen Sie, gemessen am
Zeitraum rot-grüner Regierungsverantwortung nach
16 Jahren Regierungsverantwortung in arge Erklärungs-
not.
Daran, dass der Tourismus in Deutschland einen gleich
großen Anteil am Bruttoinlandsprodukt hat wie in Frank-
reich mit seinen langen Küsten und der Weltmetropole Pa-
ris, wird deutlich, dass mittlerweile sogar Standortvorteile
ausgeglichen werden. Im Messe- und Kongressgeschehen
setzt Deutschland sogar Führungsansprüche. Hinsichtlich
der Entwicklung der Beschäftigung in dieser Branche lie-
gen nur Spanien, Griechenland und Italien vor uns. Mit
8 Prozent liegen wir weit vor Österreich mit 4,8 Prozent
und Frankreich mit 2,9 Prozent.
Wir gestehen aber ein, dass Sie in Ihrer Regierungszeit die
Auseinandersetzung mit Sonne und Wärme nicht gewin-
nen konnten und uns dieses Erfolgserlebnis ebenfalls ver-
sagt bleiben wird.
Als Nachteile hinsichtlich der nationalen Rahmenbe-
dingungen führen Sie immer wieder die unterschiedlichen
Mehrwertsteuersätze an. Richtig, in einem Hotel in
Frankreich zahlen Sie für eine Übernachtung nur 5,5 Pro-
zent Mehrwertsteuer, aber trotzdem allgemein einen
höheren Preis als in Deutschland.
Für Essen und andere Konsumgüter zahlt man dann aber
19,6 Prozent Mehrwertsteuer. Worauf stützen Sie diesbe-
züglich Ihr Argument der schlechteren Rahmenbedin-
gungen?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, werte Kolle-
ginnen und Kollegen, ich sprach vorhin von den in den
letzten Jahren erreichten großen Fortschritten, aber auch
von den territorialen Unterschieden und großen Reserven
in der Entwicklung der Tourismuswirtschaft in den ost-
deutschen Bundesländern.
Nach dem Grundgesetz sind der Tourismus und seine
Förderung Ländersache. Er bleibt aber selbstverständlich
in die allgemeinen Förderprogramme der Bundesregie-
rung einbezogen. Besonders in den neuen Ländern gilt es,
mit deren Hilfe den Bekanntheitsgrad der ostdeutschen
Tourismusgebiete zu erhöhen und im In- und Ausland
verstärkt ein positives Image aufzubauen. Die touristi-
schen Angebote müssen parallel dazu weiter profiliert und
vervollkommnet werden. Dazu zählen Angebote wie Ur-
laub auf dem Bauernhof oder das Kurgewerbe, das seit
1997/98 auf Beschluss der alten Bundesregierung durch
geringere Zuschüsse und kürzere Kurdauern mit einer
Stagnation bzw. mit leichten Rückgängen leben musste
und nur allmählich Verbesserungen verzeichnen kann.
Gerade für Thüringen, wo in Heiligenstadt, Bad Salzun-
gen und Bad Langensalza Kureinrichtungen vorhanden
sind, die durchaus mit Karlsbad konkurrieren können, ha-
ben Sie während der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung
die Rahmenbedingungen verschlechtert.
Deutschland wird nach Erschließung dieser Reserven
im europäischen Vergleich noch besser dastehen, wenn-
gleich ich weiß, dass dieser Entwicklungsprozess noch ei-
nige Jahre in Anspruch nehmen wird. Voraussetzung dafür
sind nicht gesonderte Rahmenbedingungen auch Geld
halte ich nicht für eine ausschließlich notwendige Voraus-
setzung , sondern ein Nichtnachlassen von Patriotismus
und Solidarität. Zu den unverzichtbaren materiellen Kri-
terien zählen die Festschreibung des Solidarpaktes und
die Festlegung, Förderschwerpunkt der EU zu sein; die
ideellen Kriterien sind andere.
Als Bundestagsabgeordneter aus Thüringen weiß ich,
dass nach zehn Jahren Harz noch lange nicht gleich Harz
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Eckhard Ohl
19395
ist, dass der Thüringer Wald noch lange keinem Vergleich
mit dem Bayerischen Wald standhält und Ostsee noch
lange nicht Ostsee ist. Das schmerzt, kann aber objektiv
noch nicht anders sein und spornt an.
Schmerzlich ist aber, wenn zehn Jahre nach der Wende je-
der Ostdeutsche in Westdeutschland war, aber erst jeder
sechste bis achte Westdeutsche in Ostdeutschland. Hier
liegen große Reserven.
Die ostdeutschen Bundesländer waren vom westlichen
internationalen Tourismus abgekoppelt; vom Osten ka-
men nur Dauerurlauber bei freier Kost und Logis. Die Er-
höhung des Bekanntheitsgrades bzw. die bessere Ver-
marktung unserer landschaftlichen Schönheiten und des
kulturellen Erbes verlangen noch große Anstrengungen,
um den ostdeutschen Bundesländern Chancengleichheit
innerhalb der Europäischen Union und besonders hin-
sichtlich der Osterweiterung zu gewähren.
Ich weiß, wovon ich rede, habe ich doch in den zurück-
liegenden Jahren circa 60 Botschaftsbesuche absolviert
und dabei erschreckende Unkenntnis über den östlichen
Teil unseres Vaterlandes hinnehmen müssen. 25 Bot-
schafter haben in der Zwischenzeit Nordthüringen be-
sucht, wissen mit den Namen Nordhausen, Eichsfeld, Un-
strut-Hainich oder Wartburgkreis umzugehen, konnten
sich durch Leistungspräsentationen in Berlin oder vor Ort
ein Bild von unserer schönen Heimat machen und sind
seit ihren Besuchen begeisterte Thüringen-Fans.
An dieser Stelle möchte ich mich beim Bundeswirt-
schaftsministerium, bei Herrn Staatssekretär Mosdorf so-
wie unserer Sprecherin Kollegin Irber für die großzügige
Unterstützung dieses Tuns und Handelns in Thüringen be-
danken. Hocherfreut bin ich über die Ankündigung des
Staatssekretärs, verstärkt Bemühungen zu einem Bünd-
nis unter den Bundesländern zugunsten der Tou-
rismuswirtschaft, aber hauptsächlich mit dem Hinter-
grund, die von mir angesprochenen Niveauunterschiede
am Standort Deutschland abzubauen, zu betreiben.
In Ihrer Anfrage vermisse ich jegliche Ansatzpunkte zu
Problemen der neuen Länder. Ich hätte mich gern länger
mit Ihnen darüber unterhalten, wie gut die Rahmenbedin-
gungen in den neuen Ländern inzwischen sind.
8 500 Beherbergungsbetriebe, davon 6 000 Hotels, wur-
den in den letzten Jahren zum größten Teil auf moderne
technische und bauliche Standards gebracht. Diese enor-
men Kapazitäten müssen sich tatsächlich zu einer Jobma-
schine für den Mittelstand entwickeln.
Das funktioniert aber nicht, wenn Sie nach allem, was
nach Bundespolitik riecht, angefangen bei der Mehrwert-
steuer, über 630-Mark-Jobs bis hin zum Betriebs-
verfassungsgesetz, mit der Lanze stechen wie Don
Quichotte bei den Windmühlen, sondern auch die Lan-
desregierungen müssen Verantwortung erkennen und ihre
Hausaufgaben machen, Herr Brähmig.
Elf Jahre nach der Wende gelingt es in Thüringen noch
immer nur äußerst mangelhaft, die Vernetzung der Wirt-
schafts- und Politikbereiche zugunsten der Tourismusent-
wicklung auf lokaler, regionaler und Landesebene zu ge-
stalten. Ein Berg, ein See, ein Spaßbad und ein Hotel
ergeben noch keinen Tourismus.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Zwei Sätze noch. Wir stehen
damit nur mit vielen im Wettbewerb. Wettbewerb heißt
verkaufen und das tun wir auch nach elf Jahren noch
schlecht.
Die deutsche Tourismuswirtschaft hat Reserven und
diese liegen zum Teil in den neuen Ländern. Das hat die
Bundesregierung erkannt. Ebenso hat sie erkannt, wie
man helfen kann.
Mäkeln Sie als Opposition nicht an Rahmenbedingun-
gen herum, die in den Ländern der EU keinesfalls hintan-
stehen!
Nehmen Sie Einfluss auf die von Ihnen regierten neuen
Bundesländer, um einfach und pragmatisch mitzuhelfen,
diese Reserven zu erschließen!
Herr Brähmig, davon habe ich in Ihrer Rede kein Wort
vernommen.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
14/7329. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Aufstiegsfortbildungsförderungsge-
setzes
Drucksache 14/7094
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Eckhard Ohl
19396
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Bun-
desministerin Edelgard Bulmahn.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen! Eine Berufs-
ausbildung reicht heute nicht mehr für ein ganzes Leben
aus. Mit der Reform des Aufstiegsfortbildungsförde-
rungsgesetzes geben wir deshalb allen jungen Menschen,
die interessiert und qualifiziert sind, die Chance, sich
fortzubilden und ihren Meister zu machen.
Die Reform, die wir heute vorlegen, ist familien-
freundlich und sozial. Sie ist aber nicht nur ein wichtiger
Beitrag zur Qualifizierung, sie ist auch ein wichtiger Bei-
trag zur Mittelstandsförderung und zur Gründung
neuer Unternehmen. Damit schaffen wir gerade für
diese Unternehmen bessere Entwicklungsmöglichkeiten
sowie neue Ausbildungs- und Arbeitsplätze vor allem in
kleinen und mittleren Betrieben.
Wir können nicht bis morgen warten, sondern müssen
uns schon heute Gedanken darüber machen, wie wir in
Zukunft unseren Bedarf an qualifizierten Fachkräften
decken können. Deshalb hat die Bundesregierung eine
breit angelegte Qualifizierungsoffensive ins Leben geru-
fen. Wir modernisieren die berufliche Bildung und schaf-
fen neue Berufe in wachsenden Zukunftsbranchen. Wir
haben mit dem Programm JUMP 330 000 Jugendliche
von der Straße geholt und ihnen eine zweite Chance auf
Ausbildung und Beschäftigung gegeben.
Wir können sagen, dass das Erfolg zeigt; denn auch in die-
sem Jahr wird jeder Jugendliche, der arbeiten kann und ar-
beiten will, einen Ausbildungsplatz erhalten. Diesen Kurs
werden wir in den kommenden Jahren konsequent fort-
setzen.
Mit der Reform des AFBG, dem so genannten Meister-
BAföG, motivieren wir vor allem junge Fachkräfte, sich
fortzubilden und den Schritt in die Selbstständigkeit zu
wagen. Das ist zugleich ein ganz wichtiger Beitrag zur
Verwirklichung der Gleichwertigkeit von allgemeiner und
beruflicher Bildung.
Der Erfahrungsbericht zum alten AFBG, zum alten
Meister-BAföG, den die Bundesregierung im September
1999 vorgelegt hat, zeigt ganz deutlich, dass die Förder-
leistungen in der Vergangenheit häufig nicht ausreichten,
um den Lebensunterhalt zu sichern. Manch einer verzich-
tete deshalb gänzlich auf Fortbildung. Viele Maßnahmen
wurden überhaupt nicht gefördert. Das Antrags- und Be-
willigungsverfahren war zu langwierig und zu kompli-
ziert.
Das alles ändern wir mit der Novellierung des Geset-
zes. Wir werden den Kreis der Geförderten erweitern. Wir
werden die Leistungen verbessern, das Verfahren unbüro-
kratischer gestalten und mehr Maßnahmen als bisher för-
dern.
Davon, liebe Kolleginnen und Kollegen, profitieren vor
allem junge Fachkräfte, die eine Familie haben, künftige
Existenzgründer und nicht zuletzt ausländische Fach-
kräfte, die bei uns leben und arbeiten.
Wie sieht das neue AFBG genau aus? Für Förderleis-
tungen nach dem neuen AFBG stellen Bund und Länder
im Jahre 2002 rund 190 Millionen DM zur Verfügung.
Das ist fast doppelt so viel wie heute. Bis zum Jahre 2005
werden wir die Mittel für das neue Meister-BAföG bis auf
über 222 Millionen DM weiter steigern.
Der Unterhaltsbeitrag für eine Vollzeitfortbildung
steigt bei Alleinstehenden auf maximal 1 195 DM. Das
sind 10 Prozent oder in der Summe 110 DM mehr. Außer-
dem sorgen wir mit einem Zuschuss von 35 Prozent zu den
Lehrgangs- und Prüfungsgebühren dafür, dass die Darle-
hensbelastung sinkt, und zwar deutlich. Der gewährte
Kredit muss also nicht mehr voll zurückgezahlt werden.
Wir verbessern die familienbezogenen Leistungen er-
heblich. Die Unterhaltsbeiträge für Kinder steigen von
250 DM auf 350 DM. Darüber hinaus wird der Kinderbe-
treuungszuschuss für Alleinerziehende von 200 DM auf
250 DM erhöht und das Kindergeld wird zukünftig nicht
mehr auf das Einkommen angerechnet. Gerade für dieje-
nigen, die Kinder haben, verbessern wir die Leistungen
also spürbar.
Das ist meiner Ansicht nach genau richtig, weil es sich
eben häufig um junge Familien handelt, die vor dieser Si-
tuation stehen.
Ein weiterer Kritikpunkt an dem alten AFBG war, dass
viele Fortbildungen überhaupt nicht gefördert wurden.
Ich teile diese Kritik und deshalb haben wir das geändert.
Nach dem neuen Gesetz können Fortbildungen in Ge-
sundheits- und Pflegeberufen, Qualifizierungsmaßnah-
men an staatlich anerkannten Ergänzungsschulen und me-
diengestützte Fortbildungen gefördert werden.
70 Prozent aller Arbeitsplätze und 80 Prozent aller
Ausbildungsplätze werden bei uns von mittelständischen
Unternehmen, von Handwerksbetrieben und Selbststän-
digen im Handel, im Dienstleistungsgewerbe oder in den
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs
19397
freien Berufen geschaffen. Deshalb verbessern wir die
Förderung von Existenzgründern, und zwar in erhebli-
chem Umfang. Wir schaffen damit insbesondere für den
Generationenwechsel im Mittelstand eine bessere Grund-
lage; denn vor einem solchen stehen wir. Das Institut für
Mittelstandsforschung schätzt, dass bei uns allein in den
nächsten fünf Jahren in circa 380 000 Betrieben ein Ge-
nerationenwechsel stattfinden wird. Wenn wir sicherstel-
len wollen, dass genügend junge Leute zur Verfügung ste-
hen, die diese Betriebe übernehmen können, dann ist eine
Novellierung dieses Gesetzes zum gegenwärtigen Zeit-
punkt außerordentlich wichtig. Deshalb wird es auch ge-
macht.
Wir erleichtern den Fortbildungsabsolventen den
Schritt in die Selbstständigkeit, indem wir ihnen künftig
fünf anstatt bisher drei Jahre Zeit geben, um ein Unter-
nehmen zu gründen und die ersten zwei Beschäftigten
einzustellen. Unter diesen Voraussetzungen greift dann
der Darlehenserlass. Der Darlehenserlass für Existenz-
gründer wird von 50 Prozent auf 75 Prozent angehoben.
Ein Existenzgründer zum Beispiel, der 20 000 DM an
Lehrgangs- und Prüfungsgebühren bezahlt hat, muss
zukünftig unter Berücksichtigung des Zuschusses von
35 Prozent nur noch 3 250 DM zurückzahlen. Das zeigt,
welche Verbesserungen dieses Gesetz für junge Leute, ge-
rade für Existenzgründer mit sich bringt.
Schließlich erhöhen wir den Vermögensfreibetrag für
Existenzgründer von 10 000 DM auf 70 000 DM. Exis-
tenzgründer erhalten damit gerade in der schwierigen An-
fangsphase eine wesentlich bessere Unterstützung.
Ferner sorgen wir mit diesem Gesetz dafür, dass aus-
ländische Fachkräfte, die sich fortbilden wollen, mit
ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen gleichgestellt
werden. Sie können künftig schon nach dreijähriger statt
wie bisher nach fünfjähriger Erwerbstätigkeit gefördert
werden.
Meine sehr geehrten Herren und Damen, mit der Re-
form dieses Gesetzes erhalten Fachkräfte, die sich fortbil-
den wollen, die Unterstützung, die sie brauchen. Unsere
Betriebe bereiten wir damit auf den bestehenden demo-
graphischen Wandel, auf den Generationenwechsel, vor.
Außerdem schaffen wir so neue Arbeits- und Ausbil-
dungsplätze.
Diese Reform ist daher ein ganz wichtiger Beitrag zur
Mittelstandsförderung. Sie ist aber auch ein zentraler
Baustein unserer Bildungspolitik, einer Politik, die den
Menschen nützt, die ihnen hilft und die sich auch sehen
lassen kann.
Vielen Dank.
Nun hat das Wort der
Kollege Werner Lensing, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Bun-
desregierung hat, Frau Ministerin, seit Beginn dieser Le-
gislaturperiode tausend und einen Tag verstreichen lassen,
um einen einzigen Gesetzentwurf zur Änderung des so
genannten Meister-BAföG einzubringen.
Genauso wie die Erzählungen aus Tausenundeiner Nacht
märchenhaft sind, ebenso realitätsfern sind bei Ihnen im-
mer noch Ihre Vorstellungen über die Höhe der tatsächlich
benötigten finanziellen Mittel.
Sie aus den Reihen der SPD wollen mich durcheinander
bringen, aber das kriegen Sie nicht zustande. Ich sage Ih-
nen nur eines: Wenn Sie nicht zuhören, dann lernen Sie
auch nichts. Es ist ja Fortbildung, wie wir heute Abend
gehört haben.
Gleichwohl das möchte ich ausdrücklich anerkennen,
sind die Mittel erhöht worden. Das soll deutlich gesagt
werden.
Ebenso deutlich muss aber gesagt werden ich hoffe, der
Beifall hält an , dass der eigentliche Bedarf höher sein
dürfte und sein wird, als dies der Haushaltsplan zulässt.
Über drei Jahre sind ich wiederhole es seit der letz-
ten Wahl ergebnislos vergangen. Zwei CDU/CSU-An-
träge und sogar ein Bericht der Bundesregierung waren
vonnöten, ehe Sie darangingen, sich konkret dieser drän-
genden Problematik anzunehmen.
So haben Sie sich eine lange Zeit nicht darum gekümmert,
die sogar durch Ihren eigenen Bericht erkannten Fehler
schnellstens zu korrigieren und damit die Attraktivität der
Aufstiegsfortbildung zu fördern.
Auch blieb von Ihnen völlig unbeachtet, dass für Meis-
terschüler aus Industrie und Handel die Fördermaßnah-
men keine echte Hilfe darstellen, da sich diese zumeist be-
rufsbegleitend weiterbilden und nur in den wenigsten
Fällen beabsichtigen, sich, wie erhofft, tatsächlich selbst-
ständig zu machen.
Deswegen freut es mich schon, dass Sie seinerzeit of-
fensichtlich unseren sinnvollen Anregungen im Plenum
so andächtig gelauscht, sich diese zu Herzen genommen
und nunmehr als Ihre Vorschläge zu einem großen Teil in
den vorliegenden Gesetzentwurf aufgenommen haben.
Doch leider haben Sie, wie immer, den Gesamtzusam-
menhang nur unzureichend verstanden und deswegen ist
das Gesamtkonzept nur halbherzig umgesetzt. Bedauerli-
cherweise ist somit eine wirkliche Reform bei allen Ver-
besserungen nicht geglückt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
19398
Hätten die Damen und Herren in der Bundesregierung
sich beispielsweise mit den Aussagen der Verbände aus
Industrie und Handel sowie dem Handwerk auseinander
gesetzt, wüssten sie inzwischen, wo der Schuh wirklich
drückt.
