Protokoll:
14170

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 170

  • date_rangeDatum: 17. Mai 2001

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:13 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Eintritt des Abgeordneten Dr. Frank Schmidt (Weilburg) in den Deutschen Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16555 A Wahl des Abgeordneten Jörg van Essen als or- dentliches Mitglied in den Vermittlungsaus- schuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16555 A Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 16555 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 7 b, 14, 20 a und b, 23 a und b sowie 26 b und c . . . . 16556 B Änderung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . 16556 B Alfred Hartenbach SPD (zur GO) . . . . . . . . . 16556 D Jörg van Essen F.D.P. (zur GO) . . . . . . . . . . . 16558 C Tagesordnungspunkt 3: a) Abgabe einer Regierungserklärung: Ver- trauen und Solidarität – die Chancen der Zukunft nutzen . . . . . . . . . . . . . . 16559 C b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Regelun- gen überdie Festsetzung von Festbeträ- gen fürArzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung (Festbetrags- Anpassungsgesetz – FBAG) (Drucksache 14/6041) . . . . . . . . . . . . . 16559 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Versorgungsangleichung in der gesetzli- chen Krankenversicherung (Versorgungs- angleichungsgesetz) (Drucksache 14/6054) . . . . . . . . . . . . . . . 16559 C Ulla Schmidt, Bundesministerin BMG . . . . . 16559 D Horst Seehofer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 16564 B Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16568 B Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16569 A Dr. Dieter Thomae F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 16570 C Dr. Ruth Fuchs PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16571 D Regina Schmidt-Zadel SPD . . . . . . . . . . . . . . 16572 D Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) CDU/CSU 16574 D Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16577 C Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16579 B Hildegard Wester SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16580 B Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16581 D Eike Maria Hovermann SPD . . . . . . . . . . . . . 16582 C Dr. Carola Reimann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 16585 A Tagesordnungspunkt 4: a) Große Anfrage der Abgeordneten Günter Nooke, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Konzertierte Förderpoli- tiken für Ostdeutschland (Drucksachen 14/3546, 14/4125) . . . . 16586 B b) Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Friedrich Merz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Plenarprotokoll 14/170 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 170. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 I n h a l t : Deutschland 2015 – Aufbau Ost als Leitbild für ein modernes Deutsch- land (Drucksache 14/6038) . . . . . . . . . . . . . 16586 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresbe- richt 2000 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit (Drucksachen 14/4129, 14/4694) . . . . 16586 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Offensive für Zu- kunftsinvestitionen in neuen Bundeslän- dern starten – Abwanderung stoppen – 10-Punkte-Programm für den Aufbau Ost (Drucksache 14/6066) . . . . . . . . . . . . . . . 16586 C Günter Nooke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 16586 D Sabine Kaspereit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 16588 C Rolf Schwanitz, Staatsminister BK . . . . . . . . 16590 A Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 16593 A Rolf Schwanitz, Staatsminister BK . . . . . . . . 16593 C Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16594 A Rolf Schwanitz, Staatsminister BK . . . . . . . . 16594 C Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16595 A Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16597 C Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16600 C Günter Nooke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 16601 A Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16601 D Roland Claus PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16602 B Siegfried Scheffler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 16604 B Katherina Reiche CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 16605 D Dr. Peter Eckardt SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16607 B Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 16608 C Dr. Michael Luther CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 16609 B Christian Müller (Zittau) SPD . . . . . . . . . . . . 16611 A Tagesordnungspunkt 26: Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer „Stif- tung Jüdisches Museum Berlin“ (Drucksache 14/6028) . . . . . . . . . . . . . 16612 C d) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) (Drucksache 14/5943) . . . . . . . . . . . . . 16612 C e) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung gemein- schaftsrechtlicher Vorschriften über die Zustellung gerichtlicher und außerge- richtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (EG-Zustellungsdurchführungsgesetz – ZustDG) (Drucksache 14/5910) . . . . . . . . . . . . . 16612 C f) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Haager Überein- kommen vom 29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusam- menarbeit auf dem Gebiet der inter- nationalen Adoption (Drucksache 14/5437) . . . . . . . . . . . . . 16612 D g) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Regelung von Rechtsfragen auf dem Gebiet der internationalen Adoption und zur Weiterentwicklung des Adoptionsvermittlungsrechts (Drucksache 14/6011) . . . . . . . . . . . . . 16612 D h) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zu dem Europäischen Überein- kommen vom 25. Januar 1996 über die Ausübung von Kinderrechten (Drucksache 14/5438) . . . . . . . . . . . . . 16612 D i) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Wohnungs- baurechts (Drucksache 14/5911) . . . . . . . . . . . . . 16613 A j) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Statis- tik im Handel und Gastgewerbe (Drucksache 14/5813) . . . . . . . . . . . . . 16613 A k) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen von 1995 und 1998 des Basler Übereinkommens vom 22. März 1989 über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001II gefährlicher Abfälle und ihrer Entsor- gung (Gesetz zu Änderungen des Basler Übereinkommens) (Drucksache 14/5854) . . . . . . . . . . . . 16613 A l) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung rei- serechtlicher Vorschriften (Drucksache 14/5944) . . . . . . . . . . . . 16613 B m) Antrag der Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Monika Balt, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der PDS: Rechtsanspruch auf Sozialtarif für Sprachtelefondienst (Drucksache 14/5831) . . . . . . . . . . . . 16613 B n) Antrag des Bundesministeriums der Fi- nanzen: Entlastung der Bundesregie- rung für das Haushaltsjahr 2000 – Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes (Jahresrechnung 2000) – (Drucksache 14/5858) . . . . . . . . . . . . 16613 B o) Antrag der Präsidentin des Bundes- rechnungshofes: Rechnung des Bun- desrechnungshofes für das Haus- haltsjahr 2000 – Einzelplan 20 – (Drucksache 14/5888) . . . . . . . . . . . . 16613 C p) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung gemäß § 56 a der Geschäftsord- nung: Technikfolgenabschätzung hier: TA-Projekt „Brennstoffzellen-Techno- logie“ (Drucksache 14/5054) . . . . . . . . . . . . 16613 C Tagesordnungspunkt 27: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung des Wehrdisziplinar- rechts und zur Änderung anderer Vorschriften (2. WehrDiszNOG) (Drucksachen 14/4660, 14/6026) . . . . 16613 D b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Umstellung auf Euro-Beträge im Lastenausgleich und zur Anpassung der LAG-Vorschrif- ten (LAG-Euro-Umstellungs- und Anpassungsgesetz – LAG-EUAnpG) (Drucksachen 14/5440, 145850) . . . . 16614 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Vor- schlag für eine Empfehlung des Euro- päischen Parlaments und des Rates zur Umsetzung des integrierten Küs- tenzonenmanagements in Europa (Drucksachen 14/5172 Nr. 2.73, 14/5632) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16614 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu- nität und Geschäftsordnung zu dem An- trag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt, Hildebrecht Braun (Augs- burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Änderung derAn- lagen 1 und 3 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (Drucksachen 14/2365, 14/5791) . . . . 16614 C e) Zweite Beschlussempfehlung und zweiter Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu den Un- terrichtungen durch die Bundesregie- rung – Vorschlag für einen Beschluss des Rates über ein Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Bekämp- fung von Diskriminierungen für den Zeitraum 2001 bis 2006 – Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung eines allge- meinen Rahmens für die Ver- wirklichung der Gleichbehand- lung in Beschäftigung und Beruf (Drucksachen 14/2952 Nr. 2.9, 14/4146 Nr. 2.19, 14/3738, 14/5837) . . . . . . . . 16614 D f) – i) Beschlussempfehlung des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 266, 267, 268, 269 zu Petitionen (Drucksachen 14/5977, 14/5978, 14/5979, 14/5980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16615 A Zusatztagesordnungspunkt 4: Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.: Initiative des Europäischen Parlaments zur Buchpreisbindung in Europa unter- stützen (Drucksache 14/6056) . . . . . . . . . . . . 16615 B Dr. Heinrich Fink PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16615 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 III b) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 1 BvQ 23/01 (Drucksache 14/6070) . . . . . . . . . . . . . 16615 D Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde betr. Haltung derBundes- regierung zur Reform der Erbschafts- besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16616 A Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16616 A Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16617 A Gerda Hasselfeldt CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 16617 C Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16618 B Gerhard Schüßler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 16619 C Lothar Binding (Heidelberg) SPD . . . . . . . . . 16620 C Peter Götz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16621 C Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16622 D Pia Maier PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16624 A Simone Violka SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16624 D Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16626 A Lydia Westrich SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16627 A Klaus-Peter Willsch CDU/CSU . . . . . . . . . . . 16628 A Ingrid Arndt-Brauer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 16629 B Zusatztagesordnungspunkt 12: Zweite und dritte Beratung der von der Bundesregierung und von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses (Drucksachen 14/4733, 14/3750, 14/6036) 16630 A Hermann Bachmaier SPD . . . . . . . . . . . . . . . 16630 B Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 16631 C Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16634 D Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16636 D Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 16638 C Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16640 A Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . 16642 A Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16644 B Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU . . . . . . . . . . . 16646 D Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 16647 D Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16648 B Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16648 D Tagesordnungspunkt 5: Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski (Reckling- hausen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Islam in Deutsch- land (Drucksachen 14/2301, 14/4530) . . . . . . . 16650 A Ruprecht Polenz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 16650 A Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 16652 B Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. . . . . . . . . . 16654 C Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16656 A Eckart von Klaeden CDU/CSU . . . . . . . . 16657 A Dr. Heinrich Fink PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16658 C Eckhardt Barthel (Berlin) SPD . . . . . . . . . . . . 16659 D Beatrix Philipp CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 16662 C Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dietmar Nietan, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- neten Winfried Hermann, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Nach- haltigkeitsstrategie der Europäischen Union (Drucksache 14/6057) . . . . . . . . . . . . . . . 16665 B Ursula Burchardt SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16665 C Dr. Peter Paziorek CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 16666 D Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16668 C Birgit Homburger F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 16670 B Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 16671 D Hans Martin Bury, Staatsminister BK . . . . . . 16672 C Arnold Vaatz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 16673 C Dietmar Nietan SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16674 D Tagesordnungspunkt 7: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt, Hildebrecht Braun (Augsburg), weite- ren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des deutschen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001IV Rabattrechts an die EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (RabattrechtsanpassungsG) (Drucksachen 14/4423, 14/6060) . . . . 16676 A Gudrun Kopp F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16676 B Dirk Manzewski SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16677 C Gudrun Kopp F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 16678 B Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 16679 C Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16681 C Rolf Kutzmutz PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16682 A Birgit Roth (Speyer) SPD . . . . . . . . . . . . . . . 16683 A Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Weißbuch zur Umwelthaftung (Drucksachen 14/3341 Nr. 2.17, 14/4115) 16683 D Tagesordnungspunkt 9: a) Antrag der Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Konzept der regionalen und sektoralen Schwerpunktsetzung in derdeutschen Entwicklungszusam- menarbeit umgehend korrigieren (Drucksache 14/4928) . . . . . . . . . . . . 16684 A b) Antrag der Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Perus Rückkehr zur De- mokratie unterstützen (Drucksache 14/4527) . . . . . . . . . . . . 16684 B Tagesordnungspunkt 10: a) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie der Abge- ordneten Volker Beck (Köln), Grietje Bettin, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes überArbeitnehmererfindungen (Drucksache 14/5975) . . . . . . . . . . . . 16684 C b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des Patentwesens an den Hochschulen (Drucksache 14/5939) . . . . . . . . . . . . 16684 C Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der Frak- tion der CDU/CSU: Importverbot für qualgezüchtete Tiere (Drucksachen 14/3505, 14/6058) . . . . . . . 16684 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Marianne Klappert, Heino Wiese, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD, der Abge- ordneten Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Haltungs- und Ausstellungsverbot für qualgezüchtete Tiere (Drucksache 14/6052) . . . . . . . . . . . . . . . 16684 D Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.: Für die demo- kratische Erneuerung Pakistans (Drucksache 14/5684) . . . . . . . . . . . . . . . 16685 B Dr. Christian Ruck CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 16685 B Johannes Pflug SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16686 C Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 16687 B Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16688 A Tagesordnungspunkt 13: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christine Ostrowski, Heidemarie Ehlert, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion der PDS einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagenge- setzes (EigZulG) (Drucksachen 14/4351, 14/5349) . . . . 16689 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der PDS: UMTS- Milliarden für Entlastung von Alt- schulden auf dauerhaft leer stehen- den Wohnraum (Drucksachen 14/4350, 14/4693) . . . . 16689 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 V c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen zu dem Antrag der Abge- ordneten Christine Ostrowski, Gerhard Jüttemann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Sofortmaßnah- men zur Sicherung der Existenz von Wohnungsgenossenschaften aus Treu- handliegenschaftsbeständen in den neuen Bundesländern (Drucksachen 14/4011, 14/5556) . . . . 16689 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Ostrowski, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der PDS: Herab- setzung der Grundsteuer bei struktu- rellem Mietwohnungsleerstand (Drucksachen 14/4010, 14/5347) . . . . 16689 B e) Antrag der Abgeordneten Christine Ostrowski, Sabine Jünger, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der PDS: Dranske retten – der Gemeinde eine Perspektive geben (Drucksache 14/5806) . . . . . . . . . . . . . 16689 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Christine Ostrowski, Gerhard Jüttemann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Maßnahme-Programm zum wohnungs- wirtschaftlichen Strukturwandel in den neuen Ländern vorlegen (Drucksache 14/6051) . . . . . . . . . . . . . . . 16689 C Christine Ostrowski PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 16689 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16692 C Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16692 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 16693 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu der Unterrichtung: Weißbuch zur Umwelthaftung (Tagesordnungspunkt 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16693 D Petra Bierwirth SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16693 D Marie-Luise Dött CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 16694 D Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16696 A Marita Sehn F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16696 D Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . . 16697 C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Konzept der regionalen und sektoralen Schwerpunktsetzung in der deutschen Ent- wicklungszusammenarbeit umgehend kor- rigieren – Perus Rückkehr zur Demokratie unterstüt- zen (Tagesordnungspunkt 9 a und b) . . . . . . . . . . . 16698 A Adelheid Tröscher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 16698 A Karin Kortmann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16698 D Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU . . . . . . . . . 16699 B Joachim Günther (Plauen) F.D.P. . . . . . . . . . 16701 A Carsten Hübner PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16701 C Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ 16702 B Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe: – Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Arbeitnehmererfindungen – Gesetz zur Förderung des Patentwesens an den Hochschulen (Tagesordnungspunkt 10 a und b) . . . . . . . . . . 16702 D Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16703 A Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . 16704 D Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16705 D Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16706 C Maritta Böttcher PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16706 D Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 16708 B Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Importverbot für qualge- züchtete Tiere – des Antrages: Haltungs- und Ausstellungs- verbot für qualgezüchtete Tiere (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord- nungspunkt 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16709 A Heino Wiese (Hannover) SPD . . . . . . . . . . . . 16709 B Heinrich-Wilhelm Ronsöhr CDU/CSU . . . . . 16709 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001VI Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16710 D Gudrun Kopp F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16711 B Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . . 16711 D Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrages: Für die demokratische Erneue- rung Pakistans (Tagesordnungspunkt 12) . . . . 16712 B Johannes Pflug SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16712 B Dr. Werner Hoyer F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 16713 D Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes (EigZulG) – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: UMTS-Milliarden für Ent- lastung von Altschulden auf dauerhaft leer stehenden Wohnraum – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Sofortmaßnahmen zur Si- cherung der Existenz von Wohnungsgenos- senschaften aus Treuhandliegenschaftsbe- ständen in den neuen Bundesländern – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Herabsetzung der Grund- steuer bei strukturellem Mietwohnungs- leerstand – des Antrages: Dranske retten – der Ge- meinde eine Perspektive geben – des Antrages: Maßnahme-Programm zum wohnungswirtschaftlichen Strukturwandel in den neuen Ländern vorlegen (Tagesordnungspunkt 13 a bis e und Zusatz- tagesordnungspunkt 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16714 C Dr. Peter Danckert SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 16714 D Norbert Otto (Erfurt) CDU/CSU . . . . . . . . . . 16716 C Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16717 B Dr. Karlheinz Guttmacher F.D.P. . . . . . . . . . 16718 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 VII Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001
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    (C)(A) Berichtigung 169. Sitzung, Seite 16517 (D), zweiter Absatz, der dritte Satz ist wie folgt zu lesen: „Ich glaube, was wir getan haben, nämlich bei allen Gelegenheiten dafür zu werben, dass die Sicherheitsbedenken berechtigt sind, – gerade was die Aus- fälle im Turbinenbereich und bei den druckführenden Leitungen betrifft –, ist dem Ernst der Sache ebenso angemessen wie die Verhandlungen, die die Bun- desregierung geführt hat.“ Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16693 (C) (D) (A) (B) Behrendt, Wolfgang SPD 17.05.2001** Bodewig, Kurt SPD 17.05.2001 Bohl, Friedrich CDU/CSU 17.05.2001 Brudlewsky, Monika CDU/CSU 17.05.2001 Catenhusen, SPD 17.05.2001 Wolf-Michael Friedhoff, Paul K. F.D.P. 17.05.2001 Friedrich (Altenburg), SPD 17.05.2001 Peter Goldmann, F.D.P. 17.05.2001 Hans-Michael Graf (Rosenheim), SPD 17.05.2001 Angelika Haupt, Klaus F.D.P. 17.05.2001 Hornung, Siegfried CDU/CSU 17.05.2001** Kalb, Bartholomäus CDU/CSU 17.05.2001 Klappert, Marianne SPD 17.05.2001 von Larcher, Detlev SPD 17.05.2001 Leutheusser- F.D.P. 17.05.2001 Schnarrenberger, Sabine Lintner, Eduard CDU/CSU 17.05.2001** Lippmann, Heidi PDS 17.05.2001 Lörcher, Christa SPD 17.05.2001* Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 17.05.2001 Erich Mogg, Ursula SPD 17.05.2001 Müller (Berlin), PDS 17.05.2001** Manfred Neumann (Gotha), SPD 17.05.2001** Gerhard Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 17.05.2001 DIE GRÜNEN Ostertag, Adolf SPD 17.05.2001 Dr. Rössel, Uwe-Jens PDS 17.05.2001 Rübenkönig, Gerhard SPD 17.05.2001 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 17.05.2001 Hans Peter Schultz (Everswinkel), SPD 17.05.2001 Reinhard Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 17.05.2001 Christian Dr. Spielmann, Margrit SPD 17.05.2001 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 17.05.2001 Dr. Freiherr von CDU/CSU 17.05.2001 Stetten, Wolfgang Wiefelspütz, Dieter SPD 17.05.2001 Wiesehügel, Klaus SPD 17.05.2001 Wilz, Bernd CDU/CSU 17.05.2001 Wistuba, Engelbert SPD 17.05.2001 Wohlleben, Verena SPD 17.05.2001 Zierer, Benno CDU/CSU 17.05.2001** Zöller, Wolfgang CDU/CSU 17.05.2001 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu der Unterrichtung: Weißbuch zur Umwelthaftung (Tagesordnungspunkt 8) Petra Bierwirth (SPD): Erinnern wir uns an die Bil- der, die immer wieder durch die Medien gehen, wenn Tan- ker wie kürzlich in der Ostsee zerbrechen. Wie können Verantwortungslosigkeit und Hilflosigkeit besser doku- mentiert werden? Wie kann deutlicher werden, dass ge- genwärtig die Umweltschädigung zulasten aller geht, Ge- winnstreben aber Privatsache ist, wenn engagierte und verantwortungsbewusste Bürger mit der Mistforke in der Hand die Küsten von den Ölplacken befreien und die dem Tod geweihten Vögel reinigen oder diese per Gnaden- schuss von ihrem Leiden erlösen? Ich finde, dass es an der Zeit ist, die Praxis zu beenden, die Beseitigung der Schäden am Allgemeingut Umwelt auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Wir müssen hier zu entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht umfassenden Regelungen kommen. Deshalb bin ich für die Initiative der EU-Kommission auf diesem Gebiet dankbar. Nach einer siebenjährigen Vorlaufzeit hat im Fe- bruar des vergangenen Jahres die EU-Kommission das Weißbuch zur Umwelthaftung vorgelegt. Die Mitglied- staaten der Union waren aufgefordert, bis zum Juli eine Stellungnahme abzugeben. Der federführende Umweltausschuss begrüßt das mit dem Weißbuch verfolgte Ziel, die Verursacher von Um- weltschäden durch einheitliche, gemeinschaftsweit gel- tende Regelungen zur Verantwortung zu ziehen. Die mit- beratenden Ausschüsse des Deutschen Bundestages haben die Kenntnisnahme der Vorlage empfohlen. Zum Weißbuch hat der Umweltausschuss am 5. Juli des ver- gangenen Jahres einen Entschließungsantrag vorgelegt. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt die Annahme der Entschließung. Ich möchte gern die Entschließung und den Zusam- menhang erläutern. Die EU-Kommission vertritt die An- sicht, dass das gemeinschaftliche Umweltrecht zum bes- seren Schutz der Umwelt durch Haftungsregeln ergänzt werden muss. Mit dem Weißbuch zur Umwelthaftung werden verschiedene Möglichkeiten für Gemeinschafts- maßnahmen analysiert. Das Weißbuch kommt zu dem Schluss, dass die geeignetste Lösung eine Rahmenrichtli- nie der Gemeinschaft wäre. Bei einheitlichen Wettbe- werbsbedingungen würden so die Möglichkeiten geschaf- fen, den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu stärken. Dieser Ansicht hat sich der Umweltausschuss des Deutschen Bundestages mehrheitlich angeschlossen. Wir sind mit den Autoren des Weißbuches der Überzeugung, dass ein EU-weites Umwelthaftungssystem das richtige Instrument ist, zur notwendigen Aufwertung des Verursa- cher- und des Vorsorgeprinzips zu gelangen. Bislang exis- tiert ein solches Bewusstsein in Fragen der menschlichen Gesundheit und in Fragen des Eigentums. Ich halte es für höchste Zeit, das Verursacher- und das Vorsorgeprinzip auch hinsichtlich der Umwelt im Bewusstsein zu veran- kern. Denn mit der Haftung für eine Schädigung der Um- welt werden wir einen maßgeblichen Beitrag leisten, dass die Akteure der Wirtschaft mögliche nachteilige Auswir- kungen ihrer Aktivitäten auf die Umwelt erkennen und sich verantwortlich fühlen. Es geht letztlich darum, das Prinzip der Eigenverant- wortung auch beim Schutz der Umwelt in das Bewusst- sein der Wirtschaftsakteure zu rücken. Gegenwärtig wird lediglich die Haftung der Wirtschaftsakteure geregelt, wenn eine persönliche Betroffenheit vorliegt. Gibt es kei- nen individuell Geschädigten, wird also „nur“ das Allge- meingut Umwelt geschädigt, wird der Schaden auf die Allgemeinheit abgewälzt und im Übrigen auf die Selbst- heilungskraft der Natur vertraut. In Teilbereichen wie bei der Anlagen-Gefährdungshaf- tung gelten bei uns in Deutschland bereits hohe Standards. Darüber freue ich mich, denn bekanntermaßen ist Deutschland als Folge einer verfehlten Umweltpolitik der Vorgängerregierung nicht mehr europäische Spitze bei Maßnahmen zum Schutz der Umwelt. Dorthin wollen wir erst wieder zurück. Wir wollen selbstverständlich vermei- den, dass eine EG-Richtlinie hinter erreichte Standards zurückfällt. Deshalb enthält unsere Entschließung aus- drücklich die Aufforderung, bei der Erarbeitung einer Richtlinie die deutschen Standards zu berücksichtigen. Angesichts bestehender Regelungen muss sich die Richt- linie an den Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips orientieren. Das Weißbuch ist eine gute Diskussionsgrundlage, um verbindliche Vorgaben für ein gemeinschaftliches Haf- tungsregime zu entwickeln. In dieser Diskussion sind Prä- zisierungen und Definitionen notwendig. In unserer Ent- schließung haben wir die entscheidenden Punkte benannt: Gemäß Weißbuch soll sich die Haftung auf Natura-2000- Gebiete beschränken. Regelungsbedarf besteht daher da- hin gehend, was bei entsprechenden Schäden außerhalb solcher Gebiete passieren soll. Zudem müssen der Begriff der biologischen Vielfalt und die Frage der monetären Be- wertung der biologischen Vielfalt definiert werden. Schließlich haben wir die Bundesregierung gebeten, uns über ihre Stellungnahme zum Weißbuch und den Fortgang der Verhandlungen zu berichten. Ich möchte die Bundesregierung daran erinnern, dem Parlament die ent- sprechenden Berichte zuzuleiten. Auch im Interesse des Wirtschaftsstandortes Deutsch- land muss eine gemeinschaftliche Regelung zur Haftung bei Schädigung der Umwelt kommen. Denn die Verein- heitlichung wird zu gleichen Wettbewerbsbedingungen führen und damit die Wettbewerbsfähigkeit der teilweise schärferen, nationalen Regelungen unterliegenden deut- schen Unternehmen verbessern. Wir warten daher mit In- teresse auf die von der Umweltkommissarin für Ende dieses Jahres angekündigte Vorlage eines Richtlinienent- wurfes. Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Derjenige, der Um- weltschäden verursacht, soll diese auch wieder gutma- chen! Das ist, in einfachen Worten ausgedrückt, das umweltrechtliche Verursacherprinzip. Dahinter steht der Gedanke, dass nicht der Steuerzahler für entstandene Schäden aufkommen soll, sondern der Umweltver- schmutzer selbst. In der christdemokratischen Regie- rungszeit wurde dementsprechend auf nationaler Ebene das Umwelthaftungsgesetz – UmweltHG – verabschiedet. Nun werden durch das von der Kommission vorgelegte Weißbuch verschiedene Möglichkeiten unterbreitet, euro- paweit ein homogenes Umwelthaftungsrecht zu schaffen. Schon zu Beginn der 90er-Jahre hat sich in Brüssel die Auffassung durchgesetzt, dass Handlungsbedarf für ein EU-einheitliches Umwelthaftungsrecht besteht. Den An- stoß zur Umsetzung gab dann der Sandoz-Störfall von 1986, der sich auf einen Schaden von insgesamt circa 70 Millionen Mark belief. Mit der Vorlage des „Grünbuchs über die Sanierung von Umweltschäden“ begann 1993 die entscheidende Ini- tiative der Kommission in diese Richtung. Das Grünbuch sollte als Diskussionsgrundlage für eine künftige umfas- sende Regelung des gemeinschaftlichen Haftungsrechts dienen. Es stellte insbesondere die aktuelle Situation in Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116694 (C) (D) (A) (B) den Mitgliedstaaten sowie die Schwächen der einzelnen Haftungssysteme dar. Im Anschluss daran hat die EU-Kommission im Fe- bruar 2000 das „Weißbuch zur Umwelthaftung“ heraus- gegeben, welches heute hier diskutiert wird. Das Weiß- buch untersucht die möglichen Ausgestaltungen eines einheitlichen Umwelthaftungssystems in Europa. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung ei- ner Rahmenrichtlinie den praktikabelsten Weg darstellt. Durch sie soll eine verschuldensunabhängige Haftung manifestiert werden, die in den einzelnen Mitgliedstaaten subsidiär umgesetzt wird. Dadurch soll das Hauptziel erreicht werden, Umwelt- schäden zu vermeiden. Positiv bewerte ich das Bestreben des Weißbuches, eine Harmonisierung des europäischen Rechts herbeizu- führen. Schließlich ist das Umwelthaftungsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach wie vor sehr unterschiedlich entwickelt und eine homogene Rege- lung würde einheitliche Wettbewerbsbedingungen her- stellen. Das Ziel der Angleichung europäischer Wettbe- werbsbedingungen wird durch die CDU-Fraktion ausdrücklich begrüßt. Die Bundesregierung hat hier ein- mal die Möglichkeit, ganz entgegen ihrer sonstigen Ge- wohnheit eine Regelung zu unterstützen, die Wettbe- werbsverzerrungen entgegenwirkt. Bisher hat die Bundesregierung Benachteiligungen deutscher Unternehmen auf dem europäischen und inter- nationalen Markt durch nationale Alleingänge ja nicht nur hingenommen, sondern regelrecht gefördert. Gerade im Umweltbereich hat die „Politik des deutschen Sonder- weges“ von Herrn Trittin dazu geführt, dass sich deutsche Betriebe Belastungen ausgesetzt sehen, die wirtschafts- politisch nicht mehr tragbar sind. Die Umsetzung europä- ischer Richtlinien, welche eine Harmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten bewirken sollte, wurde dazu genutzt, Reglementierungen und bürokratischen Auf- wand für die Unternehmen zu erhöhen. Der vor 1998 eingeschlagene positive Weg der Dere- gulierung wurde durch die Bundesregierung zunehmend verlassen. Substitutionsfördernde Instrumente, wie der Erlass einer Privilegierungsverordnung für solche Unter- nehmen, die sich aktiv im Umweltschutz engagieren, wurden verschleppt und vernachlässigt. Durch diese Poli- tik wird die Verlagerung von Investitionen ins Ausland riskiert und der Wirtschaftsstandort Deutschland gefähr- det. Die durch das Weißbuch verfolgte Angleichung der Bestimmungen der Mitgliedstaaten wird von mir daher ausdrücklich begrüßt. Das Weißbuch ist sicher als Diskussionsgrundlage zur Vereinheitlichung des europäischen Rechts geeignet. Um verbindliche Richtlinien vorzugeben, lässt es allerdings zu viele Fragen offen: Das im Weißbuch vorgesehene Umwelthaftungssystem kollidiert in mehreren Punkten mit unserem nationalen Schadenersatzrecht. Zum einen sollen – im Gegensatz zum deutschen Um- welthaftungsgesetz – auch Schädigungen natürlicher Res- sourcen eingeschlossen werden. Dies soll aber nur be- stimmte geschützte Gebiete umfassen. Die daraus resultierende territoriale Aufspaltung ist dem herkömmli- chen Schadensersatzrecht fremd und darüber hinaus nicht vermittelbar. Zum anderen sollen die Mitgliedstaaten nach dem Willen des Weißbuches eine gewährleistende Funktion in der Schadensregulierung übernehmen. Auch dies steht mit dem nationalen Schadensersatzrecht nicht im Einklang, nach welchem der Schädiger an den Ge- schädigten ohne den Umweg über eine staatliche Instanz zu leisten hat. Soll nun aber der Staat als Garant einbezo- gen werden, so überschreitet dies die Grenzen der zivil- rechtlichen Regelungsmöglichkeiten. Denkbare Lösun- gen mit öffentlich-rechtlichen Mitteln werden durch das Weißbuch aber nicht vorgestellt. Hier besteht also noch erheblicher Diskussionsbedarf. Das Weißbuch begegnet daneben auch anderen Beden- ken: Der Ansatz der europäischen Kommission, eine Haf- tung für Schädigungen der biologischen Vielfalt in Schutzgebieten – namentlich: NATURA-2000-Gebie- ten – nur bei erheblichen Schäden zu begründen, ist zwar grundsätzlich richtig; die Voraussetzungen einer solchen Haftung müssen jedoch noch konkretisiert werden. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass potenzielle Verursacher von Schäden an der biologischen Vielfalt vor allem Betriebe sind, die in unmittelbarer Nähe der Schutz- gebiete angesiedelt sind. Wie die Kostenbelastung für jene Betriebe aussieht, bleibt ein Geheimnis des Weiß- buches. Über die Auswirkungen auf die Wettbewerbs- und Existenzfähigkeit jener Unternehmen schweigt sich das Weißbuch ebenso aus. Auf Seite 31 stellt die Kommission selbst fest, dass die neuen Haftungsrichtlinien erhebliche Auswirkungen auf kleinere und mittlere Unternehmen ha- ben werden. Solange diese Auswirkungen aber noch nicht geklärt sind, halte ich die Einbeziehung von Schäden, die in NATURA-2000-Gebieten entstehen, aber außerhalb dieser Gebiete ihren Ursprung haben, für nicht vertretbar. Einen weiteren kritischen Punkt sehe ich in den Über- legungen zur Beweislast. Im Falle der Schädigung der biologischen Vielfalt wird die Beweislast im Schadensfall dem Beklagten aufgezwungen und nötigt diesen damit, die Beweispflicht für eine „Nichtschädigung“ zu erbrin- gen. Ich befürchte, dass aufgrund der noch offenen Fragen zur Umwelthaftung viele Gutachten, Gegengutachten und aufwendige Gerichtsverfahren stattfinden werden. Von diesen Kosten werden hauptsächlich Forst- und Land- wirtschaft betroffen sein. Derzeit entsprechen die im Weißbuch genannten An- sätze zur Schadensermittlung in Bezug auf die Rechtssi- cherheit und die Bestimmtheit nicht den rechtsstaatlichen Maßstäben. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, die rechtlichen Lücken im Weißbuch zu schließen, bevor sie dem Weißbuch als Grundlage für eine europäische Rahmenrichtlinie ihre Zustimmung gibt. Neben den genannten rechtlichen Bedenken drängt sich mir aber auch ein praktisches Problem auf: Die fi- nanzielle Absicherung der Umwelthaftung durch eine Deckungsvorsorge ist praktisch schwierig und mit den be- treffenden Wirtschaftszweigen noch gar nicht diskutiert oder besprochen worden. Das liegt auch daran, dass Umweltrisiken besonders schwer zu kalkulieren sind. Den vielen unterschiedlichen Einzelfällen wird man mit Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16695 (C) (D) (A) (B) pauschalen Festsetzungen zwangsläufig nicht gerecht. Ich gebe zu bedenken, dass es bislang noch nicht einmal in Deutschland gelungen ist, ein Haftpflichtversicherungs- system für Umweltschäden zu entwickeln und einzuset- zen! Eine Antwort auf die Frage, wie Ökoschäden zu ver- sichern sind, ist bislang noch nicht gefunden worden. Es ist daher nicht vertretbar, den Unternehmen Haftungsrisi- ken aufzubürden, die unkalkulierbar und unvorhersehbar sind. Es liegt doch auf der Hand, dass ein Versicherungs- schutz zu angemessenen Bedingungen gerade für kleinere und mittelständische Betriebe nicht zu finanzieren ist. Im Ergebnis muss ich also festhalten, dass insgesamt – aufgrund der noch offenen Fragen und Probleme im Be- reich der Umwelthaftung – ein erheblicher Klärungs- und Beratungsbedarf besteht, bevor ein konkreter Richtlinien- vorschlag vorgelegt werden kann. Als Grundlage für eine europäische Rahmenrichtlinie sind die Ansätze des Weiß- buches daher noch nicht geeignet. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn es um den heutigen Einfluss Brüsseler Politik in Deutschland geht, dann fühlt man sich leicht an Goethes „Fischer“ erinnert: „Halb zog sie ihn, halb sank er hin“ – die EU-Politik den deutschen Michel. Fast alle wichtigen, umweltpolitischen Bereiche wer- den inzwischen auf EU-Ebene geregelt. Nicht immer be- grüßen wir die Initiativen. Häufig sind anspruchsvollere, nationale Standards zu verteidigen, damit es für den deut- schen Michel nicht wie weiter bei Goethe heißt: „und ward nicht mehr geseh’n“. Das Weißbuch Umwelthaftung ist anders. Wir be- grüßen es als eine echte Chance, Verursacherprinzip und Vorsorgeprinzip EU-weit zu stärken. Wir stimmen mit der Umweltkommissarin der EU, Frau Margot Wallström, ab- solut überein: Das Weißbuch wird EU-weit zu gesetz- lichen Regelungen führen, die endlich sicherstellen, dass Umweltverschmutzer tatsächlich und effektiv für die von ihnen verursachten Umweltschäden verantwortlich ge- macht werden können. Das wird den Umwelt- und Gesundheitsschutz in Europa stärken und zwar auch in denjenigen Schadensfällen, in denen die menschliche Ge- sundheit oder persönliches Eigentum nicht direkt betrof- fen sind, zum Beispiel bei der bedrohten biologischen Ar- tenvielfalt. Bisher bestand in solchen Fällen für die Bürgerinnen und Bürger keine Klagemöglichkeit. Seit der Beschlussempfehlung des Umweltausschusses hat sich die Beratung des Weißbuchs weiterentwickelt. 150 überwiegend positive Stellungnahmen sind bei der Kommission eingereicht worden – von EU-Institutionen, Regierungen, NGOs, Wirtschaftsverbänden, Versicherun- gen und anderen –, darunter auch viele aus Deutschland. Die Kommission wird nun voraussichtlich schon bald nach der Sommerpause einen Richtlinienvorschlag prä- sentieren. Umso wichtiger ist es, dass sich die Bundesregierung intensiv für notwendige Verbesserungen einsetzt. Der Koalition ist wichtig, dass die künftigen Standards nicht hinter dem seit 1990 geltenden deutschen Recht der Um- welthaftung zurückfallen. Die dort verankerte Gefähr- dungshaftung für Industrieanlagen muss mindestens ge- wahrt bleiben, besser noch weiterentwickelt werden. Ein Großteil der EU-Umweltminister hatte sich zuletzt dafür eingesetzt, dass auch Schäden durch gentechnische Pro- dukte oder Gefahrstofftransporte von der Richtlinie er- fasst werden sollten. Das unterstützen wir ausdrücklich. Besonders bei der Haftung für Schäden an der biologischen Vielfalt kann sich aber unserer Meinung nach die Richtlinie nicht auf „Natura-2000“-Gebiete beschränken. Das kann allenfalls ein erster Schritt sein. Wir müssen erkennen und anerken- nen, dass im ethischen Sinne die technologische Zivilisa- tion für ihre Schäden haftbar ist. Das Prinzip Verantwor- tung nach Hans Jonas galt noch nie so sehr wie heute, wo Schäden häufig nicht sofort sichtbar sind: zum Beispiel Gentechnik, zum Beispiel schleichende Freisetzung von Allergenen, zum Beispiel das grassierende Artensterben in Europa. Unsere Vertreter im Europäischen Parlament haben be- reits früh klargemacht: Wir treten für strenge Haftungs- prinzipien wie die verschuldensunabhängige Haftung oder die Beweislastumkehr ein. Es darf doch nicht sein, dass die Haftungsfrage bei Unfällen nach Jahren noch im- mer ungeklärt ist, wie zum Beispiel beim Minenunglück im spanischen Naturschutzgebiet Donana vor drei Jahren. Ähnliches gilt für viele Tankerunfälle im letzten Jahr- zehnt: Wir mussten feststellen, dass der internationale Entschädigungsfonds für Ölverschmutzung bei der Hava- rie des Tankers „Erika“ bei weitem nicht ausreichte. Da- mals verendeten Hunderttausende von Seevögeln. Wir wollen nicht erst Schiffseigentümer, Charterer und Frachtbesitzer zur Anerkennung der Umwelthaftung auf- fordern müssen. Solche Fälle wollen wir künftig klar ge- regelt haben. Endlich, nach einem verlorenen Jahrzehnt in Sachen Umwelthaftung, ist nun Bewegung in die Sache gekom- men. Die vormals ablehnende Haltung vieler Staaten wurde durch die neuen Mitte-Links-Regierungen aufge- löst. Die französische Ratspräsidentschaft hatte das Weiß- buch damals zur Priorität erhoben. Die Schweden hatten die Debatte flott vorangetrieben. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung müssen nun Einfluss darauf nehmen, dass die Umwelthaftung auch unter belgischer Ratspräsidentschaft höchsten Stellenwert einnimmt. Wir setzen uns dafür ein, dass noch in diesem Jahr eine Richtlinie vorgestellt und noch in dieser Legislaturperi- ode des Bundestages verabschiedet werden kann. Marita Sehn (F.D.P.): Mit dem EU-Weißbuch zur Umwelthaftung hat die Europäische Kommission einen Bauplan zu einem einheitlichen Gesetzentwurf zur Um- welthaftung vorgelegt. Und die ersten Konturen, die sich erkennen lassen, sind viel versprechend. Die Vorschriften zur Umwelthaftung sollen vereinheitlicht werden, das Vorsorge- und Verursacherprinzip soll gestärkt werden. Die F.D.P. begrüßt diese Absichten und vor allem auch, dass die Europäische Kommission dieses wichtige Pro- blem erkannt hat und initiativ tätig geworden ist. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116696 (C) (D) (A) (B) Da es sich aber zunächst nur um einen Bauplan handelt und noch nicht einmal der Rohbau fertig ist, sind natürlich auch noch viele Fragen offen. Wer die Diskussion um das Kanzleramt verfolgt hat, wird mir Recht geben. Die bes- ten Absichten und Interpretationen des Architekten nüt- zen nichts, wenn der Bau sie nicht entsprechend transpor- tiert. So sind auch in dem EU-Weißbuch noch viele Dinge diskussions- und klärungsbedürftig. Ein ehrgeiziges Ziel des Weißbuches ist es, Schäden an der biologischen Vielfalt zu erfassen. Dies ist ein neuer und innovativer Ansatz. Wenn man nur wüsste, wie dies vor sich gehen soll. Bislang gibt es keine genauen Vor- stellungen, wie die Schadensbewertung in Bezug auf Bio- diversität erfolgen soll. Ich halte es für fragwürdig, ob Be- stimmungen, die noch nicht in der Praxis erprobt sind, bereits in ein Gesetz gegossen werden sollen. Dies wäre im wahrsten Sinne des Wortes „auf Sand bauen“. Wer ein stabiles Gebäude bauen will, der darf auch das Fundament nicht vernachlässigen. Wenn dieses nicht trag- fähig ist, dann ist das ganze Gebäude gefährdet. In dem Weißbuch stehen etliche Punkte, die ein solides Funda- ment vermissen lassen. Für die zukünftige Umwelthaftung verweist das Weiß- buch auf eine noch zu schaffende Art „Umwelthaft- pflichtversicherung“. Wie diese aussehen soll, welche Deckungssummen gefordert sein werden – alle diese An- gaben bleiben im Dunkeln. Die Kommission meint dazu lapidar, dass sich ein Versicherungsschutz in diesem Be- reich allmählich durchsetzen könnte. Es ist ein schmaler Grat zwischen Vision und Halluzination. Die propheti- schen Gaben der Kommission in Ehren, aber als Grund- lage für die Planung von Unternehmen, die einer langfris- tigen und sicheren Basis bedürfen, erscheinen mir solche Statements als ungeeignet. Die grün-rote Koalition hat in ihrem Entschließungs- antrag die Unklarheiten konsequent weitergeführt So ist es nebulös, was die Koalition unter einer „Weiterentwick- lung des deutschen Umwelthaftungsgesetzes für die An- lagen-Gefährdungshaftung“ versteht. Für die F.D.P. sind solche orakelhaften Formulierungen kein seriöses Ele- ment der Umweltpolitik. Prinzipiell ist die Initiative der Kommission be- grüßenswert, werden doch viele wichtige Themen aufge- griffen. Andererseits ist noch nicht so richtig klar, was für ein Gebäude die Kommission auf dem Grundstein auf- bauen will. In Anbetracht der vielen ungenauen Vorgaben habe ich auch meine Zweifel, dass die Kommission ihr Ziel, nämlich eine Harmonisierung der Umwelthaftungs- vorschriften in Europa, erreichen wird. Je ungenauer die Vorgaben, umso unterschiedlicher werden die nationalen Umsetzungen ausfallen, was letztendlich zu einem Mehr an Wettbewerbsverzerrungen führen wird. Die Kommission hat mit dem Weißbuch den Bauplan vorgelegt. Dieser lässt zwar schon Konturen erkennen, aber man kann noch keine definitiven Aussagen über den Innenausbau machen. Ein Plan, dem aber keine soliden Eckdaten und Informationen zugrunde liegen, taugt bes- tenfalls für Luftschlösser. Deshalb fordere ich die Bun- desregierung auf, sich konstruktiv und kritisch an der konzeptionellen und inhaltlichen Weiterentwicklung des Weißbuches zu beteiligen und ihrer Verantwortung ge- genüber den Verbrauchern, der Wirtschaft, vor allem aber auch der Umwelt gerecht zu werden. Eva Bulling-Schröter (PDS): Das Weißbuch der Kommission hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite schafft es Grundlagen, Löcher in den nationalen Gesetzgebungen zu stopfen. Beispielsweise reguliert das deutsche Umwelthaftungsgesetz nur Ge- sundheits- und Sachschäden, aber keine Schäden an Na- tur und Umwelt, wie es begrüßenswerterweise das Weiß- buch fordert. Auf der anderen Seite lassen die zahlreichen Schlupflöcher des Weißbuches erwarten, dass – wenn ich mal die Grünen-Europaabgeordnete Hiltrud Breyer zitie- ren darf – „die Umwelthaftung auch künftig ein Papierti- ger bleibt“. Beispielsweise wäre nach dem Weißbuch außerhalb von ausgewiesenen Naturschutzgebieten nicht grundsätzlich jeder Schaden haftungspflichtig. Und im Unterschied zur deutschen Umwelthaftung liegt die Be- weislast einseitig auf den Schultern der Geschädigten. Dies wäre ein Rückschritt gegenüber unserer nationalen Gesetzgebung. Auch Schäden an Gesundheit und Sachen werden im Weißbuch ausgeklammert; also das, was Inhalt des deutschen Umwelthaftungsrechtes ist. Allerdings werden in Deutschland keine isolierten Ver- mögensschäden oder gar Schmerzensgeldansprüche regu- liert. Lediglich die unmittelbaren Kosten für Gesundheits- und Sachschäden aus Umweltunfällen unterliegen diesem Gesetz. In Deutschland besteht damit zwar eine verschul- densunabhängige Gefährdungshaftung. Diese ist letztlich aber extrem eingeschränkt. Betroffene, unter anderem Opfer von Unfällen in Atom- oder Chemieanlagen kön- nen ein Lied davon singen, ganz zu schweigen von der völlig unzureichenden Deckungsvorsorge für Atomun- fälle im Atomgesetz. Was das Weißbuch angeht, so wird durch fehlende De- finitionen und durch die genannten Einschränkungen des Anwendungsbereiches die Vorsorgewirkung marginal sein. Letztlich geht es aber – da sind wir uns wohl einig – um Vorsorge und nicht allein um Schadensregulierung. Dies ist um so betrüblicher, als auch das Umweltstrafrecht in Europa ein Witz ist. Denn letztlich lässt sich gerichts- fest kaum ein Schuldiger in den Unternehmen ermitteln. Und ein Umweltstrafrecht für Unternehmen als Ganzes existiert nicht. Umweltstraftaten steigen rasant, aber nur bei unter 10 Prozent dieser Delikte werden Verurteilungen ausgesprochen, 95 Prozent davon sind wiederum ledig- lich Geldstrafen. Dieses Dilemma wird übrigens hierzulande durch das neue UVPIVU-Artikelgesetz noch verschärft, da ja im Rahmen der Privilegierung ökoauditierter Unternehmen zahlreiche Berichtspflichten sowie behördliche Überprü- fungen – und damit Beweismittel – wegfallen werden. Zur Umwelthaftung möchte ich abschließend unterstreichen, dass nicht nur das Weißbuch der Kommission, sondern auch die entsprechende deutsche Gesetzgebung refor- miert werden muss. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16697 (C) (D) (A) (B) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Konzept der regionalen und sektoralen Schwer- punktsetzung in der deutschen Entwicklungszu- sammenarbeit umgehend korrigieren – Perus Rückkehr zur Demokratie unterstützen (Tagesordnungspunkt 9 a und b) Adelheid Tröscher (SPD): Die bilaterale Entwick- lungszusammenarbeit ist ein zentrales Instrument unserer Politik, mit dem wir unseren Anspruch, globale Struktur- politik mitzugestalten, auf Länderebene konkret verwirk- lichen wollen. Dabei ist Geld wichtig, aber es ist nicht alles. Wichtiger ist es, den Einsatz der Mittel effektiver zu gestalten und dabei mit anderen nach den gleichen Krite- rien zusammenzuarbeiten und eine bessere Arbeitsteilung zu vereinbaren. Gleichwohl gilt, dass die knappen finanziellen und per- sonellen Ressourcen auf Bereiche konzentriert werden müssen, in denen ein Engagement aufgrund unserer Ziele und Interessen besonders erforderlich ist und gleichzeitig die Erfolgsaussichten günstig sind. Deshalb müssen in der Entwicklungspolitik eindeutigere Prioritäten gesetzt wer- den als bisher. Dies gilt auch vor dem Hintergrund der ab- soluten Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierungspo- litik der Bundesregierung. Unser Ziel ist es, die Signifikanz und Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit durch eine bessere Verzah- nung der bilateralen, multilateralen und der EU-Entwick- lungspolitik zu steigern. Ein ganzheitlicher Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit, der koordinierte Einsatz aller Instrumente, gebietet die Verringerung der Anzahl der Kooperationsländer. Kriterien für die Auswahl der 70 Kooperationsländer waren die Erforderlichkeit der Zusammenarbeit im Hin- blick auf die wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen Gestaltungsziele, unsere Möglichkeiten, einen relevanten Beitrag zu strukturellen Verbesserungen zu leisten; die Leistungen der anderen bilateralen und multi- lateralen Geber sowie die internen Rahmenbedingungen im Partnerland, wie sie in den fünf BMZ-Kriterien Beachtung der Menschenrechte, Beteiligung der Bevöl- kerung am politischen Prozess, Gewährleistung von Rechtssicherheit, sozial und ökologisch ausgerichtete marktfreundliche Wirtschaftsordnung und Entwicklungs- orientierung des staatlichen Handelns definiert sind. Die nun vorliegende Länderliste ist daher auch nicht als starr zu begreifen, sondern kann im Laufe der Zeit an neuere Entwicklungen angepasst werden. Und deshalb ist auch für eine falsche Aufgeregtheit der Opposition hier kein Platz. Denn: Eine Konzentration der bilateralen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit hat es auch schon unter einer CDU/CSU-geführten Bundes- regierung in den 90er-Jahren gegeben. Was damals rich- tig war, kann ja heute nicht falsch sein. Derzeit gibt es nach der Definition der OECD 146 Ent- wicklungsländer. In den vergangenen Jahren hat Deutsch- land 118 dieser Länder durch bilaterale öffentliche Ent- wicklungszusammenarbeit gefördert. Diese Länder wurden einer Analyse und Bewertung unterzogen mit dem Ergebnis einer Konzentration auf 70 Schwerpunkt- partnerländer und Partnerländer. In den 38 Schwerpunktländern, wie etwa Ägypten, Palästina, Südafrika, Tansania; Vietnam, Peru oder Boli- vien, soll das gesamte entwicklungspolitische Instrumen- tarium, in ausgewählten, möglichst drei Schwerpunkten, in nennenswertem Umfang zum Einsatz kommen. Für die meisten dieser Länder liegen aufgrund der intensiven Zu- sammenarbeit Länderkonzepte vor, für einige wenige sind sie noch zu erstellen. Für die Schwerpunktpartnerländer werden aber nicht nur Länderkonzepte, sondern auch Schwerpunktstrategiepapiere erstellt. Sie dienen insbe- sondere der konzeptionellen Ausgestaltung der Förder- schwerpunkte, aber auch der stärkeren Bündelung von Projekten zu Programmen. In den 32 Partnerländern, wie Jordanien, Costa Rica oder Kolumbien, soll sich die Arbeit möglichst auf einen Schwerpunkt konzentrieren. Dies kann realistischerweise nur langfristig und in Abstimmung mit den Kooperations- ländern und anderen Gebern geschehen. Wichtig bei der Unterscheidung eines Landes in Schwerpunktland und Partnerland ist aber auch, dass dies keine Aussage über die Höhe der künftigen Fördermittel macht. Der Unterschied liegt ausschließlich im program- matischen Bereich und in der Intensität der Arbeit. Ferner wurde eine Liste von potenziellen Kooperati- onsländern aufgestellt, mit der Länder auf der Agenda ge- halten werden sollen, mit denen zurzeit keine nennens- werte entwicklungspolitische Zusammenarbeit möglich ist, wo diese jedoch grundsätzlich – bei veränderten Rah- menbedingungen – sinnvoll scheint. Insgesamt dient die vorliegende Schwerpunktbildung der qualitativen Verbesserung der Arbeit des BMZ. Sie erhöht die Wirksamkeit unserer Entwicklungszusammen- arbeit und fördert einen ganzheitlichen Ansatz der Regio- nal- und Länderpolitik. Karin Kortmann (SPD): Mit Verlaub, dem Deutschen Bundestag einen Antrag zu Peru vorzulegen, der bereits bei Drucklegung in seiner politischen Analyse und erst recht in seinem Forderungskatalog überholt ist, das grenzt schon an eine neue Form der „Beschäftigungspolitik für Abgeordnete“. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, wollen keinen Sta- tus quo für Peru, sondern wir wollen das Land, die Men- schen, das neu gewählte Parlament und den zukünftigen noch zu wählenden Präsidenten auf dem Weg zu einer De- mokratie aktiv unterstützen. Wir gratulieren der Übergangsregierung von Peru un- ter Valentin Paniagua zu ihrem umsichtigen und transpa- renten Handeln, zu der Ermöglichung von demokrati- schen Wahlen. Seit dem 17. November 2000 befindet sich Peru in einem Umwälzungsprozess, der durch den Rück- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116698 (C) (D) (A) (B) tritt von Alberto Fujimori eingeleitet wurde. Das vergan- gene halbe Jahr hat den Machtmissbrauch, die Korrup- tion, die illegalen Waffen- und Drogengeschäfte des ehe- maligen Präsidenten und seines Helfers Montesinos ans Tageslicht gebracht. Es sind Ausmaße, die sich selbst die größten Kritiker des Fujimorismus nicht hätten träumen lassen. Und so ist es für die demokratische Entwicklung in Peru auch befriedigend zu sehen, dass bei den Parla- mentswahlen am 8. April nicht viel vom politischen Sys- tem Fujimoris übrig geblieben ist: Von den ehemals 52 Abgeordneten der vergangenen Wahl bleiben gerade noch sechs übrig, die sich auf „Solucion Popular“ und „Cambio 90/Nueva Mayoria“ aufteilen. Diesem politi- schen Willen der Wählerinnen und Wähler muss nun wei- ter Rechnung getragen werden. Das tut die deutsche Bundesregierung, indem sie nicht nur Wahlbeobachter für den 8. April entsandt hat und auch bei der Präsidentenwahl im Juni beobachtend da sein wird, sondern auch durch einen breiten Unterstützungs- ansatz des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit und Entwicklung. Peru ist Schwerpunkt- land der Entwicklungszusammenarbeit. Die Bundesregierung hat sich stets, sowohl bilateral als auch auf multilateraler Ebene, für die Wiederherstellung und Respektierung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse eingesetzt. Für die Respektierung der vom ehemaligen Präsidenten Fujimori 1993 geänderten Ver- fassung hat sie sich allerdings nicht eingesetzt; diese ent- spricht nicht unseren Rechtsstaatlichkeitsprinzipien. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- menarbeit unterstützt seit langem diejenigen Kräfte der Zivilgesellschaft, deren Tätigkeit auf die Redemokratisie- rung Perus in Staat und Gesellschaft ausgerichtet sind. Und seit den Regierungsverhandlungen 1999 bildet der Bereich „Modernisierung des Staates“ einen der drei Schwerpunkte der künftigen Entwicklungszusammen- arbeit mit Peru. Bei diesen Regierungsverhandlungen wurde die Einhaltung der verfassungsmäßig garantierten Gewaltenteilung immer wieder eingefordert, ebenso die Stärkung der Unabhängigkeit der Staatsorgane. Dazu gehörte unter anderem die Unterstützung des Defensor del Pueblo, des Ombudsmanns. Ganz wichtig ist auch die Situation der Menschenrechte. Gemeinsam mit allen EU-Regierungen hat die Bundesregierung die peruani- sche Regierung mehrfach aufgefordert, ihre Mitarbeit im lateinamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte wieder aufzunehmen. Eine kurze Anfrage bei der Bundesregierung hätte also Auskunft darüber geben können, welch vielfältige An- sätze der Demokratieentwicklung in Peru durch die deut- sche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt werden. Das hätte das Schreiben dieses Antrags, den wir hier ab- lehnen, erspart. Peru braucht unsere volle Unterstützung. Wir wollen unseren Beitrag zur Demokratisierung gerne fortsetzen. Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): In üblicher Vollmundigkeit preist die Bundesregierung ihre letztes Jahr eingeführte entwicklungspolitische Schwerpunktset- zung als bahnbrechende Neuerfindung: Durch eine auf circa 70 reduzierte Zahl der Kooperationsländer, eine Fo- kussierung der Zusammenarbeit auf wenige Schwer- punkte und eine noch bessere Verzahnung mit der multi- lateralen und der EU-Entwicklungspolitik könne die Wirksamkeit der Arbeit des BMZ erhöht werden. Ver- schwiegen wurde dabei, dass sich die BMZ-Leitung zu dieser Schwerpunktsetzung wegen der fortlaufenden drastischen Kürzungen des Entwicklungshaushalts ge- zwungen sah. Gleichzeitig veröffentlichte das BMZ ein Informati- onspapier, das neben allgemeinen Ausführungen zur Schwerpunktsetzung ein Länderraster mit einer Untertei- lung der mit Deutschland kooperierenden Entwicklungs- länder in drei Kategorien enthielt. Zweck dieser Raster- kategorisierung sei die Abstufung des Grads der Entwicklungszusammenarbeit von einer Kooperation mit einem „Schwerpunktpartnerland“ mittels des gesamten entwicklungspolitischen Instrumentariums in ausgewähl- ten, möglichst nur drei Schwerpunkten, über eine Koope- ration mit einem „Partnerland“ in möglichst nur einem Schwerpunkt bis hin zu den „potenziellen Partnerlän- dern“, mit denen eine Kooperation grundsätzlich zwar sinnvoll, gegenwärtig aber nicht möglich sei. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist sich bewusst, dass eine sachgerechte und außenpolitisch sensibel und flexibel umgesetzte Schwerpunktsetzung eine erhebliche Effizienzsteigerung in der Entwicklungszusammenarbeit mit sich bringen kann. Sie erinnert daran, dass das BMZ bereits in der ersten Hälfte der 90er-Jahre mit der Reali- sierung einer derartigen Schwerpunktsetzung begonnen hatte. So konzentrierte sich 1994 die bilaterale staatliche Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands auf nur noch 40 Schwerpunktländer, das heißt dorthin flossen 86 Pro- zent aller Zusagen. Dieses geschah jedoch nicht in Form eines starren Rasterkorsetts, sondern berücksichtigte die sich stetig verändernden Realitäten in den einzelnen Ent- wicklungsregionen und bewahrte auf diese Weise die Fle- xibilität, Angemessenheit und Glaubwürdigkeit deutscher Entwicklungs- und Außenpolitik. Zudem trug man so dem auch heute noch gültigen Umstand Rechnung, dass Na- turkatastrophen sowie ökonomische und politische Not- situationen erfahrungsgemäß in fast allen Entwicklungs- regionen Ad-hoc-Maßnahmen erforderlich machen und schließlich Deutschland als Außenhandels- und Außen- investitionsnation ein vitales wirtschaftspolitisches Inte- resse an Kontakten zu möglichst vielen Ländern und Re- gionen dieser Erde hat. In scharfem Kontrast hierzu stehen Inhalt und Wirkung der aktuellen Schwerpunktsetzung des BMZ. Sie weist schwere inhaltliche Mängel auf. Die starre Kategorisie- rung legt der deutschen Entwicklungspolitik zu enge re- gionale und sektorale Fesseln an. Die Kriterien sind un- scharf und ihre Anwendung bleibt widersprüchlich. Während mit demokratisch instabilen Entwicklungslän- dern wie zum Beispiel Simbabwe unter Präsident Mu- gabe – immerhin Jahrzehnte lang ein Schwerpunktland deutscher Entwicklungskooperation – die staatliche bila- terale Entwicklungszusammenarbeit zumindest partiell ausgesetzt wurde, stufte das BMZ das kommunistisch-to- talitäre Kuba in den Rang eines Partnerlandes hoch. Völ- lig verwirrend ist, dass die Bundesregierung gleichzeitig Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16699 (C) (D) (A) (B) für eine weitere Suspendierung und Aufrechterhaltung von Sanktionen hinsichtlich des mit dem antidemokrati- schen Regierungssystem in Kuba gleichzusetzenden Re- gimes in dem noch ärmeren Myanmar plädiert und paral- lel dazu – wie gerade bekannt wurde – gegen von der gesamten EU beschlossene Sanktionen verstößt, indem sie offensichtlich einem Mitglied der dortigen Militär- junta ein Besuchsvisum für Deutschland ausgestellt hat – ein weiterer Beweis dafür, dass Willkür und Beliebigkeit die rot-grüne Außen- und Entwicklungspolitik beherr- schen. Schließlich wurden wichtige Kooperationsländer wie Nigeria, Burundi oder Paraguay erst auf Intervention der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nachträglich wieder in den Katalog der Partnerländer aufgenommen, nachdem sie vorher nicht nachvollziehbar zu potenziellen Partner- ländern degradiert worden waren. Die Kategorisierung als solche wie auch die Aufteilung der Länder in die einzel- nen Sparten wurde weder mit dem Auswärtigen Amt noch anderen betroffenen Ressorts abgestimmt. Sie hat zu er- heblicher Kritik, Irritation und Verstimmung auf nationa- ler wie auch internationaler Ebene geführt und schadet unseren außen-, entwicklungs- und wirtschaftspolitischen Interessen. Die Beschränkung der Zusammenarbeit auf eine limi- tierte Zahl von Schwerpunktsektoren hat fatale Konse- quenzen: Nach dem Fehlschlagen des Weltklimagipfels in Den Haag registriert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit Besorgnis, dass dem Sektor Umwelt- und Ressour- censchutz auch im Rahmen der mit der regionalen Kon- zentration verknüpften sektoralen Schwerpunktsetzung offensichtlich eine immer geringere Priorität eingeräumt wird. Indiz hierfür mag nicht zuletzt sein, dass die Bun- desregierung in ihrem Haushalt für das Jahr 2001 die ent- wicklungspolitischen Finanzmittel für diesen wichtigen Sektor beträchtlich zurückgefahren hat. Hiermit steuert sie auf einen deutlichen Widerspruch zu den Vorgaben der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio 1992 sowie ihren eigenen politischen Ankündigungen hinsicht- lich Umwelt- und Ressourcenschutz zu und trägt zur Ver- schärfung der nach dem Fehlschlagen des Den Haager Weltklimagipfels eingetretenen Krise des Post-Rio-Pro- zesses bei. Kürzlich abgeschlossene Regierungsverhandlungen mit einer Reihe von Nehmerländern lassen weiterhin be- fürchten, dass die deutsche Entwicklungszusammenarbeit den für eine nachhaltige Entwicklung essenziellen Grund- bildungssektor zu vernachlässigen beginnt. Ich bedaure dies zutiefst, zumal dieser Sektor zu Recht unter Minister Spranger eine der drei sektoriellen Säulen unser Entwick- lungskooperation dargestellt hat. Und überhaupt nimmt die der deutschen Entwicklungskooperation überge- stülpte Selbstbeschränkung auf höchstens drei Schwer- punktsektoren in der Zusammenarbeit mit einem Neh- merland teilweise geradezu groteske Züge an: Gelingt es auf Biegen und Brechen nicht, alle Projekte in einem Part- nerland unter drei Sektoren zu subsumieren, erfindet das BMZ kunstvolle Neuschöpfungen entwicklungspoliti- scher Kooperationssektoren, um ja nicht gegen „das hei- lige Gesetz der drei Sektoren“ verstoßen zu müssen. Und wenn selbst das nicht mehr gelingt, muss eben der allge- mein stark strapazierte Begriff bzw. Sektor der Armuts- bekämpfung herhalten, unter den sich bekanntermaßen ja so gut wie jede entwicklungspolitische Aktivität mit mehr oder weniger Quietschen hineinpressen lässt. Und damit verkommt die hoch gepriesene rot-grüne Schwerpunkt- setzung vollends zur peinlichen Selbsttäuschungsinsze- nierung. Eine sinnvolle regionale und sektorale Schwerpunkt- setzung setzt darüber hinaus eine intensive vorherige Ab- stimmung mit anderen bi- und multilateralen Gebern voraus, um zu verhindern, dass wichtige Entwicklungsre- gionen und Sektoren nach Vollzug der Schwerpunktset- zung und Rückzug der deutschen Entwicklungszusam- menarbeit entwicklungspolitisch vernachlässigt werden. Aber die angekündigte bessere Verzahnung mit der mul- tilateralen und EU-Entwicklungszusammenarbeit be- schränkt sich offensichtlich auf ein simples Abschreiben der jeweiligen Länderprogramme der anderen Geber, ohne mit diesen in einen intensiveren Koordinierungs- und Kooperationsdialog getreten zu sein. Angesichts der kontinuierlich das BMZ treffenden massiven Personal- kürzungen, der gleichzeitig stetig wachsenden Aufgaben- bereiche und einer sogar von Gewerkschaftsseite monier- ten chaotischen Personal- und Amtsführung dürfte das BMZ damit gegenwärtig auch überfordert sein. Auch vonseiten des Verbandes Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen VENRO hat das BMZ-Konzept heftige Kritik geerntet. VENRO stellte zum Beispiel einen Widerspruch zwischen einerseits der immer wieder öffentlich vom BMZ propagierten Orien- tierung an der Armut und der Ernährungssicherheit und andererseits der Tatsache fest, dass 26 der ärmsten Staa- ten bzw. 18 der hoch verschuldeten Länder im Konzept nicht mehr berücksichtigt würden. Es sei auch VENRO nicht bekannt, dass eine intensivere Abstimmung zumin- dest auf europäischer Geberebene stattgefunden habe. Zu- dem befürchtet VENRO unter Bezugnahme auf das Bei- spiel des Zivilen Friedensdienstes, dass das Länderraster auch für die Nichtregierungsorganisationen eine ver- pflichtende Wirkung annehmen könnte. Dies war bis dato im Sinne einer pluralistischen Durchführungsstruktur der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit den zwei voneinander grundsätzlich unabhängigen Strängen der staatlichen und nichtstaatlichen Entwicklungszusammen- arbeit sorgfältig vermieden worden. Nachdem in meinen Ausführungen unser Antrag zu Pe- rus Rückkehr zur Demokratie etwas zu kurz gekommen ist, möchte ich mit einem Appell an die Bundesregierung im Hinblick auf Peru schließen. Peru befindet sich in einer tiefen Krise. Nach dem Sturz von Präsident Fujimori ist die Lage im Land immer noch instabil, zumal der Ausgang der bevorstehenden Stichwahlen ungewiss ist. Peru braucht dringend eine Phase politischer Stabilität, um sich wieder politisch, wirtschaftlich und sozial regenerieren zu können. Ich rufe daher die Bundesregierung dazu auf, mit der symboli- schen Geste der Entsendung eines deutschen Vertreters auf Kabinettsebene die Amtseinführung des neuen perua- nischen Präsidenten Ende Juli in Lima zu begleiten und so das hohe Interesse unseres Landes an der Zukunft von Pe- rus Demokratie zu dokumentieren. Ich rufe die Bundesre- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116700 (C) (D) (A) (B) gierung aber auch dazu auf, unsere zukünftige entwick- lungspolitische Kooperation mit einem Land wie Peru, das nicht nur ein wichtiger lateinamerikanischer Partner ist, sondern auch auf unsere Unterstützung zählt, nicht durch ein hinderliches entwicklungspolitisches Konzen- trationskorsett einzuengen, sondern sich mit vollem En- gagement allen für eine nachhaltige Entwicklung Perus wesentlichen Kooperationssektoren zu widmen. Joachim Günther (Plauen) (F.D.P.): Nachdem sich die rot-grüne Koalition in den ersten zwei Jahren von ihrem ideologischen Ballast befreit hat, zeigt sich nun auch in der Entwicklungspolitik, dass es zu liberalen Konzepten keine vernünftige Alternative gibt. Schon An- fang der 90er-Jahre hatten wir eine sektorale und regio- nale Schwerpunktbildung in der Entwicklungspolitik ge- fordert und waren von der damaligen Opposition bezichtigt worden, uns aus der weltweiten Verantwortung für die Entwicklungsländer zurückziehen zu wollen. Immerhin ist es während unserer Regierungszeit ge- lungen, den ganz überwiegenden Anteil der finanziellen und technischen Zusammenarbeit auf vierzig Schwer- punktländer zu bündeln. Hierauf weist der vorliegende Antrag zu Recht hin. Bedauerlich ist nur, dass dieser er- neute Sinneswandel der Bundesregierung nicht einer bes- seren Erkenntnis, sondern in erster Linie dem Rotstift des Finanzministers zu verdanken ist. Doch wer sich, wie die Bundesministerin, gern als Weltinnenpolitikerin darstellt und den Anspruch erhebt, globale Strukturpolitik betrei- ben zu wollen, den muss es besonders schmerzen, wenn die eigene Rolle aus profanen Haushaltszwängen zusam- mengestutzt wird. Eine effiziente deutsche Entwicklungspolitik kann nicht den Anspruch erheben, globale Strukturpolitik zu betreiben und gleichzeitig in allen entwicklungsrelevan- ten Bereichen der Welt aktiv zu sein. Sie muss vielmehr in enger Koordinierung mit anderen Akteuren regionale und sektorale Schwerpunkte setzen, die dem unterschied- lichen Entwicklungsstand der Partner gerecht werden. Dies gilt auch für Peru. Auf den heute hier ebenfalls vorliegenden Antrag kann ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen. Zwar ist Peru mit den jüngst abgehaltenen Wahlen formal zur Demokratie zurückgekehrt und ist das Hauptanliegen des Antrages erfüllt worden. Doch die nach der Flucht von Fujimori erhoffte Rückkehr zu poli- tischer Stabilität wird noch bis zu den Stichwahlen im Juni auf sich warten lassen. BMZ-Staatssekretär Erich Stather hat versichert, das Sparen sei nicht Hauptmotiv für die Reform. Sie diene auch der qualitativen Verbesserung der Zusammenarbeit und es gehe darum, die knappen Mittel wirksamer einzu- setzen. Das ist ein löbliches Ziel, es muss nur umgesetzt werden. Deshalb appellieren wir an Sie: Bleiben Sie nicht auf halber Strecke stehen und machen Sie aus dem Re- förmchen eine Reform! Hierzu sind aus unserer Sicht noch drei weitere wich- tige Schritte nötig: Erstens. Es darf nicht sein, dass bei einer neuen Schwerpunktbildung 26 der ärmsten Länder der Welt aus dem Raster fallen, während relativ weit fortgeschrittene Schwellenländer mit einem stabilen politischen Umfeld weiterhin Empfänger groß angelegter Projekte bleiben. Schwerpunktbildung heißt aus unserer Sicht daher auch Konzentration der knappen Mittel auf die wirklich Be- dürftigen. Gerade vor dem Hintergrund der in diesen Ta- gen in Genf stattfindenden UNO-Konferenz der ärmsten Länder der Welt sollte jetzt ein Zeichen gesetzt werden. Zweitens. Die vom BMZ so oft angekündigte bessere Verzahnung der bilateralen, der multilateralen und der EU-Entwicklungszusammenarbeit muss endlich in An- griff genommen werden. Der vorliegende Antrag geht zwar einleitend darauf ein, doch auch die CDU/CSU- Fraktion scheint sich noch nicht zu einer konsequenten Arbeitsteilung auf europäischer Ebene durchgerungen zu haben. Im operativen Teil des Antrages fehlt jedenfalls je- der Bezug hierzu. Drittens. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union nachdrücklich für die Verab- schiedung einer gemeinsamen entwicklungspolitischen Strategie einzusetzen, die durch komplementäre Arbeits- teilung zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten den spezifischen Erfahrungen, Traditionen und geschicht- lichen Verantwortlichkeiten der EU-Geberländer gegen- über den Entwicklungspartnern gerecht wird. Carsten Hübner (PDS): Eine kurze Debatte ist sicher nicht hinreichend, diese zwei wichtigen Komplexe, zu de- nen uns hier Anträge vorliegen, umfassend zu erörtern. Ich beschränke mich zunächst auf einige Anmerkungen. Für die weiteren Beratungen in den Ausschüssen und dann im Plenum wird hoffentlich mehr Zeit zur Verfügung stehen. Zunächst zum entwicklungspolitischen Antrag der CDU/CSU-Fraktion, in dem die regionale und sektorale Schwerpunktsetzung des BMZ für die kommenden Jahre kritisiert wird. Dazu ist zunächst zu sagen: Auch wir hal- ten die angelegten Maßstäbe für nebulös und sind mit der hinter verschlossenen Türen abgewickelten Erarbeitung unzufrieden. Solche Weichenstellungen müssen aus unse- rer Sicht parlamentarisch begleitet und beraten werden. Das gilt insbesondere, weil ein nicht unerheblicher Teil der ärmsten und höchst verschuldeten Länder in der Schwerpunktsetzung nicht mehr vorkommen. Der Ver- band entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisa- tionen, VENRO, hat das Vorgehen der Bundesregierung dementsprechend deutlich kritisiert und überdies ange- zweifelt, dass die neue Weichenstellung auf ihre Kohärenz mit anderen internationalen Gebern, etwa Eu- ropas bzw. der EU, abgeglichen worden ist, um das völ- lige Herausfallen einzelner Länder aus der internationalen wie bilateralen Entwicklungszusammenarbeit auszu- schließen. Aber allein schon die rein ideologisch motivierten mehrfachen Ausfälle der CDU/CSU-Fraktion gegen die längst überfällige Aufnahme der Entwicklungszusam- menarbeit mit Kuba offenbaren, dass es nicht um eine fachpolitische Korrektur geht, sondern um ganz etwas an- deres, nämlich um eine an den Kategorien des Kalten Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16701 (C) (D) (A) (B) Krieges ausgerichtete Konzeption von Entwicklungszu- sammenarbeit, wie wir sie sonst nur noch bei den Hardli- nern in den USAvorfinden. Die CDU/CSU muss sich hier ernsthaft den Vorwurf gefallen lassen, wie eine Art politi- scher Dinosaurier zu agieren. Die haben bekanntlich die Zeichen der Zeit nicht erkannt und sind dann ausgestor- ben. Darüber hinaus aber diskreditiert sie damit natürlich auch die durchaus richtigen Ansätze ihres Antrages. Das muss man hier so deutlich sagen – insbesondere weil die CDU/CSU selbst es war, die über viele Jahre zum Beispiel eine intensive Entwicklungspolitik mit der Suharto-Dik- tatur in Indonesien gepflegt hat, bis hin zur Männer- freundschaft Suharto/Kohl. Nun noch kurz zu Peru: Die Lage dort hat sich, anders als es noch im Antrag beschrieben wird, inzwischen poli- tisch stark verändert. Es besteht eine reale Chance für ei- nen demokratischen Neuanfang, die Bevölkerung drängt darauf. Umso wichtiger ist es, und hier teile ich die For- derungen von CDU/CSU weitgehend, auch von interna- tionaler Seite und auf verschiedensten Wegen die Demo- kratisierung massiv zu befördern. Dazu gehört sowohl die Demokratisierung von Staat, Polizei und Militär als auch die Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen und eine Verbesserung der ökonomischen und sozialen Situation der Bevölkerung. Straflosigkeit muss ebenso verhindert werden wie eine Restrukturierung der reaktionären Kräfte. In diesem Sinne ist die Bundesregierung dringend gehalten, ihre Möglichkeiten intensiv zu nutzen, damit ein wirklich demokratischer Neuanfang gelingen kann. Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung: Die rot-grüne Bundesregierung hat in der Ent- wicklungspolitik entschlossen Reformen in die Wege geleitet. Ein wichtiger Baustein der Reform ist die regio- nale und sektorale Schwerpunktsetzung, denn sie bedeu- tet eine Steigerung der Effizienz und eine Erhöhung der Wirksamkeit und der Signifikanz der bilateralen Ent- wicklungszusammenarbeit. In einem transparenten Pro- zess und durch Offenlegung der Kriterien haben wir regionale Schwerpunkte gesetzt und die Kooperations- länder ausgewählt. Die Auswahlkriterien sind: die Erforderlichkeit der Zu- sammenarbeit im Hinblick auf unsere wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen Gestaltungsziele, unsere Möglichkeiten, einen relevanten Beitrag zu leis- ten, die Leistungen der anderen bilateralen und multilate- ralen Geber sowie die internen Rahmenbedingungen beim Partner, so wie sie in den fünf BMZ-Kriterien for- muliert sind. Die Vorteile dieser Schwerpunktsetzung sind: höhere Verlässlichkeit in der Kooperation, gezielterer Einsatz der Instrumente, bessere Abstimmung mit anderen Gebern, konzentriertere Einbringung der komparativen Vorteile eines jeden Geberlandes und der multilateralen Institu- tionen. Der zweite wichtige Baustein dieser Reform ist die konsequente Verknüpfung der bilateralen Entwicklungs- zusammenarbeit mit den internationalen Entwicklungs- zielen und der globalen Strukturpolitik. Nehmen Sie das Ziel, bis zum Jahr 2015 die Anzahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, zu halbieren. Dieses Ziel wurde 1996 von den OECD-Mitgliedsländern beschlossen und im September 2000 auf dem Millenni- umsgipfel von den Vereinten Nationen bekräftigt. Es ist der rot-grünen Bundesregierung zu verdanken, dass es endlich ein deutsches Aktionsprogramm zur Armuts- bekämpfung gibt, das diesem Ziel verpflichtet ist. Das Kabinett beschloss am 4. April das folgende 10-Punkte-Programm: Erstens, wirtschaftliche Dynamik und aktive Teilhabe der Armen erhöhen, zweitens, das Recht auf Nahrung verwirklichen und Agrarreformen durchführen, drittens, faire Handelschancen für die Ent- wicklungsländer schaffen, viertens, Verschuldung ab- bauen – Entwicklung finanzieren, fünftens, soziale Grunddienste gewährleisten – soziale Sicherung stärken, sechstens, Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen si- chern – eine intakte Umwelt fördern, siebtens, Men- schenrechte verwirklichen – Kernarbeitsnormen respek- tieren, achtens, Gleichberechtigung der Geschlechter fördern, neuntens, Beteiligung der Armen sichern – ver- antwortungsvolle Regierungsführung stärken und zehn- tens, Konflikte friedlich austragen – menschliche Sicher- heit und Abrüstung fördern. Nehmen sie das Ziel, bis zum Jahr 2015 die Anzahl der Menschen zu halbieren, die Hunger leiden: Auf dem Welt- ernährungsgipfel in Rom 1996 wurde im Aktionsplan festgelegt, dass zur Erreichung dieses Zieles in vielen Ländern Agrarreformen angepackt werden müssen. Es ist diese Regierung, die dieses schwierige und hochsensible Thema in ihrer Entwicklungszusammenarbeit anpackt. Die Bundesregierung ist sich der zentralen Rolle der Landfrage für die Bekämpfung von Armut und Hunger sehr bewusst. In der Umsetzung von Agrarreformen sehen wir eine unmittelbare Voraussetzung für die Verwirkli- chung des Menschenrechts auf Nahrung. Agrarreformen und die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung haben da- mit für die Bundesregierung einen ähnlichen Stellenwert wie die Schaffung fairer Handelschancen für die Ent- wicklungsländer oder der Abbau ihrer Verschuldung. Maßnahmen, die wir unterstützen, sind zum Beispiel: erstens, direkte Politikberatung für eine Agrarreformpoli- tik, zweitens, Unterstützung bei lokalen Landnutzungs- vereinbarungen und beim Erstellen von Katastern zur rechtlichen Klärung von Eigentumsverhältnissen und drittens, Unterstützung von runden Tischen für die unter- schiedlichen Akteure, wie zum Beispiel Bauern, Land- lose, Vertreterinnen von indigenen Völkern. Sie sehen, reformorientierte Entwicklungspolitik ist auch in schwierigen Zeiten der Haushaltskonsolidierung möglich. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe: – Gesetz zur Änderung des Gesetzes überArbeitneh- mererfindungen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116702 (C) (D) (A) (B) – Gesetz zur Förderung des Patentwesens an den Hochschulen (Tagesordnungspunkt 10 a und b) Jörg Tauss (SPD): Ziel des heute von den Koalitions- fraktionen vorgelegten Gesetzentwurfes ist es, die bishe- rige Regelung der Rechte an den Erfindungen von Hochschullehrern – das so genannte „Hochschullehrer- Privileg“ des § 42 Arbeitnehmererfindungsgesetzes – an die sich gravierend veränderten Rahmenbedingungen der Hochschulforschung anzupassen. Diese Änderung ist eine längst überfällige Anpassung und somit ein wichtiger Be- standteil der zukunftsweisenden Innovationspolitik der rot-grünen Bundesregierung. Bei der angestrebten Verbes- serung der Verwertung von Hochschulerfindungen sind vor allem vier Schwerpunkte das erklärte Ziel der Novelle: Zum einen soll das derzeit brachliegende Innovations- potenzial an den Hochschulen auch für die Hochschulen in einem deutlich höheren Maße genutzt werden. Daneben geht es um die nachhaltige Stärkung der Hochschulen in ihrer Verantwortung für den Technologietransfer. Eng da- mit verbunden ist die dringend gebotene Verbesserung des Technologietransfers zwischen den Hochschulen und der Wirtschaft. Schließlich geht es natürlich um die Stärkung des Wissenschafts- und Forschungsstandortes Deutsch- land in einem immer schwieriger werdenden globalen Wettbewerb. Angesichts dieser wichtigen Zielsetzungen sehe ich die Tatsache, dass es eine von Bund und Ländern gemeinsam gestartete Initiative war, die den Anstoß für die heute zu diskutierende Gesetzesänderung gab, mit großer Freude. Die beabsichtigte Novellierung des § 42 des Arbeitneh- mererfindungsgesetzes war Gegenstand einer Bund-Län- der-Arbeitsgruppe und einer umfassenden Anhörung von Fachkreisen und allen Betroffenen im August 2000, die im Rahmen der Bund-Länder-Kommission für Bildungs- planung und Forschungsförderung – BLK – durchgeführt wurde. Die zuständigen Fachminister für Wissenschaft und Forschung haben am 30. Oktober desselben Jahres einstimmig diese Novellierung des § 42 ArbNErfG mit eben dieser Zielsetzung beschlossen und haben konkrete Eckpunkte hierfür formuliert. Auf der Basis dieses Beschlusses und auf der Basis die- ser Eckwerte haben die Koalitionsfraktionen mit den auf Bundesebene federführenden Ressorts – das Bundesminis- terium für Justiz und das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in enger Abstimmung mit dem Bun- desministerium für Bildung und Forschung – den nun vor- liegenden Gesetzesentwurf erarbeitet, der heute zur ersten Beratung ansteht. Schaut man sich nun die Entwürfe der BLK und den Entwurf der Koalitionsfraktionen an, so unterscheiden sich diese in der Zielsetzung nicht. Die Ansätze, mit de- nen diese wichtigen und sicherlich unstrittigen Ziele ver- wirklicht werden sollen, unterscheiden sich dagegen – zu- gegebenermaßen – schon an einigen Stellen. Dies ist vor allem darin begründet, dass bei der Novellierung des § 42 Arbeitnehmererfindungsgesetz folgende Aufgaben sei- tens der Koalitionsfraktionen und der zuständigen Bun- desministerien erledigt werden mussten: So musste die neue Regelung in die komplexe Geset- zessystematik und die Terminologie eingepasst werden. Daneben stellt natürlich das zwingend zu beachtende Verfassungsrecht, nämlich die Freiheit von Forschung und Lehre gemäß Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes, enge Grenzen an die Novellierung des § 42 ArbNErfG. Schließlich galt es, die Novellierungsvorschläge hin- sichtlich ihrer Vollständigkeit und Stimmigkeit zu über- prüfen. Dies führte zwangsläufig auch zu Änderungen des BLK-Beschlusses. Im Ergebnis wurden meines Erachtens die Eckdaten jedoch konsequent umgesetzt und in recht- lich haltbare Formen gegossen, wobei die Zielsetzung und die zentralen Grundlinien des BLK-Beschlusses natürlich außer Frage standen. Somit sind alle Eckpunkte des BLK-Beschlusses umgesetzt, nämlich die Sicherstellung des Rechtes der Hochschulen zur Inanspruchnahme aller dort gemachten Erfindungen, um so auch die Hochschu- len in ihrer Bedeutung innerhalb des deutschen Innovati- onssystems gerade auch im Wettbewerb mit den privaten Forschungseinrichtungen zu stärken; die Sicherung des Rechtes auf positive und auf negative Publikationsfrei- heit; die Verwirklichung einer deutlich höheren Erfinder- vergütung für Hochschulerfinder, die einen Beitrag zur besseren Motivation für Innovationen an den Hochschu- len bieten wird und gemeinsam mit der anstehenden Dienstrechtsreform grundsätzliche Bedeutung für die Si- cherung des Wissenschafts- und Forschungsstandortes Deutschland im globalen Wettbewerb hat sowie natürlich das Nutzungsrecht des Hochschulerfinders selbst an des- sen Erfindungen für seine wissenschaftliche Tätigkeit. Natürlich gibt es – es wäre auch ein Wunder, wenn es die bei derart komplexen und zudem auch verfassungs- rechtlich relevanten Fragestellungen nicht gäbe – auch kritische Einwände, die aber oft die nicht immer ganz ein- fachen aber eben dringend gebotenen Abstimmungspro- zesse zwischen den federführenden Ressorts und dem Fachressort unterschätzen und zum Teil in ihrer tatsächli- chen Berechtigung zumindest angezweifelt werden dür- fen. Aber eben dies ist ja auch Sinn einer solchen ersten Beratung: Dieser folgt die ausführliche Debatte in den Ausschüssen und auch im Bundesrat, der mit seinem heute vorgelegten Gesetzentwurf zwar ebenfalls auf der Basis des BLK-Beschlusses basiert, jedoch den gemein- sam formulierten Zielen eben nicht Rechnung tragen kann. Gestatten Sie mir hierzu in aller Kürze einige An- merkungen zu machen: Der zur Rede stehende § 42 des Arbeitnehmererfin- dungsgesetzes ist eine Sondervorschrift zu § 40, bei dem es sich selbst wiederum um eine Sondervorschrift zu den gesamten vorangegangenen Bestimmungen des Arbeit- nehmererfindungsgesetzes handelt. Dies hat natürlich zur Folge, dass eine Reihe von Forderungen des BLK-Be- schlusses aus gesetzestechnischen Gründen unberück- sichtig bleiben konnte, weil diese Regelungen dann eben kraft Gesetz bereits gelten, ohne dass dies noch einmal ausdrücklich im Gesetz formuliert werden müsste. Eine Änderung der Zielsetzung geht damit natürlich nicht einher. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16703 (C) (D) (A) (B) Daneben gab es – im Unterschied zum Bundesratsent- wurf – einige sachliche Änderungen, die ich jedoch nach den intensiven Diskussionen und Überprüfungen seitens der beteiligten Häuser durchaus als sachlich gerechtfertigt ansehe. Dazu zählt der Anwendungsbereich, die Siche- rung des positiven und negativen Publikationsrechtes, die Höhe der Endvergütung, den Ausschluss von abweichen- den Vereinbarungen zulasten der Hochschulangehörigen und die Aufnahme von Übergangsregelungen. Wären wir dem BLK-Beschluss hinsichtlich des An- wendungsbereiches gefolgt, hätten wir in Zukunft zwei- erlei Recht für Arbeitnehmererfindungen. Für nicht-wis- senschaftliches Personal an Hochschulen gälte der § 40 ArbNErfG, für Wissenschaftler und ihre Erfindungen da- gegen § 42. Abgesehen davon, dass eine derartige Grenz- ziehung sicher nicht immer ganz einfach sein dürfte, wäre sie – man denke nur an Forschungsgruppen – nicht nur un- praktisch, sondern vor allem auch extrem konfliktträch- tig. Diese Konsequenzen werden mit dem von den Koali- tionsfraktionen vorgelegten Entwurf vermieden. Die Sicherstellung des positiven und negativen Publi- kationsrechtes der Wissenschaftler ist zum einen Ergebnis einer umfangreichen verfassungsrechtlichen Prüfung und dient auf der anderen Seite der Verfahrensvereinfachung für die Hochschule. Bei der Sicherung des Rechtes zu pu- blizieren und bei der Sicherung des Rechtes, dies zu un- terlassen, zeigt sich, wie schwierig manchmal die unter- schiedlichen und durchaus berechtigten Interessen aller Beteiligten unter einen Hut zu bringen sind. Die Rechts- ordnung zwingt eben auch dazu, die negative Publikati- onsfreiheit zu beachten. Nach meiner Meinung ist dies mit dem von den Koalitionsfraktionen vorgelegten Entwurf deutlich besser gelungen als dies der Entwurf des Bun- desrates, der auf dem BLK-Beschluss basiert, zu leisten vermag. Eine Vereinfachung der Berechnung der Erfinderver- gütung war ebenfalls das Ziel bei der Abweichung des BLK-Beschlusses. Während der BLK-Beschluss ein Drit- tel der Nettoverwertungseinnahmen vorsah und so den Streit vorprogrammiert hätte, welche Ausgabe denn nun von den Bruttoeinnahmen seitens der Hochschule abge- zogen werden dürfte, haben wir uns für einen anderen Weg entschieden: Der Gesetzentwurf sieht vor, dass den Erfindern als Vergütung 30 Prozent der Bruttoverwer- tungseinnahmen zustehen. Den Patentierungsaufwand kann die Hochschule aus den ihr verbleibenden 70 Pro- zent decken. Sie sehen, auch hier verfolgen wir im Grund- satz das gleiche Ziel wie der BLK-Beschluss, versuchen nur zu sachgerechteren und auch vergleichbaren Lösun- gen zu kommen. Bei der Ausschließung von abweichenden Vereinba- rungen zulasten der Hochschulangehörigen wollen wir si- cherstellen, dass im Zusammenhang mit Einstellungen gegenüber dem Hochschulangehörigen schlechtere Be- dingungen, als gesetzlich vorgesehen sind, vermieden werden. Der BLK-Beschluss sah derartiges Abweichen von den gesetzlichen Bestimmungen dagegen explizit vor. Hier sahen wir jedoch aufgrund der nicht unberech- tigten Ängste und Befürchtungen den besseren Weg im expliziten Ausschluss von abweichenden Vereinbarungen zulasten der Hochschulangehörigen. Ich denke, auch hier werden die weiteren Beratungen in den Fachausschüssen und auch im Bundesrat dahingehend Klarheit bringen, dass dies die bessere Umsetzung der gleichen Zielset- zung ist. Bleibt schließlich noch die Frage der Übergangsrege- lungen: Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen gibt ein Jahr lang die Gelegenheit, bestehende Lehrstuhlver- träge und Forschungsaufträge abzuwickeln oder an das neue Recht anzupassen. Dies dient der Erleichterung und auch der Planungssicherheit bei der Einführung des neuen Rechtes für alle Beteiligten. Gestatten Sie mir am Schluss meiner Ausführungen Dank zu sagen: Danken möchte ich den Fachpolitikern in den Arbeitsgruppen der Koalitionsfraktionen und den Fachabteilungen in den beteiligten Bundesministerien. Als Forschungspolitiker freue ich mich vor allem des- halb, weil es mit der Vorlage dieses Gesetzes zur Ände- rung des Gesetzes über Arbeitnehmererfindungen gelin- gen kann, die Rahmenbedingen für Wissenschaft und Forschung in Deutschland weiter zu verbessern. Auch dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer Baustein einer mo- dernen und zukunftsweisenden Wissenschafts- und For- schungspolitik, um den überfälligen Reformstau gerade in diesem für künftige Generationen wichtigen Bereich abzubauen. Dieser weitere Baustein wird seinen Beitrag dazu leisten, diesen Standort zu sichern und auszubauen. Diesen Dank betone ich umso mehr, als es bei den Aus- einandersetzungen zwischen Forschungs-, Rechts- und auch Sozialpolitikern oft genug eben darauf ankommt, die unterschiedlichsten Interessen zu verbinden. Und Aufgabe einer verantwortungsvollen Wissenschafts- und Forschungspolitik ist es eben auch, nicht nur die Frage der Verwertung zu thematisieren, sondern auch die Wis- senschaftsrechte und die Wissenschaftlerrechte zu be- achten und zu schützen. Dies ist meines Erachtens mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Koalitionsfraktio- nen gelungen und liefert den soliden Grundstein für die nun folgende Debatte. Noch offen gebliebene Fragen können wir nun den Ausschüssen und in den Beratungen des Bundesrates diskutieren. Ich lade Sie hierzu herzlich zur Mitarbeit ein und sehe Ihren Vorschlägen mit großem Interesse entgegen. Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Beide Gesetzent- würfe verfolgen das Ziel, das bislang unbefriedigende Pa- tentaufkommen an den deutschen Hochschulen zu steigern und den Wissens- und Technologietransfer zwischen Hochschulen und Wirtschaft zu fördern. Zu diesem Zweck soll das Hochschullehrerprivileg des § 42 Arbeitnehmer- erfindungsgesetz stark eingeschränkt werden. Dieses Son- derrecht macht die von bestimmten Beschäftigten an den Hochschulen im Rahmen ihrer Diensttätigkeit gemachten Erfindungen in Abweichung von dem allgemeinen Arbeit- nehmererfindungsrecht derzeit grundsätzlich zu freien Er- findungen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt diese Zielsetzung und ist bereit, an deren Umsetzung kon- struktiv mitzuwirken. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt auch, dass die entsprechenden Änderungen zügig erfolgen sollen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116704 (C) (D) (A) (B) und die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu diesem Zweck einen eigenen Gesetzentwurf einge- bracht haben, nachdem das Bundeskabinett offenbar nicht in der Lage war, einen gleich lautenden Referenten- entwurf von BMJ und BMA zügig zu beschließen. Die- ser soll erst am 13. Juni dem Bundeskabinett zugeleitet werden. Die Regierungsfraktionen müssen sich allerdings die Frage gefallen lassen, warum sie zum jetzigen Zeitpunkt lediglich einen einzelnen Paragraphen des Arbeitnehmer- erfindungsgesetzes ändern wollen, obwohl bereits seit Beginn dieser Legislaturperiode unbestreitbar feststeht, dass dieses Gesetz als Ganzes dringend reformbedürftig ist. So erfreulich es ist, dass nun zumindest im Hoch- schulbereich die längst fällige Reform angegangen wird, so wenig ist es verständlich, warum die Bundesregierung bislang nicht in der Lage war, einen umfassenden Re- formentwurf zu erarbeiten. Offenbar ist dieses Projekt – wie auch einige andere – mangels ausreichender Pres- tigeträchtigkeit ein Opfer des durch die so genannte Jus- tizreform verursachten Reformstaus in der Rechtspolitik geworden. Bereits im Jahre 1999 haben sich zahlreiche Arbeitge- berverbände mit diesem Reformanliegen an Frau Däubler-Gmelin gewandt, die sich offiziell auch reform- willig gezeigt hat. Nun sind fast zwei Jahre vergangen und nichts ist passiert. Dabei gehört die Stärkung der Wirt- schaftskraft durch Innovationsförderung zu den in der Koalitionsvereinbarung erklärten Zielen dieser Bundesre- gierung. Wie sich der Begründung Ihres Gesetzentwurfes entnehmen lässt, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, wissen Sie um die dringende Reformbedürftigkeit des Arbeitnehmererfin- dungsgesetzes. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion for- dert Sie daher auf: Lassen Sie es nicht bei dieser kleinen Änderung bewenden. Reformieren Sie endlich das ganze Arbeitnehmererfindungsgesetz. Befreien Sie dieses Ge- setz von Investitionshemmnissen und bürokratischem Ballast! Reagieren Sie auf die Herausforderungen der Globalisierung und der mit dieser verbundenen Interna- tionalisierung der Forschung. Wir sind bereit, hieran mit- zuwirken. Lassen Sie mich zu den Einzelregelungen der beiden Gesetzentwürfe Folgendes sagen: Ein Manko des Frakti- onsentwurfes ist zweifellos der fehlende Hinweis auf die Geltung der allgemeinen Vorschriften des Arbeitnehmer- erfindungsgesetzes, wie dies der Bundesratsentwurf zu- treffend vorsieht. Nur ein solcher Hinweis macht die nachfolgenden Regelungen verständlich. Beide Entwürfe sehen Regelungen vor, die der aus der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG resultierenden positiven und negativen Publikations- freiheit Rechnung tragen sollen. Die Regelungen zur positiven Publikationsfreiheit sind im Grundsatz nicht zu beanstanden. Die im Fraktionsent- wurf vorgesehene Monatsfrist zwischen Anzeige und Of- fenbarung der Erfindung – § 42 Abs. 1 Nr. 1 – dürfte al- lerdings zu kurz greifen, da die Schutzrechtsanmeldung in diesem Zeitraum in aller Regel nicht zu bewerkstelligen ist. Nach der Offenbarung wird die Erfindung aber zum Stand der Technik und ist damit der Patentierbarkeit ent- zogen. Mit Blick auf die negative Publikationsfreiheit, also das Recht des Wissenschaftlers, die Erfindung der Öf- fentlichkeit nicht mitzuteilen, will der Entwurf von SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Meldepflicht der Erfin- dung ganz entfallen lassen, wenn der Hochschullehrer seine Erfindung nicht veröffentlichen will, § 42 Abs. 1 Nr. 2. Der Bundesratsentwurf sieht demgegenüber in § 42 Abs. 1 Nr. 3 E in Verbindung mit § 5 AfbNErfG ein bloßes Widerspruchsrecht bei einer generellen Meldepflicht vor. Ich bin der Auffassung, dass die Bundesratslösung im Hinblick auf die Zielrichtung des Entwurfs, das Paten- taufkommen an den deutschen Hochschulen zu erhöhen, deutlich mehr überzeugt. Hier werden wir gemeinsam überlegen müssen, welche Lösung der Wissenschaftsfrei- heit eher gerecht wird. Auch nach der Inanspruchnahme durch die Hoch- schule soll der Erfinder nach beiden Gesetzentwürfen ein nicht ausschließliches Benutzungsrecht der Erfindung im Rahmen seiner wissenschaftlichen Lehr- und Forschungs- tätigkeit haben. Diese Regelungen – Bundesrat: § 42 Abs. 1 Nr. 4; Fraktionen: Nr. 3 – sind zu begrüßen. In der Frage der Vergütung für den Erfinder bei Ver- wertung der Erfindung durch den Dienstherrn ist aus mei- ner Sicht die in dem Fraktionsentwurf unter § 42 Abs. 1 Nr. 4 vorgeschlagene Lösung – 30 Prozent des Bruttover- wertungserlöses – vorzuziehen. Diese orientiert sich zwar an der ohnehin bislang im Rahmen – von vertraglichen Vereinbarungen praktizierten Drittellösung – ein Drittel des Nettoerlöses erhält die Hochschule, ein Drittel das Institut, dem der Erfinder angehört, und ein Drittel der Er- finder selbst –, hängt aber in der Höhe nicht von den im Einzelfall schwer ermittelbaren Patentierungskosten ab. Dies sieht jedoch der Bundesratsentwurf vor. Über andere Details der Entwürfe – wie beispielweise den Kreis der einzubeziehenden Beschäftigten der Hochschule – werden wir sicher ebenfalls noch sprechen müssen. Ich fordere Sie nochmals auf: Arbeiten Sie gemeinsam mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion an einer praxisge- rechten Lösung im Sinne aller Beteiligten. Dieser kommt der Gesetzentwurf des Bundesrates derzeit allerdings näher als Ihr Entwurf. Vielen Dank. Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erstens. Ausgangslage – brachliegende Innovations- potenziale. In der bisherigen Gesetzesstruktur gibt es weder für Wissenschaftler noch für die Hochschulen Anreize, um Erfindungen in Patente umzusetzen und damit wirtschaft- lich zu verwerten. Auf der einen Seite verzichten die For- scher oft auf die Anmeldung zum Patent, da die Beantra- gung mühselig und die Finanzierung ungewiss ist. Statt sich mit bürokratischen Hürden auseinander zu setzen, konzentrieren sie sich lieber auf ihre eigene Stärke: das Forschen. Auf der anderen Seite profitieren Hochschulen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16705 (C) (D) (A) (B) im Gegensatz zu allen anderen Arbeitgebern und außer- universitären Forschungseinrichtungen bisher nicht von den Patenterlösen ihrer Arbeitnehmer. Demnach haben sie auch kein gehobenes Eigeninteresse an der Anmeldung und anschließenden Verwertung von Erfindungen. In der Konsequenz stehen wir vor dem Dilemma, dass das Innovationspotenzial an den deutschen Universitäten brachliegt. Statt gute Ideen in Erfindungen umzusetzen und somit ökonomisch zu nutzen, bleiben sie im Getriebe der bürokratischen Universitätsstrukturen hängen. Zweitens. Ziel des Gesetzes – Stärkung des Patent- rechts der Universitäten. Mit der Reform des Hochschullehrerprivilegs werden wir diese verkrusteten Strukturen aufbrechen und das bis- her brachliegende Innovationspotenzial an den Hoch- schulen nutzen. Mit dem neuen Gesetz werden die Hoch- schulen zukünftig das Recht haben, die Erfindungen ihres Personals zu verwerten – innerhalb eines Monats erhalten sie das Exklusivzugriffsrecht. Die Forscher werden im Gegenzug an den Patenterlösen mit einem Drittel beteiligt und brauchen sich nicht um finanzielle und bürokratische Fragen der Patentanmeldung und -verwertung kümmern. Entscheidende Verbesserungen stellen sich in drei Fel- dern ein: Zukünftig werden wieder mehr Patente ange- meldet und verwertet. Gute Ideen bleiben nicht in Schub- laden liegen. Den Hochschulen wird die Möglichkeit gegeben, aus ihren eigenen Investitionen auch Kapital zu schlagen – wenn sie anfangen selbst aktiv zu werden. Zwischen Wirtschaft und Universität wird ein intensive- rer Wissens- und Technologietransfer stattfinden. Der Diffusionsgrad von Forschungsergebnissen aus den Unis in die Wirtschaft hinein wird erhöht. Drittens. Flankierende Maßnahme – Aufbau einer brei- ten Patent- und Verwertungsinfrastruktur. Bei der Reform des ArbNErfG geht es allerdings nicht darum, Inseln der Patentverwertung innerhalb der Hoch- schulen zu schaffen. Vielmehr sollen diese eng mit wirt- schaftlichen Interessen verzahnt werden und an den Be- dürfnissen gerade der kleinen und mittleren Unternehmen orientiert sein. Die universitären Patentverwertungsstruk- turen müssen in ein wirtschaftliches Netzwerk eingebun- den sein. Daher wird die rot-grüne Regierung parallel eine Ver- wertungsoffensive starten und den Aufbau einer breiten Patent- und Verwertungsstruktur an den deutschen Hoch- schulen unterstützen. Hier gilt es, Kosten von Patentan- meldungen in der Anfangsphase zu bezuschussen, Mitar- beiter in einer Qualifizierungsoffensive für die Patentverwertungsstrukturen auszubilden und die Ver- wertungslandschaft in Deutschland zu vernetzen und Kommunikations- und Kooperationsplattformen aufzu- bauen. An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen explizit da- rauf gedrängt hat, die Reform des Hochschullehrerprivi- legs einer allgemeinen Novelle des ArbNErfG vorzuzie- hen. Andernfalls hätte die Gefahr einer zeitlichen Verzögerung bestanden. In unseren Augen ist diese Re- form ein erster Schritt zu einer umfassenden Reform der Hochschulen, die auf mehreren Ebenen stattfinden muss. Die Verbesserung der Patentverwertung war überfällig und zwingend notwendig, ihr müssen jedoch weitere Re- formen folgen. Rainer Funke (F.D.P.): Seit mindestens sechs Jahren wird mit den Wirtschaftsverbänden über eine Novellie- rung des Arbeitnehmererfindergesetzes diskutiert. Ange- strebt wurde eine allgemeine Reform des Arbeitnehmer- erfinderrechts; dabei ging es vor allen um den Abbau unnötiger Verwaltungsstrukturen und eine Vereinfachung des Vergütungssystems. Diese Forderung ist dem Grunde nach auch berechtigt. Zusätzlich zu der allgemeinen Re- form des Arbeitnehmererfinderrechts stand die Änderung des Hochschullehrerprivilegs zur Debatte. Nach der der- zeitigen Regelung gehört die Erfindung den Hochschul- lehrern und kann, anders als in der freien Wirtschaft, nicht vom Arbeitgeber oder seinem Dienstherrn zur Verwertung in Anspruch genommen werden. Nachdem viele Jahre unstreitig war, dass das Arbeit- nehmererfindergesetz einer generellen Überarbeitung be- darf, einschließlich des Hochschullehrerprivilegs, ist in den letzten Monaten Hektik dadurch entstanden, dass das Bundesforschungsministerium, das für diese Gesetze noch nicht einmal zuständig ist, eine neue Regelung des § 42 des Arbeitnehmererfindergesetzes fordert. Diese Hektik ist sicherlich auch entstanden durch den parallel eingebrachten Entwurf des Bundesrates, der für Erfin- dungen des wissenschaftlichen Personals aus dienstlicher Tätigkeit eine modifizierte Beteiligung der Hochschul- lehrer an den Erträgen der Diensterfindungen vorsieht. Es ist offensichtlich, dass hier wirtschaftliche Interes- sen in ganz erheblichem Umfang im Spiel sind und durch die Vorabbehandlung des Hochschullehrerprivilegs Fak- ten geschaffen werden sollen, die dann in der allgemeinen Form des Arbeitnehmererfindergesetzes präjudiziell wir- ken sollen. Wir werden beim Durchpeitschen des Hoch- schullehrerprivilegs nicht mitwirken, sondern eine um- fassende Beratung verlangen, auch durch Anhörung. Dies ist auch erforderlich, weil die gesamte Drittmittelfrage der Hochschulen zur Debatte steht, aber auch Fragen von Verwertungsgesellschaften, an denen wiederum die Hochschullehrer beteiligt sind. Dabei muss auch unter- sucht werden, ob nicht eine schlichte Streichung des Hochschullehrerprivilegs zweckmäßig ist und im Hin- blick des Grundrechts auf Forschungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes gesonderte Bestimmungen notwendig sind. Insgesamt sind wir der Auffassung, dass alle Fragen des Arbeitnehmererfinderrechts, wie von der Bundesre- gierung beabsichtigt, im Herbst diesen Jahres durch eine Novellierung insgesamt zu regeln sind. Ich vermag einen Unterschied zwischen Ingenieuren in der Privatwirtschaft und Professoren an Hochschulen nicht zu erkennen. Maritta Böttcher (PDS): Grundsätzlich ist zu be- grüßen, dass die Koalition nach jahrelangen Ankündigun- gen eine Überarbeitung des so genannten Hochschulleh- rerprivilegs im Arbeitnehmererfindungsgesetz aus dem Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116706 (C) (D) (A) (B) Jahre 1957 in Angriff nimmt. Ich darf in diesem Zusam- menhang darauf aufmerksam machen, dass die PDS-Fraktion als erste Bundestagsfraktion bereits in ihrem Antrag zur Personalstruktur- und Dienstrechtsre- form an Hochschulen und Forschungseinrichtungen vom Juli 2000 einen Reformbedarf von § 42 des Arbeitneh- mererfindungsgesetzes festgestellt und die Bundesregie- rung zur Aufhebung des Hochschullehrerprivilegs zuguns- ten einer Gleichbehandlung aller an Hochschulen und Forschungseinrichtungen Beschäftigten aufgefordert hat. Offensichtlich hat es aber für eine Gesetzesinitiative der Koalitionsfraktionen des zusätzlichen Anstoßes der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und For- schungsförderung bedurft, die im Oktober 2000 nach ei- ner Anhörung mit Beteiligten und Betroffenen einen No- vellierungsvorschlag vorgelegt hat. An diesem Vorschlag orientiert sich der heute ebenfalls zur Debatte stehende Gesetzentwurf des Bundesrats. Es ist das Verdienst des PDS-Antrags zur Personalstruktur- und Dienstrechtsre- form und des Gesetzentwurfs des Bundesrats zur Förde- rung des Patentwesens an Hochschulen, dass wir bereits heute und nicht erst im Herbst oder Winter – man denke an die immer noch ausstehenden Gesetzentwürfe der Re- gierung zur Reform des Hochschuldienstrechts – eine erste Lesung der Novellierung des Arbeitnehmererfin- dungsgesetzes durchführen können. Die PDS befürwortet eine Novellierung des so ge- nannten Hochschullehrerprivilegs im Arbeitnehmererfin- dungsgesetz aus zwei Gründen. Erstens haben wir es mit einem Privileg der Hochschullehrerinnen und Hochschul- lehrer, das heißt konkret nach Maßgabe des geltenden Rechts der Professorinnen und Professoren, Dozentinnen und Dozenten sowie wissenschaftlichen Assistentinnen und Assistenten an wissenschaftlichen Hochschulen zu tun. Die PDS ist grundsätzlich gegen Privilegien von Per- sonengruppen, die andere, nicht privilegierte Gruppen ohne sachliche Gründe, also willkürlich, benachteiligen. So sehr besondere, wissenschaftsadäquate Regelungen für Hochschulen und Forschungseinrichtungen aufgrund der Geltung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit gerechtfertigt sein mögen, so wenig ist die Bevorzugung einer bestimmten Gruppe von Trägern dieses Grundrechts legitim. Nicht nur Hochschullehrerinnen und Hochschul- lehrer, sondern das gesamte wissenschaftliche Personal einer Hochschule, ja sogar die Studierendenschaft, kann das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit in Anspruch nehmen. Und: Nicht nur so genannte wissenschaftliche Hochschulen, also Universitäten, sondern alle Hochschu- len, das heißt ausdrücklich auch Fachhochschulen, liegen im Anwendungsbereich des Grundrechts der Wissen- schaftsfreiheit. Grundsätzlich nichts anderes gilt für die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen. Wenn es also im Arbeitnehmererfindungsgesetz Bedarf an be- sonderen, wissenschaftsadäquaten Regelungen gibt, so müssen sich diese Ausnahmeregelungen auf alle Hoch- schulen und Forschungseinrichtungen und alle dort täti- gen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erstrecken. Die Gesetzentwürfe sowohl der Koalitionsfraktionen als auch des Bundesrats bleiben hinter diesen Anforderungen zurück. Zweitens befürwortet die PDS eine Novellierung des Arbeitnehmererfindungsgesetzes, weil wir stärker dem Umstand Rechnung tragen müssen, dass Erfindungen im hochschulisch verfassten Wissenschaftsprozess in der Re- gel nicht nur dank der intellektuellen Kapazitäten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sondern auch unter Nutzung der von der öffentlichen Hand bereit- gestellten wissenschaftlichen Infrastruktur – von der Schreibkraft über die Fachbibliothek bis hin zu Groß- geräten in natur- oder ingenieurwissenschaftlichen Labo- ren – zustande kommen. Es ist daher legitim, dass nicht nur Aufwand und Investitionen, die zu wissenschaftlichen Erkenntnissen führen, sondern auch Erträge und Erlöse, die sich daraus möglicherweise ergeben, sozialisiert wer- den – und nicht, wie es all zu häufig üblich ist, die Unkos- ten sozialisiert, die Gewinne aber privatisiert werden. Das geltende Recht trägt diesem Erfordernis nur unzulänglich Rechnung, da die Hochschulen gemäß § 42 Abs. 2 des Ar- beitnehmererfindergesetzes nur dann eine angemessene Beteiligung am Ertrage der Erfindung beanspruchen kön- nen, wenn sie „besondere“ Mittel hierfür aufgewandt ha- ben. Die in den vorliegenden Gesetzentwürfen vorge- schlagene Regelung – ein Drittel für die Erfinderin oder den Erfinder, zwei Drittel für die Hochschule – scheint mir eine brauchbare Grundlage für eine Novellierung zu sein. Ich habe eingangs begrüßt, dass die Koalitionsfraktio- nen endlich überhaupt einen Gesetzentwurf vorgelegt ha- ben. Was die Inhalte und Zielsetzungen dieses Gesetzent- wurfs betrifft, muss ich leider weiter Essig in den Wein gießen. Der Forderung der PDS nach einer Gleichstellung des gesamten Personales kommt der Gesetzentwurf zwar grundsätzlich nach, macht aber zwei wesentliche Ein- schränkungen. Zum einen ist die Ausnahmeregelung des § 42 weiterhin nur auf Hochschulen beschränkt: zwar er- freulicherweise nicht nur auf wissenschaftliche Hoch- schulen, aber an außerhochschulischen Forschungsein- richtungen hat die Regelung keine Geltung, auch nicht an staatlichen oder staatlich finanzierten Forschungseinrich- tungen. Zum anderen möchten SPD und Bündnis 90/Die Grünen zentrale Norminhalte von § 42 auf das wissen- schaftliche Personal, womöglich sogar wie bisher auf Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer, beschränkt wissen. Dies ergibt sich aus der Begründung des Gesetz- entwurfs zu Art. 1 Nr. 2, wo es heißt, dass die besonderen Schutzbestimmungen von § 42 „für nicht wissenschaft- lich Tätige ohne Auswirkung“ bleiben sollen. Beides kann ich nicht akzeptieren. Ich kann aber vor allem eine weitere zentrale Zielset- zung des Gesetzentwurfs nicht akzeptieren. Ich halte es zwar grundsätzlich für ein legitimes und unterstützens- wertes Anliegen, den Beitrag der Hochschulen zu techno- logischen Innovationen auch im wirtschaftlichen Bereich zu stärken und in diesem Zusammenhang die Möglichkeit der Hochschulen und ihrer Mitglieder, selbst Patente an- zumelden und zu verwerten, zu optimieren. Es wäre näm- lich falsch, wenn Erfindungen, die in öffentlich finanzier- ten Einrichtungen gemacht werden, nur außerhalb dieser Einrichtungen, – in der privatwirtschaftlichen Industrie, verwertet werden könnten. Allerdings wäre es ebenso Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16707 (C) (D) (A) (B) falsch, die öffentlich finanzierten Wissenschaftseinrich- tungen, an vorderer Stelle die Hochschulen, und das dort tätige Personal zur patentrechtlichen Verwertung ihrer Er- findungen zu zwingen. Der vorliegende Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen trägt diesen Bedenken zunächst dadurch Rechnung, dass Erfinderinnen und Erfindern – mit der erwähnten Einschränkung für nicht wissen- schaftlich Tätige – das Recht haben sollen, ihre Erfindung geheim zu halten. Was den Erfinderinnen und Erfindern aber nicht zugestanden wird, ist ein Recht, die Erfindung weder geheim zu halten noch sie von der Hochschule pa- tentieren und verwerten zu lassen, sondern sie durch eine Veröffentlichung der kommerziellen Nutzung ein für alle Mal zu entziehen. Die Erfinderinnen und Erfinder müssen vor Veröffentlichung ihrer Erfindungen vielmehr ihren Dienstherren Gelegenheit geben, ein Patent anmelden zu können. Zwar soll den Erfinderinnen und Erfindern das „nicht ausschließliche Recht“ zugestanden werden, ihre Erfindungen im Rahmen ihrer Forschungs- und Lehr- tätigkeit zu nutzen, aber eben nur, wenn eine gleichzeitige kommerzielle Nutzung ermöglicht wird. Hierin sehe ich einen eklatanten, verfassungsrechtlich nicht zu rechtferti- genden Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. Das Prinzip der Öffentlichkeit ist geradezu konstitutiv für den – ins- besondere hochschulisch organisierten und öffentlich finanzierten – Wissenschaftsprozess, bei dem es sich ent- sprechend des neuzeitlichen aufklärerischen Wissen- schaftsverständnisses um eine res publica handelt. Wir sollten daher die große Bedeutung der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen respektieren und nicht leicht- fertigen ökonomischen Gewinninteressen oder dem inter- nationalen Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte opfern. Da die Bundesregierung im Zusammenhang mit ihrem Aktionsprogramm „Wissen schafft Märkte“ eine regel- rechte „Verwertungsoffensive“ an den Hochschulen aus- gerufen hat, möchte ich abschließend die Frage aufwer- fen, ob Sie die damit verbundenen Gefahren für die Hochschulentwicklung ausreichend reflektiert haben. Die Hochschulen sollen demnach durch die vorgeschlagene Gesetzesnovellierung ja erklärtermaßen systematisch er- muntert werden, solche Forschungsschwerpunkte einzu- richten und jene Hochschullehrerinnen und Hochschul- lehrer zu berufen, die besonders hohe Patentierungs- und Verwertungserlöse für die Hochschulen versprechen. Die absehbare Folge wäre eine einseitige Anpassung der Hochschulentwicklung an das Kriterium der ökonomi- schen Verwertbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse, zumindest solange die Hochschulen aufgrund einer struk- turellen Unterfinanzierung zwingend auf zusätzliche Ein- nahmen angewiesen sind. Wir brauchen sehr wohl eine stärkere Öffnung der Hochschulen in die Gesellschaft, aber die Hochschulen dürfen nicht zu verlängerten Werk- bänken und Labors der Industrie degradiert werden. Dr. Eckart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministerin der Justiz: Heute liegt uns ein Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Änderung des Gesetzes über Arbeitnehmererfindungen vor. Parallel hierzu haben wir über den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des Pa- tentwesens an den Hochschulen zu beraten, der vom Bun- desrat in den Deutschen Bundestag eingebracht wurde. Bevor wir uns diesen beiden Gesetzentwürfen im De- tail widmen, lassen Sie mich ein paar allgemeine Aus- führungen machen: Das Gesetz über Arbeitnehmererfin- dungen ist eine der für die Wirtschaft bedeutendsten Regelungen auf dem Gebiet des Patentrechts. Seine Auf- gabe ist es, festzulegen, wem eine Erfindung zusteht und wer sie nutzen darf. Das Gesetz über Arbeitnehmererfin- dungen ist nach einer außergewöhnlich intensiven Dis- kussion, die bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht, im Jahre 1957 in Kraft getreten. Es wurde – und dies ist be- merkenswert für ein Gesetz mit arbeitsrechtlichem Ein- schlag – einstimmig beschlossen und gilt bis heute weit- gehend unverändert fort. Obwohl der Verwaltungs- aufwand für die Arbeitgeber und der Eingriff in die be- triebliche Patentpolitik durch den gesetzlich normierten Anmeldezwang erkannt wurde, wurde der Vorteil des Ar- beitnehmererfindungsgesetzes in der grundsätzlichen rechtssystematischen Geschlossenheit, der sozialen Aus- gewogenheit und der Rechtssicherheit gesehen. Auch das gesetzlich normierte so genannte Hochschullehrerprivileg galt als gesicherter und notwendiger Bestandteil des Ar- beitnehmererfindergesetzes. Nach nunmehr über 40 Jahren hat sich die Bundesre- gierung daran gemacht zu untersuchen, welche Bestim- mungen des Gesetzes über Arbeitnehmererfindungen nicht mehr zeitgemäß sind. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und das Bundesministerium der Justiz, die gemeinsam für das Arbeitnehmererfinder- recht federführend sind, haben zu diesem Zweck am 23. März 2000 eine Anhörung zu einem möglichen Re- formbedarf beim Gesetz über Arbeitnehmererfindungen durchgeführt. Die Anhörung hat ergeben: Das Gesetz über Arbeitnehmererfindungen bedarf einer Reform. Beide Ressorts arbeiten deshalb an einem Referentenentwurf für eine Gesamtreform des Arbeitnehmererfinderrechts, der bis zum Sommer diesen Jahres vorliegen soll. Als Teil die- ser Gesamtreform war ursprünglich auch eine Änderung des § 42 Arbeitnehmererfindungsgesetz vorgesehen. Das vorrangige Ziel, den Aufbau von Patentinfrastruktur an Hochschulen mit Bundesmitteln zu unterstützen, erfor- dert allerdings eine vorrangige Behandlung des Pa- tentwesens an Hochschulen. Auch die Bundesregierung hat deshalb einen Gesetzentwurf erarbeitet, der in Kürze dem Kabinett vorgelegt wird. Ziel aller Regelungen ist die Förderung des Wissens- und Technologietransfers zwischen den Hochschulen und der Wirtschaft. Erreicht werden soll dieses Ziel durch eine Anpassung der Rechte an Erfindungen von Hochschul- lehrern an die veränderten Rahmenbedingungen der Hochschulforschung. Nach dem geltenden § 42 Arbeit- nehmererfindungsgesetz sind die von Professoren, Do- zenten und wissenschaftlichen Assistenten gemachten Er- findungen freie Erfindungen. Den betreffenden Personen steht es also frei, ihre Erfindungen durch ein Patent- oder Gebrauchsmusterrecht schützen zu lassen. Anders sieht es hingegen bei den Arbeitnehmern im privaten oder öffent- lichen Dienst aus. Diese sind verpflichtet, ihrem Arbeit- geber ihre Erfindungen zu melden, der dann das Recht hat, diese in Anspruch zu nehmen. Durch die vorliegen- den Gesetzentwürfe sollen Professoren, Dozenten und wissenschaftliche Assistenten den Arbeitnehmern im Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116708 (C) (D) (A) (B) privaten und öffentlichen Dienst grundsätzlich gleichge- stellt werden, was zu begrüßen ist. Bei Regelungen mit Auswirkung auf die Wissenschaft müssen wir aber die in Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes garantierte Wissenschaftsfreiheit beachten. Das individu- elle Grundrecht der freien wissenschaftlichen Betätigung muss soweit als möglich unangetastet bleiben. Die posi- tive und negative Publikationsfreiheit muss gewahrt wer- den. Diesem Erfordernis wird der von den Koalitions- fraktionen vorgelegte Gesetzentwurf besser gerecht als der Gesetzentwurf des Bundesrates, so dass dieser aus Sicht des BMJ als der vorzugswürdigere erscheint. Der vom Bundesrat vorgelegte Entwurf hat hier ein- deutig Schwächen. Demgegenüber trägt der Entwurf der Koalitionsfraktionen dem Ziel, Technologietransfer zwi- schen den Hochschulen und der Wirtschaft zu fördern, besser Rechnung. Und er beachtet Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes in stärkerem Maße. Ich unterstütze des- halb den Koalitionsentwurf! Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Importverbot für qualgezüchtete Tiere – des Antrages: Haltungs- und Ausstellungsverbot für qualgezüchtete Tiere (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesordnungs- punkt 6) Heino Wiese (SPD):Mit großer Verwunderung konn- ten wir in den letzten Tagen feststellen, dass die CDU sich in ihrer Haltung zum Tierschutz neu orientiert. Das Im- portverbot für qualgezüchtete Tiere hat die CDU noch in der letzten Legislaturperiode verhindert. Jetzt wollte die CDU dieses Importverbot für qualgezüchtete Tiere selbst in das Gesetzbuch bringen. Und noch mehr: Die CDU, de- ren Verhinderungstaktiken bezüglich des Tierschutzes in den vergangenen Jahren die Debatten bestimmte, stimmt heute sogar einem Haltungsverbot für qualgezüchtete Tiere zu. Was verstehen wir unter Qualzüchtungen? Im Tier- schutzgesetz heißt es in § 11, dass man züchtungsbedingte Veränderungen, die Schmerzen, Leiden oder Schäden ver- ursachen, diesem Tatbestand zuordnet. Lassen sie mich ein paar Beispiele nennen: Da gibt es die Bulldogge, die wegen ihrer angezüchteten Platt- schnauze kaum noch Luft bekommt und an heißen Tagen nur noch in der kühlen Nachtluft Gassi gehen darf. Ein an- deres Beispiel ist die Warzentaube, bei der der Schnabel unter einer tumorähnlichen Wucherung verschwindet. Diese Tiere sind stark sehbehindert und können nur durch ihren offenen Schnabel atmen, da die Nasenlöcher zuge- wuchert sind. Im Internet habe ich das Angebot einer Züchterin aus Amerika gesehen, die Katzen anbietet, deren Vorderläufe verkürzt sind und die als Känguru-Katzen angeboten wer- den, da sie nur noch auf den Hinterbeinen stehen können. Was muss es für eine Qual für ein Tier sein, für den so ge- nannten Tierfreund ein Ausstellungsstück oder ein putzi- ger Begleiter zu sein. Dem Tier können wir es oft nicht an- sehen – oder manchmal eben doch –, dass sein putziges oder schönes Aussehen nur durch eine Qualzüchtung zu- stande gekommen ist. Solche Qualzüchtungen sind schon seit dem In-Kraft- Treten des neuen Tierschutzgesetzes in Deutschland ver- boten. Wir wollen und müssen verhindern, dass Hunde im Handtaschenformat produziert und Tiere zu Krüppeln ge- züchtet werden, damit Wettkämpfe, Kampforgien und an- dere perverse Spiele betrieben werden können. Wir haben die Aufgabe, unsere Mitgeschöpfe zu schüt- zen und lebenswert zu erhalten und nicht zu quälen und ihnen zu schaden. Deswegen begrüße ich auch den vor- liegenden fraktionsübergreifenden Antrag zu einem Hal- tungs- und Ausstellungsverbot für qualgezüchtete Tiere. Denn dadurch schließen wir die Lücke im Tierschutzge- setz, die es noch erlaubt, solche Züchtungen aus dem Aus- land nach Deutschland einzuführen. Es kommt ja nicht oft vor, aber heute verfolgen alle Fraktionen dieses Hauses das gleiche Ziel: Wir fordern gemeinsam die Bundesregierung auf, umgehend eine Ver- ordnung zu erlassen, die ein nationales Haltungs- und Ausstellungsverbot auf alle Wirbeltiere aus Qualzüchtun- gen nach § 11 des Tierschutzgesetzes ausdehnt. Ich hoffe, die CDU meint mit ihrer Zustimmung zu dem Gesetz nicht nur die qualgezüchteten Heim- und Ausstellungstiere, sondern auch Nutztiere, wie den Trut- hahn, der aufgrund der besonders schweren Brust nicht mehr laufen kann. Tierschutz gilt für die SPD vor allem auch für die Tiere, die der Mensch aus Wirtschaftlich- keitsgründen und Gründen der so genannten Leistungs- steigerung deformiert und quält. Wenn wir uns auch in diesem Sinne mit Herrn Ronsöhr einigen können, wird sich die CDU ja vielleicht irgendwann nicht mehr als ein- zige Partei unserem Hauptwunsch „Tierschutz ins Grund- gesetz“ verschließen. Ich fände es jedenfalls sehr be- grüßenswert, wenn die Parteien mit dem „C“ im Sinne der Schöpfung handeln würden und die Tiere vor Gewinn- streben und menschlicher Geltungssucht in Schutz neh- men würden. Die SPD, die anderen Fraktionen und alle echten Tierfreunde würden es ihnen danken. Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Unser Ziel, das Leiden qualgezüchteter Tiere zu beenden, ist uns wichtig, weniger der Weg dahin. Im Sommer des letzten Jahres haben wir an dieser Stelle unseren Antrag „Import- verbot für qualgezüchtete Tiere“ behandelt. Von Regie- rungsseite wurde dieser Antrag damals mit der Begrün- dung abgelehnt, ein Importverbot für qualgezüchtete Tiere könne nach deutschem Recht nicht erlassen werden, da das Tierschutzgesetz dafür keine Ermächtigungs- grundlage vorsehe. Außerdem wurde gegen den Antrag ins Feld geführt, er verstoße gegen die Vorschriften der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16709 (C) (D) (A) (B) Europäischen Gemeinschaft über den freien Warenver- kehr, darüber hinaus gegen das WTO-Übereinkommen. Insofern wurde unser Antrag abschlägig beschieden. Wir haben die Diskussion aber weiter hochgehalten und es hat sich gezeigt, dass es auch einen anderen Weg gibt, die Qualzucht zu verbieten. Ich finde es deshalb gut, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag der Regie- rungskoalitionen und von CDU/CSU vorlegen können, der auf ein Haltungs- und Ausstellungsverbot abzielt. Ich möchte allerdings dabei noch einmal festhalten, dass wir diesen Antrag heute nur deshalb vorliegen haben, weil wir bei diesem Thema nicht locker gelassen haben. Ich erlebe immer wieder, dass ich gefragt werde, was denn Qualzucht überhaupt ist. Deshalb ist es angebracht, sich einmal etwas eingehender mit diesem Begriff aus- einander zusetzen. Schon immer hat der Mensch durch Auslese und Zucht versucht, Tiere speziellen Anforderun- gen anzupassen; denken wir nur an die Jagdhunde: Hier den Dackel, dort den Vorstehhund. Durch Auslese und Züchtung sind auch die sehr unterschiedlichen Rinder-, Schaf-, Ziegen- und Pferderassen entstanden. Der Mensch war früher bei der Tierhaltung viel abhängiger von Standortbedingungen als heute. Nicht von ungefähr tragen viele alte Rassen den Namen der jeweiligen Land- schaft, in der sie heimisch waren. Heute kann man zu- mindest teilweise durch entsprechenden Stallbau die Außenbedingungen weitgehend egalisieren; das höhere Leistungspotenzial der dort gehaltenen Tiere hat die alten Rassen verdrängt, die wir heute durch Sonderprogramme zu erhalten versuchen. Sicher hat man in der Vergangenheit auch in der Zucht unserer Nutztiere Fehler gemacht, indem man in be- stimmten Fällen zuviel Gewicht auf das Merkmal Leis- tung gelegt hat. Insgesamt kann man aber feststellen: Hätten wir es nur mit der Züchtung unserer landwirt- schaftlichen Nutztiere zu tun, so bräuchten wir uns über das heutige Thema der Qualzüchtungen nicht zu unter- halten. Diese in dem Gutachten zur Auslegung von § 11 b des Tierschutzgesetzes ausführlich beschriebenen Ver- irrungen bei den Zuchtzielen sind sämtlich auf die Be- strebungen zurückzuführen, den Tieren eine selbst defi- nierte Art der Schönheit angedeihen zu lassen. Das Ergebnis dieser Bemühungen äußert sich dann in Minder- leistung der Sinnesorgane, Deformation des Skelettes, ge- minderter Fortpflanzungsfähigkeit oder auch Verhaltens- störungen, weil die Zucht auf Schönheitsmerkmale oder auch auf bestimmte Größenvorstellungen mit Schäden der Tiere gekoppelt ist, die bei diesen Leiden auslösen. Dieses Problem ist schon seit längerem bekannt und man hat bei der Tierschutzgesetzgebung darauf reagiert. Nach § 11 b des Tierschutzgesetzes ist es verboten, Wir- beltieren Schmerzen, Leiden oder Schäden durch Zucht zuzufügen. Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass man Auflagen und Verbote nur aussprechen kann, wenn man dafür nachvollziehbare Kriterien hat. Das Gutachten zur Auslegung von § 11 b des Tierschutzgesetzes ist dafür eine wertvolle Hilfe. Es ist mir klar, dass die Bewertung einer Qualzucht aus Sicht des Tierschutzes und aus Sicht der betreffenden Züchter unterschiedlich vorgenommen wird. Sicher gibt es dabei auch fließende Übergänge, wel- che die konkrete Entscheidung schwierig machen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch genügend eindeutige Fälle, wie das Gutachten ausweist. Nach § 11 des Tier- schutzgesetzes ist das Bundesministerium ermächtigt, die erblich bedingten Veränderungen, Verhaltensstörungen und Aggressionssteigerungen näher zu bestimmen und dabei insbesondere bestimmte Zuchtformen und Rasse- merkmale zu verbieten oder zu beschränken. Wir haben für ein Stopp der Qualzucht das so genannte milde Mittel des Haltungs- und Ausstellungsverbotes für Wirbeltiere aus Qualzüchtungen gewählt. Mit diesem An- trag ist nun der erste Schritt getan. Es kommt aber nun da- rauf an, möglichst schnell den Sack zuzubinden und die notwendigen rechtlichen Regelungen in Kraft zu setzen. Es ist richtig und rechtlich auch nicht anders machbar, dass die qualgezüchteten Tiere, die im Augenblick bereits in Deutschland gehalten werden, von dem Haltungsverbot ausgeschlossen sind. Ich möchte in diesem Zusammen- hang auch dafür plädieren, dass mit der Ermächtigung nach § 11 des Tierschutzgesetzes sensibel vorgegangen wird. Welche Zuchtformen bzw. Rassemerkmale als Qualzüchtungen einzustufen sind, sollte soweit wie mög- lich in Zusammenarbeit mit den Hobbyzüchtern festge- legt werden. Ich weiß, dass dies zum Teil schwierig sein wird, aber für das Erreichen des gemeinsamen Zieles ist es besser, wenn die entsprechenden Vereine mit ins Boot geholt werden können. Je weniger die Hobbyzüchter von Tierschutzanliegen überzeugt sind, desto mehr wird diese Art von Zucht dann in die Grauzone abwandern. Die Tat- sache, dass an dem Gutachten zur Qualzucht auch die Züchter und die Zuchtverbände mitgearbeitet haben, gibt Anlass zur Hoffnung. Ich möchte möglichst bald keine Qualzüchtungen mehr in Deutschland sehen, aber ebenso, dass dieses Tier- schutzanliegen europaweit verwirklicht wird. Wie in dem Antrag steht, ist dazu das europäische Übereinkommen zum Schutz von Heimtieren das entsprechende Instru- ment. Die Bundesregierung weist in ihrem Tierschutzbe- richt 2001 darauf hin, dass die Qualzuchtproblematik ein Schwerpunktthema der multilateralen Konsultation der Vertragsparteien im März 1995 war. Somit ist die Diskus- sion über das Thema Qualzucht auch auf europäischer Ebene angestoßen. Ich fordere die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass diese Diskussion auch zu einer Ent- scheidung für mehr Tierschutz in ganz Europa führt. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unser Anliegen ist es bereits seit sehr langer Zeit, tierquälerische Züchtungen ganz zu verbieten. Wir begrüßen es, dass die Bundesregierung im letzten Jahr das Tierschutzgesetz weiter in diese Richtung verbessert hat. Leider gab es immer noch eine Gesetzeslücke, weil EU- und internationales Recht verhindern, dass wir wirk- same Importverbote verhängen können. Mit dem vorliegenden Antrag zum Verbot von Haltung und Ausstellung von qualgezüchteten Tieren schließen wir diese Lücke und stärken damit den Tierschutz weiter. Wir gehen über das bereits bestehende Verbot der Qual- zucht hinaus und richten eine wirksame Barriere gegen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116710 (C) (D) (A) (B) die Haltung qualgezüchteter Tiere auf. Damit wird auch den Importen qualgezüchteter Tiere, die aufgrund ihrer Züchtung gesundheitliche Schäden haben, endlich ein Riegel vorschoben. Was sind eigentlich Qualzüchtungen? Man spricht von Qualzüchtungen, wenn Tiere erblich bedingte körperliche Defekte, Verhaltensstörungen oder Aggressionssteigerungen aufweisen. Sie finden zu unter- schiedlichen Zwecken statt. Zum einen gibt es Qualzüchtungen an Nutztieren – diese richten sich auf die leistungssteigernden Merkmale. Beispielsweise gibt es bestimmte Geflügelrassen, die der- artig auf Leistung und Gewicht getrimmt sind, dass sie kaum noch stehen können, sondern nur noch sitzen, sich so häufige Entzündungen zuziehen und nur noch mit An- tibiotika am Leben gehalten werden können. Das Bun- desverfassungsgericht hat klare Kriterien für eine tierge- rechte Haltung gesetzt. Die rot-grüne Bundesregierung wird daher auch die entsprechenden Tierhaltungsverord- nungen im Sinne des Tierschutzes verbessern. Zum anderen gibt es Qualzüchtungen an Haustieren, beispielsweise an Hunden und Katzen. So haben einige Hunde- und Katzenrassen sehr kurze Nasen, wodurch ihre Atmung stark beeinträchtigt wird, oder es gibt Kaninchen, die so lange Ohren haben, dass sie darüber stolpern. In die Kategorie der Qualzüchtungen gehören aber auch so ge- nannte Kampfhunde, denen eine Aggressionssteigerung angezüchtet wurde. Für uns geht Tierschutz vor Modeerscheinungen, die dazu führen, dass geschädigte und verstümmelte Tiere ge- züchtet und auf den Markt geworfen werden. Das gilt für Wirtschaftsinteressen zum Beispiel in der gewerblichen Geflügelfleischproduktion ebenso wie für Schönheitskri- terien bei Haustieren. Die Tiere, die aufgrund ihrer Züchtung an Schmerzen, Leiden oder gesundheitlichen Schäden leiden oder, im Falle von Kampfhunden, eine Gefährdung von Menschen darstellen, sollen künftig verboten werden. Damit erfüllen wir ein wichtiges Ziel des Tierschutzes und kommen auch dem Gutachten des früheren Bundeslandwirtschafts- ministeriums nach, das ein Verbot dieser Züchtungen empfiehlt. Ausgenommen werden zunächst die derzeit noch in Deutschland lebenden Tiere. Wir wollen selbstverständ- lich keine bereits lebenden Tiere beeinträchtigen. Ich freue mich besonders, dass wir hier ein Tierschutz- anliegen fraktionsübergreifend einbringen und, ich denke wohl einstimmig, beschließen werden. Ich würde mir von der CDU/CSU auch endlich dieses gemeinsame Vorgehen für den wichtigen Punkt Tierschutz in die Verfassung wünschen. Gudrun Kopp (F.D.P.): Um es gleich vorweg zu sa- gen: Die F.D.P. lehnt jede Form von Qualzüchtungen strikt ab! Wir Liberalen haben dem Tierschutzgesetz zu- gestimmt und starten in Kürze einen dritten Versuch, für unseren Gesetzentwurf auf Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel ins Grundgesetz endlich die nötige Zwei- drittelmehrheit zu bekommen. SPD und Grüne sowie die CDU/CSU wollen mit ihrem Antrag ein EU-rechtswidriges nationales Importverbot für Wirbeltiere/Hunde durchsetzen. Sie begründen dieses Anliegen damit, Qualzüchtungen bekämpfen zu wollen. Wie genau aber werden Qualzüchtungen definiert? Im Gutachten zur Auslegung von § 11 b des Tierschutzgeset- zes – Verbot von Qualzüchtungen – wird eine Rasseliste von Hunden wie Bullterrier, American Staffordshire Ter- rier und Pitbull Terrier genannt, und zwar im Zusammen- hang mit vermeintlich übersteigertem Angriffs- und Kampfverhalten, das angeblich als angezüchtete Verhal- tensstörung gilt. Welch ein völliger Unsinn. Es gibt kein wissenschaftliches Gutachten, das diese Vermutung un- termauert. Die Gefährlichkeit von Hunden lässt sich eben nicht an bestimmten Rassen festmachen. Das bestätigen alle Fachleute. Und genau dies scheint das eigentliche An- liegen der Antragsteller zu sein. Die EU-Kommission hat wissenschaftliche Beweise für die Rechtfertigung von Rasselisten und damit von Be- schränkungen des Imports nach Deutschland gefordert. Denn genau die erwähnten Hunderassen und eine weitere sind als Rasseliste Bestandteil des „Gesetzes zur Bekämp- fung gefährlicher Hunde“. Die F.D.P. hat diesem unsinnigen Gesetz, das zudem fundamentale Bürgerrechte aushöhlt, nicht zugestimmt. Wissenschaftlich fundierte Beweise für eine Zuordnung von Aggressivität von Hunden zu bestimmten Rassen gibt es nicht. Also droht der Bundesregierung ein Vertragsver- letzungsverfahren wegen des eingeschränkten Warenver- kehrs innerhalb der EU-Staaten. Wieder einmal fehlt es vielen Fraktionen im Deutschen Bundestag an Sachkunde. Gegen Qualzüchtungen hilft ein Heimtierzuchtgesetz und keine noch so fein verpackte rechtliche Hilfskonstruktion. Ein solches nationales Heimtierzuchtgesetz muss auch auf EU-Ebene durchge- führt werden. Dafür setzt sich die F.D.P. massiv ein. Wir, die Liberalen, schlagen deshalb vor, dass sich der Deutsche Bundestag nicht länger einer Expertenanhörung verweigert, die viele Erkenntnisse rund um das Thema Kampfhunde, Qualzüchtungen und wirksame Maßnah- men gegen gefährliche Hunde und ihre Halter bringen wird. Diesem scheinheiligen Antrag stimmt die F.D.P. nicht zu. Eva Bulling-Schröter (PDS):Haustiere sind die Part- ner der Menschen. Wir leiden, wenn das Tier leidet, pfle- gen es, wenn es krank ist und trauern, wenn es dann stirbt. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere sind Aus- stellungen, auf denen Qualzuchten prämiert werden und der Hund umso wertvoller geschätzt wird, je mehr er ei- nem menschlichen Schönheitsideal entspricht. Ich be- tone: einem menschlichen Ideal und nicht seiner Ur- sprungsart entsprechend. Die Nase muss immer kürzer sein, sodass der Hund dann nicht mehr richtig atmen kann, oder der Rücken, be- sonders bei Schäferhunden, so gerade, dass er zwangsläu- fig ab einem bestimmten Alter an Hüftschäden erkrankt. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16711 (C) (D) (A) (B) Es werden Hunde gezüchtet, die ohne Kaiserschnitt keine Jungen gebären können, und solche, die mit übergroßer Sicherheit an Bandscheibenvorfall erkranken. Und warum das alles? Im Namen der Schönheit wird die Gesundheit von Haustieren dem Markt geopfert, weil es unverantwortliche Züchter gibt und weil es Menschen gibt, denen beim Kauf eines Rassehundes nicht bewusst ist, welche Schäden durch die Zucht erzeugt wurden. Lei- der fehlt an dieser Stelle oft die Einsicht und wieder ein- mal muss dann der Gesetzgeber Regelungen beschließen. Ich möchte nicht alle Halter und Züchter in Bausch und Bogen verurteilen. Vieles ist besser geworden, auch auf Ausstellungen. Notwendig wäre sicher ein Gespräch des zuständigen Ministeriums mit den Züchterverbänden, um auch hier noch einmal mit Nachdruck auf Veränderungen zu drängen. Wir warten noch immer auf das ausstehende Heimtier- zuchtgesetz. Es soll die Haltung von Hunden, die Auf- zucht, den Handel und einen Befähigungsnachweis des Züchters regeln. Einen Schritt in die richtige Richtung geht der vorgelegte Antrag: Mit einem Ausstellungsverbot für qualgezüchtete Tiere werden Weichen gestellt und so- mit Züchtern eindeutig klargemacht, dass es sich für sie nicht mehr so lohnt, solche Züchtungen weiterzubetrei- ben. Im Übrigen eine Forderung, die die Tierschutzver- bände schon seit langem erhoben haben: Mit einem Im- portverbot werden hier auch dem Tierhandel Schranken gesetzt. Ich halte das für sinnvoll und hoffe, dass dann auch eine Überwachung an den Grenzen stattfindet. Ob- wohl die PDS bei diesem Antrag wieder einmal ausge- grenzt wurde, werden wir dem Antrag zustimmen. Ich halte es schon für bemerkenswert, wie wichtig den Koali- tionsparteien die Unterschrift der CDU/CSU ist, gerade bei einem solchen Thema. Ich möchte die CDU/CSU da- ran erinnern: Vor noch nicht allzu langer Zeit haben Sie einen Antrag auf Verankerung des Tierschutzes im Grund- gesetz abgelehnt. Wie glaubwürdig Ihr Engagement in dieser Sache ist, müssen die Wählerinnen und Wähler ent- scheiden. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrages: Für die demokrati- sche Erneuerung Pakistans (Tagesordnungs- punkt 12) Johannes Pflug (SPD):19 Monate ist es her, seit am 12. Oktober 1999 der damalige Generalstabschef des pa- kistanischen Militärs General Pervez Musharraf in einem Militärputsch die Regierungsmacht in der Islamischen Republik Pakistan übernahm. Der Sturz des damaligen Premierministers Nawaz Sharif durch das Militär erfolgte in einer Zeit, in der Pakistan sich seit Jahren in einem öko- nomischen, ökologischen und sozialen Niedergang be- fand und allgegenwärtige Korruption, Kriminalität, Ar- mut und Bildungsnotstand das Land völlig lähmten und politisch handlungsunfähig machten. Das so genannte Kargil-Abenteuer im Sommer dessel- ben Jahres, nämlich der Überfall von bewaffneten Grup- pen auf indische Armee-Einheiten im Kaschmir-Tal mit beabsichtigter zunehmender Eskalation, hatte zudem Pa- kistan in die internationale Isolation geführt. Insbeson- dere die Vereinigten Staaten, die während der Zeit der Aufteilung der Welt in Westblock und Ostblock und des Kalten Krieges unverbrüchlich auf pakistanischer Seite gegen den Intimgegner Indien standen, wendeten sich nach Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Staaten den Indern zu. Übrigens kam es erst nach massivem Druck der Vereinigten Staaten und Chinas vor allem auf Pakistan zur Einstellung der be- waffneten Feindseligkeiten. Pakistan ist ein Schlüsselland für die Stabilität in Asien. Obwohl Pakistan arm ist, hat es doch genügend höchst qualifizierte Wissenschaftler und Ingenieure, um Raketen und die Atomwaffe zu bauen. Pakistan gehört zu den vier Ländern, die bis heute dem Nichtverbreitungs- vertrag nicht beigetreten sind. Deswegen hat Pakistan mit dem Bau und dem Test von Atomwaffen auch keinen in- ternationalen Vertrag gebrochen. Dennoch ist die sicher- heitspolitische Entwicklung in diesem Land ein Anlass zur Sorge und ein Grund für politisches Handeln. Seit einiger Zeit sprechen die Amerikaner, die Eu- ropäer, die Russen und die Chinesen über die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen. Für den Westen ste- hen Länder wie Nordkorea, Iran und Irak als Beleg dafür, dass die Proliferationsrisiken global gestiegen sind. In der Wirklichkeit sind es nicht diese drei, die nuklear gewor- den sind; in der Wirklichkeit handelt es sich ausschließ- lich um zwei Staaten, die in der Diskussion so gut wie gar nicht vorkommen: Pakistan und Indien. Anders sieht es aus, wenn nicht von der Weiterverbreitung von Atomwaf- fen, sondern von der Weiterverbreitung von Raketentech- nologie gesprochen wird. Hier sind Nordkorea und Iran zutreffend benannt. Aber die wirklichen Weiterverbreiter von Raketentechnologie waren früher Russland und China und ist heute Pakistan. Unser Interesse ist es, dass Pakistan mit der Macht, die es in Händen hält, verantwortungsbewusst umgeht. Dies lässt sich nicht durch Boykotte und Sanktionen erreichen; dies erfordert vielmehr die internationale Einbindung des Landes. Daran kann und sollte auch die Bundesrepublik Deutschland teilhaben, auch wenn die Gefahr, die heute von Pakistan ausgehen könnte, Deutschland noch nicht unmittelbar, sondern nur indirekt berührt. Obwohl Pakistans Innenpolitik unübersichtlich und komplex ist, darf uns dies aus sicherheitspolitischen Gründen nicht daran hindern, die Zusammenarbeit mit diesem Land zu fördern und uns an der Einbindung dieses Landes in internationale Institutionen und Vertragswerke zu beteiligen. Asien insgesamt – und der Teil Asiens, in dem Pakistan liegt, insbesondere – braucht eine Sicherheitsarchitektur mit rüstungskontrollpolitischen Regimen, mit Abrüs- tungsvereinbarungen und militärischen vertrauensbilden- den Maßnahmen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116712 (C) (D) (A) (B) Auch wenn für das damalige Kargil-Abenteuer der heutige Chief Executive und damalige Generalstabschef General Pervez Musharraf die Mitverantwortung trägt, ist trotzdem richtig, dass die vor dem Putsch von 1999 de- mokratisch gewählten Regierungsparteien, nämlich so- wohl die Pakistan People Party (PPP) von Benazir Bhutto als auch die Pakistan Muslem League-Nawaz (PML) von Nawaz Sharif, reformunfähig und reformunwillig waren. Die Militärregierung hatte angekündigt, einen Trans- formationsprozess zurück zu demokratischen Verhältnis- sen bis Oktober 2002 durchzuführen. Das von Chief Exe- cutive Musharraf gegebene Versprechen, in diesem Jahr Kommunalwahlen durchzuführen, wird konsequent um- gesetzt. In vier Phasen finden bzw. fanden die Wahlen zu den kommunalen Vertretungskörperschaften statt. Abge- schlossen sind die beiden ersten Phasen mit Wahlen am 31. Dezember 2000 und am 21. März dieses Jahres. Die nächsten Wahlen finden am 31. Mai und voraussichtlich im Juli dieses Jahres statt, weil die Militärregierung die Kommunalwahlen bis zum pakistanischen Unabhängig- keitstag am 14. August abgeschlossen haben will. Natürlich müssen sich die derzeitigen Machthaber in Islamabad beurteilen lassen an echten Fortschritten im de- mokratischen Transformationsprozess und an tatsächlich eingeleiteten und verifizierbaren ökonomischen und so- zialen Reformen. In den letzten Monaten gab es zunehmende Zweifel an der Reformfähigkeit und -willigkeit des pakistanischen Militärregimes, die auch heute noch längst nicht ausgeräumt sind. Jedoch lassen mich Gespräche mit Pakistanexperten, die gerade das Land mehrere Wochen besucht haben, zu einer freundlicheren Beurteilung kommen. Nach wie vor gilt die Militärregierung für die meisten Menschen, gesellschaftlichen Gruppen, ausländischen Politiker und die Wirtschaft in Pakistan als Hoffnungsträ- ger – allerdings mit mittlerweile stark reduzierten Erwar- tungen. Ich sagte es bereits: Die Kommunalwahlen werden Ende Juli dieses Jahres abgeschlossen sein. Was fehlt, sind gesetzliche Regelungen, die den Gemeinden die Fi- nanzeinnahmen garantieren, die sie zur Bewältigung ihrer Aufgaben benötigen. Was fehlt, sind gesetzliche Rege- lungen, die eine klare Aufgaben- und Kompetenzvertei- lung zwischen Zentralstaat, den Provinzen und den Ge- meinden treffen. Bei meinem Besuch vor einem Jahr war es erklärter Wille der Militärregierung, den demokrati- schen Transformationsprozess vom „Grass-root-level“ an aufzubauen. Das mag so für die kommunale Ebene ohne die organisierte Beteiligung der Parteien funktionieren, weil es Tradition in Pakistan hat. Es wird aber für die Pro- vinzebene ohne die Beteiligung der Parteien nach Mei- nung der Experten nicht funktionieren. Deshalb müssen die Parteien, insbesondere die PML und die PPP, endlich die längst überfälligen personellen und inhaltlichen Er- neuerungen an Haupt und Gliedern vornehmen. Sie dür- fen sich auch im Vorfeld zur Übergabe der Macht an eine demokratisch gewählte Regierung nicht der Mitarbeit an der Lösung der wichtigsten Probleme verweigern. Dazu gehören sowohl die Installation eines funktionierenden Steuersystems als auch die Durchsetzung der Steuerzah- lungen. Dazu gehört auch die von der Regierung einge- leitete „Documentation of Economy“, die den Händlern und Wirtschaftseinrichtungen eine nachprüfbare Doku- mentation ihrer Wirtschaftstätigkeit auferlegt. Die Bekämpfung der Korruption und der Kriminalität war ein erklärtes Hauptziel nach dem Putsch von Musharraf. Die Abschiebung seines Amtsvorgängers Nawaz Sharif nach Saudi-Arabien sowie das Fehlen weiterer Anklagen und Prozesse gegen der Korruption Verdächtige lassen an dem Durchsetzungswillen der Regierung in diesem Punkte zweifeln. Die auch von der Weltbank anerkannte Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in Pakistan darf nicht dazu führen, die Bestrebungen um die Sanierung des Staats- haushaltes zu verringern. Vor allem müssten die enormen Militärausgaben verringert werden – und nicht die Bil- dungsausgaben und Sozialausgaben, die gerade um rund 10 Prozent gekürzt wurden. Chief Executive Musharraf sollte nicht dem Einfluss feudaler Clans oder zentralistisch denkender Militärs er- liegen und die Stellung der Provinzen schwächen. Ein de- mokratischer Staat wird durch dezentrale Strukturen eher gestärkt. Dazu bedarf es einer gesetzlichen Nachfolgere- gelung für die in der Verfassung von 1973 auf die Dauer von 20 Jahren festgelegte „Concurrent list“, die keine klare Aufgaben- und Kompetenzenteilung zwischen Zen- tralstaat und Provinzen beinhaltet. Die Regierung sollte den Mut besitzen, der Forderung der „Human Right Com- mission“ zu entsprechen und die Verfassung von 1973 re- aktivieren. Pakistan braucht ausländische Unterstützung beim wirtschaftlichen Aufbau und für die Herstellung eines besseren Lebensstandards der Menschen. Und es braucht Unterstützung bei der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und einer vergrößerten Teilhabe der Menschen an den po- litischen und gesellschaftlichen Entscheidungen des Lan- des. Dafür muss die Isolation Pakistans aufgehoben wer- den. Es ist richtig, diesem Land für eine Beteiligung des Westens an seiner Entwicklung eigene Leistungen abzu- fordern. Aber wir dürfen auch nicht die Geschichte und das Umfeld Pakistans außer Acht lassen und unangemes- sene Maßstäbe anlegen. Der Antrag versucht, hier die Ba- lance zu wahren. Er will die Bundesregierung ermutigen, gemeinsam mit unseren Partnern Pakistan eine Perspek- tive im Rahmen der internationalen Gemeinschaft zu bieten. Dr. Werner Hoyer (F.D.P.): Dass wir hier in einer überaus kurzen Debatte über die Haltung des Bundestages zu der Militärregierung in Pakistan diskutieren, wird der Brisanz des Themas nur bedingt gerecht. Denn wenn wir über Maßnahmen zur Förderung der politischen Stabilität in Pakistan sprechen, dann reden wir nicht über eine x-be- liebige entwicklungspolitische Maßnahme. Wir alle wis- sen, dass von der Stabilität Pakistans letztendlich die Sta- bilität des gesamten Subkontinents mit abhängt. Dass sich der Kaschmir-Konflikt zwischen Pakistan und Indien auf einem Fundament aus politischer Instabi- lität und religiösem Fanatismus abspielt und dass die Proliferationsrisiken für höchstbrisante Massenvernich- tungswaffen wohl nirgendwo auf der Welt so besorgniser- regend sind wie in dieser Region inhärenter Instabilität, macht diesen Teil der Welt zu einem Pulverfass. Aus die- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16713 (C) (D) (A) (B) sem Grunde kann unsere eigene Aufmerksamkeit und die Aufmerksamkeit der Bundesregierung für die dortigen Entwicklungen meines Erachtens nicht groß genug sein. Die seit 1999 von General Musharraf geführte Militär- regierung in Pakistan unterschied sich ja zunächst einmal durchaus von dem, was wir gemeinhin von Militärregie- rungen her kennen und erwarten. Die von General Musharraf signalisierte Bereitschaft, bis 2002 die Macht an eine gewählte Regierung zurückzugeben, die angekün- digten Programme zur Wiederbelebung der Wirtschaft, Aufdeckung und Ahndung der Korruption, Demokratisie- rung und Dezentralisierung von Staats- und Verwaltungs- strukturen sowie die Förderung von Sozial- und Bil- dungsprogrammen gaben ja auch Anlass zu ein wenig Hoffnung. Die mehr als 900 vom pakistanischen Fernse- hen und Rundfunk im letzten Jahr ausgestrahlten Men- schenrechtssendungen und die Durchführung erster Men- schenrechtsseminare für Lehrerinnen und Lehrer waren positive Signale, dass es sich bei den Ankündigungen Musharrafs nicht nur um Lippenbekenntnisse handeln könnte. Aber der Blick auf den Stand der Umsetzung dieser Vorhaben zeigt, dass Pakistan trotz dieser ermutigenden Ansätze noch ganz am Anfang eines langen Weges steht. Wir alle wissen, dass Pakistan alles andere als ein Men- schenrechtsparadies ist. Die Situation der mehr als 2 Mil- lionen afghanischer Flüchtlinge, die weitere Verfolgung religiöser Minderheiten aufgrund eines überaus proble- matischen Blasphemieparagraphen und die weiterhin be- drückende Situation der Frauen in Pakistan sprechen eine deutliche Sprache. Die Gefahr, nach den ersten Schritten auf dem eingeschlagenen Weg stehen zu bleiben, ist über- aus groß und darf von uns nicht übersehen werden. Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Machtübernahme durch das Militär zunächst von weiten Teilen der Bevölkerung als ein willkommener Versuch ge- wertet wurde, den Verfall von Recht und Ordnung zu stop- pen und die dringendsten wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes zu lösen. Anderthalb Jahre nach dem Militärputsch zeigt sich jedoch, dass die von Musharraf angekündigten Reformen für die Wiederbele- bung der Wirtschaft, die Beendigung der Korruption und für die Demokratisierung und Dezentralisierung von Staat und Verwaltung bisher nur schleppend in Angriff genom- men wurden. Daneben mehren sich die Anzeichen, dass die von ihm durchgeführten Kommunalwahlen in erster Linie darauf abzielten, die traditionellen politischen Eliten aus den Machtstrukturen zu verdrängen und eigene Gefolgsleute zu mobilisieren. Die Festnahme von mehr als 1 600 Op- positionellen in den letzten Wochen hat unter anderem das Europaparlament in Straßburg veranlasst, die sofortige Freilassung aller politischen Häftlinge zu fordern. Dieser Forderung sollte sich der Deutsche Bundestag anschlie- ßen. Zu Recht fordert Musharraf, die fundamentalistischen Parteien besser zu kontrollieren. Auch in diesem Punkt verdient er Unterstützung. Den Taliban in Afghanistan, die außer Rauschgift auch ihre Ideologien nach Pakistan exportieren, will er freilich die Freundschaft nicht kündi- gen. Im Gegenteil: Gegenüber der Weltöffentlichkeit tritt Pakistan zunehmend als Anwalt der Taliban auf, die sich über die pakistanische Grenze mit Waffen und Nachschub versorgen. Es ist daher richtig, dass mit dem Antrag die Einstellung der militärischen und logistischen Unterstüt- zung der Taliban gefordert wird. Dies und die vollständige Umsetzung der Resolution 1333 des UN-Sicherheitsrats, die jede militärische und logistische Unterstützung der Taliban in Afghanistan untersagt, sollte ebenso zur Vo- raussetzung für die Durchführung entwicklungspoliti- scher Hilfsmaßnahmen gemacht werden wie die Verhin- derung der Infiltration von Militanten über die „Line of Control“ in Kaschmir. Der vorliegende interfraktionelle Antrag ist das Ergeb- nis langer Beratungen, in deren Verlauf die F.D.P.-Bun- destagsfraktion darauf gedrängt hat, das Musharraf-Re- gime nicht mit Vorschusslorbeeren auszustatten, sondern die zügige und vollständige Wiederherstellung eines funktionsfähigen demokratischen Staatswesens in Pakis- tan zu fördern. Bis zur an sich dringend erforderlichen und wünschenswerten Vertiefung der Beziehungen zu Pakis- tan ist es aber noch ein weiter und schwieriger Weg. Es ist zu hoffen, dass es mit diesem interfraktionellen Antrag gelingen kann, einen kleinen internationalen Beitrag zum Fortschritt zu leisten. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ei- genheimzulagengesetzes (EigZulG) – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: UMTS-Milliarden für Entlastung von Alt- schulden auf dauerhaft leer stehenden Wohnraum – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Existenz von Wohnungsgenossenschaften aus Treuhandliegenschaftsbeständen in den neuen Bundesländern – der Beschlssempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Herabsetzung der Grundsteuer bei struk- turellem Mietwohnungsleerstand – des Antrages: Dranske retten – der Gemeinde eine Perspektive geben – des Antrages: Maßnahme-Programm zum woh- nungswirtschaftlichen Strukturwandel in den neuen Ländern (Tagesordnungspunkt 13 a bis e und Zusatztagesord- nungspunkt 7) Dr. Peter Danckert (SPD): Die hier zu beratenden Gesetzentwürfe und Anträge der PDS sind alle dem The- menkreis der Wohnungs- und Bauwirtschaft in den neuen Ländern zuzuordnen: Damit sprechen wir heute erneut über den Wohnungsleerstand Ost, wobei meiner Ansicht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116714 (C) (D) (A) (B) nach über dieses Thema gar nicht oft und intensiv genug gesprochen werden kann. Trotz zahlreicher und erfolgrei- cher Ansätze der neuen Bundesregierung ist deutlich ge- worden, dass es für das Problem des Wohnungsleerstan- des Ost keine Generallösung gibt. Auch die PDS bietet keine finanzierbaren Lösungsvorschläge. Anlässlich der ersten Beratung am 27. Oktober 2000 hat Frau Kollegin Ostrowski die Defizite ihrer Vorschläge bereits einge- räumt. Zu den verschiedenen Anträgen: Erstens. Mit Ihrem Entwurf zur Änderung des Eigen- heimzulagengesetzes widersprechen Sie Sinn und Zweck des Gesetzes, mit dem eine verstärkte Förderung der so genannten Schwellenhaushalte und dabei vorrangig der Familien mit Kindern beabsichtigt ist. Über das Eigen- heimzulagengesetz wird dabei die Herstellung, die An- schaffung oder Ausbauten und Erweiterungen an einer Ei- gentumswohnung bzw. an einer Wohnung im eigenen Haus gefördert, sofern der Anspruchsberechtigte die Woh- nung zu eigenen Wohnzwecken nutzt. Werden Genossen- schaftsanteile erworben, bestimmt § 17 EigZulG, dass die Mitglieder Anteile in Höhe von mindestens 10 000 DM an einer eigentumsorientierten Genossenschaft zeichnen müssen. Die Förderung bezieht sich demnach nur auf selbstgenutztes Wohneigentum und auf Anteile an eigen- tumsorientierten Wohnungsgenossenschaften. Die PDS möchte sich von diesem Grundsatz lösen und mit der Aufnahme eines neuen § 17 a EigZu1G die För- derung auch auf den Anteilserwerb für bestehende, nicht eigentumsorientierte Wohnungsgenossenschaften erwei- tern sowie die Mindesthöhe des Genossenschaftsanteils als Bedingung für die Gewährung der Zulage entfallen lassen. Nach dem Willen der PDS würde es den beste- henden Genossenschaften leichter fallen, neue Mitglieder und finanzielle Mittel für Investitionen in den Bestand zu gewinnen. Breitere Bevölkerungsschichten würden sich an genossenschaftlichem Wohnungseigentum beteiligen und die Genossenschaften könnten ihre Bestände einfa- cher halten. Aber dieser erweiterte Fördertatbestand wäre system- widrig, denn Sinn und Zweck des Gesetzes ist es, was in § 2 EigZulG auch deutlich zum Ausdruck kommt, dass nur Eigentum und damit auch nur Anteile an eigen- tumsorientierten Wohnungsgenossenschaften gefördert werden. Auch die Fraktion der CDU/CSU hat im feder- führenden Finanzausschuss erkannt, dass das Ziel des Ei- genheimzulagengesetzes die Schaffung von Wohneigen- tum sei. Diese Gedankenleistung der CDU/CSU wird nur dadurch getrübt, dass dem zusätzlich erhobenen Vorwurf der fehlenden Eigenheimorientierung nicht zugestimmt werden kann. Denn, wie gerade gezeigt, das Eigen- heimzulagengesetz fördert nicht nur Eigenheime, sondern eben über § 17 EigZulG auch Anteile an eigentumsorien- tierten Wohnungsgenossenschaften. Natürlich sollen in der Sache nicht nur die eigentums- orientierten, sondern auch die nicht eingentumsorientier- ten Genossenschaften gestärkt und unterstützt werden, nur bitte nicht regelwidrig über das Eigenheimzulagenge- setz, sondern über die Altschuldenhilfe, womit wir beim nächsten Punkt wären: Zweitens. Am 1. September 2000 ist die Novelle zum Altschuldenhilfegesetz in Kraft getreten. Auf Initiative der SPD-Fraktion wurde in die Novelle eine „Härtefallre- gelung“ in Form des § 6 a AHG aufgenommen. Danach erhalten diejenigen Wohnungsunternehmen, die infolge erheblichen dauerhaften Leerstandes in ihrer wirtschaftli- chen Existenz gefährdet sind, zusätzliche Entlastungen, und zwar unabhängig, ob sie Zinsbeihilfe oder Teilentlas- tung in Anspruch genommen haben. Dass mit der Härtefallregelung das Problem des struk- turellen Wohnungsleerstandes nicht umfassend gelöst werden kann, liegt an den vielseitigen Ursachen: Rück- gang der Geburtenrate, hohe Arbeitslosigkeit und Wegzug in wirtschaftsstärkere Regionen führen zu sinkender Wohnraumnachfrage in den ohnehin strukturschwachen Gebieten. Mit dem einseitigen Antrag der PDS, aus den Erlösen der Versteigerung der Mobilfunklizenzen einen Betrag von 3 Milliarden DM für die Entlastung von Alt- schulden auf dauerhaft leer stehenden Wohnraum in strukturschwachen Gebieten zu verwenden, kann dieses vielschichtiges Problem jedenfalls nicht gelöst werden, und zwar aus einem einfachen Grund: Die Erlöse in Höhe von 99,4 Milliarden DM aus der Versteigerung sind bereits komplett in die Schuldentil- gung des Staatshaushaltes geflossen, um den Haushalt nachhaltig zu konsolidieren und den Sparkurs der Bun- desregierung mit entschlossenem, konkreten Handeln zu verfestigen. Die Mittel sind also schon ausgegeben wor- den, eine mehrfache Verwendung ist nicht möglich; des- halb hat der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs- wesen gegen die Stimmen der PDS zu Recht beschlossen, den Antrag abzulehnen. Neue oder gar bessere Argumente hat die PDS nicht vorgetragen. Drittens. Diese direkten Finanzierungskompetenzen über das Altschuldenhilfegesetz stehen dem Bund hin- sichtlich der TLG-Genossenschaften nicht zu, wobei wir schon beim dritten PDS-Antrag wären. Eine Analogie zu den Bestandsunternehmen im Sinne des Altschuldenhilfe- gesetzes verbietet sich, denn bei den TLG-Genossenschaf- ten handelt es sich nicht um so genannte Bestandsunter- nehmen, sondern um neu gegründete Unternehmen, die Kaufpreise auf Grundlage abgestimmter Bewertungen ak- zeptiert haben. Entlastungen nach dem Altschuldenhilfe- gesetz müssen deshalb ausscheiden. Zudem hat die TLG bereits verschiedene Maßnahmen zur Unterstützung ergriffen. Nach einer einberufenen Ge- sprächsrunde im Bundeskanzleramt hat die TLG den zehn Genossenschaften angeboten, durch die Firma „bonkon- sult“ eine einzelfallbezogene und kostenlose betriebswirt- schaftliche Beratung durchführen zu lassen. Dieses Ange- bot haben – und ich weiß nicht warum – nur fünf TLG-Genossenschaften angenommen, denen allen gutes Management bescheinigt wurde. Ferner empfiehlt die Kommission den TLG-Genossen- schaften einzelfallbezogene Vertragsnachverhandlungen mit der TLG, um so eine Verbesserung der wirtschaftli- chen Situation zu erreichen. Nach meinen Kenntnissen ist die TLG bereit, wie bisher über offene Forderungen Stun- dungsvereinbarungen zu treffen oder über Zinszahlungen Nachverhandlungen zu führen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16715 (C) (D) (A) (B) Der Antrag der PDS mit den angedeuteten Soforthilfen schießt somit weit über das Ziel hinaus. Bevor die von der Lehmann-Grube-Kommission vorgeschlagenen Instru- mentarien umgesetzt werden und möglicherweise auch auf TLG-Genossenschaften Anwendung finden, müssen Gespräche stattfinden. Diese Gespräche müssen nicht zwingend unter der Leitung des Beauftragten der Bun- desregierung für die Angelegenheiten der neuen Länder, Staatsminister Rolf Schwanitz, stattfinden, wie es die PDS in ihrem Antrag fordert. An diesen Gesprächen müs- sen die Kommunen, die Wohnungsgenossenschaften und vor allem die Bundesländer teilnehmen! Meiner Meinung nach stehen hier auch die Länder in der Pflicht und in der Verantwortung. Viertens. Mit ihrem nächsten Antrag, die Grundsteuer bei strukturellem Mietwohnungsleerstand herabzusetzen, bemüht sich die PDS erneut und anerkennenswerterweise, für die Fälle des strukturellen Mietwohnleerstandes eine Lösung zu finden. Leider in alter Manier: systemfremd und regelwidrig! Bisher kann nach § 33 Grundsteuerge- setz die Grundsteuer auf Antrag bei der zuständigen Ge- meinde in Höhe des Prozentsatzes erlassen werden, der vier Fünftel des Prozentsatzes der vom Steuerschuldner nicht zu vertretenden Minderung des Mietertrages ent- spricht. Ein Fünftel entfällt dabei bei bebauten Grund- stücken auf Grund und Boden. So hat zum Beispiel bei Wohnungen der Vermieter eine Minderung des normalen Rohertrages grundsätzlich nicht zu vertreten, wenn er sich in ortsüblicher Weise um deren Vermietung bemüht und keine höhere als die marktübliche Miete vereinbart hat. Die von der PDS geforderte volle prozentuale Minderung der Grundsteuer wäre insoweit systemwidrig, da auch Grund und Boden nicht mehr anteilig besteuert werden würden. Der ähnlich lautende Vorschlag der Lehmann- Grube-Kommission muss erst genauer untersucht wer- den, denn die damit einhergehenden Grundsteuerminder- einnahmen würden die Gemeinden treffen, denen ohnehin aufgrund der Leerstandsproblematik besondere finanzi- elle Belastungen aufgebürdet sind. Fünftens. Mit dem fünften Antrag verfolgt die PDS das Ziel, die Gemeinde Dranske auf Rügen finanziell zu un- terstützen. Ohne an dieser Stelle auf Einzelheiten einge- hen zu wollen, möchte ich vorab nur sagen, dass es mir zweifelhaft erscheint, dem Bund eine umfassende Verant- wortung für das wirtschaftliche Schicksal hinsichtlich der an die Gemeinde Dranske verkauften Plattenbauten zu übertragen, die sich allein aus seiner Verkäuferstellung begründet. Aber ich denke, dass wir im Sinne von Frau Kollegin Ostrowski diesen Antrag zunächst ausführlich im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen be- raten sollten, um dann zu einem sachgerechten Ergebnis zu kommen. Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam die Verantwor- tung für eine notwendige Veränderung und Verbesserung der äußerst problematischen Situation tragen. Es gilt, Ab- wanderung zu stoppen, strukturelle Wohnungsleerstände zu beseitigen und einen innovativen Stadtumbau einzulei- ten. Deswegen müssen wir auch gemeinsam tragfähige und stabile Strukturen im Bereich der Wohnungsbau- und Städtebaupolitik entwickeln, denn diesen Bereichen kommt eine ganz zentrale Rolle bei der persönlichen Le- bensgestaltung eines jeden von uns zu. Neben dem finanziellen Engagement der Länder ist auch seitens des Bundes weitere Unterstützung dringend notwendig. Deshalb begrüße ich es besonders, dass im Rahmen der Gespräche um die Weiterführung des Soli- darpaktes II sowie der Roundtablegespräche des Kanzlers mit den Ministerpräsidenten das Thema struktureller Wohnungsleerstand aktiver diskutiert und bereits nach weiteren finanziellen Lösungen gesucht wird. Denn es geht nicht nur um eine positive Zukunft der Städte und Wohngebiete, sondern um eine lebenswerte Zukunft der hier lebenden Menschen! Norbert Otto (Erfurt) (CDU/CSU): Die von der PDS angesprochene Problematik wird von meiner Fraktion grundsätzlich erkannt. Rund eine Million leer stehende Wohnungen – im Übrigen zu erheblichen Teilen eine Alt- last von vierzig Jahren verfehlter Wohnungsbaupolitik der DDR – sind ein großes Problem in den neuen Ländern. Ihre Vorschläge, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der PDS, bringen uns an dieser Stelle aber sicherlich nicht weiter. Wir können das getrost als Schaufensterantrag ver- buchen. Ich kann hier aber nicht verschweigen, dass die heutige Situation auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt die Folge von nicht eingehaltenen Versprechungen der Bundesregierung ist. Schröder und damals noch Herr Lafontaine sind ja bekanntlich 1998 mit dem Ziel ange- treten, gerade in den neuen Ländern Arbeitsplätze in er- heblichen Größenordnungen zu schaffen. Leider lässt der große Wurf noch auf sich warten. Die Chefsache Ost kann ich hier beim besten Willen nicht erkennen. Die Kanzler- versprechungen scheinen mir so leer zu sein wie die Plat- tenbauten in Dranske, mit denen wir uns heute ja auch be- schäftigen. Der Verbleib der Menschen in Mecklenburg oder in Thüringen oder in einem anderen östlichen Bun- desland – und damit natürlich auch der Bedarf an Wohn- raum – kann nur mit der Schaffung von mehr Arbeit schmackhaft gemacht werden. Die zunehmende Abwan- derung von Ost nach West muss ein Ende haben. Nun zum Eigenheimzulagengesetz: Ich kann ja verste- hen, dass die Kolleginnen und Kollegen von der PDS ihre Klientel in Wohnungsbaugenossenschaften bedienen wol- len, doch ihr Vorschlag geht nun völlig an der Sache vor- bei, denn eine Förderung von nicht eigentumsorientierten Anteilen widerspricht der grundsätzlichen Intention der Eigenheimzulage. Wie Sie sicher wissen, hat sich der Deutsche Städtetag mit dem Thema Eigenheimzulage beschäftigt und fordert die Einfügung einer Regionalisierungskomponente. Wir warnen in diesem Zusammenhang vor solchen Bestre- bungen. Eine Ungleichbehandlung von Stadt und Land oder Ost und West kann nicht in unserem Sinne sein! Ge- rade in Ostdeutschland besteht ein erheblicher Nachhol- bedarf im Eigenheimbereich. Diesem müssen wir nach- kommen, wollen wir Alternativen zur Abwanderung bieten. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass die Häusle- bauer von der Stadt aufs Land ziehen, nicht zuletzt um den hohen Bauauflagen und den durch die Städte künstlich Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116716 (C) (D) (A) (B) hochgeschraubten Grundstückspreisen zu entkommen. Unser Vorschlag: vereinfachte Bedingungen für städti- sches Bauen und mehr Ausweisung von Bauland in den Städten anstatt Regionalisierung der Eigenheimzulage, die verständlicherweise auch vom Landkreistag abgelehnt wird. Das beliebte Spiel mit den UMTS-Milliarden an dieser Stelle noch einmal mitzuspielen ist müßig und ist nur ein Symbol für den Populismus, den wir von der PDS zur Genüge kennen. Für den Bereich der Altschuldenhilfe se- hen wir die klare Notwendigkeit für weitere Entlastungen der ostdeutschen Wohnungsunternehmen. Über die 15- Prozent-Klausel muss dringend gesprochen werden. Was die Sofortmaßnahmen für existenzbedrohte Woh- nungsbaugenossenschaften aus TLG-Beständen betrifft, so sind wir uns mit der Bundesregierung einig, dass hier nur im Einklang mit Ländern und Kommunen weiterge- holfen werden kann. Es handelt sich in diesem Falle nicht um den klassischen Altschuldenhilfebereich oder den Erblastentilgungsfonds betreffende Fälle, sondern um pri- vatrechtliche Geschäfte, die nach Vollendung der deut- schen Einheit abgeschlossen wurden. Im Sinne der An- teilseigner ist die Bund-Länder-Arbeitsgruppe aber aufgefordert, zu schnellen Lösungen zu kommen. Aller- dings warne ich vor einer generellen Änderung, denn in diesem Falle stehen demnächst möglicherweise eine Vielzahl von Zwischenerwerbern vor der Tür, die sich aus heutiger Sicht bei der Kaufpreisbildung verkalkuliert haben. Zum Thema der Herabsetzung der Grundsteuer bei Leerstand: Es wäre zu einfach, von Bundesseite etwas zu fordern und die Zeche von den Ländern und den Kom- munen zahlen zu lassen, die die Grundsteuer einnehmen. Ich empfehle Ihnen, dies doch einmal mit Kommunalpo- litikern in Ihren Wahlkreisen zu besprechen. Viel Spaß da- bei! Natürlich ist auch fraglich, ob durch solche Maßnah- men überhaupt Anreize zum Rückbau geschaffen werden. In Zusammenhang mit der Grundsteuerdebatte sollten vom Bund angesichts der Reformbestrebungen in den Ländern keine vorgreifenden Entscheidungen getroffen werden. Abschließend zu Dranske: Meine Damen und Herren, man muss sich schon wundern, was den Kollegen von der PDS manchmal einfällt. Da sind sie nun schon einmal – oder soll man sagen, noch? – in einem Bundesland an der Macht und dann rufen sie den Bund um Hilfe. Da könnte doch der Kanzler nach Holzmann-Art eingreifen! Den sollten Sie mal fragen! Im Ernst: Es kann doch nicht angehen, den Bund bei jedem Einzelfall zu Hilfe zu rufen und auch noch auf zusätzliches Geld zu hoffen. Dieses Problem sollten die Genossen in Schwerin lieber unter sich klären. Wir sind gespannt! Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die PDS gibt dem Deutschen Bundestag heute anhand zahlreicher Anträge Gelegenheit, ein weite- res Mal über die wachsenden Leerstandsprobleme in Ost- deutschland zu debattieren, und ich will mich in meinem Redebeitrag auf eben diese Anträge konzentrieren. In der Drucksache 14/6051 fordert die PDS die Bun- desregierung auf, unverzüglich ein Maßnahmeprogramm zur Umsetzung der Vorschläge der Expertenkommission „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Ländern“ vorzulegen. Mit der Einsetzung eben dieser Expertenkommission hat die Bundesregierung einen wichtigen Beitrag in der Analyse geleistet und hat beden- kenswerte Vorschläge zur Problemlösung entgegenge- nommen, die nun in einer Arbeitsgruppe intensiv und sorgfältig geprüft werden. Mit der Novellierung des Alt- schuldenhilfegesetzes und der Härtefallregelung in § 6 hat die rot-grüne Bundesregierung einen wichtigen Beitrag zur Entlastung der besonders von Leerstand betroffenen Wohnungsunternehmen geleistet. Jetzt ist es an der Zeit, dass die betroffenen Kommunen mit neuen städtebauli- chen und raumordnerischen Leitbildern ihren Beitrag leisten, um den Strukturwandel zu meistern. Dazu gehö- ren auch Bedarfsentwicklungspläne, damit nicht wie in der Vergangenheit am Bedarf vorbei investiert wird. Es wäre schön zu sehen, dass insbesondere PDS-regierte Kommunen hier eine Vorreiterrolle übernehmen würden. Ich sage aber auch ganz deutlich, dass ich von der Bun- desregierung erwarte, dass sie die vom Bundeskanzler angekündigte weitere Hilfestelle bald zur Verfügung stellt. Die PDS fordert in der Drucksache 14/4350, 3 Milli- arden DM aus den Erlösen der Versteigerung der Mobilfunklizenzen für die Entlastung von Wohnungsun- ternehmen einzusetzen. Tatsächlich sind Wohnungsunter- nehmen, die über größere Leerstände verfügen und gleichzeitig mit Altschulden belastet sind, in einer äußerst schwierigen Situation. Dass wir diese Probleme ernst neh- men, haben wir mit der Novellierung des Altschuldenhil- fegesetzes und insbesondere mit der Verordnung § 6 a AHG unter Beweis gestellt. Mit dieser Härtefallregel sol- len Zuschüsse zur Tilgung der Altschulden gewährt wer- den, wenn das Wohnungsunternehmen durch dauerhaften Leerstand in seiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet ist. Dafür stellt die Bundesregierung 700 Millionen DM per Verpflichtungsrahmen zur Verfügung. Bevor wir also wieder nach mehr Geld rufen, sollten wir zunächst einmal die Erfahrungen mit dem novellierten Altschuldenhilfe- gesetz abwarten. Wir erwarten aber auch von der Bundes- regierung, dass der Verpflichtungsrahmen nunmehr fest in den Haushalt eingestellt wird und die mit der Abwicklung beauftragte KfW endlich die versprochenen Vordrucke ausgibt, die tatsächlich eine effektive Bearbeitung ermög- lichen sollen. In der Drucksache 14/4011 fordert die PDS Sofort- maßnahmen zur Existenzsicherung von Wohnungsgenos- senschaften aus Treuhandliegenschaftsbeständen in den neuen Bundesländern. Es handelt sich um zehn zwischen 1993 und 1996 gegründete TLG-Genossenschaften, deren wirtschaftliche Situation ohne Zweifel sehr schwierig ist. Sie wurden zur Privatisierung von Werkswohnungsbe- ständen ehemals volkseigener Betriebe überwiegend in den Regionen gegründet, die heute am stärksten mit Be- völkerungsrückgang und Leerständen zu kämpfen haben. Wenn Sie aber die Bundesregierung wieder zu finanziel- len Leistungen auffordern, richtet sich Ihre Forderung an den falschen Adressaten. Eventuelle Hilfsmaßnahmen sind zunächst mal Sache der TLG, die ja auch bereits Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001 16717 (C) (D) (A) (B) verschiedene Maßnahmen zur Unterstützung ergriffen hat. Beispielsweise stundet die TLG offene Forderungen und verzichtet teilweise auf Nutzungs- oder Verzugszin- sen. In der Drucksache 14/4010 fordert die PDS schließlich die Herabsetzung der Grundsteuer bei strukturellem Woh- nungsleerstand. Ich bedaure an dieser Stelle, dass die PDS offensichtlich nicht bereit ist, die Wirkungen des refor- mierten Altschuldenhilfegesetzes und damit der weit rei- chenden finanziellen Entlastung der betroffenen Woh- nungsunternehmen abzuwarten und auf dieser Grundlage über weiter reichende Forderungen nachzudenken. Statt- dessen formulieren Sie einseitig Anforderungen an den Bund. Die Gemeinden sollten aber erst einmal die gel- tende Regelung zur Grundsteuerminderung nutzen. Erst dann sollte geprüft werden, ob und welchen weiteren Handlungsbedarf es gibt. Zu guter Letzt fordern Sie auch noch Bundesregierung und Parlament auf, die Gemeinde Dranske vor dem Un- tergang zu retten. Ich will gar nicht die strukturellen Pro- bleme dieser Gemeinde bagatellisieren, frage mich aber doch, ob nicht zuerst das von der PDS mitregierte Meck- lenburg-Vorpommern hier bei der Problemlösung gefor- dert ist oder doch eher überfordert? Ich glaube nicht, dass eine Parlamentsberatung der Gemeinde Dranske wirklich weiter hilft. Ich möchte anregen, dass Ihr Minister Holter sich der Sache annimmt und die Initiative zu Nachver- handlungen mit der Oberfinanzdirektion ergreift. Damit könnte die PDS auch beweisen, dass sie nicht nur an der Darstellung von Problemen interessiert ist, sondern auch einen Beitrag zur Lösung leistet. Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): In der Beurtei- lung der Wohnungspolitik für die neuen Bundesländer stimmt die F.D.P. der PDS in zwei Punkten zu: Erstens. Die unternehmerische Wohnungswirtschaft befindet sich in einer existenzbedrohenden strukturellen Krise. Zwei- tens. Die Maßnahmen der Bundesregierung reichen zur Bewältigung dieser Krise nicht aus. In der heutigen De- batte fällt der Bundesregierung erneut zu Recht auf die Füße, dass sie ihre Wohnungspolitik in Bezug auf die neuen Bundesländer ganz einseitig auf ein Teilsegment ausgerichtet hat. Das sind die kommunalen Wohnungsbe- stände und die Genossenschaften, die von den geplanten zusätzlichen Entlastungen nach der Altschuldenhilfever- ordnung profitieren. Die Wohnungsgesellschaften aus Treuhandliegenschaftsbeständen – TLG – bilden eine be- sondere Spezies am Wohnungsmarkt der neuen Bundes- länder. Unverschuldet besteht bei diesen Wohnungsunterneh- men ein struktureller Leerstand, der bei über 10 Prozent des Wohnungsbestandes liegt. Wie im Beispiel „Dranske“ muss die Kommune mit 53 Prozent strukturellem Leer- stand der Wohnungen umgehen. Da für jede leer stehende Wohnung aber die anstehenden Nebenkosten gezahlt wer- den müssen, ist der Bankrott der Kommune „Dranske“ vorprogrammiert. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion fordert die Bundesre- gierung auf, aus der einseitigen Ausrichtung ihrer Woh- nungspolitik Konsequenzen zu ziehen und endlich ein wohnungspolitisches Konzept für den Wohnungsmarkt in den neuen Bundesländern vorzulegen, das alle am Woh- nungsmarkt Beteiligten gleichermaßen berücksichtigt. Die unternehmerische Wohnungswirtschaft und die privaten Haus- und Grundeigentümer müssen in die Lage versetzt werden, differenzierte und auf den jeweiligen lo- kalen Markt abgestellte Entscheidungen zur Bewältigung des Strukturwandels sowie zur Beseitigung der Leer- stände zu treffen. Die Wohnungswirtschaft Ost braucht eine Strukturhilfe. Die Altschulden für dauerhaft leer ste- hende Wohnungen oberhalb von 5 Prozent des Bestandes müssen bei Vorlage eines wohnungswirtschaftlichen Konzeptes in Abstimmung mit der Kommune zulasten des Erblastentilgungsfonds gestrichen werden, wenn das Unternehmen den Leerstand nicht zu vertreten hat. Zur Strukturbereinigung in der Wohnungswirtschaft muss ein Strukturprogramm über drei Jahre aufgelegt werden, das mit 1 Milliarde DM aus dem Erblastentilgungsfonds do- tiert wird und auch die Finanzierung des Abrisses ein- schließt. Das Wohnungsmodernisierungsprogramm der KfW wird für strukturverbessernde Maßnahmen im Wohn- umfeld im Zusammenhang mit einem städtebaulichen Konzept der Kommune geöffnet. Die Städtebaufördermittel des Bundes und der Länder sowie das Programm „Die soziale Stadt“ werden mit ei- nem Schwerpunkt zur Wohnumweltverbesserung und -gestaltung versehen. In der Fiskalpolitik müssen Sonder- regelungen zur Erleichterung des Strukturwandels geprüft werden, wie zum Beispiel die befristete Befreiung von der Grunderwerbsteuer bei Verkäufen, die der Strukturberei- nigung dienen. Wir benötigen endlich von der Bundesregierung ein in sich schlüssiges Konzept. Anträge der PDS, die sich auf Strukturhilfen in Bezug auf Einzelfälle in der Wohnungs- wirtschaft beziehen, machen keinen Sinn. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 200116718 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417000000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Als Nachfolger für den verstorbenen Kollegen
Dr. Werner Schuster hat der Abgeordnete Dr. Frank
Schmidt (Weilburg) am 14. Mai 2001 die Mitgliedschaft
im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den
neuen Kollegen herzlich.