Es nützt nämlich überhaupt nichts, die Fördermaßnahmen
hier und dort ein wenig anzuheben und naiv zu hoffen,
dass nunmehr der große Ansturm auf die Meister- und
Technikerausbildung geradezu automatisch folgt.
Es dürfte Ihnen allen bekannt sein, dass das Interesse
am Meister-BAföG im Jahr 2000 noch im Vergleich zum
Vorjahr da waren Sie ja, ich konnte es leider nicht ver-
hindern, schon in der Regierung um weitere 3,3 Prozent
zurückging, weil die Förderung weder von der Höhe noch
von den Bedingungen her für den angesprochenen Perso-
nenkreis reizvoll war.
Die Zahl der Geförderten sank nicht von ungefähr
auf laut Angaben des Statistischen Bundesamtes
52 000 Personen.
Hätten wir unser Gesetz nicht gemacht, Herr Rossmann,
wären Sie noch längst nicht so weit; dann hätten Sie noch
nicht einmal eine Anregung für das, was Sie jetzt weiter-
führen.
Wir waren die Meister dieses Gedankens; das ist über-
haupt nicht zu leugnen, wenn man es historisch sauber,
objektiv wie das die Art der CDU ist bewertet.
Die Zahlen verdeutlichen hinsichtlich unserer derzeiti-
gen Konjunkturdaten eine trübe Bilanz. Traurigerweise
werden wir in den nächsten Jahren voraussichtlich einen
weiteren Rückgang der Zahl von Meisterschülern ver-
zeichnen müssen; zudem werden derzeit noch berufs-
tätige Meister in den Ruhestand gehen. Genau bei dieser
Problematik greift der Regierungsentwurf entschieden zu
kurz. Er ist halbherzig und lückenhaft.
Zu einer echten Reform fehlen dem Gesetzentwurf:
erstens der vollständige Erlass des Gesamtdarlehens bei
Existenzgründung, zweitens die Streichung der Vermö-
gensanrechnung und drittens die bessere Berücksichti-
gung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an berufsbe-
gleitenden Teilzeitmaßnahmen und damit zugleich die
Berücksichtigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern aus Industrie, Handel und Dienstleistungen. Vier-
tens fehlt es ist mir schon fast unangenehm, das alles
aufzählen zu müssen die Senkung des Mindestumfangs
auf 2 000 Lehrgangsstunden, um so auch modulare Lehr-
gänge förderfähig zu machen. Fünftens fehlt die Ab-
schwächung der Beschäftigungsbedingungen für Kleinst-
betriebe auf eine Umsatzgrenze von 100 000 Euro pro Jahr.
Schließlich, sechstens, fehlt es ist kaum zu glauben die
Erhöhung des maximalen Förderbetrages auf mindestens
12 500 Euro.
Es ist also dies als Fazit ein grundsätzliches Pro-
blem, das zugleich in der prinzipiellen Anlehnung der
Aufstiegsfortbildung an das BAföG und in einer angeb-
lichen Gleichbehandlung der beruflichen mit der akade-
mischen Ausbildung liegt. Dabei ist der Unterschied sehr
groß. Während das BAföG einen berufsqualifizierenden
Abschluss bei Studentinnen und Studenten anstrebt, rich-
tet sich das neue Gesetz an Berufstätige mit einer bereits
abgeschlossenen Berufsausbildung.
Ich gehe aber davon aus weil wir uns an den dem-
nächst stattfindenden Beratungen beteiligen werden ,
dass die grundlegenden Fehler bei der Fortbildungsförde-
rung im bevorstehenden Gesetzgebungsverfahren noch
beseitigt, unsere sechs Aspekte berücksichtigt werden und
die Schwachstellen des vorliegenden Entwurfs dadurch
eine Chance haben, ausgebessert zu werden. Geben Sie,
Frau Ministerin, den mittelständischen Betrieben eine
Chance zum Überleben, indem Sie noch geeignetere Vo-
raussetzungen für eine Ausbildung des benötigten Füh-
rungspersonals für die kommende Generation schaffen!
Ein letzter, aber dringender Wunsch: Meine Damen
und Herren von der Koalition, machen Sie aus diesem
ängstlichen Entwurf endlich eine durchgreifende Reform!
Dann wird auch Herr Tauss sich erstmalig berechtigt
freuen können.
Das Wort hat jetzt der
Kollege Christian Simmert für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Kollege, ängstlich sind wir nicht bei diesem Entwurf. Wir
haben etwas vorgelegt, was Sie nicht geschafft haben. Wir
haben Fehler korrigiert, die Sie in Regierungszeiten jetzt
sind Sie ja in der Opposition hätten beseitigen sollen.
Die rot-grüne Bundesregierung setzt mit der Novelle
des AFBG die dringend notwendige Qualifizierungsof-
fensive in der beruflichen Bildung fort. Die Aufstiegs-
fortbildung wird wieder ein zentrales Förderinstrument
zur gezielten beruflichen Weiterbildung. Das ist die Auf-
fassung meiner Fraktion. Bündnis 90/Die Grünen setzen
sich nämlich grundsätzlich für eine bessere Verzahnung
von Erst- und Weiterbildung sowie für eine bessere
Durchlässigkeit zwischen den Bildungseinrichtungen ein.
Die Novelle des Meister-BAföG schließt hier eine Lücke.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von der CDU/CSU-
und FDP-Vorgängerregierung, der verflossenen, haben
wir folgende Probleme in der Aufstiegsförderung über-
nehmen müssen: Die Gefördertenzahl und die für die För-
derung bereitgestellten finanziellen Mittel waren absolut
zu niedrig. Die förderberechtigten Berufsgruppen waren
auf einen zu engen Kreis beschränkt. Qualifizierung und
familiäre Verpflichtung waren kaum vereinbar. Unter den
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Werner Lensing
19399
Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren aufgrund der
Zugangshindernisse kaum Migrantinnen und Migranten
vertreten. Der Darlehensteilerlass bot für Existenzgrün-
derinnen und Existenzgründer keinen Anreiz. Der Ver-
waltungsaufwand für die Antragsbearbeitung war über-
dimensioniert.
Mit der Novelle zum Meister-BAföG werden wir diese
Hindernisse beseitigen.
Wir stellen die Förderung des Fachkräftenachwuchses
und die von angehenden Existenzgründern auf eine neue
Grundlage. Dafür stellen die rot-grüne Koalition und die
Länder im kommenden Jahr rund 90 Millionen DM zur
Verfügung. Die rot-grüne Bundesregierung setzt mit die-
ser Novelle ein sehr deutliches Zeichen: Mehr Menschen
mit Kindern Frau Ministerin, Sie haben dies gerade er-
wähnt haben durch unser neues Meister-BAföG Chan-
cen, sich zu qualifizieren.
Familien mit Kindern und Alleinerziehende erhalten
nämlich künftig bessere Förderkonditionen bei Vollzeit-
und Teilzeitfortbildungen.
Wir erhöhen den Kinderzuschlag beim Unterhaltsbeitrag
von 250 auf 350 DM und den Kinderbetreuungszuschuss
auf 250 DM. In Härtefällen wird Alleinerziehenden ein
Darlehen gestundet oder erlassen. Das Kindergeld wird
nicht auf das Einkommen angerechnet. An dieser Stelle
berücksichtigt Rot-Grün ganz gezielt die Lebensum-
stände von Familien und Alleinerziehenden und erhöht
ihre Beteiligungsmöglichkeiten in der beruflichen Weiter-
bildung.
Es kann nicht um Kind oder Karriere gehen. Wir wollen
Eltern beides ermöglichen.
Bundesweit werden ausländische Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer inländischen gleichgestellt. Sie können
durch unsere Reform in verstärktem Maße gefördert wer-
den. Das bedeutet, dass sie bereits nach dreijähriger Er-
werbstätigkeit gefördert werden können. Wir begreifen
Migrantinnen und Migranten als Teil der Gesellschaft und
wollen an dieser Stelle anders als die Opposition in den
vergangenen Jahren einen Beitrag zur Integration leis-
ten. Das Bündnis 90/Die Grünen will die Beseitigung von
Zugangshindernissen erreichen.
Darüber hinaus werden wir die geförderten Berufsfel-
der deutlich erweitern: Gesundheits- und Pflegeberufe
und die Abschlüsse an staatlich anerkannten Ergänzungs-
schulen werden uneingeschränkt in die Förderung einbe-
zogen. Teilzeitfortbildung und die Fortbildung über soft-
waregestützte Lernmodule werden ermöglicht. Gerade
mit der Teilzeitfortbildung werden wir auch Alleinerzie-
henden helfen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir machen mit die-
ser Novelle zum Meister-BAföG deutlich, dass sich die
Koalition ihrer Verantwortung und der Modernisierung in
der beruflichen Bildung stellt. Die Förderung von Fach-
kräften bei der Aufstiegsfortbildung wird so zu einer zen-
tralen Bildungsaufgabe, bei der der einzelne Mensch mit
seinen Möglichkeiten wieder im Mittelpunkt steht.
Sie könnten dieser Reform des Meister-BAföG eigent-
lich zustimmen. Ich freue mich auf die Debatten im zu-
ständigen Ausschuss. Wir werden uns hier zur zweiten
und dritten Lesung wiedersehen. Dann erwarten wir Ihre
freudigen und mutigen Zustimmungen und keine ängstli-
chen Gegenstimmen.
Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion
spricht die Kollegin Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Lieber Kollege Simmert, Sie haben ge-
sagt, die alte Koalition habe es nicht erreicht, die Defizite
beim Meister-BAföG abzubauen.
Ich darf Sie daran erinnern, dass es 1996 war, als unter der
Regierungskoalition, an der die FDP und die Union betei-
ligt waren, das Meister-BAföG auf den Weg gebracht
worden ist.
Während die Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
von den Grünen immer noch der alten Regelung, der För-
derung der beruflichen Fortbildung nach dem alten Ar-
beitsförderungsgesetz, nachtrauerten, haben wir für die
Herstellung der Gleichwertigkeit von allgemeiner und
beruflicher Bildung, was eigentlich unser gemeinsames
Ziel ist, einen wichtigen Reformschritt getan.
geht so nicht!)
Frau Kollegin, der
Kollege Tauss möchte eine Zwischenfrage stellen. Ich
möchte diese ungern zulassen, weil eine Kollegin gleich
weg muss; die sitzt hier wie auf glühenden Kohlen.
Herr Tauss, ich gestatte Ihnen danach aber eine Kurz-
intervention. Können wir uns so einigen? Gut.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Christian Simmert
19400
Frau Präsidentin, ich be-
danke mich für Ihren guten Vorsitz und den Hinweis. Ich
weiß, dass sich Herr Tauss gern in Debatten einmischt.
Das kann er auch tun, aber wir sollten die Fachberatungen
lieber im Ausschuss führen. Dann müssen wir seine Pole-
mik hier nicht ertragen.
In der mittelständischen Industrie und im Handwerk
steht ein Generationswechsel an. Frau Ministerin
Bulmahn hat darauf hingewiesen: In über 300 000 Unter-
nehmen werden in den nächsten fünf Jahren die
Führungsstrukturen völlig ausgetauscht bzw. werden die
Betriebe von neuen Eigentümern übernommen. Es wird
oft beklagt, dass der hierfür benötigte Nachwuchs nicht in
vollem Umfang zur Verfügung steht. Betriebsaufgaben
wären eine Folge, die wir nicht tatenlos hinnehmen kön-
nen. Selbst in den neuen Bundesländern würde eine sol-
che Entwicklung demotivierend wirken und dem zarten
Pflänzchen des Aufschwungs das Wasser entziehen. Ge-
rade hier leisten kleine und mittelständische Unterneh-
men den wichtigsten Beitrag zur Schaffung von neuen
Ausbildungs- und Arbeitsplätzen und damit auch für das
Funktionieren unserer sozialen Sicherungssysteme.
Ohne Unternehmensgründungen gibt es keine Arbeits-
plätze. Umso besorgniserregender ist die Tatsache, dass
die Anzahl der Existenzgründungen in den neuen Län-
dern seit Mitte der 90er-Jahre wieder rückläufig ist. Der
Anteil der Selbstständigen an der Gesamtzahl der Er-
werbstätigen insgesamt liegt in Deutschland immer noch
unter dem OECD-Durchschnitt. Die Aufstiegsfortbildung
schafft eine wesentliche Grundlage dafür, damit diese De-
fizite abgebaut werden können, damit junge Frauen und
Männer den Weg in die Selbstständigkeit gehen können.
Und das ist gut so.
Wir sind seit Mitte der 90er-Jahre mit dem Meister-
BAföG einen mutigen Schritt vorangegangen und haben
den Rechtsanspruch auf Förderung einer beruflichen
Höherqualifizierung mit dem AFBG gesetzlich gesichert.
Natürlich haben wir mit dem im Januar 1996 in Kraft ge-
tretenen AFBG Neuland betreten. Schon bald zeigten sich
strukturelle und technische Defizite des Gesetzes. Allein
das Antragsverfahren erwies sich als sehr bürokratisch.
Ich habe Ihnen die Anträge mitgebracht. Das sind neben
dem Antrag auf Förderung sechs Zusatzanträge und die
circa 18 zu erbringenden Bescheinigungen.
Natürlich schreckte das viele Ausbildungsteilnehmer
ab. Wissen Sie, der Vorteil von Politikern besteht darin,
dass sie zugeben können, Fehler gemacht zu haben. Das
kann ich allerdings bei Ihnen, Herr Tauss, nicht erkennen;
sonst würde ich nicht solche Sprüche hören.
Die Gefördertenzahl stieg von circa 43 000 im Jahre
1996 bis zum heutigen Tag auf 50 000. Das sind natürlich
noch immer zu wenig. Wir alle haben nach eingehender
Analyse des Berichtes über die Umsetzung und In-
anspruchnahme des Aufstiegsfortbildungsförderungsge-
setzes im Sommer 1999 die Probleme erkannt. Doch die
Bundesregierung unternahm außer einer Ankündigung
erst einmal nichts. Erst der Gesetzentwurf der Union zur
Änderung des AFBG im Oktober 2000 und die nachfol-
gende Ausschussanhörung im Mai 2001 weckten die Bun-
desministerin Bulmahn aus ihrem Dornröschenschlaf auf.
Es war Gefahr im Verzuge. Es überrascht mich nicht, dass
genau einen Tag vor der Anhörung der Öffentlichkeit der
Referentenentwurf des Bildungsministeriums vorgestellt
wurde. Es hat sich gezeigt, dass er weit hinter unseren
Vorschlägen zurückbleibt.
Die Messlatte, die wir an ein geändertes Gesetz anle-
gen, sieht folgendermaßen aus wir werden das in den
Ausschussberatungen mit entsprechenden Änderungsan-
trägen verstärken :
Erstens. Das Antragsverfahren muss für den Antrag-
steller grundlegend vereinfacht werden.
Zweitens. Der Unterhaltsbeitrag muss deutlich erhöht
werden. Dazu ist mit dem Vorschlag ein wesentlicher
Schritt getan.
Drittens. Die Vermögensfreibeträge müssen gestrichen
werden.
Viertens. Die Prüfungsgebühren und die Kosten für das
Meisterstück bzw. modernere Formen der praktischen
Prüfung müssen den Meisterschülern im Rahmen des
Darlehens zu 50 Prozent erlassen werden.
Fünftens. Die Zeit zwischen Lehrgangsende und der
letzten Prüfung muss als Ausbildungszeit angerechnet
werden.
Sechstens. Existenzgründungen während der Meister-
ausbildung müssen berücksichtigt werden.
Last, but not least siebtens. Die Bedingungen für einen
hundertprozentigen Darlehenserlass das hat auch schon
die Union gefordert müssen geändert werden, der Zeit-
raum muss auf mindestens zwei Jahre verlängert werden.
Fazit: Es liegt uns ein Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung vor, der zu verbessern ist. Darauf kommt es an.
Die FDP wird daran mitarbeiten.
Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Maritta Böttcher für die PDS-Fraktion.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001 19401
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Mit der heutigen Einbringung des
Gesetzentwurfs ist die Bundesregierung um ein Jahr in
Verzug, wenn ich ihre eigenen Versprechungen zugrunde
lege. Das ist kein nebensächlicher Aspekt; denn durch
diese Verzögerung kommen den prognostizierten 60 000
nach dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz Geför-
derten ein Jahr später die finanziellen Verbesserungen zu-
gute, deren Höhe die Bundesregierung mit 46 Millionen
Euro im ersten Jahr des In-Kraft-Tretens beziffert. Wegen
des Fortbestands der bestehenden Regelungen sind circa
10 000 Fortbildungswillige daran gehindert worden, be-
reits in diesem Jahr eine Fortbildung aufzunehmen.
Der Entwurf stellt ohne Zweifel eine Verbesserung
gegenüber dem Istzustand dar. Aus meiner Sicht sind
neben den höheren finanziellen Zuwendungen, die sich
aufgrund der Gesetzesänderung ergeben, die wichtigsten
Fortschritte: die Ausdehnung des Anwendungsbereichs
auf weitere Berufsgruppen, die Verbesserung der Teilnah-
mebedingungen für Fortbildungswillige mit Familie, für
Alleinerziehende sowie für Ausländerinnen und Auslän-
der sowie die verbesserten Bedingungen für mehr berufs-
begleitende Fortbildung in Teilzeitform.
Jedoch können die grundlegenden Mängel des Geset-
zes mit diesen Verbesserungen noch nicht überwunden
werden. Selbst die CDU/CSU-Fraktion geht mit ihrem
Gesetzentwurf in einigen Punkten weiter.
Aber zu dieser sachlichen Feststellung hören Sie erst
zu! gehört auch die ebenso sachliche Feststellung dazu,
dass der gegenwärtige unbefriedigende Zustand haupt-
sächlich von der CDU/CSU zu verantworten ist
und dass alle Mängel, die auch sie jetzt beklagt, schon vor
In-Kraft-Treten des Gesetzes von 1996 absehbar waren.
Wir halten den mit dem Gesetzentwurf vorgesehenen
Schritt vor allem deshalb nicht für ausreichend, weil er
drei grundlegenden Anforderungen nicht hinreichend
gerecht wird:
Erstens. Er leistet nicht den Beitrag für das viel
beschworene lebensbegleitende Lernen möglichst vieler
Menschen, der für die berufliche Weiterbildung notwen-
dig und möglich wäre.
Zweitens. Die berufliche Fortbildung wird weiterhin
einseitig auf einen vertikalen Karriereaufstieg begrenzt.
Damit gibt es keinen Raum für Qualifizierung im Sinne
von horizontaler Aufgabenerweiterung bis hin zu Quali-
fikationen für Branchen- und Berufswechsel.
Drittens. Die Gleichrangigkeit von akademischer und
beruflicher Bildung wird zwar postuliert, aber nicht tat-
sächlich erreicht. Unterschiedliche Lebenssituationen
von Studierenden und Meisterschülern ich nenne sie
einmal so werden nicht hinreichend berücksichtigt.
Um diesen Kriterien mehr Geltung zu verschaffen,
stellt die PDS-Fraktion folgende Hauptforderungen:
Erstens. Alle noch verbliebenen Einschränkungen,
durch die bestimmte Berufsgruppen vom Förderanspruch
ausgeschlossen sind, müssen aufgehoben werden.
Zweitens. Eine Zweitförderung muss generell und
nicht nur im Ausnahmefall ermöglicht werden.
Drittens. Die Teilnahme an den Maßnahmen zur beruf-
lichen Fortbildung muss gebührenfrei sein.