(Beifall)

Die Fraktion der F.D.P. hat mitgeteilt, dass die Kolle-

gin Dr. Irmgard Schwaetzer als ordentliches Mitglied aus
dem Vermittlungsausschuss ausscheidet und dafür der
Kollege Jörg van Essen wieder eintritt. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der
Kollege Jörg van Essen als ordentliches Mitglied im Ver-
mittlungsausschuss bestimmt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der

(siehe 169. Sitzung)


2. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Dieter
Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Versorgungsangleichung in
der gesetzlichen Krankenversicherung (Versorgungs-angleichungsgesetz) – Drucksache 14/6054 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Jürgen Türk, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Offensivefür Zukunftsinvestitionen in neuen Bundesländernstarten – Abwanderung stoppen – 10-Punkte-Pro-gramm für den Aufbau Ost – Drucksache 14/6066 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss

4. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 27)

a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der

CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der F.D.P.: Initiative des Europäischen Par-
laments zur Buchpreisbindung in Europa unter-
stützen – Drucksache 14/6056 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417000100
zu
der Streitsache vor dem Bundesverfassungs-
gericht 1 BvQ 23/01 – Drucksache 14/6070 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz

5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS:
Haltung der Bundesregierung zur Reform der Erb-
schaftsbesteuerung

6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Marianne
Klappert, Heino Wiese (Hannover), Brigitte Adler, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abge-
ordneten Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, Albert Deß, Peter
Bleser, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Steffi Lemke, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Haltungs- und Ausstellungsverbot für qualgezüch-
tete Tiere – Drucksache 14/6052 –

7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine
Ostrowski, Gerhard Jüttemann, Rolf Kutzmutz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Maßnahme-
Programm zum wohnungswirtschaftlichen Struk-
turwandel in den neuen Ländern vorlegen – Druck-
sache 14/6051 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Carsten Hübner, Uwe Hiksch, Petra Pau und der Frak-
tion der PDS: EU-Richtlinienvorschlag zu Mindest-
standards in Asylverfahren ist ein wichtiger Schritt
für einen wirksamen Flüchtlingsschutz in Europa –
Drucksache 14/6050 –

16555


(C)



(D)



(A)



(B)


170. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 17. Mai 2001

Beginn: 9.00 Uhr

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp,
Rainer Brüderle, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der F.D.P.: Acht Maßnahmen füreine umfassende und eigenständige Verbraucherpo-litik – Drucksache 14/6053 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

10. Erste Beratung des von den Abgeordneten Maritta
Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Pia Maier, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Absicherung der verfasstenStudierendenschaft – Drucksache 14/5760 –
Überwesungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung (f)

Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria
Böhmer, Horst Seehofer, Karl-Josef Laumann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Unzu-mutbare Belastungen in der Hinterbliebenensiche-rung zurücknehmen – Drucksache 14/6042 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-
weit erforderlich – abgewichen werden.

Darüber hinaus ist vereinbart worden, folgende Punkte
abzusetzen: Tagesordnungspunkt 7 b – Ausschussbericht
gemäß § 62 der Geschäftsordnung des Bundestages zum
F.D.P.-Entwurf eines Zugaberechtsanpassungsgesetzes –,
Tagesordnungspunkt 14 – Buchpreisbindung in Europa;
der Antrag wurde durch einen interfraktionellen Antrag,
das ist Zusatzpunkt 4 a, ersetzt –, Tagesordnungspunkte
20 a und b – landwirtschaftliche Sozialversicherung –,
Tagesordnungspunkte 23 a und b – Hermesbürgschaften –
und Tagesordnungspunkte 26 b und c – völkerrechtliche
Verträge.

Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 19 und 21
getauscht werden.

Weiterhin mache ich auf nachträgliche Ausschussüber-
weisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

Der in der 164. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Gesundheit zur Mitberatung über-
wiesen werden.

Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Aufhe-
bung der Zugabeverordnung und zur Anpas-
sung weiterer Rechtsvorschriften – Drucksache
14/5594 –
überwiesen:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus

Der in der 164. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Verteidigungsausschuss zur Mitberatung überwie-
sen werden.

Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Durchset-
zung der Gleichstellung von Frauen und Männern

(Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz–DGleiG)

– Drucksache 14/5679 –
überwiesen:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir
zwei Geschäftsordnungsanträge behandeln. Die Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen haben
fristgerecht beantragt, die Tagesordnung zu erweitern,
und zwar heute um die zweite und dritte Beratung des
Entwurfs eines Zivilprozessreformgesetzes mit einer
Debattendauer von eineinhalb Stunden und morgen um
die erste Beratung des Gesetzentwurfs zur Modernisie-
rung des Schuldrechts mit einer Debattendauer von ei-
ner Stunde.

Wird zu diesen Geschäftsordnungsanträgen das Wort
gewünscht? – Ich erteile dem Kollegen Alfred Hartenbach
von der SPD-Fraktion das Wort.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Aber lesen Sie jetzt bitte nicht alles vor, was Sie aufgeschrieben haben!)



Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1417000200
Zweimal gleich! – Herr
Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wie-
der einmal zwingen uns die Oppositionsparteien eine Ge-
schäftsordnungsdebatte auf.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie Ärmster!)

Aus nicht nachvollziehbaren Gründen weigern sie sich,
die beiden justizpolitischen Themen – Reform des Zivil-
prozesses und Modernisierung des Schuldrechts – auf die
Tagesordnung zu setzen. Deswegen bleibt uns, weil ja die
Tagesordnung einvernehmlich vereinbart werden muss,
nur noch der Weg dieser Debatte, obwohl wir eine solche
eigentlich gar nicht wollen, sie aber sein muss.

Nun haben wir uns schon daran gewöhnt, dass die Op-
positionsparteien immer dann, wenn wir über die ver-




Präsident Wolfgang Thierse
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(C)



(D)



(A)



(B)


nünftige und zukunftsweisende Rechtspolitik dieser Bun-
desregierung debattieren wollen,


(Lachen bei der CDU/CSU – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Also nie!)


dies mit allerlei Mätzchen zu verhindern suchen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Nun liest er doch alles vor, was er aufgeschrieben hat!)


Bei allen wichtigen Justizthemen dieser Wahlperiode ha-
ben Sie Geschäftsordnungsdebatten angezettelt, sei es
beim Gesetz über die Lebenspartnerschaften, bei der
ersten Lesung der ZPO-Reform oder der zweiten und drit-
ten Lesung der Mietrechtsreform.

Der Grund liegt darin, dass Sie zu inhaltlichen Sach-
debatten nicht in der Lage sind.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ach du lieber Gott!)


Heute sind Sie sogar zu feige, sich selbst hier hinzustellen
und zu begründen, warum Sie eine solche Debatte nicht
wollen. Sie lassen vielmehr uns den Vortritt, um zu sagen,
warum eine solche Debatte sein muss.

Wie sollen Sie von der Opposition auch eine politische
bzw. rechtspolitische Sachdebatte führen können? In der
Rechtspolitik sind Kreativität und Spontaneität der Uni-
onspolitiker sowieso verkümmert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – HansPeter Repnik [CDU/CSU]: Was hat das mit einer Geschäftsordnungsdebatte zu tun, Herr Präsident?)


Man kann sogar sagen: Sie sind rechtspolitisch entwöhnt.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist frei erfunden!)

Während Ihrer Regierungszeit wurde Rechtspolitik in der
Union doch vornehmlich von dem Millionenschieber
Kanther gemacht oder aber vom bayerischen Justizminis-
terium ferngesteuert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – HansPeter Repnik [CDU/CSU]: Herr Präsident, das ist keine Geschäftsordnungsdebatte! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Was hat das mit der Geschäftsordnungsdebatte zu tun?)


Herr Geis, Ihr Versuch, als Rechtspolitiker auf eigenen
Füßen zu stehen, ging voll daneben.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie sind ein Geisterfahrer!)


Sie haben den von Ihnen eingebrachte Entwurf eines Ge-
setzes zur Reform der ZPO von einem Bundesratsentwurf
aus der vergangenen Legislaturperiode schlecht abgekup-
fert. Heute wollen Sie davon nichts mehr wissen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Kommen Sie mal zum Thema!)


Man könnte sagen: Ehe der Hahn dreimal gekräht hat, hat
Norbert Geis sein eigenes Gesetz verraten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie blamieren sich doch!)


Bei der F.D.P. war es nicht anders.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Es bleibt aber auch keiner heute Morgen verschont!)

Ihr Ministerium hat immer zugearbeitet. Ihre Minister ha-
ben im Stile einer 4-mal-100-Meter-Staffel den Stab wei-
tergegeben und waren immer nur darauf bedacht, den Mi-
nistersessel für den Nächsten vorzuwärmen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wie lange wollen wir uns das noch anhören?)


Die einzige Konstante war der Parlamentarische Staatsse-
kretär Funke, der acht Jahre überstanden hat und dem wir
die heutige Debatte verdanken. Ich komme noch darauf
zurück. Ich frage nur: Wo ist Herr Funke heute?


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wie lange wollen Sie noch reden? – Jörg van Essen [F.D.P.]: Herr Präsident, hören wir auch noch was zur Geschäftsordnung?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417000300
Kollege Hartenbach,
die Frage nach dem Verbleib des Kollegen Funke mag
zwar interessant sein; aber jetzt sollten Sie sich zur Ge-
schäftsordnung äußern.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Heiterkeit bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Wir sind ausdrücklich einverstanden, dass er länger sprechen darf! – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sie kriegen auch noch unsere Redezeit! Wir verzichten!)



Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1417000400
Herr Präsident, das tue ich
doch schon die ganze Zeit; denn das, was ich darlege,
gehört dazu.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Reden Sie ruhig 20 Minuten! Sie bekommen auch noch unsere Zeit!)


– Okay, Herr Merz, ich würde sofort aufhören,

(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der CDU/CSU: Nein! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Nein, reden Sie ruhig weiter! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie waren wohl heute Nacht nicht im Bett!)


wenn Sie jetzt sagen würden: Wir stimmen den beiden
Aufsetzungsanträgen zu.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Das klingt ja wie eine Drohung!)


Natürlich sind wir wieder schuld daran;

(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Immer!)





Alfred Hartenbach

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(A)



(B)


denn Sie haben triftige Gründe, uns vorzuwerfen, dass
wir – Herr Präsident, ich spreche jetzt wirklich zur Ge-
schäftsordnung – dem Wunsch der Oppositionsparteien
nach einer Debatte nicht nachgekommen seien.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Einen solchen Sprecher zu haben ist ein Armutszeugnis!)


Was wollen wir denn und was müssen wir machen?

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie müssen auch mal!)

Wir wollen und müssen noch in dieser Woche das
Schuldrechtsmodernisierungsgesetz in erster Lesung in
das parlamentarische Verfahren einbringen. Wir tun dies
doch nicht, weil wir Sie ärgern wollen, ganz im Gegenteil:
Wir tun dies doch, um eine breite parlamentarische Bera-
tung zu ermöglichen. Würden wir warten, bis das Parla-
ment den Regierungsentwurf bekäme, dann würden wir in
erheblichen Zugzwang geraten. Dann würde ich Ihnen
auch Recht geben, wenn Sie sagten: Wir müssen das alles
in einem Hauruckverfahren durchbringen. – Genau das
wollen wir nicht. Wir bringen einen Koalitionsentwurf
ein, sodass die Opposition frühzeitig in die Beratungen
eingebunden werden kann und wir die Sommerpause nüt-
zen können. Wir wollen Sie schon jetzt in alle Beratungen
integrieren. Wir bieten Ihnen das an, so wie wir es Ihnen
schon einige Male angeboten und es auch umgesetzt ha-
ben.

Ich komme nun auf die ZPO-Reform zu sprechen.

(Lachen bei der CDU/CSU)


Wir haben in den Berichterstattergesprächen in einer
beispiellosen Art und Weise versucht, die ZPO-Reform
mit den Oppositionsparteien klar zu machen. Wir haben
Ihnen immer wieder gezeigt, dass wir bereit sind, Sie an
den Beratungen zu beteiligen. Nur, Sie müssen das ak-
zeptieren. Nun wollen wir zu einem guten Ende kom-
men,


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

nachdem wir uns mit dem Deutschen Anwaltverein, dem
Deutschen Richterbund und unseren Ländervertretern ei-
nig sind. Wir werden heute Nachmittag über die ZPO-Re-
form nicht nur debattieren, sondern sie mit der Mehrheit
des Hauses auch verabschieden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417000500
Kollege Hartenbach –


Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1417000600
Ich bin sofort fertig.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417000700
– damit liefern Sie mir
das Stichwort –, Sie müssen zum Ende kommen.


Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1417000800
Ich lade Sie herzlich ein:
Hören Sie auf, Oppositionspolitik nur als Obstruktions-
politik zu verstehen! Beteiligen Sie sich vielmehr an den
Beratungen zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz
und zeigen Sie, dass Sie mehr können, als nur Nein sa-
gen!

Ich stelle den Antrag, unseren beiden heutigen Aufset-
zungsanträgen zuzustimmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wir sind tief bewegt!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417000900
Ich erteile Herrn Kol-
legen van Essen, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1417001000
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Wer die Rede des Kollegen Har-
tenbach gehört hat


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Der ist tief bewegt!)


und vor allen Dingen gemerkt hat, dass er praktisch keine
Argumente vorgetragen hat,


(Dr. Peter Struck [SPD]: Das stimmt aber nun nicht!)


der versteht, warum er in der Vergangenheit so intensiv
Pirouetten drehen musste. Wir als Opposition haben es
sehr viel besser, weil wir nämlich Argumente für unseren
Antrag haben,


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

sowohl die Debatte über die Reform des Zivilprozesses
als auch die Debatte über die Reform des Schuldrechts in
einer anderen Form durchzuführen.

Der Kollege Hartenbach hat gesagt, das, was vorge-
schlagen werde, sei vernünftig und zukunftsweisend.


(Dr. Peter Struck [SPD]: So ist es auch! – Alfred Hartenbach [SPD]: Da hat er Recht!)


Wenn das so ist, Herr Kollege Hartenbach, dann verstehe
ich überhaupt nicht, warum Sie unserem Wunsch, diese
Debatte morgen als ersten Punkt und damit zu einer güns-
tigen Zeit durchzuführen, damit sich jedermann ein Bild
davon machen kann, nicht entsprechen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Debatte ist doch vor allem deshalb auf den frühen
Nachmittag und damit auf eine Zeit außerhalb der Kern-
zeit verschoben worden, weil sogar der „Spiegel“, der
nicht im Verdacht steht, der Regierung zu kritisch ge-
genüberzustehen, in dieser Woche die Schlagzeile veröf-
fentlicht hat:

Mit ihrem ehrgeizigen Vorhaben einer umfassenden
Zivilprozessreform ist Justizministerin Herta
Däubler-Gmelin weitgehend gescheitert.

Das ist der wesentliche Grund, warum wir das heute
Nachmittag debattieren sollen und nicht zu einer besseren
Zeit beraten können.

Es gibt übrigens noch einen zweiten und für uns eben-
falls wichtigen Grund: Es gibt eine gute Übung im Deut-
schen Bundestag, dass dann, wenn die wesentlichen
Berufe im Bereich der Justiz ihre jährlichen Zusam-
menkünfte haben – Juristentag, Anwaltstag, Rechtspfle-




Alfred Hartenbach
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(C)



(D)



(A)



(B)


gertag –, die rechtspolitischen Sprecher vereinbaren, zu
der Zeit, wenn die Eröffnungsveranstaltung ist, keine
rechtspolitische Debatte durchzuführen, weil es der Res-
pekt vor diesen Berufen gebietet.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Ach wo!)

Heute Nachmittag findet genau zu dem gleichen Zeit-

punkt, zu dem die Koalition diese Debatte angesetzt hat,
der Rechtspflegertag in Hamburg statt. Wir wollen,
dass wir weiterhin diesen Justizberufen Respekt zollen


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

und unseren rechtspolitischen Sprechern die Möglichkeit
geben, dort die Anregungen der Praxis aufzunehmen und
sich an der Diskussion zu beteiligen.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Ist das das einzige Argument? Das darf doch nicht wahr sein!)


Was das Schuldrecht anbelangt, so haben wir zu Be-
ginn dieser Woche eine Vorlage von über 680 Seiten be-
kommen.


( Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Vorlesen! – Heiterkeit)


Wir sind nicht bereit, eine solche Behandlung im Bundes-
tag hinzunehmen; denn die Fraktionen müssen selbstver-
ständlich die Möglichkeit haben, sich ein solches Paket
vernünftig anzuschauen, in ihren Gremien zu beraten und
dann in die Debatte einzutreten.


(Zuruf von der SPD: Sie hatten einen jahrelangen Vorlauf!)


Wir haben – Sie haben uns Obstruktion vorgeworfen,

(Alfred Hartenbach [SPD]: Das ist doch Ob struktion, natürlich!)

Herr Hartenbach, überhaupt keine Obstruktion gezeigt,
sondern – ganz im Gegenteil – einen vernünftigen Vor-
schlag gemacht: Wir haben Ihnen angeboten, morgen Vor-
mittag die Debatte zur Zivilprozessreform durchzuführen
sowie gleichzeitig im Vorgriff im Rechtsausschuss schon
die notwendige Anhörung für den Bereich des Schuld-
rechts zu beschließen und damit sicherzustellen, dass es
keine Verzögerung gibt.

Von daher gibt es also überzeugende Argumente bei
der Opposition. Wir wollen, dass die Zivilprozessreform
zu einer vernünftigen Zeit debattiert wird und dass res-
pektiert wird, dass die Rechtspfleger ihren Rechtspfleger-
tag haben. Wir wollen außerdem eine vernünftige Bera-
tung auch bei den Oppositionsfraktionen sicherstellen.

Deshalb bitten wir um Zustimmung zu unserem An-
trag, dass nämlich die Debatten so nicht stattfinden, wie
die Koalition sie will.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so wie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417001100
Wir kommen zur Ab-
stimmung.

Wer stimmt für die Aufsetzungsanträge der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Aufsetzungsan-
träge sind mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und
PDS angenommen. Damit werden der Entwurf des Zivil-
prozessreformgesetzes heute nach der Aktuellen Stunde
und der Entwurf des Schuldrechtsmodernisierungsgeset-
zes morgen als erster Tagesordnungspunkt beraten.

Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkt 3 a und b so-
wie Zusatzpunkt 2 auf:
3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung

Vertrauen und Solidarität – die Chancen der
Zukunft nutzen

b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung der Regelungen über die Festsetzung von
Festbeträgen für Arzneimittel in der gesetz-

(Festbetrags-Anpassungsgesetz – FBAG)

– Drucksache 14/6041 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard
Schwaetzer, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Versorgungsangleichung in der ge-

(Versorgungsangleichungsgesetz)

– Drucksache 14/6054 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist es so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung er-
teile ich der Bundesministerin für Gesundheit, Ulla
Schmidt.


(Unruhe – Dr. Peter Struck [SPD]: Warte noch einen Moment!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1417001200
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen – –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417001300
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte Sie, wenn Sie nicht hier bleiben
wollen, schnell und vor allem sehr ruhig den Saal zu ver-
lassen, damit die Rednerin nicht gestört wird.




Jörg van Essen

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(C)



(D)



(A)



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Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1417001400
Vie-
len Dank, Herr Präsident.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Störer sind die Kollegen der SPD! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist die Solidarität bei denen!)


– Es wird ja sehr viel wichtiger sein, dass Sie mir zuhören,
damit Sie endlich auf den richtigen Weg kommen.


(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das deutsche Ge-

sundheitswesen sei zu teuer und es bedürfe dringend ein-
schneidender Veränderungen – das sind seit gut zehn Jah-
ren landauf, landab verkündete Behauptungen. Alle
waren sich darin immer einig, ob Regierung, Opposition,
Pharmaindustrie, Krankenhäuser, Patienten, Ärzte, Kas-
sen, Arbeitgeber oder Gewerkschaften. Damit hörte aller-
dings die Einigkeit schon auf. Gemeinsame Lösungen wa-
ren schwierig. Im Ergebnis stehen wir weiterhin vor einer
Vielzahl von Problemen und sind mit der Einschätzung
konfrontiert, dass unser Gesundheitssystem reformbe-
dürftig ist.

Unabhängig davon, dass wir unser Gesundheitssystem
zukunftsfähig machen müssen, stelle ich bei dieser Gele-
genheit einmal fest: Wir haben in Deutschland hervorra-
gende Ärzte und Ärztinnen.Unsere Unfall- und Nothilfe
ist vorbildlich. Krankenkassen bemühen sich um opti-
male Leistungen, Service und Effizienz. Die Qualität un-
serer Krankenhäuser ist herausragend. Überall, von den
Pflegerinnen und Pflegern und den Sachbearbeitern der
Krankenkassen bis hin zu den Ärztinnen und Ärzten tref-
fen wir auf sorgfältig arbeitende, verantwortungsbe-
wusste und qualifizierte Menschen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Dienstleistungsbereich Gesundheitsmarkt bietet
große Chancen für Beschäftigung und entfaltet auf dem
Arbeitsmarkt positive Wirkungen. Unser Gesundheitswe-
sen wird von vielen anderen in der Welt mit Anerkennung
betrachtet. Die deutsche Pharma- und Medizinproduk-
teindustrie produziert weltweit gefragte Exportartikel.
Im Übrigen sind ihre Erwerbs- und Exportchancen nicht
nur in Bezug auf den deutschen Markt, sondern ebenso
auf den europäischen Binnenmarkt und den internatio-
nalen Wettbewerb sehr gut.

Wenn wir in Deutschland auf etwas stolz sein können,
dann auf unser Solidarsystem und die Leistungen, die von
ihm tagtäglich erbracht werden. Deshalb ist es höchste
Zeit, den Beschäftigten im Gesundheitswesen unseren
Dank und unsere Anerkennung auszusprechen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Da darf auch die Opposition klatschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Krankheit gehört lei-

der zum Leben. Wir können sie nicht wirklich verhindern
und wir können nicht vorhersagen, wer wann krank wird,
durch Unfälle Behinderungen davontragen oder dem
Stress am Arbeitsplatz nicht gewachsen sein wird. Es ist
ein Teil des Schicksals, dem wir nur ohnmächtig Tribut

zollen können. Ich bin sicher, dass auch die Entschlüsse-
lung der menschlichen Gene daran im Kern nichts ändern
wird, wenn wir auch hoffen, damit viele Krankheiten
bekämpfen zu können. Einen absoluten Schutz vor
Krankheit gibt es nicht. Deswegen ist die Gestaltung des
zukünftigen Gesundheitswesens eine Aufgabe, die alle
Menschen betrifft und interessiert. Wir, die Bundesregie-
rung und die Regierungsfraktionen, stellen uns der
Verantwortung, ein leistungsfähiges, effizientes Gesund-
heitswesen auch für die Zukunft zu sichern. Das schafft
und sichert Vertrauen bei Patientinnen und Patienten, die
sich in ihrer Not auf unsere solidarische Versicherung und
die Leistungsfähigkeit unserer Gesundheitsversorgungs-
systeme verlassen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ausgangspunkt unserer Gesundheitspolitik ist die Vor-
sorge, und zwar die Vorsorge gegen den am Ende unkal-
kulierbaren Schicksalsschlag der Krankheit. Jeder weiß
aus eigener Erfahrung, dass sich die Menschen fragen:
Was passiert, wenn meine Leistungsfähigkeit beeinträch-
tigt wird? Werde ich die notwendigen Aufwendungen für
Diagnose und Therapie erbringen können? Werde ich am
Ende hoffentlich auch geheilt sein? Wird das Gesund-
heitswesen durch gemeinschaftliche Anstrengungen mich
und meine Familie vor einem finanziellen Desaster be-
wahren?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben darauf im
Wesentlichen zwei Antworten gefunden:

Erstens. Da jeder Einzelne dieselbe Chance auf Ge-
sundheit hat und dasselbe Risiko der Krankheit trägt, tei-
len wir die Kosten der Krankheit und ihrer Behandlung
nach einer sozialen Staffelung, die die finanzielle Leis-
tungsfähigkeit berücksichtigt, solidarisch unter allen po-
tenziell Betroffenen auf. Ich sage hier ganz deutlich: An
dieser Grundidee bzw. diesem Leitgedanken unseres So-
lidarsystems werden diese Bundesregierung und die
Koalitionsfraktionen festhalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Da wir das Risiko einer Erkrankung nicht
verhindern können, müssen wir es beeinflussen; wir müs-
sen vorbeugen. Daran gemessen müssen wir feststellen,
dass die Prophylaxe in der Systematik der Leistungen und
in der Finanzierung im Gesundheitswesen immer noch
nicht hinreichend verankert ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zu einem erheblichen Teil liegt die Vorbeugung natür-
lich in der Verantwortung des Einzelnen. Nicht der Arzt
kann der Erkrankung vorbeugen, sondern nur eine ver-
nünftige Lebensweise. Ich appelliere an die Verantwor-
tung der Einzelnen. Vorbeugung und gesundheitliche Auf-
klärung müssen gestärkt werden. Wir werden dies tun,
indem wir die entsprechenden Mittel für Werbung der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die in
diesem Bereich eine wesentliche Arbeit leistet, bereit-
stellen.






(C)



(D)



(A)



(B)


Ich sage aber auch ganz deutlich: Wir müssen das soli-
darische Verhalten des Einzelnen einfordern. Die Solidar-
gemeinschaft hat immer zwei Seiten. Die eine ist, dass je-
der Einzelne sich darauf verlassen können muss, dass die
Solidargemeinschaft für ihn einsteht, wenn er Hilfe
benötigt. Die andere ist, dass jede Einzelne und jeder Ein-
zelne verpflichtet ist, alles zu tun und selbst mit dafür zu
sorgen, dass die Solidargemeinschaft nicht in Anspruch
genommen werden muss. Das ist unser Verständnis von
Eigenverantwortung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Form der Eigenverantwortung ist etwas völlig
anderes als die, die im unverantwortlichen Gerede eines
niedersächsischen Landtagsabgeordneten und stellvertre-
tenden CDU-Vorsitzenden zum Ausdruck kommt. Dieser
sagt – ich zitiere –: „Wir brauchen nicht alle Risiken in
Solidarkassen zu fassen.“ Welche Risiken meint er denn?
Welches Gesundheitsrisiko ist denn so harmlos, dass wir
es ausschließen könnten und es nicht solidarisch aufge-
fangen werden müsste? Es ist doch bekannt: Der Vor-
schlag, dass jemand, wenn er jung und gesund ist, ent-
scheiden soll, gegen welche Risiken er sich und seine
Familie absichert bzw. welche Risiken er ausschließt,
führt letztendlich dazu, dass Risiken ausgeschlossen wer-
den, die später doch eintreten können. Man ist dann gegen
diese Risiken nicht versichert und läuft in eine selbst ge-
stellte Risikofalle. Ich frage Sie: Wer soll die Kosten tra-
gen, wenn dann das Einkommen nicht mehr reicht?

Diese Vorschläge lehnen wir ab. Sie bewirken nicht nur
eine Ausgrenzung, sondern sie werden letztendlich dazu
führen, dass die Kosten, die im Gesundheitswesen aufge-
bracht werden müssen, weiter steigen. Wir sollten in ei-
nem solidarisch finanzierten Gesundheitswesen vielmehr
versuchen, die Kosten durch sinnvolle Maßnahmen zu
steuern und zu begrenzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Diese Regierung wird auch weiterhin dafür sorgen,
dass jeder Kranke und jede Kranke ein Recht auf Leistung
hat und dass kein Arzt fragen muss, ob eine bestimmte
Leistung für einen Patienten oder eine Patientin
ausgenommen ist, bevor er mit der Behandlung beginnt.
Wir wollen keine Zweiklassenmedizin; wir wollen eine
solidarisch finanzierte, medizinisch sinnvolle Betreuung
aller Menschen in diesem Lande.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eines ist doch klar: Das Soziale an der Marktwirtschaft
– Sie rühmen sich ja immer, die Erfinder der sozialen
Marktwirtschaft zu sein – ist doch die Solidarität: dass die
Reichen für die Armen, die Arbeitenden für die Arbeitslo-
sen und – das gilt für diesen Bereich – die Gesunden für
die Kranken einstehen. Ich möchte in diesem Zusammen-
hang zwei Maßnahmen nennen.

Erstens. Gemäß dem Solidarprinzip wird der Osten
vom Westen im Rahmen des Finanzausgleichs und des

neu gestalteten Risikostrukturausgleichs unterstützt.
Nach 2,8 Milliarden DM im vergangenen Jahr werden in
diesem Jahr voraussichtlich 4,8 Milliarden DM an Beiträ-
gen von westdeutschen an ostdeutsche Krankenkassen
fließen. Dies wird sich gemäß der vereinbarten und von
dieser Koalition beschlossenen Maßnahmen in weiteren
Stufen steigern.

Zweitens. Mit der Einführung des Wohnortprinzips
werden wir mehr Gerechtigkeit schaffen und die Finanz-
situation von Ärztinnen und Ärzten in Ostdeutschland
verbessern. Das trägt dazu bei, deren Existenzängste zu
mildern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Weil wir gerade bei den neuen Bundesländern sind:
Wir waren es, die mit dem Risikostrukturausgleich die
letzte Sozialmauer eingerissen haben, und – ich mag die
Koalition für diese Selbstverständlichkeit kaum loben –
wir waren es, die endlich den mit Hepatitis infizierten
Frauen in der DDR wenigstens materiell geholfen haben,
was Ihnen von CDU, CSU und F.D.P. acht Jahre lang nicht
möglich war. Auch diesen Missstand haben wir beseitigt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Risikostrukturausgleich zwischen den Kranken-
kassen, der einen fairen Wettbewerb sicherstellen sollte,
war in den letzten Jahren in eine Schieflage geraten, so-
dass den großen Kassen, den Versorgerkassen, aber auch
einigen Betriebskrankenkassen der finanzielle Kollaps
drohte. Ihre Antwort auf die Gefährdung der Versorgung
Millionen Versicherter war, der Wettbewerb selbst müsse
es richten. Aber wenn wir so verfahren würden, ginge es
zu Lasten aller Versicherten. Das wäre der direkte Weg in
die Zweiklassengesellschaft; denn die gesetzliche Kran-
kenversicherung ist kein Wirtschaftsunternehmen.

Es geht nicht um einen ideologischen Streit, sondern da-
rum, dass wir den Wettbewerb fair organisieren. Ich erin-
nere mich an Zeiten – sie sind allerdings schon lange her –,
als die Begriffe „fair“ und „Wettbewerb“ auch für Sie
noch zusammen zu buchstabieren waren. Ist es fair, wenn
Krankenkassen, deren Versicherte höhere Krankheitsri-
siken tragen, höhere Beiträge erheben müssen, weil einige
Kassen Gesunde und Gutverdienende mit niedrigen
Beiträgen umwerben und einfangen? Ich finde, nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Ist es verantwortbar, wenn Menschen mit niedrigen
Beiträgen in eine andere Kasse gelockt werden, während
die größeren Kassen gerade die Mitglieder mit einem sta-
tistisch geringeren Gesundheitsrisiko verlieren und da-
durch in eine Schieflage geraten, wodurch das ganze So-
lidarsystem ins Wanken gerät? Ich finde, dass das nicht
verantwortbar ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Bundesministerin Ulla Schmidt

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(C)



(D)



(A)



(B)


Solange wir ein solidarisch finanziertes Gesundheits-
wesen brauchen, so lange muss uns klar sein, dass das
nicht allein durch den Wettbewerb um niedrige Beiträge
funktioniert; deshalb ist ein Solidarausgleich, wie wir ihn
bei der Fortsetzung des Risikostrukturausgleichs planen,
ein pragmatisches und übrigens mit der sozialen Markt-
wirtschaft konform gehendes Mittel, Schaden von allen
Versicherten abzuwenden. Wir eröffnen dem Wettbewerb
mit der angestrebten Reform ein neues Feld: das des
Wettbewerbs um bessere Leistungen, insbesondere was
die Steigerung der Leistungen für chronisch Kranke an-
geht. Wir wollen im Rahmen des Gesetzentwurfs über den
Risikostrukturausgleich, den wir in den nächsten Wo-
chen in den Deutschen Bundestag einbringen werden, al-
len Kassen die Möglichkeit geben, so genannte Disease-
Management-Programme, also Programme zur besseren
Versorgung chronisch kranker Menschen, als gezielte
Leistungsverbesserungen für Kranke zu entwickeln.
Dafür schaffen wir finanzielle Anreize.

Seit vergangener Woche liegt im Deutschen Bundestag
dazu das Vorschaltgesetz vor, das übrigens nicht, wie ei-
nige behaupten – das will ich an dieser Stelle einmal er-
wähnen –, in diesem Jahr den Wechsel von einer Kran-
kenkasse zur anderen völlig unmöglich macht. Wir
wollen, dass für jeden ab dem 1. Januar 2002 jederzeit der
Wechsel möglich ist und dass freiwillig Versicherte und
gesetzlich Versicherte endlich gleichgestellt werden, was
bisher nicht der Fall ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir schlagen dem Parlament damit eine wahre Deregu-
lierung vor. Da dieser Ausdruck eines Ihrer Lieblings-
wörter ist, meine Damen und Herren von der Opposition,
hoffe ich auf Ihre Unterstützung.

Gesetzliche Krankenkassen können heute kaum steu-
ern, ob und wie viele ihrer Mitglieder besonderer Leis-
tungen bedürfen. Dem wollen wir Rechnung tragen, in-
dem ab dem 1. Januar 2003 ein so genannter Risikopool
eingerichtet wird, damit Kassen für die Behandlung chro-
nisch Kranker einen finanziellen Ausgleich erhalten. Da-
mit eröffnen wir den Wettbewerb um beste Leistungen.
Wir setzen dies an die Stelle einer Konkurrenz um unrea-
listische und unsolidarisch niedrige Beiträge; denn – auch
das ist eine zentrale Zielsetzung dieser Regierung – wir
wollen stabile und die Lohnnebenkosten senkende
Beiträge für alle und wir wollen Leistungssicherheit für
alle Versicherten. Damit meinen wir auch die mehr als
50 Millionen Versicherten, die Mitglieder von großen
Kassen sind und ihren Kassen treu bleiben wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin froh, dass wir eine Lösung gefunden haben, die im
Konsens mit allen großen und allen gesetzlichen Kran-
kenkassen umgesetzt werden soll; das ist der einzige Weg,
um voranzukommen.

Nichtsdestotrotz benötigt das Gesundheitswesen darü-
ber hinaus eine langfristige Stabilität. Obwohl jeder Bür-
ger und jede Bürgerin Gesundheit als das höchste Gut ein-
schätzt, ist die Höhe für die Aufwendungen ins Gerede

gekommen. Wir haben Verständnis dafür, dass die Men-
schen das, was sie brauchen, gern preiswert erhalten
möchten. Deshalb kommen wir nicht darum herum, uns
zu bemühen, die Effizienz unseres Gesundheitswesens zu
steigern, damit wir die Kosten des Gesundheitswesens
und auch die Kosten der Arbeit begrenzen.

Unter Effizienzsteigerung verstehe ich zwei Dinge:
Das eine ist Qualitätssteigerung und das andere ist die
Steigerung der Wirtschaftlichkeit in unserem Gesund-
heitswesen. Das, was Ihnen vorgelegt wird – die Aufhe-
bung des Kollektivregresses bei der Unterschreitung
oder Überschreitung der Arzneimittelbudgetgrenzen –, ist
eben nicht etwas – manche sind dieser Auffassung –, was
gegen dieses Ziel spricht. Wir wollen das Ziel nicht auf-
geben; wir setzen vielmehr auf Instrumente, die geeignet
sind, das angestrebte Kostenbewusstsein tatsächlich zu
erreichen.

Die Ärzte und Ärztinnen machen doch zu Recht gel-
tend, dass es einer einzelnen Praxis nicht möglich ist, das
Auftreten von Leistungen für die Patienten so zu steuern,
dass die verordneten Arzneimittel einem errechneten
Durchschnitt entsprechen. Ich muss leider so handeln,
weil ich es in diesem Fall unter anderem mit einem Erbe
aus Ihrer Ära zu tun habe. Die Budgetierung gibt es näm-
lich etwas länger, als die rot-grüne Regierungskoalition
regiert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Uns leuchtet unmittelbar ein, dass ein Arzt mit sehr vielen
HIV-Infizierten oder mit sehr vielen Krebspatienten oder
mit sehr vielen älteren, chronisch kranken Menschen ent-
sprechende Arzneimittel verordnen muss.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das hat aber lange gedauert!)


Deshalb brauchen wir eine Regressregelung, die die
Besonderheiten der einzelnen Praxis berücksichtigt. Wir
werden im Laufe der nächsten Woche dem Deutschen
Bundestag eine Neuregelung vorlegen, die den Einzelfall,
die Besonderheiten der Patientenstruktur jeder Praxis und
die medizinischen Notwendigkeiten, fairer einbezieht und
die zum Beispiel eine Beratung mit dem Ziel kostenbe-
wusster Behandlung und Verschreibung vorsieht und erst
nach diesen Zwischenschritten zur finanziellen Sanktion
für die Überschreitung des Ausgabenvolumens der ein-
zelnen Praxis greift. Auch hier fordern wir Eigen-
verantwortung und nicht mehr kollektive Haftung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich würde mich jedenfalls darüber freuen, wenn Sie

alle, die Sie hier so begeistert rufen, aber auch die Partner
der Selbstverwaltung, Ärzte und Krankenkassen, diesen
Weg mitgehen würden, weil wir eine Versorgung der Pa-
tienten anstreben, bei der tatsächlich das, was der Ein-
zelne braucht – zum wirtschaftlich günstigsten Preis – im
Mittelpunkt einer Behandlung stehen wird und nicht mehr
irgendwelche abstrakten Budgets.

Konsens herrscht unter den Beteiligten im Gesund-
heitswesen bei der Festbetragsregelung für Arzneimit-
tel. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass sich Kassen




Bundesministerin Ulla Schmidt
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(C)



(D)



(A)



(B)


und pharmazeutische Industrie auf einen Weg einigen.
Die gefundene Regelung erlaubt es, die vorhandenen
Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen. Ich sage hier
ganz deutlich: Auch dies ist ein Beweis dafür, dass wir
Ausgaben begrenzen können, ohne dass wir bei den Leis-
tungen kürzen. Auch in Zukunft wird jedem das Arznei-
mittel zur Verfügung stehen, das er braucht, um wirklich
gesund zu werden oder seine Schmerzen zu lindern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Einspareffekte versprechen wir uns auch von der Auf-
hebung der immer noch herrschenden Trennung zwi-
schen ambulantem und stationärem Sektor. Die Be-
reitschaft in der Ärzteschaft wächst, insbesondere den
diagnostischen Aufwand durch bessere Zusammenarbeit
der Praxen in einer Region zu begrenzen. Das wird nicht
zuletzt den Investitionsbedarf der einzelnen Praxen sen-
ken und damit die Einkommenssituation von niedergelas-
senen Ärzten verbessern. Es wachsen auch die Chancen
der Patientinnen und Patienten, in vernetzten Systemen
versorgt zu werden, und gleichzeitig werden die Kosten
für die Krankenkassen verringert. Die gesetzlichen Vo-
raussetzungen dafür sind zum Teil geschaffen und die
Programme zur Bekämpfung chronischer Erkrankungen,
die wir mit dem Risikostrukturausgleich auf den Weg
bringen werden, werden diese Zielsetzung noch weiter
verstärken.

So hat die beschlossene Gesundheitsreform 2000 über
diese integrierte Versorgung hinaus auch die Grundlagen
für eine bessere Qualitätssicherung der gesundheitli-
chen Versorgung geschaffen. Es ist Sache der gemeinsa-
men Selbstverwaltung, nun an der Optimierung dieser
Aufgaben zu arbeiten. Es geht jetzt darum, die schnellere
Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxen
der niedergelassenen Ärzte und in die Krankenhäuser
hineinzutragen, und es geht auch um eine Intensivierung
der medizinischen Weiterbildung in diesen Fragen. Es
geht uns um Leitlinien für qualitätsgestützte Behandlun-
gen, die den Einfluss der Ärzte nicht schmälern werden
und mit denen wir Transparenz- und Qualitätssteigerun-
gen zu wirklichen Merkmalen unseres Gesundheitssys-
tems machen werden.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Quali-
tätssicherungsgesetz für die Pflege, das Ihnen zur Bera-
tung vorliegt und das den gleichen Prinzipien verpflichtet
ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Prinzip, liebe Kolleginnen und Kollegen, verfol-
gen wir auch, wenn wir den Gesetzentwurf zur Verbesse-
rung der Situation der Pflegenden bei der Betreuung de-
menzkranker Patienten einbringen werden. Auch dieses
wichtige Aufgabenfeld wird die Bundesregierung noch in
dieser Legislaturperiode angehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich noch einen Punkt nennen, bei dem es
ebenfalls scheinbar einen Zielkonflikt zwischen Beitrags-

stabilität und Qualitätssicherung gibt. Auffällig und
schwer zu rechtfertigen ist es, dass das geltende
Selbstkostenerstattungsprinzip es zulässt, dass die glei-
che Operation in dem einen Krankenhaus teurer ist als in
dem anderen. Es liegt auf der Hand, dass dem unter-
schiedliche Erfolge bei der Bemühung um Wirtschaft-
lichkeit in den Krankenhäusern zugrunde liegen. Das Sys-
tem der Fallpauschalen, das wir einführen werden, wird
die Wirtschaftlichkeitsreserven ausschöpfen und die Leis-
tungen angemessen vergüten. Das ist gut so und deshalb
halten wir an dieser Entscheidung fest.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es wird sehr viel darüber geredet, dass im Gesund-
heitswesen sehr viel Streit ist. Ich kann nach meinen bis-
herigen Erfahrungen feststellen, dass der Streit zwischen
den Beteiligten im Gesundheitswesen allmählich der Ein-
sicht weicht, dass es nicht anders geht, als dass wir zu Ge-
sprächen zusammenkommen. Die Einsicht wächst, dass
wir die Zukunft nur gemeinsam gestalten können.


(Lachen des Abg. Horst Seehofer [CDU/CSU])


– Ich wundere mich, dass Sie lachen, Herr Kollege
Seehofer. Das, was Sie jetzt immer als Hinterzimmerpoli-
tik zu verunglimpfen suchen, war doch das, was Sie mit
den Petersberger Beschlüssen erreichen wollten, wobei
Sie aber an Ihrem Koalitionspartner und an dem damali-
gen Bundeskanzler Kohl, der Sie zurückgepfiffen und zur
Untätigkeit verdammt hat, gescheitert sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb kann es sein, dass Sie aufgrund eigener Er-
fahrungen das, was ich heute mache, als Quadratur des
Kreises ansehen. Aber ich kann Ihnen versichern: Wir las-
sen uns davon nicht entmutigen. Die Bereitschaft aller
Beteiligten, die eigenen Positionen zum Wohl der Patien-
tinnen und Patienten zu überdenken, ist erkennbar. Die
Aussichten, die Sicherung, ja sogar die Verbesserung der
Leistungen des Gesundheitswesens mit dem volkswirt-
schaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Ziel stabiler
Beiträge zu vereinbaren, wachsen Schritt für Schritt. Wir
werden nicht aufhören, dieses Ziel mit Engagement und
Einsicht anzustreben, um zu einer tragfähigen Reform für
dieses Gesundheitswesen zu kommen.

Einer der Schritte auf diesemWege ist die Einrichtung
des runden Tisches, den ich ins Leben gerufen habe und
an demwirmit allen Beteiligten imGesundheitswesen da-
rum ringen werden, Lösungen zu finden, um dieses Ge-
sundheitswesen zukunftsfähig zumachen und umQualität
und Wirtschaftlichkeit zu dem zu machen, was unser Ge-
sundheitswesen bestimmen soll. Wir wollen evidenzba-
sierteMedizin zumWohle derMenschen in diesemLande.

Dabei werden wir nicht stehen bleiben. Wir reden mit
allen, die im Gesundheitswesen Verantwortung tragen
und die an diesem runden Tisch sitzen, über die Vor-
schläge, die sie einbringen. Wir werden die Ergebnisse der
Gespräche dann zur Grundlage der politischen Beratun-
gen machen. Der runde Tisch ist nicht geschaffen worden,




Bundesministerin Ulla Schmidt

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(C)



(D)



(A)



(B)


um aktuelle Probleme, die wir hier im Bundestag bereden,
zu diskutieren, sondern er ist geschaffen worden, um zu
versuchen, die widerstrebenden Interessen im deutschen
Gesundheitswesen zu bündeln, und zu prüfen, ob wir
nicht zum Wohle der Patientinnen und Patienten in diesem
Lande zu gemeinsamen, belastbaren Lösungen kommen
können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Sich an dieser
Arbeit kreativ und konstruktiv zu beteiligen, dazu fordere
ich Sie auf. Die Menschen in unserem Lande brauchen
Vertrauen in die Sicherheit und Qualität unseres Gesund-
heitswesens


(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr richtig!)

und sie brauchen Vertrauen in die solidarischen Leistun-
gen dieses Gesundheitswesens. Wir alle haben die Ver-
antwortung, dafür zu sorgen, dass die entsprechenden
Maßnahmen umgesetzt werden. Ich kann Ihnen nur sa-
gen: Hören Sie auf, sich zu verweigern; beginnen Sie end-
lich mitzuarbeiten – zum Wohle der Menschen in diesem
Lande und für ein besseres Gesundheitswesen!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Oje, oje!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417001500
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion.


(Susanne Kastner [SPD]: Einmal Seehofer, immer Seehofer! – Weitere Zurufe von der SPD: Auch das noch! – Mehr wie ein Seeräuber!)



Horst Seehofer (CSU):
Rede ID: ID1417001600
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die letzte Gesund-
heitsreform der rot-grünen Koalition wurde 1999 verab-
schiedet. Mit dieser Gesundheitsreform wurden die Bud-
gets in Deutschland wieder eingeführt.


(Susanne Kastner [SPD]: Ihr hattet doch auch welche! – Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Ihr habt sie eingeführt!)


Wenn man die damals gehaltenen Reden nachliest, dann
wird man finden, dass diese Gesundheitsreform – die
noch nicht einmal zwei Jahre alt ist – als die Lösung der
Probleme des deutschen Gesundheitswesens dargestellt
wurde.

Nun haben wir heute gehört, dass wesentliche Ele-
mente dieser Gesundheitsreform korrigiert werden, ins-
besondere was das Arzneimittel- und Heilmittelbudget
betrifft. Liebe Frau Kollegin Schmidt, das, was wir heute
gehört haben, ist keine kreative, innovative Gesundheits-
politik, sondern stellt ausschließlich eine Reparatur der ei-
genen Fehlleistungen dar, die Rot-Grün zu verantworten
hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das Problem des deutschen Gesundheitswesens be-

steht in der Tat nicht in dem Maße dessen, was Pflege-

kräfte und Ärzte täglich segensreich an medizinischer
Hilfe, an Zuspruch für kranke Menschen leisten. Auch ich
möchte den vielen Frauen und Männern im deutschen Ge-
sundheitswesen für diesen täglichen Dienst und die Hilfe
am kranken Menschen danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD – Regina SchmidtZadel [SPD]: Wir klatschen auch hier!)


Aber das Problem des deutschen Gesundheitswesens
liegt nicht in der Leistung dieser Menschen. Das Problem
des deutschen Gesundheitswesens liegt in den politi-
schen Rahmenbedingungen, die Rot-Grün diesen Men-
schen durch Reglementierung und Budgetierung täglich
mitgibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Ich möchte hier auch einmal energisch widersprechen,
wenn immer wieder behauptet wird, das deutsche
Gesundheitswesen sei im internationalen Vergleich nur
Durchschnitt oder schlecht.


(Zuruf von der SPD: Das hat ja keiner behauptet!)


Die Qualität der Dienstleistungen ist gut, die politischen
Rahmenbedingungen sind miserabel. Der Vergleich, den
der Sachverständigenrat der Bundesregierung angestellt
hat und der besagt, das deutsche Gesundheitswesen sei
deshalb schlecht, weil das Verhältnis zwischen Kosten
und Lebenserwartung ungünstig sei, ist wissenschaftlich
höchst zweifelhaft. Wenn man nur die beiden Parameter,
Ausgaben für das Gesundheitswesen und Lebenserwar-
tung der Menschen gegenüberstellt, sie international ver-
gleicht und zu dem Ergebnis kommt, die Deutschen lie-
gen in der unteren Tabellenhälfte, bedeutet das ja, dass wir
ein besseres Gesundheitswesen hätten, wenn wir 10 Mil-
liarden DM weniger für Gesundheit ausgeben würden.

Hören wir also deshalb auf mit einer solchen ober-
flächlichen Betrachtung. Die Menschen sehen das offen-
sichtlich ganz anders; denn jährlich schließen 23 Milli-
onen Menschen eine Versicherung ab, damit sie im Falle
einer Auslandserkrankung nach Deutschland in die Obhut
des deutschen Gesundheitswesens zurückgebracht wer-
den. Dieses Grundvertrauen in das deutsche Gesundheits-
wesen konnte nicht einmal diese Regierung verändern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koali-

tion, Sie haben nach der Bundestagswahl 1998 eine ver-
hängnisvolle, falsche Richtungsentscheidung getroffen.
Sie haben sich für die Wiedereinführung der Budgets im
deutschen Gesundheitswesen entschieden. Ich möchte da-
rauf hinweisen – das ist der Unterschied zu den Ge-
sprächen, die Sie führen –, dass wir nach Petersberg 1996
die Budgets für die ambulante – ärztliche und zahnärztli-
che – Behandlung aufgehoben haben,


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Aus gutem Grund!)


dass wir die Budgets für die Krankenhäuser aufgehoben
und der Selbstverwaltung Instrumentarien in die Hand ge-




Bundesministerin Ulla Schmidt
16564


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(D)



(A)



(B)


geben haben, die Arznei- und Heilmittelbudgets aufzuhe-
ben. Sie haben uns für diese Richtungsänderung, die wir
vor der Bundestagswahl eingeleitet haben – weniger
staatliche Reglementierung und mehr Eigenverantwor-
tung für alle Beteiligten –, gegeißelt. Sie haben das als So-
zialabbau beschimpft


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Das ist noch zurückhaltend ausgedrückt!)


und haben unsere freiheitlichen Elemente nach der Bun-
destagswahl zurückgenommen. Am Anfang Ihrer ver-
hängnisvollen Gesundheitspolitik stand eine völlig
falsche Richtungsentscheidung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben Sie vor einer solchen Richtungsentschei-

dung, nämlich eine einnahmenorientierte Gesundheitspo-
litik zu betreiben und den Beteiligten im Gesundheitswe-
sen vorzuschreiben, sie dürften für kranke Menschen nur
das ausgeben, was an Einnahmen für die Krankenkassen
zur Verfügung steht, gewarnt. Wir haben Sie davor ge-
warnt, dass, wenn Krankheiten und ihre Behandlung
budgetiert werden, dies zu einer Qualitätsverschlechte-
rung und zu einer Rationierung von Gesundheitsleistun-
gen führt.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Zur Zweiklassenmedizin!)


Nicht nur wir, sondern viele Experten haben Sie ge-
warnt. Der ehemalige SPD-Fraktionschef Klose hat zu
dieser angeblichen Gesundheitsreform, die 1999 verab-
schiedet wurde, gesagt:

Mein Hauptproblem ist die Philosophie, die diesem
Entwurf zugrunde liegt.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)

Da wird in starkem Maße reglementiert und man tut
so, als ob es eine richtige, für alle Patienten anwend-
bare Medizin gebe. Die wird vorgegeben nach der
Melodie: Wir sagen euch, nach welcher Methode die
Ärzte zu behandeln haben. Ich

– so Klose –
habe ein anderes Menschenbild als jenes, das diesem
Entwurf der rot-grünen Koalition zugrunde liegt. Es
geht um die grundsätzliche Entscheidung, ob man
auf Reglementierung oder auf mehr individuelle
Eigenverantwortung setzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das war der Grundfehler, den Sie 1998 nach der Bun-

destagswahl gemacht haben. Jetzt sind Sie unter dem
Druck der Realität dabei, diesen Grundfehler Stück für
Stück zu korrigieren. Die Kuriosität besteht darin, dass die
SPD-Bundestagsfraktion die damalige Gesundheitsminis-
terin der Grünen gezwungen hat, wieder Budgets einzu-
führen, und dass die jetzige SPD-Gesundheitsministerin
die von der SPD durchgesetzten Budgets wieder aufhebt –
mit bitterer Miene bei den Grünen, wie man sieht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Unter Beschimpfung der Opposition!)


Frau Schmidt, wir werden sehr Obacht geben, ob das,
was Sie vorhaben und wozu ich noch etwas Konkretes
sagen werde, in der Betonfacharbeiterriege der SPD hier
im Bundestag am Ende auch durchzusetzen ist. Sie tun
dies ja nicht aus Überzeugung. Sie tun dies, weil die im
Gesundheitswesen angerichteten Schäden Sie mittler-
weile dazu zwingen, Ihre Gesundheitspolitik zu korri-
gieren.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)

Denn es ist unzweifelhaft, dass sich die Qualität der

medizinischen Versorgung in der Bundesrepublik
Deutschland in den letzten zweieinhalb Jahren erkennbar,
massiv und signifikant verschlechtert hat.


(Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Die letzten zehn Jahre geschlafen!)


Selbsthilfegruppen, Umfragen von seriösen Instituten und
wissenschaftliche Langzeitstudien, zum Beispiel die der
Bremer Universität,


(Zuruf von der F.D.P.: Der Bremer!)

kommen zu dem Ergebnis, dass die von Ihnen wieder ein-
geführte Budgetierung dazu geführt hat, dass chronisch
Kranke in vielen Fällen – dies sind etwa 10 bis 20 Pro-
zent – die notwendige medizinische Behandlung nicht
mehr erhalten. Die Langzeitstudie der Universität Bremen
kommt sogar zu folgendem Ergebnis: Jedem vierten Pati-
enten wurde das notwendige Arzneimittel aus Budget-
gründen nicht verordnet.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Praktizierte Zweiklassenmedizin!)


Viele Patienten kommen sich mittlerweile aufgrund der
Budgetierung wie Bittsteller vor; dies ist eine beschä-
mende Situation für das Gesundheitswesen in der Bun-
desrepublik Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Frau Gesundheitsministerin, die Deutsche Rheuma-

Liga berichtet, dass die Budgets zu erheblichen Proble-
men führen und dass Patienten und Ärzte gleichermaßen
verunsichert seien. Das Arzt-Patienten-Verhältnis leidet
unter den ständigen Budgetdiskussionen. Die Frauen-
selbsthilfegruppe nach Krebs weist darauf hin, dass drin-
gend notwendige Heilmittel wie Lymphdrainage und
Krankengymnastik nicht mehr verordnet werden.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das muss man sich vorstellen!)


Nur noch 10 Prozent der Tumorpatienten erhalten eine
adäquate Schmerztherapie.

Auch Kinder zählen bereits zu den Opfern der Budgets.
Der Bundesverband für Logopädie, der Verband der
Ergotherapeuten und der Berufsverband für Pflegeberufe
weisen darauf hin, dass es eine zunehmende Verordnungs-
zurückhaltung der Ärzte gibt.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Der Ärzte!)

– Das war jetzt der größte Widerspruch: Es liegt nicht an
den Ärzten, sondern an den Budgets. Durch diese wird es




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den Ärzten verweigert, das medizinisch Notwendige zu
tun. Das ist doch die Realität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Das stimmt doch überhaupt nicht! Das wissen Sie genau! Das Problem liegt am Verhalten der Ärzte! Eindeutig!)


Diese Verbände weisen darauf hin, dass die Folgen die-
ser Verordnungszurückhaltung Entwicklungsstörungen
bei Kindern seien.

Der Verband der Krankenversicherten stellt fest, es sei
eine Unverschämtheit, wenn die Krankenkassen behaup-
ten würden, es gebe keine Rationierung. Bei vielen Dia-
gnosen, zum Beispiel bei MS, Morbus Alzheimer und
Schizophrenie, ist mittlerweile in der Bundesrepublik
Deutschland eine Unterversorgung evident. Frau
Schmidt, genau heute veröffentlicht der Vorsitzende des
Sachverständigenrates bzw. der Konzertierten Aktion, der
Ihr Chefberater ist, Professor Schwartz, eine Untersu-
chung, wonach Deutschland hinsichtlich der Sterblichkeit
durch Herzinfarkt, Brustkrebs und Darmkrebs zurück-
fällt.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Durch Ihre Politik!)


Deutschland landet nie in der Spitzengruppe und die Ten-
denz geht hin zu einer relativen Verschlechterung.

Nein, nicht die Aufhebung der Budgets, wie wir sie be-
trieben und immer vertreten haben, sondern das Festhal-
ten an den Budgets führt zu einer Zweiklassenmedizin in
der Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: So ist es!)


Was macht es denn für einen Sinn, wenn Sie, Frau
Schmidt, hier auftreten und vom Recht der Patienten auf
eine gesundheitliche Versorgung reden, aber tatsächlich
eine Politik betreiben, die gerade chronisch Kranke von
einer hochwertigen Medizin ausschließt? Ich bleibe da-
bei: Eine Selbstbeteiligung in Höhe von 5 DM pro Medi-
kament mit einer Befreiung der Kinder und Kleinverdie-
ner, wie wir sie vor der Bundestagswahl eingeführt haben,
ist sozialverträglicher als eine hundertprozentige Leis-
tungsausgrenzung aufgrund Ihrer Budgetpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Sie selbst schreiben in Ihrem Referentenentwurf, mit
dem Sie jetzt den Versuch machen, die Arznei- und Heil-
mittelbudgets aufzuheben:

Die bisherigen gesetzgeberischen Bemühungen zur
Sicherung der wirtschaftlichen Verordnung von Arz-
nei- und Heilmitteln im Wege einer Budgetsteuerung
waren wenig erfolgreich.

(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das muss man sich vorstellen!)

Vor allem stießen sie auf erhebliche Umsetzungspro-
bleme. Diese betrafen sowohl die Akzeptanz bei den
beteiligten Vertragsärzten bis hin zu Ansätzen eines

resignativen Verhaltens oder einer sich verfestigen-
den Verweigerungshaltung.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Das wusste jeder schon 1999!)

Das stellen Sie jetzt, zweieinhalb Jahre nach der Re-

gierungsübernahme, fest! Das haben wir Ihnen vor und
nach der Bundestagswahl ständig gesagt. Sie haben es im-
mer als sozialen Kahlschlag, sozialen Abbau und Kniefall
vor den Ärzten diffamiert. Jetzt, nach zweieinhalb Jahren,
rechnen Sie mit Ihrer eigenen Gesundheitspolitik in der
bisherigen Regierungszeit ab. Das ist der Inhalt Ihrer Re-
gierungserklärung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mit Ihrer Reglementierungs- und Budgetierungspolitik

haben Sie kein einziges Problem im Gesundheitswesen
gelöst, sondern neue Probleme geschaffen. Das Gleiche
gilt für den Risikostrukturausgleich.Wir haben gemein-
sam – wir sind froh darüber – am Ende des 20. Jahrhun-
derts ein Wahlrecht für die Versicherten des Inhalts einge-
führt, dass sie ihre Krankenkasse frei wählen können. Es
war ein erbitterter Kampf und das Ganze trat 1996 in
Kraft.


(Zuruf von SPD: Fatale Folgen!)

Gleichzeitig haben wir einen Finanzausgleich zwi-

schen den Krankenkassen ins Leben gerufen, damit eine
Krankenkasse für Risiken, die sie nicht verantworten
kann – etwa überproportional viele chronisch Kranke –,
einen Finanzausgleich bekommt.

Dann haben wir hier noch vor der Bundestagswahl ein
Gesetz mit einem Gutachtenauftrag verabschiedet, um
Einzelheiten des Risikostrukturausgleichs zu optimieren
und zu verfeinern. Hier geht es nicht um eine Ausweitung
des Risikostrukturausgleichs. Man muss einmal darauf
hinweisen, dass beinahe 10 Prozent der Gesundheitsaus-
gaben in Deutschland auf den Ausgleich zwischen den
Krankenkassen entfallen.


(Zuruf von der SPD: Warum denn?)

Versuchen Sie doch nicht, den Eindruck zu vermitteln,

als würden die Krankenkassen Rosinenpickerei betreiben.
Die Betriebs- und Ersatzkrankenkassen, die angeblich
„gute Risiken“ haben, zahlen 23 Milliarden DM als Fi-
nanzausgleich an andere Krankenkassen. Das wollen wir
nicht ausweiten. Diesen Finanzausgleich kann man ge-
rechter gestalten.

Wir haben per Gesetz einen Gutachtenauftrag erteilt,
aber das Erste, was Sie nach der Wahl getan haben, war,
diesen gesetzlichen Auftrag im Bundestag wieder zu kas-
sieren. Dadurch sind Sie in Zeitverzug geraten. Bezogen
auf die Verfeinerung des Risikostrukturausgleichs haben
Sie in den letzten zweieinhalb Jahren nicht gehandelt.
Jetzt haben Sie den Versicherten in einer Nacht-und-Ne-
bel-Aktion zwei Tage bis zum Kabinettsbeschluss Zeit ge-
geben, um noch die Krankenkasse zu wechseln. Jetzt kön-
nen sie das nicht mehr.

Wenn Sie es mit Wettbewerb und Wahlfreiheit wirklich
ehrlich meinen, warum kündigen Sie den Versicherten für
das nächste Jahr Wahlrechte an, heben aber die bestehen-




Horst Seehofer
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den Wahlrechte durch Kabinettsbeschluss auf? Warum
haben Sie das getan?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich prophezeie Ihnen, dass Sie große Schwierigkeiten

haben werden. Sie brauchen den Bundesrat, um diese
Wahlrechte und den Risikostrukturausgleich im nächsten
Jahr in Kraft setzen zu können. Den Leuten ein Recht
wegzunehmen, ohne ihnen das neue Recht bereits gege-
ben zu haben – das ist staatsorientierte Gesundheitspoli-
tik dieser Regierung.

Sie haben im Grundsatz die volle Unterstützung,

(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Jetzt kommt die seehofersche Politik!)

wenn Sie die Arznei- und Heilmittelbudgets aufheben.
Wir werden gespannt abwarten, wie das Gesetz, das Sie
einbringen, im Parlament behandelt wird


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Da bin ich auch gespannt!)


und wie es das Parlament verlässt.
Obwohl dieser Schritt einen Paradigmenwechsel in der

rot-grünen Gesundheitspolitik darstellt – das muss man
einmal deutlich sagen; noch vor anderthalb Jahren sind
wir massiv kritisiert worden, weil unsere Haltung gegen
die Budgets angeblich zulasten der Versicherten und Pati-
enten gehe – und im Grundsatz richtig ist, ist er doch nur
halbherzig und hasenfüßig. Ich frage Sie: Wenn Sie doch
erkannt haben, dass sich die Budgets gegen die Patienten
richten, warum heben Sie dann die Budgets nur für Arz-
nei- und Heilmittel auf, nicht aber für die ärztliche Be-
handlung, die zahnärztliche Behandlung und die Kran-
kenhausbehandlung? Dort treten nämlich die gleichen
Rationierungseffekte auf;


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Richtig!)

auch dort findet die notwendige medizinische Versorgung
der Patienten aufgrund der begrenzten Finanzmittel in
vielen Fällen nicht mehr statt. Wir werden Sie in den
nächsten Monaten zwingen, hierzu im Parlament Farbe zu
bekennen. – Das ist der erste Punkt.

Wir werden hier die Aufhebung auch dieser Budgets
beantragen; das haben wir zum Teil schon getan. Sie wer-
den dann dokumentieren können, ob Sie es mit einer Kor-
rektur in Richtung einer freiheitlichen, eigenverantwortli-
chen Gesundheitspolitik wirklich ernst meinen oder ob
dies nur Beruhigungspillen für die Beteiligten im Ge-
sundheitswesen sind.

Der zweite Punkt: Was nützt die Aufhebung eines Bud-
gets, wenn nicht gleichzeitig die notwendige Strukturre-
form im Gesundheitswesen in Angriff genommen wird?
Ich prophezeie Ihnen eines, Frau Schmidt: Die Aufhebung
der Budgets und das Unterlassen einer strukturellen Ge-
sundheitsreform wird Ihnen auf beiden Seiten des Ge-
sundheitswesen, also sowohl auf der Einnahmeseite als
auch auf der Leistungsseite, noch vor der Bundestagswahl
erhebliche Schwierigkeiten bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dies wird zu einem Druck auf die Beiträge und auf die
Qualität der Leistungen führen. Es entspricht nämlich ge-
wissermaßen einer organisierten Orientierungslosigkeit
in der Gesundheitspolitik, wenn man ein Instrument weg-
nimmt, ohne den Menschen zu sagen, wohin die Reise ge-
hen soll. Das kann und wird nicht gut gehen.

Dies ist ein ganz großer Mangel. Deshalb möchte ich
unsererseits wiederum darauf hinweisen: Wir wollen weg
von diesem staatsorientierten Gesundheitswesen und hin
zu dem Dreiklang von Wettbewerb, Wahlfreiheit und
Transparenz. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn Sie uns
heute gesagt hätten, ob Sie endlich bereit sind, das, was
wir vor der Bundestagswahl in das Gesetz geschrieben ha-
ben, zu vollziehen: dass die Versicherten über die Leis-
tung und die Kosten der Leistung einen Beleg bekommen;
denn nur ein informierter Patient ist auch ein mündiger
Patient. Dazu haben Sie heute nichts gesagt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Auch sagen Sie nach wie vor nichts zu dem Element ei-

nes geordneten Wettbewerbs innerhalb des Gesundheits-
wesens zwischen Ärzten und Krankenkassen. Kranken-
kassen müssen künftig wie Serviceunternehmen und
dürfen nicht wie Behörden geführt werden. Wenn Ärzte
und Krankenkassen selbstständiger wirtschaften und ein
eigenständiges Profil entwickeln können, werden sie noch
besser. Wir müssen daher bei allen Beteiligten im Ge-
sundheitswesen das Interesse zur Übernahme von mehr
Eigenverantwortung wecken. Das gilt sowohl für die Kar-
telle als auch für die Zünfte, die in diesem Bereich vor-
handen sind. Wir müssen den Beteiligten mehr Spiel-
räume geben; denn sie können vor Ort durch ihre
Innovationskraft, ihre Kreativität vieles besser regeln als
wir als Gesetzgeber durch Paragraphen. Wir müssen weg
von dieser reglementierten, an Paragraphen orientierten
Gesundheitspolitik.

Frau Schmidt, Sie werden nicht umhinkommen, den
Weg, den wir vor der Bundestagswahl beschritten haben
– wir haben den Menschen schon damals die Wahrheit ge-
sagt –


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

und den Sie zwar im Grundsatz, aber handwerklich mise-
rabel in der Rentenreform verfolgt haben, auch in der Ge-
sundheitspolitik weiterzugehen, nämlich den Menschen
zu sagen: Das oberste Ziel, eine hochwertige Medizin für
alle Menschen ohne Ansehen des Alters und des Standes
– das muss unser sozialpolitisches Ziel bleiben –, ist nicht
durch mehr Paragraphen zu erreichen, sondern nur da-
durch, dass wir definieren, was als Regel- und Kernver-
sorgung künftig solidarisch zu finanzieren ist. Wir müssen
den Menschen aber auch sagen, dass eine hochwertige
Medizin für alle nur dann möglich ist, wenn Wahlfreiheit
und Eigenverantwortung hinzukommen. Denn mit
gleich bleibenden Mitteln ist eine hochwertige Medizin
für alle in der Zukunft aufgrund des medizinischen Fort-
schritts und der steigenden Lebenserwartung nicht zu er-
reichen. Solange Sie dieser Wahrheit ausweichen, werden
Sie den Weg in die Zweiklassenmedizin weiter befördern,
Frau Schmidt. Das wollen wir nicht. Wir wollen mehr Ei-
genverantwortung, weniger Staat, mehr Wettbewerb,




Horst Seehofer

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mehr Transparenz und weniger Gesundheitsbürokratie.
Dann können wir das Ziel einer hochwertigen und auch
sozial verantwortlichen Medizin erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun erklären Sie: Wir reden miteinander. – Das ist so

durchsichtig, dass wir das natürlich durchschauen. Sie ha-
ben aus dem Kanzleramt ganz offenkundig den Auftrag
erhalten, dass bis zur Bundestagswahl im Gesundheits-
wesen nichts mehr passieren darf. Das einzige Programm
in der Gesundheitspolitik heißt Stillstand. Sie dürfen
keine Wellen schlagen und müssen alle beruhigen. Frau
Schmidt, Sie sind im Kern eine wandelnde Beruhi-
gungspille.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Sie gehen durch das Land und sagen allen: Sie haben
Recht und auch ihr habt Recht. – Es wird aber überhaupt
nicht erkennbar, wohin es mit dem deutschen Gesund-
heitswesen geht. Was Sie machen – ich nehme einmal An-
leihe aus dem Gesundheitswesen –, ist lediglich Linde-
rung und Schmerztherapie, nicht aber Heilung.

Wir werden Ihnen nicht durchgehen lassen, Frau
Schmidt, dass Sie sich bis zur Bundestagswahl durchmo-
geln und nach der Bundestagswahl die Menschen mit
Ihrer Reglementierung und Budgetierung wieder überfal-
len – falls Sie überhaupt die Mehrheit bekommen. Wir
werden uns mit unserem sozialverantwortlichen und frei-
heitlichen Konzept bemühen, Ihnen eine Alternative
gegenüberzustellen.

Die Realität, Frau Schmidt, hat uns Recht gegeben.
Ihre Politik hat zu einer massiven Qualitätsverschlechte-
rung geführt, insbesondere für jene, die das Gesundheits-
wesen ganz besonders brauchen, nämlich die chronisch
Kranken. Sie haben uns gescholten, dass unser Weg un-
sozial sei. Jetzt zwingt Sie die Realität Stück für Stück auf
den Weg, den wir schon immer vertreten haben.

Ich habe meine Zweifel, ob Sie den Weg, den Sie viel-
leicht im Herzen tragen – das möchte ich Ihnen gar nicht
absprechen –, bei den Betonfacharbeitern Ihrer Fraktion
wirklich durchsetzen können. Wir werden dafür sorgen,
dass Sie Gelegenheit bekommen, dies durch Abstimmun-
gen zu dokumentieren. Wir werden es Ihnen nicht durch-
gehen lassen, dass Sie vor der nächsten Bundestagswahl
den Menschen erneut verschweigen, wohin die gesund-
heitspolitische Reise bei dieser Koalition gehen soll. Die
Gesundheitspolitik ist die Achillesferse dieser Regierung.
Wir werden das deutlich machen, sodass die Menschen
dies merken.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417001700
Ich erteile der Kolle-
gin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


gen! Herr Seehofer, wer Ulla Schmidt kennt – Sie kennen
sie eigentlich recht gut –, der weiß: Wenn man versuchen
würde, ihr Befehle zu erteilen, bräuchte man wahrschein-
lich selber eine Beruhigungspille. Denn was einem da ent-
gegenkäme, wäre sicher sehr, sehr aufregend. Das ist
nicht das Markenzeichen der Politik Ulla Schmidts: Be-
fehle zu empfangen und sie umzusetzen. Sie will – das ha-
ben wir heute gehört – Politik gestalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn wir über die Weiterentwicklung der Gesund-
heitspolitik reden, sollten wir aus meiner Sicht zwei
Dinge auseinander halten, nämlich die Qualität der Ver-
sorgung und die Maßstäbe, die wir daran anlegen, und die
Frage der Ausgabenpolitik. Alle, die dies für zwei Seiten
einer Medaille halten, sollten wissen, dass dies nur ein
Teil der Wahrheit ist. Ja, wir brauchen Qualität, Trans-
parenz und Kostenbewusstsein. Dafür müssen wir wis-
sen: Wer sind die Hauptakteure im System? Sind das die
Krankenkassen? – Nein. Sind das die Ärzte und Kranken-
häuser? – Nein. Hauptakteure sind die Versicherten, die
Patientinnen und Patienten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Regina Schmidt-Zadel [SPD])


Die rot-grüne Bundesregierung hat es zum ersten Mal
geschafft, die Versicherten in den Mittelpunkt der Ge-
sundheitspolitik zu stellen. Die Patienten sind nicht länger
Objekte, für die etwas entschieden wird, sondern gleich-
berechtigte Partner. Allerdings sind wir noch längst nicht
bei einem partnerschaftlichen Dreiecksverhältnis zwi-
schen Patienten und Versicherten, Krankenkassen und
Ärzteschaft angekommen.

Verantwortliche Politik wird diese Entwicklung weiter
vorantreiben müssen, und zwar aus unterschiedlichen
Gründen: Erstens. Die Frage, wie hoch die Beiträge der
Versicherten für die gesetzliche Krankenversicherung
sind, ist nicht nur, aber auch für den Arbeitsmarkt rele-
vant. Sie entscheidet darüber, ob Solidarität innerhalb
des Systems wirklich funktionieren kann.

Deswegen werden wir – auch wenn wir richtigerweise
über Instrumente reden und sie weiterentwickeln – nicht
infrage stellen dürfen, dass die Belastungen der Bürgerin-
nen und Bürger, die sie heute schon in Form von Beiträ-
gen, Steuern und Abgaben zu tragen haben, nicht mehr er-
höht werden dürfen.

Zweitens. Wenn wir wollen, dass sich Versicherte – Pa-
tientinnen und Patienten – bewusst entscheiden, müssen
wir sie in die Lage versetzen, eigenverantwortlich zu han-
deln. Nur so können Prävention und Gesundheitsförde-
rung tatsächlich funktionieren. Die individuelle Kompe-
tenz eines Jeden und einer Jeden muss gestärkt werden
und das System muss für den Einzelnen endlich durch-
schaubar werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Aribert Wolf [CDU/CSU]: Schöne Worte!)


Dazu gehört unter anderem eine umfangreiche unabhän-
gige Beratung, dazu gehören Anreize, Krankheiten zu
vermeiden, eine gesunde Lebensweise zu praktizieren,




Horst Seehofer
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(A)



(B)


und dazu gehört, bei Krankheiten Wahlmöglichkeiten zu
erfahren und selbst entscheiden zu können.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417001800
Frau Kollegin
Göring-Eckardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Seifert?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Dann wird vielleicht auch das Plenum wieder wach!)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417001900
Frau Kollegin Göring-Eckardt,
wenn Sie die Prävention so besonders hervorheben – in
diesem Ziel sind wir ja sicherlich einer Meinung –, kön-
nen Sie mir dann bitte einmal sagen, was Ihre Regierung
tun wird, damit diese eine Mark pro Versicherten, die für
Selbsthilfeförderung ausgegeben werden soll, nun wirk-
lich wenigstens annähernd ausgegeben wird?

Wir alle wissen, dass im vergangenen Jahr der ausge-
gebene Betrag zwischen 17 und 20 Pfennig lag. Die
Selbsthilfegruppen brauchen aber – das wissen Sie so gut
wie ich – jeden Pfennig, erst recht die 80 Pfennig, die noch
fehlen, dringend, um genau das, was Sie gerade gesagt ha-
ben, so qualitativ und flächendeckend zu erreichen, wie es
nötig wäre.

Was wollen Sie tun? Wird endlich ein Pool gebildet
oder was auch immer, damit diese Mark tatsächlich aus-
gezahlt wird?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dass wir dafür sorgen müssen, dass das, was wir be-
schlossen haben und was wir angekündigt haben, auch in
die Realität umgesetzt wird.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Es wäre schon schön, wenn Sie das, was Sie ankündigen, auch tun würden!)


Ich glaube, dass die sehr intensiven Gespräche, die
hierzu mit den Krankenkassen und den anderen Beteilig-
ten geführt werden, dazu führen werden, dass die Ent-
wicklung, die damit angestoßen worden ist – so ist nun
einmal der Verlauf, wenn man neu mit solchen Regelun-
gen beginnt –, schneller vorangeht, was wir uns sicherlich
alle gemeinsam wünschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Drittens. Prävention ist für das Gesundheitswesen – die
Vorredner haben darauf hingewiesen – jetzt und in Zu-
kunft von enormer Bedeutung. Deswegen müssen wir mit
dem Kurs von Vorbeugung und Vorsorge – beides gehört
zusammen – fortfahren.

Viertens. Neben der Prävention, die dem Ziel dient, die
Realisierung von Gesundheitsrisiken zu verhindern, müs-
sen die physischen und psychischen Ressourcen gefördert
werden, Krankheiten zu bewältigen. Prävention und Ge-

sundheitsförderung müssen Hand in Hand gehen. Eben
genau aus diesem Grund ist die Gesundheitsförderung
wieder in den Leistungskatalog aufgenommen worden.
Bei Volkskrankheiten wie Diabetes sieht man sehr gut,
wie notwendig das ist.

Herr Seehofer, Sie haben ja zu Recht darauf hingewie-
sen, dass wir in Deutschland bei einer Reihe von Erkran-
kungen nicht so weit sind, wie wir eigentlich sein wollen
und auch sein sollten. Der Ansatz, alle Beteiligten an ei-
nen Tisch zu holen und dabei nicht nur über die Finanzie-
rung des Systems zu reden, sondern auch darüber, wie wir
hier wieder vorankommen, wie wir zum Beispiel mit Ak-
tionsprogrammen, mit schnellem Handeln diese Erkran-
kungen – eine Reihe von Krebserkrankungen gehören
dazu – in Deutschland von der Qualität der Versorgung,
von der ganzheitlichen Versorgung her bearbeiten kön-
nen, ist der richtige Weg. Dafür ist so etwas wie der runde
Tisch nach meiner Meinung ein richtiges Instrument, weil
er deutlich macht: Hier geht es um Zusammenarbeit und
um einen Wettstreit der Ideen.

Lassen Sie mich noch einmal bekräftigen, dass die
Senkung der Lohnnebenkosten und die stabilen Bei-
tragssätzeweiterhin zentrale Zielsetzung sind. Darin sind
wir uns auch einig. Das Festbetrags-Anpassungsgesetz ist
ein Beispiel für das Bestreben, hier weiterzukommen.
Frau Schmidt hat auf die Einführung der Fallpauschalen
und auf den RSA hingewiesen.

Herr Seehofer, Sie können natürlich so weitermachen,
dass Sie den Leuten suggerieren, sie hätten auf einmal
schlechtere Wechselbedingungen, was das Krankenkas-
senwahlrecht angeht. Sie wissen genau, dass das Gegen-
teil der Fall ist, dass Verbesserungen eingeführt werden
und dass unser Kassenwahlrecht verbraucherfreundlicher
sein wird als alles, was wir in der Vergangenheit hatten.
Wenn man gemeinsam Fehler macht, dann sollte man
nicht am Ende versuchen, daraus Kapital zu schlagen,
sondern sollte diese Fehler gemeinsam beheben. Dazu
kann ich Sie nur auffordern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Horst Seehofer [CDU/CSU]: Sie haben uns dafür massiv kritisiert!)


Unsere finanziellen Mittel sind begrenzt, auch wenn
sie im Umfang zunehmen werden. Deswegen müssen wir
uns überlegen, wofür wir jetzt und in Zukunft Geld aus-
geben.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Da sind Sie früh dran!)


Wir müssen uns einer ehrlichen Diskussion stellen, die
benennt, was im System überflüssig ist; ein jeder von uns
kennt Mehrfachuntersuchungen. Ich bin der festen Über-
zeugung, dass wir in dieser Frage mit Restriktionen und
Appellen nicht weit kommen. Es wird fast immer eine Be-
gründung dafür gefunden werden können, warum be-
stimmte Maßnahmen notwendig sind. Hier helfen nur
mündige Patientinnen und Patienten, die selbst ent-
scheiden und bestimmen können, was notwendig und
sinnvoll ist, die von ihrer Ärztin oder ihrem Arzt gut




Katrin Göring-Eckardt

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(B)


beraten werden, die aber auch unabhängige Informatio-
nen erhalten und verwenden können.

Dennoch glaube ich, dass wir uns nicht dauerhaft der
Frage verschließen können, wie der Leistungskatalog der
GKV künftig aussehen soll. Wenn wir medizinisch not-
wendige Maßnahmen – insofern besteht ein Unterschied
zu dem, was Sie, Herr Seehofer, zu Grund- und Regelleis-
tungen gesagt haben; in diesem Punkt stimme ich nicht
mit Ihnen überein –


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Das dauert noch zwei Jahre, dann sind auch Sie so weit!)


für alle erhalten und solidarisch finanzieren wollen, lohnt
es sich, darüber zu sprechen, welche zusätzlichen Leis-
tungen zur freien Wahl der Versicherten stehen können.
Dazu gehört dann auch, nur Beitragsleistungen anzubie-
ten, die beitragsfinanziert sind. Mittelfristig muss die
Krankenversicherung – ebenso wie wir das bei der Ren-
tenversicherung gemacht haben – von versicherungs-
fremden Leistungen entlastet werden.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Was ist denn das zum Beispiel?)


Wenn wir in diesem Zusammenhang über Gesund-
heitsziele und Qualitätsmanagement sprechen, muss da-
rauf hingewiesen werden, dass es auch darauf ankommt,
ressortübergreifend die gesundheitliche Situation zu
verbessern. Das geht – auch wenn es banal klingen mag –
von Maßnahmen im Straßenverkehr bis hin zum Schlau-
machen der Kinder in einem Fach Gesundheitserziehung.
Das Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ ist
hierfür beispielgebend und nachahmenswert.

Die Umsetzung der GKV-Gesundheitsreform und vor
allem die Umsetzung der in der Gesundheitsreform be-
schlossenen Qualitätsverpflichtungen für die Leistungs-
empfänger müssen vorangetrieben werden. Der Sachver-
ständigenrat hat uns ja aufgefordert, gerade in Bezug auf
die integrierte Versorgung tätig zu werden. An diesem
Punkt werden wir weiter arbeiten. Das Pflegequali-
tätssicherungsgesetz ist hierzu ein wichtiger Schritt.

Wir dürfen nicht nachlassen, das Gesundheitssystem
zu modernisieren. Die rot-grüne Regierung hat mit der
Regierungsübernahme die Weichen neu gestellt. Die Re-
paraturarbeiten, Herr Seehofer, finden nicht an dem, was
wir gemacht haben, sondern an dem, was Sie uns hinter-
lassen haben, statt.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Die Budgets sind doch von Ihnen!)


Wenn wir über Qualität und die Stellung der Versi-
cherten bzw. Patienten reden, stellt sich die Frage nach
Kompetenz – an erster Stelle –, Selbstbestimmung und Ei-
genverantwortung sowie nach solidarischer Finanzie-
rung. Nur so kann die Durchsetzung dieser Ziele gewähr-
leistet werden. Dies wird für Bündnis 90/Die Grünen bei
weiteren Reformschritten im Mittelpunkt stehen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417002000
Ich erteile dem Kolle-
gen Dieter Thomae, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


Dr. Dieter Thomae (FDP):
Rede ID: ID1417002100
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Diese Koalition tau-
melt zwischen Staatsmedizin und sozialer Marktwirt-
schaft.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Anfänglich hatte ich geglaubt, die Ministerin würde sich
Worten wie Patientensouveränität, Wettbewerb oder
Wahlfreiheit nähern. Aber mittlerweile muss ich feststel-
len: Sie fällt wieder in alte Überlegungen zurück – ei-
gentlich sehr schade!

Auf der anderen Seite zwingt die Wirklichkeit sie zu
handeln. Wir haben – Horst Seehofer hat es sehr ein-
drucksvoll gesagt – 1998 einen Wechsel herbeigeführt,
mit vielen liberalen Bestandteilen. Das war richtig, weil
es – davon bin ich fest überzeugt – keinen anderen Weg
gibt.


(Beifall bei der F.D.P. – Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Was habt ihr denn für einen Wechsel herbeigeführt?)


Eine Säule Ihrer Staatsmedizin, die Budgetierung, wol-
len Sie jetzt einreißen. Sie machen das aber nur halb-
herzig: Sie wollen die Budgetierung bei Arznei- und
Heilmitteln abschaffen und glauben, Sie könnten die
Budgetierung in anderen Bereichen weiter etablieren, an
ihr als tragender Säule der Gesundheitspolitik weiter fest-
halten. Das wird nicht funktionieren, und zwar deshalb,
weil die Patienten das nicht mitmachen werden. Ich finde
es gut, dass Sie die Budgetierung im Arzneimittel- und
Heilmittelbereich zum Wohle der Patienten beseitigen
wollen. Aber ich würde es auch vernünftig finden, wenn
Sie sagen würden: Wir diskutieren auch über die Beseiti-
gung der Budgetierung im ärztlichen und zahnärztlichen
Bereich


(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Im Krankenhaus!)


sowie im Krankenhausbereich.
An die Adresse vor allem der Politiker Ihrer Fraktion,

die aus Ostdeutschland stammen, sage ich: Schauen Sie
sich die Situation der ostdeutschen Ärzte einmal genau
an! Die Situation dort ist so dramatisch, dass selbst freie
Zahnarztpraxen in den neuen Bundesländern aus finanzi-
ellen Gründen nicht mehr übernommen werden. Wenn
Sie Informationsveranstaltungen in den neuen Bundes-
ländern machen und mit den Ärzten und den Patienten re-
den, dann wissen Sie, dass Ärzte in den neuen Bundes-
ländern zu Honoraren arbeiten müssen, mit denen sich
noch nicht einmal die Kosten decken lassen. Sie zer-
stören in den neuen Bundesländern zunehmend die Frei-
beruflichkeit.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Zu diesen Auswirkungen Ihrer Gesundheitspolitik ha-

ben Sie, Frau Schmidt, überhaupt nichts gesagt. Wer sol-




Katrin Göring-Eckardt
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len die Träger Ihrer Gesundheitspolitik sein? Sollen es
Freiberufler oder Staatsmediziner sein? Dies ist die ent-
scheidende Frage der Zukunft.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wohin eine Staatsmedizin führt, wissen wir aus Schweden
und England. Sie sind dabei, eine solche Staatsmedizin zu
etablieren.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Ihnen fällt nichts Neues ein!)


– Hören Sie auf; Sie haben doch keine Ahnung!

(Lachen bei der SPD)


Sie haben mit der Budgetierung die Freiberuflichkeit
weitgehend zerstört. Sie glauben – das ist ein weiterer
wichtiger Punkt Ihrer Gesundheitsreform –, Sie könnten
den Wettbewerb intensivieren, wenn Sie das Kassen-
wahlrecht unter anderem durch Einführung eines Min-
destbeitragssatzes neu regeln. Über einen Maximalbei-
tragssatz hätten wir diskutieren können. Aber wenn Sie
jetzt einen Mindestbeitragssatz festschreiben und so die
echte Wahlfreiheit bis nach den Bundestagswahlen ab-
schaffen, in dem Glauben, dadurch die finanzielle Basis
der großen Versorgungskassen zu sichern, merkt doch je-
der, welches Spiel Sie treiben: Sie belügen und betrügen
die Patienten bezüglich der Wahlfreiheit.


(Susanne Kastner [SPD]: Na, na!)

– Ich sage das so deutlich. Da gibt es kein Entkommen!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Horst Seehofer [CDU/CSU]: Die pure Wahrheit!)


Sie könnten das Problem anders lösen, wenn Sie Mut
hätten. Aber Sie haben keinen Mut, eine echte Reform
durchzuführen. Sie verschieben ja alles. Wenn Sie den
Mut hätten, bei den Vertragsgestaltungsmöglichkeiten
größere Freiheiten zu erlauben, dann müssten Sie keinen
Mindestbeitragssatz einführen und würden die Probleme
über wettbewerbliche Strukturen lösen. Ich möchte Ihnen
das an einem für den Krankenhausbereich typischen Bei-
spiel deutlich machen. Warum haben Sie nicht den Mut,
die einheitliche Vertragsgestaltung im Krankenhaus-
bereich aufzuheben?


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn Sie das täten, könnten die großen Versorgungskas-
sen ihre Leistungen zu niedrigeren Preisen einkaufen als
kleine Krankenkassen, die nur wenige Leistungen ein-
kaufen. Sie könnten so den Wettbewerb etablieren, da-
durch Veränderungen herbeiführen und die Beitragssätze
stabilisieren. Aber dazu haben Sie nicht den Mut. Sie wol-
len stattdessen mit planwirtschaftlichen Elementen das
bisherige System aufrechterhalten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie hoffen, mit den DRGs schnell zu einer Lösung zu
kommen. Aber wenn Sie die Praxis kennen, dann wissen

Sie, dass darüber nur geredet und nicht gehandelt wird.
Das ist das Problem.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie wissen doch schon heute, dass die DRGs nicht zum
geplanten Zeitpunkt, sondern erst viel später eingeführt
werden können. Ich bin zwar für die Einführung der
DRGs.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Oh! Das haben wir registriert!)


– Ja, aber wir wollen die DRGs nicht wie Sie bei gleich-
zeitiger Aufrechterhaltung der Budgets einführen. Wir
wollen die DRGs als echte Preise. Das ist der himmel-
weite Unterschied zu Ihnen.

Sie haben noch weitere Ideen: Qualitätssicherung –
eine prima Idee!


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Ja, toll, nicht wahr?)


Aber Sie können dieses Thema nur etablieren, wenn Sie
auch dafür sorgen, dass wir ausreichend Pflegekräfte in
den Krankenhäusern haben. Wie ist denn heute die Situa-
tion? Teilweise gibt es doch überhaupt keine Nachwuchs-
pflegekräfte in diesem Bereich. Es wäre gut, wenn Sie
über Informationskampagnen diesen Beruf aufwerteten,
damit wir diese Qualität, die wir fordern, auch erreichen.
Sie schaffen es nicht! Schauen Sie sich die großen Kran-
kenhäuser an, meine Damen und Herren: Gerade in den
Ballungsgebieten gibt es mittlerweile einen großen Be-
darf an Pflegekräften, der in Deutschland nicht aufgefan-
gen werden kann.


(Zuruf von der SPD: Wann hätten die denn ausgebildet werden müssen?)


Meine Damen und Herren, Ihre Politik geht weiter in
die völlig falsche Richtung. Ihre Staatsmedizin wird
scheitern und wir mit unseren liberalen Gedanken werden
uns letztlich durchsetzen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417002200
Ich erteile der Kolle-
gin Ruth Fuchs, PDS-Fraktion, das Wort.


Dr. Ruth Fuchs (PDS):
Rede ID: ID1417002300
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Lieber Kollege Thomae, ich bin froh, dass
Sie nicht Gesundheitsminister werden können.


(Beifall bei der PDS, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber zum Thema: Es war der Grundfehler der Gesund-
heitsreform 2000, dass die volkswirtschaftliche Kenn-
ziffer „Beitragsstabilität der GKV“ zu einer Art Dogma in
der Gesundheitspolitik erhoben wurde. An den daraus fol-
genden rigorosen Budgetierungen und der falschen An-
nahme, große Wirtschaftlichkeitsreserven erschließen zu
können, ist sie letztlich auch gescheitert.


(Beifall bei der PDS)





Dr. Dieter Thomae

16571


(C)



(D)



(A)



(B)


Aber diese Gesundheitsreform hatte auch einen großen
Vorzug. Das Solidarsystem sollte in allen wesentlichen
Grundlagen erhalten werden. Jetzt aber erleben wir – und
das waren unsere Befürchtungen von Anfang an –, dass
jene Oberwasser bekommen, die schon immer ein ande-
res Gesundheitswesen wollten, ein Gesundheitswesen,
das mit Privatisierung, Entsolidarisierung und mit rück-
sichtsloser Ökonomisierung medizinischer Arbeit an
Stelle von Humanität verbunden ist.


(Beifall bei der PDS)

Natürlich hat die SPD bisher im Wesentlichen dafür

gestanden, solchen Entwicklungen einen Riegel vorzu-
schieben.


(Beifall bei der PDS)

Auch Sie, Frau Ministerin, haben Ihre heutige Erklärung
unter das schöne Motto „Vertrauen und Solidarität“ ge-
stellt. Ich habe mit Interesse in der „FAZ“ gelesen, dass
Sie die Krankenversicherung nicht auf eine Grundver-
sorgung reduzieren wollen. Sie haben das auch heute
wieder bestätigt. Aber wie verträgt sich das mit den Äuße-
rungen von Bundeskanzler Schröder und anderen SPD-
Politikern, dass es auch im Gesundheitswesen nicht mehr
ohne zusätzliche individuelle Zahlungen der Versicherten
gehen wird? Wie ist das mit Ihren Aufforderungen an die
Gesundheitsberufe in Einklang zu bringen, sich nicht
mehr allein auf die Einnahmen der GKVzu verlassen, und
wie verträgt sich das alles mit Ihren wiederholten Ange-
boten an die Union für eine erneute große Koalition im
Gesundheitswesen? Hier, Frau Ministerin, liegen ent-
scheidende Unklarheiten Ihrer Politik. Diesbezüglich
schulden Sie dem Parlament und der Öffentlichkeit we-
sentlich eindeutigere Erklärungen.


(Beifall bei der PDS)

Andernfalls werden Sie, Frau Ministerin, entgegen all
Ihren Absichten, kein Vertrauen schaffen und auch Soli-
darität nicht gewährleisten können.

Im Übrigen wird ein konsensorientierter politischer
Stil, wie Sie Ihn pflegen wollen, allein nicht weiterhelfen.
Das Streben nach Dialog ist gut und der richtige Weg.
Aber wer den Dialog sucht, muss vorher klare und vor al-
lem eigene Vorstellungen zur Lösung der Probleme ha-
ben. In einen Dialog mit knallhart interessengeleiteten
Gesprächspartnern zu gehen, um dann zu sehen, was am
Ende herauskommt, davor, Frau Ministerin, kann man nur
warnen!


(Beifall bei der PDS)

Das Gesetz zur Anpassung der Arzneimittelfestbe-

träge ist ein anschauliches Beispiel dafür. Natürlich ist zu
begrüßen, dass Sie die vertrackte Sache zügig angepackt
haben. Dass dann aber eine erhebliche Absenkung der
Einsparbeträge zugunsten der Pharmaindustrie herausge-
kommen ist und beinahe so etwas wie ein Festbetragsab-
schaffungsgesetz über die Bühne gehen sollte, ist nicht als
erfolgreiche Gesundheitspolitik zu werten. Es ist, gelinde
gesagt, eine ziemliche Katastrophe.


(Beifall bei der PDS)


Auf solche Weise werden Sie die notwendigen Struktur-
veränderungen kaum voranbringen können. Viel wahr-
scheinlicher ist es, dass die Kosten wieder rascher steigen
und das Ziel der Beitragsstabilität, das auch von Ihnen be-
schworen wird, nicht zu halten ist.

Um hier nicht missverstanden zu werden: Mit wach-
senden Kosten des Gesundheitswesens, die zu großen Tei-
len auf objektiv steigenden Bedarf zurückgehen, muss die
Gesellschaft leben lernen. Für uns verbindet sich damit
aber nicht der Untergang des Abendlandes. Im Gegenteil,
ein modernes Gesundheitswesen ist – auch bei ernsthaf-
tem Streben nach mehr Effektivität – ein dynamischer
Wachstumssektor, dessen Entwicklung nicht ungestraft
stranguliert werden darf.

Die entscheidende Frage künftiger Gesundheitspolitik
liegt also keineswegs darin, ob die gesellschaftlichen Auf-
wendungen über die Grundlohnsumme hinaus steigen
dürfen oder nicht. Sie liegt in der Art und Weise, wie diese
wachsenden Mittel aufgebracht werden. Das, Frau Minis-
terin, ist die zentrale Herausforderung, vor der Sie heute
und gegebenenfalls auch in der nächsten Legislaturpe-
riode stehen.

Von uns können Sie immer dann Unterstützung erwar-
ten, wenn es um die notwendige Erneuerung der gesetzli-
chen Krankenversicherung und des Gesundheitswesens
im Sinne von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit geht.


(Beifall bei der PDS)

Mit gleicher Konsequenz aber werden wir einem Kurs in
Richtung Entsolidarisierung, Deregulierung und Liberali-
sierung entgegentreten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417002400
Ich erteile Kollegin
Regina Schmidt-Zadel, SPD-Fraktion, das Wort.


Regina Schmidt-Zadel (SPD):
Rede ID: ID1417002500
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Ihre Regie-
rungserklärung hat gezeigt, dass die Gesundheitspolitik
der Koalition eindeutig die Richtung verfolgt, die opti-
male Versorgung von kranken Menschen sicherzustellen.
Dies stellen Sie in den Mittelpunkt Ihres politischen Han-
delns und dafür sage ich Ihnen ganz herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin Ihnen auch für Ihr entschlossenes Handeln dank-
bar. Ganz ausdrücklich begrüße ich es, dass Sie im offe-
nen Dialog mit allen an unserem Gesundheitssystem
Beteiligten nach Lösungen für die notwendigen Verände-
rungen suchen.

Lassen Sie sich von den Schreiern, die unser Gesund-
heitssystem fast an die Wand gefahren haben, nicht irri-
tieren!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Dr. Ruth Fuchs
16572


(C)



(D)



(A)



(B)


Gerade von jemandem, der in der Regierung Kohl in ver-
antwortlicher Position vieles zu dem beigetragen hat, was
wir heute reparieren müssen, lassen wir uns hier nicht be-
schimpfen und in die Enge treiben.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Ja, legen Sie ruhig die Hand ans Ohr.

Die Menschen können nur sehr schwer nachvollziehen,
dass jemand, der sechs Jahre lang Minister war und in die-
ser Zeit bestimmte Dinge nicht getan hat, diese jetzt un-
geniert einfordert, Herr Seehofer.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist auch Ihre Hinterlassenschaft: Heute haben wir den
Flurschaden zu bereinigen, den Sie zu verantworten ha-
ben.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Wer hat denn die Arzneimittelbudgets beschlossen?)


Wer im Gesundheitswesen – das haben die Wahlergeb-
nisse gezeigt, Herr Dr. Thomae; weiter will ich auf Ihre
Rede gar nicht eingehen – gelogen und betrogen hat,


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Die SPD!)

das haben die Menschen registriert. Sie haben es bei der
Bundestagswahl 1998 mit der Abwahl der alten Regie-
rung quittiert.


(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle wis-

sen, dass die Bundesrepublik in vielen Ländern um ihr
solidarisches Krankenversicherungssystem beneidet
wird. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Haben gelogen!)

– wer gelogen hat, habe ich dir gerade erzählt – haben von
Anbeginn unserer politischen Arbeit für dieses System
gekämpft und werden das auch weiterhin tun. Solidarität,
das gemeinsame Handeln, die Hilfe der Starken für die
Schwachen sind und bleiben unverrückbar der Kern un-
seres politischen Handelns.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Margareta Wolf [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir werden aktiv an den notwendigen Veränderungen un-
seres Gesundheitssystems mitarbeiten – die Frau Ministe-
rin hat in ihrer Regierungserklärung darauf hingewiesen –
und sehr darauf achten, dass die Solidarität in diesem Pro-
zess erhalten bleibt.

Auf welche Herausforderungen werden wir uns in den
nächsten Jahren einstellen müssen? Zum einen ist es der
begrüßenswerte Wandel und Fortschritt in derMedizin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor 100 Jahren mussten
die Menschen noch Angst haben, an Tuberkulose und
Wundfieber zu sterben; heute ängstigen uns unter ande-
rem Alzheimer und Krebs. Die große Herausforderung an
den Medizinbetrieb zu Beginn dieses Jahrhunderts stellen
die chronischen Krankheiten vor allem älterer Mitbürge-
rinnen und Mitbürger, aber auch jüngerer Menschen dar.