Viertens. Wir sind für eine Unterhaltsregelung, bei der
die eine Hälfte als Zuschuss und die andere Hälfte als
zinsloses staatliches Darlehen gewährt wird.
Längerfristig halten wir eine Entkopplung des AFBG
vom BAföG ohnehin für unumgänglich. Das wäre die Vo-
raussetzung dafür, dass die Fortbildungswilligen wieder
auf einen höheren Unterhalt zurückgreifen könnten, wie
das übrigens bis 1993 bereits üblich war. Wenn sich also die
Bundesregierung bei der strukturellen Umgestaltung der
Weiterbildung im Ganzen weitgehend zurückhalten will, so
sollte sie wenigstens bei diesem in ihrer Verantwortung
liegenden Teilbereich nicht kleckern, sondern klotzen.
Wir werden unsere Vorschläge im Ausschuss noch ein-
mal auf den Tisch bringen, damit in der nächsten Woche
ein neues Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz verab-
schiedet werden kann, das seinen Namen wirklich ver-
dient.
Nun hat das Wort der
Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann für die SPD-Fraktion.
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Chancen im Wan-
del, Chancen durch Bildung, das war das Motto der
Jugenddebatte heute Morgen. Wir finden, es ist hervorra-
gend, dass wir nicht nur heute Morgen Ansprüche formu-
liert haben, sondern heute Nachmittag ein Gesetz verab-
schieden können, das diese fundamentalen Ansprüche
verwirklichen kann.
Es ist ein fulminanter Erfolg für unsere Ministerin und die
Bundesregierung, nicht nur das BAföG verbessert zu ha-
ben, sondern nun auch eine Änderung des Meister-BAföG
zu erreichen.
Man muss sich vor Augen führen: Wann hat es das in
einer Legislaturperiode jemals gegeben, dass die Mittel
für das BAföG um 50 Prozent oder über eine Milliarde
gesteigert wurden? Beim Meister-BAföG haben wir eine
Steigerung um 100 Prozent. Wann hat es das jemals
gegeben?
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 200119402
Angesichts dieser Zahlen Herr Kollege Lensing ist
leider nicht mehr da , muss man schon eine gewisse
karnevalistische Beckmesserei betreiben können, um
diese Zahlen kritisieren zu wollen. Frau Pieper, ein biss-
chen Respekt vor den Bemühungen, diese Mittel be-
reitzustellen, müssten Sie doch haben, wenn Sie sich vor
Augen führen, wie schwer es Ihnen gefallen ist, damals
einen kleinen Schritt mitzutun.
Umso mehr Achtung könnten Sie jetzt vor den Anstren-
gungen dieser Regierung haben.
An die Adresse von Frau Böttcher muss ich sagen:
Revolutionäre Ungeduld in diesem Gewande trifft die
Sache nicht ganz. Man muss wissen, dass nicht nur Geld
mobilisiert worden ist, sondern tatsächliche strukturelle
Reformen auf den Weg gebracht wurden. Ich will das
gerne an ein paar Beispielen verdeutlichen. Die Minis-
terin hat auf den Nachholbedarf bei den notwendigen Re-
formschritten verwiesen; nunmehr wird ein echtes Wei-
terbildungsgesetz daraus.
Es gibt endlich eine erweiterte Förderung für alle.
Konnten bisher Maßnahmenkosten nur über Darlehen un-
terstützt werden, ohne dass es irgendeine Förderung für
das Meisterstück gab, so gibt es jetzt Zuschüsse, die von
0 auf 35 Prozent steigen. 0 Prozent waren Sie, 35 Prozent
sind wir.
Es gibt in Bezug auf das Meisterstück eine Darlehensbe-
zuschussung von 3 000 DM. 0 DM waren Sie, 3 000 DM
sind wir.
Die Förderung gibt es darüber hinaus nicht mehr nur für
eine Vollzeitausbildung, sondern auch für eine Teilzeit-
ausbildung. Nur Vollzeitförderung waren Sie, Förderung
in jedem Fall sind wir.
Das ist doch etwas, bei dem man dem Kollegen
Lensing und anderen Kritikern wirklich sagen muss: Mit
kleiner Münze aufrechnen zu wollen lässt außer Acht, um
was es in der Substanz geht. Um es drastischer auszu-
drücken: Wenn wir wissen, dass Meisterkurse bis zu
30 000 DM kosten können, dann sind 10 000 DM eine
Summe, die die Betroffenen sehr wohl zu schätzen wissen
werden 10 000 DM, haben oder nicht haben!
Frau Böttcher hat ja angesprochen, dass es in Bezug auf
den strukturellen Unterschied zwischen BAföG und
Meister-BAföG angeblich keine Verbesserung gebe. Wir
erweitern den Umfang des nicht anrechenbaren Vermö-
gens auf 70 000 DM. Wissen Sie, wo Sie standen? Bei
10 000 DM. Jochen Steffen, ein alter Sozialist, hätte
gesagt: Nun kommen Sie!
Bezüglich der Punkte, die neu sind, möchte ich einen
weiteren Aspekt ansprechen: Das Gesetz wird eine er-
weiterte Förderung in allen Zukunftsbereichen, die bisher
ausgespart waren, schaffen. Es war an der Zeit Sie
waren hinter der Zeit , dass endlich eine mediengestützte
Fortbildung, eine angemessene Förderung von Zweitfort-
bildung sowie die Förderung der Fortbildung im differen-
zierten System der Ergänzungsschulen mit einbezogen
werden.
Vor allen Dingen war es sträflich von Ihnen, in einem
so wichtigen Zukunftsbereich wie Gesundheit und Pflege
in Deutschland einen Flickenteppich zuzulassen. Dies
kam zustande, weil Sie keine bundeseinheitliche För-
derung gewollt haben. Es war ein Skandal, dass NRW,
Bayern und Baden-Württemberg die drei größten Bun-
desländer nicht mit in die Förderung für Gesundheits-
und Pflegeberufe einbezogen werden konnten. Wenn wir
diesen Zustand ändern, wer will das dann kritisieren oder
kleinreden? Sie könnten mit uns zusammen in Kranken-
häuser, Schulen und andere Ausbildungsstätten gehen und
für die geplanten Änderungen werben, wenn es Ihnen um
die Sache geht.
Ich möchte auf einen weiteren Punkt aufmerksam
machen: Mit Recht beklagen wir in unserer Gesellschaft,
dass es immer noch zu wenig Spitzenwissenschaftlerin-
nen, zu wenig Professorinnen und zu wenig weibliche
Führungskräfte in der Wirtschaft gibt. Das wollen wir
gemeinsam ändern. Nur ist es wichtig, zu wissen, dass
diese Umstände genauso für den Bereich des Handwerks,
des Mittelstandes und der kleinen selbstständigen Un-
ternehmen gelten. Lassen Sie uns das deshalb nicht nur
beklagen, sondern gemeinsam ändern!
Ich möchte ein paar Zahlen nennen: Beim BAföG
machen Frauen 50 Prozent aller Geförderten aus; gegen
ein Verhältnis 50 zu 50 wird man nichts sagen können.
Beim Meister-BAföG machen Frauen 20 Prozent der
Geförderten aus; gegen das Verhältnis von 80 zu 20 muss
man etwas sagen. Diese Tatsache ist ein Skandal; man
muss an diesem Punkt ansetzen und etwas tun. Das zeich-
net diese Regierung aus, dass sie an der Stelle etwas tut,
indem durchgängig auch in vielen anderen Bereichen
Frau Bulmahn und Herr Simmert haben es ange-
sprochen Verbesserungen für Frauen erreicht werden:
mit Zuschüssen zur Kinderbetreuung, mit Unterhaltsbe-
darf für Kinder, mit der Erhöhung der Förderungshöchst-
dauer von fünf auf zehn Jahre, wenn Kinderer-
ziehungszeiten einzubeziehen sind. Natürlich bedeutet es
auch eine Verbesserung, wenn zudem Teilzeitmaßnahmen
gefördert werden; denn gesellschaftliche Realität ist im-
mer noch, dass Frauen eher in Teilzeit Aufstiegsfortbil-
dung betreiben können. Genauso ist dies der Fall, wenn
Gesundheits- und Pflegeberufe fair einbezogen werden.
Das ist also eine Chance, gesellschaftliche Gleichstel-
lung in einem zentralen Bereich von Fortbildung und
auch von wirtschaftlicher Tätigkeit zu erreichen.
Unser Appell, unsere Bitte an Wirtschaft, Handwerk,
Verbände lautet dementsprechend: Machen Sie mit und tun
auch Sie alles dafür, dass diese Aufstiegsfortbildung für
Frauen populär und damit zu einer Chance wird, und wer-
ben Sie überhaupt dafür, dass dieses Gesetz jetzt angenom-
men wird! Das können wir zusammen erreichen, das kann
das Handwerk tun, das können die Wirtschaftsverbände
tun, indem sie in Schulen und in Fachschulen gehen, indem
sie in die Handwerksversammlung gehen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Ernst Dieter Rossmann
19403
Ich möchte Herrn Lensing, auch wenn er nicht mehr
hier ist, Folgendes sagen: Wenn wir zu den Innungsober-
meistern in die Handwerksversammlung gehen, dann
hören wir häufig den folgenden Dreiklang: Mit euch
Sozialdemokraten und Grünen haben wir nicht unbedingt
viel am Hut, aber das Meister-BAföG, das ihr vorhabt, ist
exzellent. Das macht ihr wirklich gut.
Weshalb sagen sie uns das? Das sagen sie, weil sie noch
wissen, was ehrliche politische Arbeit ist, und weil sie
auch wissen, was ein Meisterstück ist.
Dieses neue Meister-BAföG ist so etwas wie ein Meis-
terstück. In der Vergangenheit wurden die Mittel nicht
abgerufen. Das Glas blieb bei Ihnen, um ein Bild zu ge-
brauchen, zu zwei Dritteln voll. Sie stellten als Anspruch
mehr bereit, als dann abfloss.
Mit dem neuen Gesetz haben wir die Chance, dass wir
mehr Menschen erreichen, dass mehr Mittel ausgegeben
werden können, dass das Glas völlig leer wird, um in dem
Bild zu bleiben. Frau Ministerin, ein leeres Glas, das wird
dann ein voller Erfolg für Sie. Herzlichen Glückwunsch
zu diesem Gesetz!
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Ilse Aigner für CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsiden-
tin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich
hier mit einer Augenbinde erscheine, dann brauchen Sie
nicht zu meinen, dass ich unter die Piraten gegangen bin.
Das ist auch keine vorzeitige Maskerade, sondern Folge
einer kurzfristigen Erkrankung. Aber man könnte meinen,
dass die Bundesregierung vielleicht unter die Piraten ge-
gangen ist, weil sie den Meisterschülern und den sonsti-
gen Aufstiegsfortbildungswilligen die Reform drei Jahre
lang vorenthalten hat.
Wenn ich Ihre Ausführungen vorhin richtig verstanden
habe, dann haben Sie nämlich schon bei Ihrer Regie-
rungsübernahme festgestellt, dass alles, was 1996 von der
CDU/CSU und von der FDP eingeführt worden ist, falsch
war. Sie hätten damals schon eigentlich alles besser ge-
wusst.
Wenn das so ist, dann hätten Sie die Reform eigentlich
auch schon zum Zeitpunkt Ihrer Regierungsübernahme
einleiten können.
Das haben Sie aber nicht gemacht.
Sie haben es auch nicht gemacht, als Sie, Frau Minis-
terin, im Jahre 1999 Ihren ersten selbst erstellten Bericht
vorgetragen haben. Sie haben es auch nicht gemacht, als
die CDU/CSU-Fraktion einen entspechenden Antrag
eingebracht hat. Sie haben es auch nicht gemacht, als die
CDU/CSU-Fraktion vor einem Jahr den Gesetzentwurf
eingebracht hat.
Sie haben das also über drei Jahre verschleppt. Deshalb ist
das ein negatives Beispiel in diesem Bereich.
Herr Rossmann, Sie haben gesagt, die Mittel seien um
100 Prozent gesteigert worden. Ich habe auch Ihre heutige
Pressemitteilung gelesen. Darin heißt es, dass der Ansatz
von 89 Millionen DM auf 113 Millionen DM gesteigert
worden sei. Ich weiß nicht, wo Sie da 100 Prozent sehen.
Von 89 Millionen DM auf 113 Millionen DM ist keine
Steigerung um 100 Prozent. Soweit beherrsche ich die
Prozentrechnung noch und Sie können das sicherlich
auch. Insofern haben Sie mit Nebelkerzen geworfen. Aber
das macht nichts, ich wollte das nur klarstellen.
Im Übrigen muss man auch immer von der Basis aus-
gehen. Herr Rossmann, als Sie die Regierung übernom-
men haben, standen im Haushalt 167 Millionen DM,
verteilt auf zwei Haushaltsjahre. Statt zu reformieren,
haben Sie die Ansätze sofort gekürzt, und zwar ordentlich.
Herr Tauss, das ist alles schön und gut. Aber warum ha-
ben Sie es dann erst jetzt geändert? Sie hätten es schon vor
zwei Jahren ändern können. Das ist genau die Messlatte:
Warum haben Sie es nicht schon eher gemacht?
Frau Ministerin, ich bedanke mich aber dafür, dass das
Gesetz jetzt, wenigstens endlich nach drei Jahren, auf den
Weg gebracht worden ist ein Jahr nachdem wir unseren
Gesetzentwurf vorgelegt haben. Ich bedanke mich auch
dafür, dass Sie viele Teile unseres Gesetzentwurfs
aufgenommen haben. Das ist ein Schritt in die richtige
Richtung. Dafür bedanke ich mich auch im Namen all der-
jenigen, die in diesem Bereich tätig sind.
Frau Ministerin, ich möchte Sie direkt ansprechen es
handelt sich um eine Bitte unserer Fraktion : Wenn man
es rückwirkend zum September einführte, dann wäre das
ein wichtiges Signal und ein tolles Zeichen für den Mit-
telstand. Wenn man es erst für die Zeit danach einführt,
dann bedeutet das zusätzliche Schwierigkeiten in der Um-
stellungsphase.
Auf die Gemeinsamkeiten möchte ich nicht weiter ein-
gehen; sie sind hier schon mehrfach angesprochen wor-
den.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Ernst Dieter Rossmann
19404
Ich möchte nun die Unterschiede deutlich darstellen. Sie
haben ausgeführt, dass bei Existenzgründungen der Er-
lassanteil des auf Prüfungs- und Lehrgangsgebühren
entfallenden Restdarlehens bei 75 Prozent liegt. Unser
Gesetzentwurf sieht einen Erlassanteil von 100 Prozent
vor. Das wäre für die Existenzgründer das richtige Zei-
chen gewesen.
Ich komme auf die Kosten des Meisterstücks zu spre-
chen. Auch wir haben ein entsprechendes Darlehen vor-
gesehen und man kann sich mit Sicherheit darüber strei-
ten, ob 3 000 DM oder 5 000 DM eine angemessene Höhe
darstellen. Wir haben 5 000 DM vorgeschlagen, weil nur
so die Kosten in vielen Bereichen wirklich gedeckt wer-
den können. Für jemanden, der in einer Ausbildung steht,
ist das eine Menge Geld. Das wäre zwar nur ein kleiner
Beitrag zur Unterstützung; aber auch das wäre ein Zei-
chen. Sie hätten da durchaus mitmachen können.
Was den Zuschuss beim Maßnahmebeitrag für Lehr-
gangs- und Prüfungsgebühren angeht, haben Sie 35 Pro-
zent vorgeschlagen, während unser Gesetzentwurf einen
Zuschuss in Höhe von 50 Prozent vorsieht. Der Unter-
schied liegt also bei 15 Prozent. Wenn Sie die Mittel so
eingesetzt hätten, wie sie im Haushaltsgesetz ursprüng-
lich gestanden haben, dann hätten Sie unserem Vorschlag
folgen können.
Im Hinblick auf den Zuschussanteil am Unterhalts-
beitrag für Alleinstehende ohne Kind nehmen Sie sogar
eine Reduzierung vor. Nach dem Istzustand liegt der Zu-
schussanteil bei 37 Prozent, während der Regierungsent-
wurf 35 Prozent vorsieht. Im Unionsentwurf sind dagegen
50 Prozent vorgesehen. Das haben wir ausgerechnet. Das
können Sie in den Ausschussberatungen ja widerlegen.
Ich komme zur Erhöhung des Unterhaltsbedarfs für
Teilnehmer und deren Ehegatten: Der Istzustand liegt bei
100 DM für Teilnehmer und bei 420 DM für Ehegatten.
Der Unionsentwurf sieht eine Anhebung des Unterhalts-
bedarfs für Teilnehmer auf 300 DM und für Ehegatten auf
440 DM vor. Da der Regierungsentwurf keine Anhebung
vorsieht, bleibt er unter dem, was wir vorschlagen.
Die Ausdehnung des Förderungszeitraums nach Been-
digung der Maßnahme und vor der Prüfung, wenn Teil-
nehmer durch Anfertigung des Meisterstücks vom Ver-
dienst abgehalten werden, ist eigentlich ein ganz
wichtiger Punkt, den Sie überhaupt nicht beachtet haben.
Viele müssen nach Abschluss der Schule erst ihr Meister-
stück erstellen, ohne in dieser Zeit gefördert zu werden.
Wir haben gefordert, dass für maximal drei Monate eine
Förderung per Darlehen erfolgt. Sie haben nichts derglei-
chen vorgesehen. Ich halte das für falsch, weil die betrof-
fenen Menschen gerade in dieser Zeit dringend eine Un-
terstützung brauchen.
Hinsichtlich der Vermögensanrechnung möchte ich
Ihnen Folgendes sagen: Obwohl Sie die Beträge aufge-
stockt haben, ist der Verwaltungsaufwand nach wie vor
riesig. Seit Ihrer Regierungsübernahme ist ein wesentli-
cher Bestandteil, nämlich die Vermögensteuer, weggefal-
len. Die eigentliche Zielgruppe, nämlich die Kinder rei-
cher Eltern, erfasst man gar nicht mehr, weil das Vermö-
gen der Eltern nicht einbezogen wird, sondern aus-
schließlich das Vermögen derjenigen, die in den entspre-
chenden Maßnahmen sind. Egal, wie man es dreht und
wendet: Es ist auf alle Fälle richtig, dass derjenige, der
Geld angespart hat ob über eine Lebensversicherung,
über einen Bausparvertrag oder wie auch immer , sein
Guthaben auflösen muss, wenn er eine gewisse Grenze
überschreitet. Andernfalls kann er an der Maßnahme
überhaupt nicht mehr teilnehmen oder keine Bezuschus-
sung erhalten. Wir meinen, dass der Verwaltungsaufwand
nicht gerechtfertigt ist. Aus diesem Grunde sollte die Ver-
mögensanrechnung komplett fallen gelassen werden.
Frau Ministerin, ich hoffe, dass in den Ausschussbera-
tungen das eine oder andere nachgebessert wird. Das ist
unser Interesse. Ich glaube, dass die Mitglieder unserer
Fraktion und die Kolleginnen und Kollegen der Regie-
rungsfraktionen ein gemeinsames Ziel haben. Ich hoffe,
dass wir uns, bayerisch gesagt, zusammenraufen. Vor al-
len Dingen diejenigen, die diese Maßnahmen betreffen,
wären Ihnen außerordentlich dankbar, wenn bestimmte
Maßnahmen rückwirkend zum 1. September in Kraft trä-
ten.
Herzlichen Dank.
Eigentlich wollte der
Kollege Rossmann jetzt eine Frage stellen. Da die Kolle-
gin Aigner jedoch weg muss, bitte ich damit einverstan-
den zu sein, dass wir nachher zwei Kurzinterventionen
durchführen.
Jetzt hat der Kollege Christian Lange, SPD-Fraktion,
das Wort.
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute
Abend ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Stern-
stunde für Meisteranwärter und für das Handwerk in
Deutschland.
Ich empfehle daher, statt den komplizierten Begriff AFBG
zu benutzen, einfach zu sagen: Wir novellieren das
Meister-BAföG.
Mit dem Meister-BAföG wollen wir erreichen, dass
wieder mehr Menschen den Mut haben, sich selbstständig
zu machen, weil sie denken: Das Handwerk hat wieder
goldenen Boden und ist daher unsere Zukunft.
Das ist der Grund, warum das Änderungsgesetz zum
Meister-BAföG heute Abend in erster Lesung hier einge-
bracht wird.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Ilse Aigner
19405
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
spreche insbesondere den Kollegen Lensing an, der leider
nicht mehr da ist: Ich wundere mich schon über die Ge-
schichtsklitterung, die Sie in Sachen Meister-BAföG hier
zum Besten geben.
Wir wollen es uns in Erinnerung rufen: Es gab einmal ein
AFG. Nach diesem AFG wurde wunderbar gefördert. Die
Förderung von Meisterinnen und Meistern gemäß diesem
AFG wurde von Ihrer Regierung ausgesetzt. Warum?
Sie wurde ausgesetzt, weil Sie den Meisterinnen und Meis-
tern kein Geld zur Verfügung stellen wollten. Dann gab es
einen Proteststurm vonseiten des Handwerks und der
Länder, insbesondere von Bayern, Baden-Württemberg
und Niedersachsen. Just diese drei Länder haben dafür ge-
sorgt, dass es ein Jahr später erstmals wieder eine neue
Förderung im Bereich des Handwerks gab.
Was hat Ihre Regierung getan? Sie hat nicht die alte
Regelung wieder eingesetzt, sondern ein AFBG einge-
führt, das sich am Studenten-BAföG orientiert. Dadurch
entstanden Probleme, deshalb müssen wir heute dieses
Gesetz novellieren.
Ich sage Ihnen: Wie die Kollegin Aigner zu sagen, wir
würden sogar noch Mittel vorenthalten, finde ich schon
mehr als dreist, da sie als CDU/CSU-Politikerin einer
Fraktion angehört, die die Mittel gestrichen hat und den
Meisterinnen und Meistern keine länger als ein Jahr dau-
ernde Förderung bewilligen wollte.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: Wenn
Sie das tun Sie immer wieder sagen, wir hätten in die-
sem Bereich gestrichen, dann geht das ebenfalls an der
Wahrheit vorbei. Die Haushaltsansätze sind in der Ver-
gangenheit nicht ausgeschöpft worden, auch nicht der aus
dem Jahre 2001, den wir um 10 Millionen auf 80 Milli-
onen DM erhöht haben. Sie wurden wegen der Probleme
im Bereich des Antragsverfahrens und aufgrund der unat-
traktiven Rahmenbedingungen nicht ausgeschöpft.
Der einzige Vorteil des AFBG im Unterschied zur vor-
herigen Förderung war: Es gibt seitdem einen Rechtsan-
spruch. Es geht an der Rechtslage vorbei, hier zu sagen,
dass Förderung vorenthalten wurde. Es wurde zwar nicht
ausgeschöpft, aber selbst wenn ausgeschöpft worden
wäre, hätte ein weiterer Bewerber die Förderung erhalten
können. Das war der einzige qualitative Sprung beim
AFBG. Deshalb ist Ihre hier ansetzende Kritik völlig an
der Wirklichkeit vorbeigegangen.
Ohne Meister-BAföG fehlt es in vielen Fällen an der
notwendigen Finanzierungsgrundlage, um den Lebensun-
terhalt und die Lehrgangsgebühren für die Meisterkurse
aufzubringen. Das Gesetz der früheren Regierung hat ge-
nau hier erhebliche Mängel gehabt. Deshalb wird die För-
derung nunmehr ausgeweitet und in wesentlichen Punk-
ten verbessert. Wir setzen damit die Erfahrungen über die
Inanspruchnahme des AFBG durch die dargestellten
strukturellen und technischen Änderungen im Gesetz um
und tragen außerdem der wachsenden Bedeutung der be-
ruflichen Weiterqualifizierung und des lebensbegleiten-
den Lernens Rechnung.
Um potenziellen Existenzgründerinnen und Existenz-
gründern den Schritt in die Selbstständigkeit zu erleichtern,
werden die Fristen für die Existenzgründung und zur Ein-
stellung von zum Beispiel zwei Beschäftigten als Vorausset-
zung für den Darlehenserlass auf zwei Jahre verlängert.
Wir wissen, dass, wer anfängt, sehr klein anfängt. Genau
weil er ganz klein anfängt, mussten wir an dieser Stelle Ihr
altes Gesetz verändern, damit es an die tatsächlichen Bedin-
gungen von Existenzgründerinnen und Existenzgründern
angepasst wird. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir den
Darlehenserlass auf 75 Prozent angehoben haben. Vorgezo-
gene Existenzgründungen aufgrund von Ausnahme-
bewilligungen entsprechend der Handwerksordnung sind
künftig beim Darlehenserlass zu berücksichtigen. Der Ver-
mögensfreibetrag wir haben es vorhin gehört wurde von
10 000 auf 70 000 DM erhöht, um für Existenzgründungen
angespartes Vermögen zu schonen. Das ist für diejenigen,
die sagen, dass sie ihres Glückes eigener Schmied sein und
in die Selbstständigkeit gehen wollen, ein pragmatischer
Ansatz. Deshalb ist er von so großer Bedeutung.
Damit setzen wir einen deutlichen Akzent bei der För-
derung von Existenzgründungen im Mittelstand und
bauen die Gleichwertigkeit von allgemeiner und berufli-
cher Weiterbildung aus. Dies schafft eine gute Basis für
die berufliche Fortentwicklung des Einzelnen und wird
auch neue Arbeits- und Ausbildungsplätze in kleinen Un-
ternehmen schaffen. Die berufliche Fortbildung ist auch
Voraussetzung für die Übernahme von qualifizierten
Tätigkeiten als Fach- und Führungskraft und zur Grün-
dung einer selbstständigen beruflichen Existenz.
Gerade in den mittelständischen Unternehmen, im Hand-
werk, ist die Qualifikation als Meister nicht nur die Basis des
eigenen Unternehmens, sie ist auch ein Qualitätssiegel. Des-
halb will ich Ihnen, Frau Ministerin, an dieser Stelle ge-
rade auch als Wirtschaftspolitiker besonders herzlich dafür
danken, dass es gelungen ist, diese Novelle auf den Weg zu
bringen und dass sie zum 1. Januar 2002 in Kraft treten wird.
Damit hält die Bundesregierung ihr Versprechen aus der
Koalitionsvereinbarung. Wir werden damit zum Motor der
Meisterausbildung in Deutschland.
Lassen Sie mich zum Schluss noch an ein Wort unse-
res Bundespräsidenten Johannes Rau anknüpfen. Er sag-
te: Existenzgründungen haben im Handwerk Tradition.
Ich sage: Jetzt haben sie auch Zukunft.
Herzlichen Dank.
Wie angekündigt, hat
jetzt der Kollege Jörg Tauss wenn er noch will das
Wort zu einer Kurzintervention.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Christian Lange
19406
Wir sind eben nicht dazu gekommen, weil die Kollegin
unter Zeitdruck war. Ich hatte den Eindruck, Sie sind da-
mit einverstanden.
Herr Kollege Tauss, bitte.
Insofern muss es sein, Frau Präsi-
dentin. Da Frau Pieper uns verlassen musste, nachdem sie
hier Darstellungen abgegeben hat, die schlicht nicht der
Wahrheit entsprachen, muss ich das hier noch richtig-
stellen. Herr Kollege Lange hat gerade schon darauf hin-
gewiesen, daher kann ich mich jetzt kurz fassen.
Ich halte es wirklich ich sage dies ausdrücklich an die
Adresse der FDP gerichtet für ein Höchstmaß an Unred-
lichkeit, wenn von Ihrer Seite verschwiegen wird
vielleicht liegt das daran, dass Frau Pieper nicht genau
weiß, was vor ihrer Zeit im Bundestag geschehen ist , dass
Sie ein Gesetz abgeschafft und ein Jahr lang überhaupt
keine Förderung gewährt haben. Daraufhin haben Sie ein
Gesetz gemacht, das so schlecht war, dass Sie hier den
ganzen Abend daran herummäkeln es war Ihr eigenes Ge-
setz , um dann diejenigen zu kritisieren, die Ihr Werk ver-
bessern. Ich halte dies, mit Verlaub, für eine Unverschämt-
heit. Berichten Sie das Frau Pieper. Ich bin von ihr nichts
anderes gewohnt und habe auch nichts anderes erwartet;
dass sie mir dies allerdings als Polemik unterstellt, ist der
Höhepunkt der Chuzpe. Diese Form des Umgangs ist inak-
zeptabel und noch nicht einmal der Liberalen würdig.
Nun hat zu einer Kurz-
intervention der Kollege Rossmann das Wort. Bitte sehr.
Ich hätte Frau
Kollegin Aigner gerne darauf hingewiesen ich tue das
jetzt für das Haus , dass jeder Kollege in der Vorlage der
Regierung nachlesen kann, dass auf Seite 4 dargelegt
wird, dass gegenwärtig 45 Millionen Euro von Bund und
Ländern gemeinsam für das Meister-BAföG zur Verfü-
gung gestellt werden. Auf Seite 5 sind für das Jahr 2002
unter Mehrkosten der Novelle 46 Millionen Euro ange-
geben. Das sind 100 Prozent Plus. Deshalb wäre der Kol-
legin Aigner zu sagen: Es schadet nicht, manches zu lesen
und dann auch Prozentrechnung zu üben.
Danke.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/7094 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? Es gibt keine anderen Vor-
schläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich , Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Punktekatalog überarbeiten Verkehrssünder-
kartei entrümpeln Bonussystem ausbauen
Drucksache 14/6963
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
FDP sieben Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einver-
standen? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Horst Friedrich für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, zu
Eingang meiner Rede eine kleine Korrektur vorzuneh-
men. Wie Sie alle beim Lesen des ersten Absatzes sicher-
lich gemerkt haben, ist das Kraftfahrt-Bundesamt natür-
lich nicht 40 Jahre, sondern 50 Jahre alt geworden. Ich
nehme an, dass Sie alle das festgestellt haben. So etwas
passiert eben.
Die FDP legt Ihnen heute Abend den ersten Teil eines
mehrstufigen Programms vor, das dazu dienen soll, die
Verkehrssicherheit in Deutschland weiter zu verbessern.
Wir wollen die Belastungsgrenze für den deutschen Au-
tofahrer nicht weiter nach oben ausdehnen; sie ist er-
reicht.
Wir wollen sicherstellen, dass der deutsche Autofahrer
nicht die Milchkuh der Nation ist und bleibt, sondern dass
das besser wird.
Wie Sie alle sicherlich gelesen haben, besteht der heute
vorliegende Antrag aus vier Teilen. Der erste und sicher-
lich wichtigste und aufwendigste Teil wenn man es mit
der Umsetzung ernst meint ist mit Sicherheit, den Ver-
warnungs-, Bußgeld- und Punktekatalog so zu entrüm-
peln und zu überarbeiten, dass die Punktewertigkeit und
die Gewichtung an der Unfallträchtigkeit des jeweiligen
Vergehens zu messen sind.
Die Punkteverteilung erfolgt derzeit nach dem Prinzip
Zufall. Es kann nicht sein, dass jemand, der einem ande-
ren aus dem Auto heraus den Vogel zeigt und dabei erwi-
scht wird, mehr Punkte in Flensburg erhält als derjenige,
der bei Rot über die Ampel fährt; denn die Unfallträchtig-
keit des zweiten Vergehens ist deutlich höher als die des
ersten. Da muss es einen Gleichklang geben. Diese Rege-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs
19407
lungen müssen endlich entrümpelt und vom Kopf auf die
Füße gestellt werden.
Wir haben im Übrigen allen im Zuge der Novellierung
des Führerscheinrechtes zugesagt, dass das Punktesystem
überarbeitet werden soll. Wir haben es damals nicht mehr
umgesetzt, weil es arbeitsmäßig nicht mehr zu schaffen
war. Aber es ist hohe Zeit, dies endlich anzugehen.
Zweitens sind wir der Meinung das ist aus unserer
Sicht genauso wichtig , dass das Bonussystem bei frei-
williger Nachschulung ausgebaut werden muss,
damit Ersttätern die Möglichkeit eingeräumt wird, bei De-
likten, die mit bis zu drei Punkten geahndet werden, den
Eintrag durch eine freiwillige Nachschulung entweder
ganz zu verhindern oder wenigstens zu reduzieren.
Drittens. Die Registrierungsfrist für Verkehrsdelikte
bis zu drei Punkten das sind dann nach einer Überarbei-
tung und Überprüfung sicherlich die weniger sicherheits-
relevanten Vergehen soll von zwei Jahren auf ein Jahr
reduziert werden, um das Mitschleppen ganzer Da-
tensätze zu verhindern. Es ist nämlich nachweisbar: Nur
300 000 der rund 7 Millionen registrierten Verkehrssün-
der in Flensburg bilden tatsächlich den Kernbereich, auf
den wir uns eigentlich konzentrieren müssten. Davon wie-
derum sind rund 73 000 tatsächlich von dem Entzug des
Führerscheins bedroht und 300 000 haben mehr als acht
Punkte. Der Datenbestand für den Rest, der nicht mehr
auffällig wird, wird sozusagen mitgeschleppt. Wir als Li-
berale sind der Meinung, dass dieses System endlich ent-
staubt und überarbeitet werden muss. Das kann es eigent-
lich nicht sein.
Als Sahnehäubchen das regt Sie sicherlich am meis-
ten auf und gewissermaßen als positives Signal sind wir
der Meinung, dass aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums
des Kraftfahrt-Bundesamtes eine Amnestie für Sünder
mit einem Punktekonto von bis zu drei Punkten eingeführt
werden sollte.
Um gleich Einwürfen der Union entgegenzutreten, die ich
gelesen habe: Amnestie ist durchaus ein probates Mittel in
der Regierungsform Demokratie und nicht nur auf König-
reiche beschränkt.
Für uns steht dieses Programm nicht alleine. Es ist, wie
gesagt, nur der erste Teil. Wir gehen weiter. Der nächste
Schritt wird unser Vorschlag sein, den Katalog der Prü-
fungstätigkeit für Prüfeinrichtungen nach § 29 StVZO,
also die Arbeitsgrundlage für TÜV, Dekra und freiberuf-
liche Ingenieure, zu überarbeiten. Dieser Paragraph
stammt aus der Zeit vor 30 Jahren. Mittlerweile hat sich
allerdings die Technik des Autos deutlich verändert. In
diesem Paragraphen ist noch enthalten, dass auch Fahr-
zeuge, die noch keine drei Jahre alt sind, auf Durchros-
tung zu überprüfen sind. Drei Jahre alte Autos haben heut-
zutage keine Rostschäden mehr. Aber der TÜV, Dekra und
andere Prüfeinrichtungen müssen es noch überprüfen,
weil es im Katalog steht.
Umgekehrt gilt: Probleme, die etwa hinsichtlich der
Stoßdämpfer bekannt sind, werden überhaupt nicht im
Prüfkatalog aufgeführt, weil es noch keine Prüfverfahren
gibt. Andererseits steht fest, dass bis zu 14 Prozent aller
Autos mit nicht ausreichend funktionierenden Stoß-
dämpfern unterwegs sind. Das ist eine der größten Ursa-
chen für Verkehrsunfälle und für mangelnde Verkehrssi-
cherheit.
Bevor Sie sich aufregen, schauen Sie sich doch lieber
einmal die vorliegende Statistik an. Dann unterhalten wir
uns in aller Ruhe.
Aus unserer Sicht soll das gesamte Paket durch eine
komplette Neubearbeitung der Fahrlehrerausbildung
abgerundet werden.
Wenn wir die Verkehrssicherheit wirklich ernst nehmen,
dann muss man von Beginn an die Grundlagen legen.
Herr Schmidt, warum regen Sie sich eigentlich so auf? Es
steht doch in Ihrem eigenen Verkehrsbericht, dass der Be-
ruf des Fahrlehrers vom Fortbildungsberuf zum Ausbil-
dungsberuf umgestellt werden soll. Sie erwähnen dies
zwar im Bericht, aber Sie handeln nicht dementspre-
chend. Das ist das eigentliche Problem.
Der Fahrlehrer braucht eine deutlich bessere Ausbildung
im pädagogischen Bereich. Nur wenn er in der Lage ist,
das, was er lernt, tatsächlich so rüberzubringen, dass da-
mit eine Verhaltensveränderung einhergeht, werden wir in
der Lage sein, bezüglich der mangelnden Verkehrssicher-
heit nicht nur die Auswirkungen, sondern endlich die Ur-
sachen zu bekämpfen. Deswegen müssen wir in diesem
Punkt nacharbeiten.
Wir werden Ihnen entsprechende Vorschläge machen.
In diesem Gesamtzusammenhang ist dieser erste
Schritt von uns zu sehen. Ich freue mich auf die sachlich
hoch stehende Diskussion im Ausschuss und gehe davon
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Horst Friedrich
19408
aus, dass es eigentlich keine Argumente gegen unseren
Antrag gibt.
Herzlichen Dank.
Nun hat die Kollegin
Rita Streb-Hesse das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Das 50-jährige Jubiläum des Kraft-
fahrt-Bundesamtes, das die Eingeweihten eigentlich als
Flensburger Verkehrssünderkartei kennen, sollte ein An-
lass sein zum Feiern für alle, die an der Verkehrssicherheit
interessiert sind und daran arbeiten, für die Verbände, die
Organisationen, die Verwaltung und auch und gerade für
uns in der Politik.
Wir wissen, dass diese Bundesbehörde entscheidend
dazu beiträgt, dass die im Straßenverkehrsrecht festgeleg-
ten Regeln zur Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer einge-
halten werden und bei einer Übertretung oder einem Ver-
stoß die angemessene Sanktion erfolgt.
Dort werden alle Verkehrsordnungswidrigkeiten und
Straftaten erfasst und je nach ihrer Schwere und Bedeu-
tung im Rahmen des 1974 eingeführten Punktesystems
bewertet.
Dass im Laufe der Jahre Kollege Friedrich, Sie sind
länger in diesem Haus als ich eine Anpassung des Ver-
warnungs-, Bußgeld- und Punktekatalogs an neue Ver-
kehrsvorschriften, Unfallhäufigkeiten und -ursachen er-
folgen musste und dies auch geschieht, zeigt die in der
letzten Legislaturperiode 1998 vorgenommene Novellie-
rung, die seit dem 1. Januar 1999 gilt.
Damals wurde das Punktesystem in § 4 des Straßenver-
kehrsgesetzes verankert und damit eine bundesweit ein-
heitliche Grundlage geschaffen.
Darüber hinaus ermöglicht ein Bonussystem den Ab-
bau von Punkten. Betroffene können bei einem Punkte-
stand von bis zu acht Punkten mit der freiwilligen Teil-
nahme an einem Aufbauseminar eine Minimierung um
vier Punkte erreichen. Bei einem Punktestand von 9 bis 13
Punkten können sie ebenfalls noch durch die Teilnahme
an einem Seminar eine Reduzierung um zwei Punkte er-
reichen. Sogar noch bei einem Punktestand von 14 Punk-
ten da sind ja schon jede Menge Verkehrsdelikte zu-
sammengekommen kann man mit der Teilnahme an ei-
nem Aufbauseminar und an einer verkehrspsychologi-
schen Einzelberatung auch Punkte tilgen.