Damit sind wir schon beim zweiten wichtigen Punkt
angelangt: der Wandel in der Bevölkerungsstruktur.
Wir alle leben heute – Gott sei Dank – statistisch gesehen
länger als frühere Generationen. Wir sind uns alle be-
wusst, dass das seinen Preis fordert und wir vor großen
Herausforderungen stehen, wenn dann noch die Zahl der
jüngeren Menschen, die den Generationenvertrag mit-
finanzieren, abnimmt. Auch das ist uns allen klar. Ich bin
mir aber sicher, dass wir hierfür mit dem von den Koaliti-
onsfraktionen eingeschlagenen Weg


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Scheitern!)

Lösungen finden können. Das werden Sie sehen. – Wir
werden nicht scheitern, sondern Ihnen beweisen, dass wir
tragfähige Lösungen für die Probleme haben.


(Beifall bei der SPD – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Der heutige Tag ist schon der erste Punkt!)


Nun zu den konkret anstehenden Änderungen: Die
wichtigste – das wurde ja auch von Ihnen heute schon an-
gesprochen – betrifft die heilige Kuh der Kollektivhaf-
tung; so will ich es einmal nennen. Für das Instrument des
Kollektivregresses sind auch Sie, Herr Seehofer, während
Ihrer Amtszeit lange eingetreten.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Wer hat den denn eingeführt? Das waren doch Sie!)


Den Mut, es abzuschaffen, haben Sie nicht aufgebracht.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Das ist jetzt wirklich nicht wahr!)

Wir bringen ihn auf. Wie Sie wissen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, wird zurzeit die Abschaffung des Kollektiv-
regresses vorbereitet. Die Ministerin ist darauf eingegan-
gen. Die Verantwortung – da sollten Sie gut hinhören –
wird in die Hände der Ärzte und Krankenkassen gelegt
werden.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Regina, sag die Wahrheit!)


In diesem Vorhaben kommt ein großer Vertrauensvor-
schuss insbesondere gegenüber der ärztlichen Selbstver-
waltung zum Ausdruck.


(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Das ist etwas ganz Neues!)


– Wir haben uns viele neue Vorhaben auf die Fahne ge-
schrieben; passen Sie einmal auf.

Eine Kostenexplosion im Arzneimittelbereich nach
Abschaffung des Kollektivregresses wäre eine große Nie-
derlage für die Kassenärztlichen Vereinigungen auf ihrem
Weg weg von staatlich verordneter Reglementierung, den
Sie ja heute so beklagen; dass er eingeschlagen wurde,
dafür tragen aber Sie selber auch Verantwortung. Ich
möchte hier noch einmal betonen,


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Ihre Zeit ist vorbei!)


dass nach wie vor das gesetzlich verbriefte Gebot der Bei-
tragsstabilität gilt. Die Verschreibung von Arzneimitteln
– aber nicht nur sie, sondern auch die Verordnung von




Regina Schmidt-Zadel

16573


(C)



(D)



(A)



(B)


pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen – muss in
Zukunft noch mehr vom Gesichtspunkt der Qualitäts-
sicherung bestimmt werden. Hierin sind sich alle Betei-
ligten einig. Ich denke, das haben auch die Vorredner ge-
zeigt.

Die Begriffe „Qualität“ und “Qualitätssicherung“ wur-
den von vielen in den Mittelpunkt ihrer Reden gestellt. Es
ist höchste Zeit, dass diese Begriffe nicht nur als Kampf-
instrumente zur Durchsetzung eigener Interessen ver-
wandt, sondern mit Inhalten gefüllt werden. Leider ver-
geht kein Tag, an dem wir nicht von neuem von
Qualitätsdefiziten in Medizin und Pflege lesen und
hören. Es darf nicht sein – ich denke, in diesem Punkt sind
wir uns alle in diesem Hause einig –, dass alte Menschen
in deutschen Pflegeheimen nicht ordnungsgemäß versorgt
werden oder gar Pflegefehler dazu führen, dass sie ster-
ben. Es darf ebenso wenig sein, dass viel zu viele Rönt-
genuntersuchungen in Deutschland vorgenommen wer-
den; nahezu jede zweite ist nämlich überflüssig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Horst Seehofer [CDU/CSU]: Woher wissen Sie das?)


– Lesen Sie es doch nach; Sie können doch lesen, Herr
Seehofer. – Weitere Beispiele sind Ihnen bekannt.

Warum sage ich Ihnen das?

(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das fragen wir uns auch!)

Solche Fälle schaden nicht nur dem Ansehen des gesam-
ten Systems, sondern sie schaden jedem einzelnen Versi-
cherten und jedem einzelnen Kranken in mehrerlei Hin-
sicht: Jede unnötige Behandlung und Diagnostik birgt
Risiken für die Gesundheit der Menschen.


(Beifall bei der SPD – Aribert Wolf [CDU/ CSU]: Wer sagt Ihnen das? Das ist falsch!)


Jede unnötige Behandlung und Untersuchung geht zulas-
ten der Lebensqualität. Zu guter Letzt – es wird ja immer
wieder gefordert, dagegen etwas zu unternehmen – kostet
sie Zeit und Geld. Hierüber müssen wir, auch wenn es
manchem und mancher schwer fällt, offen diskutieren.

Das jüngste Gutachten des Sachverständigenrates – ich
hoffe, Sie haben es gut gelesen –,


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Wir haben es im Gegensatz zu Ihnen verstanden!)


die Studie der WHO und viele andere Untersuchungen
zeigen immer das Gleiche auf: Deutschland liegt – das
geht auf Entscheidungen während Ihrer Regierungszeit
zurück – weltweit bei den Gesundheitsausgaben an drit-
ter Stelle, bietet aber nur eine mittelklassige Versorgung.
Die Experten diskutieren offen darüber, die Versicherten
spüren es: Die optimale Versorgung stand in den vergan-
genen Legislaturperioden nicht im Mittelpunkt des bun-
desdeutschen Gesundheitsbetriebes.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Wenn sie keine Arzneimittel bekommen!)


– Es kommt nicht nur auf die Arzneimittel an.
Die Versicherten wissen nicht, welche Behandlung für

ihre Krankheit die beste ist. Der Arzt steht in der Pflicht
– darauf hat er einen Eid geschworen –, die Patienten
bestmöglich zu behandeln. Auf der anderen Seite wissen
wir alle, dass sich der Arzt dabei im Spagat zu seiner ei-
genen finanziellen Existenz bewegt.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Die SPD macht einen Spagat!)


Diese beiden Aspekte sind ohne politische Vorgaben nicht
zu vereinbaren.

Die Versicherten können die Qualität der Behandlung,
die in dem Spannungsfeld zwischen Heilung und Öko-
nomie steht, nicht oder nur schwer beurteilen.


(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Ich möchte jetzt die Frau Knoche hören! Die versteht mehr davon!)


Transparenz und Beratung sind nötig, damit die Patien-
tinnen und Patienten eigenverantwortlich darüber ent-
scheiden können, welche Behandlung sie wollen und wel-
che nicht.

Genau das ist es, was die Koalitionsfraktionen mit der
Gesundheitsreform 2000 und den jetzt anstehenden Än-
derungen erreichen wollen


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Aha!)

– die Frau Ministerin hat schon auf Punkte hingewiesen,
beispielsweise Risikostrukturausgleich, die Sie während
Ihrer Regierungszeit nicht geschafft haben –


(Beifall bei der SPD und der PDS)

und auch – das sage ich ausdrücklich – gegen viele Wi-
derstände erreichen werden.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Arzneimittelbudget!)


Wir wollen den mündigen Patienten, der im Mittelpunkt
unseres Gesundheitssystems steht.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Oh!)

Wir wollen die optimale Versorgung von kranken und al-
ten Menschen in dieser Republik.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Aber sie dürfen ihre Kasse nicht mehr wählen!)


Das ist das Ziel unserer Gesundheitspolitik. Wir wer-
den es erreichen. Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen
zu machen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417002600
Ich erteile dem Kolle-
gen Wolfgang Lohmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Wolfgang Lohmann (CDU):
Rede ID: ID1417002700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!




Regina Schmidt-Zadel
16574


(C)



(D)



(A)



(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute
mit einer Regierungserklärung zum Thema „Vertrauen
und Solidarität“, weil die rot-grüne Gesundheitspolitik
Vertrauen und Solidarität in der gesetzlichen Krankenver-
sicherung nachhaltig beschädigt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Patienten, Versicherte, Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Mas-
seure, Krankenkassen, Krankengymnasten, Pflegekräfte,
Demenzkranke und ihre Angehörigen sowie Krankenhäu-
ser, Heime und Kassen haben inzwischen das Vertrauen in
diese Gesundheitspolitik verloren.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Völlig! – Gegenruf der Abg. Susanne Kastner [SPD]: Das hätten Sie gerne!)


Frau Schmidt-Zadel, wenn Sie jetzt sagen, Sie wären
dabei, das zu reparieren, was wir hinterlassen haben, dann
muss ich Sie wirklich fragen, ob Sie möglicherweise im
falschen Film sind;


(Lachen der Abg. Regina Schmidt-Zadel [SPD])


denn was heute von der Ministerin gesagt worden ist, was
schon vorgelegt worden ist und was in den nächsten Wo-
chen vorgelegt werden soll, ist ausschließlich der Ver-
such, Ihre eigenen Fehlleistungen zu reparieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es geht doch überhaupt nicht darum, was wir angeblich
hinterlassen haben; denn was wir in der zweiten Hälfte der
letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben, ha-
ben Sie zurückgenommen. Sie haben sogar den Spieß he-
rumgedreht. Jetzt stellen Sie aber plötzlich fest, dass es
falsch war, den Spieß herumzudrehen. Insofern sollten Sie
keinen Popanz aufbauen.

Den Patienten und Versicherten wurden im Wahlkampf
1998 unbegrenzte Leistungen zu stabilen Beiträgen ver-
sprochen. Die erste herbe Enttäuschung erlebten sie dann,
als sie feststellen mussten, dass die Zuzahlung – wir sind
in diesem Punkt ständig kritisiert worden – unter Rot-
Grün nicht, wie angekündigt, drastisch, sondern nur sehr
unwesentlich reduziert worden ist.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So war es!)

Die Senkung der Zuzahlung um die berühmte 1 DM er-
gab zwar in der Summe 1 Milliarde DM. Aber es hat der
Oma in der Apotheke nicht sehr viel geholfen, dass die
Zuzahlung von 9 DM auf 8 DM gesenkt wurde.

Die zweite Enttäuschung stellte sich bei den Patienten
und Versicherten ein, als Rot-Grün die Budgetierung der
Arznei- und Heilmittelausgaben wieder einführte. Es darf
nicht vergessen werden, dass es diese so genannten Bud-
gets während unserer Regierungszeit gar nicht mehr gab.
Die alte Regierung hatte nach der Erfahrung, die sie zu-
gegebenermaßen erst machen musste, die Zeichen der
Zeit erkannt und die Budgetierung abgeschafft. Sie haben
sie wieder eingeführt und so zur Rationierung beigetra-
gen.

Es ist im Übrigen interessant, Frau Ministerin, dass Sie
jetzt die Arzneimittelbudgets abschaffen und dafür arzt-

und arztgruppenbezogene Richtgrößen einführen wol-
len. Ich habe genau im Gesetzentwurf nachgelesen: Nir-
gendwo steht dort das Wort „Budget“; es musste überall
gestrichen werden. Bei den Richtgrößen heißt es jetzt:
arzt- und arztgruppenbezogene budgetablösende Richt-
größenvolumen.


(Zuruf von der SPD: Ein schönes Wort!)

Ich lege auf das Wort „Volumen“ Wert. Man kann also auf
die Idee kommen: Da müssen doch noch irgendwelche
Restgrößen von Budgets sein. Im Grunde genommen er-
setzt man das Wort „Budget“ nur durch den Begriff „Vo-
lumen“.

Das ist noch nicht alles. Weil die GKV unter diesen
Umständen ihrer Aufgabe als Solidargemeinschaft nicht
mehr gerecht werden kann, schleicht sich bei den Patien-
ten und bei den Versicherten zunehmend das Gefühl ein,
immer mehr in das System zahlen zu müssen, aber immer
weniger Leistungen zu bekommen. Mit der Budgetierung
untergräbt Rot-Grün – das wissen Sie – das Vertrauen von
Patienten und Versicherten in die Leistungsfähigkeit der
Krankenversicherungen. Der Patient wird vor die Wahl
gestellt, auf Leistungen zu verzichten oder 100 Prozent
selbst zahlen zu müssen, wenn er ein bestimmtes Medi-
kament braucht.

Frau Schmidt, Sie haben in Ihrer ersten Rede – ich habe
das Zitat dabei – gesagt:

Wenn mich jemand fragt, wie ich denn mir ein soli-
darisches Gesundheitswesen ... vorstelle, dann ist für
mich eines klar: In einem solidarischen Gesundheits-
wesen darf niemand auf den Gedanken kommen:
Wenn ich nur mehr Geld hätte, dann würde ich bes-
ser behandelt.

Leider kommen die Menschen inzwischen – aufgrund Ih-
rer Politik – auf genau diesen Gedanken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Denn am Standort Deutschland sind GKV-Patienten bei
wichtigen Erkrankungen mittlerweile unterversorgt und
stellen sich die Frage, die nach Ihrer Meinung in Deutsch-
land nie aufkommen dürfte.

Auch das Vertrauen der Ärzteschaft in die Politik von
Rot-Grün ist beschädigt. Den Ärzten wird immer wieder
unterstellt – Frau Schmidt-Zadel, Ihre Zwischenrufe wa-
ren intellektuell und auch, was den Inhalt anbelangt, kaum
zu übertreffen; Sie haben sinngemäß „Die Ärzte waren es;
haltet den Dieb!“ gerufen –, sich auf Kosten der Patienten
und Versicherten schadlos halten zu wollen. Es heißt, die
Ärzte wollten nur mehr Geld. Mit diesen diffamierenden
Unterstellungen ist das Arzt-Patienten-Verhältnis belastet
und damit wurde letztendlich der gesamten GKVSchaden
zugefügt, weil die Patienten mangels Vertrauen mehr
denn je von Arzt zu Arzt pilgern. Immer mehr Patienten
haben das Gefühl – das hören sie von anderen –, ihr Arzt
sei daran schuld, dass er dieses oder jenes nicht mehr ver-
ordne, und deswegen versuchen sie es einmal bei einem
anderen Arzt.

Die Ministerin erwartet von den Ärzten, mit immer we-
niger Geld eine evidenzbasierte Medizin sicherzustellen.




Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid)


16575


(C)



(D)



(A)



(B)


Das ist die Quadratur des Kreises – das ist heute schon
einmal gesagt worden – und kann nicht gut gehen. Näh-
men Sie sich einmal die Zeit – ich mache Ihnen nicht den
Vorwurf, zu wenig Gespräche zu führen –, um sich mit
Vertretern der ostdeutschen Kassenärztlichen Vereini-
gungen zu unterhalten, ohne sie, wie neulich, quasi als
Bettler abzuweisen, dann wüssten Sie, dass es diesen Ärz-
ten nicht nur um ihr persönliches Einkommen – was übri-
gens legitim wäre –, sondern auch um die Sicherstellung
einer flächendeckenden medizinischen Versorgung geht.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)

Wenn sich die Vergütungssituation der Ärzte in den

neuen Ländern nicht grundlegend verbessert, dann wird
es dort in den nächsten Jahren keine ambulante medizini-
sche Versorgung mehr geben. Gelegentlich frage ich
mich, ob das vielleicht sogar gewünscht ist. Es könnte
sein, dass man alles in Richtung Krankenhaus abschieben
möchte. Immer mehr Praxen finden jedenfalls keinen
Nachfolger mehr. Hausärzte und Fachärzte warnen des-
halb vor einem Zusammenbruch der medizinischen Ver-
sorgung. Die Notrufe der Ärzte überhören Sie. Der von
den Koalitionsfraktionen eingebrachte Gesetzentwurf
zum Wohnortprinzip gibt auf die Frage nach dem ärztli-
chen Honorar keine Antwort. Im Gegenteil, durch Ihren
Gesetzentwurf wird ein Konflikt zwischen Ostärzten und
Westärzten heraufbeschworen, nur damit eine Umvertei-
lung von West nach Ost stattfindet.

Alle Fachleute sagen schon längst, dass es aufgrund
der Konsequenzen, die sich aus den Budgets ergeben, eine
Unterversorgung gibt. Das heißt, auch die Ärzte im Wes-
ten können die entsprechenden Verordnungen nicht vor-
nehmen. Jetzt wollen Sie, dass noch weniger Geld zur
Verfügung gestellt wird, um das Problem zu lösen. Das
reicht nicht. Eine Verbesserung der Honorarsituation wird
nur erzielt, wenn man – in den von uns bisher vorgelegten
Gesetzentwürfen ist das entsprechend verankert – auch
bei den ärztlichen Vergütungen die Budgetierung beendet
und beispielsweise Regelleistungsvolumina mit festen
Punktwerten einführt. Der Koalitionsentwurf bleibt inso-
fern Flickwerk und macht nur deutlich , dass der Geist der
Budgetierung weiterhin in den Köpfen von Rot-Grün
– Herr Kirschner, ich wollte nicht wieder von dem berühm-
ten Betonfacharbeiter der Dreßler-Riege sprechen – wa-
bert. Solange Sie diesen Geist nicht abtöten, wird aus
dem, was Sie vorhaben, keine vernünftige Politik werden.

Mit dem Gesetzentwurf zur Neuregelung der Kran-
kenkassenwahlrechte greift Rot-Grün – jedenfalls nach
meiner Auffassung – die Patienten und die Versicherten
massiv an. Frau Schmidt, Sie können doch keiner Bürge-
rin und keinem Bürger erklären, warum ihre Wahlrechte
erst drastisch eingeschränkt werden müssen, um sie an-
schließend auszubauen. Die Leute fragen sich doch, ob da
noch alles ganz in Ordnung ist oder ob sie, wie Dieter
Thomae sagt, nicht doch hinters Licht geführt werden,
sage ich einmal etwas vorsichtig in der Wortwahl.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Kannst du aber auch deutlich sagen!)


Die Grünen sind offenbar schon nach zwei Jahren Ko-
alition so degeneriert – um nicht zu sagen: sozialdemo-

kratisch infiltriert; das könnten wir auch sagen –, dass ih-
nen ihre Identifikation als Bürgerrechtspartei völlig ab-
handen gekommen ist. Es ist doch nicht anders zu erklä-
ren, Frau Knoche, dass Sie in der Koalition nicht mehr für
die Versicherten gekämpft haben.

Frau Schmidt sagte heute: Wir wollen stabile und die
Lohnnebenkosten schonende Beiträge. Mit der Einführung
eines Mindestbeitragssatzes von 12,5 Prozent – Sie stel-
len ja ein Ultimatum, das muss gemacht werden – stehen
den Versicherten und den Arbeitgebern todsicher Bei-
tragssatzsteigerungen bevor; denn alle Kassen – zum Glück
sind es eine ganze Reihe, die noch unter 12,5 Prozent lie-
gen – müssen jetzt auf 12,5 Prozent erhöhen. Also schonen
Sie nicht die Lohnnebenkosten und auch nicht die Bei-
tragsentwicklung und Beitragsgestaltung.

Wir können nicht erkennen, das Rot-Grün einem Kon-
zept folgt, geschweige denn einem neuen Konzept.


(Susanne Kastner [SPD]: Sie wollen es nicht erkennen!)


Vielmehr stellen die jetzt vorgelegten Gesetzentwürfe ein
Sammelsurium von Einzelmaßnahmen dar und sind nicht
geeignet, die von Ihnen gewünschte Solidarität und das
Vertrauen in die gesetzliche Krankenversicherung wieder
herzustellen. Die Beteiligten im Gesundheitswesen wis-
sen ebenso wenig wie wir, wie die breite Öffentlichkeit,
wofür Rot-Grün nun eigentlich steht. Was ist das Konzept
der rot-grünen Bundesregierung? Was meint der Bundes-
kanzler, der heute Vormittag da war, wenn er von mehr Ei-
genverantwortung spricht?


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das weiß kein Mensch!)


Meint er damit die Ausweitung der Zuzahlung, eine
höhere Selbstbeteiligung? Wird sich die Regierung der
Einnahmenproblematik zuwenden? Dazu ist nichts gesagt
worden. Bisher hat sie konsequent verschwiegen, dass aus
hoher Arbeitslosigkeit und veränderter Altersstruktur Ein-
nahmeprobleme entstehen.

Wann und wie will die Regierung das Urteil des Ver-
fassungsgerichts zur Gleichbehandlung von freiwillig
Versicherten, Pflichtversicherten und Rentnern umset-
zen? Vage Andeutungen bisher. Es ist übrigens interes-
sant, dass Sie die freiwillig Versicherten eventuell den
Pflichtversicherten gleichstellen wollen. Umgekehrt wür-
de ja möglicherweise ein vernünftiger Schuh daraus. Aber
das passt nicht in Ihre Gesamtrichtung; ich spreche noch
einmal von Frau Schmidt-Zadel oder Herrn Kirschner.


(Klaus Kirschner [SPD]: Sie wissen nicht, von was Sie reden!)


Wie steht es mit dem Wettbewerb? Was ist mit dem
Leistungskatalog? Auf einer Veranstaltung im ICC hat
Herr Kirschner gestern am Schluss der Diskussion noch
einmal definitiv festgestellt, dass für ihn – er wusste nicht
genau, ob er auch für die Fraktion sprechen konnte – fest-
steht: Mit dieser Fraktion wird es niemals Kern- und
Wahlleistungen oder Grund- und Wahlleistungen geben.
Warum lese ich denn dauernd von Herrn Hovermann und
anderen etwas anderes? Es ist doch ein Erosionsprozess in




Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid)

16576


(C)



(D)



(A)



(B)


Gang gekommen. Das wollen wir und das will die Öf-
fentlichkeit wissen.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das haben wir in Rheinland-Pfalz vereinbart!)


Hat die Bundesregierung tatsächlich eine Vorstellung
davon, wie sie das Gesundheitswesen reformieren will?
Wenn das der Fall wäre, würden Sie – das glaube ich
schon – das Konzept vorlegen. Stattdessen berufen Sie
runde Tische ein, lassen die Verbände Lösungen erarbei-
ten, die Sie dann teilweise eins zu eins übernehmen, oder
Sie machen sich zum Spielball der Verbände.

Ein gutes Beispiel ist das zu beratende Festbetrags-
Anpassungsgesetz. Die Kassen hatten ursprünglich
durch die Absenkung der Festbeträge ein Volumen von
1 Milliarde DM herausholen wollen. Nach dem Kuhhan-
del mit den Pharmaverbänden hat man sich auf 650 Mil-
lionen DM verständigt. Die Kassen melden aber schon
jetzt Bedenken wegen der Realisierung dieses Einspar-
volumens an.

Das für diesen Gesetzentwurf eigentlich ausschlagge-
bende Problem ist mit dieser Vorlage aber noch nicht
gelöst. Die Bundesregierung hat nicht geklärt, wer in Zu-
kunft rechtssicher die Absenkung der Festbeträge vorneh-
men soll. Die Regierung wartet auf die Entscheidung des
Verfassungsgerichts; die Gerichtsentscheidung soll den
Weg vorgeben. Dabei könnte die Bundesregierung doch,
um in einen Dialog zu kommen, bereits jetzt sagen, ob sie
in Zukunft an Festbeträgen festhalten – das wäre eine
Möglichkeit, das würden wir mit Sicherheit unterstützen –
oder ob sie diese durch freie Preisverhandlungen ersetzen
will – das würde vielleicht Dieter Thomae unterstützen.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Nein, nein!)

Mit der jetzt vorgesehenen Übergangslösung wird die
Rechtsunsicherheit jedenfalls nicht beseitigt.

Ähnlich konturenlos verläuft die Entwicklung beim
Thema Risikostrukturausgleich, RSA genannt,


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das kann man sagen!)


den Sie bei Ihrer Inthronisation als zentrale Aufgabe mit
auf den Weg bekommen haben. Statt selbst ein Konzept
auf der Grundlage der von Ihrem Ressort eingeholten
Gutachten zu erstellen, zwingen Sie erst die Gutachter für
sich und dann die Kassen am runden Tisch zu einer ge-
meinsamen Lösung. Angesichts der Herausforderungen,
vor denen unser Gesundheitswesen steht, ist der Kompro-
miss im Grunde unverantwortlich.

Frau Ministerin, ich rate dringend, sich wieder der am
Gemeinwohl ausgerichteten Politik zuzuwenden. Sorgen
Sie dafür, dass die gesetzliche Krankenversicherung, die
wir alle unterstützen und jahrzehntelang unterstützt ha-
ben, wieder an die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Erfordernisse angepasst wird, und lassen Sie sich dabei
nicht von der Beliebigkeit leiten. Patienten, Versicherte,
Ärzte und Pflegekräfte erwarten von Ihnen ein Konzept.
Wenn Sie eines haben, dann legen Sie es vor und lassen
Sie die Katze nicht erst nach der Bundestagswahl aus dem
Sack; sonst bleiben Ihre Reden reine Fensterreden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417002800
Ich erteile Kollegin
Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Jetzt bin ich gespannt!)



Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417002900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Herren
und Damen! Herr Lohmann, ich verstehe es ja, dass Sie
gesundheitspolitisch endlich einmal wieder aus der Vor-
hand spielen möchten, aber dazu müssten Sie erst einmal
eine Leitidee vorstellen. Ich habe keine erkennen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Jetzt kommt sie!)


Ihre Kritik war sehr kleinteilig; das sei Ihnen auch zu-
gestanden. Aber worauf zielt sie denn? Das Einzige, was
ich gehört habe, war, dass Herr Thomae, egal, um was es
sich handelt, die Idee des Wettbewerbs, der Deregulierung
in den Vordergrund stellt,


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es! Gut zugehört!)


egal, was es gesellschaftspolitisch kostet. Das ist nicht un-
sere Vision.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Beifall bei der F.D.P. – Horst Seehofer [CDU/CSU]: Ihr Konzept ist doch gescheitert! Geben Sie es doch zu!)


Ich möchte jetzt etwas Wichtiges sagen; wir haben
schließlich ungefähr Halbzeit, zu der Rückblick und Aus-
blick angebracht sind: Wenn eine Ökonomisierung der Be-
ziehung im und zum Gesundheitswesen prägend wird,
dann steigen die gesamtgesellschaftlichen Kosten, und ei-
nes geht verloren, nämlich das Vertrauen in dieses System.


(Beifall der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS] – Aribert Wolf [CDU/CSU]: Das ist das Zeugnis, das Ihnen die Leute ausstellen!)


Die Verluste sind beträchtlich. Wir können nie auf einen
Ausbau der solidarischen Sicherungssysteme verzich-
ten, wenn uns und den Menschen eines gewiss bleiben
soll, nämlich dass der Kernauftrag, alles, woraus wir un-
sere Legitimation beziehen, ist: Heilen, Helfen, Lindern,
Fürsorge, Vorsorge und – im Zeitalter der Gen- und Re-
promedizin – zuletzt auch das Recht auf Schicksal.

Gerade das ruft aber nach mehr Verantwortung, nach
mehr Gestaltung und ist genau das Gegenteil von dem,
was Sie hier ständig einfordern. Es kann keine Selbstent-
eignung und kein Wegschieben von politischer Verant-
wortung für das geben, was die Kultur des Sozialen in der
Gesellschaft in der nächsten Zeit ausmacht und prägt. Ich
bin in keiner Weise bereit, die Weiterentwicklung des Ge-
sundheitswesens ohne Solidarität als feste Grundlage zu
diskutieren.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS)





Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid)


16577


(C)



(D)



(A)



(B)


Schon bekannt: Der Ausstieg aus der bewährten GKV
ist teuer und selbst partiell können wir uns ihn nicht leis-
ten. Aber gerade als Grüne, die ich noch immer einen
Emanzipationsanspruch habe, weiß ich, dass der Verlust
individueller Freiheit enorm ist, wenn die Sicherheit der
Solidarität nicht mehr gegeben ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Diese Sicht unterscheidet sich grundlegend von jeder neo-
liberalen Idee und Ideologie.

Die neue Ungleichheit, die dadurch entstehen würde,

(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Soziale!)


und die Unfreiheit der Kranken und Versicherten ist auch
mit fiktiven Beitragssätzen und fiktiver Stabilität nicht
aufzurechnen. Modernität muss bitte immer frei sein von
modischen Launen, die es bedauerlicherweise auch in der
Politik immer wieder gibt.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das kann man bei den Grünen sagen!)


Modernität heißt auf dem Feld der Gesundheit: Lassen Sie
uns gesundheitspolitische Ziele definieren, die ethische
Maßstäbe und humanitäre Ansprüche auf Teilhabe am
medizinischen Fortschritt für alle benennen. Diese stehen
über den ökonomischen Anreizsystemen.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Da haben Sie jetzt drei Jahre Zeit gehabt und nichts geschafft! – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das hätten Sie mit Ihrer Frau Fischer doch machen können!)


Das bedeutet, dass Wettbewerb kein Wert an sich ist, son-
dern dass soziale Gerechtigkeit das oberste Leitbild ist.
Dann suchen wir uns die Steuerungsinstrumente aus, die
geeignet sind, dies sicherzustellen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS)


Es wird gebetsmühlenartig mit Redundanz davon ge-
redet, die Zuwächse und die Sicherheit in der GKV seien
nicht mehr bezahlbar. Ich wiederhole hier, was ich schon
sehr oft gesagt habe: Es gab und gibt sie nicht, die Kos-
tenexplosion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

– Selbst jetzt, da wir die Zuzahlungen zurückgeführt ha-
ben, ist der Anteil am Bruttoinlandsprodukt durch die
GKV gesunken und nicht gestiegen. Lassen Sie uns also
bitte keine falschen Botschaften in die Welt setzen.


(Beifall bei der SPD)

Beziehen wir uns auf das, was wir zu tun haben.

Wenn der Druck auf die Beitragssätze da ist, dann re-
sultiert er primär nicht aus den Leistungen und aus der
Leistungserbringung, sondern er resultiert nach wie vor
– so bedauerlich das auch ist – aus der geringen Lohn-
quote und aus der Tatsache, dass die hohe Arbeitslosigkeit

mit ihrer Abfederung die Einnahmenausfälle bei der
GKV hervorruft.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters)


Das wiederum verlangt von uns, dass wir für die Sta-
bilisierung der GKV endlich wieder die Option transpor-
tieren, dass dann die Beitragssätze stabil bleiben, wenn
sich alle an der Finanzierung des Sozialsystems beteili-
gen.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Genau darum geht es!)

Das ist eine ökonomische Wahrheit und auch Klarheit,
und die lässt sich sehr gut in die Gesellschaft hineintrans-
portieren.

Sie hat nämlich noch ein ganz wesentliches Moment.
Eine moderne Krankenversicherung integriert. Sie
schließt ein, sie schließt nicht aus.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: So viel Gerede mit so wenig Kompetenz!)


Grund- und Wahlleistungen, Kostenerstattung, alles, was
Sie heute hier vorgetragen haben, macht die GKV in ho-
hem Maße unattraktiv, macht sie ungerecht, macht die
Leistungserbringung im privaten Sektor für die Men-
schen, die die Leistungen brauchen, immer unbezahlba-
rer. Das ist ein Weg, den ich nicht gehen will.

Lassen Sie uns also darüber reden, was denn eigentlich
modern ist. Modern ist wie eh und je das Prinzip der GKV,
und wer sich davon verabschiedet, hat seinen Moderni-
sierungsanspruch längst aufgegeben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Es gibt ein Thema – das wissen Sie –, das in sich engs-
tens etwas damit zu tun hat, welche Werte für uns in der
Gesundheitspolitik maßgeblich sind. Es sind neue He-
rausforderungen für uns gekommen. Wir haben in dieser
Legislaturperiode versucht, in vielfältiger Weise parla-
mentarisch-demokratische Antworten zu geben. Es sind
die Fragen der Bio- und Gentechnik, denen wir uns nicht
verschließen können. Deshalb hier noch zwei, drei kurze
Bemerkungen.

Wenn wir an anderer Stelle über die Frage reden, ob
Gene patentierbar sind, dann weiß ich als Gesundheitspo-
litikerin, wenn es diese Stoffpatente gäbe, hätte das weit-
reichende Auswirkungen darauf, zu welchem Preis und
für wen künftig neue Medikamente verfügbar sind. Das ist
eine wichtige Frage, mit der wir uns zu befassen haben.
Wenn jetzt Gentests, prädiktive Tests, möglich sind, dann
ist es unsere Aufgabe, zu sagen, dass sie nur im Rahmen
der ärztlichen Behandlung einen Sinn haben, dass nur da
die Sicherheit gegeben wird, dass niemand über diese Da-
ten und Informationen fremdverfügt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Das sind ganz wichtige Voraussetzungen, die wir der
Bevölkerung garantieren müssen. Das schafft Vertrauen,
das schafft Sicherheit und das bereitet auch den Boden für




Monika Knoche
16578


(C)



(D)



(A)



(B)


eine abgewogene rationale Debatte darüber, was die
Chancen sind, was die Risiken sind, was wir tun müssen,
damit das Ideal der Gleichheit und der Antidiskriminie-
rung beibehalten wird, damit wir das also sichern können;
denn nichts ist wichtiger als die Frage, wie wir mit
Behinderungen, mit Anderssein, mit anderen Arten von
Krankheiten und Bedingungen umgehen. Deshalb ist das
auch eine eminent gesundheitspolitische Frage. Wenn ich
sehe, wie Sie in Ihren Beispielen, den Leistungskatalog zu
verschlanken, als allererstes auf die Idee kommen, die
künstliche Befruchtung dem Privatbereich zu übereig-
nen, sie sogar als Dienstleistung zu kategorisieren, dann
weiß ich, welche Risiken damit verbunden sind. Ich weiß
mich auch einig mit vielen im Hause, wenn ich die Kom-
merzialisierung des Frauenkörpers auf das Entschie-
dendste ablehne. Jedwede Bestrebungen im Bereich
der Reproduktionsmedizin müssen wir zu einem Thema
der Gesundheitspolitik machen. Auch wenn manche
schmunzeln werden: Es wird sich alsbald zeigen, welche
zentrale Rolle das, was ich soeben angesprochen habe,
hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


In diesem Sinne – ich habe mir noch vieles anzuspre-
chen vorgenommen; ich muss aber zum Schluss kom-
men – bin ich absolut in Übereinstimmung mit den
Forderungen, die die deutsche Ärzteschaft in der Biopa-
tentierungsfrage erhebt. Wir tun gut daran, uns klarzuma-
chen, dass wir all diese ethischen und menschenrecht-
lichen Herausforderungen in der Gesundheitspolitik nur
dann beantworten können, wenn wir das Projekt der Mo-
dernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung wei-
ter vorantreiben. Das ist Reform; das will ich umsetzen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS – Horst Seehofer [CDU/CSU]: Sie?)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417003000
Ich erteile
dem Kollegen Detlef Parr für die Fraktion der F.D.P. das
Wort.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1417003100
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich bin am Montag auf einer Ärzteveranstal-
tung in der Lutherstadt Wittenberg gewesen. Wenn ich
diese Veranstaltung, Frau Ministerin, unter das Motto Ih-
rer Regierungserklärung „Vertrauen und Solidarität – die
Chancen der Zukunft nutzen“ gestellt hätte, dann hätte
man mich aus dem Brauhaus gejagt.


(Beifall bei der F.D.P.)

In den neuen Bundesländern ist nämlich das Vertrauen
in eine sich zu ihren Gunsten entwickelnde Gesundheits-
politik längst verloren gegangen. Die Solidarität erschöpft
sich im gemeinsamen Erdulden von Fremdbestimmung
und Planwirtschaft. Die Chancen der Zukunft sind nicht
abhängig von der Leistung, die dort erbracht wird, son-
dern vom Wohlverhalten der Banken. Ich zitiere aus dem
Schreiben eines Facharztes:

Ich fühle mich ein zweites Mal betrogen, denn schon
zu DDR-Zeiten hatten wir Ärzte keinen guten Stand.
Jetzt aber geht es sogar um die blanke Existenz!

(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Ach Gott!)


Es ist ein Skandal, wie in unserem hoch entwickel-
ten und weltweit anerkannten Wirtschaftsstaat mit
engagierten Menschen, die wie kaum eine andere
Berufsgruppe bereit sind, unter vollstem Einsatz Tag
und Nacht Dienst am Nächsten zu leisten, umgegan-
gen wird.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Frau Knoche, das ist die Realität im Osten unseres Lan-

des und auch in manchen westlichen Regionen. Sie reden
an dieser Realität vollkommen vorbei.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Neben den niedrigeren Arztzahlen, den damit verbunde-
nen längeren Arbeitszeiten für Ärzte und ihr Personal
und den in vielen Praxen nach zehn Jahren Niederlassung
fehlenden Mitteln für notwendige Modernisierungsin-
vestitionen ist für die Qualität der medizinischen Versor-
gung die hohe Zahl von Ärzten in höherem Alter, die
vergeblich nach jungen Nachfolgern suchen, am bedroh-
lichsten.

Ihre Politik zeigt bisher keine berechenbaren Perspek-
tiven auf. Zukunftschancen für junge Leute? Fehlanzeige!
Die Studierenden stellen Ihnen die entsprechende Quit-
tung aus. Vage Hoffnungsschimmer am Horizont reichen
nicht aus, Frau Ministerin. Das System steht auf dem
Kopf. Wir müssen es wieder auf die Füße stellen, und
zwar mit den Säulen, die wir immer wieder nennen: mehr
Wahlfreiheit, mehr Transparenz, mehr Patientensouverä-
nität und mehr Wettbewerb.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Wer hat denn die Polikliniken kaputtgemacht?)


Runde Tische hin, runde Tische her: Sie könnten sich viel
Zeit sparen, die wir eigentlich schon jetzt nicht mehr ha-
ben.

Wir haben im Gesundheitsausschuss seit 1998 eine
Fülle von grundlegenden Anhörungen durchgeführt.
Hätte man mehr zugehört und weniger weggehört, dann
wären wir weiter.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das können Sie sich selber sagen!)


Es sind Gutachten erstellt worden. Die Reformvorstel-
lungen liegen auf dem Tisch. Ich denke, es reicht voll-
kommen aus, wenn man die Ergebnisse vorurteilsfrei ne-
beneinander stellt, die Alternativen bewertet und endlich
zu einem umfassenden und in sich schlüssigen Hand-
lungskonzept kommt, anstatt Zeit in vermeintlichen
Konsensrunden zu vergeuden. Diese sind gut gemeint,
aber mehr als deutlich als Hinhaltetaktik erkennbar.

Ich hoffe sehr, dass Sie, Frau Ministerin, nicht nach der
Devise verfahren, die Ludwig Marcuse so ausdrückt: „Die




Monika Knoche

16579


(C)



(D)



(A)



(B)


Zeit heilt nicht alles; aber sie rückt vielleicht das Unheil-
bare aus dem Mittelpunkt.“ Da spielen wir nicht mit.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine letzte Bemerkung: Die F.D.P.-Fraktion, Frau Mi-
nisterin, begrüßt Ihre offene Haltung zur Gentechnologie.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das hat lange genug gedauert!)


Wir haben am Dienstag unter den Obleuten auf der
Grundlage des F.D.P.-Antrages „Präimplantationsdia-
gnostik rechtlich absichern“ eine Anhörung im Bundestag
vereinbart. Ich habe gestern Ihrem Kanzler sehr genau zu-
gehört, der dafür plädiert hat, dass wir bei der Beantwor-
tung dieser Fragen über unsere Landesgrenzen hinaus
schauen sollten, um zu sehen, auf welchen Wegen die an-
deren Europäer zu welchen Lösungen gekommen sind. Es
sollten also nicht nur nationale, sondern auch internatio-
nale Experten angehört werden.

Ich denke, wir müssen die hoch emotionale und pola-
risierte Debatte zwischen und in den Parteien und in der
Öffentlichkeit zu einem sachorientierten Dialog zurück-
führen. Sie haben zu Recht zu mehr Gemeinsamkeit auf-
gerufen, die wir gemeinsam ausleben möchten, wo wir
dies können. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie eine
Anhörung zur rechtlichen Absicherung der Präimplanta-
tionsdiagnostik mit unterstützen und so zu einem wirk-
lich sachorientierten Dialog darüber beitragen würden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417003200
Für die
SPD-Fraktion erteile ich der Kollegin Hildegard Wester
das Wort.


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1417003300
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon
bei der letzten Regierungserklärung der neuen Bundesge-
sundheitsministerin, meiner Kollegin Ulla Schmidt, hat es
hier heftige Auseinandersetzungen über den richtigen
Weg, über die richtigen Steuerungsinstrumente in der Ge-
sundheitspolitik gegeben.

Heute – wir erleben es alle – ist es genauso. Seit Jah-
ren, fast schon seit Jahrzehnten diskutieren wir diesen so
genannten Königsweg eines Systems zwischen staatlicher
Steuerung, selbst verwaltetem System und zunehmendem
Wettbewerb der Akteure. Die Mängel und Schwächen
dieses Systems werden seit Jahren analysiert und disku-
tiert. An den Grundvoraussetzungen hat sich gar nicht viel
geändert.

Wir haben bereits 1992 in Lahnstein fraktionsübergrei-
fend den Grundstein dafür gelegt, dort, wo es möglich und
sinnvoll ist, wettbewerbliche Elemente in die gesetzliche
Krankenversicherung einzubringen. Damals haben wir
konsequent den Weg eingeschlagen, die Rechte der Versi-
cherten, nämlich der Patientinnen und Patienten, zu stär-
ken. Seitdem kann zum Beispiel jeder seine Krankenkasse
frei wählen.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das ist vorbei!)


Das gilt trotz aller Unkenrufe auch weiter so.

(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Wie denn?)


Wir sind sogar noch einen Schritt weitergegangen: Ab
2002 soll jeder Versicherte, egal, ob pflichtversichert oder
freiwillig versichert, mit einer Frist von sechs Wochen
seine Krankenkasse neu wählen können.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Und bis dahin?)

Dies stellt nicht nur die längst überfällige Gleichstellung
von Pflichtversicherten oder freiwillig Versicherten si-
cher, sondern ist gleichzeitig eine wesentlich flexiblere
Regelung als die bisherige.


(Beifall bei der SPD – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Warum nicht sofort?)


Diese beiden Grundpfeiler eines flexibleren Wahl-
rechtswerden im Kampfgeschrei gerne vergessen und die
angebliche Schlechterstellung der Versicherten wird be-
schrien.

In der Reform des Jahres 2000 sind wir weitere Schritte
hin zur Stärkung der Rechte der Patientinnen und Pati-
enten gegangen. Das war nur konsequent und wird wei-
ter unsere konsequente Linie bleiben. Viele Diskussionen
der letzten Jahre um Kostendämpfung, Budgetierung oder
Anbieterdominanz haben oft vergessen lassen, um was es
im Gesundheitswesen eigentlich geht, nämlich um die
Versicherten, die Patientinnen und Patienten. Es geht da-
rum, diesen die Sicherheit zu geben, dass sie für ihre
Beiträge eine vernünftige Versorgung immer dann erhal-
ten, wenn sie sie benötigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das ist bei Ihnen gescheitert!)


Ich halte deswegen den Weg von Ulla Schmidt und der
SPD, die Versicherten in den Mittelpunkt aller Maßnah-
men im Gesundheitswesen zu stellen, für richtig.


(Beifall der Abg. Regina Schmidt-Zadel [SPD] – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das war bei der Budgetierung der Fall?)


– Natürlich war das der Fall und es wird auch der Fall blei-
ben. Denn die Effizienz des Systems spielt auch bei der
Frage eine wichtige Rolle, ob und wie man die Patienten
behandeln kann.


(Beifall bei der SPD)

Dabei ist es unsere Aufgabe, allen Beteiligten und Ak-

teuren im Gesundheitssystem einen Rahmen vorzugeben,
der es ihnen ermöglicht, sich genau auf diese Aufgabe zu
konzentrieren. Ich glaube, darüber, dass sich alle politi-
schen Maßnahmen daran messen lassen müssen, ob sie
die Handlungsmöglichkeiten der Akteure im Gesund-
heitswesen, ihre jeweiligen Versorgungsbereiche eigen-
verantwortlich zu regeln und zu steuern, verbessern, be-
steht gar kein Dissens, auch wenn Sie den jetzt beschreien
wollen.

Viele der Maßnahmen, die die Ministerin eben genannt
hat, erfüllen genau diese Kriterien. Sie geben den Ärzten,




Detlef Parr
16580


(C)



(D)



(A)



(B)


den Krankenkassen und weiteren Akteuren Instrumente
an die Hand, die Versorgung der Versicherten beispiels-
weise mit Arzneimitteln und die Verantwortung für eine
rationale Arzneimitteltherapie, die aber gleichzeitig wirt-
schaftlich ist, sicherzustellen.

Das Ausmaß dieser Eigenverantwortung der Betei-
ligten ist für manche überraschend gekommen, mögli-
cherweise auch für Sie, Herr Thomae, und für die
CDU/CSU.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Endlich!)

Aber ich hoffe, dass die erste Überraschung schnell kon-
struktiver Arbeit an den Zielen weicht.


(Beifall bei der SPD)

Diese Ziele lauten, allen Versicherten eine an ihrem me-
dizinischen Bedarf orientierte Arzneimitteltherapie zur
Verfügung zu stellen, die Transparenz zu erhöhen und
gleichzeitig Verantwortung für die Finanzierbarkeit des
Systems zu übernehmen. Auch in weiteren gesetzgeberi-
schen Maßnahmen sehe ich den roten Faden in der Stär-
kung der Versichertenrechte und in der Verbesserung der
Versorgung. Ein besonderes Augenmerk wird auf chroni-
sche Erkrankungen, die Stärkung der Prävention und die
Entwicklung und Stärkung von morbiditätsorientierten
Indikatoren gelegt – all dies sind richtige Maßnahmen, um
eine zielgerichtete Versorgung der Versicherten zu ge-
währleisten.

Lassen Sie mich noch kurz auf das eingehen, was heute
Morgen von den Vorrednern seitens der F.D.P. und der
CDU/CSU angerissen wurde. Ich halte es für falsch zu
glauben, die Versichertenrechte würden dadurch gestärkt,
dass ein Großteil der medizinischen Versorgung in die pri-
vate Verantwortung überführt wird. Dieses Konzept wird
auch dadurch nicht besser, dass es ständig wiederholt und
beschrien wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben uns in unserer Koalitionsvereinbarung und
in unseren Zielen auf eine sozial gerechte Gesundheitspo-
litik verpflichtet, die allen Bürgern eine qualitativ hoch-
wertige medizinische Versorgung gewährleistet und ein
leistungsfähiges und bezahlbares Gesundheitssystem si-
cherstellt; daran wird auch nicht gerüttelt. Wir wollen die
Rechte der Versicherten stärken. Wir wollen die medizi-
nische Versorgung vor allem der Patientinnen und Patien-
ten verbessern, die sie am dringendsten benötigen. Wir
wollen die Instrumente stärken, die den Akteuren Hand-
lungsspielräume für die Erreichung dieser Ziele eröffnen,
sie aber gleichzeitig auch in die Lage versetzen, mit den
Geldern der Versicherten und Arbeitgeber vernünftig um-
zugehen. Wir wollen die Solidarität stärken und nicht
schwächen.

Unter diesen Prämissen – das hat die Ministerin eben
bereits deutlich gemacht – werden wir auch an die He-
rausforderungen herangehen, die oft als Untergang der
bisherigen traditionellen gesetzlichen Krankenversi-
cherung beschrieben werden, nämlich auf die demo-
graphischen Herausforderungen, den medizinisch-
technischen Fortschritt und die Veränderungen in der Ar-

beitswelt. Auf diese Herausforderungen müssen wir Ant-
worten finden. Wir stellen uns diesen Fragen aber nicht
unter dem Damoklesschwert einer Veränderung des ge-
samten Systems.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden sie vielmehr im Dialog mit den Beteiligten
angehen, ohne unsere Ziele aus den Augen zu verlieren.
Ich bin überzeugt, dass wir nur so das Vertrauen in die ge-
setzliche Krankenversicherung stärken können. Man
kann es nicht oft genug sagen: Nicht die Akteure stehen
im Mittelpunkt, sondern die Patientinnen und Patienten.

Im Rahmen einer solidarischen Krankenversicherung
muss es unser Ziel sein, die Versorgung der Kranken zu
verbessern, alle Möglichkeiten zur Verbesserung von Be-
handlungsabläufen zu nutzen und die wettbewerblichen
Elemente da zu stärken und auszubauen, wo sie der Ver-
besserung der Versorgung, der Transparenz und der Ver-
gleichbarkeit der Angebote dienen, und gleichzeitig si-
cherzustellen, dass dies auch finanzierbar bleibt.

Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf die Urteile
des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung
eingehen. Das Bundesverfassungsgericht hat am 3. April
dieses Jahres vier Urteile verkündet. Insbesondere bei ei-
nem dieser Urteile, nämlich dem, in dem die Berücksich-
tigung der Erziehung von Kindern bei der Bemessung der
Beiträge zur Pflegeversicherung gefordert wird, wird
vermutet, dass es Auswirkungen auch auf die gesetzliche
Renten- und Krankenversicherung hat. Zumindest hat
der Gesetzgeber die Aufgabe erhalten, dies zu überprü-
fen.

Wir werden auch in dieser Frage, also bei der unge-
rechten Lastenverteilung zwischen Menschen, die Kinder
erziehen, und Menschen, die keine Kinder haben, auf die
Problematik der demographischen Entwicklung ge-
stoßen. Durch die enge Verknüpfung von Demographie
und unseren Sozialsystemen stehen wir vor großen He-
rausforderungen. Wir werden die Konsequenzen dieser
Urteile in aller Ruhe und Sorgfalt prüfen. Dabei ist eines
klar: Die Herausforderung, das Gesundheitssystem leis-
tungsfähig und dabei bezahlbar zu halten, ist dadurch
noch gewachsen. Gerade im Interesse der nachwachsen-
den Generation ist es aber wichtig, eine Leistung zu ge-
währleisten, die nicht vom Geldbeutel des Einzelnen ab-
hängt. Eine schlechte Leistung aufgrund eines geringen
Beitrags kann keine Lösung sein.

Ich bin zuversichtlich, dass wir auf dem richtigen Weg
sind, und hoffe, dass möglichst alle Beteiligten diesen
Weg mitgehen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417003400
Für die
PDS-Fraktion spricht der Kollege Dr. Ilja Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417003500
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Immerhin hat die Kollegin




Hildegard Wester

16581


(C)



(D)



(A)



(B)


Wester zumindest gemerkt, dass auch die Pflegeversi-
cherung in den Bereich der Gesundheitspolitik gehört.
Das ist schon erfreulich.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Auch ich habe etwas dazu gesagt!)


– Ja, Frau Schmidt-Zadel, ich weiß.
Frau Ministerin, Sie haben sich diesem Thema nur sehr

kurz zugewandt. Ich will die wenige Redezeit, die der
PDS noch bleibt, nutzen, um dazu etwas zu sagen. Was
Sie Pflegequalitätssicherungsgesetz nennen, kann nicht
das leisten, was wir brauchen. Wir brauchen nämlich kein
Gesetz, das die Pflegequalität sichert, sondern wir brau-
chen ein Gesetz, das die Lebenssituation von Menschen,
die in Pflegeheimen wohnen, verbessert.


(Beifall bei der PDS)

Das ist etwas ganz anderes, als irgendwelche Strukturen
und Verwaltungswege zu verändern. Leider ist das in den
Vorlagen, die ich bisher gelesen habe, überhaupt nicht
vorgesehen.

Wenn Sie diesen Grundansatz nicht hineinnehmen,
dann können alle Ihre Veränderungen und Verbesserun-
gen nur Stückwerkelei sein. Ich finde, das haben die Men-
schen an ihrem Lebensende und natürlich auch dann,
wenn sie länger in solchen Einrichtungen leben, nicht ver-
dient.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Dr. Dieter Thomae [F.D.P.])


Im Übrigen will ich daran erinnern, dass Sie bis Ende
dieses Jahres verpflichtet sind, manches neu zu regeln.
Darüber wurde bisher noch gar nicht geredet. Das Urteil
des Verfassungsgerichts ist das eine. Das andere ist die
Regelung der Kurzzeit- und Behandlungspflege. Diese
und einige weitere Maßnahmen wurden nur bis Ende die-
ses Jahres verlängert. Ich bitte darum, dies einmal so zu
regeln, dass die pflegeversicherten Menschen davon pro-
fitieren, diejenigen, die Hilfe, Unterstützung oder auch
Assistenz brauchen.


(Beifall bei der PDS)

Wir müssen endlich dazu kommen, dass nicht mehr das

Teilkaskoprinzip im Vordergrund steht. Wir müssen in
erster Linie an die Menschen denken, die Assistenz brau-
chen. Diesen muss so geholfen werden, dass es deren
Lebensqualität verbessert. Den Dienstplan in einer Ein-
richtung zu optimieren kann nicht das entscheidende Kri-
terium sein. Das ist der Weg, aber nicht das Ziel, über das
wir reden. Diese Verwechslung sollte nicht länger anhal-
ten.

Da ich noch eine halbe Minute Redezeit habe, will ich
auf den Punkt eingehen, den die Kollegin Knoche sehr
deutlich angesprochen hat. Ich bin ihr dafür sehr dankbar.
Wenn wir die ethischen Maßstäbe, die wir bei der Präim-
plantationsdiagnostik bzw. bei der Verhinderung dieser
Selektionsmaßnahme und bei anderen biomedizinischen
Fragen brauchen, nicht auch in allen anderen Bereichen
der Medizin anwenden, dann werden wir zu einer
Marktwirtschaft im Gesundheitswesen kommen, die mit

ethischen und humanistischen Maßstäben überhaupt nicht
zu messen ist.

Insofern, Herr Thomae, verstehe ich nicht, wie Sie die-
ser unglaublich unsolidarischen Herangehensweise so das
Wort reden können. Jeder soll sich quasi vorher aussu-
chen, welche Krankheit er sich wünscht, und sich ent-
sprechend versichern. Das kann es nicht sein.

Wenn wir nicht zu dem universellen Prinzip zurück-
kehren – wir haben es leider schon durchbrochen –, die
Starken für die Schwachen, dann werden wir mit ethi-
schen und humanistischen Grundsätzen in der Gesund-
heitspolitik nicht mehr viel zu tun haben. Es tut mir Leid,
aber das musste einmal gesagt werden.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS sowie der Abg. Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417003600
Ich erteile
dem Kollegen Eike Hovermann für die Fraktion der SPD
das Wort.


Eike Hovermann (SPD):
Rede ID: ID1417003700
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der
Herr Präsident hat nicht nur meinen Vornamen Maria un-
terschlagen, sondern mein vollständiger Vorname heißt
korrekt eigentlich „Eike Anna-Maria“; deswegen bin ich
hin und wieder auch schon mit Frau Hovermann begrüßt
worden. Aber man gewöhnt sich ja an alles.

Im Zuge der abstrakten Diskussion über das Thema
„Budget“ will ich – auch in Anlehnung an das, was Sie,
Herr Dr. Thomae, über Planwirtschaft gesagt haben – ei-
niges aus dem konkreten Alltag von Herrn Seehofer in die
Erinnerung zurückrufen.

Erstens. Er hat seinerzeit die stationären Reha-Maß-
nahmen auf drei Wochen starr begrenzt – wider jede me-
dizinische Notwendigkeit, wider jeden medizinischen
Sinn. Die Folge war ein Drehtüreffekt, ein Ansteigen der
Folgekosten im ambulanten Bereich und beim Medika-
mentenaufwand. Diese Zahlen sind nachprüfbar, Herr
Dr. Thomae.

Was war das jetzt? War das eine Budgetierung, war das
eine falsche Budgetierung, war das Planwirtschaft? Oder
muss nicht im Grunde jenseits der Frage „Budgetierung
hin – Budgetierung her“ die eigentlich viel wesentlichere
Frage gestellt werden: Wo muss das riesenhaft vorhan-
dene Geld – 270 Milliarden DM – im deutschen Gesund-
heitswesen effektiv eingesetzt werden, an welcher Stelle
in der ganzen Behandlungskette? Hierbei ist in der Ver-
gangenheit ein schwerer Fehler geschehen;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

an dem leiden wir natürlich, weil durch diese Entschei-
dungen seinerzeit Strukturen zusammengebrochen sind,
weil Bäder keine Planungssicherheit mehr hatten und
weil dort Unsicherheiten beim Personal entstanden sind,
die bis heute nachwirken, weil man eben nicht wusste,
worauf man sich einstellen sollte, ob das so richtig ist.




Dr. Ilja Seifert
16582


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir waren deshalb mit Herrn Gnahn und vielen ande-
ren bayrischen Kurortdirektoren zusammen, mit Verwal-
tungsdirektoren, die zu uns kamen und fragten: Was ma-
chen die da?


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das waren CSU-Leute!)


Das kam dann noch hinzu.
Der zweite Punkt: Der ganze Bereich der Prävention

wurde aus dem SGB V herausgenommen.

(Dr. Sabine Bergmann-Pohl [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht, Herr Hovermann!)

– Frau Bergmann-Pohl, der Bereich der Prävention mit
nachvollziehbaren geldlichen Leistungen ist seinerzeit
von Ihnen herausgekürzt worden; auch deshalb sind doch
die Vertreter der Bäder zu uns gekommen und haben sich
beschwert, insbesondere Herr Gnahn. Der ist seinerzeit
sogar vor lauter Schreck aus der CSU ausgetreten.


(Beifall der Abgeordneten Hanna Wolf [München] [SPD])


Der dritte Punkt, an den ich einmal erinnern möchte –
Budgetierung hin, Budgetierung her und Planwirtschaft,
Herr Dr. Thomae –: Es wurden Zuzahlungen für den sta-
tionären Aufenthalt im Reha-Bereich erhöht, etwa 30 bis
40 Prozent; nachprüfbar valide Zahlen, Frau Bergmann-
Pohl, damit Sie nicht wieder sagen, das stimme nicht. Das
hat vielfach dazu geführt, dass viele, denen eine Kur zu-
gestanden worden war, diese Kur gar nicht mehr antreten
konnten, weil sie zu viel Geld zuzahlen mussten.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Wer behauptet das denn!)


Dass das natürlich in erhöhtem Maße zu Folgekosten ge-
führt hat, Herr Lohmann (Lüdenscheid), an denen wir
heute noch leiden, ist ja wohl unbestritten.

Also noch einmal: Die zentrale Frage ist wohl nicht das
Thema „Budget hin – Budget her“, sondern die entschei-
dende Frage ist nach wie vor, wo das Geld in der gesam-
ten Behandlungskette eingesetzt wird bzw. ob es sinnvoll,
qualitätsgesichert und kontrolliert eingesetzt wird.

Aus diesen Überlegungen heraus hatten wir seinerzeit
den Gedanken des Globalbudgets entwickelt und gesagt:
Je nachdem, in welchem Teil der Behandlungskette Not-
wendigkeiten entstehen, müssen wir in der Lage sein,
Gelder aus dem einen Bereich in den anderen Bereich zu
transferieren. Stellen Sie sich doch einmal vor – folgen-
des Problem begegnet uns ja in nächster Zeit; da bin ich
auch wieder auf Ihre Planwirtschaft und die von Herrn
Lohmann und von Frau Bergmann-Pohl gespannt –, wir
bekommen die Liste der stationsersetzenden Leistungen;
das heißt, zehn Operationen – ich greife einmal eine fik-
tive Zahl – werden demnächst aus dem stationären Be-
reich in den ambulanten Bereich verlagert, weil man
weiß, dass die Qualität gleich, teilweise sogar höher als im
stationären Bereich ist. Was müsste denn dann gesche-
hen? Es müsste ein Transfer geschehen


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das ist überhaupt kein Thema!)


vom stationären Bereich in den ambulanten Bereich, und
zwar unter der Fragestellung: Wo wird das Geld am sinn-
vollsten ausgegeben?

Dies bereitet uns aber noch Schwierigkeiten. Da möch-
ten wir mit Ihnen gemeinsam konstruktiv arbeiten, weil
Sie genau wissen, dass im Krankenhausgesetz noch einige
Hindernisse bestehen, ohne weiteres Gelder aus dem sta-
tionären Bereich in den ambulanten Bereich zu transfe-
rieren. Eines darf aber nicht geschehen – das ist ja Ihr Ruf
nach mehr Geld im System –, dass man nämlich sagt: Wir
verlagern zehn Operationen aus dem stationären Bereich
in den ambulanten Bereich. Das Geld dafür kriegen wir
von dort aber nicht. Also muss zusätzlich Geld in den am-
bulanten Bereich hinein.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Nein, das muss weggenommen werden!)


– Ja, ja, wären Sie seinerzeit unserem Globalbudget ge-
folgt; dann wäre das alles sehr viel besser möglich gewe-
sen.


(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der vierte Punkt, an den ich erinnern möchte: Wenn
man jenseits der vielen abstrakten Diskussionen über
Friede, Freude, Eierkuchen – das unterschreibt ja jeder –
in den konkreten Alltag geht, geht es doch um Folgendes:
Ich erinnere mich sehr wohl, dass die Kurorte sagten, dass
Herr Seehofer zur Stabilisierung der Entwicklung in
Deutschland sagte: Wir machen jetzt ein Beitragsentlas-
tungsgesetz. Wir machen ein Gesetz für mehr Wachstum
und Beschäftigung zugunsten der Bäder. – Sie wissen,
was dabei herausgekommen ist. Es geschah das genaue
Gegenteil und zusätzlich gab es noch Beitragserhöhun-
gen, und zwar Jahr für Jahr.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das ist auch nicht wahr! – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Wo denn?)


Ich will gar nicht darauf eingehen, dass das den Standort
Deutschland hinsichtlich der Lohnnebenkosten enorm be-
schädigt und lädiert hat. Wir versuchen nicht nur umzu-
steuern, sondern haben dazu erste Schritte getan.

Es geht um die entscheidende Frage: Wird das vorhan-
dene Geld – hochgerechnet immerhin 270Milliarden DM
in diesem Jahr – an der richtigen Stelle ausgegeben?


(Zuruf von der SPD: Das ist der Punkt!)

In diesem Zusammenhang haben OECD, WHO und der
Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Ge-
sundheitswesen gesagt: Es ist zwar viel Geld da, aber es
wird nicht an der richtigen Stelle und nicht effizient genug
ausgegeben. – In diesem Zusammenhang verweise ich auf
das schon etwas malträtierte Beispiel vom Rolls Royce
und einem Polo oder vom Mercedes und einem Golf. Ich
sage immer: Die Deutschen bezahlen in der medizini-
schen Versorgung offensichtlich Geld fürs Taxi und gehen
anschließend zu Fuß.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)





Eike Maria Hovermann

16583


(C)



(D)



(A)



(B)


Wo liegen die Probleme? Immer noch steigen die Kos-
ten für oftmals unnötig oder schlecht erbrachte Leistun-
gen. Das ist ein ganz einfacher, aber schlimmer Umstand.
Zu lange – Aspekt Gerätedichte – wurde zu wenig geprüft,
ob der betriebene Aufwand in einem sinnvollen Verhält-
nis zum therapeutischen Nutzen steht. Erst langsam setzt
sich doch bei uns allen – ich nehme mich davon nicht
aus – die Erkenntnis durch, dass viele teure Untersuchun-
gen für den Patienten keinen medizinischen Nutzen ha-
ben; häufig kommt es im Gegenteil zu einer Belastung
oder sogar zu einer Gefährdung des Patienten. In diesem
Zusammenhang erwähne ich Röntgenaufnahmen bei
Doppeluntersuchungen.

Eine ähnliche Problematik gibt es in dem Bereich am-
bulanter und stationärer Operationen, den ich eben schon
gestreift habe. Es wird immer noch zu viel stationär, mit
einer nicht sehr viel besseren Qualität als ambulant, ope-
riert. Hier fehlt es an Geld und in diesem Bereich müssen
wir zu Transferleistungen kommen.

Ein Beispiel, das mich sehr bedrückt: Gleichzeitig
wächst leider die Zahl der nicht erbrachten, aber dennoch
abgerechneten Leistungen in einem Umfang von vielen
Millionen Mark. Man spricht in diesem Zusammenhang,
Herr Lohmann, vielfach abwiegelnd von einzelnen
schwarzen Schafen, obwohl es sich nach überprüften Ab-
rechnungen und Stichprobenuntersuchungen der Kassen
eigentlich mehr um ganze schwarze Herden – damit sind
nicht Sie bildlich gemeint – handelt.

All diese Umstände gehen zulasten der Patienten und
damit der Beitragszahler; sie betreffen vor allem diejeni-
gen Bereiche, bei denen jede Mark dringendst notwendig
gebraucht wird, nämlich für eine sinnvolle Sekundär- und
Tertiärprävention oder für die Behandlung chronisch
Kranker. Sie wissen aus der Anhörung – dem ist auch
nicht widersprochen worden –, dass rund 500 Milli-
onen DM pro Jahr eingespart werden könnten, wenn man
Diabetes zeitgerecht und zielgerichtet behandeln könnte.
Probleme bestehen auch bei der Ausbildung; ich nenne
die Begriffe ganzheitlich versus Facharzt. Weil das häufig
nicht klappt, sind wir zu der Lösung einer integrierten
Versorgung gekommen, bei der die Kompetenzen aus al-
len Bereichen gebündelt werden.

In dieser Anhörung ist also gesagt worden: 500 Milli-
onen DM versickern im deutschen System, weil durch ein
nicht zeitgerechtes Erkennen von Diabeteserkrankungen
amputiert werden muss, weil zu viele Erblindungen oder
Nierenversagen mit anschließenden hohen Dialysekosten
auftreten.

Das sind die Probleme des Gesundheitssystems. Mit
Verlaub, Herr Dr. Thomae: Dahinter treten doch im
Grunde genommen die Fragen nach dem Budget zurück.
Wer diese Fehlentwicklungen unverdrossen ignoriert und
nach mehr Geld für das System ruft, dem möchte ich die
Einschätzung von Professor Reinhard, einem der berühm-
testen Gesundheitsökonomen, der an sehr vielen Tagun-
gen in Deutschland teilnimmt, mitteilen. Er skizziert das
deutsche Gesundheitswesen so: In den langen Jahren, bis
in die 80er- und 90er-Jahre, ist die deutsche Gesundheits-

politik auf eine reine Einkommenspolitik degeneriert. –
Genau an dieser Stelle liegt das Problem.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es steht eben vielfach nicht der Patient im Vordergrund.
Eben wurde argumentiert – ich weiß nicht, wer es war; ich
glaube, Herr Parr –, die Ärzte im Osten hätten für ihre Pra-
xen hohe Summen aufgewendet und könnten diese Kos-
ten jetzt nicht erwirtschaften. Das ist doch nicht das Pro-
blem. Das Geld hat nicht den Investitionen der Ärzte zu
folgen, sondern wir müssen die Frage beantworten: Was
brauche ich für den Patienten?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Keine andere Frage gilt es zu beantworten. Wenn Geld-
ströme nur deshalb verlagert werden, weil der Leistungs-
erbringer nicht genug Geld erhält, hat der Patient
Nachteile oder Schäden zu befürchten. Das ist, Herr
Dr. Thomae, ein bisschen flach, aber nun ja.

Mehr Geld bedeutet nicht automatisch mehr Qualität.
Das Geld der Beitragszahler ist in der Vergangenheit häu-
fig nicht der Leistung, sondern den Wünschen der gut or-
ganisierten Leistungserbringer gefolgt. Das wollen und
müssen wir ändern.

Die Bundesregierung hat mit der Gesundheitsreform
2000 erste Schritte zu mehr Qualitätssicherung und Qua-
litätsmanagement getan. Hierfür sind schon viele Bei-
spiele genannt worden.

Ich komme zum Schluss, obwohl ich gerne noch auf
den Versandhandel als neue wettbewerbliche Form und
auf die integrierte Versorgung eingegangen wäre, bei der
die KVen landesweit jeden Stock in den Weg werfen, nach
dem Motto: Bloß keine neue Versorgungsform; denn es
könnte sich dann ja offenbaren, dass diese besser ist und
mehr Drive in die Versorgung der Patienten bringen
könnte.

Wir sind sehr froh, dass wir jetzt mit allen Leistungs-
erbringern über alle schwerwiegenden Fragen am runden
Tisch diskutieren werden. Vielleicht gibt es die Möglich-
keit zu einem Lahnstein 2, Herr Seehofer. In Würdigung
der Arbeit des Kollegen Lohmann mag man es auch
Lüdenscheid 1 nennen.

Wir hoffen, dass Sie auch aufgrund Ihrer Erfahrungen
mit der Renten- und der Steuerreform konstruktiv mitar-
beiten werden; denn auch wir wollen nicht, dass sich das
manifestiert, was eine große deutsche Zeitung in der letz-
ten Woche geschrieben hat: „Derzeit ist die Opposition
nicht nur nicht regierungsfähig, sie ist noch nicht einmal
oppositionsfähig.“

Schönen Dank für das Zuhören.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417003800
Nun gebe
ich das Wort der Kollegin Dr. Carola Reimann ebenfalls
für die Fraktion der SPD.




Eike Maria Hovermann
16584


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1417003900
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Als Gesundheitspolitiker müssen wir
Lösungen verantworten, die den vielfältigen Interessen
der Akteure – Ärzte, Krankenkassen, pharmazeutische
Hersteller und vor allem Patienten – gerecht werden.
Dazu gehören eine bedarfsgerechte Arzneimittelver-
sorgung und eine rationale Arzneimitteltherapie, die auch
wirtschaftlich ist. Diesen Maßstäben ist der vorliegende
Entwurf eines Festbetrags-Anpassungsgesetzes ebenfalls
verpflichtet. Unser Vorschlag erlaubt eine moderate Ent-
wicklung der Arzneimittelpreise und bildet so eine Vo-
raussetzung für Beitragssatzstabilität.

Worum geht es nun bei Festbeträgen? Die schon 1989
eingeführten Festbeträge für Arzneimittel sind ein Instru-
ment zur Kostensteuerung in der gesetzlichen Kranken-
versicherung. Für die Kostensituation der Kassen ist die
Entwicklung des Arzneimittelmarktes ein ganz wesentli-
cher Faktor. Es geht dabei um ein Finanzvolumen von
36,8 Milliarden DM – das sind die Zahlen von 1999 – bei
783 Millionen Verordnungen. Die Festbeträge ermöglich-
ten in der Vergangenheit eine Begrenzung der Ausgaben
für Medikamente. Das entlastete Beitragszahler und Kas-
sen, und das bei einer Arzneimittelversorgung auf hohem
Niveau. Gleichzeitig intensivieren Festbeträge den Preis-
wettbewerb, weil sie die Hersteller zwingen, ihre Markt-
anteile über günstige Angebote zu sichern, einen Wettbe-
werb, den die F.D.P. eigentlich so gerne möchte. Der
Erfolg dieses Systems zeigte sich in der moderaten Preis-
entwicklung auf dem Gesamtmarkt.

Nach den bislang geltenden Regelungen bestimmen
die Spitzenverbände der Krankenkassen in Zusammenar-
beit mit dem Bundesausschuss der Ärzte und Kranken-
kassen die Festbeträge. Letzterer definierte die Gruppen
von Medikamenten, für die Festbeträge galten. Die Fest-
beträge wurden mithin von den Selbstverwaltungsorga-
nen unseres Gesundheitssystems ausgehandelt. Mit den
Festbeträgen hatte man ein wirksames Instrument zur Sta-
bilisierung der Kostensituation. Jetzt ist der Gesetzgeber
erneut gezwungen, über Lösungen in diesem Bereich
nachzudenken; denn das Bundessozialgericht hat in ei-
nem 1995 gefassten Beschluss das Festbetragsmodell als
verfassungswidrig eingeschätzt. Das Verfahren ist in Karls-
ruhe noch anhängig.

Darüber hinaus gibt es kartellrechtliche Bedenken: Die
Krankenkassen seien Unternehmen und folglich seien de-
ren Spitzenverbände Unternehmensvereinigungen. Hier
könnte also ein Nachfragekartell bestehen. Das hindert
jetzt die Krankenkassenverbände an einer rechtswirk-
samen Bestimmung der Festbeträge; denn das Bundes-
kartellamt will künftig Absprachen in diesem Bereich
konsequent unterbinden. In Verantwortung für eine kos-
teneffiziente und bedarfsgerechte Arzneimittelversorgung
muss der Gesetzgeber deshalb jetzt handeln.

Mit dem vorliegenden Entwurf eines Festbetrags-An-
passungsgesetzes wird sich Rechts- und Planungssicher-
heit im Bereich der Arzneimittelversorgung wieder her-
stellen lassen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Für wie lange?)


– Das sage ich Ihnen gleich. – Dieser Gesetzentwurf hat
nicht in einer dunklen Schreibstube das Licht der Welt
erblickt. Er ist das Ergebnis eines Kompromisses zwi-
schen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und den
Verbänden der pharmazeutischen Industrie. Durch die
tatkräftige Geburtshilfe des Bundesgesundheitsministe-
riums konnten die vielfältigen Interessen in einer, wie
ich finde, tragfähigen Lösung zusammengeführt wer-
den.

Wie sieht dieser Konsens nun konkret aus? Die Neure-
gelung schafft die gesetzliche Grundlage für eine einma-
lige allgemeine Anpassungsrunde der Festbeträge. Das
heißt: Bis zum Ende des Jahres 2003 legt das Bundesmi-
nisterium für Gesundheit die Festbeträge im Einverneh-
men mit dem Wirtschaftsminister fest. Die Bestimmung
der Festbeträge orientiert sich dabei an einer bedarfsge-
rechten, qualitativ hochwertigen und zugleich wirtschaft-
lichen Arzneimittelversorgung. Sie folgt den bewährten
Prinzipien und der Gesetzentwurf enthält die Kriterien:
Mindestens ein Drittel der Verordnungen und mindestens
ein Viertel der Packungen müssen zum Festbetrag ver-
fügbar sein.

Für die Absenkung der Festbeträge wurde eine Kap-
pungsgrenze von 27,5 Prozent ausgehandelt. Damit bie-
ten wir auch der pharmazeutischen Industrie einen siche-
ren Kalkulationsrahmen.

Der vorliegende Entwurf erlaubt es, die vorhandenen
Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen. Festbeträge
wirken sich positiv auf die Preisentwicklung aus. Erfah-
rungsgemäß ist mit Preissenkungen in diesem Bereich zu
rechnen. Wir rechnen mit einem Einsparvolumen von
jährlich 650Millionen DM. Es sollte auch an dieser Stelle
gesagt sein, dass es sich nicht um ganz kleine Beträge
handelt.

Gleichzeitig bietet die Lösung mehr Transparenz. Der
Entwurf sieht neu vor, dass die betroffenen Präparate ins
Internet eingestellt und die Beschreibungen vierteljähr-
lich aktualisiert werden.

Meine Damen und Herren, bei unserem Vorschlag
handelt es sich um eine klar befristete Lösung. Wir möch-
ten keineswegs die lange Tradition erfolgreicher Selbst-
verwaltung gegen Bürokratie und Vorschriften eintau-
schen.

Wir meinen, dass die langfristige Sicherung einer qua-
litativ hochwertigen Arzneimittelversorgung nur durch
Kooperation zu bewerkstelligen ist. Das Festbetrags-An-
passungsgesetz ist deshalb mit einem Verfallsdatum ver-
sehen, nämlich dem 31. Dezember 2003.

Wir brauchen eine ordnungspolitische Weiterentwick-
lung des Arzneimittelsektors, und zwar eine, die weit über
die gegenwärtige Praxis hinausweist. Dazu müssen sich
aber alle Akteure in einer vorurteilsfreien Diskussion zu-
sammenfinden können. Dieser Gesetzentwurf schafft mit
der Übergangslösung einen Zeitpuffer, der diesen Dialog
ermöglicht, zu dem wir alle einladen. Zugleich begründet
er natürlich einen neuen Wettbewerb der Ideen. Die Ziel-
linie ist der 31. Dezember 2003, und die Siegertrophäe ist
eine umfassend abgewogene rechtssichere Lösung, die






(C)



(D)



(A)



(B)


auch die künftige Rechtsprechung zum gegenwärtigen
Festbetragssystem berücksichtigt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein ganz entscheidender Schritt in diese Richtung ist
bereits getan. Mit der Eröffnung des „Runden Tisches zur
Zukunft des Gesundheitswesens“ hat die Bundesregie-
rung ihren Willen zum Dialog dokumentiert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor dem Hintergrund
der Verantwortung, die wir in der Gesundheitspolitik ha-
ben, können wir eine Kostenexplosion in der Arzneimit-
telversorgung nicht zulassen. Deswegen sehe ich zum
vorliegenden Entwurf des Festbetrags-Anpassungsgeset-
zes keine Alternative.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417004000
Damit
schließen wir die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/6041 und 14/6054 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Ich sehe keine anderen Vorschläge. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c
sowie Zusatzpunkt 3 auf:
4 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten

Günter Nooke, Ulrich Adam, Klaus Brähmig, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Konzertierte Förderpolitiken für Ostdeutsch-
land
– Drucksachen 14/3546, 14/4125 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Friedrich Merz, Ulrich Adam, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Deutschland 2015 – Aufbau Ost als Leitbild für
ein modernes Deutschland
– Drucksache 14/6038 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sonderausschuss Maßstäbe-/ Finanzausgleichsgesetz
Haushaltsausschuss

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Angelegenheiten der

neuen Länder (17. Ausschuss) zu der Unterrich-
tung durch die Bundesregierung
Jahresbericht 2000 der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit
– Drucksachen 14/4129, 14/4694 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Schubert
Günter Nooke

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Jürgen Türk, Dr. Karlheinz Guttmacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Offensive für Zukunftsinvestitionen in neuen
Bundesländern starten – Abwanderung stop-
pen – 10-Punkte-Programm für den Aufbau
Ost
– Drucksache 14/6066 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss

Zum Bericht der Bundesregierung zum Stand der deut-
schen Einheit liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der F.D.P. vor, über den wir anschließend abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Das Haus
ist damit einverstanden.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst
für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Günter Nooke.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Das geht ja schon wieder gut los!)



Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1417004100
Herr Präsident! Sehr ge-
ehrte Damen und Herren! Wir reden heute über den Auf-
bau Ost – wieder einmal, könnte man sagen. Aber es ist
notwendig! Nicht neue Konsensgespräche, runde Tische
außerhalb des Parlaments und schon gar nicht Kungel-
runden mit SPD-Ministerpräsidenten werden diesem
Thema und dieser nationalen Herausforderung gerecht.
Das Bündnis für den Aufbau Ost muss der Deutsche Bun-
destag sein, und es wäre sicher gut gewesen, wenn nicht
nur meine Fraktion, die CDU/CSU, und die der F.D.P. hier
konkrete Anträge zum Aufbau Ost vorgelegt hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Doch die Koalitionsfraktionen und die Bundesregie-

rung sind tief zerstritten. Derzeit gibt es ein chaotisches
Durcheinander bei den SPD-Abgeordneten, bei den Grü-
nen und auch bei den Mitgliedern der Bundesregierung.
Die Chefsache Aufbau Ost von Bundeskanzler Gerhard
Schröder beschränkt sich auf gestellte Bilder mit wieder-
entdeckten Cousinen in Thüringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Dr. Carola Reimann
16586


(C)



(D)



(A)



(B)


Das gibt zwar für einen Tag Bilder in den Zeitungen,
hat aber doch den Beigeschmack, dass damit die Men-
schen in den neuen Bundesländern für dumm verkauft
werden. Bitte gehen Sie davon aus, Herr Bundeskanzler,
dass Agitation und Propaganda in den neuen Bundeslän-
dern eine längere Tradition haben als im Westen und des-
halb weniger geachtet und weniger wirksam sind, als Sie
vielleicht meinen.

Wolfgang Thierse, immerhin der Bundestagspräsident,
hat sich in die Debatte mit dem falschen Bild vom Osten,
der auf der Kippe steht, eingemischt. Ich habe es begrüßt,
dass er damit ein wichtiges Thema wie den Aufbau Ost auf
die gesamtdeutsche Tagesordnung gesetzt hat. Er kam
nicht umhin, die von seiner eigenen Partei geführte Bun-
desregierung in massiver Weise zu kritisieren. Allerdings
gibt es seitdem nicht nur im Parlament und in der Regie-
rung, sondern auch in der Öffentlichkeit einen Wirrwarr an
Fakten, Meinungen und unterschiedlichsten Interessen.

Die Chefvolkswirte der deutschen Banken erklären,
warum eine Sonderförderung für den Osten nicht not-
wendig ist. Ich behaupte, sie verfolgen damit vor allem
ein Interesse: keine weiteren Kredite für den Osten. Sie
haben Thierse kritisiert, dass das Bild vom „Osten auf der
Kippe“ nicht stimme. Aber vielleicht sind sie es sogar, die
nicht an den Osten glauben, auch wenn sie es nicht sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vielleicht haben gerade sie davor Angst, dass noch mehr
faule Kredite für den Osten ihnen die Bilanzen verderben.

Dem haben sich einige Sachverständige und Gutachter
angeschlossen, die zuvor noch den Nachholbedarf des
Ostens bei der Infrastruktur mit 300 Milliarden DM be-
zifferten und jetzt im Auftrag der Bundesregierung nur
noch die Hälfte davon ermitteln.

Daneben gibt es Demographen, die die Abwanderung
von jungen, kreativen und flexiblen Menschen aus den
neuen Bundesländern entweder für nicht problematisch
oder sogar für wünschenswert halten. Andere wiederum
meinen, diese Abwanderung sei die größte seit der Völ-
kerwanderung nach dem Dreißigjährigen Krieg. Die ei-
nen schädigen ihren Ruf, die anderen verfolgen eigene In-
teressen. Nur seriöse Politikberatung sehe ich weit und
breit kaum.

Wir befinden uns immer noch in einer Situation, in der
die einen dramatisieren und die anderen die Lage unver-
antwortlich schönreden. Der Zeitpunkt dieser Diskussion
ist natürlich nicht zufällig. Es geht bei den Verhandlungen
von Bund und Ländern im Zusammenhang mit dem
Länderfinanzausgleich und dem Solidarpakt II, der An-
schlussfinanzierung nach 2004, um sehr viel Geld.

Auftragsgutachten hin oder her, natürlich braucht der
Osten noch besondere finanzielle Unterstützung und
natürlich brauchen die von besonders hoher Arbeitslosig-
keit geprägten Regionen in den neuen Bundesländern er-
hebliche Mittel für regionale Entwicklungen und für Auf-
träge, damit kleine und mittelständische Betriebe vor Ort
stabilisiert werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.])


Natürlich brauchen wir auch mehr industrielle Kerne und
Ansiedlung von Großbetrieben, damit die Chance einer
selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung im Osten wenigs-
tens bestehen bleibt.

Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle
reden viel zu viel über Geld und zu wenig über Ziele und
Prioritäten beim Geldausgeben. Wir haben deshalb in un-
serem Antrag „Deutschland 2015 – der Aufbau Ost als
Leitbild für ein modernes Deutschland“ die grundsätzli-
che Richtung der Entwicklung beschrieben. Wir haben
aus ostdeutscher Perspektive konkrete Vorschläge ge-
macht, wo Prioritäten gesetzt werden sollten, was not-
wendig ist und was zu tun wäre, und natürlich auch, wel-
che finanzielle Unterstützung die neuen Bundesländer
noch brauchen, damit Chancengleichheit für die Entwick-
lung in den neuen Ländern besteht.

Als Erstes sage ich hier für die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion ganz klar: Die blühenden Landschaften im
Osten Deutschlands gibt es.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.])


Es ist viel erreicht: zuerst von den Menschen in den neuen
Bundesländern, aber auch mit der Unterstützung vieler,
die aus dem Westen in den Osten kamen, und derjenigen,
die in den alten Bundesländern für den Osten gezahlt ha-
ben. Das Geld ist gut und sinnvoll angelegt.

Wir sollten weiterhin festhalten: Die friedliche Revo-
lution vom Herbst 1989 und die Wiederherstellung der
staatlichen Einheit in Freiheit sind positive Bezugspunkte
für das nationale Selbstbewusstsein aller Deutschen.

Es gibt aber erhebliche Probleme beim Aufbau Ost.
Der Osten steht zwar nicht auf der Kippe, die neuen Län-
der befinden sich jedoch an einer Weggabelung. Wenn die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen so weiter-
machen wie bisher, wird es immer teurer und frustrieren-
der. Heute fehlende Investitionstransfers führen morgen
zu doppelten Sozialtransfers.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Wachstumsrate lag im vergangenen Jahr in Ost-

deutschland bei 1,3 Prozent und in Westdeutschland bei
3,4 Prozent. Die Aufholjagd des Ostens gegenüber dem
Westen hat sich in den letzten zwei Jahren ins Gegenteil
verkehrt; der negative Trend hat sich sogar verstärkt. Die
jetzige Bundesregierung hat dem bisher nichts entgegen-
gesetzt. Sie hat auch kein Konzept erkennen lassen, wie
sie ihm begegnen will. Ich kann mich deshalb des Ein-
drucks nicht erwehren, dass die Bundesregierung im
Osten eine Strategie der „passiven Sanierung“ verfolgt.
Derzeit wandern Arbeitskräfte, die im Westen gebraucht
werden, aus dem Osten ab. Zusätzlich kommen ab 2006
wegen des radikalen Geburtenrückgangs nach dem Zu-
sammenbruch der DDR immer weniger Menschen auf
den ostdeutschen Arbeitsmarkt. Dieser Bundeskanzler,
der sich an der Zahl der Arbeitslosen messen lassen
wollte, bekämpft nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die
Arbeitslosenstatistik.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Günter Nooke

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(D)



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(B)


Unser Leitbild ist ein anderes: Wir halten am Ziel einer
selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung fest und sind
nicht, wie der Bundestagspräsident, der Meinung, dass
Ostdeutschland als Industrieregion keine Chancen hat;
schauen Sie einmal nach Dresden, Leipzig, Jena, Erfurt
und in den Ostteil sowie das Umland Berlins. Natürlich
haben die neuen Bundesländer als Industriestandort sowie
als Standort für moderne Dienstleistungen und für die In-
ternet-Branche eine Zukunft.

Unser Leitbild für den Aufbau Ost ist von einem fö-
deralen Grundansatz geprägt. Elf Jahre nach der Wieder-
herstellung der deutschen Einheit sind Unterschiede zwi-
schen Nord und Süd nicht nur in Westdeutschland,
sondern auch in Ostdeutschland sehr wohl erkennbar.
Gleichermaßen muss man aber feststellen, dass Unter-
schiede zwischen Ost und West bestehen. Diese sind von
einer anderen Qualität: 40 Jahre getrenntes Leben in
unterschiedlichen Gesellschaftssystemen hat die Men-
schen unterschiedlich geprägt und die Wirtschaft sowie
die Infrastruktur unterschiedlich zur Entfaltung kommen
lassen. Das kann in elf Jahren nicht aufgeholt werden.

Der Verweis auf 16 Bundesländer mit unterschiedlichen
Prägungen und Entwicklungen darf aber nicht dazu führen,
dass das Thema Aufbau Ost von der Tagesordnung genom-
men wird. Wir fragen in unserem Antrag, wo Deutschland
2015 stehen soll, und erkennen an, dass der Weg dorthin
zwischen den alten und den neuen Bundesländern unter-
schiedlich sein wird. Wir werden feststellen müssen, dass
auch der Weg für Mecklenburg-Vorpommern, für Berlin
und für Sachsen unterschiedlich sein wird. Wir wollen, dass
jedes Bundesland – auch die östlichen – dazu seinen Bei-
trag leistet, die gesellschaftlichen Grundtrends erkennt und
sie für die eigenen Entwicklungen nutzt. Es geht darum,
nicht über die eigenen Schwächen zu jammern, sondern die
eigenen Stärken zu nutzen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christoph Matschie [SPD]: Billige Rede!)


Eine einseitige Orientierung auf die Angleichung der
Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse der östlichen an die
westlichen Bundesländer ist der falsche Maßstab. Es ist
frustrierend und führt zur Resignation, wenn der Osten
dem Westen auf ausgefahrenen Wegen hinterher hechelt.
Natürlich wollen auch wir mehr Wachstum in den neuen
Bundesländern. Das Ziel muss aber die Modernisierung
Deutschlands sein. Es kann nicht darum gehen, Struktu-
ren, die in den alten Bundesländern auch 1990 schon als
modernisierungsbedürftig angesehen wurden, weiter auf
die neuen Bundesländer zu übertragen. Für den Osten
kann es nicht gut sein, ausgefahrene Gleise in der Bil-
dungs- und Arbeitsmarktpolitik einfach weiter zu befah-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417004200
Herr Kol-
lege Nooke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Kaspereit?


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1417004300
Frau Kaspereit, Sie kön-
nen gleich fragen. – Die neuen Bundesländer sollten sich

nach unserer Auffassung nicht in jedem Einzelbereich an
der alten Bundesrepublik orientieren und sie zum Leitbild
nehmen. Für uns ist der Aufbau Ost kein Nachbau West.
Deutschland 2015 ist für uns genau dann eine Vision,
wenn östliche und westliche Bundesländer ihren jeweils
eigenen Weg dorthin finden können.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Sabine Kaspereit (SPD):
Rede ID: ID1417004400
Herr Kollege Nooke, ich
habe Sie gerne ausreden lassen. – Ich habe in Ihrem An-
trag eine – und zwar nur eine – konkrete Aussage gefun-
den. Es besteht darin aber ein erheblicher Widerspruch:
Auf der einen Seite fordern Sie die Öffnung von Tarifver-
trägen in der Wirtschaft und stellen damit auch die Tarif-
verträge in den alten Bundesländern in Frage, indem Sie
von einem Vorbild für den Westen sprechen. Auf der an-
deren Seite wollen Sie den Bundesbediensteten die An-
gleichung auf 100 Prozent des Westgehalts ermöglichen,
und zwar relativ schnell.

In diesem Zusammenhang habe ich folgende Fragen:
Wie hoch veranschlagen Sie die Kosten? Wie soll das
Geld dafür aufgebracht werden? Meines Erachtens gibt es
vier Möglichkeiten: Anhebung der Staatsverschuldung,
höhere Transfers aus dem Westen in den Osten für kon-
sumptive Zwecke, Verzicht auf Wirtschaftsförderung
oder auf andere freiwillige Leistungen oder Personalab-
bau. Wie stellen Sie sich also konkret diese Finanzierung
vor und wie wollen Sie sie politisch vertreten?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1417004500
Frau Kollegin Kaspereit,
wir haben vorgeschlagen, ab dem Jahr 2003 die Anglei-
chung der Löhne und Gehälter in Zwei-Prozent-Schritten
auf 100 Prozent bis zum Jahr 2007 auf Bundesebene
herbeizuführen. Das kostet nach Schätzungen des Bun-
desinnenministers am Ende ungefähr 780 Millionen DM.
Es ist richtig, dass wir vorgeschlagen haben, dass es für
Berufseinsteiger in den Bundesbehörden heute schon den
gleichen Lohn geben sollte. Es kann doch nicht richtig
sein, dass mitten in Berlin elf Jahre nach Wiederherstel-
lung der deutschen Einheit beim Innenminister in Moabit
Westlöhne und beim Bauminister in der Invalidenstraße
nur Ostlöhne gezahlt werden.


(Zuruf von der F.D.P.: Richtig!)

Weil wir wissen, dass dies in den neuen Bundesländern

nicht ohne weiteres bezahlbar ist, haben wir in dem An-
trag konsistenterweise geschrieben – ich muss sagen, dass
Sie ihn doch nicht ganz richtig gelesen haben –: Öff-
nungsklauseln sollten ein Abweichen von der Stufenrege-
lung auf Bundesebene erlauben. – Dass aber für Bundes-
bedienstete ungleiche Verhältnisse bestehen, ist nicht
richtig. Wir wollen dem Innenminister die Hintertür ver-
schließen, sein Nichthandeln damit zu begründen, dass
die Länder nicht mehr Gehalt zahlen können. Diese Auf-
fassung kann nicht richtig sein.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sabine Kaspereit [SPD]: Das ist abenteuerlich, Herr Kollege! – Weiterer Zuruf von der SPD: Frage nicht beantwortet!)





Günter Nooke
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– Was das kostet, haben Ihre Kollegen in den Ländern
doch gesagt! Herr Timm aus Mecklenburg-Vorpommern
hat sich unserer Auffassung angeschlossen und fordert das
Gleiche wie wir. Sie müssen diese Unstimmigkeit inner-
halb der SPD selbst regeln. Ich habe ebenfalls gesagt, dass
ich damit einverstanden bin, wenn Sachsen eigene Wege
geht.

Wir haben in unserem Antrag konkrete Punkte und
grundsätzliche Aussagen zu verschiedenen Politikberei-
chen gemacht. Einen Punkt habe ich gerade genannt. Es
geht bei der Wirtschaftspolitik natürlich um Ansiedlung in
den neuen Bundesländern. Nur mit innovativen Produk-
ten kann Ostdeutschland neue Absatzmärkte erobern. Das
heißt auch, Kooperationsstrukturen zwischen Wirtschaft,
Forschungseinrichtungen und Universitäten sind herzu-
stellen. Überregulierungen sind abzubauen.


(Christoph Matschie [SPD]: Das hat doch einen Bart, was Sie da erzählen!)


Überflüssige Verwaltungsvorschriften, die irgendwann in
der alten Bundesrepublik in den 60er- und 70er-Jahren
Sinn machten, können heute und morgen im Osten kon-
traproduktiv sein. Das gilt auch, wenn die Bundesregie-
rung jetzt das Betriebsverfassungsgesetz mittelstands-
feindlich verschärft.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei unsinnigen Baustandards brauchen wir Öffnungs-
klauseln. In ostdeutschen Kindergärten kann zum Bei-
spiel der Abstand der Kleiderhaken selbst bestimmt wer-
den.

Zuerst geht es um eine bessere Verkehrsinfrastruktur
und um den Straßenbau in Ostdeutschland. Es geht auch
um die Verbesserung der wirtschaftsnahen Infrastruktur.
Im Sinne der Vorschläge des Sprechers der ostdeutschen
Ministerpräsidentenkonferenz, Bernhard Vogel, fordern
wir eine Infrastrukturpauschale, die für den Bau kommu-
naler Verkehrsanlagen, für Schulen, Bildungseinrichtun-
gen und Umweltschutzprojekte wie Abwasserkanäle und
Kläranlagen bereitgestellt wird. Es ist besser, jetzt einen
Teil davon in Angriff zu nehmen, als wenn es erst in fünf
oder zehn Jahren geschieht. Insofern ist die Forderung
von Ministerpräsident Vogel nach einem Sonderpro-
gramm Ost voll gerechtfertigt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Joachim Poß [SPD]: Ihr müsst nur die 40 Milliarden finanzieren können, die er vorschlägt!)


– Ich habe keine 40 Milliarden gefordert. Aber da Sie da-
zwischenrufen, muss ich Ihnen sagen: Sie sind doch nur
neidisch, dass Herr Vogel das vorgeschlagen hat.


(Lachen bei der SPD)

Der Bundeskanzler kann jetzt im Wahljahr nicht mehr
durch die Lande ziehen und sagen, das sei seine Idee ge-
wesen. Wir haben Ihnen die Tür verschlossen, mit billigen
Wahlgeschenken in Höhe von 1 oder 2 Milliarden DM
den Osten wieder vorzuführen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben den Finger in die Wunde gelegt. Sie haben bis-
lang nichts getan. Das Verabreichen von Placebos im
Wahljahr lassen wir Ihnen nicht durchgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir haben mit unserem Antrag – das will ich noch ein-
mal betonen – nicht nur Forderungen aufgeschrieben,
schon gar nicht nur solche, die Geld kosten. Wir haben
auch an das Selbstbewusstsein der Menschen in den
neuen Bundesländern appelliert, die zum Beispiel in
Sachsen und Thüringen im Bildungsbereich eigene Wege
gegangen sind, die auf dieses moderne Deutschland im
Jahre 2015 hindeuten. Ich nenne zum Beispiel das Abitur
nach zwölf Jahren oder die verstärkte Ausbildung im
Technik- und Naturwissenschaftsbereich.

Wir wollen mit diesem Antrag auch Schritte zur Re-
form des Föderalismus einleiten. Die Leitideen für die
Gestaltung föderaler Beziehungen in Deutschland sollten
Eigenständigkeit, klare Verantwortlichkeit und Transpa-
renz sein. Ziel muss es sein, die Handlungsfähigkeit aller
politischen Ebenen zu stärken. Wir brauchen in Bund und
Ländern effizientere Entscheidungsstrukturen. Der Bund
könnte Flexibilisierungsgesetze erlassen, die es den alten
wie den neuen Bundesländern erlauben, bei der Erfüllung
von Aufgaben im eigenen Wirkungskreis von bundes-
staatlichen Standards abzuweichen, wenn die ordnungs-
gemäße Aufgabenerfüllung gewährleistet ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen, dass Anreize geschaffen werden, damit

Fähigkeiten und eigene Potenziale ausgeschöpft werden.
Sowohl das Handeln als auch das Nichthandeln müssen
Folgen haben. Die Verantwortung für Erfolg und Miss-
erfolg soll durchaus auch im Hinblick auf die Bundeslän-
der den politisch Verantwortlichen zugerechnet werden.
Was die Bundesebene angeht, haben wir zum Beispiel
vorgeschlagen, sich beim Wohnungsbau zurückzuneh-
men, den Ländern Geld zur Verfügung zu stellen, damit
sie eigene Konzepte umsetzen können.


(Zurufe von der SPD: Das ist doch generell so!)


– Wollen wir noch extra über den Wohnungsbau reden?
Derzeit stellen Sie für den Osten kein Geld zur Verfügung.
Herr Eichel sitzt auf dem Geld und Herr Schwanitz hält
ihm den Rücken frei.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist eine dünne Suppe, die Sie hier kochen!)


Der Aufbau Ost – das will ich abschließend sagen –
kann nach unserer Meinung nicht allein dadurch voran-
kommen, dass sich die ostdeutschen Ministerpräsidenten
im Kanzleramt treffen. Wenn diese Kungelrunde auch
noch Beschlüsse über die Höhe des Solidarpaktes II fasst,
Herr Bundeskanzler – und zwar in einer Art und Weise,
die weit hinter dem zurückbleibt, was CDU- und SPD-
Ministerpräsidenten gemeinsam gefordert haben –,


(Joachim Poß [SPD]: Was?)





Günter Nooke

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(A)



(B)


dann ist das dreist und dumm zugleich. Dafür spricht auch
die Ignoranz gegenüber den demokratischen Institutionen
in unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU – Marion CaspersMerk [SPD]: Herr Nooke, was hätten Sie denn gern? – Joachim Poß [SPD]: Sie sollten mal lieber mit den Ministerpräsidenten der süddeutschen Länder sprechen!)


Ich fordere die Bundesregierung und die Koalitions-
fraktionen auf, sich unserem Antrag anzuschließen und
heute im Deutschen Bundestag gemeinsam mit uns für
den Aufbau Ost zu streiten. Wir brauchen für den Aufbau
Ost keinen runden Tisch, schon gar nicht mit halber Be-
setzung im Kanzleramt; wir brauchen nur die Zusammen-
arbeit der Vernünftigen in diesem Hause.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das war aber eine lasche Nummer!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417004600
Ich erteile
das Wort dem Staatsminister im Kanzleramt, dem Kolle-
gen Rolf Schwanitz.


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1417004700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
In der vergangenen Woche, fast zur gleichen Uhrzeit wie
heute, hat hier eine Debatte über das Maßstäbegesetz
stattgefunden. In dieser Debatte gab es eine Situation – die
Redner haben das nicht wahrgenommen, zumindest ha-
ben sie in ihren Reden darauf keinen Bezug genommen –,
die mich persönlich sehr nachdenklich gemacht hat. Für
die Zuschauer an den Bildschirmen muss man Folgendes
sagen: Im Maßstäbegesetz sollen die Rahmenbedingun-
gen für den neuen Länderfinanzausgleich – es geht um die
Regelung der Hilfen für die neuen Bundesländer für die
Zeit nach 2004 – festgelegt werden.

Der amtierende Präsident hat kurz die Debatte unter-
brochen, um eine Parlamentsdelegation aus Litauen zu be-
grüßen. Die Situation war ganz eigentümlich: Wir, die an-
wesenden Parlamentarier, befanden uns in einer
emotionalen Debatte, in der wir darum rangen, wie es nach
2004 weitergeht. Eine wichtige Forderung war, dass die
Hilfen für die neuen Bundesländer zehn Jahre nach 2004
fortgeführt werden. Der Ministerpräsident von Thüringen
wies darauf hin – was ich gar nicht kritisieren will –, dass
die ostdeutschen Länder im Jahre 2005 16 Jahre lang das-
jenige Gebiet in Europa gewesen sein würden, das am mei-
sten gefördert worden sei, woran sich nichts ändern dürfe.
Und auf der Besuchertribüne schauten uns sehr interes-
sierte, nachdenkliche und aufmerksame Gesichter zu.

Mein Fazit dieser Situation sah so aus: Trotz aller Kon-
troversen in unseren Debatten und trotz all unseres
Schlagabtauschs – manchmal in einer Grobschlächtigkeit,
die ich nicht kommentieren will – müssen wir immer wie-
der überprüfen, ob die Maßstäbe, die wir persönlich in der
politischen Auseinandersetzung anlegen, auch von ande-
ren an solche Debatten angelegt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Ministerpräsidenten der neuen Länder haben vor
kurzem auf einer Ministerpräsidentenkonferenz erklärt:
Es ist in den letzten zehn, elf Jahren sehr viel passiert in
den neuen Bundesländern, der Aufbau Ost gelingt. Ich
sage ausdrücklich: Die Bundesregierung teilt diese Ein-
schätzung. Ich füge hinzu: Das, was wir in den letzten
zweieinhalb Jahren geschaffen haben, kann sich sehen
lassen. „Wir“ setze ich nicht nur synonym mit dem, was
die Bundesregierung getan hat, sondern das ist natürlich
eine Gemeinschaftsleistung: der Verwaltungen, der Re-
gierungen der neuen Länder, auch der kommunalpoliti-
schen Ebenen und vor allen Dingen derer, die die Arbeit
in den Unternehmungen, in den Betrieben vor Ort zu leis-
ten haben.

Das ist eine stolze Entwicklung, die man übrigens auch
quantifizieren kann. Die für mich persönlich – jeder mag
da andere Kennzahlen haben – ganz wichtigen drei Para-
meter sind das Wachstum beim Bruttoinlandsprodukt, die
Arbeitslosenzahlen – vor allen Dingen übrigens die der
Unterbeschäftigung; denn bei denen, die am ersten Ar-
beitsmarkt nicht unterkommen, liegt ja das eigentliche
Problem – und die Größe der Ausbildungsplatzlücke, also
die Anzahl jener Jugendlichen, die am 30. September ei-
nes jeden Jahres noch nicht in feste Ausbildungsverhält-
nisse gekommen sind. Bei allen drei Parametern lagen wir
in den Jahren 1999 und 2000 besser als im Jahr 1998, dem
letzten Jahr Ihrer Regierungsverantwortung, und wir wer-
den auch in diesem Jahr besser liegen.

Ich will ausdrücklich sagen: Es ist richtig, wir haben in
der Tat noch keine Situation wie in den alten Bundeslän-
dern. Wir haben beim Bruttoinlandsprodukt nicht die
Wachstumsraten, wir haben gesamtwirtschaftlich gesehen
andere Wachstumsgeschwindigkeiten,


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Weil ihr regiert!)


wir haben noch nicht westdeutsche Verhältnisse. Wir ha-
ben besondere strukturelle Probleme in den neuen Bun-
desländern, die natürlich durchschlagen und die sich auch
in den Bilanzen, insbesondere wenn man die Summen an-
schaut, niederschlagen. Aber ob Politik sich hinstellen und
so tun darf – Herr Nooke, Sie haben das gerade noch ein-
mal getan –, als könne man ein wie auch immer geartetes
staatliches Sonderprogramm generieren, durch das dieser
Unterschied zwischen Ost und West innerhalb von zwei
Jahren ausgeglichen werden könne, das darf auf seine Red-
lichkeit hin sehr wohl kritisch hinterfragt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417004800
Herr Kol-
lege Schwanitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab-
geordneten Türk?


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1417004900

Nein, ich möchte gern im Zusammenhang vortragen.

Meine Damen und Herren, man muss das Bild diffe-
renziert analysieren. Das, was grobschlächtig immer mit
dem schönen Bild der „Schere zwischen Ost und West“




Günter Nooke
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(C)



(D)



(A)



(B)


beschrieben wird, wird der differenzierten Entwicklung
in den neuen Bundesländern nicht gerecht. Auf der einen
Seite hat das Wachstum im verarbeitenden Gewerbe eine
ganz erfreuliche Entwicklung genommen. Im letzten Jahr
hatten wir bei der Produktion einen Zuwachs von 13 Pro-
zent, völlig anders übrigens als Anfang und Mitte der
90er-Jahre, als Sie herumgelaufen sind und gesagt haben,
wir seien im Osten die Wachstumsregion Nummer eins.
Damals kam das Wachstum ausschließlich aus der Bau-
branche. Jetzt ist die Industrie der Wachstumsmotor der
neuen Bundesländer geworden mit 13 Prozent Steigerung
des Produktionswachstums.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Beim überregionalen Absatz, beim Export, haben wir
einen Zuwachs von sage und schreibe 28 Prozent.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich erinnere mich noch an das letzte Frühjahr, als Sie von
der Opposition hier eine Debatte losgetreten haben: Der
Osten würde vom Exportboom abgekoppelt. 28 Prozent
Zuwachs innerhalb eines Jahres sind eine stolze Leistung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn das Ifo-Institut gestern beispielsweise feststellte,
„die Auslastung der westdeutschen Industrie ist rückläu-
fig“, freut mich das nicht. Man sollte sich nicht freuen,
wenn im Westen ein Rückgang zu verzeichnen ist. Doch
gleichzeitig steht da, der ostdeutschen Industrie gehe es
besser. Ich zitiere:

Die ostdeutsche Industrie dürfte auch in diesem Jahr
die Rolle des Konjunkturmotors übernehmen. Einer
Studie zufolge ist die gestiegene Wettbewerbsfähig-
keit der Unternehmen auch in den internationalen
Märkten wirksam geworden.

Darüber können wir uns alle freuen, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ursache für die unterschiedlichen Wachstumsge-
schwindigkeiten ist vor allen Dingen die Situation der ost-
deutschen Bauwirtschaft. Da gibt es nichts darum herum
zu reden.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Die kann man doch ändern!)


Das hat übrigens auch eine förderpolitische Geschichte.
Es sind entsprechende Kulissen aufgebaut worden und es
gibt schmerzliche Überkapazitäten.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Das ist doch eine Ausrede!)


Deswegen finde ich es intellektuell unredlich, so zu tun,
als gäbe es diesen strukturellen Anpassungsprozess nicht.
Ohne die ostdeutsche Bauwirtschaft haben wir bei den
Leistungsparametern der ostdeutschen Branchen ein
Wachstum von 3,1 Prozent.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Ja, ja, es ist alles in Ordnung!)


Das ist in etwa vergleichbar mit der westdeutschen Situa-
tion. Damit wird klar, welche Wirkung die schwierige An-
passungssituation in der ostdeutschen Baubranche ge-
samtwirtschaftlich, auch am Arbeitsmarkt, in den neuen
Bundesländern hat.

Der Strukturwandel ist in vollem Gange. Staatlichkeit
kann diesen Anpassungsprozess nicht mit einem beson-
deren programmatischen Zauberstab auf wenige Jahre
verkürzen. Er sollte auch nicht in die Zukunft verschoben
werden; denn das wäre ein Beladen der Zukunft der neuen
Bundesländer mit nicht ausgestandenen Problemen der
Gegenwart. Auch dazu kann ich nicht raten.

Deswegen von meiner Seite noch einmal ein ganz klares
Signal: Die Debatte über diesen besonderen Impuls, von
dem Sie sich versprechen, damit innerhalb von zwei Jahren
westdeutsche Verhältnisse zu erlangen, vernebelt die ei-
gene strukturelle Situation in den neuen Bundesländern


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


– Sie können ja nachher dazu noch etwas sagen –, knüpft
an vormundschaftliche Vorstellungen von Politik und
Staatlichkeit an, als könne der Staat über solche ökono-
mischen Entwicklungsprozesse hinwegzaubern, und – ich
finde, auch das sollte man einmal aussprechen – gefähr-
det den Wunsch nach und die Dauerhaftigkeit von Soli-
darität.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Das kann man wohl sagen!)


Denn es kann nicht nur nach den ostdeutschen Wünschen
gehen; es muss auch nach der Akzeptanz solcher Pro-
gramme in den alten Bundesländern gehen. Solidarität ist
ein Konto, das man nicht nur einseitig überziehen darf,
sondern das auch gepflegt werden muss und bei dem man
um Akzeptanz, Unterstützung und Hilfe nachsuchen
muss. Das ist ein wichtiger Punkt. Deswegen ist dieser
Wettlauf um das schwerste Milliardenprogramm für eine
solidarische Unterstützung der neuen Bundesländer in
den nächsten Jahren schädlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gibt allen Grund, stolz auf das zu sein, was die Men-
schen in den letzten Jahren geschaffen haben. Es war rich-
tig, dass wir die bundespolitischen Instrumente der För-
derpolitik nach dem Regierungswechsel neu ausgerichtet
haben – der Etat des Bundeswirtschaftsministers und der
Forschungsetat von Frau Bulmahn haben eindeutig eine
klare Technologieorientierung erfahren –, dass wir auch
regionalpolitisch Maßnahmen ergriffen haben, indem wir
dort die Förderkonzepte ausgebaut haben und mit Inno-
Regio in 25 Modellregionen einen Schritt tun, der in den
acht Jahren Ihrer Regierungstätigkeit nicht getan worden
ist, und dass wir dies mit den zusätzlichen Hilfen aus den
UMTS-Lizenzeinnahmen noch verstärken und dadurch in
den nächsten Jahren Wachstumskerne entwickeln werden.
Auch das ist ein richtiger Schritt innerhalb der neuen
Konzeption der Bundesregierung. Andere werden sicher-
lich noch einiges dazu sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Staatsminister Rolf Schwanitz

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(C)



(D)



(A)



(B)


Innerhalb des Infrastrukturausbaus dürften die Prio-
ritäten eigentlich nicht streitig sein – jedenfalls nicht jen-
seits Ihrer Vorstellung, in den Kassen noch Gelder zu fin-
den, um milliardenschwere Programme zu finanzieren.
Wir haben eine Schwerpunktsetzung beim Straßenaus-
bau. 60 Prozent aller Straßeninvestitionen in der Zustän-
digkeit des Bundes erfolgen in den neuen Bundesländern.
Das gilt auch für die Schiene, bei der die Investitionen
knapp darunter liegen; und bei den Wasserstraßen sieht es
nicht anders aus. Damit werden die Prioritäten sehr deut-
lich zugunsten der neuen Länder gesetzt. Dafür müssen
wir uns nicht verstecken. Aber dafür zu werben, dass dies
auch gesamtgesellschaftlich akzeptiert wird, ist eine
schwere Aufgabe, die gewürdigt werden sollte.


(Beifall bei der SPD)

Wir wollen bei dem Thema Stadtumbau nicht die Stra-

tegie verfolgen, die ich acht Jahre lang erlebt habe, als ich
noch in der Opposition gesessen habe, nämlich so zu tun,
als sei das eine Angelegenheit ausschließlich der Länder
und der Kommunen.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Da haben Sie noch ganz anders geredet!)


Wir gehen das Thema Stadterneuerung grundsätzlich an.
Wir haben im letzten Herbst eine Altschuldenhilfegesetz-
gebung gemacht, die dem Bund in den nächsten zehn Jah-
ren 700Millionen DM zur Altschuldenhilfe für vom Leer-
stand bedrohte Unternehmungen abverlangen wird. Es ist
wichtig und richtig, dass wir dies tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind dabei, das Wohnungsbauförderrecht, den so-
zialen Wohnungsbau zu ändern. Wir müssen auch – das
will ich klar sagen – im Bereich der Hilfe für die Stadter-
neuerung zusätzliche Impulse geben,


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Dann machen Sie es doch!)


wenn wir diesen Weg gehen wollen. Wir sind fest dazu
entschlossen.

Herr Nooke, Sie haben in Ihrem Antrag – vorhin in der
Debatte tauchte das noch einmal auf – von einem neuen
Leitbild und von einer Weggabelung gesprochen, an der
man stehe. Wenn irgendjemand ein neues Leitbild oder
eine Weggabelung braucht, dann sind Sie es mit Ihrer Op-
positionspolitik, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD)

Ich meine das übrigens sehr ernst. Sie stehen vor der
Wahl, ob man in den nächsten Jahren aus einem puren ost-
deutschen Populismus – beim Lohn haben wir das vorhin
gesagt – beim öffentlichen Dienst einen ungedeckten
Scheck, den andere in der Kommune zu bezahlen haben,
rüberreicht und bei den Arbeitnehmern in den Betrieben
sagt, da mögen sich die Westdeutschen, bitte schön, an
den Zustand der ostdeutschen Tariflosigkeit gewöhnen.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt!)


Das ist purer Ostpopulismus, der hier zum Ausdruck
kommt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ihr Antrag ist ja noch einmal verändert worden, Herr
Nooke. Das Thema Freizügigkeitsregelung quasi zwangs-
weise durch die Fraktion verändert zu bekommen ist sehr
interessant. Ich habe schon gelesen, dass Sie Übergangs-
regelungen mit begrenzter Freizügigkeit für die EU-
Osterweiterung ursprünglich nur in den Grenzregionen
des Ostens wollten und dann in der Fraktion entschieden
worden ist: Nein, wir brauchen sie für Ostdeutschland
insgesamt.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das ist völliger Unfug!)


Dass Sie das als ostdeutscher Abgeordneter nicht erkannt
haben, zeigt, wie wenig Problembewusstsein Sie in der
Wahrnehmung der Situation in den neuen Bundesländern
haben.


(Beifall bei der SPD – Günter Nooke [CDU/ CSU]: Völliger Unfug! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Quatsch!)


Wir stehen in der Tat vor schweren, aber, wie ich finde,
auch vor lohnenswerten Debatten über die Situation und
den weiteren Weg. In einem Punkt – die Debatte ist nicht
beendet – sollten wir sie gemeinsam führen – dazu lade
ich Sie herzlich ein –: in dem Punkt, dass das eine Gene-
rationenaufgabe ist, dass wir dazu die Kraft und die Aus-
dauer sowie die Hilfe dafür – da bin ich nicht anderer Mei-
nung als Sie –, auch im Interesse der alten Bundesländer,
aufgrund deren Interessenlage aufbringen müssen.

Dazu gehören aber auch andere Themen. Ich reiße zum
Schluss noch einmal eines an. Wir haben auch große re-
gionale Unterschiede in den alten Bundesländern, die
bisher in unserer Wahrnehmung keine Rolle gespielt ha-
ben. Dass beispielsweise der Einwohner in Rheinland-
Pfalz im Verhältnis zu dem Einwohner in Hessen im
Durchschnitt ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von
70 bis 73 Prozent erwirtschaftet, ohne dass sich der
Rheinland-Pfälzer als Bürger zweiter Klasse fühlt, ist et-
was, worüber wir reden müssen. Das hat bisher in der De-
batte keine Rolle gespielt. Es gibt also konfliktbeladene
Themen, über die öffentlich zu sprechen sich lohnt.

Meine Damen und Herren, wenn Sie sich bei dieser
Weggabelung als Fraktion und ostdeutsche CDU-Abge-
ordnete vor einer Entscheidungssituation sehen, dann
freut mich das. Wenn Sie den Weg für die richtige
Entscheidung finden, dann fände ich das ganz toll. So
verstehe ich Ihren Antrag und so sollten Sie sich auch be-
wegen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Günter Nooke [CDU/CSU]: So sollte sich die Bundesregierung bewegen!)





Staatsminister Rolf Schwanitz
16592


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417005000
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Angela
Merkel.


Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1417005100
Herr Staatsminister,
wenn Sie in Ihrer Rede sagen, Sie sind fest dazu ent-
schlossen, dann muss ich Sie fragen: Was haben Sie ei-
gentlich die ersten zweieinhalb Jahre Ihrer Regierungszeit
gemacht? Das ist die Frage, an der wir Sie messen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich muss Ihnen ganz einfach sagen: Die Menschen in
den neuen Bundesländern schauen, ob da, wo der Staat et-
was tun kann, ganz bewusst für sie Entscheidungen in
eine richtige Richtung getroffen werden.


(Zuruf von der SPD: Genau das machen wir!)

Da kann ich nur sagen: Der A3XX wird in Hamburg ge-
baut. Und das letzte Wort des niedersächsischen Minis-
terpräsidenten Schröder war, das sei auch besser so, denn
da könnten die Pendler aus Niedersachsen besser hin-
kommen als nach Mecklenburg-Vorpommern. Das mer-
ken sich die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern.

Der Transrapid wird wahrscheinlich gar nicht gebaut.
Und wenn er in Deutschland gebaut wird, dann entweder
in Bayern oder im Ruhrgebiet. Das merken sich die Men-
schen in den neuen Bundesländern.

Wenn Herr Scharping in seinem Ressort kürzt, dann
muss ich Ihnen ehrlich sagen: Ich habe es nicht für mög-
lich gehalten, dass der Ort, an dem das Zusammenwach-
sen der Bundeswehr geradezu symbolisch stattgefunden
hat – in Eggesin –, von den Kürzungen am stärksten be-
troffen ist.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Er wird platt gemacht!)


Es fehlen Symbole. An solchen Symbolen könnte man
erkennen, dass für die Bundesregierung der Aufbau Ost
Priorität hat.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Da hat sie Recht!)

Sie sagen, dass die Situation der Bauindustrie sehr

schlecht ist. Natürlich ist das so. Aber warum hat der Bun-
deskanzler Holzmann zu retten versucht und sich über-
haupt nicht um den ostdeutschen Mittelstand gekümmert?
Das ist die Frage, die wir stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Sabine Kaspereit [SPD]: Wie viele Subunternehmer hat Holzmann im Osten?)


Herr Schwanitz, Sie versuchen hier, den Eindruck von
Sachinteresse zu erwecken. Sie sollten einmal unseren
Antrag lesen. Wir haben von einem Leitbild 2015 gespro-
chen. Wir haben nicht gesagt: „Der Osten steht auf der
Kippe“, sondern wir haben gesagt: Wir sind an einer Weg-
gabelung und brauchen eine neue Anstrengung und Öff-
nungsklauseln für die einzelnen Bundesländer, damit die
dort bestehende Unterschiedlichkeit gelebt werden kann.
Ein solches Vorgehen entsprach noch nie sozialdemokra-

tischem Denken – außer in Ansätzen; aber da werden Sie
sich nicht durchsetzen.

Lieber Herr Schwanitz, sprechen Sie doch einmal da-
rüber, dass das Abitur in Thüringen und Sachsen innerhalb
von zwölf Jahren gemacht werden kann. Auch Ihr Wirt-
schaftsminister sagt, dass er dies prima findet. Es gibt aber
kein einziges SPD-regiertes Land, das eine ernsthafte An-
strengung, das Abitur nach zwölf Jahren zu ermöglichen,
unternimmt.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist nicht wahr! Glatte Lüge!)


Die Menschen in Sachsen und Thüringen würden stolz
sein und ganz Deutschland würde etwas davon haben,
wenn Sie darauf hinweisen würden. Das hätte ich heute
von Ihnen erwartet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417005200
Zur Erwi-
derung, Herr Staatsminister Schwanitz. – Danach gebe ich
der Kollegin Christa Luft zu einer weiteren Kurzinterven-
tion das Wort.


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1417005300

Frau Kollegin Merkel, Sie haben noch einmal Ihren An-
trag ins Gespräch gebracht. Ich will ausdrücklich feststel-
len: Eine Diskussion über ein Leitbild ist in Ordnung.
Aber dann sollten Sie auch eines vorlegen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Das, was Sie in Ihren Antrag hineingepackt haben, sind
Allgemeinplätze gröbster Art. Große Teile, die Sie in die-
sem Antrag ansprechen, betreffen allein die föderale Zu-
ständigkeit; mit dem Abitur haben Sie gerade ein solches
Thema angesprochen. Er ist also nahezu substanzlos, was
bundespolitische Zuständigkeiten betrifft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Sie den Mut haben, in der Überschrift dieses An-
trages von einem Leitbild 2015 zu sprechen, dann sollten
Sie das in Ihren eigenen Reihen klären. Ich finde das sehr
gewagt, um es einmal vorsichtig auszudrücken.


(Joachim Poß [SPD]: Es ist ein Zeichen ihrer Verzweiflung, wenn man als Parteivorsitzende eine Kurzintervention macht!)


Ich habe folgende herzliche Bitte: Wenn wir es ernst
damit meinen, dass in Ostdeutschland eine Generationen-
aufgabe vor uns liegt, zu deren Lösung in beiden Teilen
des Landes noch schwere Lasten geschultert werden müs-
sen, dann sollten wir mit solchen Diffamierungsstrategien
und damit aufhören, dieses Thema auf Stammtischniveau
zu behandeln. Das haben Sie hier aber leider getan.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417005400
Frau Kolle-
gin Luft, bitte schön.






(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1417005500
Herr Staatsminister, ich
stimme Ihnen völlig zu, wenn Sie sagen, innerhalb von
zweieinhalb bzw. drei Jahren könne eine neue Regierung
nicht all das verändern, was sie vorgefunden hat. Das ist
völlig klar. Aber was mich wundert, ist, dass man inner-
halb von zweieinhalb bzw. drei Jahren seine Position zu
den bestehenden Sachverhalten so ändert, wie Sie das ge-
tan haben. Ich sehe und höre Sie immer noch, wie Sie da-
mals von der Oppositionsbank aus die Situation in den
neuen Bundesländern beurteilt haben. Heute schätzen Sie
sie ganz anders ein. Das wundert einen natürlich schon.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Ich möchte Folgendes feststellen: Wir haben in Ost-

deutschland einen Anteil an der gesamtdeutschen Wohn-
bevölkerung von etwa 18 Prozent, aber einen Anteil an den
gesamtdeutschen Arbeitslosen von mehr als 33 Prozent.
Dies ist ein erstes großes Problem. Dazu haben Sie nicht
ein Wort gesagt. Sie haben kein Wort dazu gesagt, was Sie
den arbeitslosen Menschen in den neuen Bundesländern
– die nicht alle „Faulenzer“ sind, wenn ich das richtig
sehe –, ausgehend von dieser Debatte, anzubieten haben.

Bei einem 18-prozentigen Anteil an der gesamtdeut-
schen Wohnbevölkerung haben wir trotz der Wachstums-
raten, die Sie hier lobend erwähnt haben, einen 11-prozen-
tigen Anteil an der Erzeugung des Bruttoinlandsprodukts,
einen 7-prozentigen Anteil an der Industrieproduktion des
ganzen Landes, einen 3,6-prozentigen Anteil am Export
und einen etwa 5 Prozent hohen Anteil am Forschungs-
potenzial.

Wenn man diese Zahlen analysiert, sieht man, wo die
eindeutigen Schwerpunkte und wo die Schwachstellen
liegen, nämlich nach wie vor im verarbeitenden Gewerbe,
im Export und beim Forschungs- und Entwicklungs-
potenzial. Dort ist anzusetzen, wenn es in den neuen Bun-
desländern zu einem sich selbst tragenden Aufschwung,
wie Sie das nennen, kommen soll, damit die Menschen,
die dort leben und arbeiten, ihr Geld mit ihren eigenen
Händen verdienen können und nicht auf Alimente ange-
wiesen sind.


(Beifall bei der PDS)

Seit 1998 hat sich – leider, so muss ich sagen; dabei

darf man nicht übersehen, dass sich bestimmte Dinge zum
Positiven verändert haben – an der Produktionslücke
nichts verändert. Nach wie vor werden im Osten Güter
und Leistungen im Wert von 200 Milliarden DM mehr
verbraucht, als dort produziert werden – aber nicht des-
halb, weil die Leute dort nicht bereit wären, die Ärmel
aufzukrempeln. Von dem 1,8-Fachen des westdeutschen
Durchschnitts bei der Arbeitslosenrate 1998 sind wir in-
zwischen bei dem 2,5-Fachen angelangt. Zudem hält die
Abwanderungswelle an. Sie sagen zwar, Sie hielten nichts
von martialischen Überschriften wie etwa der, dass der
Osten ausblute. Aber dazu kann ich nur sagen: Der Osten
wird ausbluten, wenn es so weitergeht.

Natürlich muss man die jungen Leute darin bestärken,
zu wandern. Das ist keine Frage. Aber warum wandern die
eigentlich nur zwischen Ost und West


(Sabine Kaspereit [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)


und nicht auch zum Beispiel von Greifswald nach Dres-
den oder von Cottbus nach Schwerin? Dies wäre doch
auch eine Wanderungsbewegung.


(Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen sie doch!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417005600
Das war
eine klare Frage, aber Ihre Redezeit ist abgelaufen.


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1417005700
Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417005800
Nun hat der
Kollege Schwanitz die Möglichkeit, darauf zu antworten.


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1417005900

Frau Kollegin Luft, zum Thema Abwanderung empfehle
ich, von der schmerzlichen Dimension, die die Debatte
durch solche Worte wie „Ausbluten“ – in der Debatte wer-
den ja noch viel schwerere Geschütze aufgefahren –


(Zurufe von der CDU/CSU: „Auf der Kippe“!)

bekommt, wegzukommen und sich die Fakten anzu-
schauen.

Zunächst einmal ist festzustellen, dass es in den neuen
Bundesländern enorme Umbrüche gibt. Das Abwandern,
das Gehen von West nach Ost, ist nur eine Dimension. Es
gibt die Stadt-Land-Dimension, die sich übrigens in den
alten Bundesländern seit den 70er-Jahren als Suburbani-
sierung vollzogen hat und dort seit Anfang der 90er-Jahre
mit Brachialgewalt hineinbricht. Die ostdeutschen Länder
liegen auch bei der Intensität des grenzüberschreitenden
Wanderns nicht an der Spitze, sondern die höchsten Werte
entfallen auf alte Bundesländer. Sachsen liegt dabei sogar
unterhalb des deutschen Durchschnitts.

Ich will Ihnen einmal vorlesen, was die sächsische In-
dustrie dazu gerade erklärt hat:

Festzuhalten bleibt: Es gibt parallel zur natürlichen
Bevölkerungsbewegung eine rege Wanderung aus
Sachsen, nach Sachsen und in Sachsen. Die Wande-
rungen sind nicht auf eine bestimmte Richtung be-
schränkt, sondern verlaufen vielgestaltig und unter-
liegen verschiedenen Einflüssen. Vom Ausbluten der
Region kann daher nicht gesprochen werden. Zwar
wandern eher junge Personen, doch dies gilt für die
Fort- genauso wie für die Zuzüge und ist Ausdruck
gewachsener Normalität.

Ich empfehle, den Blick zu öffnen, auch mit anderen zu
reden und sich nicht nur selektiv die Daten herauszusu-
chen, die in die eigene Argumentation passen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417006000
Für die
F.D.P.-Fraktion erteile ich nunmehr der Kollegin Cornelia
Pieper das Wort.






(C)



(D)



(A)



(B)



Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1417006100
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Angesichts des „Jahresbe-
richts 2000 der Bundesregierung zum Stand der Deut-
schen Einheit“, den wir heute zur Kenntnis nehmen, muss
sich die Bundesregierung ein Hinterfragen der Bilanz der
Chefsache Aufbau Ost gefallen lassen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen wir dazu doch bitte einmal die Bevölkerung in
den neuen Bundesländern zu Wort kommen. Nach der
jüngsten Umfrage des Emnid-Instituts sind 75 Prozent der
Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern von der
rot-grünen Bundesregierung enttäuscht, was ihr Engage-
ment in den neuen Bundesländern angeht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Sabine Kaspereit [SPD]: Die müssen von der F.D.P. auch ziemlich enttäuscht sein, denn sie wurde dort nicht mehr gewählt!)


Das wundert auch nicht. Denn wenn man sich die letzten
Wochen, Monate und Jahre ansieht, wenn man sich ins-
besondere die Äußerungen des Bundeskanzlers, der den
Aufbau Ost zur Chefsache gemacht hat, vor Augen hält,
hat man den Eindruck, dass die linke Hand nicht weiß,
was die rechte tut.

Im April noch rügt der Bundeskanzler den Bundes-
tagspräsidenten Thierse für seine Äußerung, der Osten
stehe auf der Kippe, und lehnt schlichte Aktionspro-
gramme für Ostdeutschland ab. Kurz darauf verkündet
der Kanzler ein Sonderprogramm: Bis zu 2 Milliar-
den DM für den Ausbau von kommunaler Infrastruktur,


(Joachim Poß [SPD]: Das hat er nicht verkündet!)


Schulen und Straßen im Osten. Es sei jedoch nicht sinn-
voll, darüber in der Öffentlichkeit allzu sehr zu diskutie-
ren, sagt der Kanzler; so zitiert in der „Süddeutschen Zei-
tung“. Alle Tageszeitungen vom gleichen Tage waren voll
mit Überschriften wie „Schröder plant Milliardenhilfe für
den Aufbau Ost“, „Schröder wird von allen Seiten zur
Ostförderung gedrängt“. Von einer geplanten Sommer-
reise ist die Rede – Reisen ist gut, Reisen bildet, Herr
Bundeskanzler –, auf der er mitteilen soll, wie hoch die
Förderung ausfallen wird. Aber eine Woche nach dieser
Berichterstattung gab er der deutschen Öffentlichkeit be-
kannt, das sei alles Schnee von gestern, es werde kein wei-
teres Geld für die Chefsache Aufbau Ost geben.

Meine Damen und Herren, wer so unzuverlässig Poli-
tik für die neuen Bundesländer betreibt, der hat versagt,
der hat nichts vorzuweisen, der nimmt den Aufbau Ost
nicht ernst genug.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es ist für die Bundesregierung und auch für uns als Op-
position in diesem Hause noch immer ein Verfassungs-
auftrag, die innere Einheit zu vollenden. Das ist ein
Thema, das uns allen am Herzen liegen sollte.

Wenn ich mir die Politik der Bundesregierung in den
letzten Jahren anschaue, dann stelle ich fest, dass mehr
Gesetze beschlossen wurden, die den Konjunkturauf-

schwung in den neuen Bundesländern förmlich behin-
dern.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Durch die Steuerreform werden Personengesellschaften
und damit das Handwerk, die Freiberufler und der Mittel-
stand benachteiligt. Auch die Ökosteuer belastet das
Handwerk, den Mittelstand und die Bürger immer mehr.
Die Grünen werden nicht müde, eine weitere Erhöhung
der Mineralölsteuer zu fordern. Die gesetzlichen Rege-
lungen zur Scheinselbstständigkeit behindern jegliche Ei-
geninitiative und jede Existenzgründung.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Diese Kritik ist berechtigt – deswegen müssen Sie sie sich
anhören –,


(Zuruf von der SPD: Diese Kritik ist falsch!)

denn ohne ein verändertes Denken in dieser Frage wird es
mit dem Aufbau Ost nicht vorangehen.

Wir sind uns bewusst, dass man die Entwicklung, die
die alte Bundesrepublik in 40 Jahren vollzogen hat, nicht
in zehn Jahren nachholen kann. Deswegen brauchen wir
eine differenzierte Betrachtungsweise. Es gibt doch be-
reits, wie gerade gesagt wurde, ermutigende Entwicklun-
gen in den neuen Bundesländern. Es sind „Leuchttürme“
entstanden; sie befinden sich insbesondere um Hoch-
schulstandorte. Es gibt neue Wissenszentren, aus denen
innovative Forschungsunternehmen ausgegründet wur-
den. Ich nenne nur Jena, Dresden, Leipzig und Halle. Ih-
nen fällt außer dem von mir Genannten sicher noch viel
mehr ein.


(Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig! Uns fällt dazu viel mehr ein!)


Herr Staatsminister, Sie haben die Zuwachsraten in der
Industrie und im verarbeitenden Gewerbe angespro-
chen. Diese Zahlen können sich sehen lassen; das ist
richtig. Die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Ge-
werbe steigt. Die Wachstumsrate der Bruttowertschöp-
fung beim verarbeitenden Gewerbe ist im Vergleich mit
allen anderen Branchen mit 8,3 Prozent am höchsten. Zur
Wahrheit gehört aber auch, dass die industrielle Basis in
den neuen Ländern viel zu schwach ist, weil viele Indus-
triebetriebe weggebrochen sind.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wahr ist auch, dass die Zuwächse im verarbeitenden Ge-
werbe nicht ausreichen, um neue Beschäftigungsimpulse
zu setzen und die Arbeitslosenquote zu senken.


(Christoph Matschie [SPD]: Deshalb brauchen wir jetzt die F.D.P., oder was?)


Sie müssen den Aufbau Ost viel ernster nehmen;

(Joachim Poß [SPD]: Sie müssen einmal die Politik ernster nehmen und nicht nur Entertainment machen!)


denn auch der negative Trend bei der Jugendarbeitslosig-
keit – sie liegt bei 18 Prozent – kann nicht ermutigen. Ich






(C)



(D)



(A)



(B)


freue mich, dass Sie dies wenigstens jetzt ernst nehmen;
sonst würden Sie sich ja nicht so aufregen.


(Joachim Poß [SPD]: Ich rege mich überhaupt nicht auf!)


Das ist ein Zeichen dafür, dass Ihnen das, was ich Ihnen
hier sage, ganz schön wehtut, meine Damen und Herren
von der Regierungskoalition.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Herr Staatsminister Schwanitz, Sie haben die Abwan-

derung angesprochen. Ich würde das nicht auf die leichte
Schulter nehmen. Die Abwanderung junger Menschen
aus einem Landstrich Deutschlands darf man nicht
bagatellisieren, vor allem dann nicht, wenn es die jungen,
fleißigen, kreativen und fachlich ausgebildeten Menschen
sind.


(Simone Violka [SPD]: Alle, die dableiben, sind faul, oder was? – Gegenruf des Abg. Günter Nooke [CDU/CSU]: Das hat Ihr Kanzler gesagt!)


Das ist ein Ergebnis Ihrer Politik; das sage ich ganz deut-
lich. Wenn Sie den jungen und mobilen Menschen mit Ih-
rer Politik keine Zukunftsoptionen geben können, dann ist
es doch verständlich, wenn sie sich ökonomisch gesund
verhalten und sich einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz
im Westen Deutschlands suchen. Wir wollen diesen Men-
schen auch in den neuen Bundesländern eine Zukunft bie-
ten. Ich denke, dies muss unser gemeinsames Ziel sein.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Frau Pieper, ich sage nur: Soli, Soli! – Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Sie haben ihn doch und kommen trotzdem nicht weiter!)


– Sie bekommen von mir auf jede Frage eine Antwort.

(Joachim Poß [SPD]: Ich sage ja nur: Soli!)


Uns, der F.D.P., ist die Solidarität mit den neuen Bun-
desländern besonders wichtig.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist ja bekannt!)

Dies entspricht unserer Tradition als gesamtdeutscher
Partei, die auch durch unsere liberalen Außenminister ver-
treten worden ist, meine Damen und Herren von der Re-
gierungskoalition, insbesondere von der SPD.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Die haben doch den kompletten Soli! Was machen die denn damit?)


Es geht darum, Steuern in Deutschland zu senken.

(Joachim Poß [SPD]: Das machen wir doch gerade! 45 Milliarden in diesem Jahr!)


Es geht darum, nicht erst im Jahr 2005 eine neue Steuer-
senkungspolitik zu betreiben. Wir brauchen ein Niedrig-
steuergebiet Deutschland. Das wird insbesondere auch
den neuen Bundesländern zugute kommen. Es geht nicht
darum, eine isolierte Forderung nach der Abschaffung des
Solidaritätszuschlages in den Vordergrund zu stellen.


(Joachim Poß [SPD]: Wer macht das denn?)


Wir geben zu, dass wir bei der Vermittlung von Politik
Fehler gemacht haben. Das sage ich ganz deutlich.


(Joachim Poß [SPD]: Sie sind doch eine Außenseiterin!)


Wir sehen unsere Fehler aber ein und versuchen, sie zu
korrigieren. Sie sind noch nicht mal bereit, Ihre Fehler
einzusehen und Ihre Politik zu korrigieren. Das ist doch
der entscheidende Unterschied.


(Beifall bei der F.D.P. – Joachim Poß [SPD]: Sie fordern doch die Abschaffung des Soli!)


Lassen Sie mich zum kreativen Teil der F.D.P.-Bun-
destagsfraktion kommen.


(Beifall bei der F.D.P. – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Joachim Poß [SPD]: Dann muss der Herr Gerhardt rausgehen!)


Berechtigte Kritik ist der eine Teil meiner Rede. Aber wir
alle kommen in der Debatte nur dann weiter, wenn wir uns
ernsthaft darüber unterhalten, wie es mit den neuen Bun-
desländern weitergehen soll. Ich vermisse – das sage ich
ganz deutlich – ein Gesamtkonzept der Bundesregierung.
Bisher haben Sie uns dies nämlich nicht vorgelegt. Des-
wegen gibt es keinen Grund, der Opposition Vorwürfe zu
machen, wenn sie Gesamtkonzepte in den Deutschen
Bundestag einbringt; Herr Schwanitz, das ist nicht be-
rechtigt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte Ihnen drei Schwerpunkte aus unserem
10-Punkte-Programm nennen, die uns besonders wichtig
sind. Dies fällt übrigens auch in Ihre bundespolitische Zu-
ständigkeit, Herr Schwanitz.

Erstens. Der Infrastrukturausbau muss verstärkt
werden. Das halten wir für eine der wichtigsten Aufgaben
in den nächsten Jahren. Damit müssen wir jetzt beginnen.
Wir alle sind uns bewusst, dass die 80 Milliarden DM zur
Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen
Bundesländern in der Vergangenheit eine großartige Leis-
tung waren. Aber man darf die Prioritätensetzung auch
beim Infrastrukturausbau nicht aufgeben.

In diesem Zusammenhang möchte ich als Beispiele
die Ostsee-Autobahn – Mecklenburg-Vorpommern wurde
schon genannt –, die A 20, nennen. Die Grünen melden
vor Ort ständig ihre Bedenken zum Bau dieser Autobahn
an. Wir wissen, dass der Autobahnbau gerade in der
Ostseeregion weit hinter dem Bedarf herhinkt. Dabei geht
es dort um Projekte wie die Anbindung an die A 1 nach
Lübeck, die Ortsumfahrung von Wismar, aber auch die
A11 nach Stettin oder die Rügenquerung, die immer noch
auf Eis liegen. Es hätte schon viel mehr gemacht werden
können. Ich denke, die grüne Verzögerungstaktik ist ein
Grund dafür, dass diese Projekte in der Vergangenheit
nicht realisiert werden konnten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Cornelia Pieper
16596


(C)



(D)



(A)



(B)


Unter Prioritätensetzung verstehe ich etwas anderes.
Sie haben als Erstes den ICE Nürnberg–Erfurt–Leip-
zig–Berlin als Hochgeschwindigkeitsstrecke aus den
Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ herausgenommen.


(Zuruf von der SPD: Das ist doch gar nicht wahr!)


Damit wird der Osten aus dem europäischen Hochge-
schwindigkeitsnetz abgekoppelt. Das ist so.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sabine Kaspereit [SPD]: Sagen Sie doch nicht solche Sachen, die nicht stimmen!)


Was ist denn das für eine Prioritätensetzung? Alle nam-
haften wirtschaftswissenschaftlichen Institute der Bun-
desrepublik haben bereits darauf hingewiesen: Ohne
Verkehrswege, die Lebensadern einer Region sind, gibt es
keine Investitionen und Arbeitsplätze.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Binsenweisheit!)

Mobilität ist im schnelllebigen Informationszeitalter

eine der wichtigsten Voraussetzungen für wirtschaftlichen
Aufschwung. Deswegen sind wir der Auffassung: Auch
mit Blick auf die EU-Osterweiterung und unter Berück-
sichtigung der Zunahme des PKW- und Güterverkehrs
brauchen wir ein Sonderprogramm für den Infrastruktur-
ausbau in den neuen Ländern.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Noch ein Programm? Nicht schon wieder ein Sonderprogramm, bitte nicht!)


Zweitens. Die Forschungsstandorte in den neuen
Bundesländern müssen gestärkt werden. Der Ausbau der
wissenschaftlichen Infrastruktur ist die Keimzelle für mo-
derne und zukunftssichere Arbeitsplätze. Das heißt aber
auch: Wir dürfen die neuen Länder bei Investitionen in
Hochschule und Forschung nicht im Regen stehen lassen.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Das machen wir doch gar nicht! – Zuruf von der SPD: Schon mal was von Inno-Regio gehört?)


Wir brauchen einen Nachteilsausgleich. Deswegen haben
wir mit unserem Antrag ein Programm in Höhe von
1,17 Milliarden DM zum Ausbau der wissenschaftlichen
Infrastruktur vorgeschlagen, aber insbesondere auch zum
Nachteilsausgleich.


(Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Finanzieren Sie das mit Steuersenkungen, Frau Pieper? Sie erzählen hier Quatsch!)


Sie selbst haben doch die Chance verspielt, mit den
Zinsersparnissen durch den Verkauf der UMTS-Lizenzen
einen besonderen Akzent für die neuen Bundesländer zu
setzen, meine Damen und Herren von der Regierungs-
koalition.


(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417006200
Frau Kolle-
gin, Sie haben Ihre Redezeit bereits überschritten. Ich
möchte Sie bitten, zum Schluss zu kommen.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1417006300
Herr Präsident, in der Tat ist
die Redezeit für dieses Thema immer zu kurz, besonders
für die F.D.P., die eben viele gute Vorschläge für den Auf-
bau Ost hat.


(Joachim Poß [SPD]: Ja, Mehrausgaben und Steuersenkungen!)


Das Dritte sei hier noch genannt: Eine Existenzgrün-
deroffensive wollen wir gemeinsam auf den Weg brin-
gen. Sie, meine Damen und Herren von der Regierungs-
koalition, sollten uns dabei unterstützen.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Da ist die PDS schon realistischer!)


Der Erfolg dieses Landes – das möchte ich als letzten Satz
sagen – auch mit Blick auf die europäische Integration
wird auch und insbesondere davon abhängen, wie wir den
Anschluss der neuen Länder an den Wirtschaftsauf-
schwung der Bundesrepublik meistern.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417006400
Ich erteile
dem Kollegen Werner Schulz das Wort; er spricht für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
gut, dass wir die Debatte über den Aufbau Ost heute nicht
mehr aus der Lamäng der allgemeinen Gefühlslage
führen, sondern endlich einmal – darauf habe ich mich ge-
freut – anhand von Papieren, und zwar anhand des von der
Bundesregierung vorgelegten Berichts zum Stand der
deutschen Einheit und anhand der Anträge der Opposi-
tion.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Haben Sie auch noch eins?)


Damit kann sich jeder, der lesen kann und das gelesen hat,
ein Bild machen, wie die einen den Aufbau Ost betreiben
und voranbringen und aus welch einer diffusen Mixtur aus
dürftigen und überzogenen Forderungen das Repertoire
der anderen besteht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Frau Pieper, Sie haben dankenswerterweise bereits
zwischen dem kreativen Teil des Antrags der F.D.P. und
den anderen drei Punkten – das lasse ich offen – getrennt.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das können Sie anderswo sagen, aber nicht hier!)


Dabei stößt der CDU-Antrag zunächst wirklich auf Inte-
resse, Günter Nooke, wenn dort ein neues Leitbild ver-
sprochen wird. Wenn man dieses Leitbild aber sucht, stößt
man auf einen Irrgarten. Offenbar ist die Kampfparole
von Friedrich Merz zum Regierungsangriff, die er ausge-
geben hat – Widersprüche, Sprüche und Plagiate –, als ei-
gener Arbeitsauftrag missverstanden worden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Cornelia Pieper

16597


(C)



(D)



(A)



(B)


Das jedenfalls spiegelt sich in diesem Antrag wider. Er ist
eine Fundgrube für Stilblüten. So viel vielleicht zu den
blühenden Landschaften.

Ich zitiere hier nur ganz kurz, Günter Nooke. Das Ka-
pitel „Leitbild“ beginnt mit dem Anspruch, dass der Auf-
bau Ost „eine kreative Neuausrichtung“ braucht. Sieh mal
an! Nur verliert sich dieser Anspruch im Nirwana eines
solchen Satzes wahrer Leitkultur:

Deutschland 2015 ist dann eine Vision, wenn auch
die östlichen Bundesländer ihren eigenen Weg dort-
hin finden können.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Na, das finde ich grandios; das finde ich absolut grandios.
Der Zeitrahmen ist verändert worden.

Wenn man dann wirklich sucht – ich habe mir die
Mühe gemacht, in deinen Pressegesprächen usw. zu su-
chen, wo das Leitbild ist –, dann findet man nur Negativ-
beschreibungen: Der Osten darf kein Grüngürtel zwi-
schen Westdeutschland und Osteuropa werden. Die
Weggabelung scheint also offenbar zwischen grünen
Streifen und blühenden Landschaften zu verlaufen, für die
wir uns entscheiden können,


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


also eine biologische Betrachtung der Ostlandschaft.
Oder ich zitiere die F.D.P., die davor warnt, dass der

Osten nicht zum Altersheim werden darf.

(Jürgen Türk [F.D.P.]: Das ist die Realität!)


Bis 1998 gab es scheinbar nur Erfolge zu feiern; wenn ich
Ihre damaligen Reden höre. Unter der rot-grünen Koali-
tion scheint dort im Osten aber die Apokalypse ausgebro-
chen zu sein. Wo leben wir denn?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich will Ihnen eines ganz ernsthaft sagen: Den Abstieg
Ost hat es gegeben; der hat sich ereignet, und zwar in den
Jahren zwischen 1996 und 1998. Wir hatten 1994 ein
Wirtschaftswachstum von 11,4 Prozent, und 1998, als
Gerhard Schröder das Wort von der Chefsache geprägt
hat, und zwar nicht, weil er sich da überpotent gefühlt hat,
sondern weil er die Sache eben in die Hand nehmen wollte


(Lachen und Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


– billiges Lachen! –, hatten wir 0,7 Prozent Wirtschafts-
wachstum. 0,7 Prozent!

Der Begriff „Kippe“, der in diesem Zusammenhang
geprägt worden ist, ist richtig; er kam nur zwei Jahre zu
spät. 1998 stand der Osten auf der Kippe. So sieht es aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Nein, ich beantworte Ihnen diese Frage am Ende; ich
will diesen Gedanken jetzt nicht unterbrechen.


(Lachen bei der CDU/CSU und bei der F.D.P.)


Ich will Sie mit Ihrer eigenen Politik konfrontieren;
denn so leicht kommen Sie mir hier nicht davon.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


1995 ist uns von Herrn Rexrodt ein Bericht zum Stand
der deutschen Einheit vorgelegt worden; dieser Bericht
nannte sich „Die Hälfte des Weges“, die Hälfte des Weges
ist geschafft.


(Zuruf von der F.D.P.: Sind Sie jetzt bei der Vergangenheitsbewältigung?)


Ich frage Sie: Was gibt es denn noch zu tun? Der Aufbau
Ost müsste nach Ihrer Meinung doch abgeschlossen sein.


(Zuruf von der F.D.P.: Das ist doch billige Ablenkung!)


– Was heißt hier „billige Ablenkung“? Sie haben im
Grunde genommen noch nicht einmal den Mut, Ihre späte
Erkenntnis einzugestehen und zuzugeben, dass Sie sich
absolut getäuscht haben, dass Sie über Jahre hinweg die
falschen Zielgrößen ausgegeben haben und dass Sie den
Elan, der anfangs im Osten vorhanden war, gebrochen ha-
ben, weil Sie die Menschen enttäuscht haben. Noch nicht
einmal dieses kleine Quäntchen Selbstkritik kommt in
Ihren Anträgen zum Ausdruck.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Ich finde, der Antrag, aber auch deine Rede, Günter
Nooke, hat einige freudige Überraschungen zu bieten. Ich
habe 1991 im Bundestag gesagt, der Aufbau Ost dürfe
kein Nachbau West werden. Vielleicht rührt es noch aus
gemeinsamer Parteiverbundenheit, dass das bei dir so haf-
ten geblieben ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Die westdeutschen Gebrauchsmuster reiben sich an der
ostdeutschen Realität, sodass man sie nicht im Maßstab
1:1 übertragen darf.

Was hat, Angela Merkel, denn in der Zeit, in der die
Modernisierung Deutschlands hätte betrieben werden
können, eigentlich stattgefunden? Ich frage: Wer hat diese
Bürokratie aufgebaut, sodass jetzt gefordert werden muss,
die Überregulierung abzubauen? Was haben wir denn in
den Jahren 1990 bis 1998 erlebt?


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Verkehrswegebeschleunigung!)


Es gab doch Möglichkeiten, das Verwaltungsrecht, das
Steuerrecht oder anderes zu vereinfachen. Der Mut dazu
hat nicht gereicht. Wir haben einen Schnäppchenverkauf
durch die Treuhand erlebt. Wenn man jetzt die Affäre
Leuna/Elf Aquitaine nachvollzieht, kann man sehen, wie
geschmiert der Aufbau Ost damals gelaufen ist.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Man kann sehen, wie Subventionen aus dem Fenster ge-
worfen wurden, und zwar in einer Streubreite, dass offen-
bar auch einige Milliönchen im Adenauerhaus hängen ge-




Werner Schulz (Leipzig)

16598


(C)



(D)



(A)



(B)


blieben sind. Darum sollten Sie sich, Angela Merkel,
kümmern und nicht um die Frage, ob die Großprojekte
– Großraumflugzeug A 380 oder Transrapid – durch den
Kanzler aufgehalten werden. Das sind doch Ammenmär-
chen. Solche Projekte allein bringen doch den Osten nicht
voran.

Wir haben im Osten eine Deindustrialisierung sonder-
gleichen erlebt. Die heutigen Strukturschwächen des
Ostens haben mit der Tatsache zu tun, wie in den 90er-
Jahren Wirtschaftspolitik betrieben worden ist. Es wurden
Kungelrunden gebildet, anstatt einen großen nationalen
Kraftakt, der Standortverlagerungen sowie eine Industrie-
und Strukturpolitik beinhaltete, zu vollziehen.

Ich finde, man kann es sich nicht so leicht machen, dass
man einfach in die Opposition hineinschlittert und meint,
diese acht Jahre Regierung spielten überhaupt keine Rolle
mehr. Die jetzige Bundesregierung hat eine doppelte Erb-
last übernommen. Sie besteht zum einen aus dem Wirt-
schaftsbankrott der DDR – ich will das nicht weiter aus-
führen; Sie können das bei Gerhard Schürer nachlesen –
und zum anderen aus der Deindustrialisierung, die in den
Jahren 1990 bis 1998 stattgefunden hat. Das Wunder des
Ostens ist, dass wir heute eine Reindustrialisierung und
ein Wirtschaftswachstum von 13 Prozent in der gewerbli-
chen Wirtschaft haben. Diese Entwicklung hat erst in den
letzten Jahren stattgefunden und hat ihre Ursache in einer
Umorientierung der Förderpolitik der Wirtschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417006500
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vaatz?

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Nein. – Wir haben sektorale Disparitäten und
Strukturschwächen. Ich denke beispielsweise an die Ab-
wicklung der industrienahen Forschung und den ergeb-
nislosen Kampf von Paul Krüger als Forschungsminister.
Er hat sich mit vielen Anträgen bemüht, diese Entwick-
lung aufzuhalten und Mittel in den Personal- und Sach-
mittelaufbau der Forschung des Ostens zu stecken. Doch
was ist passiert? Der Forschungsbereich ist auf einen
Niedrigststand abgebaut worden.

Frau Pieper, ich staune, wie sich durch Ihren Antrag
das Grundmissverständnis zieht, der Aufbau Ost sei eine
Staatsaufgabe. Wo sind denn Ihre liberalen Positionen ge-
blieben, die Ihre Partei sonst vertritt? Da Sie sich neuer-
dings mit Wissenschaft und Forschung beschäftigen, soll-
ten Sie sich einmal die Studie des Fraunhofer-Instituts für
Systemtechnik und Innovationsforschung anschauen. In
dieser Studie wird die Produktivitätslücke Ostdeutsch-
lands vor allen Dingen darauf zurückgeführt, dass es ei-
nen Qualifizierungsmangel durch die mangelnden Inves-
titionen in Forschung und Technologie in den neuen
Bundesländern gibt.

Das heißt: Der Ruf nach Risikokapital wird so lange
nichts bringen, so lange die Unternehmen nicht riskieren,
auch in Köpfe zu investieren. Dieser Aufgabe müssen sich
Unternehmen, Verbände, Kammern und dergleichen mehr
stellen. Man darf solche Forderungen nicht nur einseitig

an den Bundeskanzler richten. Das ist doch einfach und
naiv.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Günter Nooke [CDU/CSU]: Dann soll der Bundeskanzler von der Chefsache ablassen!)


Ich hätte große Lust, diesen Antrag noch weiter ausei-
nander zu nehmen und auf einige Dinge näher einzuge-
hen. Ich habe selten einen so miserablen und substanzlo-
sen Antrag gesehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Günter Nooke [CDU/CSU]: Diese Debatte habt ihr eigentlich verloren!)


– Nein, Günter Nooke, ich möchte auf den eigentlichen
Skandal Ihres Antrags eingehen; denn wenn das, was Sie
in Ihrem Antrag fordern, das Leitbild für Ostdeutschland
sein soll, dann gute Nacht!

In dem CDU/CSU-Antrag steht allen Ernstes – ich frage
mich, wie ein solcher Antrag an den CDU-Sozialausschüs-
sen vorbeikommen konnte –, dass im Zuge der EU-Ost-
erweiterung im ostdeutschen Grenzgebiet – man höre und
staune! – eine „maquiladora“-Industrie aufgebaut wer-
den sollte. Wer den Begriff nicht kennt, dem erkläre ich ihn.
Mit diesem Begriff bezeichnet man beispielsweise die Be-
triebe in Sondergebieten von Mexiko, die Lohndumping
betreiben und in denen unter miserabelsten Arbeitsbedin-
gungen bei Umgehung von Arbeitsschutz-, Gesundheits-
schutz- und Umweltschutzbestimmungen nach brutalsten
Ausbeutungsmethoden produziert wird. Alle mir bekann-
ten Sozialwissenschaftler warnen vor solchen Twin-plant-
Strukturen in Europa, weil dadurch soziale Brennpunkte
geschaffen würden, die es bisher nicht gegeben hat. Na-
tionale Ressentiments und Nationalismus werden nicht
auf sich warten lassen, wenn solche Strukturen etabliert
werden. Wenn das das Leitbild für Ostdeutschland ist,
dann gute Nacht!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abgeordneten Wolfgang Gehrcke [PDS] – Dr. Uwe Küster [SPD]: Gute Nacht, CDU/CSU!)


In dem Antrag der CDU/CSU lassen sich zahlreiche
Widersprüche finden. Im Grunde genommen stehen in
fast allen Kapiteln immer nur These und Antithese neben-
einander. Die Synthese soll wahrscheinlich die Regierung
leisten. Das machen die Antragsteller nicht selbst. Neh-
men wir die Infrastruktur als Beispiel. Es wird die Ein-
führung einer kommunalen Infrastrukturpauschale,
was immer das auch sein mag, und gleichzeitig die Ab-
schaffung des Gießkannenprinzips gefordert.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nehmen wir zum Beispiel die Angleichung der Löhne
in Ost und West. In dem CDU/CSU-Antrag lässt sich kein
Zeitplan für diese Angleichung in den unterschiedlichen
Branchen finden. Gleichzeitig soll – das wird betont –
„eine zeitlich überschaubare Perspektive der Anglei-
chung“ sogar Bestandteil des Leitbildes sein. Das ist völ-
lig widersprüchlich. Darüber wird sicherlich nicht nur




Werner Schulz (Leipzig)


16599


(C)



(D)



(A)



(B)


Thomas de Maizière in der sächsischen Staatskanzlei den
Kopf schütteln.

Nehmen wir den Föderalismus als Beispiel. Es werden
Flexibilisierungsgesetze, was immer das auch ist – es wird
nicht erklärt –, und gleichzeitig die strikte Gleichbehand-
lung im föderalen System gefordert. Wunderbar!

Im Kapitel über die Stadtsanierung ist zu lesen, dass
man den Leerstand in Ostdeutschland nur auf die Abwan-
derung zurückführt. Wir haben zudem gehört, dass es sich
in Ostdeutschland um die schlimmste Abwanderung seit
dem Dreißigjährigen Krieg handelt. Wer so etwas anführt,
der hat keine Mauer, sondern einen Hirnriss im Kopf. Das
kann ich einfach nicht mehr nachvollziehen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Gleichzeitig wird gefordert, die Regelung der Eigenheim-
zulage zu verlängern, obwohl diese Zulage sowie die un-
sinnigen Steuerabschreibungen, mit für die Schaffung von
Überkapazitäten im Bau, und dafür, dass jetzt 1 Million
Wohnungen in Ostdeutschland leer stehen, verantwortlich
sind. – Den Leerstand haben wir nicht aus der DDR über-
nommen. Sie sind verantwortlich für Zersiedelung im
städtischen Umfeld, Entstädterung und dafür, dass es
Fehlallokationen in unglaublichen Größenordnungen ge-
geben hat, dass Büropaläste entstanden sind und so eine
Scheinblüte in Ostdeutschland vorgegaukelt werden
konnte und dass verprellte Anleger zurückgeblieben sind.
Dass Sie so etwas fordern, ist unglaublich.

Nehmen wir die Arbeitsmarktpolitik als Beispiel. Im
CDU/CSU-Antrag wird der Abbau von ABM-Stellen ge-
fordert, von einer Opposition, die 1998, als sie noch an der
Regierung war, die Zahl der ABM-Stellen – man höre und
staune! – von 130 000 auf 300 000 gesteigert und betont
hat, dass man das nicht nur im Wahljahr mache, sondern
kontinuierlich fortführen werde. Diese Opposition fordert
jetzt den Abbau von ABM-Stellen, wobei ich betonen
muss: Die Zahl der ABM-Stellen liegt heute wieder unter
200 000, und das bei einem gleich bleibenden Niveau der
Arbeitslosigkeit im Osten. Das ist ein großer Erfolg, der
leider oft nicht so deutlich wahrgenommen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich betone deswegen nochmals: Obwohl wir ABM-Stel-
len abgebaut haben, ist die Arbeitslosigkeit nicht gestie-
gen. Das ist ein großer Erfolg und macht deutlich, dass wir
neue Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt geschaf-
fen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nehmen wir die Erinnerungskultur als Beispiel. In
dem CDU/CSU-Antrag beschränkt man sich auf ein
Denkmal für die Freiheits- und Einheitsbewegung. Das ist
alles, was sich dem Antrag zu diesem Thema entnehmen
lässt. Es wird nicht etwa gefordert, dass mehr über die
DDR gelernt werden muss, damit die Kandidaten bei
Günther Jauch nicht regelmäßig bei den DDR-Fragen
durchfallen.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nehmen wir zum Beispiel die Schul- und Bildungspo-
litik. Dazu lässt sich im CDU/CSU-Antrag nur ein armse-
liger Kanon finden: Abitur nach12 Jahren, Kopfnoten und
berufspraktischer Unterricht. Die F.D.P.-Fraktion fordert
in ihrem Antrag noch die flächendeckende Ganztags-
schule. Kein Wort über Demokratiemangel, humanisti-
sche Bildung oder darüber, wie der Rechtsradikalismus
im Osten verringert werden kann!

Ich muss Ihnen also zusammengefasst sagen: Dieser
Antrag ist ein politisches Armutszeugnis ersten Ranges.
In den gewünschten Kopfnoten ausgedrückt, würde ich es
so formulieren: Fleiß und Mitarbeit gut, Kreativität und
Konstruktivität mangelhaft. Sie werden in der Opposition
sitzen bleiben und nicht blühende Landschaften, sondern
ein Wiederholen, ohne einzuholen, zu erwarten haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417006600
Es liegen
nunmehr zwei Wünsche auf Kurzinterventionen vor. Herr
Kollege Schulz, Sie können dann selber entscheiden, ob
Sie auf jede einzelne Intervention oder nachher geschlos-
sen antworten.

Zunächst bekommt die Kollegin Cornelia Pieper das
Wort.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1417006700
Lieber Kollege Schulz, ich
muss mich schon wundern und frage mich, ob Sie unsere
Anträge überhaupt gelesen haben. Ich befürchte, dass Sie
das nicht getan haben; denn sonst hätten Sie hier nicht so
argumentieren können.

Lassen Sie mich kurz auf das Gesagte eingehen. – Sie
haben erwähnt, dass der Industrieaufschwung erst seit
dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung statt-
finde. Ich darf Sie daran erinnern: Seitdem es diese rot-
grüne Bundesregierung gibt, ist die Prioritätensetzung,
was auch Standortentscheidungen der Industrie anbe-
langt, nicht mehr gegeben. Unter einer früheren Regie-
rung, auch mit Beteiligung der F.D.P.-Wirtschaftsminis-
ter, sind Standortentscheidungen auch immer ein Thema
für die Politik gewesen; sonst gäbe es nämlich die Indus-
triestandorte, die wir jetzt in den neuen Ländern haben,
gar nicht. Bitte nehmen Sie das einmal zur Kenntnis!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie sprechen von den Arbeitsbeschaffungsmaßnah-

men, die unter Ihrer Regierung bei gleichem Stand der
Beschäftigungsquote, die für die neuen Bundesländer
beängstigend ist, rückläufig sind. Wir können ja nicht
wollen, dass sie doppelt so hoch bleibt wie in den alten
Ländern. Das ist auch ein bedeutender sozialer Spreng-
stoff.

Bitte berücksichtigen Sie, dass die Arbeitslosenquote
auch zurückgegangen ist, weil wir einen Bevölkerungs-
rückgang haben. Sie können ja Ihren Erfolg nicht damit
begründen, dass immer mehr Menschen – glücklicher-
weise – in Rente gehen können, sondern Sie müssen sich




Werner Schulz (Leipzig)

16600


(C)



(D)



(A)



(B)


daran messen lassen, wie viele Arbeitsplätze in den neuen
Bundesländern entstehen. Das ist der Punkt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417006800
Frau Kolle-
gin, kommen Sie doch bitte jetzt zum Schluss.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1417006900
Ja. – Ich möchte Sie noch
darauf hinweisen, dass Sie es sind, die jegliche Eigen-
initiative blockieren. Ich habe die Beispiele genannt. Ich
habe das Beispiel Steuerreform genannt und ich habe das
Beispiel der gesetzlichen Regelung der Scheinselbststän-
digkeit genannt. Das blockiert Eigeninitiative und schafft
keinen neuen Gründergeist, kein neues Unternehmertum.

Sie sollten Ihre Aussagen eher relativieren. Mogeln Sie
sich bitte nicht ständig durch, indem Sie Begründungen
suchen, die einfach nicht mehr der Realität entsprechen!
Nehmen Sie Ihre Aufgabe bei der Chefsache Aufbau Ost
endlich wahr! Dann haben Sie unsere Unterstützung.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417007000
Zu einer
weiteren Kurzintervention der Kollege Nooke.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1417007100
Die Kollegen von der
Koalitionsfraktion der SPD sind ja noch dran.

Ich habe mich gewundert, lieber Werner Schulz, dass
man sich hier für die Regierung so einspannen lässt und
eine konstruktive Debatte, die ich mir eigentlich ge-
wünscht hätte, in solch einer Weise verhindert, wie das
hier passiert ist. Das war meines Erachtens nicht nur un-
befriedigend, sondern das war im Rahmen dieser Debatte
total ungenügend. Ich möchte einfach darauf hinweisen:
Mit so viel unsinniger, unangebrachter Polemik kann man
das Nichtwissen und die chaotischen Zustände innerhalb
der Regierungskoalition und der Bundesregierung nicht
übertünchen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich habe wirklich selten erlebt, dass jemand von der Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen hier so schwach in ei-
ner Debatte aufgetreten ist,


(Widerspruch bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


in der es wirklich um eine nationale Herausforderung
geht. Ich will dir das lediglich noch als altes Ressentiment
zugestehen.

Ich will etwas zu der „maquiladora“-Ansiedlung sagen
und darauf hinweisen, dass es in unserem Antrag doch
Konzepte gibt, über die man ja reden kann. Zumindest
weise ich erst einmal darauf hin, dass es an der amerika-
nisch-mexikanischen Grenze heute prosperierende Re-
gionen gibt, dass das sehr wohl zum Erfolg geführt hat
und dass es vielleicht für die neuen Bundesländer besser
ist, es kommt die Hälfte der Arbeitsplätze dorthin, als dass
gar keine Arbeitsplätze geschaffen werden.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Vielleicht schauen Sie sich erst einmal an, was in der
Substanz in unserem Antrag steht,


(Rainer Fornahl [SPD]: Es gibt keine Substanz! Es gibt nur Schwachsinn und Unsinn!)


anstatt in einer Kaskade von falschen Behauptungen ein
Bild an die Wand zu malen, das in keiner Weise gerecht-
fertigt ist.

Wir haben einen Weg beschrieben, über den wir ge-
meinsam sprechen können. Wie viel Geld wir heute und
morgen sowie beim Solidarpakt II in die Hand nehmen,
steht gar nicht in unserem Antrag. Auch darüber können
wir miteinander sprechen. Aber dass wir jetzt Investitio-
nen – zum Beispiel bei der Infrastruktur – brauchen, um
in den neuen Bundesländern die Produktivität zu erhöhen,
ist doch eigentlich Konsens. Sie aber laufen hier wie ein
angeschossenes Wildschwein herum.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Ich muss einfach einmal dieses Bild benutzen.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind ein angeschos sener Eber, um das ganz klar zu sagen!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417007200
Auf diese
Bemerkung sollte der Kollege Werner Schulz jetzt ant-
worten.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1417007300
Ich nehme das Wort
„Wildschwein“ zurück und gebe dem Kollegen Schulz die
Chance, sich von seiner Rede zu distanzieren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist ja wie früher in der Parteiversammlung! „Ich schwöre ab!“)


Des Weiteren würde ich mich freuen, wenn die Beiträge
aus der SPD-Fraktion wirklich einmal Klarheit schafften,
welche Meinung Parlamentarier hier zwischen Bundes-
kanzler Gerhard Schröder als dem „Chefsachenkanzler“,
der von einer Staatsaufgabe redet, und Bundestagspräsi-
dent Thierse, der den Osten schlecht redet, vertreten.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417007400
Zur Erwi-
derung gebe ich dem Kollegen Werner Schulz das Wort.

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das Wildschwein ist geschenkt. Es ist Ihnen of-
fenbar über die Weggabelung gelaufen und hat bei Ihnen
zur Verwirrung beigetragen.


( V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Frau Pieper, ich möchte den Zensurenaustausch hier
eigentlich nicht fortsetzen. Ich war schon geneigt, Ihnen




Cornelia Pieper

16601


(C)



(D)



(A)



(B)


für den Antrag eine Vier zu geben. Angesichts der Tatsa-
che aber, dass Sie gerade die Beschäftigungsquote und die
Arbeitslosenquote durcheinander gebracht haben, muss
ich sagen, dass Sie das Ganze möglicherweise doch nicht
verstanden haben. Die Beschäftigungsquote ist im Osten
teilweise sogar etwas höher als im Westen. Es ist wesent-
lich komplizierter, als Sie glauben: Die Arbeitslosigkeit
ist im Osten doppelt so hoch, aber die Beschäftigungs-
quote liegt bei etwa 72 Prozent. Darüber, was das heißt,
müssen wir einmal ernsthaft diskutieren.

Zu den Industrieansiedlungen: Frau Pieper, ich weiß,
dass über sie in der Ära Helmut Kohl offenbar in Kungel-
runden entschieden worden ist. Damit hat man jetzt ja
auch seine Schwierigkeiten, was Elf Aquitaine und Leuna
anbelangt. Eine solche Ansiedlung ist nach wie vor eine
unternehmerische Entscheidung. Ich drösele Ihnen gern
noch einmal auf, wie es beim A3XX gelaufen ist: Da ha-
ben sich zwei deutsche Standorte gleichzeitig beworben,
Hamburg und Rostock, und es bestand die große Gefahr,
dass die Produktion gar nicht nach Deutschland kommen
könnte


(Zuruf von der CDU/CSU)

– selbstverständlich –, weil wir uns in einem europäischen
Standortwettbewerb befanden und es eine unternehmeri-
sche Entscheidung und nicht eine Entscheidung des Bun-
deskanzlers war. Das führt uns also nicht weiter.

Zu Günter Nooke: Eigentlich sollten wir uns mit dem
Antrag nicht weiter beschäftigen. Aber wir müssen es in
unseren Beratungen tun. Ich freue mich darauf. Man
müsste das Material dem „Scheibenwischer“ überweisen,
weil genügend Textstellen satirischen Wert haben. Natür-
lich ist ein Leitbild enthalten, die „maquiladora“-Indus-
trie. Wenn das aber das Leitbild ist – von der DDR-Ge-
stattungsproduktion über die verlängerten Werkbänke, die
wir erlebt haben, hin zur „maquiladora“-Industrie –, dann
habe nicht ich etwas zurückzunehmen, sondern die
CDU/CSU-Fraktion und die gesamte Partei. Daran sollten
Sie arbeiten. Sie haben hier ein ernsthaftes politisches
Problem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417007500
Jetzt erhält der
Fraktionsvorsitzende der PDS, Roland Claus, das Wort.


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417007600
Liebe Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sehen Sie es mir nach, dass
ich gerade darüber nachgedacht habe, wie wohl Bürgerin-
nen und Bürger in den neuen Ländern unsere Debatte
wahrnehmen. Ich fürchte, wir sind wieder einmal dabei,
eine gemeinsame Chance zu vertun.


(Beifall bei der PDS)

Zunächst muss ich über unlauteren Wettbewerb reden,

Herr Kollege Nooke. Manches von dem, was in Ihrem An-
trag steht, ist nun hinreichend kritisiert worden; das muss
man nicht noch ergänzen. Aber es gibt auch eine ganze
Reihe von Forderungen, die wir für vernünftig halten. Al-
lerdings handelt es sich in aller Regel um Forderungen,

die die PDS vor Jahren erhoben hat und die Sie übernom-
men haben.


(Beifall bei der PDS – Lachen bei der CDU/CSU)


Das geht zum Teil bis hin zu wörtlichen Formulierungen
von Christa Luft oder Gregor Gysi.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Wird dadurch nicht besser!)


Jetzt haben wir folgendes Problem: Sie stellen dieses so
dar, als wenn das neu aus der Kiste geholter Zauber wäre.
Wir aber müssen der erstaunten Öffentlichkeit erklären,
warum manches, was von uns schon früher gesagt wurde,
immer noch und immer wieder vertreten wird. Das ist un-
lauterer Wettbewerb.


(Beifall bei der PDS)

Der Antrag verdient aber auch an einer Stelle Respekt.

Wenn das in diesem Antrag enthaltene Angebot wirklich
ernst gemeint ist, dass gemeinsam darüber gestritten und
nachgedacht werden soll, was denn für die neuen Länder
nützlich ist – Sie nicken ja jetzt ein wenig zaghaft –,


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Wir streiten gerne mit Ihnen!)


dann müsste die CDU/CSU-Fraktion endlich ihren ana-
chronistischen Beschluss aufheben, gemäß dem jeder
Vorschlag von der PDS-Fraktion, auch in Bezug auf die
neuen Länder, schon deshalb abzulehnen sei, weil er von
dieser Fraktion komme. Das geht nämlich nicht zusam-
men.


(Beifall bei der PDS – Günter Nooke [CDU/CSU]: Wo steht der denn?)


Sie müssten sich auch noch zu etwas anderem durch-
ringen: Wenn das, was Sie vorgeschlagen haben, nunmehr
die richtige Lösung für die Belange der neuen Länder dar-
stellt, dann müssten Sie ehrlich eingestehen, dass dieser
Vorschlag die schärfste in diesem Hause vorgetragene
Kritik an Ihrer eigenen Regierungspolitik von 1990 bis
1998 ist. Daran kommen Sie nicht vorbei.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ansonsten ist Ihr Ruf an der jetzigen Weggabelung
„Kommt nur her, wir kennen den richtigen Weg und zei-
gen ihn euch schon!“ ein wenig deplatziert. Die Leute ha-
ben nicht vergessen, wohin die von Ihnen eingeschla-
genen Wege geführt haben.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wir wollen den Gysi haben!)


Nun haben wir auch wahrgenommen, dass der Kanzler
im Land der unbekannten Cousinen eingetroffen ist.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist unter der Gürtellinie! Ein bisschen Niveau!)


Das Erstaunliche war dabei, dass die Fernsehbilder den
Eindruck erweckten, als kämen diese Szenen aus Fernost.


(Beifall des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])





Werner Schulz (Leipzig)

16602


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir alle sollten eines akzeptieren: Die Menschen in den
neuen Ländern haben inzwischen ihr Selbstbewusstsein
wiedergewonnen und können damit auch etwas anfangen.
Auch Sie dürften mittlerweile bemerkt haben, dass die
PDS im Zusammenhang mit dem Thema deutsche Einheit
sich nicht auf die Rubrik „Meckern und jammern“ be-
schränkt.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

Das setzt aber voraus, dass wir gemeinsam – und nicht nur
die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern – das
Hinzukommen neuer Länder und der dort wohnenden
Menschen nicht länger als Belastung, sondern als Chance
begreifen.


(Beifall bei der PDS)

Deshalb haben es die Menschen in den neuen Ländern
auch nicht so gerne, wenn man ihnen sagt: „Der Segen
kommt von oben“ oder von einer Chefsache spricht. Sie
wünschen sich, dass Bedingungen geschaffen werden,
damit sie mit der eigenen Hände und Köpfe Arbeit zu ei-
nem selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwung bei-
tragen können. Hierfür müssen wir die Bedingungen
schaffen.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nun haben Sie seitens der Koalition andere Konzepte kri-
tisiert. Ich finde, dass Sie in Bezug auf die Verbindlichkeit
Ihrer Absichten mit Ihrem eigenen Bericht kritischer sein
sollten.

Ihr Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit hat
einen wesentlichen Mangel. Auf der einen Seite analysiert
er Sachverhalte ziemlich klar. So sagt er zum Beispiel: In
den Bereichen Forschung und Entwicklung bleibt der
Osten erheblich zurück. Ich erinnere Sie, dass die Poten-
ziale auf unter 20 Prozent des Standes zu DDR-Zeiten
zurückgefahren wurden. Weiterhin stellt er richtig fest,
dass es Marktzugangsbarrieren gibt. Auf der anderen
Seite bleibt er aber bei der Analyse stehen und klammert
die daraus zu ziehenden Konsequenzen aus. Dieses kriti-
sieren wir an dem Bericht.

Meine Damen und Herren, wir alle sind nicht nur Gast,
sondern auch engagierte Besucherinnen und Besucher
von Unternehmen. Oftmals wird uns gesagt: Ihr müsst
euch gar nicht so sehr dafür einsetzen, dass noch mehr
Geld kommt; das Problem ist vielmehr, dass wir die für
die Förderung eingesetzten Mittel nicht zweckbestimmt
erhalten können und nicht an der Bürokratie vorbei-
kommen. Es müsste endlich gelingen, Wirtschafts- und
Arbeitsmarktförderung zusammenzubringen.


(Beifall bei der PDS)

Die Problematik dabei ist nicht einmal so sehr, dass

Steuermittel aus den alten Ländern in den neuen Ländern
nicht ankommen – es wäre ja nicht so schlimm, wenn
diese Mittel dorthin zurückfließen würden, wo sie herge-
kommen sind –, sondern dass Steuermittel, die für die
Wirtschaftsförderung gedacht waren, auf einmal auf Kon-
ten von Banken und Unternehmen landen, für die sie

wirklich nicht vorgesehen waren. Da kann man also etwas
ändern, auch ohne dass zusätzliches Geld fließt.


(Beifall bei der PDS – Christoph Matschie [SPD]: Zeigen Sie mal die Kontoauszüge! – Zuruf von der SPD: Das müssen Sie einmal erläutern!)


– Wir werden gerne die Gelegenheit nutzen, Ihnen das zu
erläutern.


(Joachim Poß [SPD]: Antikapitalistische Rhetorik! Wenn schon Demagogie, dann bitte sachlich!)


Auch wir setzen uns dafür ein, dass eine kommunale
Investitionspauschale von jährlich mindestens 3 Milliar-
den DM aufgelegt wird, und zwar ohne Ergänzungsfinan-
zierung durch die Kommunen, die das in vielen Fällen gar
nicht leisten können.

Wir brauchen eine Altschuldentilgung bei den
Wohnungswirtschaftsunternehmen. Ich war des Öfteren
bei Hofe, also in Sachsen. Nicht nur durch Abwanderung,
sondern auch durch andere Migrationsprozesse – da
können Sie rechnen, wie Sie wollen – hätte Sachsen im
Jahre 2100 – vorausgesetzt, diese Prozesse laufen so wei-
ter wie bisher – exakt noch 1 Million Einwohner. Das ist
die Realität, auf die wir uns einstellen müssen, auch bei
der Frage der Unterstützung der Wohnungswirtschaft.


(Beifall bei der PDS – Joachim Poß [SPD]: Er plant über hundert Jahre voraus! Er hat Visionen! – Zurufe von der SPD: Oh!)


Sie müssen natürlich auch eines wissen: Als Nied-
riglohngebiet hat der Osten in der Zukunft keine Chancen.
Wenn Niedriglöhne ein Standortvorteil wären, dann
müssten wir an vielen Stellen schon längst weiter sein.


(Beifall bei der PDS)

Ich muss noch ein Wort an die CDU/CSU richten. Sie

fordern in Ihrem Antrag auf, die Probleme gemeinsam an-
zupacken und etwas für die neuen Länder zu tun. Ich will
Ihnen aber ein konkretes Beispiel für Ihr Demokratiever-
ständnis nennen: Bei der Landratswahl auf der Insel Rü-
gen landet die PDS-Kandidatin – das muss für Sie sehr ku-
rios sein – auf Platz eins mit mehr als 20 Prozent
Vorsprung vor dem CDU-Kandidaten. Eine Stichwahl
steht an.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Na und?)

Nun sagen Sie sich: Wollen wir doch einmal schauen, ob
es nicht einen Trick gibt. – Das dortige Wahlgesetz
schreibt vor, dass auf eine Kandidatin, die als Einzelbe-
werberin antritt, 25 Prozent der Stimmen aller Wahlbe-
rechtigten entfallen müssen. Jetzt kommt es: Auf Geheiß
von Berlin, von Frau Merkel ziehen Sie auf Rügen Ihren
CDU-Kandidaten zurück


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)


und versuchen mit diesem Trick, die Wahl einer PDS-
Landrätin zu verhindern. Das ist Ihr Demokratieverständ-
nis.


(Beifall bei der PDS)





Roland Claus

16603


(C)



(D)



(A)



(B)


Das werden Ihnen die Bürgerinnen und Bürger auf Rügen
nicht durchgehen lassen. Sie werden nicht verhindern
können, was Sie verhindern wollen.


(Beifall bei der PDS – Friedrich Merz [CDU/ CSU]: Das wollen wir einmal sehen!)


Ich will eine letzte Bemerkung zum Antrag der
CDU/CSU machen. Sie konnten es wiederum mehrfach
nicht unterlassen, die DDR und das nationalsozialistische
Regime gleichzusetzen. Dafür erfinden Sie das Wort von
der Erinnerungskultur. Ich will Ihnen dazu sagen: Die
PDS geht, wie aktuelle Debatten hinreichend belegen,
wahrlich kritisch und selbstkritisch mit ihrer Verantwor-
tung für die DDR um. Sie tritt auch für eine Opfer-
entschädigung ein.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Aber?)

Aber eines muss auch für Sie klar sein: Demokratische
Sozialistinnen und Sozialisten im Deutschen Bundestag
werden es niemals hinnehmen, dass das Nazi-Regime und
die DDR – von wem auch immer – auf eine Stufe gestellt
werden.

Danke.

(Beifall bei der PDS – Friedrich Merz [CDU/ CSU]: Wir wollen Gysi wieder haben! Was war das mit Gysi doch schön!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417007700
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Siegfried Scheffler.


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1417007800
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Werter Kollege Nooke,
mich wundert schon, dass Sie als erster Redner in dieser
Debatte zum Stand der deutschen Einheit die Zeit von
1990 bis 1998, in der Sie an der Regierung waren, aus-
blenden. Sie blenden beispielsweise völlig aus, auf wel-
cher Basis die neue Bundesregierung 1998 mit ihrer Ar-
beit beginnen musste. Sie lassen, wie auch in Ihrem
Antrag, die immense Staatsverschuldung in Höhe von
1,4 Billionen DM völlig außer Acht. Früher habe ich im-
mer gedacht, so etwas wie Wunsch und Wolke seien nur
in den Anträgen der PDS zu finden. Bei Ihnen ist das teil-
weise noch schlimmer. Sie sprechen von einem zusätzli-
chen 400-Milliarden-DM-Programm: jährlich 40 Milliar-
den DM. Der bayerische Ministerpräsident Stoiber spricht
von einem Familienlastenausgleich in Höhe von 60 Mil-
liarden DM. Ihr Fraktionsvorsitzender, Kollege Merz,
spricht von einem Modell, das vorsieht, Steuern in Höhe
von 40 Milliarden DM zu senken. Mich wundert das
schon ein bisschen.


(Joachim Poß [SPD]: Mehr! 60 Milliarden Familienund Kinderförderung! Die sind schon bei 400 Milliarden!)


– Noch mehr? – Wenn Sie die Regierung übernähmen –
was sich keiner wünscht –, stiege die jährliche Neuver-
schuldung erneut, nämlich um circa 80 Milliarden DM.

Ihnen ist bekannt, dass sich Finanzminister Eichel, der
Bundeskanzler, die Bundesregierung und die Koalitions-
parteien das anspruchsvolle Ziel gesetzt haben, die Netto-

neuverschuldung bis zum Jahre 2006 auf null zurückzu-
führen. Genauso unseriös, wie Sie bis 1998 Infra-
strukturpolitik betrieben haben, so unseriös sind auch Ihre
neuen Vorschläge – soweit das, was Sie vorgetragen ha-
ben, überhaupt Vorschläge enthielt.


(Beifall bei der SPD – Friedrich Merz [CDU/ CSU]: Ist das jetzt das Konzept, oder was?)


Eines ist natürlich klar – darin sind wir uns einig –: Die
finanziellen Anstrengungen für den Ausbau der Infra-
struktur werden auch in den nächsten zehn, 15 Jahren
immense Lasten mit sich bringen. Es sind gewaltige An-
strengungen – das ist der Unterschied –, die die neuen und
die alten Länder in Deutschland gemeinsam – im Konsens
oder zumindest aufeinander abgestimmt – schultern müs-
sen.

Ich unterstelle Ihnen einmal, dass Sie in den vergange-
nen Jahren nicht nur in den neuen Ländern unterwegs wa-
ren, sondern dass Sie auch mit den Verantwortlichen in
Bayern und Baden-Württemberg gesprochen haben. Viel-
leicht haben Sie sich auch mit dem jetzigen hessischen
Verkehrsminister unterhalten. Können Sie sich erinnern,
wie die Reaktion war, wenn immer neue Forderungen ge-
stellt wurden? Noch nicht einmal in Bezug auf das, was
Staatsminister Schwanitz vorhin über die Vereinbarung
des Bundeskanzlers mit den ostdeutschen Ministerpräsi-
denten vorgetragen hat, gibt es mit den von mir genann-
ten Regierungen der alten Länder einen entsprechenden
Konsens.


(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])

Dort sagt man: Jetzt ist Schluss mit lustig; zehn Jahre nach
der deutschen Einheit müssen einmal die Schlaglöcher in
Bayern, in Baden-Württemberg oder in Hessen geflickt
werden und muss die fehlende Infrastruktur ergänzt wer-
den.

Wenn Sie darauf hinweisen, dass ein erheblicher Infra-
strukturstau aufgelöst werden muss, dann sage ich Ihnen:
Sie haben mich und natürlich auch die Bundesregierung
auf Ihrer Seite. Es kommt also nicht von ungefähr, dass ab
dem Jahre 2005 für etwa 15 Jahre erhebliche Mittel inves-
tiert werden.

Aber: Es macht überhaupt keinen Sinn, wenn wir
zukünftig immer größere Summen von A nach B schie-
ben, wenn wir ständig einen Wettlauf um mehr Geld ver-
anstalten. Damit ist weder uns in diesem Hause noch den
Menschen außerhalb geholfen. Dagegen ist es eine Hilfe
– in unseren Beratungsunterlagen kommt das entspre-
chend zum Ausdruck –, wenn die Bekämpfung der Ar-
beitslosigkeit nachhaltig vorangetrieben wird.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal, was Sie wollen!)


Wir regen konkrete Maßnahmen im Bereich der Infra-
struktur an; es geht nicht nur um den Ausbau der Ver-
kehrsinfrastruktur, sondern auch um den Ausbau von
Schulen und des Wohnumfelds.

Natürlich ist in den letzten Jahren – zu Zeiten Ihrer Re-
gierung, das sage ich ausdrücklich, aber insbesondere
nach der Regierungsübernahme – an den verschiedenen




Roland Claus
16604


(C)



(D)



(A)



(B)


Standorten viel getan worden. Kollegin Pieper und Staats-
minister Schwanitz haben darauf zu Recht hingewiesen.
Aber durch die verstärkte Förderung im Infrastrukturbe-
reich in den letzten zwei Jahren ist der Investitionsstau
schon jetzt erheblich abgebaut worden. Insofern haben
der pauschale Vergleich Ostdeutschlands mit West-
deutschland und das Verteilen nach dem Gießkannen-
prinzip überhaupt nicht geholfen. Kollege Schulz hat die
Investitionspauschale konkret angesprochen. Der Ver-
gleich in Bezug auf Westdeutschland oder den internatio-
nalen Wettbewerb ist für die Menschen in den neuen Bun-
desländern überhaupt nicht hilfreich.

Denn Förderpolitik Ost vollzieht sich natürlich auf
vielen Ebenen und mit verschiedenen Prioritäten. Peter
Eckardt wird nachher auf die Problemfelder Wissen-
schaft, Forschung und Technik eingehen, in denen wir seit
1998 – ich könnte hier einige Beispiele aus dem Ostteil
Berlins oder auch aus den Regionen Sachsen/Thüringen
oder Mecklenburg-Vorpommern nennen, auch aus dem
Bereich der Telekommunikation – schon erhebliche Fort-
schritte erzielt haben. Trotz Abbau von ABM, SAM und
LKZ – das wurde schon angesprochen – wurde die Ar-
beitslosigkeit insgesamt erheblich verringert.

Ich darf im Übrigen daran erinnern, Kollege Nooke,
dass der Verkehrshaushalt trotz Haushaltskonsolidie-
rung der mit Abstand größte Investitionshaushalt des
Bundes ist. Rund 39 Prozent der gesamten investiven
Ausgaben betreffen Investitionen im Verkehrsbereich, ob
nun Straße, Schiene oder Wasserweg. Staatsminister
Schwanitz hat auf die Prioritäten hingewiesen. Ich sage
Ihnen ganz deutlich: In den letzten zwei Jahren gab es in
den Verhandlungen mit den Ländern, ob unter Minister
Müntefering, Minister Klimmt oder jetzt Minister
Bodewig,


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das war jetzt aber nicht gut!)


ob mit den alten oder den neuen Ländern, für eine weitere
Erhöhung über die 60 Prozent für die neuen Länder hinaus
überhaupt keine Akzeptanz. Das wissen Sie natürlich
ganz genau, weil Sie ebenso wie die F.D.P. den Straßen-
bau in den Vordergrund Ihres Antrages gestellt haben.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: 2 Milliarden DM für die Bahn werden ja nicht ausgegeben!)


Trotzdem hat diese Bundesregierung das geschultert. Sie
wissen natürlich, dass der Investitionshaushalt für den
Straßenbau in diesem und insbesondere im nächsten Jahr
der höchste überhaupt nach 1990 war. Zu keiner Zeit hat
Ihr Haushalt hier wirklich geglänzt, ob bei Wissmann oder
bei Krause, der ja durch andere Dinge in den letzten Ta-
gen wieder in der Zeitung erwähnt wurde. Geglänzt haben
Sie in Ihrem Verkehrshaushalt mit einem unseriösen, er-
heblich unterfinanzierten Bundesverkehrswegeplan. Mit
dieser Erblast von minus 80 bis 100 Milliarden DM müs-
sen wir seit 1998 umgehen.


(Beifall bei der SPD)

Dazu braucht man dann überhaupt nichts mehr zu sagen.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das ist besser, ja!)


Die Bundesregierung bedient sich unkonventioneller
Mittel, was Sie bis 1998 überhaupt nicht fertig gebracht
haben. Ich erinnere nur an die streckenbezogene LKW-
Gebühr, die wir ab 2003 einführen, oder an die zusätzli-
chen Mittel, die wir durch die Zinseinsparung aus der Ver-
steigerung der UMTS-Lizenzen erhalten. Aus all diesen
Dingen wird sichtbar, dass in der Prioritätenliste der
Bundesregierung der Verkehrshaushalt an erster Stelle
steht, natürlich prioritär in den neuen Ländern. Das gilt
auch noch für den Bereich Bildung und Forschung.

Als weiteres Beispiel möchte ich die EU-Osterweite-
rung nennen, weil das Stichwort heute schon des Öfteren
gefallen ist.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417007900
Denken Sie mit
Ihrem weiteren Beispiel aber auch an die Zeit.