Ich verdeutliche es für alle hier noch einmal. Es ist ganz
gut, dass man die Tabelle kennt, wenn ich auf Ihre drei
Punkte komme.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das Punktesys-
tem mit seiner Präventivwirkung hat sich bewährt und ist
breit akzeptiert. Es intendiert und bewirkt ein faires und si-
cheres Verkehrsverhalten und bietet Angebote und Hilfe-
stellung, die dies auch unterstützen. Die aktuellen Zahlen,
die ich aus dem Haus und auch aus dem Amt habe, spre-
chen für sich: Von den 50 Millionen Führerscheininhabern
sind heute lediglich 12 Prozent in Flensburg registriert und
von diesen erreichen nur 0,3 Prozent das bestätigt Ihre
Zahl 18 Punkte und mehr.
Diese positive Wirkung wird nun mit Ihrem Antrag das
überrascht uns schon alle infrage gestellt.
Doch. Denn nach Ihrer Vorstellung wollen Sie, Herr
Kollege Friedrich, eine Stärkung des Rechtsbewusstseins
im Verkehr dadurch erreichen jetzt kommt es , dass wir
eine Generalamnestie bekommen. Für die, die das nicht
gelesen haben: Das Jubiläum ist für die FDP ein Anlass,
alle Daten für im Zentralregister erfasste Verkehrssünder
mit bis zu drei Punkten zu löschen.
Sie haben eine Presseerklärung der CDU erwähnt. Ich
würde das Gleiche sagen: Generalamnestien passen zu
feudalistischen Systemen,
zu Diktaturen, zu Herrschersystemen, aber sie passen
nicht zu einer Demokratie.
Kollege Friedrich, ich denke, das ist auch nicht im Inte-
resse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort im Amt.
Es passt nicht zu einer Bundesbehörde, die rechtsstaatlich
arbeitet.
Sie wissen aber, dass das zutiefst ungerecht wäre, weil
mit diesem Ablass, wie ich ihn nenne, nur denjenigen
die Punkte gestrichen würden, die gerade im Register ein-
getragen sind. So denkt die FDP folgerichtig auch an ein
Weniger an Sanktionen bei zukünftigen Verstößen und
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Horst Friedrich
19409
fordert die Reduzierung der zweijährigen Tilgungsfrist
auf ein Jahr. Diese Halbierung würde die anerkannte
Präventivwirkung schwächen, wie zahlreiche Untersu-
chungen belegen. Zum einen bemühen sich die Betroffe-
nen, in diesem Zeitraum keine weiteren Verkehrsverstöße
zu begehen, zum anderen werden gerade Mehrfachtäter
im zweiten Jahr erneut auffällig. Dann müsste man Ihre
Statistik aber jedes Mal neu eröffnen.
Meine Damen und Herren, glauben Sie nicht, dies wäre
schon das Ende der liberalen Großzügigkeit. Freie Fahrt
für freie Bürger habe ich schon vor ein paar Jahren
gehört.
Das unterstelle ich Ihnen aber. Damit es nun überhaupt
nicht erst zu einer Eintragung ins Zentralregister kommt,
möchte die FDP auch schon hier ein Bonussystem an-
wenden. Das hätte zur Konsequenz, dass mit einer frei-
willigen Nachschulung der Verstoß gleichsam als nicht
geschehen abgehakt werden könnte.
Wunderbar, Herr Kollege, wenn man nicht wüsste und
tagtäglich erfahren müsste, dass gerade die Häufigkeit
dieser Verstöße schwächere Verkehrsteilnehmer wie Kin-
der und Fußgänger gefährdet. Zu den Vergehen, die mit
bis zu drei Punkten geahndet werden, gehören zum Bei-
spiel das Überschreiten von innerörtlichen Geschwindig-
keitsbegrenzungen mit bis zu 20 Stundenkilometern, die
Nichtbeachtung von Stoppschildern, Warnanlagen und
Zebrastreifen sowie zu dichtes Auffahren.
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie ich denke
hier insbesondere an den Kollegen Friedrich versuchen
mit populistischen Scheinbegründungen wie eingeschli-
chene Registrierungsbürokratie, Entrümpelung und
Maßstab der Unfallträchtigkeit zu bemänteln, dass Sie
und die FDP einen Teil der Verkehrsvergehen weiterhin
als Kavaliersdelikte einstufen.
Sie versuchen, dies mit Begriffen wie Verkehrssünder,
Einmaltäter oder Genusstrinker ich erinnere an die
Diskussion zur Promillegrenze auch den Verkehrsteil-
nehmern zu suggerieren.
In Fortführung dieser Einstellung müssten wir dann al-
lerdings auch für die 88 Prozent der Führerscheininhaber,
die sich gesetzeskonform verhalten, ein Bonussystem ein-
führen. Man könnte sagen: Wer fünf Jahre unfallfrei ge-
fahren ist, darf einmal bei Rot über die Ampel fahren.
Nein, das haben Sie vorgeschlagen.
Sie haben einen neuen Koalitionspartner in Hamburg, der
diese Auffassung von Rechtsstaatlichkeit sicherlich nicht
teilen wird. Aber vielleicht gelingt es Ihnen ja, Kollege
Friedrich, Herrn Schill für ein solches Bonussystem zu
gewinnen.
Auch im Verkehr gilt das Prinzip Sicherheit. Unsere
Aufgabe in diesem Hause ist es, das Verkehrsrecht so fort-
zuschreiben, dass es ein Mehr an Sicherheit und ein faires
Miteinander aller Verkehrsteilnehmer gewährleistet. Das
haben wir zu Beginn dieses Jahres mit einer weiteren No-
vellierung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Vor-
schriften getan.
Das Punktesystem wurde und wird den aktuellen Not-
wendigkeiten angepasst, ist praxistauglich und leistet ei-
nen wesentlichen Beitrag zur Verkehrssicherheit. Die
SPD-Fraktion sieht derzeit keinen Anlass für eine erneute
Überarbeitung. Vielmehr möchten sich meine Fraktion
und ich an dieser Stelle bei allen, die im Kraftfahrzeug-
Bundesamt und den ihm angeschlossenen Dienststellen
arbeiten, mit einem herzlichen Glückwunsch zum 50-
jährigen Jubiläum bedanken.
Nun hat der Kollege
Wolfgang Börnsen für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Punkte-
inhaber ebenso wie Nichtpunkteinhaber! In den Wochen
vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich laufen die
französischen Verkehrsorganisationen regelmäßig Sturm.
Und warum? In unserem charmanten Nachbarland ist es
Tradition, dass ein neuer Präsident als eine der ersten
Amtshandlungen eine Generalamnestie für Verkehrssün-
der erlässt;
schön für die Wähler, aber schlecht für die Sicherheit.
Die dortige Erfahrung zeigt: So kurz vor den Wahlen
geht mancher Franzose gern etwas mehr Risiko ein. Da
weiß man, dass mögliche Sanktionen nur von kurzer
Dauer sind. Die Unfallstatistik weist um das ganz seriös
zu sagen in dieser Zeit steil nach oben. Polizei und Po-
litessen werden offen ausgelacht.
Die Freien Demokraten und Kollege Horst Friedrich
mit ein wenig Schalk im Nacken fordern in ihrem An-
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Rita Streb-Hesse
19410
trag eine Amnestie aus Anlass des fünfzigjährigen Beste-
hens des Kraftfahrt-Bundesamtes in Flensburg. Natürlich
ist dieses Jubiläum ein Grund zum Feiern, gerade für eine
Bundesbehörde, die in meinem Wahlkreis ihren festen
Standort hat, in der tüchtige Frauen und Männer tätig sind,
eine Behörde, die es verdient, als europäische Behörde
ausgebaut zu werden.
Seit fünf Jahrzehnten sorgt das KBA in Flensburg für
mehr Sicherheit, Struktur und Überblick im Straßenver-
kehr unseres Landes. Doch ein Überblick reicht nicht aus,
wenn es um mehr Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer
geht, sondern man braucht einen Durchblick. Nicht nur
Verkehrsexperten aller Couleur fragen sich mit Sorge und
Zweifel, lieber Horst Friedrich, ob dieser Durchblick ge-
währleistet ist, wenn dieser liberale Vorschlag, bei fast
3 Millionen Autofahrern durch den Wegfall von Anfangs-
punkten für eine weiße Weste zu sorgen, in die Tat umge-
setzt wird.
Die Polizei, die ich gefragt habe, argumentiert: Frei-
briefe dieser Art schaden unserer Autorität.
Vom Verkehrssicherheitsrat wird die Auffassung vertre-
ten: Wehret den Anfängen. Wer in Flensburg mit Punkten
belastet sei, habe sie verdient, denn er habe sich in irgend-
einer Weise rücksichtslos verhalten.
Von der Verkehrswacht kommt die Warnung, keinen
Wahlgag auf Kosten von Sicherheit im Straßenverkehr zu
landen.
Als ich in meinem ersten Bundestagsjahr als Flens-
burger Abgeordneter den Vorschlag einer Bonusregelung
für Autofahrer einbrachte, erntete ich hier im Plenum
Hohn und Spott aus allen Reihen, auch und ganz beson-
ders von den Freien Demokraten.
Damals galt nur ein Grundsatz: Wer sich verkehrsgefähr-
dend verhält, der muss bestraft werden. Eine Gnade für
ein solches Vergehen darf es nicht geben.
Heute, gut zehn Jahre später, hat sich diese Auffassung
erfreulich gewandelt. Wer sich als Verkehrsteilnehmer um
vorbildliches Verhalten bemüht, der muss die Chance
haben, dass Besserung belohnt wird, doch diese Ein-
schränkung ist bisher von allen Fraktionen geteilt worden
dieser Wille muss dauerhaft sein und von eigenen
Bemühungen begleitet werden. Ein treuer Augenauf-
schlag reicht für das Aussetzen von Strafe nicht aus.
Abgesehen davon: Wir, der Gesetzgeber, würden un-
sere eigenen Auflagen, Ansprüche und Anforderungen,
die wir mit dem Punktesystem verbunden haben, unter-
laufen. Dem Ansehen des Deutschen Bundestages dient
eine Hauruckaktion dieser Art keinesfalls.
Trotzdem hat die FDP-Idee Charme. Oder um es mit
Arthur Schopenhauer zu sagen:
Der Spleen ist oft das Beste an einem Menschen, sein
kreativster Teil, mit dem große Energien freigesetzt
werden können, ein Stück Utopie zu verwirklichen.
Der Antrag sollte Anstoß sein, darüber nachzudenken,
wie sich das gängige Verfahren durch weniger bürokra-
tischen Aufwand, weniger Formalismus und weniger
Gängelung für die Verkehrsteilnehmer optimieren lässt.
Es lässt sich optimieren.
Das Punktesystem in Deutschland gilt bisher in seiner
Kombination aus Strafe und Belohnung als vorbildlich.
Wer sich nicht an die Verkehrsregeln hält und sich und an-
dere in Gefahr bringt, wird belangt. Punkte bremsen den
Übermütigen. Punkte machen Fehlverhalten deutlich. Ne-
ben den Bußgeldern bekommt der Verkehrsregelverletzer
bei Ordnungswidrigkeiten einen bis vier Punkte, bei
Straftaten fünf bis sieben Punkte. Von den 48 Millionen
Führerscheinbesitzern ist derzeit jeder neunte Fahrer in
der Sünderkartei in Flensburg registriert. 80 Prozent da-
von sind Männer, 20 Prozent davon Frauen.
Wer häufiger die Verkehrsregeln bricht, wird härter be-
straft. Wer Punkte sammelt zeigt, dass er nichts gelernt
hat. Er erhält zusätzlich Verwarnungen oder Anordnun-
gen, an Aufbauseminaren teilzunehmen. Wer stur und
völlig uneinsichtig bleibt, dem wird der Führerschein ent-
zogen. Die Aufgabe des Führerscheins erfolgt Horst
Friedrich und meine Vorrednerin haben das bereits gesagt
bei 0,3 Prozent der Autofahrer. Das ist ein Beleg dafür,
dass es gelingt, notorische Wiederholungstäter herauszu-
fischen. Diese Zahl ist darüber hinaus aber auch ein Be-
leg dafür, dass sich die überwiegende Anzahl der Auto-
fahrer in Deutschland verantwortlich im Straßenverkehr
verhält. Das gilt für die junge Generation wie für die an-
deren Generationen.
Wer einsichtig ist, wird belohnt. Die Punkte für eine
Ordnungswidrigkeit verfallen für denjenigen, der zwei
Jahre vorbildlich fährt.
Das ist pädagogisch vertretbar und psychologisch ver-
nünftig. Ein Konto von weniger als acht Punkten reduziert
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Wolfgang Börnsen
19411
man um vier Punkte, nimmt man freiwillig an Aufbau-
seminaren teil. Persönlicher Einsatz zur Besserung wird
vorausgesetzt. Das ist richtig. Die Reduzierung von Punk-
ten ist so an das positive Verhalten der Einzelnen im Ver-
kehr gebunden und nicht an das Jubiläum einer Behörde.
Ziel dieses Bonus-Malus-Systems ist die Unfallver-
meidung. Es ist nicht nur eine Teilmaßnahme, es zeigt
auch Wirkung. Was in unserer Republik jedoch fehlt das
beklagen wir noch immer , ist ein Gesamtkonzept für
mehr Sicherheit im Straßenverkehr. Das wurde von den
drei bisher tätigen sozialdemokratischen Verkehrsmi-
nistern zwar angekündigt, doch gibt es bis heute noch
keine Konkretisierung dieser Ankündigung.
Ganz anders dagegen handelt die Europäische Union.
Sie hat ein Zehnjahresprogramm aufgelegt. Sie zeigt Be-
troffenheit. Das ist praktizierte Mitverantwortung. Euro-
pas Unfallbilanz wir in Deutschland tragen dazu bei
ist bitter, bedrückend und belastend.
Man darf bei einem solchen Thema, das so eingeführt
worden ist, nicht vergessen: Täglich sterben in Europa
123 Menschen im Straßenverkehr. Verkehrsunfälle in der
EU sind, wie bei uns, die Haupttodesursache für Bürger
unter 45 Jahren. Einer von 20 Bürgern in unseren 15 Län-
dern wird jährlich durch einen Verkehrsunfall getötet oder
zu einem Invaliden. Einer von drei Bürgern muss im
Laufe seines Lebens wegen eines Autounfalls ins Kran-
kenhaus. Einer von 80 Bürgern beendet sein Leben durch
einen Unfall 40 Jahre zu früh. In der EU haben wir jähr-
lich 42 500 Verkehrstote zu beklagen. Über 3,5 Millionen
Menschen werden Jahr für Jahr Opfer von Verkehrsunfäl-
len mit schweren Schädigungen. Dies darf nicht als Preis
der Mobilität hingenommen werden.
Zwei Entwicklungen fallen in der Unfallbilanz auf
sie gelten für Europa ebenso wie für Deutschland :
Zum einen geht die Anzahl der schweren Unfälle seit über
30 Jahren deutlich, aber immer langsamer zurück. Zum
anderen ist die Zahl der Verkehrsunfälle, parallel zur stei-
genden Anzahl der Fahrzeuge, bei uns dramatisch gestie-
gen. In unserem Land registrierte man 1970 1 Million Un-
fälle, heute sind es 2,4 Millionen.
Neben dem menschlichen Leid, neben Schmerz und
persönlichem Schaden sind dafür nicht nur von den Be-
troffenen, sondern von allen Bürgern unermessliche
Kosten zu tragen. Der Europäische Verkehrssicherheits-
rat beziffert die Höhe der Unfallschäden auf jährlich
160 Milliarden Euro, also auf das Doppelte des gesamten
EU-Haushaltes.
Die EU bilanziert nicht. Doch sie handelt konsequent.
Ihre Absicht ist es, die Anzahl der Verkehrstoten bis 2010
auf 25 000 zu senken. In unserem Land gibt es noch kein
Ziel dieser Art und auch kein Sicherheitskonzept mit ei-
ner festen Ausrichtung. Die EU arbeitet aktuell an einer
Richtlinie, bei der es darum geht, wie Straßen sicherer ge-
macht werden können und insbesondere Unfallschwer-
punkte beseitigt werden können.
Bei uns stellt der Dekan der Universität Gießen,
Professor Aberle, fest, dass jährlich 80 Milliarden DM an
Steuern und Gebühren von der Straße kassiert werden,
davon aber nur 35 Milliarden DM zur Verbesserung der
Infrastruktur eingesetzt werden. Gezielte Verkehrspla-
nung kann Gefährdungen von vornherein verhindern. Der
Verkehr in Deutschland nimmt von Jahr zu Jahr zu. Die
Regierung trägt dem aber nicht Rechnung. Die Zweck-
entfremdung von 45 Milliarden DM, die nicht zur Er-
höhung der Sicherheit auf den Straßen eingesetzt werden,
ist nicht gerechtfertigt. Das darf so nicht bleiben.
Die EU setzt auf sichere Frontpartien, besonders bei
Geländewagen, um einen besseren Schutz für Fußgänger
und Radfahrer zu erreichen. Bei uns zögert und zaudert
man bei dieser Frage noch, und dies trotz der Aufforde-
rung der Kinderkommission, trotz des Appells von Ex-
perten aus allen Fraktionen und trotz des Wissens, dass
diese Kuhfänger voller Risiken sind und dass nach Auf-
fassung des Europäischen Verkehrssicherheitsrats in je-
dem Jahr 2 000 Menschenleben gerettet werden könnten
und mehr als 15 000 Unfallopfern die schweren Verlet-
zungen erspart bleiben könnten, würde man die passive
Sicherheit der Fahrzeuge querbeet endlich auch bei uns
verbessern.
Ein Zusammenstoß mit einem Geländewagen mit
Frontschutzbügeln bei 20 Kilometern pro Stunde hat die
gleiche Aufprallwirkung wie ein Zusammenstoß mit ei-
nem Fahrzeug mit einer normalen Frontpartie bei 40 Ki-
lometern pro Stunde. Das ist verheerend für Fußgänger
und tödlich für Kinder. Anstatt die Autokonzerne zu mehr
Fahrzeugsicherheit zu verpflichten und sie auf die Selbst-
bindung aufmerksam zu machen, weicht man den Hin-
weisen aus Brüssel aus, verweist darauf, dass es noch eu-
ropäischer Regelungen bedarf und macht auf nationaler
Ebene nichts. Das geht nicht. Da muss auch in Deutschland
konsequent gehandelt werden.
Die EU packt das Thema Tagesfahrtlicht an. Unserer
Auffassung nach muss dieses Thema wegen der Erfah-
rungen in Skandinavien im Zusammenhang mit der Frage
der Verkehrssicherheit stärker beachtet werden. Das gilt
auch für die intelligenten akustischen Sitzgurtwarn-
vorrichtungen. Auch sie können, wenn sie angemessen
eingebaut werden, dazu beitragen, dass Menschenleben
gerettet werden.
Wir brauchen damit nehme ich Bezug auf den Antrag
der Freien Demokraten keine Generalamnestie. Wir
brauchen eine neue Diskussion über die Verkehrssicher-
heit und die entsprechenden Gesetze, Bestimmungen und
Regelungen in Deutschland.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Wolfgang Börnsen
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Wir brauchen eine Mobilisierung des Gedankens, dass wir
alle mitverantwortlich dafür sind, zu mehr Verkehrs-
sicherheit zu kommen.
Ich bin schon der Auffassung, dass es richtig ist, die
Sache hier im Parlament quer durch alle Fraktionen anzu-
packen, solange die Regierung in dieser Frage noch im-
mer zögert. Ich könnte mir sehr wohl vorstellen, dass man,
ausgehend von der Initiative der Liberalen, zu einer na-
tionalen Verkehrssicherheitskampagne kommt, in die
alle gesellschaftlichen Gruppen eingebunden werden,
vom Kindergarten über die Schulen
die haben wir noch nicht bis hin zum Bundespräsi-
denten, und dazu beitragen, dass der Verkehrssicherheits-
rat, die Verkehrswacht, die Polizei, der ADAC und alle an-
deren, die täglich für Sicherheit im Verkehr da sind, in
ihrem Bemühen gestärkt und unterstützt werden.
Es bleibt damit komme ich zum Schluss aber leider
die Tatsache, dass Jahr für Jahr einer von 100 Mitbürgern
in Deutschland im Straßenverkehr tödlich verunglückt
bzw. zum Invaliden wird. Es bleibt auch die Tatsache,
dass dieser traurige Tatbestand nicht unabänderlich ist,
dass es an uns allen liegt, dagegen Front zu machen.
50 Jahre Kraftfahrt-Bundesamt in der schönen Fördestadt
Flensburg sollten deshalb ein Anstoß für eine nationale
Verkehrssicherheitskampagne, aber nicht Anlass dafür
sein, generell intensiver über eine weiße Weste für Auto-
fahrer nachzudenken.
Danke schön.
Nun erteile ich dem
Kollegen Albert Schmidt für die Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen das Wort.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Der Kaiser hat Geburtstag, da dürfen
alle kleinen Ganoven aus dem Knast. Nach diesem Mus-
ter ist Ihr Antrag gestrickt, den Sie uns heute hier in die-
ser Debatte zumuten.
Lieber Horst Friedrich, das ist nicht Liberalismus, das
ist Feudalismus.
Ich frage mich: Warum beantragt ihr eigentlich nicht,
dass anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Kraftfahrt-
Bundesamtes auch noch den Straftätern ihre Strafgelder
zurückgezahlt werden? Das wäre doch einmal ein Wahl-
geschenk. Ich frage mich: Warum beantragt ihr nicht, das
anlässlich des 40-jährigen Bestehens des Kaufhofes alle
Diebe freigelassen werden oder ihre Strafgelder zurück-
gezahlt bekommen? Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der FDP, so kann man mit dem ernsthaften Thema Ver-
kehrssicherheit nun beim besten Willen nicht umgehen.
Schauen wir uns doch einmal an, was in diesem Punk-
tesystem, wie wir es heute haben, wirklich geschieht,
nach welchem Prinzip es funktioniert. Es ist im Grunde
schon ausgeführt worden, ich brauche es nur noch einmal
zusammenzufassen. Das Punktesystem enthält natürlich
Sanktionen, das heißt Bewertung von Straftaten, von Ord-
nungswidrigkeiten mit bestimmten Strafpunkten. Es ent-
hält weiter einen Katalog von abgestuften Maßnahmen,
die die Verwaltungsbehörden zu treffen haben. Aber es
enthält eben nicht nur Strafen, sondern es enthält auch ein
Anreiz-, ein Bonussystem, das sehr differenziert ist und
keineswegs nur dem Erstauffälligen, sozusagen dem Erst-
täter, eine Chance gibt, sondern selbst bei hohen Punkt-
einträgen die Möglichkeit bietet, durch freiwillige Teil-
nahme an Aufbauseminaren das Punktekonto in
Flensburg zu entlasten.
Wenn ich freiwillig an einem Aufbauseminar teil-
nehme, mache ich deutlich, dass ich einsehe, einen Fehler
begangen zu haben, und nicht nur darauf warte, bis mir die
Allgemeinheit hier großzügig entgegenkommt. Ich zeige,
dass ich bereit bin, dafür auch etwas zu tun, nämlich mich
nachschulen zu lassen. Dann bekomme ich bis zu vier
Punkte erlassen, wenn mein Konto unter acht Punkten
liegt, und ich bekomme sogar, wenn ich über neun liege,
bei einer solchen freiwilligen Maßnahme immer noch
zwei Punkte abgezogen.
Wenn man 14 Punkte hat, wird man erst einmal zu ei-
nem obligatorischen Aufbauseminar verdonnert; aber
man hat durch freiwillige Teilnahme an einer psychologi-
schen Beratung immer noch die Möglichkeit, einen Ab-
zug von zwei Punkten zu bekommen.
Das ist doch ein Anreizsystem, das im Grunde genom-
men dazu führt, sein persönliches Punktekonto, wenn
man im unteren Bereich ist, auf null zu bekommen. Ich
verstehe also überhaupt nicht, was hier noch für Hand-
lungsbedarf sein soll.
Das ist sehr wohl der Fall, lieber Kollege Friedrich,
nämlich dann, wenn das Punktekonto bei vier oder weni-
ger liegt. Dann kann ich sehr wohl auf null kommen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Wolfgang Börnsen
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Die Präventivwirkung dieses Systems hat sich be-
währt das ist mehrfach angesprochen worden , es funk-
tioniert.
Nur 0,3 Prozent der betroffenen Kraftfahrerinnen und
Kraftfahrer in Deutschland fallen mit einem Punktekonto
von 18 oder mehr Punkten auf. Alle anderen liegen deut-
lich darunter.
Richtig, aber ihr tut so, als ob man etwas erfinden
müsste, was es im Grunde schon gibt.
Die Hälfte eures Antrags will Dinge, die es schon gibt,
und die andere Hälfte ist Quatsch.
Quatsch ist zum Beispiel, dass die Tilgungsfrist auf ein
Jahr verkürzt werden soll. Das heißt im Klartext, dass die
Präventivwirkung des ganzen Systems halbiert wird. Das
ist doch nicht verantwortliche Sicherheitspolitik, das kann
man doch nicht im Ernst wollen.
Ich möchte zum Schluss kommen und die Redezeit
nicht ausschöpfen, weil im Wesentlichen alles bereits ge-
sagt worden ist, nur noch nicht von allen.
Ich finde, die FDP macht mit diesem Antrag hier eine
Show, und zwar das ist jetzt nicht mehr lustig letztlich
zulasten der Verkehrssicherheit, wie es der Kollege
Börnsen zu Recht ausgeführt hat.
Sich angesichts der noch immer zu verzeichnenden
Zahlen hinter jeder Zahl verbirgt sich ein persönliches
Schicksal, ein Schicksal von Menschen, von Kindern
womöglich, die Opfer von Verkehrsunfällen wurden, Op-
fer von Ordnungswidrigkeiten, Opfer auch von Straftaten
im Straßenverkehr nicht um einen einzigen sachlichen
Grund zu bemühen, sondern leichtfertig zu sagen: Weil
das Amt 50 Jahre alt wird, gibt es eine Generalamnestie,
das ist nicht Politik, das ist Show. So muss das genannt
werden.
Abschließend nenne ich einen weiteren Grund, lieber
Kollege Horst Friedrich, aus dem ich diesem Antrag nicht
zustimmen werde: Ich selbst habe nämlich ein Konto mit
null Punkten. Und was bekomme ich zu dem famosen Ju-
biläum? Ich bin im Straßenverkehr bisher nicht auffällig
geworden und werde daher nicht belohnt. Alle anderen je-
doch, die auffällig wurden, erhalten noch eine Gratifika-
tion, nur weil das Kraftfahrt-Bundesamt 50 Jahre alt wird?
Das ist nicht Politik, sondern wirklich Quatsch.
Nun hat der Kollege
Winfried Wolf für die PDS-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Werter Kol-
lege Friedrich, ich glaube, wir können nichts dagegen ha-
ben, dass Bürokratie abgebaut und dass entrümpelt wird.
Ich glaube aber, dass von den letzten drei Rednern das
Wichtigste gesagt wurde: dass der Antrag gnadenlos
populistisch und rechtsstaatlich gesehen zumindest frag-
würdig ist.
Ich glaube, dass Ihr Wort, Herr Friedrich, wonach der
deutsche Autofahrer die Melkkuh der Nation sei, aus dem
Munde eines Abgeordneten, der 16 Jahre als nach eige-
nen Worten Melker vom Dienst regiert hat, etwas
skurril klingt.
Der ACE der Auto Club Europa hat am 5. Novem-
ber dazu ähnlich, wie sich Kollegin Rita Streb-Hesse
äußerte Folgendes geschrieben ich zitiere :
Mittels Nachschulungen besteht bereits heute die
Möglichkeit, den Punktestand in Flensburg abzutra-
gen. Dieses sinnvolle System wird mit dem FDP-An-
trag durch eine Amnestie hinfällig.
Er schreibt weiter:
Die FDP will offenbar den Kreuzungsverkehr bei
gelb geschalteter Ampel salonfähig machen.
Apropos Rechtsstaat: Man muss sich wirklich einmal
überlegen, was es bedeutet, wenn man sagt, der Anlass
sei das 50-jährige Bestehen der Flensburger Verkehrs-
sünderkartei. Ein Register gibt sich die Ehre, wegen sei-
nes 50-jährigen Bestehens eine Teillöschung vorzuneh-
men. Man fragt sich: Was ist in 60 Jahren, was in 75
Jahren?
Gibt es dann vielleicht eine Verdoppelung der Bonus-
punkte oder einen Tag mit Alkohol am Steuer straffrei, ei-
nen Wiesheu-Rabatt? Das alles sind Fragen, die sich der
ernsthafte Zuhörer hier stellt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Albert Schmidt
19414
Ich glaube, dass der Kollege Börnsen richtigerweise
auf die Situation in Frankreich und auf die nachweisbare
Statistik hingewiesen hat, wonach, da Chirac jetzt klas-
sischerweise wieder ankündigt, dass er im Falle seiner
Wahl eine Amnestie veranlassen werde, schon jetzt Ma-
cho-Gehabe an den Tag gelegt wird, die Aggressivität
steigt und der gewöhnliche sterbliche Franzose bzw. die
Französin auf der Straße die Sau rauslässt.
Ich glaube, es gäbe genügend Gründe, Kollege
Friedrich und andere, in Bezug auf das Thema Verkehr
ernsthafte Fragen aufzuwerfen, auch in dem Bereich, der
hier genannt wurde.
Gerhard Mauz, der berühmte Gerichtskorrespondent,
hat sich jüngst im Tagesspiegel mit dem Satz zu Wort
gemeldet:
Der Tod im Verkehr ist längst zum Absterben des Ge-
fühls für Recht und Unrecht geworden.
Und er stellt die Frage, wie es kommen kann, dass un-
sere Zivilgesellschaft die meisten Toten, die nicht auf
natürliche Weise aus dem Leben scheiden, im Verkehrs-
sektor hat, während es bis 1918 die durch Ertrinken zu
Tode Gekommenen waren. Bis nach dem Zweiten Welt-
krieg waren die durch Mord und Totschlag Verstorbenen
noch weit zahlreicher als die im Straßenverkehr Getöte-
ten. Jetzt haben wir trotz Rückgang der Gesamtzahl der
Getöteten sechs- bis siebenmal mehr im Verkehrssektor
als durch Mord und Totschlag Getötete.
Man könnte auch den Aspekt der beteiligten Ge-
schlechter, den Herr Börnsen genannt hat, ausbauen und
sagen: Nicht nur in der Kartei zeichnet sich ein Verhältnis
von 20 Prozent Frauen zu 80 Prozent Männern ab, son-
dern auch bei den im Straßenverkehr Getöteten waren nur
20 Prozent Frauen, die am gegnerischen Steuer saßen,
80 Prozent jedoch Männer. Das heißt: Töten im Straßen-
verkehr ist Männersache. Die Frage ist allerdings nicht:
Ist das genetisch bedingt?, sondern das hat konkret et-
was mit der Gesellschaft zu tun und könnte auch entspre-
chend geändert werden.
Ich glaube, dass Sie, Herr Kollege Friedrich, und die
anderen Kollegen der FDP ein weites Feld vor sich haben.
Über manche Unterschrift unter dem vorliegenden An-
trag auch über die von Ihnen, Herr Kollege van Essen
habe ich mich gewundert; denn ich finde diesen Antrag
wirklich unsinnig. Die Aufgabe, auf dem Gebiet des Ver-
kehrs etwas zu ändern, ist ein Feld, das beackert werden
sollte. Dem vorliegenden Antrag aber sollte man ein Be-
gräbnis erster bzw. zweiter Klasse angedeihen lassen.
Danke schön.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6963 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie ein-
verstanden? Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modula-
tion von Direktzahlungen im Rahmen der Ge-
meinsamen Agrarpolitik
Drucksache 14/7252
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden sind zu Proto-
koll gegeben1). Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/7252 an den in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Damit sind Sie
einverstanden? Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatzpunkt 7
auf:
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Adam, Wolfgang Börnsen , Gunnar
Uldall, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Abschaffung der Kapazitätsbeschränkungen
für Werften in Mecklenburg-Vorpommern
Drucksache 14/6950
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Margrit Wetzel, Dr. Ditmar Staffelt, Gerd
Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Andrea Fischer
, Werner Schulz (Leipzig), Kerstin Müller
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Faire Wettbewerbsbedingungen für die Werft-
industrie in Mecklenburg-Vorpommern
Drucksache 14/7295
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Dr. Winfried Wolf
19415
1) Anlage 3
Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden sind zu Proto-
koll gegeben1). Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/6950 und 14/7295 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Damit sind Sie einverstanden? Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b
auf:
12 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schut-
zes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie
zur Erleichterung der Überlassung der Ehe-
wohnung bei Trennung
Drucksache 14/5429
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
Drucksache 14/7279
Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Anni Brandt-Elsweier
Ronald Pofalla
Volker Beck
Rainer Funke
Sabine Jünger
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend
zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Aktionsplan der Bundesregierung zur
Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
zu dem Antrag der Abgeordneten Maria
Eichhorn, Ilse Falk, Renate Diemers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ankündigungen zur Bekämpfung von Ge-
walt gegen Frauen umsetzen
zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Bläss,
Monika Balt, Maritta Böttcher, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS
Frauenrechte sind Menschenrechte Gewalt
gegen Frauen effektiver bekämpfen
zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Entschließung des Europäischen Parlaments
zu der Mitteilung der Kommission an den
Rat und das Europäische Parlament Wei-
tere Maßnahmen zur Bekämpfung des Frau-
enhandels
KOM 726 C5-0123/1999 1999/2125
(EuB-EP 629)
Drucksachen 14/2812, 14/5093, 14/5455,
14/4170 Nr. 1.1, 14/6902
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Gradistanac
Ilse Falk
Irmingard Schewe-Gerigk
Ina Lenke
Christina Schenk
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Der Kollege Pofalla sowie Frau Bundesministerin
Dr. Herta Däubler-Gmelin haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.2)
Ich eröffne die Aussprache und erteile für die SPD-
Fraktion der Kollegin Anni Brandt-Elsweier das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wo Menschen mitei-
nander leben, da streiten sie auch. Leider geht es dabei
nicht immer gewaltfrei zu. Dabei ist das Phänomen der
Gewalt in allen gesellschaftlichen Schichten zu finden. Es
tritt sowohl bei Deutschen als auch bei Ausländern auf
und ist weder ein Unterschichtproblem noch ein spezi-
fisch großstädtisches Phänomen.
Meist sind Frauen die Hauptbetroffenen. Sie sind auch
die Leidtragenden von Prostitutionstourismus und in-
ternationalem Frauenhandel, den zu bekämpfen wir
alle aufgerufen sind. Deshalb freue ich mich, dass gestern
in den Ausschüssen der Koalitionsantrag Prävention und
Bekämpfung von Frauenhandel einstimmig verabschie-
det worden ist.
Die betroffenen Frauen, die in der Regel aus Not und
Verzweiflung zu uns kommen, werden häufig ausgebeu-
tet und von skrupellosen Geschäftemachern wie Ware ge-
handelt. Hier gilt es, die Frauen zu schützen und die Täter
zu verurteilen.
Da dies ohne die Zeugenaussagen der Opfer nicht mög-
lich ist, ist es notwendig, dass die betroffenen Frauen, die
den Mut zur Aussage haben, einen Abschiebeschutz und
unter bestimmten Voraussetzungen auch ein Bleiberecht
erhalten.
Für ausländische Frauen ist die Situation häufig dop-
pelt belastend, da sie oft einen ungeklärten Aufenthalts-
status haben. Die Novellierung des § 19 des Ausländerge-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs
19416
1) Anlage 4 2) Anlage 5
setzes, in dem das eigenständige Aufenthaltsrecht von
Ehegatten geregelt wird, stellt hier eine eindeutige Ver-
besserung dar. Die allgemeine Wartefrist wurde von vier
auf zwei Jahre herabgesetzt und die Härteklausel so um-
gestaltet, dass unerträgliche Lebenssituationen der Be-
troffenen berücksichtigt werden können. Die Zeiten, in
denen eine Ausländerin neben ihrem prügelnden Mann
ausharren musste, weil sie bei einer Trennung von ihm
eine Ausweisung zu befürchten hatte, sind also endgültig
vorbei.
Ich möchte hier auch an die weltweiten Menschen-
rechtsverletzungen gegen Frauen, wie zum Beispiel Mas-
senvergewaltigung im Kriegsfall, genitale Verstümme-
lung oder die gnadenlose Unterdrückung der Frauen
durch die Taliban in Afghanistan erinnern. Es ist deshalb
notwendig, dass in einem Zuwanderungsgesetz zukünftig
auch Opfer von nicht staatlicher Gewalt oder ge-
schlechtsspezifischer Verfolgung einen besseren Flücht-
lingsschutz erhalten. Es ist wirklich an der Zeit, die
Entschließung des Deutschen Bundestages vom 31. Ok-
tober 1990 umzusetzen.
Wir werden die weltweiten Probleme nicht einfach lö-
sen können, aber wir können jetzt dazu beitragen, dass
den Frauen, die zu uns kommen und unsere Hilfe suchen,
diese Hilfe gewährt wird.
Leider gehört auch für deutsche Frauen Gewalt noch zu
ihrem Alltag: sei es am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit
oder in der Partnerschaft. Mit dem Aktionsplan der Bun-
desregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
haben wir erstmals ein ressortübergreifendes, umfassen-
des Gesamtkonzept erfolgreich umgesetzt, um die unter-
schiedlichen Arten von Gewaltanwendung wirkungsvoll
und nachhaltig bekämpfen zu können. Dabei geht es nicht
nur um individuelle Hilfsangebote, sondern vor allem da-
rum, strukturelle Veränderungen in unserem Rechtssys-
tem, aber auch in der Gesellschaft zu erreichen.
Ich kann mit einiger Genugtuung sagen, dass wir in den
letzten drei Jahren gute Arbeit geleistet haben. Im Rah-
men der gesetzgeberischen Kompetenz haben wir zum
Beispiel durch den Täter-Opfer-Ausgleich und das Ge-
setz zur gewaltfreien Erziehung eine deutliche Verbes-
serung für Gewaltopfer erreicht.
Das Kernstück des Aktionsprogramms ist das heute zu
verabschiedende Gewaltschutzgesetz. Wir haben damit
endlich eine wirksame Norm, die den misshandelten
Frauen die Möglichkeit gibt, sich aus einer Gewaltsitua-
tion zu lösen, ohne ins Frauenhaus flüchten zu müssen.
Dieses Gesetz ist kein Vorschlaghammer, wie es der
Sachverständige Bock in der Anhörung zu bezeichnen
pflegte, sondern, verehrte Frau Justizministerin, für die
Frauen ein Meilenstein in der Rechtsgeschichte. Dafür
sind wir Ihnen dankbar.