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1417008000
Ich erinnere nur an das
EFRE-Sonderprogramm, das gerade in den letzten Ta-
gen von der Europäischen Union bestätigt wurde. Wo wa-
ren Sie denn? Bis 1998 hätten Sie dieses EFRE-Pro-
gramm doch auch auflegen können. Die neue Bun-
desregierung hat hier innovativ und kreativ neue Finan-
zierungsquellen erschlossen, von denen gerade die neuen
Länder von Rostock bis Zittau in erheblichem Maße pro-
fitieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Gleiches gilt – auch da könnte ich Beispiele aufzeigen –

für den Bausektor.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417008100
Herr Kollege,
jetzt muss ich Sie doch ermahnen, zum Schluss zu kom-
men.


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1417008200
Ein letzter Satz, Frau Prä-
sidentin. – Kollege Nooke, Sie und Ihre Fraktion waren es
doch, die 1999 die KfW-Mittel auslaufen lassen wollten.
Die neue Regierung hat die Mittel nicht nur verstetigt,
sondern erhöht. Insofern kam von Ihnen nicht viel Neues.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Schluss! Aufhören!)


Das, was in den nächsten 15 Jahren getan werden muss,
wird heute auf den Weg gebracht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417008300
Das Wort hat die
Abgeordnete Katherina Reiche.


Katherina Reiche (CDU):
Rede ID: ID1417008400
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen nahm ich
an einer Veranstaltung zu dem Thema „Berlin-Branden-
burg im Jahr 2011“ teil. Zu Beginn der Veranstaltung
wurden fiktive Nachrichten vorgelesen, wie sie vielleicht
im Jahr 2011 aussehen könnten: „Der Flughafen Berlin
Brandenburg International ist noch immer nicht aus-
gebaut“; „Das Zukunftsprojekt Transrapid ist gebaut, aber




Siegfried Scheffler

16605


(C)



(D)



(A)



(B)


nicht als Hauptstadtanbindung, sondern zwischen Mün-
chen und Prag“; „Die Einwohnerzahl der neuen Länder
hat sich im Vergleich zu 1990 halbiert“.

Dieses Szenario ist zum Glück nur fiktiv. Trotzdem
wird die Politik nicht aus ihrer Pflicht entlassen werden,
solchen Entwicklungen mit aller Kraft entgegenzuwirken.
Dazu sind immer wieder neue Ideen und kreative Kon-
zepte gefordert, die Wege eröffnen. Dies gilt in besonde-
rem Maße für die neuen Länder.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist viel erreicht worden, dank der Aufbauleistung der
Menschen in den neuen Ländern, aber auch dank der So-
lidarität der Menschen in den alten Ländern. Dennoch
verlangen die neuen Länder weiterhin besondere Auf-
merksamkeit. Dies ist der Kern unseres Antrages.

Eines der Kernprobleme besteht in der nach wie vor
starken Abwanderung, besonders der jungen qualifizier-
ten und motivierten Menschen. Die Zahlen sprechen eine
deutliche Sprache. Seit 1990 haben über 1 Million Men-
schen den Osten verlassen. Die Abwanderungsbewegung
nahm Mitte der 90er-Jahre ab; seit 1998 ist sie wieder
sprunghaft angestiegen.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: So ist es!)

Der negative Wanderungssaldo lag 1999 bei 44 000 Men-
schen, die von Ost nach West gegangen sind. Eine Besse-
rung ist bislang leider nicht zu verzeichnen.

Nun mag es falsch sein, die Abwanderung zu dramati-
sieren; denn wir haben die berechtigte Hoffnung, dass ein
Teil der jungen Leute zurückkommt. Aber was Ihre stell-
vertretende Fraktionsvorsitzende Frau Gleicke im Maga-
zin „Wirtschaft & Markt“ äußert, ist dann doch hane-
büchen. Sie schreibt: „Pure Illusion ist die Annahme, dass
alle jungen Leute in absehbarer Zeit den Arbeitsplatz ih-
rer Wahl am eigenen Heimatort finden können.“ – Ich
frage mich: Wo bleibt denn Ihr politischer Anspruch, dies
zu ändern?

Sie schreibt weiterhin: „Liebe Eltern, seid stolz auf
eure Kinder, wenn sie den Mut finden, ihr Glück in der
Ferne zu suchen. Sie brauchen Hilfe und Unterstützung;
wir wollen doch, dass sie es zu etwas bringen.“

Sie äußern dann Ihre Hoffnung, dass sie auch wieder-
kommen, und schreiben: „Wenn nicht, dann kommen
eben andere junge Leute. Wir sind doch ein Volk in einem
gemeinsamen Land.“ – Ich weiß nicht, woher diese Leute
kommen sollen; ich finde diese Ansichten wirklich naiv.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Gerade die Folgen der Abwanderung geben zusätzlich

Anlass zur Sorge, nämlich der zunehmende Wohnungs-
leerstand und der Mangel an Fachkräften, die wir in Ost-
deutschland dringend brauchen.

Wenn man sich heute noch einmal die Worte des Kanz-
lers in Erinnerung ruft, er wolle den Aufbau Ost zur Chef-
sache machen, kann man nur feststellen, dass dies Wahl-
kampfrhetorik war und dass außer Spesen nicht viel
gewesen ist.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das war eine Drohung!)


Die Ankündigungen sind von den Menschen jedoch sehr
wohl gehört worden und viele haben Hoffnungen in diese
Worte gesetzt. Sie aber lassen vielen Worten nur wenige
Taten folgen. Der Vertrauensverlust – diese Worte muss
sich der Bundeskanzler gefallen lassen – lässt sich auch
nicht damit ausgleichen, dass er im Sommer durch die
neuen Länder tourt. Stattdessen kommt es darauf an, dass
die Politik die richtigen Rahmenbedingungen setzt. Diese
Rahmenbedingungen haben wir in unserem Antrag ganz
klar beschrieben.

Lassen Sie mich etwas zur Ausbildungssituation in
den neuen Ländern sagen. Im vergangenen Jahr ist die An-
zahl der Ausbildungsverträge um 7,8 Prozent zurückge-
gangen, im Bereich des Handwerks sogar um 12,3 Pro-
zent. Auch hier haben die vollmundigen Ankündigungen
der Bundesregierung bislang nicht viel bewirken können.
Das Vorzeigeprojekt JUMP hat sich als wenig effektiv er-
wiesen. So ist von 770 000 Jugendlichen lediglich die
Hälfte in eine Ausbildung gekommen und nur ein ganz ge-
ringer Teil hat die Chance, im ersten Arbeitsmarkt einen
Job zu finden.

Der von der Bundesregierung selbst gesetzte Bewer-
tungsmaßstab hinsichtlich ihrer Arbeit – die spürbare Re-
duzierung der Arbeitslosigkeit – ergibt im Bereich der Ju-
gendarbeitslosigkeit ein ganz besonders negatives Er-
gebnis. Weitaus bedauerlicher aber ist es, wenn der Bun-
deskanzler ein von Jugendlichen gewünschtes Gespräch
über ihre persönliche Ausbildungssituation mit der Be-
gründung ablehnt, er sei ausgepfiffen worden.

Wenn der Herr Bundeskanzler zur Jobparade nach
Schwerin fährt, dann muss er sich schon den einen oder
anderen kritischen Kommentar gefallen lassen. Und der
fällt eben bei jungen Leuten manchmal ruppiger aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber statt das Gespräch zu suchen, hat er die Jugendlichen
mit einer arroganten Attitüde abgewiesen und ist einfach
gegangen. Das war eine echt blamable Vorstellung.

Ein weiteres Thema, das unserem Antrag zugrunde
liegt, ist die Erweiterung der Europäischen Union.
Wenn die EU in absehbarer Zeit erweitert wird, dann liegt
Ostdeutschland im Herzen Europas. Allerdings müssen
die jetzigen Grenzregionen auch auf ihre veränderte geo-
politische Lage vorbereitet werden. Vorschläge kommen
jedoch nicht etwa aus Berlin, sondern aus den neuen Län-
dern und aus Brüssel. So war es die Europäische Kom-
mission, die einen Aktionsplan für die deutsche Grenzre-
gion vorgeschlagen hat. Kern dieses Aktionsplanes ist der
Ausbau von Schienen und Straßen, was unbedingte Prio-
rität erhalten muss. Dies sagen auch wir deutlich in unse-
rem Antrag.

Die Osterweiterung wird aber eben nur Erfolg haben,
wenn die Menschen informiert sind und von den zu er-
wartenden Vorteilen überzeugt werden. Ängste und Vor-
behalte der Menschen muss man ernst nehmen. Man kann
nicht über sie hinweggehen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417008500
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scheffler?




Katherina Reiche
16606


(C)



(D)



(A)



(B)



Katherina Reiche (CDU):
Rede ID: ID1417008600
Ich würde ganz gern
fortfahren. – Schon heute ist zu erkennen, dass die mit der
Osterweiterung verbundene Vergrößerung des Binnen-
marktes zu wirtschaftlichen Vorteilen führen wird, sowohl
in Ostdeutschland als auch in den Erweiterungsgebieten.
Der größere Binnenmarkt wird den Unternehmen weitere
Arbeitsplätze eröffnen. Nur kommt es jetzt eben darauf
an, angemessene Übergangsfristen zu finden, die den
Interessen diesseits und jenseits der Oder Rechnung tra-
gen.

Herr Bundeskanzler – er ist nicht mehr da, ich wünsch-
te, er wäre da –, es reicht nicht, Ostdeutschland medien-
wirksam zu bereisen oder nach elf Jahren die ostdeutsche
Verwandtschaft wiederzuentdecken.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Quatsch, dummes Zeug!)


Der zuständige Staatsminister für die Angelegenheiten
der neuen Länder spielt in der Öffentlichkeit keine Rolle,
weder bei politischen Entscheidungen noch in der öffent-
lichen Wahrnehmung. Er muss sich sogar seinen Abge-
sang in aller Öffentlichkeit gefallen lassen – das tut mir
schon fast wieder Leid –, gerüchteweise ist der Oberbür-
germeister aus Potsdam, Matthias Platzeck, als Nachfol-
ger im Gespräch.


(Zuruf von der SPD: Sagen Sie mal, was soll das denn nun?)


Das gäbe mit dem neuen SPD-Hoffnungsträger Ost dann
allenfalls wieder nette Bilder mit freundlichen Menschen.
Nur, alter Wein wird in neuen Schläuchen auch nicht bes-
ser. Was wir brauchen, ist eine kluge Politik mit Herzblut
für Ostdeutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417008700
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Eckardt.


Dr. Peter Eckardt (SPD):
Rede ID: ID1417008800
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal: Ich
finde es natürlich gut, dass ich heute bei dieser Debatte re-
den darf, als jemand, der den größten Teil seines Lebens
in Westdeutschland verbracht hat, dort sozialisiert wurde
und sich für dieses Thema interessiert hat. Aber ich hätte
es auch gut gefunden, wenn zu den Entwürfen, die Sie
„Deutschland 2015“ nennen – Werner Schulz hat ja schon
gesagt, was der Antrag sprachlich und inhaltlich wert ist –,
nicht nur jemand wie Sie, Herr Nooke, sondern auch Ihre
Parteivorsitzende oder Ihr Fraktionsvorsitzender eine
Rede gehalten hätte, statt die Darstellung von Gegenent-
würfen auf eine Kurzintervention zu verschieben. Das
hätte ich als jemand, der das immer mit Interesse beob-
achtet, ganz gut gefunden.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Wo ist denn Ihr Antrag? – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Der Herr Staatsminister hat das ganz gut gemacht, denke
ich.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


– Jawohl, Herr Nooke! Da ich Sie ja aus dem Ausschuss
für Angelegenheiten der neuen Länder kenne, weiß ich,
wie das mit Ihren Anträgen nervt: Berichterstattungen
über die Förderung eines jeden Pflastersteines in jedem
brandenburgischen Dorf! Ich hätte erwartet, dass wenigs-
tens in diesem Antrag „Deutschland 2015“ etwas Über-
greifendes, Richtungweisendes steht.

Als jemand, der das als Westdeutscher beobachtet hat,
muss ich feststellen: Die neuen Länder, über deren Ent-
wicklung wir heute hier im Hause diskutieren, befinden
sich elf Jahre nach der deutschen Einheit in vielen Regio-
nen und Branchen in einem viel versprechenden, aber
– wie man weiß – noch nicht abgeschlossenen Entwick-
lungsprozess. Dies gilt auch für Wissenschaft und For-
schung.

Natürlich gab es schon – beginnend 1990 – Fortschritte
auf vielen Gebieten und in vielen Regionen. Das ist nicht
zu bestreiten. Aber schon vor Jahren konnte eigentlich
klar sein: Neben der Entwicklung der Infrastruktur, auf
die schon mein Kollege Scheffler hingewiesen hat, wird
in den neuen Ländern die verstärkte Förderung von Inno-
vationen und die der Wettbewerbsfähigkeit nur über Wis-
senschaft und Forschung erfolgreich sein. Die flächen-
deckende, nicht gezielte und pauschale Förderung aus
früheren Zeiten, wie wir sie seit fast einem Jahrzehnt ken-
nen, wird es nicht schaffen, den Aufschwung Ost zu voll-
enden.

Den Hochschulen und den außeruniversitären For-
schungseinrichtungen sowie ihrer Vernetzung und Ko-
operation mit der Wirtschaft, besonders mit der mittel-
ständischen, kommt für die Wettbewerbsfähigkeit und die
Arbeitsplatzentwicklung in Ostdeutschland eine Schlüs-
selrolle zu. Zunehmend tragen individuelle Kompetenz,
Wissen, Kreativität, Selbstständigkeit, Kommunikations-
strukturen – die derzeit unterentwickelt sind –, die Zu-
sammenarbeit und Eigeninitiative zum wirtschaftlichen
Erfolg in der technischen Produktion und in den Dienst-
leistungen bei.

Manche Illusionen wären den Menschen in den neuen
Ländern erspart geblieben, hätte die CDU/CSU manche
ihrer heutigen Forderungen nicht nur früher gestellt – so
wie sie das jetzt in ihrer Anfrage zur konzertierten För-
derpolitik für Ostdeutschland tut –, sondern auch reali-
siert. Ich denke, die Opposition versucht heute, zu sugge-
rieren, erst mit dem Regierungswechsel 1998 habe sich
die Entwicklung in den neuen Ländern verschlechtert. Ei-
nige von Ihnen wissen, dass ich aus einer Region komme,
die an der Nahtstelle zwischen den neuen und den alten
Ländern seit zehn Jahren die Probleme hautnah erlebt und
in der man weiß, dass die Förderung des Aufbaus Ost auch
Akzeptanz im Westen benötigt. Denn der Erfolg in den
neuen Ländern hängt wesentlich auch von den Menschen
in den alten Ländern ab.

Gerade Wissenschaft und Forschung gedeihen nur in
der Kooperation zwischen Ost und West und dem Aus-
land. Das akademische Leben an den Universitäten und
Fachhochschulen hängt sehr stark davon ab, dass dort
Menschen aus allen Teilen Deutschlands und dem Aus-
land lehren, forschen und studieren. Hier müssen ost-
deutsche Universitäten und Fachhochschulen noch mehr






(C)



(D)



(A)



(B)


Werbung machen, um sich und ihre zum Teil exzellenten
Angebote zu präsentieren.


(Beifall bei der SPD)

Ohne eine neue und vor allen Dingen qualitative Poli-

tik des Aufbaus Ost ist ein nachhaltiger Erfolg nicht oder
nur langsam zu erreichen. Ich habe nach der Lektüre des
vorliegenden CDU/CSU-Antrages und der Großen An-
frage der CDU/CSU den Eindruck, dass immer noch die
alte Politik betrieben wird, dass man immer noch das Alte
– wenn auch mit neuen Worten – fordert: Verteilung der
Fördergelder, möglichst viel für den eigenen Wahlkreis,
ohne Blick für die neuen Notwendigkeiten einer gezielten
Förderung unterschiedlicher Regionen und Bereiche, die
auch einmal nicht den eigenen Wahlkreis betreffen kön-
nen.

Sie können sich ja einmal die Mühe machen, in der
Großen Anfrage der CDU/CSU die Wörter „Forschung“
und „Wissenschaft“ zu suchen. Sie werden sie nicht fin-
den. Dafür finden Sie aber die Begriffe Förderebenen,
Förderprogramme, Fördertöpfe, Förderung, Wirtschafts-
förderung, Förderquellen, Förderkonzepte, Förderstellen,
Förderkompetenz, Förderpolitik und Fördervolumina in
großer Menge. Die Wörter „Wissenschaft“ und „For-
schung“, die zentralen Inhalte und Ziele einer neuen qua-
litativ erfolgreichen Ostpolitik, kommen auch im Antrag
der CDU/CSU „Deutschland 2015“ kaum vor. Auf den
Seiten 6 und 7 werden diese Begriffe spärlich und ohne je-
den Zusammenhang benutzt.

Das Leitbild Ost wird dann aber auf drei Seiten mit
konservativer Bildungspolitik gefüllt: Kopfnoten, bilin-
guale Angebote und achtjährige gymnasiale Bildungs-
gänge sollen verpflichtend sein und dann endlich den Auf-
bau Ost schaffen. Welche Naivität und welcher Eingriff in
die föderalen Kompetenzen!

Die Große Anfrage und der Antrag der CDU/CSU be-
stätigen: Nach acht Jahren CDU/CSU-Politik in der Ost-
förderung musste die Bundesregierung im September
1998 einen Strategiewechsel vollziehen, um dem Aufbau
Ost neuen Schwung zu geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Wo ist eigentlich Thierse?)


Dieser Strategiewechsel ist gelungen und verspricht er-
folgreich zu sein. Einige wenige Zahlen aus dem Bereich
Wissenschaft und Forschung: Im Bundeshaushalt 2001
werden 8,2 Prozent mehr Mittel in Bildung und For-
schung investiert als 1998. Von diesen Mitteln profitieren
ostdeutsche Einrichtungen der Wissenschaft und For-
schung in hohem Maße. Für die Förderung von Innova-
tion, Forschung und Entwicklung stehen jährlich mehr als
3 Milliarden DM zur Verfügung. Ich könnte noch weitere
Zahlen nennen. So standen zum Beispiel für die Gemein-
schaftsaufgabe Hochschulbau etwa 30 Prozent aller Mit-
tel bereit.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Ich möchte wissen, ob Ihnen die Beamten im Ministerium das alles richtig aufgeschrieben haben!)


– Herr Kollege Nooke, die Intelligenz eines sozialdemo-
kratischen Abgeordneten reicht aus, ein paar Zahlen und
Begriffe in den Zusammenhang zu bringen, und zwar bes-
ser, als Sie das in Ihrem Antrag gemacht haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hätte ich eine Rede mit hohem Unterhaltungswert hal-
ten wollen, hätte ich Werner Schulz in der Interpretation
Ihres Antrages sprachlich und inhaltlich erheblich über-
boten.


(Beifall der Abg. Sabine Kaspereit [SPD])

Das habe ich mich hier nicht getraut und deshalb nicht ge-
macht.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Es wäre zumindest lustiger gewesen!)


Wir reden im Ausschuss noch einmal darüber, wie das in-
telligent aussehen könnte.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417008900
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?


Dr. Peter Eckardt (SPD):
Rede ID: ID1417009000
Ja.


Hartmut Büttner (CDU):
Rede ID: ID1417009100
Herr
Kollege, könnten Sie uns einmal erklären, warum der
Bundestagspräsident in letzter Zeit permanent von den
Ostdebatten fern gehalten wird?


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Den haben wir eingesperrt!)



Dr. Peter Eckardt (SPD):
Rede ID: ID1417009200
Das kann ich Ihnen, Herr
Kollege, nicht erklären, weil ich an diesen Entscheidun-
gen nicht beteiligt bin.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Günter Nooke [CDU/CSU]: Wer entscheidet das denn?)


– Ich nicht. Ich denke, dass Sie auf einen bestimmten Be-
griff rekurrieren, der in der öffentlichen Debatte eine
große Rolle gespielt hat, der – vorsichtig ausgedrückt –
unglücklich war und auch die Situation nicht korrekt be-
schrieben hat. Aber da er in der gesamten Presse und in
100 Presseerklärungen der CDU nun 500-mal behandelt
worden ist, müsste jetzt eigentlich Schluss damit sein. Ei-
nigen wir uns darauf: Die Wahl der Begrifflichkeit von
Herrn Thierse über die Frage, was nun in Ostdeutschland
vor sich geht und was nicht, ist nicht das Wichtigste. Ich
habe mich davon distanziert und jetzt ist Ende.


(Zurufe von der CDU/CSU: Basta!)

– Der Begriff „Kippe“ lässt sich sprachlich erheblich vari-
ieren, von Müll bis Kinderspielplatz. Er ist nicht geeignet,
einen sozial relevanten Zusammenhang der Entwicklung
eines Landes ausreichend zu beschreiben.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Hoffentlich steht Thierse nicht auf der Kippe!)





Dr. Peter Eckardt
16608


(C)



(D)



(A)



(B)


Das wissen auch Sie ganz genau. Kritik ist okay – einmal,
zweimal oder dreimal –, aber dann muss es das gewesen
sein.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das kann doch Thierse sagen!)


– Das weiß ich nicht. Fragen Sie ihn doch!

(Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie halten sich hier einen Bundestagspräsidenten, der die PDSKlientel abfischen soll, und trauen sich nicht einmal, das zuzugeben!)


– Herr Nooke, wir kennen uns nun schon drei Jahre,

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Nooke, nun ist aber mal Ruhe! Flegel!)

aber ich komme immer mehr zu der Einsicht, dass ich mit
Ihren Interpretationen der sozialen Wirklichkeit im We-
sentlichen nicht übereinstimme.

Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, dann hätte ich die
entsprechenden Zahlen vortragen können, aber die vorhin
genannten Stichworte zeigen: Wissenschaft und For-
schung entscheiden über die Chancen Deutschlands im
internationalen Wettbewerb. Sie entscheiden auch über
die Frage, wie schnell und gut sich Ost und West sozial-
wirtschaftlich angleichen. Wir hätten reden müssen über
das Jugend-Sofortprogramm JUMP, die BAföG-Er-
höhungen dieser Koalition und weitere Maßnahmen, die
den Menschen in den ostdeutschen Ländern helfen, ihr
zum Teil schweres Schicksal zu bewältigen.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Es ist jetzt gut!)

Ich bin im Westen Deutschlands aufgewachsen und

werbe überall dort, wo ich hin komme – ich glaube, so gut
kennen wir uns –, auch dafür, dass wir die Chancen für
Ostdeutschland als gemeinsame politische Aufgabe von
Ost und West begreifen


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das steht übrigens in unserem Antrag!)


und natürlich auch Erfolg als unseren gemeinsamen Er-
folg ansehen.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417009300
Jetzt hat der Ab-
geordnete Michael Luther das Wort.


Dr. Michael Luther (CDU):
Rede ID: ID1417009400
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie
mich am Anfang formulieren: Der Aufbau Ost ist und
bleibt eine deutsche Erfolgsgeschichte und darauf können
wir als Deutsche stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir können stolz sein auf den Aufbauprozess, auf die

Leistungen der Menschen in den neuen Ländern, auf die

Leistungen der Politik, auch auf die solidarischen Leis-
tungen der Menschen aus den alten Bundesländern.


(Zuruf von der SPD: Aber auch über 1998 hinaus!)


Wir können auch auf das stolz sein, was dem vorange-
gangen ist, nämlich eine friedliche Herbstrevolution – et-
was Einmaliges in dieser Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich finde es richtig, dass darauf insbesondere im Bericht
der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit
verwiesen wird.

Schlecht ist allerdings – das will ich an dieser Stelle
sagen –, dass die Bundesregierung nicht die Größe hat, die
ganze Wahrheit auszusprechen. So wird zwar zum
Jahr 1989 wörtlich Willy Brandt zitiert, der festgestellt
hat: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“,
aber sonst niemand. Ich verstehe ja, dass Sie Ihre damali-
gen Vorderen Lafontaine und Schröder, die gegen die
deutsche Einheit waren und sich heute dafür schämen
müssen, nicht erwähnen. Zur Vollständigkeit gehört aber,
dass damals Helmut Kohl die Chance ergriffen und die
deutsche Einheit staatlich gestaltet hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Uwe Küster [SPD]: Peinlich!)


Der Bericht zum Stand der deutschen Einheit ist mit
der rot-grünen Brille geschrieben worden; das wird ganz
deutlich. Ich warne deshalb jeden, der diesen Bericht liest,
dies mit äußerster Vorsicht zu tun. Das Strickmuster ist
einfach – ich möchte dies ähnlich ausdrücken, wie Sie es
gesagt haben, Herr Schulz –: Die Erfolge, die bis 1998 ge-
leistet worden sind, konnten Sie in diesem Bericht zwar
nicht verschweigen; aber Sie weisen in epischer Breite auf
eine Vielzahl von Defiziten hin. Anschließend, nach 1998,
beginnt nach Meinung von Rot-Grün das goldene Zeit-
alter des Aufbau Ost, der Chefsache. – Allein: Die Men-
schen haben die Nase voll von dem, was sie in Sachen
Aufbau Ost seitens Rot-Grün seit 1998 erlebt haben. Sie
haben den Aufbau Ost in den letzten zweieinhalb Jahren
sträflichst vernachlässigt. Ich meine, das muss sich än-
dern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Osten steht nicht auf der Kippe; er braucht neue

Impulse.

(Sabine Kaspereit [SPD]: Machen Sie mal ein paar konkrete Vorschläge!)

Ich habe das Gefühl, dass das, was Thierse zu Anfang die-
ses Jahres beschrieben hat, nicht die Situation in den
neuen Bundesländern ist, sondern der geistige Zustand
der SPD-Fraktion bzw. im Bundeskanzleramt. Es zeigt
sich ganz deutlich, dass die damalige Debatte zum Aufbau
Ost, auch wenn sie heute fortgeführt würde, niemandem
nutzt.

Die Lage in den neuen Bundesländern ist nicht einfach.
Ich will die Stimmung wie folgt beschreiben: Die Bürger
in den neuen Bundesländern bewegt die hohe Arbeitslo-
sigkeit. Sie bewegt das Gefühl, dass sie keine Perspektive




Dr. Peter Eckardt

16609


(C)



(D)



(A)



(B)


haben, aus dieser Arbeitslosigkeit herauszukommen; dies
hat sich seit 1998 dramatisch verschlechtert. Sie bewegt
aber auch die Tatsache – jede Oma und jede Mutter ver-
spürt dies –, dass ihre Kinder, dass die jungen Leute in die
alten Bundesländer abwandern. – Woran liegt das? Für
meine Begriffe ist dies im Kern das Ergebnis der Politik
von Schröder, der den Aufbau Ost als Chefsache betrach-
tet. Schröder hat kein Herz für die neuen Bundesländer
und deshalb entstand diese Hoffnungslosigkeit.


(Dr. Mathias Schubert [SPD]: Sie sind doch intelligenter, als dass man solche Schlüsse ziehen könnte!)


Wir von der Union sehen das anders und fordern daher
Handlungsbedarf durch die Politik ein. Wir sind der
Meinung, dass durch politisches Engagement in der Ver-
gangenheit viel erreicht worden ist und dass die neuen
Bundesländer jetzt erneut einen Impuls, politisches En-
gagement, brauchen. Die neuen Bundesländer brauchen
Visionen. Wir haben uns einmal die Mühe gemacht, diese
in unserem Antrag „Aufbau Ost als Leitbild für ein mo-
dernes Deutschland“ aufzuführen.


(Zuruf von der SPD: Laue Luft!)

Wir sind uns in diesem Hause diesbezüglich in vielen

Fragen einig. Ein wichtiges Element für die Fortsetzung
des Aufbaus Ost ist der Solidarpakt. Ich finde es
lobenswert, dass sich die neuen Bundesländer parteiüber-
greifend aufgemacht haben und insofern in Vorleistung
getreten sind, als sie die renommierten deutschen Wirt-
schaftsinstitute beauftragt haben, festzustellen, wie der
Bedarf nach 2004 aussieht. Das Ergebnis ist uns allen be-
kannt: Die Institute haben im Infrastrukturbereich einen
Nachholebedarf von 300 Milliarden DM und für den
Ausgleich des kommunalen Defizits jährlich 10 Milli-
arden DM ermittelt.

Die Aussage, dass der Solidarpakt fortgesetzt werden
soll – in diesem Wunsch sind wir, die Länder und auch wir
in diesem Hause, uns wohl einig –, war ein gewisses Auf-
bruchsignal. Aber nach dem, was wir in den letzten
Wochen in den Zeitungen lesen mussten, dass sich der
Bundeskanzler mit den Ministerpräsidenten aus Ost-
deutschland zusammengesetzt und Leistungen im Rah-
men des Solidarpaktes abgestimmt – Bernhard Vogel hat
gesagt: „ausgekungelt“ – hat, die den aufgestellten For-
derungen der Wirtschaftsinstitute nicht mehr entspre-
chen, ist ein wichtiges und positives Signal wieder einmal
ins Negative verkehrt worden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sabine Kaspereit [SPD]: Das stimmt doch nicht! Das ist blanker Unsinn!)


Das, was als Ergebnis herausgekommen ist, entspricht
nicht dem, was als notwendig erklärt worden ist. Damit
bleibt der Aufbau Ost für Bundeskanzler Schröder das,
was er seit 1998 ist: Nebensache!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zu Recht beschweren sich – ich nenne Zahlen, die ich in
Zeitungen gelesen habe – die Ministerpräsidenten aus den
neuen Bundesländern, dass die Summe von 200 Milli-

arden DM, die für die nächsten 15 Jahre vorgeschlagen
worden ist, zu niedrig ist.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Das ist nicht vorgeschlagen worden!)


Ministerpräsident Höppner aus Sachsen-Anhalt erklärt,
dass die vorgeschlagene Summe nur 40 Prozent des Not-
wendigen abdeckt.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Sie sollten sich mal mit dem Solidarpakt befassen!)


Ich will das nicht in aller Breite unterstützen, aber es zeigt,
in welche Richtung es geht. Deshalb fordern wir in unse-
rem Antrag, dass der Solidarpakt über weitere zehn Jahre
fortgesetzt werden muss, und zwar dort, wo er heute ist,
mit den Mitteln, die heute zur Verfügung stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Günter Nooke [CDU/CSU]: Das müssen Sie in Ihrer Fraktion erst einmal beschließen, Frau Kaspereit!)


Es geht beim Aufbau Ost jedoch nicht allein ums Geld.
Es geht auch um politische Initiativen. Ich will Ihnen ein-
mal ein positives Beispiel aus der Vergangenheit nennen:
die Einkaufsinitiative Ost.


(Zuruf von der SPD: Leuna!)

Das ist eine politische Begleitung des Solidarpakts gewe-
sen. Ich kann Ihnen eine Vielzahl von Firmen aus meinem
Wahlkreis zeigen, die heute nur deshalb existieren, ex-
pandieren und auf den internationalen Märkten agieren,
weil ihre ersten Aufträge aus dieser Einkaufsinitiative re-
sultierten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich meine, es wäre ein richtiger Schritt, wenn der Bun-

deskanzler die deutsche Wirtschaft an seinen Tisch riefe
und diese Einkaufsinitiative wiederbelebte. Das wäre
wahrhaftig eine Tat im Sinne der Chefsache Aufbau Ost.
Er könnte sich auch für die Ansiedlung von industriellen
Kernen einsetzen, so wie das in der Vergangenheit ge-
schehen ist.

Frau Merkel hat es bereits deutlich gesagt: Beim A3XX
haben Sie versagt. Weitere Projekte haben Sie nicht vor.
Wenn wir beim Aufbau Ost vorankommen wollen, dann
müssen Sie erfolgreiche Initiativen auf den Weg bringen.
Ich wünsche mir, dass wir so etwas in diesem Haus ge-
meinsam angehen. Sie jedoch machen nichts. Der Bun-
deskanzler fährt auf einer Sommerreise durch das Land
und verkündet Wohltaten, die ihm niemand glaubt. Falls
ihn jemand kritisiert – das darf natürlich nicht sein; Frau
Reiche hat dazu ein Beispiel genannt; genügend andere
gibt es aus Sachsen –, dann wird versucht, dies in den Me-
dien herunterzuspielen. Letztlich soll nur Erfolg verkün-
det werden, auch dann wenn es keinen gibt.

Herr Schwanitz, Sie haben es richtig gesagt: Der Auf-
bau Ost ist eine Generationenaufgabe. Er ist in einer Ge-
neration zu bewältigen. Aber momentan gibt es eine Un-
terbrechung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Dr. Michael Luther
16610


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417009500
Als letztem
Redner in der Debatte gebe ich nun dem Abgeordneten
Christian Müller das Wort.


Christian Müller (SPD):
Rede ID: ID1417009600
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Verständnis
dafür, dass es für eine ehemalige Regierungspartei eine
Gratwanderung ist: Sie muss aus heutiger Sicht Politik
machen und gleichzeitig das im Auge zu behalten, was sie
in der Vergangenheit gewollt hat. Insofern ist diese De-
batte bemerkenswert: Herr Claus hat Ihnen bestätigt, dass
Sie nun gewissermaßen Forderungen der PDS aufgegrif-
fen haben und damit Ihre eigene Regierungspolitik in-
frage stellen. Sie sind also tatsächlich in der Opposition
angekommen.

Ansonsten habe ich gehofft, diese Debatte würde ein
bisschen mehr Klarheit bringen, was Ihre etwas unschar-
fen Bilder betrifft, die Sie in Ihrem Antrag verwenden.
Die Weggabelung hat heute ja schon einmal eine gewisse
Rolle gespielt – ein unzutreffender Begriff, denn er impli-
ziert ja, man sei heute an einem kritischen Punkt ange-
kommen, an dem die Entscheidung gefällt werden müsse,
die richtige Entscheidung werde von der CDU gefällt und
die falsche sei die, die wir letztlich verfolgen. Mit einer
derartig monokausalen und einschichtigen Betrachtungs-
weise ist dem Prozess, der jetzt seit nunmehr zehn Jahren
läuft, vermutlich überhaupt nicht beizukommen.


(Beifall bei der SPD)

Im Übrigen würde es Ihnen ja vermutlich auch nicht

gefallen, wenn man diese Weggabelungstheorie vielleicht
im Jahre 1996 aufgestellt hätte; denn das hieße ja, dass da-
mals die Weiche falsch gestellt worden ist, als nämlich die
staatliche Nachfrage so erheblich zurückgeführt wurde.
Das kann es ja wohl nicht sein.

Ich werbe doch sehr dafür, dass wir diesen komplexen
Prozess ein wenig differenzierter betrachten. Wenn dazu
noch eine Bemerkung gestattet ist: Ich glaube, der ent-
scheidende Punkt, der letztlich auch die Entwicklung der
letzten zehn Jahre zur Folge hat, war in gewisser Weise
die Einführung der Deutschen Mark in der damaligen
DDR, mit all ihren grandiosen Vorzügen.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Dann machen wir doch ein Seminar!)


– Was auch immer Sie wünschen! In jedem Fall haben wir
damals die Industriegesellschaft alter Prägung verlassen.
Insofern ist das Leitbild, von dem Sie sprechen, eigentlich
vorgegeben. In dieser postindustriellen Gesellschaft, die
jetzt zu einer wissensbasierten Gesellschaft wird und die
auch eine Dienstleistungsgesellschaft sein muss, finden
wir uns im Osten wieder, und zwar früher als andere,
früher als die Leute aus der alten Bundesrepublik
Deutschland. Insofern ist es auch völlig irrelevant, danach
zu fragen, ob nun das Leitbild Bundesrepublik West das
Leitbild für den Osten sein kann. Diese Frage ist im
Grunde genommen längst von der Realität beantwortet.

Ich komme zu einem zweiten Punkt. Wir erleben eine
Entwicklung, die als eine Transformation, die nicht abge-
schlossen ist, zu beschreiben ist. Sie wird auch ständig

neue Impulse erhalten. Heute wurde hin und wieder schon
der Begriff der EU-Osterweiterung erwähnt. Natürlich
ist auch die EU-Osterweiterung ein weiterer wichtiger
Impuls, der dieser Transformation letztlich eine neue
Richtung – oder zumindest veränderte Richtungen – ver-
leihen kann und wird. Daran werden erhebliche Erwar-
tungen geknüpft; auf lange Sicht lässt die zentralere Lage
in Europa eine günstigere Entwicklung erwarten. Dieser
Prozess wird aber auch mit gewissen Risiken verbunden
sein – Risiken, über die wir inzwischen ein wenig mehr
wissen.

Dieser Prozess bedarf also einer Begleitung. Wir wer-
den eine sehr intensive Regionalförderungspolitik
benötigen. Nicht nur die Europäische Union begleitet die-
sen Prozess, beispielsweise mit dem Kohäsionsbericht.
Dieser gibt sehr tief greifende Empfehlungen und be-
schreibt als permanente Probleme den Strukturwandel,
die Demographie, die Globalisierung und alle damit ver-
bundenen Fragen. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auch
darauf lenken, dass die Bundesregierung – in diesem Fall
das Bundeswirtschaftsministerium – mit einer sehr um-
fassenden Studie, „Preparity“ genannt, auf einer sehr so-
liden Grundlage analytisch tätig geworden ist. Inzwischen
liegen also gute Handlungsempfehlungen für diese Be-
gleitung des Integrationsprozesses unserer Nachbarn auf
dem Tisch. Diese sollte man in diese Betrachtung einbe-
ziehen.


(Beifall bei der SPD)

Natürlich hat das alles Folgen für die Regionalpolitik.

Wir werden zusätzliche Spielräume benötigen – darauf ist
bereits in anderen Debatten hingewiesen worden –, weil
wir ja nach dem Jahre 2006, nach dem Auslaufen der EU-
Förderungsperiode, natürlich veränderte Bedingungen
vorfinden werden. Folglich ist es nur richtig, wenn sich
unsere Bundesregierung im Post-Nizza-Prozess darum
bemüht, dass wir nationale Spielräume behalten oder
zurückgewinnen, die es uns gestatten, unsere eigenen
Disparitäten besser behandeln zu können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Günter Nooke [CDU/CSU]: Sorgen Sie mal für Geld!)


– Ihre Zwischenbemerkung, Herr Nooke, enttäuscht mich
zutiefst, da zumindest in Ihrem Antrag eine etwas weisere
Erkenntnis enthalten ist. Sie haben darin geschrieben, am
Ende komme es auf eine Schwerpunktsetzung an,


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

und zwar bei einer Verstetigung von Mitteln – die wir ja
alle akzeptieren und die auch notwendig ist –, und weni-
ger auf Geld an sich.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Es geht um die Gelder nach 2006! Was ist dann mit Zittau?)


Wir werden im Grunde genommen miteinander einiges
zu tun haben. Sie sollten in diesem Zusammenhang – ich
weise Sie ausdrücklich darauf hin – vielleicht die Antwort
auf die Große Anfrage etwas genauer lesen; denn sie be-
schreibt den Weg. Man kann die Zuständigkeiten ja be-
leuchten; man kann feststellen, wer laut Verfassung für
Regionalentwicklung zuständig ist. Es ist eine Aufgabe






(C)



(D)



(A)



(B)


der Gemeinden, der Kreise und in besonderer Weise der
Länder. Auch der Europäischen Union fallen nach dem
EG-Vertrag Kompetenzen auf diesem Gebiet zu.

Was Sie möglicherweise überlesen haben könnten: Die
Bundesregierung hat erklärt, dass sie unter dem Eindruck
dieser Entwicklung, die sich mit der EU-Osterweiterung
verschärft, Bund und Länder in einer größeren Verant-
wortung sieht, zu koordinieren, anzuregen und letztend-
lich Prozesse vorwärts zu bringen. Wir sind schon mitten-
drin – Sie haben das möglicherweise ebenso übersehen –:
Wir haben mit den heute bereits erwähnten Projekten im
Zusammenhang mit der Technologieförderung, dem
Inno-Regio-Wettbewerb und den innovativen regionalen
Wachstumskernen als Nachfolge etwas vor uns, was am
Ende nur gelingen kann, wenn wir – darauf ist es ange-
legt – eine bessere Vernetzung verschiedener raumwirk-
samer Bundespolitiken zustande bringen.

Genau darin besteht die Arbeit dieser Bundesregie-
rung, die Sie heute gelegentlich polemisch kritisiert ha-
ben. Wenn Sie diese Tatsachen ernst nehmen, müssen Sie
zu der Erkenntnis kommen, dass Ihr gesamter Antrag in
seiner merkwürdigen Vielgestaltigkeit an den Realitäten
erheblich vorbeigeht. Diese Bundesregierung gestaltet
diesen Prozess der nächsten Jahre durch eine vernünftige
Wirtschafts- und Technologieförderung; denn das hat
etwas mit einer wissensbasierten Gesellschaft zu tun. Ich
glaube, Sie könnten sich an diese Initiativen anlehnen. Es
wäre besser, wenn Sie in der nächsten Zeit bei der Be-
handlung Ihrer Anträge in medias res gingen und darüber
nachdächten, was noch besser zu machen ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417009700
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6038 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Angelegenheiten der neuen Länder. Der Ausschuss
empfiehlt in Kenntnis des Jahresberichts 2000 der Bun-
desregierung zum Stand der deutschen Einheit die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache
14/6074. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P.
abgelehnt.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6066 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-

verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a sowie 26 d bis
26 p – es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte – auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich-
tung einer „Stiftung Jüdisches Museum Berlin“
– Drucksache 14/6028 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zurÄn-
derung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG)

– Drucksache 14/5943 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Rechtsausschuss

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
führung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften
über die Zustellung gerichtlicher und außerge-
richtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssa-

(EG-Zustellungsdurchführungsgesetz – ZustDG)

– Drucksache 14/5910 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Haa-
ger Übereinkommen vom 29. Mai 1993 über
den Schutz von Kindern und die Zusammen-
arbeit auf dem Gebiet der internationalen
Adoption
– Drucksache 14/5437 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurRegelung
von Rechtsfragen auf dem Gebiet der interna-
tionalen Adoption und zur Weiterentwicklung
des Adoptionsvermittlungsrechts
– Drucksache 14/6011 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Eu-
ropäischen Übereinkommen vom 25. Januar
1996 über die Ausübung von Kinderrechten
– Drucksache 14/5438 –




Christian Müller (Zittau)

16612


(C)



(D)



(A)



(B)


Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Wohnungsbaurechts
– Drucksache 14/5911 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss

j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuord-
nung der Statistik im Handel und Gastgewerbe
– Drucksache 14/5813 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus

k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Ände-
rungen von 1995 und 1998 des Basler Überein-
kommens vom 22. März 1989 über die Kontrolle
der grenzüberschreitenden Verbringung gefährli-

(Gesetz zu Änderungen des Basler Übereinkommens)

– Drucksache 14/5854 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung reiserechtlicher Vorschriften
– Drucksache 14/5944 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Tourismus

m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard
Jüttemann, Monika Balt, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Rechtsanspruch auf Sozialtarif für Sprachtele-
fondienst
– Drucksache 14/5831 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung

n) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der
Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das Haus-
haltsjahr 2000 – Vorlage der Haushaltsrech-

nung und Vermögensrechnung des Bundes

(Jahresrechnung 2000)

– Drucksache 14/5858 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss

o) Beratung des Antrags der Präsidentin des
Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2000 – Einzelplan 20 –
– Drucksache 14/5888 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss

p) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(19. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung
Technikfolgenabschätzung hier: TA-Projekt
„Brennstoffzellen-Technologie“
– Drucksache 14/5054 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über die Tagesord-
nungspunkte 27 a bis 27 i sowie über die Zusatzpunkte 4 a
und 4 b. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vor-
lagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Das Wort zu einer persönliche Erklärung zur Abstim-
mung wünscht der Abgeordnete Dr. Fink. – Er scheint im
Moment nicht anwesend zu sein. Ich gebe ihm später noch
eine Chance, weil wir jetzt erst über den Tagesordnungs-
punkt 27 a bis 27 i abstimmen.

Tagesordnungspunkt 27 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Neuordnung des Wehrdisziplinar-
rechts und zur Änderung anderer Vorschriften

(2. WehrDiszNOG)

– Drucksache 14/4660 –

(Erste Beratung 140. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-
gungsausschusses (12. Ausschuss)

– Drucksache 14/6029 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gerd Höfer
Thomas Kossendey

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

16613


(C)



(D)



(A)



(B)


Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung einstim-
mig angenommen.

Tagesordnungspunkt 27 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung auf Euro-Beträge im Lastenaus-
gleich und zur Anpassung der LAG-Vorschriften

(LAG-Euro-Umstellungsund Anpassungsgesetz – LAG-EUAnpG)

– Drucksache 14/5440 –

(Erste Beratung 158. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses

(4. Ausschuss)

– Drucksache 14/5850 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Hagemann
Hartmut Koschyk
Cem Özdemir
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Petra Pau

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
damit mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. angenommen.

Tagesordnungspunkt 27 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un-
terrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Empfehlung des Euro-
päischen Parlaments und des Rates zur Umset-
zung des integrierten Küstenzonenmanage-
ments in Europa KOM (00) 545 endg.; Ratsdok.
11322/00
– Drucksachen 14/5172 Nr. 2.73, 14/5632 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anke Hartnagel
Helmut Lamp

Winfried Hermann
Marita Sehn
Eva Bulling-Schröter

Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des Vorschlags
die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses bei Enthaltung des PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 27 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt,
Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Änderung der Anlagen 1 und 3 der Geschäfts-
ordnung des Deutschen Bundestages
– Drucksachen 14/2365, 14/5791 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Andreas Schmidt (Mülheim)

Hans-Christian Ströbele
Jörg van Essen
Dr. Evelyn Kenzler

Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/2365 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gibt es Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 27 e:
Beratung der zweiten Beschlussempfehlung und
des zweiten Berichts des Ausschusses für Arbeit
und Sozialordnung (11. Ausschuss) zu den Unter-
richtungen durch die Bundesregierung
– Vorschlag für einen Beschluss des Rates

über ein Aktionsprogramm der Gemein-
schaft zur Bekämpfung von Diskriminie-
rungen für den Zeitraum 2001 bis 2006
KOM (1999) 567 endg., Ratsdok.-Nr.
13537/99

– Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur
Festlegung eines allgemeinen Rahmens für
die Verwirklichung der Gleichbehandlung
in Beschäftigung und Beruf KOM (1999)

565 endg., Ratsdok.-Nr. 13540/99
– Drucksachen 14/2952 Nr. 2.9, 14/4146 Nr.
2.19, 14/3738, 14/5837 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer

Der Ausschuss empfiehlt die Annahme einer Ent-
schließung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/5837? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen. Nur die CDU/CSU hat sich
enthalten.




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
16614


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlungen des Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 27 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 266 zu Petitionen
– Drucksache 14/5977 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 266 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen; nur die PDS hat sich ent-
halten.

Tagesordnungspunkt 27 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 267 zu Petitionen
– Drucksache 14/5978 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 267 ist wiederum mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen; die PDS hat sich
enthalten.

Tagesordnungspunkt 27 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 268 zu Petitionen
– Drucksache 14/5979 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 268 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses ohne Gegenstimmen und Enthaltungen
angenommen.

Tagesordnungspunkt 27 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 269 zu Petitionen
– Drucksache 14/5980 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 269 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.

Zusatzpunkt 4 a:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der F.D.P.
Initiative des Europäischen Parlaments zur
Buchpreisbindung in Europa unterstützen
– Drucksache 14/6056 –

Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/6056? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist ein-
stimmig mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-
men.

Der Kollege Fink hat eine persönliche Erklärung zur
Abstimmung abzugeben.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1417009800
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Frak-
tion – das haben Sie ja eben erlebt – stimmt dem inter-
fraktionellen Antrag, die Initiative des Europäischen Par-
laments zur Buchpreisbindung in Europa zu unterstützen,
eindeutig zu. Ich bringe jedoch gleichzeitig mein Unver-
ständnis und meine Empörung darüber zum Ausdruck,
dass die PDS beim Einbringen dieses Antrages ausge-
grenzt wurde. Dies ist umso weniger verständlich, als wir
in den bisherigen Debatten zur nationalen Buchpreisbin-
dung unsere Position engagiert und übereinstimmend mit
allen anderen Parteien formuliert haben.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417009900
Herr Kollege
Fink, leider muss ich Sie belehren, dass Sie mit diesem
Instrument nur über Ihr persönliches Abstimmungsver-
halten eine Erklärung abgeben dürfen.


(Dr. Heinrich Fink [PDS]: Aha! – Heiterkeit)

Sie sind ja nun schon fast ein erfahrener Parlamentarier
und sollten das wissen. Deswegen darf ich Ihnen nicht die
Möglichkeit geben, Ihre Empörung für die Fraktion mit
diesem Instrument auszudrücken.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ersetze „PDS“ durch „ich“!)



Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1417010000
Meine Empörung, Frau Prä-
sidentin, hören Sie ja: dass es darum ging, dass wir von
dem Antrag – –


(Zuruf von der PDS: „Meine“ Empörung!)

–„Meine“ Empörung!


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417010100
Ich glaube, was
Sie ausdrücken wollten, ist ausgedrückt worden. Sehen
Sie das auch so? – Gut. Vielen Dank.


(Dr. Heinrich Fink [PDS]: Vielen Dank!)

Wir fahren in den Abstimmungen fort.
Zusatzpunkt 4 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

zu der Streitsache vor dem Bundesverfas-
sungsgericht
1 BvQ 23/01
– Drucksache 14/6070 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz

Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung, im Verfahren zum Erlass einer einst-
weiligen Anordnung und in dem angekündigten Verfahren
in der Hauptsache Stellungnahmen abzugeben. Wer
stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltun-




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

16615


(C)



(D)



(A)



(B)


gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen worden.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Rechtsausschuss, den Präsidenten zu bitten, Herrn Professor
Dr. Bodo Pieroth mit der Prozessvertretung zu betrauen.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen angenommen, während sich CDU/
CSU, F.D.P. und PDS enthalten haben.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zur Reform der
Erbschaftsbesteuerung

Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Barbara Höll.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417010200
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Es ist doch schön, dass es im Bun-
destag auch Professoren gibt. Nun geht es in der Aktuel-
len Stunde um die Haltung der Bundesregierung zur
Reform der Erbschaftsbesteuerung, was aber nicht nur
Professoren und Professorinnen, sondern alle Bürgerin-
nen und Bürger interessiert.

Wir haben in der vergangenen Woche zur Kenntnis
nehmen müssen, dass Herr Bundeskanzler Schröder und
Herr Finanzminister Eichel erklärten, die Reform der Erb-
schaftsbesteuerung um weitere zwei Jahre zu verschie-
ben. Damit wollen sie weitere zwei Jahre an einer verfas-
sungswidrigen Bewertung des Grundbesitzes festhalten.
Sie wollen auf Steuermehreinnahmen in Milliardenhöhe
verzichten und begraben ihr Versprechen, Vermögende
stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu betei-
ligen.

Deshalb unterstützen wir als PDS mit allem Nachdruck
die Initiative von fünf SPD-geführten Bundesländern, die
Grundbesitzbewertung zu reformieren. Es ist auch Sache
dieses Hauses, in dieser Frage nicht einfach ein „Basta“
des Kanzlers zu akzeptieren. Daher fordere ich Sie alle
auf, diese Länderinitiative zu unterstützen. Ich hoffe, dass
die SPD-Linken, die Entsprechendes am Wochenende
verkündet haben, dies mit Erfolg in ihrer Fraktion durch-
bringen werden.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sie sind erst zufrieden, wenn es kein Eigentum mehr gibt!)


Dabei geht es nicht um die kleinen Sparer und Spa-
rerinnen. Aber: Der Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung hat vor Kurzem gezeigt, dass Armut und
Reichtum in unserer Gesellschaft weiter auseinander drif-
ten. Das allein ist schon schlimm genug. Entscheidend ist,
dass mit diesem Auseinanderdriften die Lebenschancen
von Menschen ebenfalls stärker auseinander gehen. Dies
macht sich auch und gerade an der Erbschaftsbesteuerung
fest: Erbschaften bevorteilen nun einmal insbesondere die
Menschen, die schon von Geburt an über eine höhere Ver-
mögensausstattung verfügen. Umgekehrt werden diejeni-
gen benachteiligt, die es ohnehin schwer haben, ihre so-

ziale Stellung zu verbessern. Wenige erhalten zufällig – es
ist nicht ihr eigenes Verdienst, sondern das ihrer Eltern,
Verwandten oder Bekannten – und ohne eigene Leistung
üppigen Vermögenszuwachs, während die große Masse
der Menschen weitgehend leer ausgeht. Erbschaften sind
damit zu einem wesentlichen Faktor sozialer Gegensätze
geworden.


(Beifall bei der PDS)

Uns in der Politik müsste es demgegenüber darum ge-

hen – wir als PDS halten an diesem Anspruch fest –, die
Chancengleichheit der Menschen am Start ins Leben und
im Leben zu gewährleisten. Sie, meine Damen und Her-
ren von der SPD und den Grünen, hatten dies auch in
Ihrem Koalitionsvertrag verankert.

Dies würde dann aber bedeuten, wieder eine sozial ge-
rechte Erbschaftsteuer einzuführen; denn dadurch könnte
die Möglichkeit geschaffen werden, wirklich Vermö-
gende stärker an der Finanzierung gesellschaftlicher Auf-
gaben zu beteiligen.


(Beifall bei der PDS)

Nun könnten Sie natürlich sagen, dass die Erb-

schaftsteuer im vergangenen Jahr gerade einmal 5,8 Mil-
liarden DM eingebracht habe, also etwa so viel wie die
Branntweinsteuer. Weniger als 1 Prozent aller Steuerein-
nahmen entfällt damit auf die Erbschaftsteuer. Aber ge-
rade darin besteht doch der Skandal: Es gibt in der Bun-
desrepublik Deutschland mindestens 1,5 Millionen
Vermögensmillionäre. Obwohl nach Schätzungen der
Deutschen Bundesbank jährlich 100 bis 200 Milliar-
den DM an privatem Sach- und Geldvermögen vererbt
werden, gehen nur 5,8 Milliarden DM in die Steuerkasse
ein. Diesen Zustand könnte man relativ leicht durch eine
Veränderung von Freibeträgen und Steuersätzen ändern.
Dadurch wären Mehreinnahmen möglich und Herr Eichel
bräuchte nicht mehr die Erhöhung des Kindergeldes unter
einen Finanzierungsvorbehalt zu stellen, was doch der ei-
gentliche Skandal ist.

Niemand in diesem Hause – das gilt gerade für uns de-
mokratische Sozialisten und Sozialistinnen – will mit ei-
ner Reform der Erbschaftsbesteuerung „Oma ihr klein
Häuschen“ wegsteuern. Ein solcher Vorwurf ist lächer-
lich. Es geht um die wirklich Vermögenden in dieser Re-
publik. Die Erbmassen sind nun einmal sehr unterschied-
lich verteilt. In gerade 4 Prozent aller Erbfälle ist der
Nachlass höher als 1 Million DM und in der Hälfte aller
Fälle liegt er mehr oder weniger deutlich unter
100 000 DM. Die Erben in der Mehrheit der Fälle werden
heute nicht zur Erbschaftsteuer herangezogen und würden
auch nach einer Reform nicht herangezogen werden. Wir
haben unsere Vorschläge dazu bereits in der letzten Le-
gislaturperiode auf den Tisch gelegt. Wir werden Sie auch
in dieser Wahlperiode nicht in Ruhe lassen, sondern ver-
langen, dass an diesem Thema weiter gearbeitet wird.

Die SPD beschloss 1999 auf ihrem Parteitag, „die Ge-
rechtigkeitslücke“ durch ein Mehr an Erbschaftsteuer zu
schließen. Damals verlangten die Delegierten dies wohl
als Tribut für die Absage an die Vermögensteuer seitens
der Bundesregierung. Der Kanzler versprach es ihnen da-
mals. Zwei Jahre später sind Sie bereit, das „Basta“ des




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
16616


(C)



(D)



(A)



(B)


Bundeskanzlers zu akzeptieren und weitere zwei Jahre
ohne eine Reform verstreichen zu lassen. Das kann nicht
im Sinne der Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande
sein.


(Beifall bei der PDS)

Wir halten es für notwendig, die Reform anzupacken, und
sind sehr gespannt, wie sich die Bundesregierung und Sie
heute äußern werden.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417010300
Für die Bundes-
regierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Barbara Hendricks das Wort.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1417010400
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Nach § 138 Abs. 4 des
Bewertungsgesetzes gelten die im Rahmen der Bedarfs-
bewertung maßgebenden Wertverhältnisse vom 1. Januar
1996 für die Feststellung von Grundbesitzwerten nur
noch bis zum 31. Dezember dieses Jahres. Nach diesem
Zeitpunkt tritt ein verfassungswidriger Zustand ein, so-
fern der Gesetzgeber nicht tätig wird. Das den Ländern
zustehende Aufkommen der Erbschaft- und Grunder-
werbsteuer wäre dann ernsthaft gefährdet. Mit der Befris-
tung hat sich der Gesetzgeber selbst verpflichtet, bis zum
Ablauf des Jahres 2001 tätig zu werden.

Die Bundesregierung hält unverändert an der Auffas-
sung fest, dass die Initiative zur Änderung von Steuern,
deren Aufkommen den Ländern zusteht, von den Ländern
ausgehen sollte. Die Länder wirken über den Bundesrat an
der Gesetzgebung mit und können über den Bundesrat
Bundesgesetze einbringen. Der Bund will die Länder bei
Steuern, die in deren Bereich fallen, nicht in eine be-
stimmte Richtung drängen. Sie sind bei Steuern, die in
ihre Hoheit fallen, in erster Linie selbst gefordert. Die
Bundesregierung hat es den Ländern deshalb überlassen,
die Schlussfolgerungen aus den praktischen Erfahrungen
mit der Bedarfsbewertung zu ziehen.

Die Länder Schleswig-Holstein, Hamburg, Mecklen-
burg-Vorpommern, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt
haben einen Gesetzesantrag zur Änderung des Bewer-
tungsgesetzes im Bundesrat eingebracht. Inhaltlich wird
darin eine Lösung vorgeschlagen, für die sich die obersten
Finanzbehörden aller Länder auf Fachebene ausgespro-
chen haben. Der Finanzausschuss des Bundesrates hat
heute jedoch mit Mehrheit vorgeschlagen, die im gelten-
den Gesetz enthaltene Befristung um zwei Jahre zu ver-
längern.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Reiner Zufall!)


Die Bundesregierung ist bereit, den Ländern weiterhin
fachliche Unterstützung zu gewähren.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417010500
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Gerda Hasselfeldt.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1417010600
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Frau Staatssekretärin, Sie
spielen hier den Unschuldsengel. In Wahrheit treiben Sie
mit den Erben ein ganz falsches Spiel.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Erster Punkt: Es gibt einen SPD-Parteitagsbeschluss
aus dem Jahre 1999. In diesem Parteitagsbeschluss ist
klipp und klar festgehalten, dass die SPD eine Höherbe-
wertung des Grundvermögens bei der Erbschaftsteuer-
berechnung erreichen möchte. Daraufhin wurde eine
Arbeitsgruppe nicht irgendwo, sondern im Bundesfinanz-
ministerium eingerichtet. Diese hat ihre Arbeit nicht nur
aufgenommen, sondern auch mit folgendem Ergebnis
abgeschlossen: Statt der bisherigen durchschnittlichen
Bewertung des Grundvermögens mit 50 Prozent des Ver-
kehrswertes soll es künftig mit 80 Prozent bewertet wer-
den.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Meine Damen und Herren, wenn Sie dies nicht gewollt
hätten, dann hätten Sie nicht diesen Parteitagsbeschluss
gefasst und die Arbeitsgruppe nicht eingesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Und jetzt spielen sie das Unschuldslamm!)


Ein zweiter Punkt: Es liegt ein Antrag der SPD-regier-
ten Länder im Bundesrat vor; Sie haben davon gespro-
chen. Dieser wurde übrigens nicht nur von der PDS initi-
iert, sondern auch von den Grünen, und zwar in den
Ländern, in denen sie mitregieren, beispielsweise in
Schleswig-Holstein. Dieser Antrag wurde im Bundesfi-
nanzministerium erarbeitet. Auch bezüglich dieses Punk-
tes können Sie nicht sagen, Sie seien unschuldig und hät-
ten damit nichts zu tun. Sie können sich nicht aus der
Verantwortung stehlen. In diesem Gesetzentwurf ist statt
der bisher geltenden durchschnittlichen Orientierung an
50 Prozent des Verkehrswertes eine Orientierung an circa
72 Prozent des Verkehrswertes enthalten. Hinzu kommt
die Erhöhung des Vervielfältigers sowie eine Änderung
bei den Bodenrichtwerten. Dies ist ein deutliches Zeichen
dafür, dass Sie wieder einmal abzocken und die Linken in
Ihren eigenen Reihen zufrieden stellen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich möchte ein Drittes klarstellen: Erst nach massivem

Protest von uns und den unionsregierten Ländern

(Zuruf von der SPD: Unfug!)


in den letzten Wochen wird jetzt erwogen, die geltende
Regelung um zwei Jahre zu verlängern. Es ist wirklich zu
offensichtlich, dass Sie sich damit nur über den Wahlter-
min retten wollen,


(Beifall bei der CDU/CSU)





Dr. Barbara Höll

16617


(C)



(D)



(A)



(B)


um danach das zu realisieren, was Sie eigentlich vorhaben
und schon vorbereitet haben.

Ihre Begründung lautet immer, eine Reform sei ver-
fassungsrechtlich notwendig. Ich kann Ihnen sagen, was
das Verfassungsgericht moniert hat. Es hat Mitte der
90er-Jahre moniert, dass das Grundvermögen nach den
alten Einheitswerten von 1964, aber das Kapitalvermö-
gen nach den aktuellen Werten bewertet wird. Es hat an-
gemahnt, dass das Grundvermögen realitätsnah und zeit-
nah bewertet werden muss. Genau das haben wir 1996/97
mit der Novellierung des Erbschaftsteuergesetzes getan.
Es ist nicht gefordert worden, dass das Grundvermögen
genauso wie das Kapitalvermögen bewertet werden
muss. Das wäre im Übrigen auch nicht sachgerecht, weil
Grundvermögen nicht genauso verwertbar ist wie Kapi-
talvermögen; denn es unterliegt beispielsweise im Miet-
bereich und im Betriebsvermögensbereich sozialen Bin-
dungen.

Der Handlungsbedarf liegt einzig und allein darin – nur
darum geht es –, die Wertgrenze, von der Sie gesprochen
haben, in Bezug auf die Bodenrichtwerte bei unbebauten
Grundstücken und in Bezug auf die Mindestbewertung
bei bebauten Grundstücken zu prüfen; denn dafür gelten
die Werte von 1996 bis Ende dieses Jahres. Bis Ende die-
ses Jahres muss also die Prüfung erfolgt sein. Wenn sie er-
gibt, dass sich die Grundstückspreise in Deutschland im
Großen und Ganzen nicht erhöht haben, dann spricht hin-
sichtlich der Erbschaftsteuer nichts für eine Erhöhung der
Bewertung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aus dieser Überprüfung können sich genauso gut an-

dere Konsequenzen ergeben. Ich nenne Ihnen zwei mög-
liche Alternativen: Entweder gelten die aktuellen Boden-
richtwerte weiterhin, oder die geltende Regelung wird
verlängert. Es darf aber nicht nur eine Verlängerung um
zwei Jahre geben, um sich über den Wahltermin zu retten.
Es muss vielmehr wie bisher eine Verlängerung um min-
destens fünf Jahre geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Barbara Höll [PDS]: Man muss es endlich reformieren!)


Wir fordern Sie deshalb auf, von Ihren Erhöhungsplä-
nen grundsätzlich und endgültig Abschied zu nehmen und
die jetzige Regelung nicht nur bis kurz über den Wahlter-
min hinaus zu verlängern; denn die Bürger in diesem
Land haben ein Recht darauf, zu wissen, was nach der
Wahl für längere Zeit auf sie zukommt und nicht nur bis
unmittelbar nach der Wahl.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417010700
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Christine Scheel.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417010800

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde es sehr schade, dass bei diesem Thema immer eine

gewisse Aufregung mitschwingt, die meines Erachtens
völlig unangebracht ist. Es geht nicht um eine Steuerer-
höhung,


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Steuerverschiebebahnhof!)


sondern es geht darum, dass die Vorgaben des Bundes-
verfassungsgerichts aus dem Jahre 1995 umgesetzt wer-
den.


(Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Sie sind doch umgesetzt!)


Frau Hasselfeldt, es gibt sehr unterschiedliche Ausle-
gungen des Urteils des Verfassungsgerichts;


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Nein!)

das wissen Sie. Sie legen es aber in Ihrem Sinne aus. Wir
wissen von Verfassungsjuristen und -juristinnen, dass
man es auch anders bewerten kann.


(Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Sie müssen mal das Urteil lesen!)


Man kann auf solch polemische Weise Gerichtsurteile
nicht einfach vom Tisch wischen und sagen: Das interes-
siert uns nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es geht um eine realitätsnahe Bewertung von Immobi-
lienvermögen annähernderweise zu den Verkehrswerten.
Sie haben gesagt – das stimmt –, dass die jetzige Bewer-
tung zum 31. Dezember dieses Jahres ausläuft. Die Län-
der haben mit dem Bundeskanzler vereinbart, dass es eine
Verlängerung gibt


(Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Nur über den Wahltermin! So etwas Offensichtliches!)


und dass man die Zeit nutzt, zwischen den Ländern Ein-
vernehmen herzustellen, um zu einer vernünftigen Neu-
bewertung zu kommen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Steuerpolitischer Riesenslalom!)


Es ist doch vollkommen klar, dass die Mehrheit der Län-
der im Bundesrat zustimmen muss.


(Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Sie schieben den schwarzen Peter wieder woanders hin!)


Es ist ein gemeinsames Anliegen, eine grundlegende
Regelung zu finden, die von den Ländern – dazu gehören
auch die CDU- und CSU-regierten Länder wie beispiels-
weise Bayern – getragen wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Dann dürfen Sie nicht verlängern!)


Ziel der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts ist im
Prinzip die Umsetzung des Grundsatzes der gleichmäßi-
gen Besteuerung aller Vermögensarten. Auch von Herrn
Kirchhof haben wir letztens wieder gehört, dass man diese
Vorgabe so durchhalten muss. Der Grundsatz der gleich-
mäßigen Besteuerung aller Vermögensarten gilt natürlich




Gerda Hasselfeldt
16618


(C)



(D)



(A)



(B)


auch für den Erbfall oder für den Fall, dass etwas ver-
schenkt wird.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Dass das Vermögen extra besteuert werden muss, sagt das Verfassungsgericht gerade nicht!)


Bislang ist es so, dass Geld- und Grundvermögen nicht
gleichermaßen besteuert werden. Deswegen muss man
Überlegungen anstellen, wie man auf vernünftigem Wege
zu einer verfassungsrechtlich dauerhaften Regelung
kommt, um das Ziel der Aufhebung der unterschiedlichen
Besteuerung von Geld- und Grundvermögen zu erreichen.


(Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Sie entlarven sich selbst!)


Es ist natürlich verständlich, dass die Länder zur Auf-
rechterhaltung ihrer Steuereinnahmen – die Erb-
schaftsteuer ist eine reine Ländersteuer – eine entspre-
chende Gesetzesinitiative gestartet haben. Es stellt sich
allerdings die Frage, ob die Bewertungsgrundsätze im
Expressverfahren geändert werden oder ob die Geltungs-
dauer der im bestehenden Gesetz existierenden Regelun-
gen nur für einen Übergangszeitraum verlängert wird. Die
Bundestagsfraktionen – das gilt sowohl für die Oppositi-
onsfraktionen als auch für die Koalitionsfraktionen – kön-
nen durchaus erwarten, dass die Bundesländer im Bun-
desrat über die herbeizuführende Änderung oder
Verlängerung des Bewertungsgesetzes befinden, dass sich
im Bundesrat also eine mehrheitliche Meinung bildet, mit
der wir uns dann befassen. Dieser Weg ist vollkommen
korrekt. Die Erbschaftsteuer ist eine Ländersteuer und die
Länder haben über sie gemeinsam zu diskutieren und zu
entscheiden.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Erst die Vorlage machen und sich dann davonstehlen! So betrügt man die Leute!)


Ich möchte noch etwas zu den Zahlen sagen: Die
Erbschaftsteuereinnahmen sind im Jahr 2000 um 200Mil-
lionen DM – 1999 lagen sie bei 6 Milliarden DM, im Jahr
2000 bei 5,8 Milliarden DM – zurückgegangen. Wir se-
hen also, dass die Situation durchaus schwierig ist. Die
Länder sind enttäuscht – das ist klar –, dass ihre Erwar-
tung, dass die Höhe ihrer Einnahmen zunimmt, wenn das
Vermögensvolumen, das vererbt oder verschenkt wird,
zunimmt, nicht erfüllt worden ist.

Ziel einer Reform der Erbschaftsteuer muss ihre ver-
fassungsrechtlich gerichtsfeste Ausgestaltung sein. Dazu
gehört meines Erachtens tatsächlich die Notwendigkeit,
die Grundsätze für die Bewertung von Immobilienvermö-
gen zu ändern, ohne dass es zu einer Belastung von selbst
genutztem Immobilieneigentum, also von Gebrauchsver-
mögen, kommt. Das von Ihnen so gerne benutzte Bild,
Omas Häuschen werde dann mehr besteuert, ist vollkom-
men falsch. Omas Häuschen soll der nächsten Generation
steuerfrei vermacht werden. Auch darf kein Betrieb im
Falle einer Betriebsübergabe an einen Erben gefährdet
werden. Das haben wir immer wieder eindeutig gesagt
und diese Auffassung wird von allen Ländern so geteilt.

Die Forderung nach Gleichbehandlung unterschiedli-
cher Vermögensarten wird noch einsichtiger, wenn man

zur Kenntnis nimmt, wie sich das Bruttovermögen der pri-
vaten Haushalte zusammensetzt. Es hatte 1997 einen Be-
stand von 14 Billionen DM. Davon entfielen auf den Im-
mobilienbestand im In- und Ausland sowie auf das
Gebrauchsvermögen 9 Billionen DM; das sind 62 Pro-
zent. Etwa 38 Prozent machte das private Geldvermögen
aus. In den kommenden Jahren werden schätzungsweise
4,4 Billionen DM vererbt; das ist doppelt so viel wie in
den 90er-Jahren. Es ist also grundsätzlich zu erwarten,
dass das Erbschaftsteueraufkommen der Länder im Trend
steigen wird. Auch die Oppositionsparteien können sich
nicht der Tatsache verweigern, dass wir eine verfassungs-
gerechte Lösung brauchen. Im Hinblick auf die gesamte
Debatte bitte ich um mehr Ehrlichkeit, Frau Hasselfeldt.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das müssen Sie gerade sagen!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417010900
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerhard Schüßler.


Gerhard Schüßler (FDP):
Rede ID: ID1417011000
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die seit Monaten andauernde Debatte über
die Erhöhung der Erbschaftsteuer ist durch ein weiteres
Machtwort des Bundeskanzlers für zwei Jahre beendet
worden. Anscheinend hat der Bundeskanzler als erster in
der SPD gemerkt, dass Steuererhöhungen in einem Wahl-
jahr Wählerstimmen kosten könnten. Der SPD in denjeni-
gen Ländern, die im Bundesrat einen Gesetzentwurf ein-
gebracht haben, durch den die Erbschaftsteuer erhöht
werden sollte, war das egal, da dort – so Frau Simonis –
keine Wahlen anstehen. Deutlicher kann man sich nicht
ausdrücken.

Die SPD als Partei der so genannten Neuen Mitte hat
wieder einmal ihr wahres Gesicht gezeigt: Vermögen
höher zu besteuern, sollte diesmal über die Erb-
schaftsteuer umgesetzt werden.


(Lydia Westrich [SPD]: Dazu sind Sie doch eigentlich zu intelligent!)


Die Wiederbelebung der Vermögensteuer, die Ihnen ja so
sehr am Herzen liegt, verwehrt Ihnen das Bundesverfas-
sungsgericht. Eine Vermögensabgabe – das haben Sie
ebenfalls lange diskutiert – ist rechtlich nicht möglich.
Also musste diesmal die Erbschaftsteuer herhalten.

Hier macht Ihnen – deutlicher kann das überhaupt nicht
sein – das Bundestagswahljahr 2002 einen Strich durch
die Rechnung, und das hat der Kanzler folgerichtig er-
kannt. Aber niemand soll sich Illusionen machen. Sie ge-
ben Ihre Pläne nicht auf, Sie verschieben sie bis zur nächs-
ten Bundestagswahl. Ehrlich wäre es doch, den Bürgern
ganz deutlich zu sagen, dass Sie nach der nächsten Bun-
destagswahl, sollten Sie noch regieren, was ja unwahr-
scheinlich ist,


(Lachen bei der SPD – Simone Violka [SPD]: Träumer!)





Christine Scheel

16619


(C)



(D)



(A)



(B)


die Erbschaftsteuer und die Grunderwerbsteuer erhöhen
werden. Haben Sie eigentlich einmal mit Bürgern und Un-
ternehmern gesprochen und sie gefragt, was sie davon
halten? Die Antwort dürfte ziemlich eindeutig sein. Aber
es ist das alte Spiel: Sie predigen den Menschen medien-
wirksam so genannte Jahrhundertreformen und hinten
herum erhöhen Sie die Steuern.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das gilt nicht nur für die jetzt aufgeschobene Erb-
schaftsteuer, das gilt auch für die Ökosteuer, deren wei-
tere Erhöhung ja bereits beschlossen ist.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wunderbar, dass diese Platte auch kommt!)


Ich bin sehr gespannt, wann der Bundeskanzler sich
hierzu äußert. Auch Populismus, meine Damen und Her-
ren, wird irgendwann berechenbar. Es lässt sich schon
heute voraussagen, dass es zumindest eine Diskussion
und eine Auseinandersetzung über die weiteren Stufen der
Erhöhung der Ökosteuer geben wird. Ebenfalls ist klar,
dass diese Diskussion medienwirksam selbstverständlich
vom Bundeskanzler eröffnet wird. So durchsichtig ist die-
ser Populismus allmählich geworden.

Zurück zur Sache: Die Anhebung der Erbschaftsteuer
durch eine höhere Bewertung der Immobilien ist keines-
wegs vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben worden
– das ist hier schon gesagt worden –, aber die Autoren des
Gesetzentwurfes behaupten das. Das ist falsch. Im Ge-
genteil, Karlsruhe hat ausdrücklich entschieden, dass Im-
mobilien weniger hoch bewertet werden können als sons-
tiges Vermögen. Verworfen wurde lediglich das alte
Einheitswertverfahren mit Werten aus 1964.

Das einzige Argument, das die fünf genannten SPD-ge-
führten Länder vorbringen, ist also schlichtweg falsch.
Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist
vielmehr ausdrücklich zu entnehmen, dass Grundvermö-
gen einer hohen Sozialbindung unterliegt, dass es Mieter-
schutzbestimmungen und öffentlich-rechtliche Auflagen
gibt, die die Verwertbarkeit von Grundvermögen ein-
schränken. Auch volkswirtschaftliche Erwägungen wie
die Höhe des Mietniveaus und die Lage der Bauwirtschaft
können bei der Bewertung von Grundvermögen herange-
zogen werden. Das alles wird nicht beachtet.

Das geltende Bewertungsrecht kann also fortgeführt
werden. Aus diesem Grund hat die F.D.P.-Fraktion einen
Gesetzentwurf vorgelegt, der das geltende Bewertungs-
recht für fünf weitere Jahre festschreibt. Dieser Zeitraum
ist allein deswegen gerechtfertigt, da sich die Immobili-
enpreise in den letzten Jahren nicht wesentlich erhöht ha-
ben


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das drückt sich ja dann im Wert aus! Da verwechseln Sie Verkehrswert und Bewertungsrecht!)


und nichts für einen starken Preisanstieg in der nächsten
Zeit spricht oder darauf hindeutet. Ich kann Sie, meine
Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nur

bitten und auffordern, diesem Entwurf zuzustimmen,
dann machen Sie etwas Vernünftiges.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417011100
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Lothar Binding.


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1417011200
Frau Präsiden-
tin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben sehr oft das Wort „Wahl“ gehört,
jetzt von der F.D.P., auch von der CDU. Es soll ja so sein,
dass auch für die CDU, natürlich auch für die CSU, und
für die F.D.P. im nächsten Jahr Wahlen sind. Man fragt
sich, warum Sie eigentlich diese Chance nicht auch nut-
zen, um konstruktive Modelle und Gesetzesvorhaben
einzubringen, über die wir in diesem Sinne reden können.


(Beifall bei der SPD)

Den Vorgaben nach zu urteilen sind im Hause alle irgend-
wie mehr oder weniger – manche deutlich weniger – für
soziale Gerechtigkeit, manche sehr christlich, manche
eher frei.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie legen doch die Erhöhung nur in die Schublade, um sie später wieder herauszuholen!)


Doch muss man gucken, was denn genau unter dieser
Überschrift passiert. Die CDU/CSU kümmert sich zum
Beispiel mit Schwerpunkt – es vergeht keine Debatte, in
der das fehlt – um das Stichwort „630 Mark“.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

– Vielen Dank für den Applaus. Das zweite Thema ist die
Ökosteuer. Es gibt aber noch ein ganz großes Thema,
nämlich das große Geld, um das Sie sich auch kümmern.
Jetzt frage ich mich, inwiefern unsere Gesellschaft mit der
Zielstellung soziale Gerechtigkeit mit diesen drei Themen
wirklich vorankommt.

Die F.D.P. ist in einer ganz ähnlichen Situation. Um un-
sere Gesellschaft weiterzubringen, kümmert sie sich –
nicht ohne Erfolg in den Medien – erstens um das große
Thema „18 Prozent“. Das zweite große Thema heißt „Big
Brother“ und das dritte große Thema heißt „Möllemann“.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Und was ist mit der Erbschaftsteuer?)


Auch diese drei Themen sind nicht zwingend geeignet,
unsere Gesellschaft zukunftsfähig zu machen.

Nun zur PDS. Mit der PDS tut man sich immer etwas
schwerer, denn erstens ist sie dabei, ihre Geschichte auf-
zuarbeiten. Das ist sehr lobenswert, aber nicht unbedingt
zukunftsweisend und zielführend für die Entwicklung
unserer Gesellschaft.


(Zuruf von der PDS: Doch!)

– Ihrer Gesellschaft, aber nicht unserer Gesellschaft.

Das Zweite, das uns mehr Probleme macht, ist die Dis-
kussion über die reine Lehre. Denn die reine Lehre funk-




Gerhard Schüßler
16620


(C)



(D)



(A)



(B)


tioniert immer nur, wenn man die Gruppe hinreichend
klein macht.


(Beifall bei der SPD)

Ich vermute, dass das bei Ihnen jetzt hinreichend sein
könnte.

Ich möchte noch kurz auf die Bundesverfassungsge-
richtsurteile eingehen, aufgrund derer bisher zu viel oder
zu wenig passiert ist. 1995 wurde festgestellt, dass die Be-
wertung von Grundbesitz mit Einheitswerten, des übrigen
Vermögens aber mit Verkehrswerten nicht mit dem
Grundgesetz vereinbar ist.

Der zweite wichtige Punkt, der noch nicht vorgelesen
wurde: Die verschiedenen Vermögensarten – jetzt mögen
Sie Ihre Argumente vor diesem Hintergrund noch einmal
reflektieren – müssen im Verhältnis zueinander realitäts-
gerecht bewertet werden. Es werden genannt: landwirt-
schaftliches, Betriebs-, Grund- und sonstiges Vermögen.

Drittens. Familienangehörigen ist der Nachlass im
Wert eines durchschnittlichen Einfamilienhauses steuer-
frei zu belassen.

Der Bundestag änderte daraufhin 1996 das Bewer-
tungsgesetz und führte die Bedarfsbewertung zur Berech-
nung der Erbschaft-, Schenkung- und Grunderwerbsteuer
ein. Für bebaute Grundstücke wurde 1997 das
Ertragswertverfahren eingeführt. Wenn ich richtig infor-
miert bin, ging das auf eine Gesetzesinitiative aus Bayern
zurück. Das ist ein Hinweis darauf, dass es nicht hin-
reichend war. Der Bundestag schaffte daraufhin 1997 die
Vermögensteuer ab bzw. sie lief leer.

Jetzt habe ich einmal nachgeschaut, welche Konse-
quenzen das im Haushalt hatte, und konnte feststellen,
dass im Haushalt überhaupt keine Einbußen zu verzeich-
nen waren. Das fand ich sehr interessant.

Irgendjemand hat hier von Steuererhöhungen gespro-
chen. Ich habe einmal geschaut, warum die Abschaffung
der Vermögensteuer keine Auswirkungen im Haushalt
hatte; sie wird abgeschafft und keiner merkt es. Mit ihrer
Abschaffung war am Rande eine kleine Steuererhöhung
einhergegangen, und zwar die Anhebung der Grunder-
werbsteuer um 75 Prozent von 2 auf 3,5 Prozent.


(Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS])

– Wir schauen mal, wie das im Verhältnis zur Vermögen-
steuer gewirkt hat.

Diese Umverteilung war für mich das gravierendste
Beispiel, aus dem sich für uns Handlungsbedarf ergibt,
und zwar Handlungsbedarf auf einer seriös vorbereiteten
Grundlage


(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/ CSU]: Es gibt einen ehemaligen Ministerpräsidenten: Eichel!)


und nicht in aller Hektik und womöglich noch bis tief in
irgendeinen Wahlkampf hinein, sondern in der nächsten
Legislaturperiode.


(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Zweite war das Ungleichgewicht – Frau
Hasselfeldt hat es schon zitiert – zwischen bebauten und
nicht bebauten Grundstücken. Wir stellen fest, dass die
bebauten Grundstücke gegenwärtig im Durchschnitt mit
51 Prozent ihres Verkehrswertes und die unbebauten
Grundstücke mit durchschnittlich 72 Prozent des Ver-
kehrswertes bewertet werden. Da ist die vorhin genannte
Relation, die das Bundesverfassungsgericht vorsieht,
nicht eingehalten. Hieraus ergibt sich der zweite Hand-
lungsbedarf, der ebenfalls nicht kurzfristig und hektisch
vorbereitet werden darf, sondern seriös und langfristig
vorbereitet werden muss.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Da muss Herr Eichel aber wirklich protestieren!)


Deshalb werden wir eine solche Gesetzesvorlage se-
riös vorbereiten. Mit Blick auf die Zeit darf ich eine sol-
che Gesetzesinitiative, sicherlich gestützt auf die inten-
sive Mitarbeit der Oppositionsfraktionen, für die nächste
Legislaturperiode ankündigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Simone Violka [SPD]: Da bist du verlassen, wenn du dich darauf verlässt!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417011300
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Götz.


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1417011400
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Bei dieser Erbschaftsteuerdebatte
heute geht es offensichtlich nicht nur um Erbschaftsteuer,
es geht um mehr.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Offensichtlich! Es geht um Wahlkampf!)


Es geht um die Frage, ob wir wollen, dass die Menschen
in unserem Land Wohneigentum schaffen oder ob die Po-
litik das verhindern will.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Barbara Höll [PDS]: Wie bitte?)


Hier tut sich die Kluft zwischen der sozialistischen Denk-
weise der Regierung auf der einen Seite und von
CDU/CSU auf der anderen Seite ganz klar auf.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [PDS]: Frei von jeglicher Sachkenntnis!)


Da hilft auch das Geeiere von Ihnen, Herr Binding und
Frau Scheel, überhaupt nicht.

Wir sagen Ja zum Wohneigentum in privater Hand. Wir
wollen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger Wohneigen-
tum bilden. Sie wollen dies offensichtlich nicht.

Frau Staatssekretärin, Ihr Redebeitrag strotzt trotz sei-
ner Kürze vor Scheinheiligkeit. In Wahrheit wollen Sie
mit Ihrer Neidkampagne Ihre ideologischen Theorien aus
der Mottenkiste durchsetzen und gleichzeitig die Grund-
stückseigentümer abkassieren.


(Lydia Westrich [SPD]: Sie haben wohl den falschen Text!)





Lothar Binding (Heidelberg)


16621


(C)



(D)



(A)



(B)


Ständig verschlechtern Sie die Rahmenbedingungen im
Wohnungsbau, seien es die steuerlichen Bedingungen,
seien es Kürzungen im sozialen Wohnungsbau oder bei
der Eigenheimzulage. Das Ergebnis lässt sich bereits ab-
lesen: Von einem Jahr aufs andere bricht die Zahl der Bau-
genehmigungen ein, von Januar 2000 auf 2001 um über
30 Prozent.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es ein Scherz!)


Das ist das Ergebnis rot-grüner Wohnungsbaupolitik.
Eine alarmierende Entwicklung!


(Beifall bei der CDU/CSU – Simone Violka [SPD]: Die haben alle Häuser geerbt, die brauchen nicht zu bauen!)


Bei der Grundsteuer läuft still und leise das gleiche
Spiel wie bei der Erbschaftsteuer an. Eine dringend not-
wendige Grundsteuerreform kommt nicht, aber gleichzei-
tig wird versucht, über die Neubewertung der Grund-
stücke Grundstückseigentümer abzuzocken.

Welche Konsequenzen das in den Kommunen und bei
den Mietern hat, ist Ihnen letztlich egal. Wenn Sie die
Grundstücke für die Berechnung der Erbschaftsteuer und
der Grundsteuer höher bewerten, heißt dies – erstens – für
die Mieter höhere Mieten. Und die Mieter sind durch hohe
Energiekosten und die Ökosteuer schon genug gestraft.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zweitens. Für die Kommunen, die für die Bewertung

der Grundstücke zuständig sind, bedeutet dies einen we-
sentlich höheren bürokratischen Aufwand. Denn wir wis-
sen alle, es muss erheblich präziser bewertet werden. Wer
erstattet den Kommunen diesen Aufwand? Hier bahnt
sich erneut ein Verschiebebahnhof zulasten kommunaler
Haushalte an, wie wir es in der Vergangenheit von Rot-
Grün ständig gewöhnt waren.

Nun befürchtet der Bundeskanzler, dass dieses Thema
vor der Bundestagswahl möglicherweise ungeeignet ist,
Stimmen zu gewinnen, und er hat es vorübergehendend
durch ein Basta „eingesammelt“. Ob er es schafft, durch
Machtworte die Diskussion in der eigenen Partei zu be-
enden, wird sich herausstellen.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Hoffentlich nicht!)

Es zeigt sich auch hier, dass die SPD nach wie vor als

Partei der alten Linken und auf keinen Fall der Neuen
Mitte agiert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Herr von Larcher spitzt schon seine Pfeile!)


Ich bezweifele auch, dass der Bundeskanzler endlich er-
kannt hat, dass Rot-Grün die Menschen in diesem Land
schon mehr als genug zur Kasse gebeten hat, angefangen
vom unsäglichen 630-Mark-Gesetz bis zum Abkassieren
an der Tankstelle.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das wusste ich doch, diese 630 Mark mussten kommen! Können Sie das mal wiederholen?)


Die Steuer- und Abgabenbelastung war in Deutschland
noch nie so hoch wie zurzeit. Deshalb heißt das Gebot der
Stunde, nicht rauf, sondern runter mit den Steuern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Was sind die Folgen dieser geplanten Erhöhung der

Erbschaft- und Schenkungsteuer?
Erstens. Viele Menschen werden sich überlegen, ob sie

überhaupt noch Wohneigentum schaffen. Sie schädigen
deshalb einmal mehr ein wichtiges Element der dringend
notwendigen privaten Altersvorsorge.

Zweitens. Die Bauwirtschaft wird weniger Aufträge
bekommen. Das Wirtschaftswachstum in Deutschland
wird weiter sinken. Sie haben Deutschland beim Wirt-
schaftswachstum schon jetzt auf den letzten Platz in Eu-
ropa hinunterregiert.

Drittens. Viele Erben von kleinen und mittleren Firmen
werden den Betrieb verkaufen müssen, um ihre ver-
schärfte Erbschaftsteuer zahlen zu können.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! – Dr. Barbara Höll [PDS]: Blödsinn!)


Das ist aktive Vernichtung von Existenzen und von Ar-
beitsplätzen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [PDS]: Sie erzählen Blödsinn!)


Meine Damen und Herren, CDU und CSU sind gegen
eine Erhöhung der Erbschaftsteuer. Damit bieten wir eine
klare Alternative zum Durcheinander in der SPD. Wir for-
dern Rot-Grün deshalb auf, die Verschleierungstaktik auf-
zugeben und endlich Farbe zu bekennen, damit die Men-
schen in diesem Land wissen, was auf sie zukommt, und
zwar vor der Wahl und nicht erst nach der Wahl.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417011500
Jetzt hat die Ab-
geordnete Franziska Eichstädt-Bohlig das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Lieber Kollege Götz, ich bin etwas irritiert. Ich
habe den Eindruck, als ob die Denkfähigkeit proportional
zur Nähe des Wahltages abnimmt und Abgeordnete zwar
ein Assoziationsvermögen in alle Richtungen entwickeln,
aber nicht wirklich auf den Tagesordnungspunkt zu spre-
chen kommen.


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Das ist doch nicht unsere Schuld!)


Ich frage mich, was die Erbschaftsteuer mit Baugenehmi-
gungen zu tun hat. Sollen denn die Häuser in den Sperr-
müll geworfen werden? Das hat niemand beantragt. Die
Rede, die soeben gehalten worden ist, habe ich nicht
verstanden.




Peter Götz
16622


(C)



(D)



(A)



(B)


Es hat geklappt – Kollege Binding hat es angekün-
digt –: Die Stichworte „630-DM-Jobs“ und „Ökosteuer“
sind gefallen. „Bingo!“ kann ich da nur sagen.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich fände es aber trotzdem von einem sonst als Stadt-
und Baupolitiker sehr engagierten Kollegen gut, wenn er
zur Sache diskutieren würde. Von daher sollten wir fest-
halten: Sie hatten mit Ihrer Koalitionsmehrheit eine Be-
fristung der Gültigkeit des Bewertungsgesetzes bis zum
31. Dezember dieses Jahres beschlossen. Sie haben also
1996, als das Bewertungsgesetz in der Form, in der es jetzt
vorliegt, beschlossen worden ist, Überprüfungsbedarf ge-
sehen.


(Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Sie haben mitgestimmt!)


Ich finde, Sie sollten dazu stehen und hier nicht billige
Wahlkampfpolemik und Neidkampagnen betreiben. Letz-
tere schüren Sie in einer fast unanständigen Form,


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Das müssen gerade Sie uns vorwerfen!)


anstatt ernsthaft, methodisch und unter dem Aspekt der
Gerechtigkeit und Belastbarkeit darüber zu diskutieren,
um welche Aufgaben es hier geht. Das ist unser Job und
nicht, dumme Sprüche zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte es konkret formulieren: Ich setze mich ein-
deutig für eine Verlängerung der Gültigkeit des Bewer-
tungsgesetzes ein; das habe ich schon in früheren Reden
getan. Ich würde mich zur Stunde nicht festlegen wollen,
ob diese Verlängerung um zwei, drei oder mehr Jahre er-
folgen sollte.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Herr Binding ist dagegen!)


Dies hat inhaltliche Gründe: Ich bin der Meinung, dass es
eine wichtige Aufgabe ist, das Bewertungsrecht für
Grundsteuer, für Grunderwerbsteuer und für Erb-
schaftsteuer inhaltlich zusammenzuführen, damit hier
endlich ein Stück Vereinfachung erreicht und nicht stän-
dig das eine Bewertungsrecht gegen das andere ausge-
spielt wird.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Dann macht es doch!)


Das hat eine sehr bedeutende Folge: Wir können bei den
Bodenrichtwerten nicht mehr mit der Bedarfsermittlung
arbeiten,


(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)

wie das jetzt bei der Erbschaftsteuer getan wird.


(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/ CSU]: Abschöpfungsteuer!)


Darüber haben wir schon intensiv fachlich diskutiert. Bei
den Bodenrichtwerten müssen wir zu einer neuen Form
der Differenzierung kommen. Denn nur dann kann man

die Bestimmungen zur Grundsteuer neu formulieren und
das Einheitswertsystem anders definieren.


(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/ CSU]: Wertsteigerungsabschöpfung!)


– Es geht nicht um Steuererhöhungen, sondern um die
Systematik bzw. die Grundlagen. Sie sollten hier nicht
wie die Geier sitzen und rufen „Das sind Steuererhöhun-
gen“ angesichts dessen, dass es bei diesem Thema um
eine klare Systematik im Bewertungsrecht geht. Dieser
Aufgabe sollten Sie sich stellen. Ganz so primitiv sollten
Sie sich nicht verhalten. Auch als Opposition haben Sie
hier ein Stück weit politische Arbeit zu leisten und nicht
nur dumme Sprüche zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie sollten die CDU nicht überfordern!)


Dies ist eine sehr wichtige Aufgabe. Denn wir befinden
uns in einer historischen Phase. Es geht zurzeit nicht nur
um die permanente Gesetzmäßigkeit von Wertsteigerun-
gen der Immobilien. Wir leben derzeit vielmehr in einer
Phase mit enormen Umbrüchen: sei es durch Konversio-
nen im Militärbereich; sei es durch die vielen Industrie-
brachen; sei es dadurch, dass Immobilien aufgrund neuer
Anforderungen völlig anders strukturiert werden; sei es
dadurch, dass wir im Osten einen großen Wohnungsleer-
stand haben, während in München oder Hamburg enorme
Wertsteigerungen zu verzeichnen sind.


(Peter Götz [CDU/CSU]: Thema!)

Es besteht also eine enorme Differenzierung bei der

Wertentwicklung. Es gibt Eigentümer, die schon jetzt
bzw. in Zukunft mit Wertsenkungen werden leben müs-
sen. Es gibt Eigentümer, die eine Wertsicherung, und Ei-
gentümer, die enorme Wertsteigerungen zu verzeichnen
haben. Von daher ist ein Eingehen auf diese Differenzie-
rung nötig.

Eines muss ich sagen: Ich bin sehr dafür, dass wir die
Reform des Bewertungsverfahrens verschieben und jetzt
nicht weiter daran arbeiten, weil sie in das ganze System
integriert werden muss. Aber wenn Sie sich einmal den
Gesetzentwurf der Nordländer ernsthaft ansehen, dann
stellen Sie fest, dass sie eine stimmige Form der Diffe-
renzierung vorschlagen. Das, was soeben vorgeworfen
wurde, nämlich dass bei einem solchen Vorgehen Betriebe
aufgeben müssten, ist überhaupt nicht wahr. Bei
Geschäftsgrundstücken wird der Vervielfältiger 12 vorge-
schlagen. Dies ist also sogar ein Stück günstiger als das,
was im jetzigen Bewertungsrecht steht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Reden Sie für den Kanzler?)


Sie sprechen von Dingen, von denen Sie nichts verste-
hen. Sie machen sich nicht einmal die Mühe, das einmal
genauer zu betrachten. In dem Gesetzentwurf der Nord-
länder wird sehr sorgfältig mit den jetzigen Problemen
umgegangen. Es geschieht also kein Raubbau an den ar-
men Bürgern unseres Landes.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)





Franziska Eichstädt-Bohlig

16623


(C)



(D)



(A)



(B)


Daher: Erstens klar verschieben, das Bewertungsrecht
jetzt erst einmal verlängern, zweitens Integration mit dem
sonstigen Immobilienbewertungsrecht und drittens sorg-
fältige Beratung und dann bitte nicht ständig auf dem
Rücken dieses Themas Neidkampagnen züchten, sondern
sorgfältig zwischen Gerechtigkeit und Belastbarkeit der
Bürger in unserem Land abwägen. Auch Sie stehen in der
Verantwortung, für Gerechtigkeit zu sorgen und die Be-
vorzugung gegenüber anderen Vermögensgegenständen
wirklich zu rechtfertigen. Dieser Verantwortung sollten
Sie sich stellen, und zwar auch schon vor der Wahl.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417011600
Jetzt spricht die
Abgeordnete Pia Maier.


Pia Maier (PDS):
Rede ID: ID1417011700
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst ein herzliches Dankeschön an
Frau Eichstädt-Bohlig, die es nach all den Ausflügen in
diverse andere Politikfelder geschafft hat, zum Thema
zurückzukommen.

Allerdings konnten auch Sie mir nicht erklären, warum
die vielen Probleme, die Sie angesprochen haben, von den
zwei damit befassten Ministerien, die – beide in SPD-
Hand – schon 1999 von der SPD aufgefordert worden
sind, eine solche Reform vorzunehmen, in den letzten an-
derthalb bis zwei Jahren nicht gelöst worden sind. Warum
das nicht geschehen ist, versteht heutzutage keiner, der
weiß, welch ein Apparat hinter diesen Ministerien steckt,
und der sich noch an die Wahlversprechen und die Ver-
sprechen des 99-er Parteitages der SPD erinnert.

Ich möchte ein paar Worte dazu verlieren, was Erben
und Erbschaft in diesem Land eigentlich bedeuten, und
zwar basierend auf dem nationalen Armuts- und Reich-
tumsbericht, den ich mir sehr genau angesehen habe. Bei
der Erbschaftsteuer und vor allem bei der Erbschaft gilt
der Grundsatz: Wer hat, dem wird gegeben. In diesem
Land werden soziale Verhältnisse vererbt, und zwar so-
wohl arme wie auch reiche.

Eine Erbschaft von über 5 000 DM erwarten unter al-
len Erben 18 Prozent der Westdeutschen, aber nur 8 Pro-
zent der Ostdeutschen. Das bedeutet eine Verfestigung so-
zialer Missverhältnisse zwischen Ost und West in diesem
Land. Eine Erbschaft über 5 000 DM erwarten unter allen
Erben 35 Prozent der Hochschulabsolventen und -absol-
ventinnen, aber nur 8,7 Prozent der Hauptschulabgänger.
Dies bezieht sich jeweils auf die 40- bis 85-Jährigen der
Bevölkerung dieses Landes. Daran sehen Sie, wie durch
die Erbschaften, die in den nächsten Jahren auf uns zu-
kommen, die sozialen Verhältnisse oder vielmehr die Miss-
verhältnisse in diesem Land fortgeführt und verstärkt
werden.

Drei Viertel der Hochschulabsolventen erben über-
haupt, aber nur knapp die Hälfte der Hauptschulabsol-
venten. Wenn man sich diese Tatsachen, die auch im Ar-
muts- und Reichtumsbericht stehen, ansieht, fragt man
sich, warum Sie nicht die Chance ergreifen, mit einer Erb-
schaftsteuer eine Politik der Umverteilung, eine Politik

des sozialen Ausgleichs anzugehen, den die rot-grüne Re-
gierung eigentlich schon vor einiger Zeit versprochen hat.


(Beifall bei der PDS)

Aber Sie folgen weiterhin dem Grundsatz „Den Seinen

gibt’s der Herr im Schlaf“ und gehen nicht nach einem
Grundsatz vor, der lauten könnte: Armut bekämpfen,
Reichtum begrenzen.


(Beifall bei der PDS)

Weder beim Vorschlag der fünf Länder, die vom Bun-

deskanzler und vom Bundesfinanzminister zurückgepfif-
fen worden sind, noch bei unseren Vorschlägen zur Erb-
schaftsteuer geht es darum, Omas Häuschen nicht mehr
vererbbar zu machen. Vielmehr geht es um große Vermö-
gen und darum, dass die normalen Durchschnittshäuser
durch Freibeträge für die Kinder gesichert werden sollen.

Wenn man sich ansieht, dass mit der jetzigen Einheits-
werttabelle bei einem Verkaufswert des Grundstückes von
1,2 Millionen DM abzüglich der Freibeträge eine Erb-
schaftsteuer in Höhe von rund 32 000 DM herauskommt,
sieht man, dass hier große Vermögen wirklich in einem
sehr geringen Maße belastet werden. Eine solche Belas-
tung ist für Inhaber großer Vermögen wirklich gut zu tra-
gen. Aber ein Grundstück im Wert von 1,2 Millionen DM
ist nicht das, was der Durchschnittsverdiener besitzt. Aber
ich verstehe schon, dass derjenige, der 1 Million DM auf
seinem Konto nicht mehr findet, auch die 32 000 DM
nicht mehr findet bzw. vergisst, sie zu überweisen.


(Beifall bei der PDS und der SPD)

Mit der Vertagung der Erbschaftsteuerreform haben

Sie die Möglichkeit vertan, eine Umverteilung zugunsten
der Länderfinanzen vorzunehmen. Wäre die Erbschaft-
steuerreform jetzt durchgeführt worden, hätten Sie die
Landespolitik stärken können. Mit den Einnahmen aus
der Erbschaftsteuer hätten die Länder zum Beispiel Ganz-
tagseinrichtungen für Kinder und eine bessere Ausstat-
tung der Schulen und Hochschulen finanzieren können.
Damit hätten die sozialen Verhältnisse, die mit Erbschaf-
ten fortgesetzt und verfestigt werden, ausgeglichen wer-
den können. So aber haben Sie das grundlegende Problem
der Vererbung von Vermögen und damit der Verfestigung
sozialer Verhältnisse außer Acht gelassen, und zwar per
Dekret von zwei Ministerien, nachdem die Länder ver-
sucht hatten, ihre berechtigten Interessen durchzusetzen.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Sie müssen sich schon den Vorwurf gefallen lassen,

dass Sie keine Umverteilungspolitik machen, dass Sie die
Armut nicht bekämpfen wollen und den Reichtum noch
nicht einmal in so geringem Maße, wie es durch eine Erb-
schaftsteuer geschehen würde, begrenzen wollen.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417011800
Das Wort hat nun die
Kollegin Simone Violka, SPD-Fraktion.


Simone Violka (SPD):
Rede ID: ID1417011900
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren Abgeordneten! Das Bundesverfassungs-




Franziska Eichstädt-Bohlig
16624


(C)



(D)



(A)



(B)


gericht entschied in seinem Urteil von 1995, dass Immo-
bilien- und Grundbesitz realitätsnäher erfasst werden
müsse. Die daraufhin von der damaligen Regierung ein-
geführte Neuregelung war allerdings befristet und läuft
am 31. Dezember dieses Jahres aus.

Aus diesem Grund wurde von uns schon in der Koali-
tionsvereinbarung festgelegt, zu diesem Thema eine
Sachverständigenkommission einzuberufen. Diese Kom-
mission, bestehend aus Praktikern der Finanzverwaltun-
gen aller Länder, Bausachverständigen und verschiede-
nen Vertretern des Bundesministeriums, hat inzwischen
einen Bericht vorgelegt. Fünf Bundesländer bereiteten
aufgrund dessen eine Gesetzesinitiative für den Bundes-
rat vor.

Leider wird heute wie auch schon am 10. Mai letzten
Jahres, als wir ebenfalls eine Aktuelle Stunde zu diesem
Thema hatten – damals allerdings auf Antrag der
CDU/CSU, die dieses Thema für den Wahlkampf in Nord-
rhein-Westfalen missbrauchen wollte –, seitens der Op-
position völlig am Thema vorbeigeredet.


(Beifall bei der SPD)

Statt Aufklärung war und ist auch heute Panikmache an-
gesagt. Die Opposition auf der von mir aus gesehen rech-
ten Seite dieses Hauses schreit Zeter und Mordio und die
Opposition links außen sieht bei Erben Reichtum, der so
schnell wie möglich umverteilt werden muss.

Immerhin ist auch die PDS-Fraktion der Meinung, dass
im Erbfall niemals Einfamilienhäuser weggesteuert wer-
den dürfen und auch der Fortbestand von Familienbetrie-
ben nicht gefährdet werden darf. Darin geht die PDS aus-
nahmsweise konform mit uns; denn das ist in unseren
Reihen noch nie strittig gewesen und wird es auch nie
sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das weder die
CDU/CSU- noch die F.D.P.-Fraktion hören will. Sie
begeben sich lieber in die Welt von Grimms Märchen und
erzählen Schauergeschichten, und das nicht erst seit
heute.


(Beifall bei der SPD)

Ich habe noch einmal die Reden in der Debatte im letz-

ten Jahr zu diesem Thema gelesen. Damals sprach unter
anderem Herr Thiele, der heute leider nicht gesprochen
hat. Er sagte, „dass Rot-Grün an das sauer erarbeitete und
ersparte Geld der Bürger in unserem Land heran will“. Es
tut mir Leid, aber ich kann nicht ganz erkennen, wodurch
sich der Steuerpflichtige, also der Erbe, das Geld so sauer
erarbeitet haben soll. Als Erbe würde ich mir eine solche
Unterstellung verbitten; denn das anzunehmen lieferte
höchstens Stoff für einen Kriminalroman.

Herr Götz, zu Ihrer Rede möchte ich nur Folgendes sa-
gen: Mein Mathematiklehrer benutzte für solche Beiträge
immer eine sehr kurze Formel; sie lautete: b2. Das bedeu-
tet: Der Inhalt ist blühender Blödsinn.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ CSU: Hat er diese Formel bei Ihnen öfter benutzt?)


– Nein, bei mir nicht.

(Lachen bei der CDU/CSU)


Frau Hasselfeldt von der CDU/CSU-Fraktion indes igno-
rierte in ihrer Rede das Urteil des Bundesverfassungsge-
richtes und führte aus, die SPD habe schon immer eine Er-
höhung der Erbschaftsteuer gewollt und benutze die
Erbschaftsteuer als ideologisches Neidinstrument. Diese
Äußerung ist nicht neu und zeigt nur, wie wenig Sie bei
diesem Thema an einer konstruktiven Mitarbeit interes-
siert sind.

Interessant ist auch, dass es durchaus vermögende
Menschen gibt, die das völlig anders sehen. Gates senior
zum Beispiel, der nun nicht gerade einer der Ärmsten ist,
ist der Meinung, dass Kinder kein Recht auf Reichtum ha-
ben, nur weil sie in eine reiche Familie geboren wurden.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wer sagt das? Sind Sie immer noch bei Ihrem Mathelehrer?)


– Ich finde es schon peinlich, wenn Sie Herrn Gates nicht
kennen.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Ich wollte es nur noch einmal hören!)


Ich hoffe, Sie können wenigstens mit den Computern von
ihm umgehen, die Sie benutzen.

In der „Financial Times Deutschland“ wurde er vor-
gestern wie folgt zitiert:

Ein gutes Leben soll man sich erarbeiten. Es sollte
nicht von dem Bauch abhängen, in dem man zufällig
sein Leben beginnt.

Ich finde, das ist ein Zitat, über das man vielleicht auch in
Ihren Reihen nachdenken kann.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist die Abschaffung des Erbrechts!)


Bei ihrem Neidvorwurf übersah Frau Hasselfeldt an-
scheinend, dass Immobilien und Grundbesitz im Steuer-
recht viel niedriger als Geldvermögen bewertet werden.
Wo bleibt die immer von Ihnen viel zitierte Steuergerech-
tigkeit, alles gleich zu besteuern? Warum muss derjenige,
der eine Million als Geldvermögen erbt, 90 000 DM Steu-
ern zahlen und derjenige, der Immobilien erbt, die auf
dem Markt mehr wert sind, keine Steuern zahlen? Das
kann doch nicht in Ihrem Sinne sein.

Dieser Zustand ist durch nichts gerechtfertigt und wird
immer wieder Gegenstand von Gerichtsverfahren sein.
Dabei ging und geht es niemals um „Oma ihr klein Häus-
chen“. Aber das interessiert Sie nicht, sondern diese Irrig-
keit wird von Ihnen immer wieder nach dem Motto ver-
breitet: Wenn man etwas nur lange genug behauptet,
glaubt es vielleicht sogar außer einem selbst noch einer.

Vor allem solche haltlosen Unterstellungen sind der
Grund, dass sich die Länder, die letztendlich betroffen
sind, momentan keine einheitliche Meinung dazu gebil-
det haben. Dennoch ist gesetzliches Handeln notwendig,
da sonst ab dem nächsten Jahr keine Grundstückswerte
mehr festgestellt werden könnten und folglich keine Steu-
erveranlagungen mehr durchgeführt werden. Die daraus




Simone Violka

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resultierenden Steuerausfälle wären für die Länder nicht
verkraftbar.

Daher wird es zu einer erneuten Befristung kommen,
die den Ländern erst einmal Rechtssicherheit verschafft.
Gleichzeitig gibt uns das genügend Zeit, um auf der
Grundlage des mittlerweile vorliegenden Berichtes der
Kommission gut und umsichtig vorzubereiten, wie man
eine verfassungsrechtlich sichere und gerechtere Bewer-
tung von Grund- und Immobilienbesitz umsetzen kann.
Das kann allerdings nur im Einvernehmen aller Länder
geschehen. Ich bin zuversichtlich, dass auch die CDU/
CSU-geführten Bundesländer nicht umhinkommen, sich
an dieser Arbeit zu beteiligen; denn die Länder sitzen in
dieser Frage alle in einem Boot.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: So viel zu b2!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417012000
Jetzt hat der Kollege
Hansgeorg Hauser, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Hansgeorg Hauser (CSU):
Rede ID: ID1417012100

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Der „Basta-Kanzler“ hat wieder zugeschla-
gen – zum Glück, wie man in diesem Fall sagen muss. Der
Versuch, die Erbschaftsteuer drastisch zu erhöhen, ist vor-
erst gestoppt. Oder war es doch wieder nur ein abgekarte-
tes Spiel? Einige Länderfürsten preschen unter tätiger
Mitwirkung des Bundesfinanzministeriums vor, um neue
Steuererhöhungen zu erreichen,


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sie wurden angestiftet!)


und der Kanzler kann sich zum Retter der Häuslebesitzer
aufschwingen.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Großzügig lässt er die Pläne auf Eis legen und
beschwichtigt die Ministerpräsidenten am Kamin.

Ganz so glücklich damit scheinen aber Simonis,
Möller und Co. doch nicht zu sein; denn sie verkündeten
rasch, dass diese Erhöhung nur aufgeschoben sei. Auch
die Linken in der SPD setzen nach und verkünden ihre al-
ten Parolen, dass leistungsloses Vermögen stärker belas-
tet werden muss.


(Zuruf von der CDU/CSU: Was ist das?)

Nordrhein-Westfalen springt dem Retter bei und bringt
mit einem Verschiebeantrag, wie wir es gerade gehört
haben, den lahmenden Gaul über die Hürden. Dies
geschah getreu dem Motto, wie es die „Süddeutsche
Zeitung“ vorgestern zum Ausdruck brachte:

Das Ende der Politik ... Gerhard Schröder macht den
Stillstand zur Chefsache.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein bei uns sehr populärer fränkischer Kabarettist würde
sagen: Aufgemerkt, das dicke Ende kommt noch! – Aber
die Wähler sollen dieser Koalition erst einmal wieder ihre

Stimme geben. Dann werden sie schon sehen, was auf sie
zukommt. Das wurde vor den Wahlen in Baden-Würt-
temberg und Rheinland-Pfalz bereits vorexerziert:

Kaum ist gewählt, schon quält die SPD die Steuer-
zahler.

So schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ am 28. März dieses
Jahres.

Was wollen die fünf SPD-geführten Länder mit ihrem
Vorschlag erreichen? Was bringt er für Auswirkungen?
Aufgrund der Verfallsklausel – das haben wir schon
gehört –, nach der die für die Grundstücksbewertung
maßgeblichen Wertverhältnisse nur bis zum 31. Dezem-
ber 2001 gelten sollen, meinten die Länder Schleswig-
Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Nieder-
sachsen und Sachsen-Anhalt, eine weitere Verschärfung
im Bewertungsrecht erreichen zu müssen. Finanzminister
Möller aus Schleswig-Holstein sagte im Bundesrat am
30. März 2001 dazu:

Ziel des Gesetzentwurfs ist es, erstens eine Annähe-
rung der Grundbesitzwerte an den Verkehrswert zu
erreichen, zweitens das Bewertungsverfahren zu ver-
einfachen und drittens das Aufkommen der Länder
aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer sowie der
Grunderwerbsteuer zu sichern.

Hier war wohl „erhöhen“ gemeint; denn eine gerechtere
Bewertung ließe sich auch aufkommensneutral errei-
chen. – Der Vorschlag hätte Erhöhungen der Verkehrs-
werte von durchschnittlich 51 Prozent auf durchschnitt-
lich 72 Prozent erreicht.

Hier wird immer das Urteil des Verfassungsgerichts zi-
tiert. Meine Damen und Herren, dieses Urteil hätte sehr
wohl ausreichend Spielraum gelassen und eine sachbezo-
gene Differenzierung bei der Bewertung von Vermögens-
werten ermöglicht. Wenn jetzt gesagt wird, dass der Zu-
stand, den wir zur Zeit haben, verfassungswidrig sei, dann
frage ich Sie, wie man mit einem Antrag auf Verschiebung
diese Verfassungswidrigkeit beseitigen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, an zahlreichen Beispielen

lässt sich nachweisen, wie groß die Erhöhung wäre. Las-
sen Sie mich ein Beispiel zitieren, das der bayerische Fi-
nanzminister in der Bundesratssitzung genannt hat: Eine
Alleinerbin, eine Tochter, erbt ein Zweifamilienhaus in
Amberg in der Oberpfalz – das ist nun weiß Gott keine
Gegend, in der der Jetset zu Hause ist –, die Wohnungen
haben eine Wohnfläche von 123 m2, die Grundfläche be-
trägt 800 m2, die monatliche Kaltmiete für eine Wohnung
1180 DM, der Bodenrichtwert 250 DM. Die Erb-
schaftsteuerbelastung beträgt zurzeit 0 DM, nach den Vor-
schlägen von Herrn Möller beliefe sie sich auf
15 180 DM. Dann gab es einen modifizierten Vorschlag,
nach dem es immer noch 13 800 DM gewesen wären, und
nach den Vorstellungen der Sachverständigenkommission
wären es sogar 21 000 DM gewesen.

Oder lassen Sie mich ein zweites Beispiel anführen,
weil es immer heißt, der Enkel solle nicht das Häuschen
der Oma verkaufen müssen. Natürlich muss er es nicht
wegen der Erbschaftsteuerbelastung verkaufen, aber ich




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frage mich: Wieso ist es gerechtfertigt, bei solchen ge-
ringfügigen Vermögen überhaupt diese Steuer zu verlan-
gen? Dazu noch ein Beispiel aus der Oberpfalz – das sind
jetzt aktuelle Werte –: ein Häuschen, 1961 gebaut, Wohn-
fläche 115 m2, Grundstücksfläche 500 m2, Monatsmiete
950 DM. Die Erbschaftsteuerbelastung beträgt zur Zeit
bereits 2 450 DM, die künftige Belastung nach dem Vor-
schlag liegt bei 12 000 DM.

Meine Damen und Herren, dieses Beispiel beweist
ganz genau, dass die Redensart, ein kleines Häuschen
solle nicht belastet werden, völlig daneben liegt. Der
Kanzler hat erkannt, dass das eine Zeitbombe sein könnte;
deswegen hat er die Sache gebremst. Lassen Sie die Dis-
kussionen, lassen Sie es bei den bisherigen Werten! Das
wäre sachgerecht und auch vernünftig. Schenken Sie den
Wählern vorher reinen Wein ein!

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417012200
Jetzt hat die Kollegin
Lydia Westrich für die SPD-Fraktion das Wort.


Lydia Westrich (SPD):
Rede ID: ID1417012300
Frau Präsidentin! Meine Kol-
leginnen und Kollegen! Es ist eigentlich schade; gerade
die Fraktion der PDS und oft auch die F.D.P.-Fraktion be-
klagen sich immer darüber, dass wichtige Themen so weit
in die Abendstunden geschoben werden. Hier sitzen wir
jetzt zur besten Zeit und unterhalten uns mit Leidenschaft
– zum wievielten Mal? – über die Erhöhung der Erb-
schaftsteuer:


(Zurufe von der CDU/CSU: Es ist klar, dass es Ihnen lieber wäre, wenn wir nicht darüber reden würden, wenn Sie das so heimlich umsetzen könnten! – Sie wollen das verstecken, damit es der Wähler nicht merkt!)


Eine Aktuelle Stunde dazu im November 1999, eine im
Mai 2000, eine im Mai 2001; sollen wir denn den Termin
für das nächste Jahr schon miteinander ausmachen, Frau
Hasselfeldt?


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wir haben Sie wieder einmal erwischt!)


Mit welchem Pathos und welchem Tremolo Sie hier
über Chimären reden!

Nach dem kommenden Sonntag
– das war damals der Wahlsonntag in Nordrhein-West-
falen –

– davon sind wir überzeugt – werden Sie die Katze
aus dem Sack lassen!

So hat es Heinz Seiffert im Mai 2000 gesagt. 53 oder
54 Sonntage sind nun ins Land gegangen. Und gibt es et-
was? – Nichts! „Die arme Katze“, könnte man sagen.

Die einzige Erhöhung der Erbschaftsteuer in den letz-
ten Jahren haben doch Sie von der CDU/CSU und der
F.D.P., Frau Hasselfeldt, vorgenommen. Diese Erhöhung
war laut Herrn Repnik – er ist ja ein wichtiges Mitglied

Ihrer Fraktion, werte Kolleginnen und Kollegen aus der
CDU/CSU – familienfreundlich und unternehmerfreund-
lich. Wenn aber eine Erhöhung von Steuern in Ihren Au-
gen familienfreundlich und unternehmerfreundlich sein
soll, dann begreife ich Ihr Pseudo-Wehklagen überhaupt
nicht. Selbst Herr Thiele hat im Mai 2000 bestätigt, dass
er und seine Fraktion zu dem höheren Aufkommen auf-
grund der Erbschaftsteuererhöhung stehen. Noch letzte
Woche versuchten Sie uns mit Anträgen zur Verbesserung
der Situation des Mittelstandes vorzuführen. Die Wahr-
heit ist: Sie hätten in den letzten Jahren Zeit gehabt, eine
Verbesserung der Lage des Mittelstandes herbeizuführen.
Sie hätten in dieser Zeit ein Paradies für den Mittelstand
schaffen können. Sie verstehen sich aber nur als reiner
Marketingverein und fordern, was nicht wehtut, um dann
Belastungen – wie Herr Repnik es tut – als freundlich zu
verkaufen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich verstehe die Intention der PDS, diese Aktuelle

Stunde zu beantragen, weil sie es als Gelegenheit sieht,
ihre Pläne zur massiven Erhöhung der Erbschaftsteuer
zum wiederholten Male vorzustellen. Ich erkenne auch
die Anstrengungen der Länder an – vor allem von Meck-
lenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt –, ihre eigene
Steuerbasis zu verbessern. Finanzminister Claus Möller
aus Schleswig-Holstein hat aus seiner Sicht eine wirklich
sorgfältige Argumentation zu diesem Thema vorgelegt.
Auch Mitglieder der Fraktion der CDU/CSU haben wie-
derholt die soziale Verpflichtung des Eigentums – wie es
auch die PDS vorgetragen hat – bekräftigt. Herr Binding
und Frau Eichstädt-Bohlig haben wieder einmal versucht,
Ihnen die Grundlage genau zu erklären, um eine sachliche
Diskussion zu ermöglichen. Wenn alle Länder fordern,
ihre eigenen Einnahmequellen so gut es geht zu verbes-
sern, kann sich das ganze Haus dieser Möglichkeit nicht
verschließen. Solange dieses Ereignis aber nicht eintritt,
ist jede Diskussion überflüssig.

Seit zwei Jahren versuchen Sie mit wilden Spekulatio-
nen die Menschen zu verunsichern, weil es Ihnen nicht
passt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Erb-
schaftsteuererhöhungsfraktionen, dass wir – SPD und
Bündnis 90/Die Grünen – wahr gemacht haben, was Sie
nur in Sonntagsreden von sich geben. Wir haben die Steu-
erbelastungen für die Bürger, die Familien, die Unterneh-
men sowie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit
unserer rot-grünen Mehrheit massiv gesenkt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der CDU/CSU – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Fürs Protokoll: Die Rednerin muss selber lachen! – Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Wo und wann?)


Endlich klaffen Brutto- und Nettoeinkommen nicht mehr
so weit auseinander und die Menschen merken das. Sie
aber können das anscheinend nicht verkraften. Anstatt
sich mit den Menschen zu freuen, dass sie mehr Geld zur
Verfügung haben, hetzen, spekulieren und verunsichern
Sie. Das ist alles, was Sie können, anstatt mit uns neue
Möglichkeiten zu erreichen, um eine gute, verfassungs-
rechtlich tragfähige Bewertungsreform auf die Beine zu
stellen.




Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)


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Gerade im sensiblen Bereich von Erbschaftsfällen und
Schenkungen brauchen wir Rechtssicherheit. Deshalb
war es richtig, dass die Bundesregierung eine klare Posi-
tion bezogen hat. Rechtssicherheit bei der Erbschaftsteuer
ist für die Menschen wichtiger als ideologisch geprägte
Debatten. Neid oder Privilegierung des Reichtums dürfen
keine Rolle spielen. Die Bürger brauchen Vertrauen und
wir brauchen eine sachliche und gründliche Diskussion.

Jetzt sind Sie dran, endlich die Interessen der Men-
schen zu vertreten und damit aufzuhören, mit wilden Spe-
kulationen immer nur Unfrieden zu stiften.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417012400
Jetzt hat der Kollege
Klaus-Peter Willsch, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Klaus-Peter Willsch (CDU):
Rede ID: ID1417012500
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Westrich,
wenn Sie sagen, diese Debatte sei überflüssig, haben Sie
sich im Verlauf der Debatte eigentlich selbst widerlegt.
Heute ist völlig klar geworden: Nicht nur die Regierung
spielt auf Zeit, sondern auch SPD und Grüne tun dies.
Wenn Rot-Grün weiter an der Regierung ist, wird die Erb-
schaftsteuer in diesem Land erhöht werden. Das ist für die
Menschen unter dem Strich deutlich geworden. Das ist
wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lydia Westrich [SPD]: Das haben Sie doch schon vor zwei Jahren gesagt! Sie können das ja sagen; es stimmt nur nicht!)


Wenn man die Reden Revue passieren lässt, ist viel
wichtiger, darauf zu schauen, wer nicht gesprochen hat,
als zu schauen, wer gesprochen hat und was der vielleicht
gesagt hat. Ich frage mich in diesem Zusammenhang:
Warum spricht Detlev von Larcher – er ist ja Mitglied des
Finanzausschusses – nicht?


(Zuruf von der SPD: Er ist krank!)

Der ist nicht da; haben Sie den bei diesem Thema wegge-
sperrt, um die Widersprüche nicht allzu deutlich werden
zu lassen?


(Lydia Westrich [SPD]: Er ist krank, sonst hätte er bestimmt gesprochen!)


Warum spricht denn Andrea Nahles nicht, von der wir
hören, im Oktober gebe es von der parlamentarischen Lin-
ken einen neuen Vorstoß, um das Vorhaben auf den Weg
zu bringen?


(Zuruf von der SPD: Weil sie nicht im Finanzausschuss sitzt! – Lydia Westrich [SPD]: Aber sie ist wirklich gut, viel besser als Sie!)


Wieso spricht Finanzminister Möller nicht, der nach der
Kanzlerkungelrunde trotzig erklärt hat, an den Plänen
festzuhalten? Wieso hört man nichts von Frau Minister-
präsidentin Simonis?

Also: Es ist häufig aufschlussreicher, sich anzu-
schauen, wer nicht spricht, als sich anzuhören, was die ge-
sagt haben, die gesprochen haben, was im Übrigen auch
nicht besonders erhellend war.


(Zuruf von der PDS: Da haben Sie ausnahmsweise einmal Recht!)


Frau Scheel – sie ist leider schon gegangen; aber es
wird ihr sicherlich jemand darüber berichten – hat sich in
ihrer Situationsanalyse geirrt, als sie festzustellen glaubte,
dass das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer gesunken
sei. Vielleicht verfügt sie über andere Zahlen als ich. Mir
liegen die Zahlen des Bundesfinanzministers vor. Nach
denen ist das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer konti-
nuierlich gestiegen, nämlich von 1996 von etwas über
4 Milliarden DM auf 6,2 Milliarden DM im Jahr 2000.
Das ist auch ganz logisch; denn wir alle reden von einer
„Erbschaftswelle“. Es ist also völlig klar, dass auch das
Volumen des Erbschaftsteueraufkommens wächst.

Hinzu kommt, dass der demographische Faktor auch in
diesem Bereich wirkt. Wenn weniger Kinder vorhanden
sind und deshalb weniger Freibeträge genutzt werden
können, erhöht sich das Erbschaftsteueraufkommen.
Wenn nicht mehr in direkter Linie, sondern weitläufiger
vererbt wird, dann können nur geringere Freibeträge in
Anspruch genommen werden. Aber Ihnen reicht dieser
Trend nicht. Sie wollen 500 Millionen DM mehr haben
und halten sich bislang nur taktisch zurück.

Der Bundesfinanzminister hat seine Sprecherin erklä-
ren lassen: Aus unserer Sicht ist eine Erbschaftsteuer-
erhöhung vorerst nicht erforderlich.


(Zuruf von der CDU/CSU: Vorerst!)

Dieser Satz lässt beim Steuerbürger in Deutschland alle
Alarmglocken läuten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Es ist völlig klar, wo dieses Thema demnächst behandelt
werden wird: Es ist ein Thema für die Mauschelrunden. In
den letzten zweieinhalb Jahren ist es in der Politik ja wie
auf einem orientalischen Basar zugegangen.


(Simone Violka [SPD]: Das verwechseln Sie! Das ist doch vorbei! Das war vorher so!)


Sie tauschen – das war die erste Rate – Rente gegen La-
denschluss. Dann tauschen Sie – das war die zweite Rate –
Rente gegen Betriebsverfassungsgesetz, dann Steuerre-
form gegen Stadtstaatenprinzip und Sportstadion sowie
Altersvermögensaufbau gegen 1 200 Jobs hier im Um-
land. Vielleicht nutzt man das Thema der Erbschaftsbe-
steuerung auch noch, um Herrn Holter in Mecklenburg-
Vorpommern zu trösten.


(Lydia Westrich [SPD]: Nein, der ist schon getröstet! Das ist schon erledigt!)


Das Thema ist jetzt in dem großen Topf, aus dem Kom-
pensationen geleistet werden sollen und mit dessen Hilfe
Wohlverhalten hergestellt werden soll.

Wenn Sie sich das, was auf dem Tisch liegt, wirklich
einmal anschauen würden – Hansgeorg Hauser hat es
eben schon deutlich gemacht –, dann würden Sie feststel-




Lydia Westrich
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(A)



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len, dass Sie tatsächlich an „Oma ihr klein Häuschen“ ge-
hen, um diesen Ausdruck aufzugreifen. Wenn wir schon
von der Oma und ihrem kleinen Häuschen sprechen, dann
sollten wir uns auch den Enkel betrachten. Wenn Sie sich
die Grundstücks- und Immobilienpreise in den Ballungs-
räumen anschauen und mit dem Verkehrswert verglei-
chen, dann werden Sie selbst bei einer nur überschlägigen
Rechnung feststellen, dass der Enkel schon heute nicht
erbschaftsteuerfrei erben kann und dass seine Belastung
nach Ihren Plänen sogar noch auf das Dreifache steigen
wird. Wenn man eine Immobilie im Wert von 1 Mil-
lion DM erbt, dann muss man mit einer Erbschaftsteuer in
Höhe von mindestens 60 000 DM rechnen. Das muss man
sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.

Sie wollen sich – das ist völlig klar – über die Wahl hi-
naus retten. Wir werden Ihnen das nicht durchgehen las-
sen. Wir sagen: Bürger aufgepasst! SPD und Grüne wol-
len an „Oma ihr klein Häuschen“! Wer Vorsorge treffen
will und nicht möchte, dass das geschieht, der hat das sel-
ber in der Hand und muss bei der Wahl im nächsten Jahr
CDU/CSU wählen. Dann wird das verhindert.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417012600
Zum Abschluss dieser
Aktuellen Stunde gebe ich das Wort an die Kollegin Ingrid
Arndt-Brauer für die SPD-Fraktion.


Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1417012700
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! All denjenigen, die
später zu uns gestoßen sind, möchte ich sagen: Hier fin-
det zurzeit eine Aktuelle Stunde statt. Aktuell könnte man
natürlich über viele Themen reden. Ich denke zum Bei-
spiel an Leuna und an Biedenkopf. Es gibt unheimlich
viele Dinge, die die Leute im Moment interessieren. Statt-
dessen reden wir über ein Thema, über das wir traditionell
eigentlich jährlich diskutieren. Wir reden ungefähr jedes
Jahr im Mai über die Erbschaftsteuer.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Es zwingt Sie niemand!)


Das macht eigentlich wenig Sinn, weil wir aktuell gar
nicht vorhaben, in diesem Bereich etwas zu verändern.


(Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Wo waren Sie denn während der ganzen Debatte?)


Ein wenig aktueller ist die Ökosteuer, über die wir mo-
natlich reden. Dieses Thema spielte in die heutige Debatte
ein bisschen mit hinein. Das war sozusagen halbaktuell.
Aber wir reden, wie gesagt, eigentlich über die Erb-
schaftsteuer.

Ich möchte kurz auf das eingehen, was meine Vorred-
ner gesagt haben. Es ist inhaltlich immer das Beste, wenn
man als letzte Rednerin spricht; denn dann ist das meiste
schon zum Thema gesagt worden. Ich finde es sehr ehren-
wert, dass die PDS für eine angemessene Besteuerung
sorgen möchte. Etwas anderes wollen auch wir nicht


(Zurufe von der CDU/CSU: Na bitte! – Jetzt kommt´s raus! – Die Katze aus dem Sack!)


und werden wir in Zukunft auch nicht tun. Die Frau
Staatssekretärin hat darauf hingewiesen, dass es sich um
eine Länderinitiative handelt und dass dies auch so blei-
ben wird. Wir sind sehr gespannt, wie sich diese Initiative
in den nächsten Jahren entwickeln wird.

Was mich sehr freut, ist, dass vor allem die CDU/CSU
unsere Parteitagsbeschlüsse ausgiebig liest.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wir sagen es ja den Menschen!)


Das ist wichtig für Sie. Sie können nur davon lernen. Ich
lese Ihre leider nicht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das würde Ihnen aber sehr gut tun!)


Deshalb wäre es gut, wenn Sie ab und zu auch einmal hier
vortragen würden, was Sie perspektivisch machen möch-
ten.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Die haben keine Perspektive!)


Was ich persönlich immer wieder schade finde, ist,
dass hier über „linke“ Sozialdemokraten so geredet wird,
als ob das ein Schimpfwort wäre. Ich kann Sie beruhigen:
Bei uns in der Partei werden die Leute nicht abgestempelt.
Damit haben wir kein Problem.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die sind doch abgetaucht!)


Sie fordern immer wieder: Sagen Sie doch den Leuten
vor der Wahl die Wahrheit; dann merken sie es nicht erst
hinterher. Sie gehen also ganz automatisch – wie wir
natürlich auch – davon aus, dass wir die Wahl gewinnen.


(Beifall bei der SPD)

Das freut mich sehr und das macht mich zufrieden.

Schwierig wird es in Zukunft, so denke ich, mit der
F.D.P. Wir wissen, dass Sie nächstes Mal mitregieren
möchten. Das wird schwierig; denn Sie müssen Ihre Mei-
nung dann komplett ändern. Aber das F steht wohl für
„flexibel“ oder „Fallschirmspringen“. Da werden Sie die
Kurve schon kriegen.


(Beifall bei der SPD – Rainer Brüderle [F.D.P.]: Dummes Zeug!)


Zu Herrn Götz möchte ich noch kurz anmerken: Auch
wir stehen natürlich zum Wohneigentum. Wir möchten
auch, dass die heutigen Erben sich ein Haus bauen kön-
nen. Ich bin zuversichtlich, dass sie mit all unseren Steu-
erreformen dazu auch in der Lage sein werden. Die Apo-
kalypse, die Sie an die Wand gemalt haben, werden wir
also erst einmal für zwei Jahre verschieben, und dann wird
sie auch nicht so dramatisch werden, wie Sie das be-
fürchten.

Herrn Hauser wollte ich noch fragen, woher er den Be-
griff „leistungsloses Vermögen“ hat. Den kannte ich bis-
her nicht. Wenn Sie keine Nutzungsrechte daran haben,
würden wir den in Zukunft gern verwenden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die linke Sparweise!)





Klaus-PeterWillsch

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Ich finde den ganz gelungen. Bei uns habe ich das noch
nicht gehört.


(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/ CSU]: Natürlich! Das kann ich Ihnen nachweisen!)


Aber Sie können mich ja gern aufklären.
Zu Herrn Willsch noch: Ich sehe das Ganze nicht so

dramatisch. Wenn Sie neidisch darauf sind, dass wir ge-
stalten können und dass wir vielleicht auch ein bisschen
verhandeln, wenn wir Reformen machen, dann tut mir das
Leid. Aber Sie werden sich damit arrangieren müssen.
Das wird auch in Zukunft so bleiben.


(Zuruf von der SPD: In den nächsten 20 Jahren!)


Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417012800
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.

Ich rufe den heute Morgen aufgesetzten Zusatzpunkt
12 auf:

Zweite und dritte Beratung der von der Bundes-
regierung und von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwürfe eines Gesetzes zur Reform des Zivil-
prozesses
– Drucksachen 14/4733, 14/3750, 14/6036 –

Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P.
vor. Die Fraktion der CDU/CSU hat ihren Gesetzentwurf
zur Vereinfachung des zivilgerichtlichen Verfahrens,
Drucksache 14/163, zurückgezogen.

Wie heute Morgen beschlossen, beträgt die Dauer der
Aussprache eineinhalb Stunden.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hermann Bachmaier für die SPD-Fraktion.


Hermann Bachmaier (SPD):
Rede ID: ID1417012900
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren!

Auf Dauer wird die bürgerliche Rechtspflege nicht in
der Lage sein, ohne weitergehende Maßnahmen die-
sen Geschäftsanfall und – erst recht nicht – die vom
Gesetzgeber übertragenen neuen Aufgaben zu be-
wältigen und dem rechtsuchenden Bürger in ange-
messener Zeit Rechtsschutz zu gewähren.

So heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs der
CDU/CSU-Fraktion vom Anfang dieser Legislaturperi-
ode.

In diesem Antrag ist neben dem verstärkten Einsatz
von Einzelrichtern eine „Einschränkung des Angebots der
Rechtsmittel“, wie es so schön heißt, sprich: eine recht ri-
gorose Befugnis zur Zurückweisung von Berufungen bis
zu einem Streitwert von sage und schreibe 60 000 DM
vorgesehen.

Dieser Gesetzentwurf, über den wir, wie gesagt, heute
mit zu beraten und auch mit zu entscheiden haben, liegt in
der unseligen Tradition der vielen so genannten Rechts-
pflegeentlastungsgesetze, mit denen wir in den zurück-
liegenden Legislaturperioden immer dann befasst,
manchmal fast traktiert wurden, wenn die Justiz mit an-
steigenden Fallzahlen in Schwierigkeiten geriet.

Dann wurde an der Streitwertschraube mit der Folge
gedreht, dass wir inzwischen fast eine Art Zweiklassen-
justiz haben: Hohe Streitwerte genießen komfortabelsten
Rechtsschutz bis hin zum Bundesgerichtshof; Verfahren
mit niedrigeren Streitwerten müssen sich unabhängig da-
von, wie existenziell ihre Bedeutung für die Beteiligten
ist, mit begrenzten Rechtsmittelmöglichkeiten begnügen.
Die Folge ist auch, dass die Amtsgerichte, die den größ-
ten Teil aller Zivilrechtsverfahren zu schultern haben,
zum Teil rettungslos überlastet sind. Richterinnen und
Richter, die jährlich über 700 Fälle zu bearbeiten haben,
können auch bei noch so gutem Willen dem Einzelfall
nicht die Zuwendung zukommen lassen, die Recht-
suchende von der Justiz zu Recht erwarten können.

Die von der Regierung und den Koalitionsfraktionen
heute zur Abstimmung gestellte Zivilprozessreform führt
zu deutlichen Verbesserungen. Zivilrechtliche Auseinan-
dersetzungen sollen künftig wieder so von den Gerichten
bewältigt werden können, dass die Rechtssuchenden
möglichst schon in erster Instanz mit einem ab-
schließenden Ergebnis rechnen können, und zwar in ei-
nem Verfahren, das ihren Gerechtigkeitsvorstellungen
entspricht. Verstärkte Aufklärungspflichten des Gerichtes
sollen schon in einem frühen Stadium den Rechtssuchen-
den die Chancen und Risiken des Verfahrens offen legen.
Dem Ziel, bereits in diesem Stadium zu einem fairen Aus-
gleich zu kommen, dient auch die Verpflichtung des Ge-
richts, vor der streitigen Verhandlung im Rahmen einer
Güteverhandlung eine vergleichsweise Regelung anzu-
streben. Erhöhte Aufklärungspflichten schaffen nicht nur
Transparenz und verhindern Fehleinschätzungen durch
die Prozessparteien, sondern verstärken gleichzeitig die
Bereitschaft, im Vergleichswege eine Lösung zu suchen.
Wir brauchen diese Stärkung der ersten Instanz dringend;
denn allein die Zahl der durchlaufenen Instanzen ist noch
kein zwingender Beleg dafür, dass bessere Ergebnisse er-
zielt werden.

Eine gründliche Befassung und ein transparentes Ver-
fahren in der ersten Instanz rechtfertigen es auch, aus-
sichtslose Berufungen durch einstimmigen Beschluss
der Berufungskammer bzw. des Berufungssenates zu-
rückzuweisen. Anders als dies noch der CDU/CSU-
Antrag vorsieht, sollen auch in diesem Falle die Prozess-
parteien nicht plötzlich mit einer solchen Entscheidung
konfrontiert werden. Das Berufungsgericht hat vielmehr
seine Absicht, die Berufung zurückzuweisen, unter Nen-
nung der Gründe mitzuteilen und dem Berufungsführer
Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Dadurch wer-
den zur Verbitterung Anlass gebende überfallartige Ent-
scheidungen vermieden und dem Gebot des rechtlichen
Gehörs Rechnung getragen.

Durch die Reform des Berufungsverfahrens wird die
Durchführung erkennbar aussichtsloser Berufungen ver-




Ingrid Arndt-Brauer
16630


(C)



(D)



(A)



(B)


mieden und bereits nach Abschluss der ersten Instanz
Rechtssicherheit hergestellt. Dem von manchen so her-
vorragend beherrschten Spiel, durch eine exzessive Aus-
nutzung des Instanzenzuges sich möglichst lange Zah-
lungs- und Leistungspflichten zu entziehen, wird mit
diesen prozessualen Möglichkeiten Einhalt geboten.
Rechtlich und tatsächlich zweifelhafte Entscheidungen
der ersten Instanz können aber nach wie vor, wie die ein-
schlägigen Vorschriften zeigen, in der Berufungsinstanz
gründlich überprüft werden.

Gerade auch die einschlägigen Vorschriften zur Beru-
fung zeigen, dass der Reform die intensive Beratung im
Parlament und in der Fachöffentlichkeit sowie im Kreis
ausgewiesener Experten gut getan hat. Ich glaube, wir
können mit Fug und Recht behaupten, dass kaum ein
rechtspolitisches Reformvorhaben eine so umfassende Be-
ratung im Parlament und in der Öffentlichkeit erfahren hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dazu hat die sicherlich streitbare, aber immer offene Dia-
logbereitschaft des Justizministeriums entscheidend bei-
getragen.

Auch bei der immer heftig umstrittenen Frage der Ab-
grenzung von Kammer- und Senatszuständigkeit ge-
genüber einem verstärkten Einsatz von Einzelrichtern
wurde letztlich ein, wie ich meine, recht vernünftiges und
ausgewogenes Ergebnis erzielt. Schließlich wissen wir
aus der täglichen Praxis, dass auch bei komplizierten und
bedeutenden Verfahren die Akzeptanz einzelrichterlicher
Entscheidungen letztlich nicht hinter Kammer- und Se-
natsentscheidungen zurücksteht. Aus vielerlei Gründen,
wie zum Beispiel der Heranführung junger Richterinnen
und Richter an die gerichtliche Praxis und für höchst dif-
fizile und umfangreiche Prozessmaterien in erster und vor
allem in zweiter Instanz, benötigen wir jedoch auch in Zu-
kunft Kammern und Senate.

Gerade auch die Neuregelung des Revisionsrechtes
zeigt, dass wir bei der Zivilprozessrechtsreform Ernst ma-
chen mit unserem Anliegen, Rechtsmittel nicht nach der
jeweiligen Höhe des Streitwertes zur Verfügung zu stel-
len oder zu verweigern. In Zukunft ist die Revision gegen
alle Berufungsurteile unabhängig vom Streitwert dann
möglich, wenn sie durch das Berufungsgericht zugelassen
oder über eine Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundes-
gerichtshof erstritten wird, wenn auch erst nach einer
Übergangsregelung von fünf Jahren. Die in einem sozia-
len Rechtsstaat höchst ungerechte und willkürliche Streit-
wertgrenze von 60 000 DM wird endlich abgeschafft.

Insgesamt konnten die meisten der angestrebten Re-
formziele erreicht werden. In Zukunft wird es bei der Lö-
sung zivilrechtlicher Konflikte wieder stärker darauf an-
kommen, welche prozessualen Instrumente jeweils ge-
boten sind, um einen Rechtsstreit einer vernünftigen Lö-
sung zuzuführen, und weniger darauf, welcher Streitwert
dem Verfahren zugrunde liegt. Zwar wurde im Zuge der
parlamentarischen Beratung, wobei die Bundesländer
frühzeitig einbezogen wurden, letztlich eine Konzentra-
tion aller Berufungsverfahren bei den Oberlandesge-
richten noch nicht realisiert. Dies ändert aber nichts daran,

dass mit diesem Gesetz eine innere Reform des Zivilpro-
zesses in die Wege geleitet wird. Es schadet nicht, die
Konzentration der Berufungsverfahren bei den Ober-
landesgerichten zunächst einmal in der Praxis zu erproben
und aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen dann
die notwendigen und gebotenen Schlussfolgerungen zu
ziehen.

In Anbetracht der außerordentlich guten Erfahrungen,
die wir in unserem Gerichtswesen mit eindeutigen Zu-
weisungen von Funktionen an die jeweiligen Instanzen
gemacht haben, wäre es sicherlich sinnvoll gewesen, auch
diesen Schritt bereits jetzt zu vollziehen. Zur praktischen
Realisierung einer Reform des Zivilprozessrechtes ist
aber eine breite Akzeptanz erforderlich. Erst wenn diese
Akzeptanz gegeben ist, wird der damit beabsichtigte Er-
folg auch eintreten.

Zusammenfassend, meine Damen und Herren, kann
ich feststellen, dass mit dieser Reform die Justiz gut für
ihre zukünftigen Aufgaben gerüstet ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417013000
Jetzt hat das Wort der
Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1417013100
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ein großer Wurf sollte
es werden. Die alte Dame ZPO sollte nicht nur aufpoliert
werden,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damen poliert man nicht!)


sondern es sollte eine Runderneuerung erfolgen. Wie der
Kollege Siemann so treffend gesagt hat: Dieses Reform-
vorhaben ist als Tiger gestartet und als Bettvorleger ge-
landet. Die Luft ist raus. Aus der großen Reform, die eine
Jahrhundertreform werden sollte, ist ein Reförmchen ge-
worden.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ein Deförmchen!)


Die SPD und auch die Grünen wollten damit ja in die Ge-
schichte eingehen, zumindest in die Rechtsgeschichte.


(Zuruf von der SPD: Gehen wir auch!)

Mit dieser rechtspolitischen Ruine werden sie in die Ge-
schichte eingehen, aber nicht so, wie sie es geglaubt ha-
ben.

Insgesamt sind wir dankbar dafür, dass diese Reform
entsprechend zusammengestutzt worden ist. Wir haben
auf diese Weise, wie ich meine, unsere gut funktionie-
rende Justiz erhalten. Die jetzigen Regelungen werden
den Justizablauf zwar behindern, aber sie werden ihn
nicht maßgeblich stören können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Funke [F.D.P.] – Lachen bei der SPD)





Hermann Bachmaier

16631


(C)



(D)



(A)



(B)


Verehrte Frau Justizministerin, an Ihrer Stelle würde
ich hier eigentlich heute in Sack und Asche Buße tun,
denn Sie haben diese Reform nun wirklich in der Öffent-
lichkeit angepriesen. Lesen Sie doch einfach einmal, was
der „Spiegel“, den ich sonst gar nicht so gern zitiere, von
dieser Woche dazu schreibt. Dann werden Sie feststellen,
was der „Spiegel“ und ähnlich ausgerichtete Zeitschriften
von Ihrer Reform halten.


(Zuruf von der SPD: Sie lesen ihn immer nur, wenn es Ihnen gefällt!)


– Warum müssen Sie immer so meckern? Nur weil ich
Geis heiße? Lassen Sie es doch einmal bleiben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
uns in aller Ruhe diesen Scherbenhaufen, der nun übrig
geblieben ist, betrachten.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Ich habe schon immer vermutet, dass Sie das nicht richtig gelesen haben!)


Wie ist es zu diesem Scherbenhaufen gekommen? Ich
habe noch nie einen solch massiven Widerstand der Fach-
welt gegen ein Reformvorhaben der Regierung erlebt. Die
Anwälte sind regelrecht auf die Barrikaden gegangen;


(Hermann Bachmaier [SPD]: Aber auch wieder heruntergekommen!)


sie haben Anzeigen geschaltet und das Gespräch mit dem
Bundeskanzler gesucht. Die Richter waren nicht etwa
verschnupft. Nein, sie haben ganz erheblichen Widerstand
gegen diese Reform geleistet. 23 deutsche Oberlandes-
gerichtspräsidenten haben auf ihrer Konferenz im Som-
mer letzten Jahres zu dieser Reform ihr kategorisches
Nein erklärt und Widerstand angekündigt.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Recht haben sie gehabt!)


Diesem Widerstand konnten Sie nicht länger standhalten.
Es hätte einer Kamikazementalität bedurft, um diesen ge-
ballten Angriff der Fachwelt aushalten zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben aus diesem Grunde nachgegeben und nicht, wie
ich vermute, aus besserer Einsicht.

Das Ziel Ihrer Reform, die Dreistufigkeit unseres Ge-
richtsaufbaus – wenn auch in verschiedenen Schritten –
zu erreichen, haben Sie im Grunde nicht aufgegeben. Das
zeigt sich nach der Reform der Reform an Veränderungen
hinsichtlich der Berufungsinstanz, an der Experimentier-
klausel und an der zentralen Stellung des Einzelrichters.
Ich werde das nachher noch erläutern.

Auch wir hatten einen Entwurf vorgelegt.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist er denn jetzt?)

Er stammt aus der letzten Legislaturperiode. Wir haben
ihn seinerzeit mit den Ländern erörtert und entwickelt. Sie
haben daran mitgewirkt. Es war deshalb auch ganz lo-
gisch und richtig, dass die großen Parteien diesen Ent-
wurf, soweit es den ZPO-Anteil angeht, in der letzten
Legislaturperiode gemeinsam verabschiedet haben. Ich

möchte in Erinnerung rufen, dass es keinen Widerstand
gegen den ZPO-Teil gab.

Weil dieser Entwurf im Vermittlungsausschuss auf-
grund einer Klausel – über die man streiten kann, die ich
aber gar nicht für so verkehrt halte – gescheitert ist und
schließlich der Diskontinuität verfallen ist, war es logisch,
dass wir ihn neu einbringen. Wir hatten die Hoffnung,
dass wir auf ein neues Interesse stoßen. Aber Sie wollten
über diesen Entwurf nicht sprechen. Sie wollten vielmehr
groß herauskommen und Ihren eigenen Entwurf einbrin-
gen. Sie haben deshalb unseren Entwurf von vornherein
nicht behandeln wollen. Wir haben zugestimmt, zunächst
die Beratung Ihres Entwurfs abzuwarten, obwohl wir un-
seren Entwurf vorher eingebracht haben.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Sie wollten Ihren Entwurf gar nicht mehr wahrhaben! – Joachim Stünker [SPD]: Sie haben ihn verleugnet!)


Unser Entwurf wurde aber nicht zum Gegenstand der
Beratung. Ich gebe Ihnen zu, dass wir unseren Entwurf
nach dieser Diskussion heute nicht so verabschieden wür-
den, wie wir ihn eingebracht haben.


(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)

Frau Ministerin, im Übrigen haben wir hier noch nie ein
Gesetz so verabschiedet, wie es in das Parlament einge-
bracht wurde. Im Rechtsausschuss gab es schon viele
fruchtbare Diskussionen und es wurden dort schon immer
Änderungen vorgenommen. Es sei festgehalten, dass wir
gemeinsam schon viele gute Regelungen auf den Weg ge-
bracht haben. Es sei auch anerkannt, dass die entspre-
chende Diskussion, die wir mit Ihnen im Rechtsausschuss
geführt haben, fruchtbar – wir konnten das Schlimmste
verhindern; das wissen Sie – im Sinne einer vernünftigen
ZPO-Regelung war.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Was? Was haben Sie denn verhindert?)


– Es waren die Opposition und – wenn ich das einmal so
sagen darf – die außerparlamentarische Opposition, näm-
lich die Fachwelt, die einen so großen Widerstand geleis-
tet haben, weil sie mit Ihrem Entwurf nicht einverstanden
sein konnten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist völlig klar, dass auch unser Entwurf heute nicht

so zur Abstimmung gestellt worden wäre, wie wir ihn ein-
gebracht haben. Diese Erkenntnis haben wir aufgrund der
Diskussion in den letzten eineinhalb Jahren gewonnen.
Weil unser Entwurf nicht Gegenstand der parlamentari-
schen Erörterung geworden ist – Sie haben sich nicht da-
rauf eingelassen –, war es logisch und richtig, ihn am
Ende zurückzuziehen.

Woran entzündete sich der Widerstand? Die Fachwelt
hat insgesamt erkannt, dass unsere Rechtsordnung einen
sehr schweren Schaden nehmen würde, wenn Ihre Reform
unverändert und ungestutzt in das Gesetzblatt aufge-
nommen werden würde. Deswegen hat die Fachwelt so-
fort heftigsten Widerstand geleistet. Der Widerstand und
die Diskussion entzündeten sich zunächst einmal an den
Regelungen bezüglich des Berufungsverfahrens. Sie hat-
ten diesbezüglich ganz andere Vorstellungen. Sie wollten




Norbert Geis
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(C)



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(A)



(B)


aus der Berufungsinstanz eine reine Rechtskontrollin-
stanz machen. Durch die Diskussion sind Sie eines Bes-
seren belehrt worden. Ihren Vorstellungen wurde sozu-
sagen die Spitze genommen.


(Zuruf der Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin)


– Frau Präsidentin, vielleicht könnten Sie einmal die Frau
Ministerin bitten, damit aufzuhören, Witze zu machen.


(Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin: Sie sind so komisch, Herr Geis, da muss man lachen!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417013200
Ich möchte die Frau
Justizministerin bitten, keine Zurufe von der Regierungs-
bank zu machen, um die Würde des Parlaments zu wah-
ren.


(Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin: Aber lachen darf ich?)


– Aber nicht zu laut, Frau Ministerin, das stört den Red-
ner.

Herr Kollege, Sie haben das Wort.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1417013300
Frau Ministerin, solange
Sie über Ihr eigenes Versagen lachen, soll es mir recht
sein.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine schöne Büttenrede, Herr Geis! – Hermann Bachmaier [SPD]: Humor hat schon immer Berge versetzt!)


Wir haben mit Recht angenommen, es sei wichtig, dass
die rechtsuchende, in einem Prozess unterliegende Partei
die Chance haben muss, mit ihrem Sachvortrag voll und
ganz in die nächste Instanz zu gehen. Bei der Berufung
geht es nicht um Rechtskontrolle – in einer Rechtsstrei-
tigkeit ziviler Natur macht die Rechtskontrolle 10 Prozent
aus –, sondern um den Sachverhalt und bei der Feststel-
lung des Sachverhalts werden die Fehler gemacht.


(Joachim Stünker [SPD]: Das ist bei jedem Rechtsstreit so!)


Deshalb ist es wichtig, dass man in zweiter Instanz die
Möglichkeit hat, den Sachverhalt erneut und ohne Ein-
schränkung überprüfen zu lassen. Diejenigen Einschrän-
kungen, die wir in den Jahren 1990 und 1993 vorgenom-
men haben, gingen vielen von uns – ich erinnere an die
Haltung der F.D.P. – aus den von mir genannten Gründen
eindeutig zu weit.

Unsere Lehre sollte sein: Es ist gefährlich, an der
falschen Schraube zu drehen. Es ist wichtig und notwen-
dig, dass der Rechtsuchende, der in der ersten Instanz un-
terlegen ist, seinen Sachverhalt voll und ganz in die zweite
Instanz einbringen kann. Wir nehmen die von uns selbst
1990 und 1993 eingeführten Beschränkungen hin; aber
damit ist es auch gut. Die Beschränkungen dürfen nicht
weiter gehen. Sie aber verschärfen die Beschränkungen
heute.


(Joachim Stünker [SPD]: Wo denn?)


Deswegen lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. Wir sind
der Meinung, dass dem Bedürfnis der Bürgerinnen und
Bürger auch nach der Reform dieser Reform immer noch
nicht genügend Rechnung getragen wird.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Reden Sie jetzt von Ihrem Entwurf, Herr Geis, oder wovon? – Joachim Stünker [SPD]: Wo denn?)


– Herr Stünker, stänkern Sie nicht immer so viel und las-
sen Sie mich ausreden! – Wir lehnen diese Reform daher
auch in diesem Teil ab.

Der Versuch, für die Zuständigkeit aller Berufungen
das Oberlandesgericht zu bestimmen, hat eine heftige
Diskussion hervorgerufen. Unserer Auffassung nach kann
man bei einem Streitwert von 1 200 DM – bekanntlich ist
jetzt ab diesem Streitwert die Berufung möglich – einer
rechtsuchenden Person, die in erster Instanz unterlegen
ist, nicht zumuten, vor einem weit entfernten Oberlandes-
gericht zu klagen, damit die dortige Berufungsinstanz
seine Sache überprüft.


(Joachim Stünker [SPD]: Das machen wir ja gar nicht!)


Das ist eingesehen worden. Wir haben hier immer wieder
getrommelt und Sie haben sich unseren Argumenten letzt-
endlich angeschlossen und Ihr Vorhaben zurückgezogen.

Allerdings sind Sie bei der Experimentierklausel ge-
blieben. Damit unternehmen Sie den Versuch, die von Ih-
nen gewünschte Dreistufigkeit doch noch durchzusetzen.
Sie warten ab, ob der so heftige Widerstand mithilfe der Ex-
perimentierklausel nicht doch eines Tages gebrochen wer-
den kann. Das wollen wir nicht akzeptieren. Wir wollen die
Dreistufigkeit nicht. Uns passt die ganze Richtung nicht.

Die Dreistufigkeit gab es schon einmal, und zwar
während der Kriegszeit. Die Dreistufigkeit wurde durch
das Rechtseinheitsgesetz von 1950 abgeschafft. Damals
wurde erklärt: Wir schaffen die Dreistufigkeit ab, weil wir
meinen, dass es besser ist, wenn der Bürger vom Amtsge-
richt zum Landgericht geht und dort seine Berufungssa-
che vortragen kann. In der DDR wurde bis zur Wieder-
vereinigung die Dreistufigkeit beibehalten. Wir brauchen
die Fehler der Kriegszeit – kriegsbedingt war die Dreistu-
figkeit vielleicht notwendig; das will ich nicht beurtei-
len –, die man in der DDR, blind wie man war, fortgesetzt
hat, nicht zu wiederholen.

Ich bitte Sie sehr herzlich: Lassen Sie die Dreistufig-
keit weg und bleiben Sie bei unserem System, das – ich
gebe es zu – aus dem Jahre 1877 stammt. In diesem Jahr
ist das GVG entstanden und es hat sich bewährt. Auch aus
diesem Grund wehren wir uns gegen die Experimentier-
klausel. Außerdem meinen wir, dass mit dieser Klausel
eine gewisse Unübersichtlichkeit entsteht. Es könnte sehr
leicht der Fall eintreten, dass man in dem einen Land vor
dem Oberlandesgericht klagen muss, um seine Berufung
vorzutragen, während man in einem anderen Land vor ei-
nem Landgericht klagen muss. Das alles bedeutet Rechts-
uneinheitlichkeit. Wir fallen zurück in die Zustände des
18. Jahrhunderts, als wir das alles schon einmal hatten.


(Dirk Manzewski [SPD]: Das ist doch der Sinn einer Experimentierklausel!)





Norbert Geis

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(A)



(B)


Das wollen wir nicht. Wir lehnen aus all diesen Gründen
diese Experimentierklausel ab.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Letzter Punkt. Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren, Sie billigen dem Einzelrichter eine zu große Bedeu-
tung zu. Sie geben ihm einen zu großen Wirkungskreis
und schaffen auf diese Weise praktisch die Kammer am
Landgericht ab.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Reden Sie jetzt wieder von Ihrem Entwurf?)


– Lesen Sie Ihren eigenen Entwurf durch. – Die Kammer
wird praktisch zur Bedeutungslosigkeit degradiert. Unser
Entwurf sah das nicht vor. Wir hatten die Kammer immer
noch beibehalten. Aber ich gebe zu, Herr Stünker, dass die
Stellung des Einzelrichters auch in unserem Entwurf aus
heutiger Sicht und nach diesem Diskussionsprozess uns
zu weit geht. Das haben wir alle in der letzten Legislatur-
periode noch für richtig gehalten. Sie nicht, Herr Stünker,
weil Sie noch nicht Mitglied dieses Hauses waren. Ich bin
der Meinung, dass wir damals bei der Bedeutung, die wir
dem Einzelrichter eingeräumt haben, zu weit gegangen
sind. Wir hätten heute diesen Vorschlag in unserem eige-
nen Entwurf so nicht verabschiedet, wenn es denn über-
haupt zur Diskussion darüber gekommen wäre. Das ist
ganz sicher.


(Joachim Stünker [SPD]: Der Rechtsausschuss hat das abgelehnt! )


Es gibt erhebliche Bedenken gegen die Abschaffung
des Kammersystems. Warum wollen Sie dieses Kam-
mersystem abschaffen?


(Hermann Bachmaier [SPD]: Das haben wir doch gar nicht abgeschafft! Das stimmt doch nicht!)


– Sie haben es praktisch abgeschafft. Lesen Sie Ihren Ent-
wurf einmal richtig durch! Das sage nicht nur ich, das sa-
gen auch die Fachkreise.

Wir hatten das Ganze schon einmal. Ich wiederhole: In
der Kriegszeit wurde das Kammersystem abgeschafft,
1950 wurde es durch das Rechtseinheitsgesetz wieder ein-
geführt. Man hat es damals aus zwei Überlegungen wie-
der eingeführt: einmal, weil man meinte, auf diese Weise
junge Richter besser auf ihre Tätigkeit vorbereiten zu
können – das haben Sie mit berücksichtigt –; aber zum
Zweiten auch, weil die Kammer für die Rechtsfindung
besser geeignet ist. Sechs Augen sehen vielleicht mehr als
zwei Augen.

Wir reden heute überall von Teamarbeit. In der ganzen
Welt wird Teamarbeit groß geschrieben, nur nicht bei der
Justiz. Das ist eigentlich nicht einzusehen. Deswegen sind
wir gegen die Abschaffung der Kammer und gegen die be-
sonders herausgehobene Position des Einzelrichters.
Auch insoweit lehnen wir den Entwurf ab.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das waren
die drei wichtigsten Gründe, die uns dazu führen, auch die
Reform der Reform abzulehnen. Aber wir haben noch an-
dere Punkte, mit denen wir uns nicht einverstanden erklä-
ren können. Das Güteverfahren ist für uns zu formalisiert.

Die Pflicht zur Aktenkundigmachung gerichtlicher Hin-
weise halte ich für zu formalistisch.


(Dirk Manzewski [SPD]: Das ist gängige Praxis heute!)


– Darüber haben wir lang und breit diskutiert.
Die Gehörsrügewird nicht helfen, das Verfassungsge-

richt zu entlasten. Ich habe auch größte Bedenken gegen
die Pflicht Dritter, Schriftstücke und Urkunden vorzule-
gen. Damit ziehen wir Dritte in einen Rechtsstreit hinein.
Das sollten wir nicht tun. Auf zivilrechtlicher Ebene ha-
ben Dritte in einem Rechtsstreit, der zwischen zwei Par-
teien geführt wird, nichts verloren und sie sollten deswe-
gen auch nicht in den Streit hineingezogen werden.

Das Revisionsverfahren, das nur noch der Rechtsver-
einheitlichung und der Rechtsfortbildung dienen soll,
können wir nicht unterstützen. Man kann sich darüber un-
terhalten, ob man die Streitwertbindung bei der Revision
beibehalten soll. Da gibt es viele Möglichkeiten. Aber das
Revisionsverfahren, das nur noch der Rechtsvereinheitli-
chung und nur noch der Rechtsfortbildung dienen soll
– und das auf Kosten der streitenden Parteien –


(Joachim Stünker [SPD]: Aber Herr Geis!)

und in dem die Einzelfallgerechtigkeit verloren geht, hal-
ten wir für falsch. Deshalb lehnen wir auch diesen Punkt
der Reform ab.

Wir sind der Meinung, dass Ihr Gesetzentwurf zu einer
Rechtsruine geworden ist, die wir der Bevölkerung so
nicht zumuten können. Ich möchte Sie bitten – obwohl ich
weiß, dass ich diese Bitte vergebens ausspreche –: Neh-
men Sie Ihren Entwurf zurück! Sie täten damit der deut-
schen Rechtsöffentlichkeit und der deutschen Rechtskul-
tur einen Gefallen. Aber Sie werden es nicht tun. Wir
werden diesen Entwurf ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417013400
Das Wort hat nun der
Kollege Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417013500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war nun
wirklich ein zirkusreifer Eiertanz, den Sie hier gerade vor-
geführt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Der Rechtsgelehrte Beck!)


Da haben Sie letzte Woche einem Gesetzentwurf Ihrer
Fraktion zugestimmt, von dem Sie im Laufe der Woche
gemerkt haben, dass er so schlimm ist, dass Sie ihn wie-
der zurückziehen müssen und ihn nicht mehr zur Abstim-
mung stellen wollen. Immerhin, Sie haben etwas dazuge-
lernt. Aber, Herr Geis, das war nun wirklich keine
konsequente rechtspolitische Position.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Reden Sie über Ihren Entwurf, da haben Sie genug zu reden! Aber da weigern Sie sich ja!)





Norbert Geis
16634


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich finde es schon sehr beachtlich, wie die Diskussion
in Ihrer Fraktion verlaufen sein muss.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Da brauchen Sie keine Angst zu haben!)


Sie haben offensichtlich ein ziemlich schlechtes Gewis-
sen, dass Sie die Koalition in Punkten angegriffen haben,
die in Ihrem Gesetzentwurf in einer rechtsstaatlich
äußerst problematischen Art und Weise stehen und bei de-
nen die Koalition ausgewogene und vertretbare Lösungen
gefunden hat.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben unseren Entwurf nie gelesen, Herr Beck! Und wenn Sie ihn gelesen haben, haben Sie ihn nicht verstanden!)


– Ich habe ihn gelesen und manches – ich komme nach-
her noch auf einen Punkt zu sprechen – finde ich wirklich
erschreckend.

Mehr Bürgernähe, mehr Transparenz, mehr Effizienz –
das ist die Überschrift über die Zivilprozessreform, die wir
heute verabschieden. Diese Reform schafft den Spagat
zwischen mehr Rechtsstaatlichkeit für die Rechtsuchen-
den und zügiger Erledigung von Rechtsstreitigkeiten.
Wenn es unter Schwarz-Gelb um die Zivilprozessordnung
ging, so wurden ausschließlich reine Beschleunigungs-
maßnahmen beschlossen. Die so genannten Rechtspflege-
entlastungsgesetze gingen regelmäßig zulasten der Recht-
suchenden. Sie waren Rechtsmittelverhinderungsgesetze.
Gedreht wurde an der Streitwertschraube, falsche Urteile
erwuchsen in Rechtskraft. Zur Not konnte allenfalls das
Bundesverfassungsgericht korrigierend eingreifen. Wir
alle wissen, wie hocherfreut Karlsruhe über diese Aufga-
benzuweisung war.

Die Koalition kehrt mit dieser Reform den Trend der
vergangenen Jahre um, obwohl auch Rot-Grün diesmal an
der Streitwertschraube gedreht hat, allerdings in die andere
Richtung. Wir haben die Berufungssumme auf 1 200 DM
gesenkt und wir haben mit einer Zulassungsberufung
selbst für wertmäßig darunter liegende Streitfälle ein
Rechtsmittel geschaffen. Mit der Abhilfeentscheidung bei
Verletzung des rechtlichen Gehörs entlasten wir das Bun-
desverfassungsgericht und wir schaffen vor allem die
Möglichkeit, eklatant fehlerhafte Urteile zügig zu korri-
gieren. Das ist auch ganz wichtig für den kleinen Mann als
Rechtsuchenden vor Gericht.

Der Stuttgarter Professor Udo Kornblum hat im „Deut-
schen Anwaltsblatt“ vom November 2000 im emotionslo-
sen Juristendeutsch gesagt, wie man diese Maßnahmen
interpretiert. Sie seien „eine nicht unbeträchtliche Verbes-
serung des gegenwärtigen Rechtszustands“. Recht hat er!


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Lesen Sie doch einmal vor, was ein Gegner gesagt hat!)


Nicht der Wert eines Rechtsstreites soll künftig darüber
entscheiden, ob ein Urteil anfechtbar ist. Diese Philoso-
phie zieht sich durch die gesamte Reform. Im Revisions-
recht haben wir auf die willkürliche Rechtsmittelwert-
schranke von 60 000 DM ganz verzichtet. Ohne dass – das
betone ich – die Einzelfallgerechtigkeit auf der Strecke
bleibt, wird sich der BGH künftig wieder auf seine urei-

gensten Aufgaben konzentrieren: die Überprüfung von
Grundsatzfragen sowie die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung.

Es war schon unglaublich, mit welchen teils recht wi-
dersprüchlichen Argumenten der Reformkritiker sich die
Koalition im Gesetzgebungsverfahren auseinander setzen
musste. Mal hieß es, wir würden die Rechtsmittel der Bür-
ger im Hinblick auf zu viel Effizienz beschneiden, mal
hielt man uns vor, die Reform gehe nicht weit genug, ei-
gentlich würde alles beim Alten bleiben.
Die Wahrheit liegt in der Mitte. Diese Reform ist eine ge-
lungene Mischung richtiger Maßnahmen, mit denen die
Interessen aller am Zivilprozess Beteiligten hinreichend
berücksichtigt werden.

Mit der Experimentierklausel bleibt die Perspektive
der Dreistufigkeit im Instanzenzug gewahrt. Sicher, mir
wäre es lieber gewesen, wenn wir die Berufungsinstanz
sofort einheitlich bei den Oberlandesgerichten installiert
hätten. Herr Geis hat heute in seiner Rede eigentlich nicht
einen einzigen Grund angegeben, warum dies falsch
wäre; er hat nur wortreich erklärt, dass er dagegen ist. Ich
hoffe daher, dass sich möglichst viele Bundesländer an
dem wissenschaftlich begleiteten Experiment beteiligen
werden. Wir haben eine flexible Regelung geschaffen. Ich
bin mir sicher, dass es 2007 nur vernünftig sein wird, das
GVG entsprechend zu ändern.

Aber, Herr Geis, vielleicht könnten Sie hier Ihren Ein-
fluss in den unionsgeführten Ländern noch einmal geltend
machen. Möglicherweise überlegen Sie sich noch einmal,
wenn das Gesetz beschlossen ist, ob es nicht einen Ver-
such wert wäre, dass es in A- und B-Ländern zu entspre-
chenden Versuchen kommt.


(Beifall der Abg. Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wer aber, wie die Union, in allen Bereichen der Justiz-
politik getreu dem Adenauer-Motto „Keine Experimente“
verfährt, der sollte hier mit seiner Kritik lieber zurückhal-
tender sein.

Meine Damen und Herren, profitieren werden von der
Reform in erster Linie die Rechtsuchenden in diesem
Land. Die Lobby für diese Gruppe ist ja im Gesetzge-
bungsverfahren oft zu kurz gekommen.

Manche Organisationen haben vorgegeben, die Inte-
ressen der Bürgerinnen und Bürger zu vertreten. Ich erin-
nere nur an den großen Automobilklub, der in seinen Stel-
lungnahmen um die Rechtsstellung der Autofahrer als
Geschädigte von Verkehrsunfällen fürchtete. Ich glaube,
wir Grüne sollten bei künftigen rechtspolitischen Vorha-
ben wieder vermehrt die zahlreichen Fahrradorganisa-
tionen in diesem Lande um ihren kompetenten rechtspo-
litischen Rat fragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Berufsverbände waren bei dieser Reform oft hin
und her gerissen. Manche Interessenvertreter mussten
nach außen gelegentlich etwas anderes verkünden, als sie
zuvor noch in persönlichen Gesprächen gegenüber der




Volker Beck (Köln)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Koalition geäußert hatten. Breit angelegte Anzeigen-
kampagnen einer Organisation waren sicher Wasser auf
die Mühlen der Opposition. Aber, Herr Kollege Funke, so
wie Sie im Berichterstattergespräch den Präsidenten des
Deutschen Anwaltvereins, Herrn Rechtsanwalt Dr. Streck,
angegangen sind, nur weil er nicht nach der Pfeife der
F.D.P. tanzen wollte, war schon ziemlich unglaublich.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Da finde ich aber vieles unglaublicher, was Sie gemacht haben!)


Es soll kein Missverständnis entstehen: Diese Justizre-
form sendet nicht das Signal aus: Prozessieren lohnt sich
wieder. In Deutschland wird nämlich zu viel prozessiert.
Mit der Reform derRechtsmittel wollen wir die Parteien
nicht ins Rechtsmittel drängen. Im Gegenteil: Mit der
Stärkung der ersten Instanz bei Amts- und Landgerichten
durch Akzentuierung der richterlichen Hinweis- und Auf-
klärungspflichten, aber auch durch Beibringungspflichten
der Parteien wird sich die Akzeptanz von Gerichtsent-
scheidungen erhöhen, gerade die der ersten Instanz, übri-
gens auch bei den Rechtsuchenden, die nicht anwaltlich
vertreten sind. Das hat die AgV, die Arbeitsgemeinschaft
der Verbraucherverbände, in ihrer Stellungnahme aus-
drücklich gewürdigt.

Wir wollen, dass die Parteien möglichst auch dann ei-
nen Richterspruch akzeptieren, wenn sie den Prozess ver-
lieren. Wenn eine Partei künftig zügiger zu einem berech-
tigten Titel kommen wird, weil zum Beispiel eine
komplette Beweisaufnahme, deren Ergebnis bereits vor-
her feststeht, nicht wiederholt werden muss, dann bedeu-
tet auch dies keine Erosion des Rechtsstaates, sondern
Qualitätsverbesserung.

Am liebsten wäre es uns, wenn die Parteien von zeit-
raubenden und kostspieligen Rechtsstreitigkeiten über-
haupt verschont blieben. Deshalb ist die Einführung einer
obligatorischen und trotzdem flexiblen Güteverhand-
lung auch im Zivilprozess ein echter Fortschritt. Nach-
dem 1999 bereits die außergerichtliche Streitbeilegung in
Kraft getreten ist, stärkt die Koalition den Gütegedanken
jetzt auch im Gerichtsverfahren selbst.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Modernisierung des Zivilprozesses ist keine bloße
Worthülse. Wie modern wir den Zivilprozess machen,
zeigt beispielsweise die neu geschaffene Möglichkeit der
Videokonferenz im Prozess. Zeugen müssen nicht mehr
Hunderte Kilometer zurücklegen, um zwei Minuten ver-
nommen zu werden. Mit einer solchen Regelung mini-
mieren wir letztlich die Kosten eines Prozesses, die ja am
Ende von den Rechtsuchenden zu tragen sind.

Noch zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens warf
uns die Opposition vor, alles gehe hopplahopp und sie sei
bei den Beratungen nicht hinreichend einbezogen wor-
den. Wie sich in einer der letzten Rechtsausschusssitzun-
gen herausgestellt hat, ist diese Kritik jetzt wohl vom
Tisch. Herr Geis, Sie haben uns sogar ausdrücklich für die
kommunikative Offenheit gelobt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Heute wieder!)


Für dieses Lob bedanken wir uns. Aber, Herr Geis, es
wäre jetzt nur konsequent, wenn Sie und Ihre Kolleginnen
und Kollegen diesem Gesetz heute zustimmen würden,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wenn Sie es zurücknehmen würden!)


zumal, wie Sie selbst am besten wissen, der Entwurf Ihrer
Fraktion, der heute Morgen ja noch vorhanden war, dem,
was wir heute beschließen, sogar ähnelt, nur mit einem
kardinalen Unterschied: Die Reform der rot-grünen Koa-
lition ist rechtsstaatlich ausgereifter. Wenn ich mir in
Ihrem Entwurf beispielsweise die Verwerfungskompe-
tenz des Berufungsgerichtes bei offensichtlicher Unbe-
gründetheit anschaue, dann wird mir wirklich angst und
bange.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben in der letzten Legislaturperiode noch zugestimmt!)


Von der Wahrung des rechtlichen Gehörs kann da nun
überhaupt keine Rede mehr sein.

Auf einen solchen Abbau der Justizgrundrechte der
Bürgerinnen und Bürger hat sich die Koalition bei dieser
Justizreform zu Recht nicht eingelassen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Vor drei Jahren haben Sie noch anders geredet!)


Wir haben eine vernünftige Reform vorgelegt. Nach ein
paar Jahren Praxis werden Sie dies wahrscheinlich selbst
hier an diesem Pult bestätigen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417013600
Ich erteile dem Kolle-
gen Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion das Wort.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1417013700
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Die Bundesjustizministerin war ja mit
dem hohen Anspruch einer allumfassenden Justizreform
gestartet. Aus dieser Justizreform ist nun nichts gewor-
den. Gerade einmal eine Novelle zur Zivilprozessordnung
ist es geworden. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, wenn
auch das Ergebnis nach wie vor abzulehnen ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zu Recht haben praktisch alle am Wirtschaftsleben
und am Justizwesen Beteiligten die ursprünglichen Vor-
schläge der Bundesjustizministerin abgelehnt. Dies gilt
insbesondere für die angestrebte Dreistufigkeit unseres
Gerichtswesens. Herr Kollege Beck, wenn Sie nicht tele-
fonieren würden, würde ich Sie darauf aufmerksam ma-
chen, dass auch das jetzige Ergebnis von der Bundes-
rechtsanwaltskammer, in der alle Anwälte vertreten
sind, abgelehnt wird. In der Tat habe ich in dem Bericht-
erstattergespräch, das wir mit dem Präsidenten des An-
waltvereins geführt haben – das ist auch mein Präsident;
ich bin ja Mitglied des DAV–, gefragt – ich habe ihn nicht
angegriffen –, wie er denn nun zu dieser Justiznovelle
steht. Da hat er nicht sagen können: „Ich bin dafür“ oder:




Volker Beck (Köln)

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(D)



(A)



(B)


„Ich bin dagegen“. Es gab vielmehr ein entschiedenes So-
wohl-als-auch.


(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Der ist Jurist, Herr Funke!)


– Herr Urbaniak, ich weiß, dass Sie Juristen sonst sehr
schätzen. Wir haben ja schon viele schöne Dinge gemein-
sam umgesetzt. – Dieses Sowohl-als-auch vom Präsiden-
ten des Anwaltvereins fand ich in der Tat nicht gerade ziel-
führend.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Mager!)

Diese Ablehnung durch die Beteiligten erfolgte meines

Erachtens auch deshalb zu Recht, weil das Bundesjustiz-
ministerium den Reformbedarf im Zivilprozess nicht hat
darlegen können. Wer eine Reform will, trägt sozusagen
die Beweislast dafür, dass tatsächlich auch ein Reformbe-
darf vorhanden ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die deutsche Ziviljustiz funktioniert im Vergleich zu
der in anderen europäischen Ländern im Großen und
Ganzen gut. Der Bürger erhält innerhalb einer angemes-
senen Zeit ein Urteil. Natürlich kann man sich überall
Verbesserungen wünschen und umsetzen. Vieles Wün-
schenswerte, beispielsweise die Ausstattung der Gerichte
mit technischen Hilfsmitteln, liegt aber in der Länder-
kompetenz.

Jede Novellierung der Zivilprozessordnung hat sich
meines Erachtens an zwei Grundfragen zu orientieren:
Erstens. Der Rechtsschutz des Bürgers muss verbessert
und darf nicht verkürzt werden. Zweitens. Die Belastung
der Justiz darf zumindest nicht verschärft werden. Beide
Voraussetzungen erfüllt die Novelle nicht,


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

wenn auch nicht zu verkennen ist, dass einzelne Verbes-
serungen in der ZPO, wie zum Beispiel die Videover-
nehmung von Zeugen, durchaus sinnvoll sind.

Der Bürger hat ein Interesse daran, dass sein Prozess
schnell und zügig abgewickelt wird und er rasch ein Ur-
teil erhält, das er auch schnell vollstrecken lassen kann.
Auch ist es im Interesse des Rechtsfriedens, dass der Bür-
ger in möglichst kurzer Zeit weiß, wie das Gericht ent-
scheidet. Ich sage Ihnen voraus - auch Sie als Anwalt,
Herr Kollege Bachmaier, der zu den Gerichten zu gehen
hat, werden das alsbald feststellen –, dass dieses Ziel nicht
erreicht wird, sondern dass sich im Gegenteil gerade die
erstinstanzlichen Fälle länger hinziehen werden.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Ich sehe das etwas anders!)


Die Verhandlungen in erster Instanz müssen von den
Parteien gründlicher vorbereitet werden – auch von Ihnen,
Herr Bachmaier –,


(Hermann Bachmaier [SPD]: Das ist nicht mehr steigerbar!)


im Übrigen auch in den Fällen, in denen Sach- und
Rechtslage weitestgehend unstreitig sind. Vor allem die

mündliche Verhandlung muss von den Richtern intensi-
ver als bisher vorbereitet werden


(Zuruf von der SPD: Überhaupt nicht!)

und in den mündlichen Verhandlungen muss mit den Par-
teien intensiver und länger beraten werden.


(Joachim Stünker [SPD]: Wann waren Sie zuletzt im Gerichtssaal, Herr Funke?)


Dabei werden Vermerke über die im Rahmen der Auf-
klärungspflicht nach § 139 ZPO gemachten Hinweise ab-
gefasst und die Frage einer vergleichsweisen Streitbei-
legung angesprochen werden müssen.


(Zuruf von der SPD: Das kann man doch erwarten, und zwar auch heute schon! Das wird auch heute schon so gemacht!)


Dies muss auch noch protokolliert werden. All diese For-
malisierungen der mündlichen Verhandlung führen auto-
matisch zu stärkeren Belastungen der Gerichte.

Bereits nach der geltenden Fassung der §§ 139 – ich
komme genau zu dem, was Sie sagen wollen – und
278 ZPO hat der Richter Hinweispflichten. Jeder verstän-
dige Richter hat diese in der Vergangenheit auch wahrge-
nommen.


(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Dies gilt auch hinsichtlich der gütlichen Streitbeilegung
nach § 278 ZPO in der jetzigen Fassung. Jeder verstän-
dige Richter hat schon im Interesse des Rechtsfriedens in
jedem Stadium des Verfahrens auf einen Vergleich hinge-
wirkt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu brauche ich aber die Formalisierung nicht.
Ursprünglich war im Regierungsentwurf vorgesehen,

dass die im ersten Rechtszug festgestellten Tatsachen in
der zweiten Instanz praktisch nicht mehr hätten überprüft
werden können. Nachdem aber sowohl der Richterbund
als auch die Anwaltsverbände hiergegen Sturm gelaufen
waren, ist § 529 ZPO überarbeitet worden. Trotzdem er-
scheint uns die gefundene Formulierung nicht ausrei-
chend, denn sie führt zu erheblichen Einschränkungen
hinsichtlich eines neuen Sachvortrags in der zweiten In-
stanz. Damit ist der Individualrechtsschutz des Bürgers
eingeschränkt; aber auf den kommt es meines Erachtens
an.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU])


Wir haben jetzt abzuwarten, wie die Gerichte
§ 529 ZPO auslegen. Das bedeutet zunächst einmal
Rechtsunsicherheit und gerade die wollten wir eigentlich
vermeiden.


(Walter Hirche [F.D.P.]: So ist es! – Joachim Stünker [SPD]: Der BGH wird es richten!)


– Ja, aber bis der Rechtsstreit zum BGH kommt, Herr Kol-
lege, dauert es einige Zeit. In dieser Zeit besteht eine




Rainer Funke

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(D)



(A)



(B)


gewisse Rechtsunsicherheit. Das können Sie doch nicht
bestreiten.


(Joachim Stünker [SPD]: Damit leben Sie seit 100 Jahren! – Walter Hirche [F.D.P.]: Und jetzt wollen Sie eine Verschlechterung!)


In den Beratungen des Rechtsausschusses und in den
Berichterstattergesprächen haben wir hinsichtlich der Re-
vision angeregt, dass ähnlich wie in der Finanzgerichts-
ordnung die Revision bei schwerwiegender Verletzung
von Verfahrensgrundsätzen zulässig sein sollte. Dies ist
von den Koalitionsfraktionen abgelehnt worden, obwohl
eine Angleichung der Prozessordnungen durchaus zweck-
mäßig wäre. Auch dies führt zu einer Verkürzung des
Rechtsschutzes des Bürgers. Demgemäß wird die Nicht-
aufnahme dieses Revisionsgrundes von uns abgelehnt.

Zur Verkürzung des Rechtsschutzes trägt auch bei, dass
in der Berufungsinstanz – sowohl beim Landgericht als
auch beim Oberlandesgericht – weitgehend Einzelrichter
tätig werden und vom Kammer- bzw. Senatsprinzip abge-
wichen wird.

Die F.D.P. spricht sich nach wie vor gegen eine Kon-
zentration der Berufungsverfahren bei den Oberlandesge-
richten aus. Dieser Einstieg in die Dreistufigkeit, der jetzt
durch die Experimentierklausel ermöglicht wird, führt in
der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Instan-
zenzuges zu einem Flickenteppich. Es kann eigentlich
nicht richtig sein, wenn ein Hamburger Bürger einen an-
deren Instanzenzug hat als sein niedersächsischer Nach-
bar. Das kann für die Rechtsordnung nicht gut sein und
führt zu anachronistischen Verhältnissen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Hermann Bachmaier [SPD]: Die paar Jahre werden Sie das verkraften!)


Die §§ 142 und 144 ZPO sind von Herrn Geis schon
angesprochen worden. Diese Vorschriften führen eine
Pflicht zur Vorlage von Urkunden gegen den Willen einer
Partei und eines nicht am Prozess beteiligten Dritten ein.
Das entspricht dem angloamerikanischen Discovery-Sys-
tem, das unserer zivilprozessualen Inter-partes-Lösung
zuwiderläuft. Berechtigte Geschäftsgeheimnisse der Par-
teien und vor allem auch des unbeteiligten Dritten bleiben
völlig ungeschützt. Die Amerikaner haben eine Reihe von
Vorschriften, durch die Geschäftsgeheimnisse geschützt
werden können. Wir sind hier aber der reinen Lehre ge-
folgt und haben keine entsprechenden Schutzvorschriften
in § 142 ZPO aufgenommen.

Die vorliegenden Vorschriften führen zu einer erheb-
lichen Belastung für die Justiz. Zudem wird sich jeder fin-
dige Anwalt zum Beweis seiner Behauptung zunächst ein-
mal auf Schriftstücke beziehen, die sich im Besitz Dritter
befinden, was die Prozesse unnötig verlängern wird und
zu unnötigem Streit führt. Das mindert den Rechtsschutz
des Bürgers und erhöht die Kosten des Verfahrens insbe-
sondere in der ersten Instanz. Auch die Zahl der Beru-
fungs- und Revisionsverfahren wird nicht etwa, wie be-
absichtigt, geringer, sondern größer. Damit wird die von
den Ländern einmal angestrebte Kostenneutralität nicht
gegeben sein.

Die Länderfinanzminister haben jedoch bereits an-
gekündigt, nicht mehr Richterstellen zu bewilligen, so-
dass viele Richter befürchten, dass sie noch mehr Arbeit
bekommen werden, obwohl sie schon am äußersten Rand
ihrer Kapazitäten angelangt sind.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Walter Hirche [F.D.P.]: Auch das geht zulasten der Rechtsuchenden!)


Diese für die Richter zusätzliche Belastung scheint die
Koalitionsfraktionen nicht zu interessieren. Eine Überlas-
tung der Richter aber führt zu schlechten Urteilen.


(Joachim Stünker [SPD]: So ist es heute, Herr Funke!)


Durch Justizunfälle wiederum ist der Rechtsfrieden, der ge-
rade in der Demokratie eine große Rolle spielt, gefährdet.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417013800
Nun hat die Kollegin
Dr. Evelyn Kenzler das Wort für die PDS-Fraktion.


Dr. Evelyn Kenzler (PDS):
Rede ID: ID1417013900
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen heute am Ende
einer langen, intensiven und zum Teil durch heftige Aus-
einandersetzungen geprägten Diskussion zum vorliegen-
den Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozes-
ses.

Im Unterschied zu meinen Kolleginnen und Kollegen
von der Unionsfraktion, der F.D.P. und des Deutschen An-
waltvereins sehe ich durchaus erheblichen Reformbedarf
in der Justiz angesichts deutlich unterschiedlicher Ar-
beitspensen der Richter an den Amts-, Land- und Ober-
landesgerichten,


(Joachim Stünker [SPD]: Bravo!)

eines überholten vierstufigen Gerichtsaufbaus und einer
notwendig gewordenen bürgerfreundlicheren, transparen-
teren und effektiveren Justiz.

Dass wir der vorliegenden Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses dennoch nicht zustimmen können – al-
lerdings ohne Triumphgefühl und überzogene Polemik –,
ist nicht so sehr auf eine Reihe von durchaus begrüßens-,
zumindest jedoch bedenkens- oder erprobenswerten Ein-
zelvorschlägen zur Stärkung der Eingangsinstanz zurück-
zuführen, sondern auf die zugrunde liegende Gesamtkon-
zeption in ihren zu erwartenden Auswirkungen auf die
verschiedenen Instanzen der Zivilgerichtsbarkeit und nicht
zuletzt auf die rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger.

Bei der Abwägung des Für und Wider des heute zur Ab-
stimmung stehenden Gesetzentwurfes waren für meine
Fraktion vor allem folgende Aspekte ausschlaggebend:

Die Zivilprozessreform stand von Anfang an unter der
Maßgabe der Kostenneutralität als einer Grundvoraus-
setzung für die Zustimmung der sie umsetzenden Bun-
desländer. Die begrüßenswerte und notwendige Stärkung




Rainer Funke
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der ersten Instanz sollte deshalb im Wesentlichen über die
Schaffung einer einheitlichen Berufungsinstanz bei den
Oberlandesgerichten, einschließlich der Einschränkungen
bei den Rechtsmitteln, erreicht werden.

Da die deutlich höheren Arbeitspensen der Amtsrichter
im Vergleich zu ihren Kollegen an den Landgerichten und
insbesondere Oberlandesgerichten ohnehin eine perso-
nelle Verstärkung bei den Eingangsgerichten notwendig
machen, äußerte ein nicht geringer, ja sogar großer Teil
der Sachverständigen in der Expertenanhörung Ende
Dezember letzten Jahres erhebliche Zweifel daran, ob die
voraussichtlich an den OLGs frei werdenden Stellen aus-
reichen würden, um die für die Stärkung der Eingangs-
instanz erforderliche deutliche personelle Aufstockung zu
ermöglichen.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist ja wohl logisch!)


Auch wir sind der Auffassung, dass eine kostenneutrale
Reform nach dem vom Bundesjustizministerium ent-
wickelten Konzept nicht machbar ist. Im Unterschied zu
den Ländern, die nicht mehr Geld für die Justiz ausgeben
wollen, bin ich jedoch der Meinung: Eine bessere Justiz
muss in vertretbarem Rahmen auch mehr kosten dürfen.
Eine solche Forderung ist weder realitätsfern noch unver-
schämt, wenn man sich vor Augen führt, dass sich die Jus-
tiz zu einem nicht geringen Teil über Gerichtskosten
selbst finanziert und seit Jahren im Zuge etlicher
Justizentlastungsgesetze unter erheblichem Sparzwang
steht. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass Sie, Frau Mi-
nisterin, diese vorgefundene Situation nicht zu verant-
worten haben, die Schwierigkeiten einer Justizreform
schon lange vorausgesehen haben und sich in einer
Zwickmühle befinden.

Als Fazit bleibt jedoch: Ohne die für die wünschens-
werte Stärkung der Eingangsinstanz notwendige deutli-
che personelle Aufstockung werden die Amtsrichter mit
der erweiterten Dokumentations- und Hinweispflicht
und den grundsätzlich erhöhten qualitativen Anforderun-
gen an die Verhandlungsführung, insbesondere der Streit-
schlichtung, aber auch der Sachverhaltsaufnahme, in eine
Überforderungssituation gebracht. Eine wesentliche
Folge, die vor allem zulasten der Bürgerinnen und Bürger
geht, werden längere Verfahrensdauern sein. Die tatsäch-
lich gewollte Stärkung der Eingangsinstanz durch mehr
Bürgernähe und Effizienz kann sich damit in das Gegen-
teil verkehren.

Die Einführung der so genannten Experimentierklau-
sel hat zwar als Zugeständnis an die Länder, insbesondere
an die Flächenländer, die zu Recht wegen der Bürgerferne
der Berufungsgerichte interveniert hatten, dazu geführt,
dass deren Widerstand spürbar abgeflaut ist. Summa sum-
marum wird sich jedoch das eingangs beschriebene Pro-
blem weiter zuspitzen. Ich bin nicht grundsätzlich gegen
ein Rechtsexperiment. Doch was geschieht in dem ganz
überwiegenden Teil der Länder, die von dieser Experi-
mentierklausel keinen Gebrauch machen? Hier werden
keine Richter zur Stärkung der ersten Instanz frei. Auch
die Hoffnung, die Länder würden unter dem Druck des
Faktischen die notwendige personelle Aufstockung der
ersten Instanz in die Wege leiten, reicht nicht.