Besonders wichtig finde ich, dass auch bei Belästi-
gungen und Nachstellungen außerhalb einer Partner-
schaft in Form des so genannten Stalking in Zukunft ge-
richtliche Schutzanordnungen die betroffenen Frauen
wirksamer schützen können. Hier wird noch zu prüfen
sein, ob die Regelung im Zivilrecht ausreicht oder even-
tuell noch eine strafrechtliche Ergänzung vorgenommen
werden muss.
Es wird für die Zukunft sicherlich noch viel zu tun blei-
ben. Aber wir haben eine Vielzahl von Maßnahmen er-
griffen, um insbesondere Frauen in Zukunft besser gegen
Gewalt und Misshandlung zu schützen. Wir sind damit
auf einem guten Weg.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ilse Falk von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Jährlich suchen circa 50 000 Frauen
mit ihren Kindern Schutz in einem der bundesweit
453 Frauenhäuser bzw. in Frauenschutzwohnungen. Die
gesellschaftlichen Kosten der Gewalt in engen sozialen
Beziehungen werden auf 29 Milliarden DM geschätzt.
Diese Zahlen sind übrigens aus dem SOLWODI-Rund-
brief aus dem April letzten Jahres.
Es ist daher keineswegs Ausdruck einer einäugigen
Perspektive, wenn wir uns heute erneut mit der Gewalt ge-
gen Frauen und Kinder beschäftigen, ohne zu verkennen,
dass es ganz sicher auch Fälle gibt, in denen umgekehrt
Männer von häuslicher Gewalt betroffen sind.
Jeder von uns kennt die schrecklichen Schilderungen
von Frauen, die oft nach jahrelangem Martyrium endlich
den Mut gefunden haben, sich aus gewalttätigen Bezie-
hungen zu befreien, und Schutz im Frauenhaus gesucht ha-
ben. Sie mussten aus der familiären Beziehung fliehen, die
eigentlich für sie und ihre Kinder ein Hort der Geborgen-
heit sein sollte, und haben sich in die Obhut von Dritten ge-
flüchtet, von denen sie Hilfe erhofften und auch bekamen.
Das Gewaltschutzgesetz, dem auch unsere Fraktion ihre
Zustimmung gibt, ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Mit dem Platzverweis setzt der Staat ein Zeichen und un-
terstreicht: Gewalttätigkeit ist keine innerfamiliäre Angele-
genheit und auch kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Anni Brandt-Elsweier
19417
Als Familienpolitikerin freut es mich, dass es in den
Beratungen noch gelungen ist, in den vorliegenden Ent-
wurf des Gesetzes explizit auch die Berücksichtigung
des Kindeswohls aufzunehmen, das heißt, nach § 2
Abs. 6 des Gewaltschutzgesetzes kann die bedrohte Per-
son die Überlassung der Wohnung auch verlangen, wenn
das Wohl von im Haushalt lebenden Kindern be-
einträchtigt ist. Kinder leiden sehr unter dem Miterleben
der Gewalt gegen die Mutter. Da häufig in der Praxis der
Gerichte und auch in der der Jugendämter so lange kein
Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen die Mutter
und einer möglichen Gefährdung des Kindes gesehen
wird, wie die Kinder nicht selbst geschlagen werden, wird
mit dieser klarstellenden Regelung anerkannt, dass das
Kindeswohl bereits durch das Leben in gewaltgeprägten
Lebensumständen beeinträchtigt wird.
So wichtig die Möglichkeit ist, gegen den Täter einen
Platzverweis auszusprechen: Sie ersetzt das Schutzange-
bot der Frauenhäuser nicht. Diese sind mit ihren Bera-
tungs- und Begleitangeboten auch künftig unverzichtbar.
Dies entspricht nicht nur den Erfahrungen in Österreich,
sondern zum Beispiel auch den Modellversuchen in ein-
zelnen Bundesländern, wie sie zum Beispiel in Baden-
Württemberg durchgeführt werden.
Uns allen ist bewusst, dass dieses Gesetz allein Gewalt
gegen Frauen nicht verhindern kann und Frauen und Kin-
der weiterhin die Hauptleidtragenden in gewaltgeprägten
Beziehungen bleiben. Aber es wird helfen, den gewalttäti-
gen Familienvätern sehr deutlich zu machen, dass sie
durch ihr eigenes Versagen auch selbst schmerzlich
spürbar zu Leidtragenden werden. So ist zu hoffen, dass
diese Maßnahmen zusätzlich eine präventive Wirkung
entfalten werden.
Zur wirksamen Bekämpfung der Gewalt gehört ein Ge-
samtkonzept, das bereits von der alten Bundesregierung
aus CDU/CSU und FDP auf den Weg gebracht wurde und
das die rot-grüne Bundesregierung aufgegriffen hat und in
ihrem Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen zusammengefasst und weiterentwickelt hat. Die-
ses Gesamtkonzept findet ausdrücklich unsere Billigung
und Unterstützung.
Wir werden wie in der Vergangenheit so auch künftig
darauf achten, dass die im Aktionsplan angekündigten
Maßnahmen auch umgesetzt werden. Zu diesem Zweck
hat meine Fraktion ihren Antrag eingebracht, der heute
mit zur Entscheidung ansteht. Wir möchten so von der
Bundesregierung erfahren, welche Pläne umgesetzt, wel-
che angestoßen wurden und welche noch verwirklicht
werden müssen. Wir wissen, dass vieles bereits auf den
Weg gebracht wurde, möchten aber auch über die weite-
ren Ergebnisse informiert werden.
Schwerpunkt im Gesamtkonzept ist für uns die Ge-
waltprävention. Dabei geht es in erster Linie nicht um Ge-
setze, sondern um die Verankerung von Werten und Hand-
lungsoptionen, die für das Zusammenleben in der
Gesellschaft wichtig sind. Hier fehlt es Eltern häufig an
Kompetenz und Konfliktlösungsstrategien. Die Stär-
kung der Elternkompetenz ist einer der drei Punkte des
Familienkonzepts der CDU/CSU. Welche Bedeutung die-
sem Vorhaben zukommt, zeigt sich immer stärker. Erzieher
und Lehrer beklagen das mangelnde Unrechtsbewusstsein
bei Anwendung von Gewalt. Kinder akzeptieren oft keine
Grenzsetzung hinsichtlich ihres eigenen Handelns und
können mit Verboten und Misserfolgen nicht umgehen.
Eltern fühlen sich überfordert, ihren Kindern Grenzen zu
setzen, weil sie selbst ohne Grenzsetzung aufgewachsen
sind. Hier müssen wir in Zukunft verstärkt und vor allem
frühzeitig Maßnahmen ergreifen.
Wir lassen uns aber nicht entmutigen. Wir werden wei-
ter kämpfen und mit kommunalen und regionalen runden
Tischen gegen Gewalt und anderen Initiativen die Pro-
bleme aufdecken und bewusst machen. Mit der heutigen
Verabschiedung des Gewaltschutzgesetzes bringen wir ei-
nen weiteren wichtigen Mosaikstein des Gesamtkonzepts
auf den Weg. So viel aus meiner Sicht zu diesem Thema.
Ich möchte noch ergänzen, dass der Kollege Pofalla
aus der Sicht des Rechtspolitikers Stellung genommen
hat. Er musste seine Rede zu Protokoll geben, weil er auf-
grund der gewaltigen Verschiebung der Tagesordnung in
große Terminkonflikte gekommen ist. Wir haben uns also
auch aus rechtspolitischer Sicht dazu geäußert. Das ist
nicht vergessen worden.
Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Irmingard
Schewe-Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen.
legen! Gewalt gegen Frauen ist keine Privatsache. Gewalt
gegen Frauen ist ein Problem der inneren Sicherheit. Das
wurde allerdings nicht immer so gesehen. Viel zu lange
waren Justiz und Polizei auf einem Auge blind und haben
entsprechende Fälle als Privatangelegenheit oder Fami-
lienstreit angesehen. Wenn sie eingegriffen haben, waren
sie nicht selten parteilich, meist zugunsten der Männer.
Dass dies heute in den meisten Fällen nicht mehr so ist,
haben wir unter anderem den Interventionsprojekten
wie zum Beispiel der Berliner Initiative Gewalt gegen
Frauen, aber auch den Frauenhäusern und Beratungs-
stellen zu verdanken, die das Thema nicht nur aus der Ta-
buzone geholt haben, sondern auch sehr konkrete Vor-
schläge zur Prävention und Hilfsangebote gemacht haben.
So war es naheliegend, dass die rot-grüne Bundesre-
gierung kurz nach Beginn ihrer Amtszeit einen Aktions-
plan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen beschlos-
sen hat, der den unterschiedlichen Formen von Gewalt
Rechnung trägt. Der gesetzgeberische Schwerpunkt liegt
dabei in dem verbesserten Schutz von Frauen im fami-
liären Nahbereich. Ein solcher Schutz tut Not, denn nach
Untersuchungen des Frauenministeriums wird geschätzt,
dass es in jeder dritten Partnerschaft zu Gewalt kommt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Ilse Falk
19418
Obwohl sich die Angst der meisten Frauen oftmals aus-
schließlich auf den öffentlichen Raum bezieht, sieht die
statistische Realität anders aus: Die meisten Gewalttaten
finden zu Hause in den Wohnungen statt, und zwar durch
den Ehemann oder den Partner. Das heißt: Die eigenen
vier Wände sind für die Frau der gefährlichste Ort.
Gewalttaten in der Familie werden häufig aus Furcht
oder Scham, aber auch aufgrund der bisherigen unklaren
rechtlichen Lage polizeilich oder gerichtlich nicht be-
kannt. Die Folge ist: Viele Täter bleiben ohne Strafe. Ich
sage hier bewußt Täter, obwohl mich in den letzten Mo-
naten viele Briefe von Männern erreicht haben, die mir
mitteilten, dass mehr Frauen ihren Männern körperliche
Gewalt antun als umgekehrt. In der Anhörung zu dem Ge-
setzentwurf hatten wir das Vergnügen, dazu das wissen-
schaftliche Pendant zu hören.
Die Männer entwickeln in diesem Zusammenhang
plötzlich ein ganz sensibles Sprachempfinden. Sie sagen,
das Gesetz sei ein reines Frauenschutzgesetz und diskri-
miniere Männer, da ja immer nur von Tätern, nicht aber
von Täterinnen die Rede sei. Sicherlich gibt es auch
Frauen, die ihren Partnern Gewalt antun. Ich finde das ge-
nauso verwerflich wie umgekehrt. Vielleicht sollten wir
deshalb im Gesetz festhalten, dass Täter im Sinne des Ge-
setzes auch Täterinnen sind.
Fakt bleibt jedoch: Bei den Erwachsenen sind fast aus-
schließlich Frauen die Opfer und Männer die Täter sexu-
eller Gewaltdelikte; soweit das Landeskriminalamt Nord-
rhein-Westfalen 1998.
Das Gesetz, das wir heute verabschieden, zeigt einen
Perspektivwechsel: Nicht mehr die Frau und ihre Kinder
müssen ihre Wohnung und die gewohnte Umgebung ver-
lassen, sondern der Gewalttäter. Er erhält die rote Karte.
Die Polizei sollte sich aber auch künftig in Fällen häusli-
cher Gewalt direkt mit den Beratungsstellen in Verbin-
dung setzen, damit die gefährdete Frau unmittelbar Un-
terstützung und Beratung erhalten kann. Durch ein
effektives polizeiliches Vorgehen in Zusammenarbeit mit
den psychosozialen Beratungsstellen kann eine gelungene
Interventionskette entstehen.
Das sollte in jedem Fall Inhalt der Ländergesetze sein.
In der Vergangenheit waren die Aktivitäten der Polizei bei
häuslicher Gewalt auf Streitschlichtung und Deeskalation
ausgerichtet. Der Fortbestand der Gewaltbeziehung zwi-
schen Täter und Opfer wurde nicht in Frage gestellt. Be-
reits mehrere Länder haben ihre Polizeigesetze dem
neuen Gewaltschutzgesetz angepasst. Ich nenne als Bei-
spiele die Länder Mecklenburg-Vorpommern und Baden-
Württemberg. In Nordrhein-Westfalen geht ein entspre-
chender Gesetzentwurf in die zweite und dritte Lesung.
Wie ich höre, will auch Bayern ab dem nächsten Jahr neue
Polizeirichtlinien für ein verändertes polizeiliches Verhal-
ten einführen.
Ja, auch Bayern. Applaus.
Insofern wird den berechtigten Anliegen des PDS-An-
trages Rechnung getragen.
Wir haben uns im Laufe der Verhandlungen dafür stark
gemacht, dass auch Kinder, wenn sie Opfer häuslicher
Gewalt werden, durch das neue Gesetz geschützt werden.
Unserer Meinung nach ist eine ausdrückliche go-order
auch in diesem Fall vorzusehen. Darum werden wir bei
der Neuregelung des Kinderrechteverbesserungsgesetzes
entsprechende Regelungen aufnehmen. Das wird sehr
bald geschehen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, im Ausschuss
haben wir dieses Gesetz einstimmig verabschiedet. Das
ist nicht nur der guten Zusammenarbeit zwischen allen
Fraktionen, sondern auch der Justizministerin und den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ihres Hauses zu ver-
danken.
Ich finde, es ist ein gutes Zeichen, dass die Opfer nun
das Recht auf ihrer Seite haben.
Vielen Dank.
Das Wort
hat nun die Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion.
Wir beraten heute über das Gesetz
zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Ge-
walttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der
Überlassung der Ehewohnung bei Trennung. Meine Da-
men und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Es
gibt Schätzungen, nach denen jede dritte Frau von häusli-
cher Gewalt betroffen ist und jede siebente in ihrem Le-
ben sexuelle Gewalt erfährt. Gerade die eigenen vier
Wände das ist hier schon gesagt worden können also
für Frauen zu einem sehr gefährlichen Ort werden.
Die Vorläufer des Gesetzentwurfs stammen aus Öster-
reich. Dort hat das Parlament bereits 1996 ein ähnliches
Gesetz verabschiedet, das Regelungen gegen Gewalt ge-
gen nahe Angehörige und zum Verlassen der gemeinsa-
men Wohnung durch den gewalttätigen Partner enthält.
Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, begrüßen das Ge-
setz und werden ihm zustimmen.
Wenn in Deutschland jährlich mehr als 40 000 Frauen
in 450 Frauenhäusern Zuflucht suchen, dann ist die Dun-
kelziffer im Bereich häuslicher Gewalt wirklich sehr
hoch; denn erst dann, wenn der Leidensdruck für die
Frauen nicht mehr auszuhalten ist, flüchten sie ins Frau-
enhaus.
Als ich mich in den 90er-Jahren in meinem Landkreis
für die Einrichtung eines Frauenhauses eingesetzt habe,
waren die Widerstände noch groß. Durch die Einrichtung
von Frauenhäusern in allen Teilen des Bundesgebiets
wurde häusliche Gewalt aus der Tabuzone herausgenom-
men.
Wenn das Gewaltschutzgesetz, das wir heute verab-
schieden wollen, in Kraft tritt, wird es zum Aufenthalt in
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Irmingard Schewe-Gerigk
19419
den Frauenhäusern noch eine Alternative geben. Das Ge-
waltschutzgesetz gibt den Opfern von häuslicher Gewalt
nämlich das Recht, im persönlichen Umfeld zu verblei-
ben. Das hilft ganz besonders den Kindern. Nach Erleb-
nissen, die sicherlich traumatisch sind, können die Kinder
nun in ihrem häuslichen Umfeld verbleiben und damit in
der Nähe zur Schule wohnen oder den nahe gelegenen
Kindergarten besuchen.
Das Gesetz stärkt Kinder, die Gewalt miterleben müs-
sen. Sie erfahren, dass Gewalt nicht siegt, sondern dass
die vermeintlich Schwache Rechte hat und diese Rechte
dann auch erhält.
Sie erleben dann, dass unser Staat sichtlich Schutz ge-
währt.
Meine Damen und Herren, über das Gewaltschutzgesetz
hinaus werden wir auf nationaler und internationaler Ebene
Gewalt gegen Menschen, insbesondere gegen Frauen und
Kinder, weiterhin ächten und aktiv an Problemlösungen
arbeiten müssen: durch Prävention, durch Kooperation
zwischen Institutionen sowie durch Vernetzung von Hilfs-
angeboten und durch andere wirksame Maßnahmen. Der
Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen ist das Versprechen der Bundesregie-
rung, hier mehr zu tun. Hier hat die Bundesregierung in
ihrem Verantwortungsbereich weiter gearbeitet.
Aber auch die FDP-Bundestagsfraktion hat sich, wie
die Kolleginnen von SPD und Grünen wissen, bei § 19
Ausländergesetz für Frauen mit Kindern für den in man-
chen Fällen so notwendigen Sozialhilfebezug eingesetzt.
Aber Sie sind sicherlich einig mit mir, dass es da noch viel
zu tun gibt. Hier sind ganz besonders die Maßnahmen ge-
gen Frauenhandel oder gegen Zwangsprostitution zu
nennen, welche meiner Meinung nach nur im Rahmen der
Europäischen Union erfolgreich sein werden. Für mich
sage ich Ihnen hier aber auch, dass ich Möglichkeiten für
eine echte, nachhaltige Lösung dieses schwierigen Pro-
blems in absehbarer Zeit kaum sehe, dass wir also auch
hier wahrscheinlich nur step by step etwas machen kön-
nen. Der eingeschlagene Weg zeigt das ja auch.
Meine Damen und Herren, Frauenrechte sind Men-
schenrechte. Alle Maßnahmen, die dies zum Ziel haben,
wird die FDP-Bundestagsfraktion unterstützen.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Petra Bläss von der PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Mit der heutigen Verabschiedung des
Gewaltschutzgesetzes wird in der Tat ein Tabu gebrochen.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass damit ein jahr-
zehntelanger Kampf für den Schutz von Frauen vor Ge-
walt ein Stück weit belohnt wird.
Dieses Gesetz ist ein wichtiger Beitrag dazu, dass ge-
sellschaftlich endlich anerkannt wird, dass Gewalt im
häuslichen Bereich einige Kolleginnen haben es in die-
ser Debatte schon gesagt nichts ist, was niemanden an-
geht. Dieses Gesetz ist ein Instrument, das Frauen in den
eigenen vier Wänden besser vor der Gewalt ihrer Partner
schützt; denn die Wegweisung aus der gemeinsamen
Wohnung kann für den Täter in der Tat spürbare Folgen
haben. Wir alle verbinden mit der Verabschiedung dieses
Gesetzes die Hoffnung, dass mehr Frauen als bisher er-
muntert werden, sich gegen Gewalttäter zur Wehr zu set-
zen.
Über die Bedeutung dieses Gesetzes herrscht Konsens
im Hohen Hause. Ich halte es für ein sehr gutes Signal,
dass das Gesetz tatsächlich parteiübergreifend verab-
schiedet werden wird. Ich möchte auch hervorheben, dass
die ressortübergreifende Zusammenarbeit mit dem
Bundesjustizministerium und mit dem Ministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend auch für andere
Gesetzgebungsverfahren wirklich beispielgebend war.
Die Anhörung hat deutlich gemacht, dass es viele juris-
tische Einzelregelungen gibt, die nicht so einfach sind. Es
kann durchaus sein, dass sich in der Praxis Änderungs-
notwendigkeiten ergeben und noch Klarstellungen vorzu-
nehmen sind. Ich möchte dies anhand von sechs Punkten
erläutern.
Erstens. Es gibt Zweifel, ob die vorsätzliche Verlet-
zung als Tatbestand ausreicht. Gerichtliche Maßnahmen
müssten schon bei einer erheblichen Beeinträchtigung der
Schutzgüter greifen.
Zweitens. Neben der physischen Gewalt muss meines
Erachtens auch psychische Gewalt als Wegweisungs-
grund ins Gesetz aufgenommen werden. Wir haben hier
schon über den erweiterten Gesundheitsbegriff diskutiert.
Drittens. Die Dreimonatsfrist für Opfer, in der sie die
Überlassung der Wohnung schriftlich verlangen können,
kann unter Umständen zu kurz sein, insbesondere bei jah-
relangen Gewaltbeziehungen. Man sollte über eine Ver-
längerung auf sechs Monate nachdenken.
Viertens. Es ist schon hervorgehoben worden, dass die
Berücksichtigung des Kindeswohls in viele Paragraphen
Einzug gehalten hat. Das wäre auch im Hinblick auf die
Verlängerung der Frist für die Wohnungsüberlassung
wichtig. Nötig ist eine entsprechende Anpassung im
Kindschaftsrecht.
Fünftens. Die Last, eine neue Wohnung zu suchen,
sollte in der Regel beim Täter liegen das ist eigentlich
Konsens gewesen ; das betrifft auch die Übernahme der
Kosten bei der Wohnungssuche und beim Umzug.
Sechstens. Verstöße gegen das Rückkehrverbot bzw.
Belästigungen durch Nachstellungen sollten ebenfalls un-
ter Strafe gestellt werden.
Mit dem Gewaltschutzgesetz sind die notwendigen zi-
vilrechtlichen Regelungen auf Bundesebene getroffen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Ina Lenke
19420
worden. Jetzt sind die Länder gefordert, und zwar auf
zwei Ebenen: zum einen hinsichtlich der Änderung der
Polizei- und Sicherungsgesetze hierbei ist es wichtig,
auf die österreichischen Erfahrungen zurückzugreifen ,
zum anderen hinsichtlich der finanziellen Ausstattung der
Frauenhäuser. Frau Kollegin Falk hat auf den hohen
Auslastungsgrad dieser Einrichtungen schon aufmerksam
gemacht. Es geht nicht um die Alternative Wegweisung
oder Frauenhaus; es muss vielmehr beides geben. Es
stimmt mich durchaus optimistisch, dass wir diesen Ge-
setzentwurf an demselben Tag verabschieden, an dem wir
das Fakultativprotokoll zum CEDAW-Abkommen end-
lich ratifizieren. Das ist ein hoffnungsvolles Signal für uns
alle.
Danke.
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalt-
taten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der
Überlassung der Ehewohnung bei Trennung, Drucksa-
chen 14/5429 und 14/7279.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Ge-
genstimmen? Enthaltungen? Das ist nicht der Fall. Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/7327. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? Der Ent-
schließungsantrag ist bei Zustimmung der PDS-Fraktion
gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt.
Tagesordnungpunkt 12 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
auf Drucksache 14/6902. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des
Aktionsplans der Bundesregierung zur Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen auf Drucksache 14/2812 und der
Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Mit-
teilung der Kommission mit dem Titel Weitere Maßnah-
men zur Bekämpfung des Frauenhandels, eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Entschließung? Wer stimmt dagegen? Wer enthält
sich? Die Entschließung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen, der FDP und der PDS gegen die Stimmen
der CDU/CSU angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der CDU/CSU auf Drucksache 14/5093 mit dem Ti-
tel Ankündigungen zur Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen umsetzen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? Gegenstimmen? Enthaltungen? Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Familie, Seni-
oren, Frauen und Jugend unter Buchstabe c seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der PDS auf Drucksache 14/5455 mit dem Titel
Frauenrechte sind Menschenrechte Gewalt gegen
Frauen effektiver bekämpfen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU gegen
die Stimmen der PDS und bei Enthaltung der FDP ange-
nommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 zur
Beseitigung jeder Form von Diskriminierung
der Frau
Drucksache 14/7009
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zu der Entschließung vom 22. Mai
1995 zur Änderung des Übereinkommens vom
18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form
von Diskriminierung der Frau
Drucksache 14/7011
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll vom
6. Oktober 1999 zum Übereinkommen vom
18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form
von Diskriminierung der Frau
Drucksache 14/7012
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Drucksache 14/7334
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Gradistanac
Renate Dietmers
Irmingard Schewe-Gerigk
Ina Lenke
Petra Bläss
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Ina Lenke
19421
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre ge-
rade, dass alle Reden zu Protokoll gegeben werden sol-
len.1) Gibt es dagegen Widerspruch? Das ist nicht der
Fall.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Dis-
kriminierung der Frau auf Drucksache 14/7009. Der Aus-
schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/7334, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? Enthaltun-
gen? Beides ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist ein-
stimmig angenommen.
Wir stimmen nun über den von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu der Entschlie-
ßung vom 22. Mai 1995 zur Änderung des Über-
einkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskrimi-
nierung der Frau auf Drucksache 14/7011 ab. Der
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/7334, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? Enthaltun-
gen? Der Gesetzentwurf ist wiederum einstimmig ange-
nommen.
Schließlich stimmen wir über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Fa-
kultativprotokoll vom 6. Oktober 1999 zum Über-
einkommen zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau auf Drucksache 14/7012 ab.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/7334, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? Enthaltun-
gen? Der Gesetzentwurf ist wiederum einstimmig ange-
nommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Sportausschusses
zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-
ten Klaus Riegert, Friedrich Bohl, Peter
Letzgus, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-
ten Dr. Klaus Kinkel, Hildebrecht Braun
, Rainer Brüderle, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Klaus
Riegert, Friedrich Bohl, Peter Letzgus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Doping im Spitzensport und Fitnessbereich
Drucksachen 14/2769, 14/2918, 14/1032, 14/1867,
14/7004
Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Freitag
Klaus Riegert
Dr. Klaus Kinkel
Auch hier sollen alle Reden zu Protokoll gegeben wer-
den2). Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportaus-
schusses auf Drucksache 14/7004. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Entschließungsantrages der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/2769 zu ihrer Großen An-
frage mit dem Titel Doping im Spitzensport und Fitness-
bereich. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der
FDP bei Enthaltung der PDS angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Entschließungsantrages der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 14/2918 zu der eben genannten Großen Anfrage.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Wer enthält sich? Die Beschlussem-
pfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthal-
tung der PDS angenommen.
Schließlich empfiehlt der Sportausschuss unter Nr. 3
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7004 die
Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen der CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Medizinprodukte-
gesetzes
Drucksache 14/6281
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit
Drucksache 14/7331
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Knoche
Auch hier sollen alle Reden zu Protokoll genommen
werden3). Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Medizinproduktegesetzes, Drucksachen 14/6281 und
14/7331. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
19422
1) Anlage 6
2) Anlage 7
3) Anlage 8
zeichen. Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig an-
genommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Ge-
genstimmen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Tierschutzbericht 2001 der Bundesregierung
Drucksache 14/5712
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marianne
Klappert, Brigitte Adler, Hermann Bachmaier,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi
Lemke, Kerstin Müller , Rezzo Schlauch
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Verbesserungen im Tierschutz national und eu-
ropaweit vorantreiben
Drucksache 14/7180
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Alle Reden sollen zu Protokoll genommen werden1).
Gibt es Widerspruch dagegen? Das ist nicht der Fall.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5712 und 14/7180 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c sowie
Zusatzpunkt 8 auf:
17.a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Dr. Hans-Peter Uhl, Dagmar Wöhrl, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Instandhaltungswerke der Deutschen Bahn AG
in Nürnberg und München erhalten
Drucksache 14/7147
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
b) Beratung des Antrags der Abgeodneten Horst
Friedrich , Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Neues Konzept für Ausbesserungswerke der
Deutsche Bahn AG vorlegen
Drucksache 14/7158
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heide
Mattischeck, Reinhard Weis , Karin
Rehbock-Zureich, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert
Schmidt , Franziska Eichstädt-Bohlig,
Helmut Wilhelm , weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Zukunft der Instandhaltungswerke der Deut-
schen Bahn AG
Drucksache 14/7179
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael
CDU/CSU
Instandhaltungswerke der Deutschen Bahn AG
in Delitzsch, Chemnitz, Opladen und Zwickau
erhalten neue Investoren für Stendal, Leipzig-
Engelsdorf und Neustrelitz
Drucksache 14/7282
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für. Angelegenheiten der neuen Länder
Auch hier sollen alle Reden zu Protokoll genommen
werden2). Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/7147, 14/7158, 14/7179 und 14/7282
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
19423
1) Anlage 9 2) Anlage 10
Gesetzes zur Änderung des Saatgutverkehrs-
gesetzes
Drucksache 14/5927
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Drucksache 14/7244
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Bleser
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich,
Ulrike Flach, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Innovationspotenzial moderner Technologien
für mittelständische Pflanzenzüchter erhalten
Drucksachen 14/2297, 14/5907
Berichterstattung:
Abgeordneter Heino Wiese
Alle Reden sollen zu Protokoll genommen werden1).
Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Saatgutverkehrsgesetzes, Drucksachen 14/5927 und
14/7244. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernäh-
rung und Landwirtschaft empfiehlt unter Nummer I sei-
ner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. Gegenstimmen? Enthaltun-
gen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen von CDU/CSU und FDP sowie bei Enthaltung
der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Ge-
genstimmen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist
mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor ange-
nommen.
Unter Nummer II seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/7244 empfiehlt der Ausschuss die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS
bei Gegenstimmen von CDU/CSU und FDP.
Tagesordnungspunkt 18 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft auf Drucksache 14/5907 zu dem Antrag
der Fraktion der FDP mit dem Titel Innovationspotenzial
moderner Technologien für mittelständische Pflanzen-
züchter erhalten. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/2297 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? Enthal-
tungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Gegenstimmen
von CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert,
Dr. Uwe-Jens Rössel, Roland Claus und der Frak-
tion der PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Ge-
setzes zur Änderung des Einkommensteuer-
gesetzes
Drucksache 14/4438
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses
Drucksache 14/5215
Berichterstattung:
Abgeordnete Heinz Seiffert
Dr. Barbara Höll
Drucksache 14/5218
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Dr.Uwe-Jens Rössel
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert,
Dr. Uwe-Jens Rössel, Roland Claus und der Frak-
tion der PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Ge-
setzes zur Änderung des Einkommensteuer-
gesetzes
Drucksache 14/4437
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses
Drucksache 14/5211
Berichterstattung:
Abgeordnete Nina Hauer
Dr. Barbara Höll
Drucksache 14/5212
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Dr.Uwe-Jens Rössel
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
19424
1) Anlage 11
Alle Reden bis auf eine sollen zu Protokoll genommen
werden1).
Die Kollegin Barbara Höll möchte Ihre Ausführungen
mündlich vortragen. Dazu gebe ich ihr jetzt das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Es ist eigentlich eine komfortable
Situation für mich: Ich kann Ihnen zwei Gesetzentwürfe
der PDS zur Änderung des Einkommensteuergesetzes
vorstellen. Sie können sich von mir überzeugen lassen
und diesen Gesetzentwürfen zustimmen.
In unserem ersten Gesetzentwurf geht es um Änderun-
gen bei den Arbeitnehmerabfindungen. Wir wollen die
Freigrenzen so hoch setzen, dass 48 000 DM bei Abfin-
dungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steuer-
frei bleiben. Bei denjenigen, die bereits das 50. Lebens-
jahr vollendet haben, wollen wir die Freigrenze auf
60 000 DM anheben.
Der zweite Gesetzentwurf beinhaltet, die zweijährige
Befristung der Absetzbarkeit der doppelten Haushalts-
führung aufzuheben.
Ich denke, unsere Gesetzentwürfe sind relativ über-
sichtlich und auch für Nichtfinanzpolitikerinnen und
Nichtfinanzpolitiker, die derzeit nicht so zahlreich im Ple-
num vertreten sind, nachzuvollziehen.
Sie können deshalb auch zustimmen.
Zum ersten Gesetzentwurf. Wir erhalten ständig Bot-
schaften aus der Wirtschaft, die belegen, dass die Arbeits-
losenzahlen nicht zurückgehen, sondern ansteigen.
Siemens plant den Abbau von 12 000 Stellen und Privat-
banken von 20 000 Stellen. Das Handwerk rechnet damit,
dass in diesem Jahr insgesamt 200 000 Stellen wegfallen.
Diese aktuellen Zahlen belegen eindeutig, dass es für
Menschen immer schwerer wird, überhaupt Arbeit zu fin-
den. Das gilt erst recht für Arbeit an ihrem Wohnort. Das
heißt, dass viele Menschen darauf angewiesen sind, flexi-
bel zu sein. Sie müssen herumfahren und schauen, wo sie
überhaupt eine Arbeit erhalten können. Sie müssen des-
halb oftmals eine Arbeit annehmen sie sind froh, wenn
sie es können eben nicht an ihrem Wohnort, sondern in
Gebieten, die weit von ihrem Wohnort entfernt sind. Der-
zeit betrifft das fast 400 000 Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer in der Bundesrepublik.
Natürlich entstehen ihnen hohe Kosten, wenn sie eine
zweite Wohnung unterhalten müssen. Diese Kosten für
eine zweite Wohnung sind steuerlich geltend zu machen,
aber leider nur für zwei Jahre. Genau darum geht es. Es
ist eine unsoziale Regelung, die erst 1996 unter der
schwarzen Regierung ins Steuerrecht eingeführt wurde.
Rot-Grün hat jetzt die Möglichkeit, diese unsoziale Rege-
lung endlich aus dem Steuerrecht zu streichen.
Wir haben darüber im Ausschuss und auch hier im Ple-
num bereits diskutiert. Oftmals wird gesagt, innerhalb
von zwei Jahren könne man den Wohnort wechseln. Das
geht eben nicht so einfach, aufgrund des föderalen Sys-
tems der Bundesrepublik. Ich selber komme aus Sachsen.
Meine beiden Kinder sind schulpflichtig, besuchen das
Gymnasium und werden ihr Abitur nach zwölf Jahren ab-
legen. Wenn ich jetzt nach Baden-Württemberg ziehen
würde, müssten sie auf einmal 13 Jahre zur Schule gehen.
Umgekehrt würde es natürlich noch schwieriger. Wenn
Sie mit schulpflichtigen Kindern aus Baden-Württemberg
nach Sachsen oder Thüringen ziehen wollen, haben Sie
ein Riesenproblem, weil dann die zwölfjährige Schul-
pflicht gar nicht zu realisieren ist. Das ist ein Beispiel
dafür, wie schwierig es ist, eine solche Umzugsmentalität
zu fördern.
Zweitens ist es auch wichtig und richtig, wenn wir ak-
zeptieren, dass Menschen in ihrem gewohnten sozialen
Umfeld bleiben wollen. Es geht oftmals um die Betreuung
und Pflege von Verwandten, der Eltern zum Beispiel. Das
ist etwas, was wir auch fördern möchten. Es geht darum
auch das fordern wir mit unserem Entwurf , dieses
Recht auch für Singles zu verwirklichen; denn auch sie
haben, auch ohne den Trauschein nachweisen zu können,
solche sozialen Beziehungen und Bindungen, die sie an
ihrem Wohnort halten.
Wir meinen, es kann nicht sein, dass durch das Steuer-
recht genau die Menschen bestraft werden, von denen oft-
mals Mobilität und Flexibilität gefordert werden. Das ist
unsozial und falsch und sollte endlich gestrichen werden.
Der zweite Punkt unseres Antrags betrifft die Abfin-
dungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Hier
muss ich leider meine Kollegen und Kolleginnen der SPD
daran erinnern, dass sie uns im Rahmen der Beratungen
zur Unternehmensteuerreform und zur Reform der Ein-
kommensteuer versprochen haben, das, was sie für Un-
ternehmer im Steuerrecht verwirklicht haben, schnellst-
möglich auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nachzuvollziehen. Wir haben nach der Unternehmensteu-
erreform die Rechtssituation, dass Unternehmerinnen und
Unternehmer beim Ausscheiden aus dem Berufsleben ei-
nen Freibetrag von 100 000 DM haben und der Betrag, der
bei der Veräußerung oder Aufgabe des Betriebes darüber
hinausgeht, nur mit dem halben Steuersatz belegt wird.
Dem kann man folgen, weil es hier auch für Unterneh-
merinnen und Unternehmer um Alterssicherung geht.
Wenn man das einmal im Leben verwirklicht, ist das
steuerrechtlich zu vertreten.
Bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind die
steuerlichen Freibeträge seit 1999 massiv nach unten ge-
gangen. Sie betragen nur noch 16 000 DM. Wenn man das
50. bzw. 55. Lebensjahr erreicht hat, steigen sie etwas
gestaffelt, aber auch nur bis auf 24 000 DM. Für Beamte
gibt es sogar noch die Regelung, dass man einen langen
Zeitraum von 15 bis 20 Jahren im Beamtendienstverhält-
nis nachweisen muss.
Es kann ja wohl nicht sein, dass Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer durch Sie wesentlich schlechter behan-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
19425
1) Anlage 12
delt werden als Unternehmer und Unternehmerinnen. Wir
wissen alle, dass es ab dem 50. Lebensjahr extrem schwie-
rig wird, wieder eine Arbeit zu erhalten. Oft sagen mir Be-
kannte, ich bin 48 Jahre alt und habe gar keine Chance,
mir etwas anderes zu suchen, obwohl ihre Arbeitsbedin-
gungen, gerade in den neuen Bundesländern, oft an Mob-
bing grenzen. Sie sagen, ich bin froh, noch hier sein zu
dürfen.
Wenn Menschen in solch einer Situation aus verschie-
densten Gründen ihre Arbeit verlieren, haben sie viel-
leicht noch das Glück, dass sie mit ihrem Arbeitgeber über
eine Abfindung verhandeln können. Vielfach heißt das
aber wie Sie wissen , dass sie auf einen Aufhebungs-
vertrag eingehen müssen, um überhaupt eine Abfindung
zu bekommen. Das bedeutet aber, dass sie drei Monate
kein Arbeitslosengeld erhalten. Diese Menschen müssten
dann zumindest die Möglichkeit haben, einen größeren
Teil der Abfindung steuerfrei behalten zu können. Das
wäre nur ein Gleichziehen, das sich sowohl steuerrecht-
lich als auch in sozialer Hinsicht begründen ließe.
Ich erwarte, dass Rot-Grün das Versprechen einlöst,
das Sie uns in den Beratungen zur Reform der Unterneh-
mensteuer gegeben haben, und hier endlich die Ungleich-
behandlung beendet wird. Insoweit müssten Sie unserem
Gesetzentwurf zustimmen können.
Ich bedanke mich.
Wir kom-
men zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Frak-
tion der PDS zur Änderung des Einkommensteuergeset-
zes auf Drucksache 14/4438. Der Finanzausschuss emp-
fiehlt auf Drucksache 14/5215, den Gesetzentwurf abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstim-
men! Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung bei Zustimmung der PDS-Fraktion und Gegen-
stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt. Damit ent-
fällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-
tung.
Tagesordnungspunkt 19 b: Wir kommen zur Abstim-
mung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur
Änderung des Einkommensteuergesetzes auf Drucksa-
che 14/4437. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksa-
che 14/5211, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. Gegenstimmen! Enthaltungen? Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Zustimmung der
PDS-Fraktion, Enthaltung der FDP-Fraktion und Gegen-
stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-
Fraktion abgelehnt. Damit entfällt auch hier nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe Zusatzpunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Auf-
hebung des Gesetzes zur Förderung der Ratio-
nalisierung im Steinkohlenbergbau
Drucksache 14/7238
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Alle Reden sollen zu Protokoll genommen werden1.
Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/7238 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderwei-
tige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes
Drucksache 14/7283
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Auch hier sollen alle Reden zu Protokoll genommen
werden2. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/7283 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderwei-
tige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 9. November 2001, 9 Uhr
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.