Unter dem Strich bleibt also ein deutlich gestiegener
Arbeitsanfall in der ersten Instanz, ohne dass eine Bereit-
stellung der dafür erforderlichen Stellen in Sicht ist. In
den neuen Bundesländern stellt sich die personelle Situa-
tion für die Stellenfreisetzung in der zweiten Instanz noch
ungünstiger dar, weil durch die gerichtliche Umstruktu-
rierung Anfang der 90er-Jahre der Altersdurchschnitt der
an den OLGs tätigen Richter bekanntlich in der Regel
niedriger ist.

Die schon erwähnten Rechtsmittelbeschränkungen
in der zweiten Instanz stellen einen weiteren Knackpunkt
des Reformvorhabens dar. Die Absenkung der Beru-
fungssumme und die Einführung einer Zulassungsberu-
fung sind zunächst einmal begrüßenswerte Neuerungen.
Auch erkenne ich durchaus an, dass die heftig umstrittene
Einzelrichterregelung durch die Einführung einer Kann-
bestimmung sinnvollerweise abgeschwächt wurde. Die
Beschlussverwerfung bei offensichtlich unbegründeten
Berufungen ohne mündliche Verhandlung und ohne Über-
prüfungsmöglichkeit stellt jedoch einen deutlichen Ver-
lust an Rechtsschutz dar.

Ebenso verhält es sich mit der jetzt vorgesehenen
grundsätzlichen Bindung an die Tatsachenfeststellung in
der ersten Instanz. Der dadurch verringerte Rechtsmittel-
schutz wird durch die Ausnahmeregelungen zur Berück-
sichtigung neuen Tatsachenvortrages nur abgeschwächt,
aber nicht beseitigt.

Benachteiligt werden vor allem diejenigen, die sich in
erster Instanz, meist aus finanziellen Gründen, nicht an-
waltlich vertreten lassen, soweit nicht das Berufungsgericht
selbst unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen eine
erneute Sachverhaltsfeststellung für nötig erachtet. Gerade
sie sind es jedoch, die meist aus Unerfahrenheit und Rechts-
unkenntnis nicht alle entscheidungserheblichen Tatsachen
in erster Instanz vortragen und deshalb darauf angewiesen
sind, dass sie in der zweiten Instanz gegebenenfalls durch
einen Rechtsanwalt noch eingeführt werden können. Eine
solche Regelung läuft damit dem Grundsatz der Bür-
gernähe zuwider und führt dazu, dass eine wirksame recht-
liche Vertretung ohne Rechtsanwalt in erster Instanz we-
sentlich risikovoller wird.

Schließlich ist die Einführung der Grundsatzrevision
bei gleichzeitiger Abschaffung der Streitwertrevision für
meine Fraktion zwar akzeptabel; dies setzt jedoch die Ein-
führung eines weiteren Zulassungsgrundes im Interesse
des Individualrechtsschutzes voraus, und zwar das Vorlie-
gen eines entscheidungserheblichen Verfahrensmangels.

Auch wenn meine Fraktion aus den genannten Grün-
den dieser Reform als Gesamtpaket nicht zustimmen
kann, möchte ich mich am Ende dennoch sowohl für die
bei den Berichterstattergesprächen als auch bei der An-
hörung im Rechtsausschuss eingeräumten Möglichkeiten
der ausführlichen Diskussion und des Austausches be-
danken.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Was eine Selbstverständlichkeit ist!)


Danke.

(Beifall bei der PDS)





Dr. Evelyn Kenzler

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(C)



(D)



(A)



(B)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417014000
Das Wort hat jetzt der
Kollege Joachim Stünker für die SPD-Fraktion.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1417014100
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Verabschiedung einer wirklichen Strukturre-
form des Zivilprozessrechts, wie sie das Hohe Haus hier
gleich vornehmen wird, ist historisch. Heute ist ein guter
Tag für die ordentliche Gerichtsbarkeit in unserem Land,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


ein guter Tag vor allen Dingen für die rechtsuchenden
Bürgerinnen und Bürger in ihrem berechtigten Anspruch,
als Prozessparteien schneller zu ihrem Recht zu kommen
und vor allen Dingen die Entscheidungen auch zu verste-
hen, die letztlich dabei herauskommen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hängt nicht von uns ab, das hängt von den Richtern ab!)


Es ist aber ebenso ein guter Tag für die Richterinnen und
Richter; sie werden zukünftig jeden Zivilrechtsstreit mit
einem hocheffizienten und vor allem flexiblen Prozess-
recht moderieren und entscheiden können, mit einem Zi-
vilprozessrecht, das sie in die Lage versetzen wird, die
neu und vermehrt auf die Zivilgerichtsbarkeit zukom-
menden Aufgaben in der Zukunft ohne neue Personalan-
forderungen zu bewältigen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


zudem mit einem Zivilprozessrecht, mit dem das Verfah-
ren für alle an ihm Beteiligten transparenter werden wird,
und letztlich einem Zivilprozessrecht, das endgültig
Schluss macht mit der obrigkeitsstaatlichen Annahme,
Herr Kollege Geis, gutes Recht oder umfassender Rechts-
schutz müssten von der Höhe des zu entscheidenden
Streitwerts abhängig sein. Damit wird in diesem Land
endgültig Schluss gemacht


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Warten Sie mal die Praxis ab!)


und darauf sind wir stolz. – Ich bin über Jahrzehnte hin-
weg Praktiker gewesen, Herr Kollege Geis, wie Sie wis-
sen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Davon merkt man aber nichts mehr!)


Wirkliche Rechtsstaatlichkeit zeigt sich für uns darin,
dass jedem Rechtsuchenden unabhängig vom materiellen
Wert und der Höhe des Begehrens das ganze umfassende
Instrumentarium der Rechtsfindung bei der Streitschlich-
tung oder -entscheidung zur Verfügung stehen wird.
Zukünftig kann also – um das einmal praktisch darzustel-
len – auch die Kaufpreisforderung oder die Werklohnfor-
derung mit einem Streitwert von 5 000 DM in die letzte In-
stanz bis zum Bundesgerichtshof kommen, wenn sich eine
Partei völlig falsch behandelt fühlt und meint, es sei Un-
recht, was da geschehen sei. Das ist mehr Bürgernähe, Herr
Geis; das ist neu und das ist wichtig an unserem Entwurf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Zur Rechtsfortbildung, zur Rechtsvereinheitlichung!)


Lassen Sie mich noch einmal ganz kurz die Schwer-
punkte der skizzierten Reform nennen, und zwar aus ei-
nem bestimmten Grund, zu dem ich hinterher noch ein
Wort sagen werde. Was machen wir?

Wir sehen Neuregelungen mit der Einführung mo-
derner Kommunikationsmittel im Zivilprozess durch
Zulassung einer Verhandlung im Wege der Videokonfe-
renz vor, die Institutionalisierung des Schlichtungsgedan-
kens im Zivilprozess durch die Einführung einer
Güteverhandlung, die Erhöhung der Transparenz und Ak-
zeptanz richterlicher Entscheidungsfindungen durch eine
stärkere Betonung der richterlichen Aufklärungs- und
Hinweispflichten, die Einführung des originär zuständi-
gen Einzelrichters mit trotzdem noch wesentlichen Be-
standteilen der Kammerzuständigkeit, den Abbau von
streitwertabhängigen Zugangsbarrieren – darauf ist be-
reits hingewiesen worden – und eine deutlichere Funkti-
onsdifferenzierung der Rechtsmittelebenen durch die
Umgestaltung der Berufung in ein Instrument zur Fehler-
kontrolle und Fehlerbeseitigung. Wir führen beschleu-
nigte Erledigungsmöglichkeiten bei substanzlosen Beru-
fungen ein. Das Ganze ist die Wegbereitung zur
Harmonisierung derVerfahrensordnungen in unserem
Rechtssystem.

Wer dies alles, Herr Kollege Geis – aber Sie haben ja
Herrn Siemann als Wortschöpfer angegeben, glaube ich –,
ein „Reförmchen“ nennt, der weiß wohl nicht, worüber er
redet, der kennt den deutschen Zivilprozess nicht, wie er
sich heute darstellt. Was wir hier letztlich machen, das ist
eine grundlegende Reform.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Dazu stehe ich natürlich: Das ist ein Reförmchen, gemessen an einer Reform!)


Herr Kollege Geis, wenn Sie davon reden, wir würden
damit wieder die Zuständigkeitsverhältnisse – von einem
Flickenteppich hat der Kollege Funke gesprochen – und
Rechtsverhältnisse des 17. oder 18. Jahrhunderts schaf-
fen, wenn wir bei der Konzentration der Berufungen bei
Oberlandesgerichten eine Experimentierklausel ein-
führen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Davon ist das, was
in unserem Gesetz steht, weit entfernt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann haben Sie es nicht richtig gelesen!)


Das ist moderne Gesetzgebung, Herr Geis, wie wir ges-
tern in der Anhörung zur Juristenausbildung von vielen
Professoren gehört haben. Wir schaffen mit einer Experi-
mentierklausel die Möglichkeit, dass sich die einzelnen
Bundesländer differenziert beteiligen und der Gesetzge-
ber dann nach einer gewissen Zeit auf der Grundlage em-
pirischer Erkenntnisse


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hatten wir alles schon einmal! Was ist daran neu?)


darüber entscheidet, wie die Zuständigkeiten denn in Zu-
kunft aussehen sollen. Tut er es nicht, gilt das alte, heute
geltende Recht; schafft er eine Neuregelung, gilt sie bun-
deseinheitlich. Wo ist da der Flickenteppich, von dem






(C)



(D)



(A)



(B)


Sie gesprochen haben? Wo sind da die Verhältnisse des
18. und 19. Jahrhunderts? Sie bauen immer Popanze auf,
von denen dann letzten Endes nur Luft übrig bleibt.


(Zuruf von der SPD: Heiße Luft! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir sehen eben die Konsequenzen Ihres Gesetzes!)


Wir sehen die Konsequenzen unseres Gesetzentwur-
fes. Auf Dauer wird die Rechtseinheit erhalten bleiben.
Aus einem weiteren Grunde ist heute ein sehr guter Tag


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Schönes Wetter heute!)


für die ordentliche Gerichtsbarkeit in unserem Lande,
denn bis heute Morgen gab es ja noch den Entwurf der
Unionsparteien, der nun wohl zurückgenommen worden
ist.


(Dirk Manzewski [SPD]: Gott sei Dank!)

– Gott sei Dank, Herr Kollege Manzewski, genauso ist es.

Die F.D.P. hat zu dieser Frage überhaupt nichts vorge-
legt. Das heißt, rechtspolitisch betrachtet, stehen Sie heute
im Grunde genommen nackt da.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wieso denn? Wir sind doch angezogen!)


Plötzlich bestreiten Sie einen rechtspolitischen Reform-
bedarf, den Sie 1998 noch gesehen haben, weil Sie selber
keine konkreten Vorstellungen haben.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Es wäre besser, Sie würden Ihre Reform zurücknehmen!)


Nachdem Sie Ihren Entwurf zurückgenommen haben,
ist nach meiner Überzeugung ein von Anfang an verfehl-
ter rechtspolitischer Ansatz Gott sei Dank endgültig ge-
scheitert. Die ständige Heraufsetzung der Streitwertgren-
zen in Bezug auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen
Amts- und Landgerichten sowie die Erhöhung der Be-
schwerdewerte für Berufungen und Revisionen, wie sie in
den letzten 15 Jahren von Ihnen vorgenommen worden
ist, haben letztendlich zu immer weniger Bürgernähe und
Effizienz in der Justiz geführt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben doch immer zugestimmt! Das war doch Ihr Entwurf!)


Das ist heute das einheitliche Urteil in der Fachöffent-
lichkeit. Von daher, Herr Kollege Funke, ist der Reform-
bedarf, den Sie eben noch bestritten haben, für den Fach-
mann evident. Genauso wird es heute in der Praxis auch
gesehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Die Fachwelt bestreitet das!)


Sie haben letzten Endes die Amtsgerichte, die heute
im Durchschnitt jährlich knapp 750 Verfahren pro Richter
zu bearbeiten haben, immer stärker belastet.


(Rainer Funke [F.D.P.]: Das wird nicht anders werden!)


Ein solches Vorgehen ist eben nicht bürgernah, sondern
das genaue Gegenteil davon.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Was machen Sie denn? Sie belasten die Amtsgerichte auch!)


Die Kritik, die Sie heute an unserem Reformentwurf,
teilweise lautstark und vehement – Herr Kollege Röttgen
wird sicherlich gleich als praktizierender OLG-Anwalt
pro domo sprechen –, vorgetragen haben, dass die Reform
bereits im Ansatz überflüssig und aus einem großen Re-
formversprechen ein Reförmchen geworden sei, nehme
ich gelassen entgegen. Ich weiß, wovon ich rede.

Die heute auf den Weg gebrachte Strukturreform des
Zivilprozesses wird unumkehrbar sein. Sie wird die
Streitkultur auf den verschiedenen Seiten des Zivilpro-
zesses verändern.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Im Zivilprozess hat sich doch schon so viel verändert! Es ist nichts unveränderbar!)


Sie wird insbesondere die Struktur der Amts-, Land- und
Oberlandesgerichte – hören Sie zu, Herr Geis – auf Dauer
verändern. Wir werden als Ergebnis dieser Reform im Zi-
vilprozess zukünftig mehr Richterinnen und Richter an
den Amtsgerichten haben und werden mehr Richterinnen
und Richter dort einsetzen können, wo bereits heute
1,5 Millionen rechtsuchende Menschen ihre Erfahrungen
mit der Justiz machen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wo nehmen Sie denn die Richter her? – Walter Hirche [F.D.P.]: Haben Ihnen das die Länderfinanzminister zugesagt?)


– Herr Kollege Hirche, ich gebe Ihnen gerne Privatunter-
richt, um Ihnen das zu erklären. Das ergibt sich aus dem
System dieser Reform. Wir können das gerne nachher be-
sprechen.

Die Stärkung der ersten Instanz wird mit diesem Ent-
wurf auf den Weg gebracht. Das Ganze wird unumkehr-
bar sein.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Ich habe mit den Länderfinanzministern mehr Erfahrungen als Sie!)


– Herr Kollege Hirche, warten Sie es ab. Wir werden über
dieses Thema in einigen Jahren reden.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die Länder werden mehr Richter einstellen müssen!)


Herr Kollege Geis, ich vermag Ihre Kritik auch aus ei-
nem weiteren Grund sehr gelassen zu ertragen: Diese Ko-
alition wird mit ihrem Reformgesetzentwurf den jetzt
eingeschlagenen Weg der Modernisierung der ordent-
lichen Gerichtsbarkeit und der Justiz generell unbeirrt
fortsetzen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Was kommt dann?)


– Nach der Zivilgerichtsbarkeit kommt der Strafprozess,
Herr Kollege Geis, und danach – ich habe es Ihnen schon




Joachim Stünker

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einmal gründlicher erklärt – die freiwillige Gerichtsbar-
keit.

Ich betone – ich habe das mit großer Freude in den
letzten Tagen in einer Pressemitteilung gelesen –, dass
auch der nordrhein-westfälische Justizminister Jochen
Dieckmann deutlich erklärt hat: Zur notwendigen Moder-
nisierung der Justiz werden wir alle Binnenressourcen
ausschöpfen. – Diese Vorschläge werden wir noch in die-
ser Legislaturperiode auf den Tisch legen. Am Ende wird
ein neues Bild einer modernen ordentlichen Gerichtsbar-
keit stehen, die in der Lage sein wird, angesichts der zu-
nehmenden Internationalisierung und Europäisierung des
Rechts den globalen Veränderungen, denen wir uns zu
stellen haben, zukunftsorientiert standzuhalten und wei-
terhin schnell und gut in diesem Land Recht zu sprechen.

Das wird das Ergebnis sein. Ich freue mich auf die
nächsten Jahre der Erprobung. Wenn es der Wähler
zulässt, dass ich im Jahre 2007 hier noch stehen darf, ga-
rantiere ich Ihnen, dass wir ein positives Ergebnis erzielt
haben werden.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417014200
Das Wort hat nun der
Kollege Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1417014300
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, eineinhalb
Jahre lang haben Sie versucht, sich durchzusetzen. Sie ha-
ben die ganze Zeit versucht, an Ihrem Kurs festzuhalten,
und haben nur ein paar marginale und kosmetische Ände-
rungen vorgeschlagen. Sie haben im Grunde genommen
sogar – das gehört zu den Kosten Ihres Festhaltens – eine
Blockade der Rechtspolitik hingenommen. Es gibt in die-
ser Bundesregierung bekanntlich nur wenige Leistungs-
träger. Aber es gibt noch weniger Minister, die eine so
magere Bilanz vorzuweisen haben wie Sie in der Rechts-
politik. Das liegt an der Selbstblockade, die Ihre Justiz-
reform in der Rechtspolitik herbeigeführt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie als Mitglieder des Rechtsausschusses wissen, dass

die Liste der Ankündigungen der rot-grünen Regierung
enorm lang ist, dass aber die Zahl der Punkte, über die fe-
derführend im Rechtsausschuss beraten wird, immer ge-
ringer wird. Sie bekommen keine Ergebnisse zustande.
Sie machen nur Ankündigungspolitik.

Anderthalb Jahre lang haben Sie es versucht. Dann
musste die Selbstblockade beendet werden. Nach den
Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-
Pfalz stand die Ministerin vor der Alternative, entweder
ihr Scheitern einzugestehen oder entgegen ihrer persönli-
chen Überzeugung – Sie halten ja den ursprünglichen Ent-
wurf nach wie vor für richtig; das spricht auch gar nicht
gegen Sie – Zugeständnisse zu machen, einzuknicken und
die Operation „Gesichtswahrung“ durchzuführen. Im ers-
ten Fall hätte es nur eine Verliererin gegeben, nämlich die
Bundesjustizministerin, die ihr Scheitern hätte einge-

stehen müssen. Im zweiten Fall – Einknicken und Ge-
sichtswahrung – gibt es zwei Verlierer, nämlich die Bun-
desjustizministerin und die Ziviljustiz in Deutschland.
Das sind die tatsächlichen Verlierer.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es stimmt zwar, dass der jetzige Gesetzentwurf nicht

mehr so schlimm ist wie am Anfang. Er hat sich von einer
rechtsstaatlichen Katastrophe zu rechtspolitischem Murks
gewandelt.


(Joachim Stünker [SPD]: Herr Röttgen, Sie müssen einmal den Entwurf lesen!)


Das ist der Weg, den Sie zurückgelegt haben. Es war kein
Weg des Lernens, sondern des Scheiterns; denn es besteht
kein Zweifel daran: Im Vergleich zur jetzigen Zivilpro-
zessordnung wird der Entwurf für Verschlechterungen
sorgen. Es wird nichts besser werden. Er bringt fast nur
Nachteile.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Es gibt eine Ausnahme – diese war nie umstritten –, näm-
lich die Einführung der Möglichkeit der Videokonferenz
im Zivilprozess. Das haben wir immer begrüßt. Davon ab-
gesehen gibt es nur Nachteile für die Ziviljustiz und die
rechtsuchenden Bürger.


(Joachim Stünker [SPD]: Wann waren Sie zum letzten Mal im Amtsgericht?)


Sie haben den Bürgerinnen und Bürgern in diesem
Land nur falsche Versprechen gemacht. Lieber Herr
Bachmaier, die Ministerin hat mehr Transparenz verspro-
chen. Herausgekommen ist eine Rechtswegzersplitte-
rung. Im Zeitalter der europäischen Harmonisierung sor-
gen Sie für eine nationale Rechtswegzersplitterung. Das,
was bereits vor 125 Jahren als historisch überwunden galt,
wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder eingeführt.
Sie sind – das wissen Sie doch selber – von der Öff-
nungsklausel nicht überzeugt. Sie wissen, dass Sie sich
auf einen faulen Kompromiss einlassen und dass das nicht
gut ist. Trotzdem müssen Sie mitmachen; denn die Öff-
nungsklausel ist das große Pflaster für das politische
Scheitern der Bundesjustizministerin. Ihre Funktion ist,
zu verdecken, nicht zu verbessern. Damit werden Sie Ih-
rer Verantwortung für eine qualitativ gute Justiz in unse-
rem Land nicht gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Sie haben mehr Effizienz versprochen. Herauskom-
men wird Mehrarbeit für die ohnehin schon jetzt überlas-
teten Amtsgerichte. Das wird zu längeren Verfahrensdau-
ern führen, vielleicht zu schlechteren Urteilen. Jedenfalls
können die an der Front, in den Amtsgerichten, Ihre Suppe
auslöffeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Versprochen wurde mehr Bürgernähe. Herauskommen

wird: mehr Einzelrichter statt Kollegialgerichte – kein
Fortschritt in der Qualität der Rechtsfindung. Außerdem
wird es in der Berufung weniger Akzeptanz für ein Urteil




Joachim Stünker
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geben, wenn der eine Einzelrichter den anderen Einzel-
richter aushebelt.

Darum ist unsere Position, dass möglicherweise in der
Eingangsinstanz der Einzelrichter entscheidet, aber dass
immer dann, wenn in der Eingangsinstanz der Einzelrich-
ter entschieden hat, in der Berufungsinstanz ein Kolle-
gialgericht entscheiden sollte, weil dies höhere Akzeptanz
bei den Bürgern mit sich bringt.


(Joachim Stünker [SPD]: Das ist heute schon anders, Herr Röttgen! Das geltende Recht ist anders!)


Was herauskommen wird, ist die Möglichkeit der
Zurückweisung der Berufung ohne mündliche Verhand-
lung. Der Bürger muss nicht mehr gehört werden. Über
seine Sache wird gar nicht mehr geredet, sondern er wird
beschieden: Über deine Sache reden wir nicht mehr. – Die
Zurückweisungsbeschlüsse in der Berufungsinstanz wer-
den weniger Akzeptanz für zivilgerichtliche Entscheidun-
gen mit sich bringen.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Und Sie wollten das sogar ohne jedwede Begründung und Ankündigung!)


Versprochen worden ist mehr Bürgernähe. Der Zugang
zum Bundesgerichtshof wird aber zum glücklichen
Zufall für den Bürger. Diese rechtsstaatlich gravierende
Verschlechterung bleibt unter dem Strich übrig. Die Am-
putation des Bundesgerichtshofs, die Abschaffung des
Bundesgerichtshofs als Instanz des Individualrechts-
schutzes bedeutet, dass er nicht mehr für den einzelnen
Bürger, der klagt, ihm sei Unrecht geschehen, zuständig
sein kann.


(Joachim Stünker [SPD]: Stimmt doch gar nicht! – Hermann Bachmaier [SPD]: In viel höherem Umfang als heute!)


Er soll vielmehr objektive Rechtsfortbildung betreiben.
Die Abschaffung des höchsten deutschen Zivilgerichts

als eines Gerichts, das für Einzelfallgerechtigkeit zustän-
dig ist, trifft den Punkt, an dem der Bürger Justiz kennen
lernt – nämlich nicht in der objektiven Rechtsordnung,
sondern in seinem Fall.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Hermann Bachmaier [SPD]: Ab 60 000 DM!)

Sie haben es sogar abgelehnt, dass Verfahrensmängel,

die sich im Urteil der vorherigen Instanz niedergeschla-
gen haben, mit der Revision vor dem Bundesgerichtshof
angefochten werden können. Selbst ein Verfahrensman-
gel, der das Urteil beeinflusst hat – ein ergebniskausaler
Verfahrensmangel –, kann nicht mehr vor dem Bundesge-
richtshof gerügt werden. Das ist statt mehr Bürgernähe
weniger Rechtsschutz für den Bürger. Alle Versprechun-
gen, die Sie gemacht haben, lösen Sie nicht ein.


(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist die Abteilung „Polemik“!)


Sie wissen das auch; aber trotzdem werden Sie heute
dafür im Bundestag eine Mehrheit finden.


(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ja, schön!)


– Aber, Herr Kollege Dr. Bürsch, versuchen Sie es in ir-
gendeinem deutschen Gericht, bei dem die Richter und
Anwälte über diese Zivilprozessreform entscheiden könn-
ten. Sie würden in keinem deutschen Gericht eine Mehr-
heit für diese Reform finden, weil die Praktiker des Zivil-
prozesses – das ist doch nicht die Kritik der CDU/CSU,
der Opposition – von Ihnen nicht mit dieser Reform be-
glückt werden wollen. Sie lehnen sie nach wie vor ab, weil
sie Verschlechterungen bringt. Das ist das Ergebnis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist Ihre selektive Wahrnehmung! Es gibt genug Zustimmung!)


Wir können uns über das Scheitern der Ministerin nicht
freuen.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Jetzt kommen die Krokodilstränen!)


Das Bedrückendste an der Geschichte ist, dass Sie aus
Ihren Fehlern nicht lernen.


(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Nein, dass diese Rede nur polemisch ist!)


Das ist der entscheidende Punkt: Sie lernen nicht. Das
Scheitern der Ministerin in der Justizreform birgt im
Grunde die Quelle neuen Unheils in sich. Denn Sie brau-
chen nun einen anderen Erfolg. Hier sind Sie gescheitert.


(Joachim Stünker [SPD]: Nur Polemik, Herr Röttgen, kein Argument!)


Diesen Erfolg suchen Sie jetzt auch. Darum wird das
nächste Projekt herausgehauen.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir halten dieses Projekt für einen großen Erfolg!)


Jetzt ist das Schuldrecht an der Reihe, ein Herzstück,
vielleicht das Herzstück des deutschen Privatrechts. In der
letzten Woche wurde es im Kabinett verabschiedet. Ges-
tern kam die Drucksache mit 686 Seiten Umfang in mei-
nem Büro an. Morgen soll die Debatte sein.


(Dirk Manzewski [SPD]: Die Diskussion läuft seit Mitte der 80er-Jahre!)


Sie wissen gar nicht, was Sie beschließen. Die Folgewir-
kungen können Sie nicht einschätzen. Sie wollen das
durchpeitschen, weil Sie auf einen Erfolg angewiesen
sind, weil Sie nach einem Erfolg dürsten, den Sie bislang
in zweieinhalb Jahren nicht gehabt haben. Darum müssen
Sie nun, wie gesagt, ein neues Projekt raushauen. Das ist
im Grunde das entscheidende Versagen: Die Rechtspoli-
tik Ihrer Regierung befindet sich aufgrund Ihres Verhal-
tens und Ihres Stils in einem aktionistischen Teufelskreis,
der darin besteht, dass aus dem einen Scheitern das
nächste übereilte Projekt folgt, das nichts Gutes bringen
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Das war schwach!)


Lassen Sie mich die heutige Debatte über diesen zen-
tralen Bereich der Rechtspflege, in dem die Bürger ihr




Dr. Norbert Röttgen

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(B)


Recht suchen, zum Anlass nehmen, eine allgemeine Be-
merkung zum Stil der Rechtspolitik seit 1998 zu machen.
Wie man an diesem Fall, aber auch darüber hinaus stu-
dieren kann – als Rechtspolitiker unserer Fraktion bedau-
ern wir dies, und zwar nicht unter parteipolitischen Ge-
sichtspunkten, sondern um des Zieles willen, dem wir uns
alle verschrieben haben –, muss konstatiert werden, dass
es seit 1998 einen Stilwandel in der Rechtspolitik gegeben
hat. Diesen Wandel spüren wir in fast jeder Rechtsaus-
schusssitzung. Die Mehrheit geht vor dem Argument, das
Sich-durchsetzen-Wollen vor dem Aufeinanderzugehen,
Tempo vor Sorgfalt. Das ist ein neuer Stil.

Ich bin kein Fossil des Rechtsausschusses – ich hoffe,
dass man mir das noch ansieht –, aber immerhin seit 1994
Mitglied dieses Ausschusses. Dort herrscht ein neuer Stil,
der nicht gut ist, weil bei ihm die Qualität und die Be-
herrschbarkeit des Rechts und seiner Institutionen als
Schutz davor, dass uns der Rechtsstaat in einer komplexen
Gesellschaft über den Kopf wächst, auf der Strecke blei-
ben. In einer verflochtenen, hoch komplexen Gesellschaft
ist die Gefahr gegeben, dass wir die Regulierungen, die
wir selbst beschließen, nicht mehr beherrschen können.
Wer nicht auf Qualität und auf das Argument setzt, son-
dern auf Mehrheit und Geschwindigkeit, beschädigt die
Beherrschbarkeit des Rechts. Das ist nicht parteipolitisch
gemeint. Vielmehr ist unsere allgemeine Sorge, dass in
diesem anderen, neuen Stil die eigentliche Fehlleistung
und Fehlleitung rot-grüner Rechtspolitik besteht. Wir bit-
ten Sie, darüber nachzudenken, ob dieser Stil im gemein-
samen Interesse nicht geändert werden sollte.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417014400
Ich erteile nun das
Wort der Bundesjustizministerin Dr. Herta Däubler-
Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417014500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Keine Sorge, lieber Herr Röttgen, ich werde nicht auf das
eingehen, was Sie sagten, sieht man von einer einzigen
Bemerkung ab. Das, was Sie über Stil gesagt haben, ist ein
Punkt, bei dem Sie sich an die eigene Nase fassen müssen.


(Beifall bei der SPD)

In den Beiträgen, die wir in dieser wichtigen Fachdebatte
von den Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfrak-
tionen gehört haben, ist mir Folgendes so richtig deutlich
geworden: Wenn man Ihnen zuhört, dann weiß man,
warum die Modernisierung der Justiz in den 16 Jahren, in
denen Sie die Mehrheit hatten, keinen Schritt vorankam.


(Beifall bei der SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ CSU]: Wir haben eine gut funktionierende Justiz!)


Das liegt einfach daran, meine Damen und Herren, dass
Sie sich ständig widersprechen, dass Sie Ihre Meinun-
gen – ich werde Ihnen das gleich anhand einiger wichti-
ger Justizpolitiker darlegen, die es in Ihren Reihen ja auch

gegeben hat und gibt – ständig so ändern, wie Sie es ge-
rade brauchen. Wenn Sie dann noch auch nur die Hälfte
Ihrer Kreativität, die Sie darauf verwenden, gute Geset-
zesvorhaben in der Öffentlichkeit madig zu machen, dazu
nutzten, Sachargumente in die Diskussion einzubringen,
dann wären wir wirklich schon viel weiter.

Es ist geradezu lachhaft, jetzt so zu tun, als sei Rot-
Grün in der Rechtspolitik nicht erfolgreich. Gerade in den
letzten beiden Wochen hat der Bundestag eine Reihe von
wichtigen Reformgesetzen beschlossen, die Sie alle schon
hätten realisieren können, angefangen vom Mietrecht bis
hin zur elektronischen Grundlage des Rechts- und Ge-
richtsverkehrs. Zu nichts waren Sie in der Lage.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das können Sie doch nicht sagen!)


Wenn man sich aber so wenig ernsthaft auseinander setzt,
wie es jetzt gerade geschehen ist, dann braucht man sich
darüber nicht zu wundern.

Jetzt gehen Sie auch noch her und sagen den Bürgerin-
nen und Bürger öffentlich, diese Justizreform sei nicht
nötig. Wo leben Sie denn?


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Schlecht ist sie!)


– Entschuldigen Sie, das haben Sie doch gerade gesagt. –
Sie wissen doch ganz genau, dass jeder Brief, in dem sich
Handwerker oder Unternehmer zum Beispiel über die
Zahlungsmoral oder säumige Schuldner beklagen, das
Gegenteil bescheinigt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist doch gründlich gescheitert und hat nichts genützt!)


Sie wissen auch ganz genau, dass selbst Ihre eigenen Mit-
glieder dieses bestätigen.

So hat der heutige Präsident der Bundesrechtsanwalts-
kammer 1998 im Namen der Kammer, in der ich Mitglied
bin, einen offenen Brief an uns Politiker gerichtet, in dem
er beklagt, dass die Überlastung der Justiz einen kriti-
schen Punkt erreicht habe.


(Joachim Stünker [SPD]: Hört! Hört!)

Lassen Sie mich die Beispiele fortführen und einen Kol-
legen von der F.D.P. heranziehen: Vor zweieinhalb Jahren
hat das F.D.P.-Mitglied Professor Schmidt-Jortzig, mein
Vorgänger, dieses auf dem Deutschen Juristentag in
Bremen zum Anlass genommen, zu sagen, dass er für die
Dreistufigkeit sei und diese jetzt endlich umgesetzt wer-
den müsse.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dafür waren wir nie! – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Waren Sie doch auch nicht!)


Gelegentlich zitieren Sie ja hier auch Herrn Minister
Goll. Wogegen wollen Sie sich mit dem Anführen seiner
Aussagen eigentlich wenden? Er hat 1998, als Bund und
Länder über diese Reform diskutiert und Anregungen ge-
sammelt haben, gesagt, er sei für eine Umgestaltung der
Berufungsinstanz schrittweise hin zu einer Rechtsüber-




Dr. Norbert Röttgen
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prüfungsinstanz. Heute tun Sie, meine Damen und Herren,
so, obwohl wir das gar nicht vorhaben, als sei das Blend-
werk vom Teufel.

Darf ich auch Sie, sehr verehrter Herr Funke – Sie wis-
sen, wie ich Sie schätze –, daran erinnern, was Sie auf dem
12. Verwaltungsrichtertag 1998 gesagt haben? Da haben
Sie sich darüber ausgelassen, dass die erste Instanz ge-
stärkt werden


(Rainer Funke [F.D.P.]: Das habe ich! Das sehe ich auch so!)


und der Instanzenzug reformiert werden müsse. Hierfür
könne die Dreistufigkeit in der Verwaltungsgerichtsbar-
keit als Modell dienen. Aufgrund der positiven Erfahrun-
gen mit diesem Modell werde über die Übernahme des-
selben auch in andere Verfahrensordnungen diskutiert.
Weshalb wollen Sie denn hier der staunenden Öffentlich-
keit weismachen, dass überhaupt nichts geändert werden
müsse?

Hoch qualifizierte Rechtspolitiker, von denen auch Sie
einige in Ihren Reihen hatten und haben, gehen sogar noch
weiter. Ich erinnere Sie an das, was der ehemalige Rechts-
ausschussvorsitzende Eylmann immer wieder sagte.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das war nie unsere Meinung!)


Ich bitte Sie darum, hiermit ernsthaft umzugehen und die-
ses nicht einfach deswegen, weil Sie Rot-Grün nicht mö-
gen oder in der Opposition sind – ich gebe ja zu, dass das
schwer ist –, abzutun.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir haben uns immer gegen die Dreistufigkeit ausgesprochen!)


Wenn Sie an Ihre Parteifreunde, die jetzt nicht mehr Mit-
glieder des Bundestages sind, nicht erinnert werden wol-
len, dann bedenken Sie wenigstens ein Wort des jetzigen
Vorsitzenden des Rechtsausschusses, übrigens auch Mit-
glied der CDU, der sagte:

Der Weg immer neuer Entlastungsgesetze, der in den
vergangenen Jahren beschritten worden ist, mit dem
Versuch, die Symptome zu lindern, kann nicht wei-
ter beschritten werden. Es muss an den Kern ge-
gangen werden; die Zeit dafür ist überreif. Beden-
ken, mit einer einheitlichen Eingangsinstanz werde
in Flächenländern ein Verlust an Bürgernähe einher-
gehen, sind nicht gerechtfertigt.

Meine Damen und Herren, diese Beispiele mögen als
Vorbemerkung reichen, um die Ernsthaftigkeit Ihrer Ar-
gumentation zu beleuchten. Wir werden auf dem Weg, die
Justiz zu modernisieren, fortschreiten. Wir werden die
entsprechenden Vorschläge weiter auf den Tisch legen
und Sie weiter zur Mitarbeit einladen. Wir werden wei-
terhin sämtliche Praktiker aus den Gerichten, den Ländern
und der Wissenschaft, die sich beteiligen wollen, einladen
und bitten, bei uns mitzumachen. Wir werden gute Anre-
gungen von diesen aufnehmen. Das ist, Herr Geis, kein
Zeichen von Schwäche – das mag vielleicht bei Ihnen so
sein –, sondern ein Zeichen von Stärke, wenn man sich zu-

traut, über Fragen zu diskutieren und gelegentlich gute
Sachargumente auch aufzunehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden auch Sie weiterhin dazu einladen. Die Mo-
dernisierung der Justiz ist um der Bürger willen nötig, die
Sie durch das ständige Heraufsetzen der Streitwert-
grenze empfindlich getroffen haben. 80 Prozent müssen
sich nämlich an das Amtsgericht wenden, um ihr Recht
einzuklagen. Es ist Ihr „Verdienst“ – diese Tatsache muss
festgehalten werden –, dass heute die 80 Prozent, die zu
den Amtsgerichten gehen müssen, die schlechtesten Be-
dingungen vorfinden. Die Amtsrichterinnen und Amts-
richter dort haben die meiste Arbeit – die richtige Zahl
wurde schon genannt –, nämlich durchschnittlich 750 Fäl-
le pro Jahr. Wir werden mit dieser Reform die Stellung der
Amtsgerichte stärken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie werden Ihren Wählerinnen und Wählern erklären
müssen, warum Sie dagegen waren.

Ich will Ihnen einen zweiten Grund nennen – die Kol-
leginnen und Kollegen der SPD haben schon darauf hin-
gewiesen –, warum diese Reform nötig war. Gerade für
die Bürgerinnen und Bürger, die ihr Recht bei den Amts-
gerichten suchen, müssen die Berufungsbedingungen, die
sich während Ihrer Regierungszeit verschlechtert haben,
verbessert werden.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Was?)

Wir verbessern mit diesem Gesetz die Berufungsmög-
lichkeiten in diesem Bereich. Davon sind 80 Prozent der
Klagenden betroffen. Sie werden den Bürgerinnen und
Bürgern erklären müssen, warum Sie ihnen die besseren
Bedingungen, die wir schaffen wollen, vorenthalten wol-
len. Den Amtsrichtern müssen Sie erklären, warum Sie sie
nicht entlasten wollen.

Ich nenne Ihnen einen dritten Grund. Wir wollen in der
Tat, dass aussichtslose Prozesse – also Prozesse, die durch
ein Kollegialgericht einstimmig als aussichtslos ange-
sehen werden – nicht wie bisher allein wegen ihres Streit-
werts durch die Instanzen gezogen werden können.
Dieses wollen wir im Interesse einer zügigen Rechtspre-
chung, auf deren Notwendigkeit uns gerade die mittel-
ständische Wirtschaft sowie die Bürgerinnen und Bürger
immer wieder aufmerksam machen.


(Dirk Manzewski [SPD]: Prozessverschleppung! Genau!)


Das erreichen wir mit unserem Gesetz.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Da halten Sie aber zu viel von Ihrer Reform!)

Wenn Sie dagegen sind, werden Sie der mittelständischen
Wirtschaft sowie den Bürgerinnen und Bürgern erklären
müssen, warum Sie weiterhin für diese Form des Justiz-
kredits eintreten. Das ist aber Ihr Problem.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

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(D)



(A)



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Lassen Sie mich für die Öffentlichkeit in sieben Punk-
ten zusammenfassen, was wir mit diesem Gesetz errei-
chen wollen.

Erstens. Wir stärken die Amtsgerichte, was Sie aber
nicht mittragen wollen. Wir schaffen bessere Bedingun-
gen für 80 Prozent der Bürger, die bei den Amtsgerichten
ihr Recht suchen. Wir helfen auch den Amtsrichterinnen
und Amtsrichtern, die sich oft bitter darüber beklagt ha-
ben – das wissen wir doch alle –, dass sie in den 16 Jah-
ren Ihrer Regierung zu den „Lasteseln“ der Justiz gemacht
worden seien.

Zweitens. Wir setzen auch im Zivilprozess ganz ent-
schieden auf die Schlichtungskultur.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist doch jetzt schon geltendes Recht!)


Wir haben bei der außergerichtlichen Streitschlichtung
angefangen. Wir werden sehr sorgfältig schauen, was ge-
rade die Länder, in denen Sie regieren, in Bezug auf die
Schlichtungskultur unternehmen.

Frau Kenzler, Ihre Auffassung, dass es zu mehr Arbeit
für die Amtsrichterinnen und Amtsrichter führen wird,
wenn sie mit den Bürgerinnen und Bürgern im Rahmen ei-
nes Schlichtungsversuchs verstärkt sprechen müssen, ist
nicht ganz korrekt; denn die Stärkung des Schlichtungs-
verfahrens bringt die große Chance mit sich, dass es we-
niger streitige Urteile gibt. Diese Urteile sind es aber, die
Arbeit machen.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Deswegen macht es der Richter jetzt schon!)


Auch unter diesem Aspekt ist die Schlichtung eine sehr
wichtige Sache.

Wenn die Kolleginnen und Kollegen von der Union
einmal aufhören würden, dazwischenzurufen,


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Die war seit 100 Jahren nicht im Gerichtssaal!)


würde ich Ihnen gerne sagen: Alle diese Überlegungen,
die in das Gesetz eingegangen sind, beruhen natürlich auf
guten Vorbildern, wie wir sie in einigen Ländern bei den
Amtsgerichten und Landgerichten finden. Wir haben uns
dort sehr sorgfältig umgeschaut, um diese guten Modelle
zum Vorbild nehmen zu können. Schon aus diesem
Grunde handelt es sich um sinnvolle Regelungen.

Drittens. Wir erweitern die Berufungsmöglichkeiten
gerade für die Verfahren vor dem Amtsgericht. Wir straf-
fen die Berufung da, wo das rechtsstaatlich einwandfrei
möglich ist. Diese Straffung fällt moderater aus als die,
die Sie in Ihrem Entwurf, den Sie glücklicherweise
zurückgezogen haben, vorgeschlagen haben. Gerade die
Bürgerinnen und Bürger und die mittelständische Wirt-
schaft sind uns dafür dankbar.

Viertens. Wir weiten das Tätigkeitsfeld des Einzel-
richters aus. Er entscheidet durchweg in amtsgerichtli-
chen Verfahren. Er soll aber auch dann bei landgericht-
lichen Verfahren zum Einsatz kommen, wenn der Fall
nicht eine besondere Spezialmaterie umfasst. Es macht
Sinn, wenn ein Gremium nur im Falle einer Spezialmate-

rie tätig wird. Aber da, wo das nicht der Fall ist, soll der
originäre Einzelrichter tätig sein.

Wir sind der Meinung, dass in einfachen Spezialfällen
rückübertragen werden kann. Wir sind auch der Auffas-
sung, dass die Tätigkeit des Einzelrichters ausgeweitet
werden kann. Wir sind zudem – fünftens – fest davon
überzeugt, dass die Landesjustizminister – sie tragen
schließlich Verantwortung für die Justiz und können nicht
einfach so daherschwätzen – selbstverständlich dafür sor-
gen werden, dass aufgrund der frei werdenden Stellen
neue Arbeitsplätze bei den Amtsgerichten – also dort, wo
sie hingehören – geschaffen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Noch eine kleine Reminiszenz: Sie haben behauptet,
Sie hätten die Tätigkeit der Einzelrichter in viel höherem
Maße ausgedehnt, Sie hätten sogar die Anfänger, also die
Proberichter, zu Einzelrichtern gemacht. – Das alles
spricht nicht für Ernsthaftigkeit, sondern erklärt, warum
es mit Ihrem Versuch der Modernisierung überhaupt
nichts geworden ist.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir haben in der letzten Legislaturperiode mitgestimmt! Das ist Ihr Entwurf genauso wie meiner!)


Sechstens: das Revisionsrecht.Was Sie hier schildern,
ist falsch. Es ist überhaupt nicht zu bezweifeln, dass ein
oberstes Bundesgericht Grundsatzentscheidungen klären
muss, Rechtsfortbildung im Einzelfall betreiben muss und
die Einheitlichkeit der Rechtsprechung – insofern geht es
natürlich um Qualitätsaspekte – sichern muss. Wer das be-
streitet, der stellt sich nicht nur gegen die Richter des Bun-
desgerichtshofs,


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das macht doch gar keiner!)


sondern – das wissen Sie ganz genau – der weiß nicht, wo-
von er redet. Ich muss wirklich sagen: Einiges von dem,
was Sie hier geboten haben, hätte schon ein bisschen ge-
haltvoller sein können.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)

Es ist schon ganz gut, dass Sie wenigstens anerkennen,

dass mit Zustimmung aller Beteiligten unter Einhaltung
der notwendigen Voraussetzungen der Einsatz von elek-
tronischen Geräten, mit denen heute jeder Anwalt arbei-
tet, jetzt auch bei Gericht möglich sein soll.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417014600
Frau Ministerin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehb?

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Ja.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417014700
Bitte, Herr Kollege
Gehb.


Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1417014800
Da Sie, Frau Ministe-
rin, fragen, ob wir wissen, wovon wir reden: Erklären Sie




Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
16646


(C)



(D)



(A)



(B)


mir bitte, ob es einen Grund gibt, warum ausgerechnet in
der ZPO der Revisionsgrund „entscheidungserheblicher
Verfahrensmangel“, so wie er in der VwGO, in der StPO
und in der Finanzgerichtsordnung besteht, keinen Platz
gefunden hat. Gibt es dafür irgendeine Erklärung? Ich
habe noch nicht gehört, warum dieser Revisionsgrund auf
der Strecke geblieben ist.

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Lieber Kollege, der Wortlaut der von Ihnen ge-
nannten Verfahrensordnungen ist nicht ganz richtig. Las-
sen Sie mich ganz eindeutig sagen: Generell gibt es viele
Gemeinsamkeiten und es gibt manche Unterschiede. Da-
raus erklärt sich – wenn auch nicht in jedem Fall, so doch
in diesem Fall – das, was Sie wahrscheinlich meinen.

Wir kommen jetzt – siebtens – zur Experimentier-
klausel. Herr Röttgen hat hier erklärt, dies sei eine Öff-
nungsklausel, und tut so, als würde er den Unterschied
nicht kennen. Das ist ein bisschen wenig. Sie sollten noch
einmal aufmerken: Wissen Sie, woher der Gedanke der
Experimentierklausel kommt? – Zum einen kommt dieser
Gedanke aus der Praxis in den Ländern, wo man sagt: Wir
brauchen noch etwas mehr Zeit zum Diskutieren. Da uns
daran liegt, im Einklang mit der Praxis vorzugehen, grei-
fen wir diesen Gedanken auf. Zum anderen hat auch der
Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bun-
destages, Professor Scholz, Mitglied der CDU, diese
Überlegung dezidiert vorgetragen. Wenn Sie schon an-
fangen zu polemisieren, dann sollten Sie sich die Stellen,
an denen Sie das tun, ein bisschen glücklicher heraussu-
chen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind der Meinung, dass Sie sehr viel mehr an eige-
ner Aktivität und Initiative hätten einbringen können.
Wenn das geschehen wäre, dann wären wir im Hinblick
auf die nötige Umgestaltung und Modernisierung unserer
Justiz weiter. Jeder, der angesichts der Veränderungen in
der Welt und der damit verbundenen Herausforderungen
die starke Stellung der Justiz bewahren will, jeder, der den
großen Einfluss der Richterinnen und Richter, der unab-
hängigen dritten Gewalt in unserem Rechtsstaat bewah-
ren will, der muss modernisieren. Wenn man mit Ihnen
unter vier Augen redet, dann stimmen Sie uns darin zu.
Warum sind Sie nicht einmal so mutig, stellen sich hier-
her und sagen: Jawohl, das ist so, wir müssen das ge-
meinsam angehen und wollen das auch.

Sie haben erklärt – das ist ihr Problem –, bei der
ZPO-Reform nicht mit uns zusammenzuarbeiten. Wir
werden Ihnen noch viele andere Möglichkeiten geben, das
zu tun. Übrigens: Wir führen die ZPO-Reform in Zusam-
menarbeit mit dem Richterbund, in Zusammenarbeit mit
der Praxis, in Zusammenarbeit mit vielen Amtsrichterin-
nen und Amtsrichtern sowie in Zusammenarbeit mit vie-
len Wissenschaftlern durch.

Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt ans Ende
der Beratungen zu diesem wirklich wichtigen Schritt der
Justizreform – im Rahmen der Modernisierung der Justiz,
die natürlich weitergeht. Deswegen werden Sie mir ge-

statten, dass ich mich bei all denen bedanke, die es anders
gemacht haben als Sie und die wirklich mitgearbeitet ha-
ben:


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das sind die Kolleginnen und Kollegen des Rechtsaus-
schusses, die nicht nur mitreden konnten, sondern in der
Tat jahrelang heftig mitdiskutiert haben. Das sind die Be-
rufsverbände. Das sind weite Bereiche aus Wissenschaft
und Praxis. Das sind viele Länderjustizminister, übrigens
auch solche, die nicht in die Nähe der rot-grünen Mehr-
heit gehören. Vor allem aber will ich mich an dieser Stelle
beim Präsidenten a. D. des Amtsgerichts Stuttgart, Herrn
Netzer, und seiner Gruppe ganz herzlich bedanken, die
eine enorme Arbeit geleistet hat


(Beifall bei der SPD)

und die – lassen Sie mich das einfach noch einmal sa-
gen – im Gegensatz zu vielen aus Ihren Reihen, die wir
gehört haben, die Praxis nun wirklich aus dem Effeff ken-
nen. Wenn Sie mir gestatten, füge ich noch einen Satz
hinzu. Auch der Vorgänger von Herrn Netzer als Abtei-
lungsleiter, Herr Hilger, der in den Ruhestand gegangen
ist, und sein Stellvertreter, der leider viel zu früh
gestorbene Reinhard Schubert, sollen an dieser Stelle be-
dacht werden. Sie haben zusammen mit ganz vielen Kol-
leginnen und Kollegen in der Bund-Länder-Arbeits-
gruppe, die seit Jahren an diesem Projekt arbeitet, eine
gute Arbeit gemacht, und es ist wichtig, dass wir uns auch
an dieser Stelle an sie erinnern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, ich danke all denen, die die-
sen Schritt mit uns gehen. Ich glaube, jetzt kommt es da-
rauf an, in den Ländern – gerade bei den vielen Richte-
rinnen und Richtern, die hier mitmachen wollen und
mitmachen werden – dafür zu sorgen, dass sie auch mit-
machen können. Wir werden jedenfalls in der nächsten
Legislaturperiode den ersten Bericht über die Erfah-
rungen einbringen und dann die nächste Stufe der Moder-
nisierung weitergehen.

Ganz herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417014900
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Norbert
Geis.


(Joachim Stünker [SPD]: Muss das sein?)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1417015000
Frau Ministerin, ich
möchte natürlich nicht auf Ihre ganze Rede antworten,
aber noch einmal in drei Punkten die Gegenposition klar-
machen.

Erstens. Sie vergessen nach meiner Auffassung bei al-
len Ihren Ausführungen immer wieder, dass wir nach dem
Urteil der internationalen Fachwelt eine hervorragend




Dr. Jürgen Gehb

16647


(C)



(D)



(A)



(B)


funktionierende Justiz haben und dass die Fachwelt in
Deutschland größte Bedenken hatte, dass durch Ihre Re-
form diese hervorragend funktionierende Justiz beschä-
digt werden könnte.


(Joachim Stünker [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)


Zweitens. Wir haben in vielen Podiumsdiskussionen,
in vielen Beratungen im Parlament und auch in vielen Be-
richterstattergesprächen unsere Gegenpositionen darge-
tan, zusammen mit den Anwälten, mit den Richtern und
mit anderen Fachleuten aus dem Bereich der Rechtswis-
senschaft. Ergebnis dieses langen Diskussionsprozesses,
an dem wir teilgenommen haben, war, dass Sie wichtige
Positionen Ihrer Reform zurückgenommen haben. Des-
wegen können Sie nicht sagen, wir hätten uns überhaupt
nicht beteiligt. Diese Reform, so wie sie heute auf dem
Tisch liegt – mit der wir immer noch nicht einverstanden
sind –, ist auch ein Ergebnis dieser Diskussion.

Drittens. Es ist richtig, dass in der Kommission für die
Rechtsmittelreform die Dreigliedrigkeit indirekt immer
wieder mitdiskutiert worden ist, und richtig ist auch, dass
sich an den Diskussionen in dieser Kommission Fachleute
aus den Länderministerien beteiligt haben und dass die
Länder zu einer größeren Reform ausholen wollten. Das
ist wahr. Aber wahr ist auch, dass die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion in ihrer Gesamtheit immer an der Vier-
gliedrigkeit festgehalten und sich gegen die Dreigliedrig-
keit gewehrt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417015100
Zur Erwiderung Frau
Ministerin Däubler-Gmelin, bitte.

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Das war ja schon viel besser.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Noten geben, das ist ja unerträglich!)


Wenn man fachlich und sachlich mit jemandem argumen-
tieren will, darf man natürlich nicht solche unernsten
Beiträge halten, wie wir sie vorhin gehört haben. Wenn
Sie angesichts des vereinigten Rechtsraums in Europa
und angesichts all der Herausforderungen, die dadurch
zusätzlich auf uns zukommen – zwei europäische Ge-
richte und zusätzliche Spezialgerichte –, weiter an der
Viergliedrigkeit festhalten wollen, kann ich Sie nur bitten,
diese Position zu überdenken. Sie waren schon einmal
weiter. In Richtung F.D.P. will ich hinzufügen: Herr Pro-
fessor Schmidt-Jortzig, mein Vorgänger im Amt, hat vor
zweieinhalb Jahren auf dem Deutschen Juristentag doch
nicht nur für sich gesprochen, sondern selbstverständlich
auch als Justizminister und damit für die ihn tragende
Mehrheit aus CDU/CSU und F.D.P.

Was also soll das jetzt? Ich habe Ihnen gerade vorge-
tragen, was Herr Eylmann, Herr Scholz und x andere
Leute sagen und was Herr Dombek vor zwei Jahren zur
Überlastung der Justiz, die den kritischen Punkt erreicht
habe, gesagt hat. Wenn das noch nicht genügt, dann will
ich jetzt wiederholen: Wenn Sie der Meinung sind, man

könne 1,5 Millionen Menschen – das sind, wie gesagt, et-
was mehr als drei Viertel aller Rechtsuchenden, die heute
vor Gericht müssen – mit den schlechtesten Bedingungen
abspeisen und das sei eine vorbildliche Justiz, dann kann
ich Sie nur bitten, auch dies zu überdenken.

Nochmals: Wenn jemand heute streitwertbedingt zum
Amtsrichter muss, dann trifft er auf Richterinnen oder
Richter, die in aller Regel hervorragend sind, aber pro Per-
son 750 Fälle im Jahr zu bearbeiten haben.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das wird bei Ihnen noch schlimmer! Jetzt gibt es noch mehr Arbeit!)


Wenn es um 10 000 DM oder mehr geht, dann sind es
170 Fälle und bei den Oberlandesgerichten sind es
69 Fälle. Diese Zahlen kennen Sie alle genau.

Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen: Wenn wir die
Amtsrichterinnen und die Amtsrichter weiterhin als die
Lastesel der Justiz nutzen und ihnen dann auch noch sa-
gen, es sei doch alles toll und es müsse nichts geändert
werden, meinen Sie nicht, dass sich diese Kolleginnen
und Kollegen nicht mehr ernst genommen fühlen


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und dass sie den Eindruck haben, die CDU/CSU habe
keine Ahnung von den Bedingungen, unter denen sie ar-
beiten müssen?

Ich appelliere an Sie, einmal darüber nachzudenken,
ein bisschen von Ihrer Grundhaltung, Nein zu sagen, ab-
zurücken, sich den Sachproblemen zu stellen und mit uns
die Modernisierung der Justiz Punkt für Punkt anzuge-
hen – durch Ihre Zustimmung zu der ZPO-Reform.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417015200
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Helmut Wilhelm für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe diese Woche im „Spiegel“ gelesen, die
ZPO-Reform sei gescheitert; die Kollegen Geis und
Röttgen haben hier ja ins gleiche Horn gestoßen. Zwar
habe ich den „Spiegel“ natürlich noch nie für eine pro-
funde juristische Fachzeitschrift gehalten,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


aber hier liegt er besonders schief.
Ich jedenfalls freue mich, dass wir heute eine neue, mo-

derne und ausgewogene Zivilprozessordnung auf den
Weg bringen können.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Die Kommentare in der „NJW“ und der „JZ“ sind auch nicht besser!)





Norbert Geis
16648


(C)



(D)



(A)



(B)


Viel mehr Verfahren als bisher können zukünftig be-
schleunigt erledigt werden, und zwar endgültig bereits in
erster Instanz – in einer ersten Instanz, die zudem mehr
Zeit und Personalressourcen hat und sich damit sorgfäl-
tiger auseinander setzen kann, als es bisher möglich war.

Das hat ganz einfach damit zu tun, dass ein Amtsrich-
ter heute über 700 Verfahren im Jahr zu bearbeiten hat,
sein Kollege am OLG aber nur 75.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das wird noch schlimmer!)


Was an diesem krassen Missverhältnis erhaltenswert sein
soll, meine Damen und Herren von der Opposition, ver-
mag ich wirklich nicht zu erkennen.


(Rainer Funke [F.D.P.]: Das hat doch keiner behauptet! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Wie wollen Sie das denn ändern?)


Im Gerichtssaal des Amtsgerichts hat der Rechtsuchende
zum ersten Mal mit der Justiz zu tun und dort soll er auch
nachvollziehen können, warum das Gericht so und nicht
anders entscheidet.

Dass der ursprüngliche Entwurf im Lauf des parla-
mentarischen Verfahrens einige Änderungen erfahren
hat – die, nebenbei gesagt, die Grundtendenz nicht verän-
dert haben –, ist doch gerade die Konsequenz sorgfältiger
parlamentarischer Arbeit.

Wir haben mit Vertretern der Fachverbände diskutiert,
mit den Berichterstattern der Opposition, mit Ihnen,
meine Damen und Herren, wir haben im Rechtsausschuss
eine umfangreiche Expertenanhörung durchgeführt und
wir sind bereit, den strittigen Punkt der Berufungszu-
ständigkeit über einen gewissen Zeitraum hinweg zu ex-
perimentieren. So haben die Länder in eigener Zu-
ständigkeit die Möglichkeit, in der täglichen Praxis
herauszufinden, inwieweit unsere Vorstellungen von einer
Konzentration der Berufung bei den Oberlandesgerichten
machbar und zweckmäßig sind. Ich bin mir da ganz si-
cher: Diese Erfahrungen werden letztlich dazu führen,
dass unsere Vorstellungen zum Tragen kommen.

Dass wir Experten angehört haben, dass wir verändert
und berechtigten Vorschlägen Rechnung getragen haben,
das ist doch solide, qualitätsvolle parlamentarische Arbeit
und nicht etwa – wie der „Spiegel“ und auch Sie irriger-
weise meinen – Ausdruck des Scheiterns.

Nein, wer hier gescheitert ist, das ist die Opposition.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Denn wenn ich mir Ihre alten Gesetzentwürfe ansehe,
dann wussten doch auch Sie, dass diese Reform überfäl-
lig war. Aber diese Erkenntnis in Taten umzusetzen, das
haben Sie nie geschafft. Ihr ständiges Drehen an der
Streitwertschraube hat die Situation nur verschlimmert.
Auch heute haben Sie nichts anderes parat als ein simples
Nein.

Eigentlich sollten Sie uns dankbar sein, dass wir end-
lich die überfällige komplette Reform machen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das glauben Sie selbst nicht!)


Die CDU/CSU hatte ja selbst einen Entwurf – ich be-
zeichne ihn jetzt als Klandestinentwurf –, der einige Ähn-
lichkeiten mit unserem aufwies.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Umgekehrt! Ihrer ähnelt unserem!)


Aber der verschwand irgendwo in der Versenkung.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben ja nicht mitgemacht!)

Ich bedanke mich beim Ministerium, ich bedanke mich

bei Ihnen, Frau Ministerin, für die geleistete umfangrei-
che Arbeit. Ich bedanke mich bei den Verbänden, die den
Entwurf durch konstruktive Kritik begleitet haben, die
Regelungsalternativen entwickelt haben und die – siehe
das letzte Gespräch der Berichterstatter aller Fraktionen
mit den Verbänden der Anwälte und Richter – das Gesetz
letztlich als positiv bewertet haben.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Der Ornithologenverband vielleicht!)


Mit Ihrem alternativlosen Nein standen Sie zum
Schluss doch ziemlich allein da.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417015300
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses auf Drucksache 14/6036. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform des
Zivilprozesses in der Ausschussfassung anzunehmen,
Drucksache 14/4722.

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für
den Änderungsantrag auf Drucksache 14/6061? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist gegen
die Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion bei Ent-
haltung der PDS-Fraktion abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die
Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und PDS-Fraktion an-
genommen.

Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und
PDS-Fraktion angenommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss, den Gesetzentwurf der Fraktionen




Helmut Wilhelm (Amberg)


16649


(C)



(D)



(A)



(B)


der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Reform
des Zivilprozesses auf Drucksache 14/3750 für erledigt zu
erklären. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 5:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten

(Recklinghausen)

ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Islam in Deutschland
– Drucksachen 14/2301, 14/4530 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die
CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Ruprecht Polenz.


Ruprecht Polenz (CDU):
Rede ID: ID1417015400
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir debattieren über die Ant-
wort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zum
Islam in Deutschland.

Wir hatten zur Vorbereitung dieser Großen Anfrage
1999 im Deutschen Bundestag eine Anhörung mit führen-
den Vertretern islamischer Verbände veranstaltet; denn
wir wissen, für die Integration der dauerhaft und recht-
mäßig in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Aus-
länder sind Fragen von Kultur und Religion von zentraler
Bedeutung. Die Frage nach dem Islam in Deutschland ist
deshalb eine der Kernfragen einer modernen Integrati-
onspolitik. Daher haben wir uns so intensiv damit be-
schäftigt.

Auf der Grundlage unseres Fragenkatalogs hat jetzt die
Bundesregierung eine umfassende Bestandsaufnahme
über den Islam in Deutschland erarbeitet. Ich möchte der
Bundesregierung dafür danken. Denn aus dieser Antwort
ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für politi-
sche Initiativen des Bundes, der Länder und der Gemein-
den.

Meine Damen und Herren, von unserer heutigen Is-
lamdebatte sollten konkrete Botschaften an die circa
3,2 Millionen Muslime in Deutschland ausgehen:

Erstens. Wir achten und respektieren ihre religiösen
Überzeugungen.

Zweitens. Wir respektieren und achten sie als unsere
Nachbarn in den Städten und Gemeinden. Deshalb inte-
ressieren wir uns für ihren Glauben, für ihre religiösen
Überzeugungen und für die Hochkultur des Islam.

Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes gewährleistet
die Religionsfreiheit in Deutschland auch für Muslime.
Jeder Muslim soll in Deutschland ein Leben nach seinen
religiösen Überzeugungen führen können. Allerdings gel-
ten für Muslime dieselben Schranken und Grenzen, die
sich aus der Wertordnung des Grundgesetzes auch für
Christen und andere Religionsgemeinschaften ergeben.

Wir wollten mit unserer Großen Anfrage auch ermit-
teln, wo in diesem Rahmen ein Leben nach den islami-
schen Geboten in Deutschland noch auf Schwierigkeiten
stößt, damit wir diese Schwierigkeiten überwinden kön-
nen. Wenn man Menschen, die keine Muslime sind, nach
ihrer Einstellung zum Islam fragt, so überwiegen nach
meinem Eindruck zwei ganz gegensätzliche Sichtweisen:
Die einen entwickeln Skepsis und Sorge bis hin zu Angst
vor einer akuten Bedrohung für die christlich-abendländi-
sche Kultur; andere neigen zu einer unreflektierten, nai-
ven Idealisierung und Harmonisierung des Islam.

Einen Grund für diese Idealisierung und Harmonisie-
rung sehe ich darin, dass vor lauter multikultureller Be-
liebigkeit die Vorstellung dafür abhanden gekommen ist,
dass religiöse Überzeugungen auch die Lebenswirklich-
keit nachhaltig und durchaus konflikthaft prägen können.
Man sollte schon ernst nehmen, dass religiöse Glaubens-
wahrheiten auch Absolutheitsansprüche gegenüber Gläu-
bigen formulieren und dass es zu nicht hinnehmbaren
Konflikten kommen kann, wenn diese Absolutheitsan-
sprüche mit durchaus weltlichen Mitteln gegen Anders-
gläubige durchgesetzt werden sollen.

Weil der Islam die Grenzen zwischen Religion und
Politik, zwischen Staat und Religion nicht in gleicher
Weise zieht, wie sich dies bei uns durch Säkularisierung
und Aufklärung herausgebildet hat, müssen wir festhal-
ten, dass in Deutschland die Wertordnung des Grundge-
setzes für die Ausübung aller Religionen gilt. Eine Ein-
führung der Scharia zum Beispiel wäre mit dem
Grundgesetz selbstverständlich nicht vereinbar. Ein sol-
ches Ziel wird – das möchte ich ausdrücklich hinzufü-
gen – allenfalls von einer verschwindend geringen Zahl
der Muslime in Deutschland angestrebt.

Der Generalsekretär des Verbandes der Islamischen
Kulturzentren hat auf einer Anhörung, die die CDU/CSU-
Fraktion zu diesem Thema abgehalten hat, ausdrücklich
auf Folgendes hingewiesen:

Auch in der islamischen Orthodoxie ist anerkannt,
dass Muslime, die in einem nicht islamischen Staat
leben und dort Religionsfreiheit und die übrigen
Grundrechte genießen, ihrerseits zur Loyalität zu
diesem Staat und seiner Rechtsordnung verpflichtet
sind.

Woher kommen Skepsis und Sorge, ja sogar Angst vor
dem Islam? Ich sehe hierfür vor allem drei Gründe:

Es ist erstens vor allem die falsche Gleichsetzung von
islamistischem Fundamentalismus mit dem Islam. Da-
bei geht es den Islamisten um eine Instrumentalisierung
der Religion für politische Zwecke. Die Islamisten wollen
den Islam als Herrschaftsmittel einsetzen und damit ei-
gene Herrschaftsansprüche begründen, in erster Linie
übrigens gegenüber den Regierungen in islamischen Län-
dern, denen sie „unislamisches Handeln“ vorwerfen.

Ein zweiter Grund sind die Terroranschläge, die von is-
lamistischen Organisationen begangen werden, also
Selbstmordkommandos, die auch bei uns Angst auslösen
und die fälschlicherweise dem Islam zugerechnet werden,
obwohl der Islam Terror und Gewalt verbietet.




Vizepräsidentin Petra Bläss
16650


(C)



(D)



(A)



(B)


Nicht zuletzt die Schreckensherrschaft, die die Taliban
in Afghanistan errichtet haben, oder die blutigen Ausei-
nandersetzungen in Algerien wirken auf das Bild ein, das
sich viele vom Islam machen.

Es mag auch sein, dass für manche, die ohne Feindbild
nicht leben können, der Islam an die Stelle des zusam-
mengebrochenen Kommunismus getreten ist.

Hinzu kommt – wie ich meine – eine unvollständige
und damit einseitige Wahrnehmung der gemeinsamen Ge-
schichte, die vor allem die Konflikte und Kriege betont,
von Karl Martell über die Kreuzzüge bis zu den Türken
vor Wien. Übersehen werden dabei Epochen weitgehend
friedlichen Zusammenlebens wie im Spanien zur Zeit der
Omaijaden. Übersehen wird dabei auch, wie viele kultu-
relle Errungenschaften beispielsweise in der Mathematik,
der Astronomie oder Architektur wir der islamischen Welt
verdanken. Vielleicht sollten die Länder auch hier das be-
währte Mittel gemischt zusammengesetzter Schulbuch-
kommissionen nutzen, um die Darstellungen in den Ge-
schichtsbüchern einmal zu überprüfen.

Festzuhalten bleibt, dass es oft Unkenntnis und gegen-
seitiges Unverständnis zwischen Muslimen und der ein-
heimischen, christlich geprägten Bevölkerung gibt. Umso
wichtiger ist deshalb ein Dialog zwischen den Religio-
nen und Kulturen. Aus der Antwort der Bundesregie-
rung geht hervor, dass die beiden christlichen Kirchen
vielfältige Foren für interreligiöse Gespräche anbieten. Es
gibt nachbarschaftliche Begegnungen zwischen Kirchen-
gemeinden und muslimischen Moscheengemeinden und
am „Tag der offenen Moschee“ machen jedes Jahr viele
tausend Gäste von dem Angebot zum besseren Kennen-
lernen Gebrauch.

Manchem dürfte erst durch solche Begegnungen be-
wusst werden, dass es in seiner Nachbarschaft eine Mo-
schee gibt.

Die meisten Gebetsstätten sind bisher nach außen
kaum kenntlich. Sie sind in Wohnhäusern, gewerbli-
chen Gebäuden und Ähnlichem untergebracht ...

heißt es zutreffend in der Antwort der Bundesregierung.
Ich meine, es wäre eine Aufgabe der Kommunen, recht-
zeitig geeignete Grundstücke für den Bau von Moscheen
planungsrechtlich auszuweisen, damit Muslime nicht in
Gewerbegebiete oder Hinterhöfe abgedrängt werden,
wenn sie in ihren Gotteshäusern beten wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich hatte vor einem Jahr die Gelegenheit, die prächtige
blaue Moschee in Isfahan zu besuchen. Man spürt dort,
welche Kraft vom Islam ausgegangen ist, wenn Men-
schen trotz ihrer eigenen Armut über Jahrzehnte und
Jahrhunderte an der Vollendung solcher Bauten gearbei-
tet haben. Ich bin deshalb überzeugt davon, dass Respekt
und Achtung vor der Weltreligion Islam wachsen werden,
wenn die Möglichkeit zur Errichtung angemessener isla-
mischer Sakralbauten in der Stadtplanung berücksichtigt
wird.

Jeder zehnte Schüler an deutschen Schulen bekennt
sich zum islamischen Glauben. Das sind mehr als
700 000. Trotzdem gibt es bis heute in keinem Bundesland
islamischen Religionsunterricht als ordentliches Pflicht-
fach, so wie es katholischen oder evangelischen Unter-
richt gibt. Es ist Sinn und Zweck des Religionsunterrichts,
eine systematische Werteerziehung zu vermitteln, die bei
der persönlichen und gesellschaftlichen Orientierung hel-
fen soll. Dies wird muslimischen Kindern in unseren
Schulen bislang verwehrt. Da hilft auch ein irgendwie ge-
arteter Ethikunterricht wenig, denn ohne die substanzielle
Auseinandersetzung mit dem eigenen Glaubensbekennt-
nis kommen die Schüler leicht in die Gefahr einer undif-
ferenzierten Gleichmacherei oder Gleichgültigkeit, statt
dass sie die jeweiligen Besonderheiten religiöser Über-
zeugungen in ihrer Andersartigkeit tolerant verstehen ler-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich deshalb dafür ein,

dass die Voraussetzungen für die Erteilung von islami-
schem Religionsunterricht als ordentliches Pflichtfach an
öffentlichen Schulen geschaffen werden. Dieser Religi-
onsunterricht soll ein islamisches Selbstverständnis in ei-
ner christlich geprägten Gesellschaft entwickeln helfen.
Er soll jungen Muslimen das Verständnis und die Akzep-
tanz der Wertenormen der deutschen Gesellschaft ermög-
lichen und so dazu beitragen, kulturelle Spannungen ab-
zubauen.

Nun ist bekannt, dass sich der Islam nicht als Kirche or-
ganisiert, mit der man ein Konkordat schließen könnte. Es
wäre deshalb gut, wenn die großen Dachorganisationen
der Muslime in Deutschland, also Zentralrat und Islamrat,
dem Staat als verlässliche Partner für islamischen Religi-
onsunterricht gegenübertreten könnten. Der Zentralrat hat
bereits einen viel versprechenden Lehrplan für einen mus-
limischen Religionsunterricht formuliert.

Wie katholischer und evangelischer Religionsunter-
richt unterliegt auch islamischer Religionsunterricht dem
staatlichen Schulrecht und der staatlichen Schulaufsicht.
Über die Ziele und Inhalte aber entscheiden die Religi-
onsgemeinschaften nach eigenen Maßgaben.

Eine weitere Voraussetzung nach unseren Vorstellun-
gen ist, dass die Unterrichtssprache Deutsch ist, auch
beim islamischen Religionsunterricht. Der Umstand, dass
zwei Drittel der Muslime in Deutschland aus der Türkei
stammen, würde bei einer Durchführung in türkischer
Sprache außerdem „nur“ das türkische Verständnis des
universellen Islam vermitteln und jeden dritten Muslim in
Deutschland ausgrenzen.

Besonders wichtig ist es, dass die Lehrkräfte, die zur
Durchführung des islamischen Religionsunterrichts auto-
risiert werden, möglichst bald eine theologische Ausbil-
dung in Deutschland erhalten.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Langfristig müssen deshalb ordentliche Studiengänge in
islamischer Theologie an deutschen Hochschulen ein-
gerichtet werden.




Ruprecht Polenz

16651


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich weiß, dass beispielsweise die Universität Münster
gern einen solchen Lehrstuhl einrichten würde. Es liegt
jetzt am Land Nordrhein-Westfalen, die dafür erforderli-
chen Mittel bereitzustellen. Bis dahin müssen Übergangs-
regelungen getroffen werden, damit der islamische
Religionsunterricht in absehbarer Zeit Pflichtfach an öf-
fentlichen Schulen in den Bundesländern werden kann.

Allerdings darf man sich von der Einführung des isla-
mischen Religionsunterrichts nicht die Abschaffung von
Korankursen versprechen. Die Korankurse wird es auch
weiterhin geben. Denn dort wird das Rezitieren der Suren
des Korans auf Arabisch unterrichtet – eine für orthodoxe
Muslime obligatorische Pflicht. Anders zu bewerten sind
natürlich die so genannten wilden Korankurse, in denen
Kinder indoktriniert werden. Ihnen muss – unabhängig
von der Einführung islamischen Religionsunterrichts –
mit allen zu Gebote stehenden Möglichkeiten entgegen-
gewirkt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gestatten Sie mir eine Bemerkung zum Schluss: Der
Deutsche Bundestag debattiert heute über den Islam in
Deutschland. Wir wollen dies in einem Geist der Achtung
und des Respekts vor dieser Weltreligion tun.


(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Uns wird bei dieser Debatte bewusst, wie wichtig für
Muslime ihre religiöse Überzeugung ist. Wir spüren, wie
sehr es Muslime verletzen muss, wenn ihre Religion he-
rabgesetzt oder verächtlich gemacht würde. Das, meine
Damen und Herren, gilt übrigens auch für Christen. Es
wäre deshalb ein wichtiger Ertrag unserer Debatte, wenn
wir das allgemeine Bewusstsein auch dafür schärfen
könnten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der F.D.P., des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417015500
Das Wort hat der Par-
lamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.

F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1417015600
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Der Islam ist eine der großen Weltreligionen
und – das muss man sich deutlich machen – fast 3 Milli-
onen Menschen in Deutschland gehören ihm an. Dennoch
– das muss man zugeben – erscheint der Islam der christ-
lich geprägten Mehrheitsgesellschaft oft ein Stück fremd
oder manchmal auch ein Stück bedrohlich.

Die Bundesregierung hat diese Große Anfrage daher
ausdrücklich begrüßt und sie für eine umfassende Be-
standsaufnahme genutzt. Ich möchte an dieser Stelle den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für dieses um-
fangreiche Werk gesorgt haben, ausdrücklich ein Danke-
schön sagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Viele Ängste und Besorgnisse erwachsen aus man-
gelnder Kenntnis des Islams. Information und Aufklärung
sind daher geboten, um Verständnis für die in Deutschland
lebenden Muslime zu fördern. Allerdings darf dabei nicht
übersehen werden, dass es unter ihnen auch Anhänger is-
lamistischer Strömungen gibt, die Anlass zu Sorge geben.
Es ist daher gut, dass sich der Bundestag mit der heutigen
Debatte der Situation der islamischen Minderheit in
Deutschland zuwendet. Ich sage vorweg: Gerade bei die-
sem Thema besteht die Notwendigkeit der Differenzie-
rung.

Wichtig für jede Diskussion über religiöse Fragen ist
der seit der Weimarer Reichsverfassung in Deutschland
endgültig anerkannte Grundsatz der Trennung von Staat
und Kirche.Der Staat darf und soll sich nicht in religiöse
Fragen einmischen. Umgekehrt dürfen Kirchen und Reli-
gionsgemeinschaften nicht für sich in Anspruch nehmen,
staatliches Handeln bestimmen zu dürfen. Auf dieser
Grundlage hat sich in Deutschland ein von gegenseitigem
Respekt getragenes Verhältnis partnerschaftlicher Koope-
ration zwischen dem Staat und den christlichen Kirchen
entwickelt. Die Bundesregierung erwartet von den hier le-
benden Muslimen und ihren Gemeinschaften, dass sie
diese Trennung von staatlichen und religiösen Fragen be-
achten, da dies für ein friedliches Miteinander ganz ent-
scheidend ist. Die Bundesregierung achtet die Ernsthaf-
tigkeit, mit der viele Muslime ihren religiösen Pflichten
nachkommen. Aber ich sage ebenso deutlich: Sie wird
nicht zulassen, dass religiöser Eifer und religiöses Eife-
rertum staatliches Handeln beeinflussen.

Das Grundgesetz gewährleistet in Art. 4 die Glaubens-
und Gewissensfreiheit. Sie umfasst auch das Recht auf
ungestörte Religionsausübung, sei es als Individuum oder
als Gemeinschaft. Zur Religionsausübung gehört auch die
religiöse Vereinigungsfreiheit. Religionsgemeinschaften
können daher die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen
Formen des bürgerlichen Rechts vor allem in der Form
des eingetragenen Vereins erwerben. Diese Rechte gelten
für alle in Deutschland, also auch für die muslimischen
Mitbürgerinnen und Mitbürger, und zwar unabhängig da-
von, ob ihre Herkunftsstaaten ebenso verfahren.

Neben dem Grundrecht auf freie Religionsausübung
gelten die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der
Weimarer Verfassung fort, wonach Religionsgemein-
schaften unter bestimmten Voraussetzungen den beson-
deren Rechtsstatus einer Körperschaft des öffentlichen
Rechts erhalten können. Dieser den islamischen Vereini-
gungen bisher nicht verliehene besondere Status gewährt
einer Religionsgemeinschaft – das muss man sagen –
zusätzliche Vorrechte. Voraussetzung hierfür aber wäre,
dass sich die Muslime eine Organisationsform gäben, die
sie in der Öffentlichkeit wahrnehmbar machte, so wie dies
die christlichen Kirchen und die jüdischen Gemeinden
tun.

Etliche der gestellten Fragen konnte die Bundesregie-
rung aus rechtlichen Gründen nicht oder nur begrenzt be-
antworten. Sie hat die aus dem Grundsatz der Trennung
von Staat und Kirche folgende Pflicht des Staates zur re-
ligiösen und weltanschaulichen Neutralität zu beachten.
Diese Pflicht zur Neutralität verbietet es dem Staat, sich




Ruprecht Polenz
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zu theologischen Fragen zu äußern. Das gilt umso mehr,
wenn diese auch innerhalb der Religionsgemeinschaften
nicht eindeutig geklärt oder sogar strittig sind. Dies gilt
beispielsweise für die in den muslimischen Ländern sehr
unterschiedlich beantwortete Frage zum Verhältnis von
Staat und Religion.

Die Bundesregierung hat deshalb die Fragen zur
islamischen Lehre – das darf ich so formulieren – mit
Zurückhaltung beantwortet. Diese erklärt sich nicht aus
Desinteresse, sondern allein aus der Pflicht zur welt-
anschaulichen Neutralität. Auch viele Fragen zur Religi-
onszugehörigkeit oder Religionsausübung konnte die
Bundesregierung aus rechtlichen, aber insbesondere aus
datenschutzrechtlichen Gründen nicht beantworten.

Wer dies kritisiert, wie zum Beispiel die „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ in einem Bericht vom 28. Fe-
bruar 2001, und behauptet, die immerhin über 90-seitige
Antwort der Bundesregierung zeige vor allem, wie dürf-
tig die Informationen über Leben und Alltag der Muslime
seien, übersieht nach meiner Auffassung wesentliche Fak-
ten. Es liegen keine Daten darüber vor, weil sich, wie be-
reits gesagt, die Muslime keinen Status und damit keine
Auskunft über sich selbst geben. Es liegt und lag nicht am
mangelnden Willen der Bundesregierung.

Nach Art. 30 des Grundgesetzes liegt die Zuständigkeit
für die Angelegenheit der Kirchen und Religionsgemein-
schaften bei den Ländern. Lieber Herr Kollege Polenz,
das darf nicht übersehen werden. Dies gilt für zahlreiche
in der Großen Anfrage gestellte Fragen der Religions-
ausübung. Sie haben beispielsweise Fragen des Religi-
onsunterrichtes in den Schulen und der Einrichtung von
theologischen Lehrstühlen an Hochschulen angespro-
chen. Die Anerkennung einer Religionsgemeinschaft als
Körperschaft des öffentlichen Rechts, die Eintragung re-
ligiöser Vereine in das Vereinsregister, das Friedhofswe-
sen, die Seelsorge in Krankenhäusern und Strafanstalten,
die Erteilung von Baugenehmigungen für religiöse Ge-
bäude sowie die meisten kulturellen Angelegenheiten
müssen in diesem Zusammenhang genannt werden.

Dennoch hat die Bundesregierung nicht einfach auf die
Zuständigkeiten der Länder verwiesen. Im Interesse der
auch aus gesamtstaatlicher Sicht ungemein wichtigen In-
tegration der Angehörigen des Islams hat sie sich um eine
möglichst umfassende Beschreibung der Situation der
Muslime in Deutschland bemüht und daher eine Umfrage
bei den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden
durchgeführt. Deren Ergebnisse wurden in die Antwort
aufgenommen. Hierbei wurden auch Möglichkeiten der
Eingliederung der Muslime und die noch ungeklärten
Probleme deutlich gemacht. Ich möchte an dieser Stelle
ausdrücklich auch den Ländern und dem Deutschen Städ-
tetag für die gute Zusammenarbeit bei der Beantwortung
dieser Großen Anfrage danken.

Für die islamischen Spitzenorganisationen ist die
Frage des islamischen Religionsunterrichts besonders
wichtig. Die Länder haben hierzu entsprechend den je-
weiligen landeseigenen Gegebenheiten verschiedene Mo-
delle entwickelt. In Übereinstimmung mit den christli-
chen Kirchen – auch das sollte gesagt werden – besteht
parteiübergreifend Konsens, dass die Einführung eines re-

gulären islamischen Religionsunterrichts durch den Staat
an staatlichen Schulen sehr wünschenswert wäre. Das
sollten wir auch gemeinsam miteinander umzusetzen ver-
suchen.

Eine Schwierigkeit liegt für die Länder jedoch darin,
dass sie keine muslimische religiöse Gemeinschaft vor-
finden, die auch mit der notwenigen Autorität nach innen
mit ihnen über die Gestaltung des Religionsunterrichts
verhandeln kann. Das erklärt sich wesentlich daraus, dass
es im Islam grundsätzlich keine mitgliedschaftlich ver-
fassten Organisationsstrukturen gibt. Klar ist jedoch, dass
die Muslime die einzelnen Fragen ihrer Religionsaus-
übung im Rahmen unseres föderalen Systems weiterhin
mit den zuständigen Ländern und Kommunen werden
verhandeln müssen.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sieht
vor allem in der Gestaltung der Rahmenbedingungen der
Integration der Zuwanderer eine wichtige Aufgabe der
Politik. Je mehr sich die Zuwanderer und ihre Nachkom-
men in die Gesellschaft integrieren, umso weniger wird
schließlich ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Reli-
gion ein Problem darstellen. Das gilt auch für die musli-
mischen Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.

Über die zahlreichen Einzelmaßnahmen hinaus ist al-
lerdings ein umfassendes Konzept für die Integration der
dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländer erforderlich.
Ich denke, dass gerade die Ergebnisse dessen, was uns in
den nächsten Wochen vorliegen wird – auch im Hinblick
auf die vom Bundesinnenminister eingesetzte Zuwande-
rungskommission –, hier erörtert und diskutiert werden
müssen. Maßnahmen der Integration müssen allen Zu-
wanderern gleichmäßig zugänglich sein; sie dürfen und
müssen jedoch auch die kulturellen und sozialen Beson-
derheiten der einzelnen Zielgruppen berücksichtigen.

Das gilt besonders auch für die unerlässliche Sprach-
förderung. Insoweit ist beispielsweise zu bedenken, dass
viele der in Deutschland lebenden türkischen Männer
Frauen aus der Türkei heiraten, die ohne jegliche
Deutschkenntnisse nach Deutschland kommen. Dies
wirkt sich leider auch auf ihre Kinder aus, die oft nur mit
geringen Deutschkenntnissen in die Grundschulen kom-
men. Aber das Beherrschen der deutschen Sprache ist eine
gute und notwendige Voraussetzung für eine gelungene
Integration; deswegen muss dort auch ein Schwerpunkt
liegen.

Im Bereich der inneren Sicherheit gilt es, sich einge-
hend mit bestimmten Erscheinungsformen des Islams zu
befassen. Die Antwort auf die Große Anfrage listet daher
eine Reihe islamistischer Organisationen auf, die der Ver-
fassungsschutz beobachtet. Ich möchte hier auch deutlich
sagen, dass die Bundesregierung im Einzelfall sogar das
Verbot besonders gefährlicher islamistischer Vereine er-
wägt, denn wir sind der Auffassung: Deutschland darf
kein Tummelplatz für islamistische Extremisten werden.

Es ist aber sehr darauf zu achten, meine Damen und
Herren, dass der Islam als Religion in seinen vielen Fa-
cetten und unterschiedlichen kulturellen Traditionen kei-
neswegs mit seiner ideologisch-extremistischen Instru-
mentalisierung durch einige islamistische Strömungen




Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper

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und Organisationen gleichgesetzt werden darf. Die Zahl
der Mitglieder islamistischer Organisationen in Deutsch-
land beläuft sich zurzeit auf circa 31 000 Muslime. Die
Gefahren, die von dieser Minderheit ausgehen können,
nehmen wir sehr ernst. Diese dürfen und sollten aber nicht
dazu benutzt werden, Feindbilder aufzubauen.

Allerdings sollte den muslimischen Mitbürgerinnen
und Mitbürgern auch bewusst sein, dass ein Beitritt oder
eine Unterstützung solcher Organisationen einem fried-
lichen Zusammenleben in dieser Gesellschaft nicht för-
derlich ist. Selbst die scheinbar harmlose Inanspruch-
nahme der verlockenden sozialen Aktivitäten solcher
islamistischer Gruppen erschwert letztendlich die ge-
wünschte Integration.

Für den Dialog mit dem Islam gibt es auf Bundesebene
leider bisher keinen inländisch organisierten Gesprächs-
partner mit der nötigen Autorität nach innen. Nach dem
im Sommer 2000 erfolgten Austritt des Verbandes der
Islamischen Kulturzentren aus dem Zentralrat der Mus-
lime gibt es zurzeit fünf islamische Spitzenorganisa-
tionen, von denen allerdings keine für alle oder eine klar
abgrenzbare Gruppe für die Muslime repräsentativ ist.
Das ist in der Tat ein Problem.

Zudem kann die Bundesregierung nicht mit Organisa-
tionen sprechen, die die Verfassungsschutzbehörden als
islamistisch einstufen oder die von islamistischen Grup-
pierungen gesteuert werden. Sie kann auch nicht mit
Organisationen verhandeln, die mit ausländischen staat-
lichen oder parteilichen Strukturen personell und organi-
satorisch eng verbunden sind. Wir wollen es mit Ge-
sprächspartnern zu tun haben, die uns glaubwürdig dartun
können, dass sie ihre Angelegenheiten und Probleme aus
eigener Kraft in Deutschland, innerhalb unserer rechtli-
chen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, regeln wol-
len.

Eine vernünftige Eingliederung ist für eine friedliche,
zivile Bürgergesellschaft unerlässlich. Dabei müssen die
Menschen aufeinander zugehen. Zu diesen Voraussetzun-
gen gehört, dass die Muslime – ebenso wie alle anderen
Zuwanderer – die Sprache des Landes lernen, die Grund-
elemente der Verfassung annehmen und organisatorische
Strukturen entwickeln, die es ermöglichen, gemeinsam
berührende Fragen auf allen Ebenen im Dialog zu klären.
In den Ländern gibt es dazu bereits Ansätze. Hier haben
sich Muslime oft in Organisationen zusammengefunden,
die die zu klärenden Fragen – also Fragen des islamischen
Religionsunterrichtes, der muslimischen Bestattungen
oder der Gefangenenseelsorge – konkret mit den zustän-
digen Behörden vor Ort verhandeln. Erinnert sei an den
vor Ort stattfindenden christlich-islamischen Dialog; das
ist bereits erwähnt worden. So können sich langsam ver-
trauensvolle Gesprächsbeziehungen entwickeln. Aufbau-
end auf diesen Erfahrungen können dann repräsentative
und kooperative Spitzenorganisationen eingerichtet wer-
den. Gegenseitiges Voneinanderlernen und gegenseitiges
Voneinanderwissen bewahrt uns vor Vorurteilen und för-
dert somit die Toleranz im Miteinander.

Bundestagspräsident Thierse hat in seiner kürzlich ge-
haltenen Rede „Islam und der Westen“ zu Recht auf ein
Sprichwort griechischen und arabischen Ursprungs hin-

gewiesen: „Der Mensch ist der Feind dessen, was er nicht
kennt.“ Damit wir kulturelle Vielfalt nicht als Bedrohung,
sondern als Bereicherung erfahren, muss in Bildung und
Erziehung einiges mehr getan werden. Ich denke, dass wir
diesen Dialog suchen müssen. Wir sind dazu bereit und
bieten an, die Probleme gemeinsam anzugehen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417015700
Das Wort hat nun für
die F.D.P.-Fraktion der Kollege Dr. Edzard Schmidt-
Jortzig.


Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (FDP):
Rede ID: ID1417015800
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir,
dass ich bei diesem sehr grundsätzlichen Thema zunächst
einmal den Blick auf uns selbst richte, auf das Eigenver-
ständnis, das aus Fragen und Antworten spricht. In
Deutschland und der deutschen Bevölkerung wird als Un-
terscheidungsmerkmal nicht auf Herkunftsländer oder
Staatsangehörigkeit abgestellt, sondern auf eine Reli-
gionszugehörigkeit; so als würde Deutschland im Übri-
gen oder überhaupt von einer – eben von einer anderen –
Religionszuordnung bestimmt, und zwar natürlich, wie es
auch allenthalben zwischen den Zeilen hervortritt, vom
Christentum.

Bei einer solchen Anfrage und einer solchen grundsätz-
lichen Diskussion sollten wir einmal innehalten und ein
nüchternes kritisches Auge auf die Realitäten haben.

Zweifellos ist Deutschland ein Land, das auf dem kul-
turgeschichtlichen Sockel des Christentums steht und si-
cherlich auch christlich geprägt ist. Das wird man nach
wie vor sagen können. Aber schon bei der Formel „ein
christliches Land“ melden sich manche Zweifel. Jeden-
falls ist die Zahl der Mitglieder der christlichen Reli-
gionsgemeinschaften und namentlich der beiden großen
christlichen Kirchen kontinuierlich zurückgegangen. Nun
muss das allein noch nicht viel besagen; denn christliches
Bekenntnis kann sich theoretisch auch außerhalb der offi-
ziellen und traditionellen Gruppierungen entfalten und
die Flucht aus der förmlichen Mitgliedschaft kann auch
ganz profane Gründe haben wie den, von der Kirchen-
steuer befreit zu sein. Ein Austritt ist aber immer ein Be-
leg für innere Entfremdung bzw. mindestens für deren An-
fang.

Die generell wachsende Gleichgültigkeit gegenüber
christlich-kirchlichen Belangen in der Gesellschaft lässt
sich allenthalben feststellen. Dabei ist meines Erachtens
die Suche nach transzendentalem Halt im Leben sicher-
lich nicht weniger wichtig für die Menschen auf dieser
Welt geworden. Man mag sogar meinen, die Hektik, die
mit der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung ein-
hergeht, die Unermesslichkeit vieler moderner Problem-
stellungen oder schlicht die Vereinsamungstendenzen in
der Massengesellschaft hätten die Orientierungsbedürf-
tigkeit eher wachsen lassen. Aber offensichtlich erfüllen
die christlichen Kirchen – das gilt nicht nur für sie, son-




Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
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dern für alle – die Bedürfnisse kaum noch so unange-
fochten, wie es früher einmal der Fall gewesen ist. Jeden-
falls tummeln sich auf diesem Feld immer mehr so ge-
nannte Jugendreligionen, Meditationskulte und weltliche
Heilslehren. Aber auch andere Religionen finden ihre An-
hänger.

Nach der deutschen Wiedervereinigung – ich erinnere
mich noch sehr genau an den Zungenschlag der damali-
gen Kommentierungen – hat man gesagt, Deutschland sei
nun evangelischer geworden; denn zahlenmäßig hatte die
evangelische die römisch-katholische Kirche überflügelt.
Aber die Größenordnungen sind relativ und die Zahl der
Mitglieder dieser beiden Kirchen hat abgenommen. Real
gesehen wurde Deutschland nicht evangelischer, sondern
atheistischer. Den wenigen und überdurchschnittlich akti-
ven Christen aus der ehemaligen DDR stehen ungleich
mehr unchristliche, ja, areligiöse Menschen gegenüber,
die teils transzendental uninteressiert oder teils aktiv in
weltlich-materialistischen Werteordnungen befangen
sind.

Dass nun gleichzeitig die Zahl der islamischen Reli-
gionsgemeinschaften in Deutschland aufgrund von Zu-
wanderung und generativer Verbreiterung enorm gestie-
gen ist, ist eine ergänzende Entwicklung. Auch sind
gewiss etliche Bekehrungen bzw. Konvertierungen zum
Islam zu verzeichnen. Jedenfalls sind die Muslime in
Deutschland durchaus nicht mehr ethnisch homogen. Ihre
Herkunft lässt sich nicht länger nur auf den Orient oder
auf Nordafrika beschränken. Dass die islamischen Reli-
gionsgemeinschaften längst die größte nicht christliche
Religionsgruppe in Deutschland ausmachen und zahlen-
mäßig eine beachtliche Größe erlangt haben, ist allenthal-
ben bekannt. Die Bundesregierung geht in ihrer Antwort
auf die Große Anfrage der CDU/CSU von circa 3 Milli-
onen Mitgliedern aus.

Zum Verhältnis zum „Islam in Deutschland“, so lautet
die Überschrift der Großen Anfrage der CDU/CSU-Frak-
tion und der Antwort der Bundesregierung, ist zunächst
eindeutig festzustellen, dass ihm volle Toleranz zusteht.
Deutschland ist nicht nur a limine ein laizistischer Staat,
sondern auch ein religiös und weltanschaulich neutrales
Gemeinwesen. „Es besteht keine Staatskirche“, steht in
der Verfassung, wenn auch nur in den Fußnoten, weil es
eine der übernommenen Formeln aus der Weimarer Zeit
ist. Weiter heißt es:

Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher
Rechte

– in Deutschland –
sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind
unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.

In concreto hat der festgestellte Sachverhalt nun je-
denfalls spezielle wie generelle Folgen. Auf diese will ich,
wenn ich darf, noch kurz eingehen.

Erstens. Ganz praktisch bedeutet die staatliche Pflicht
zur unparteilichen Pflege und Ermöglichung geistlicher
Entfaltung der Menschen etwa, dass islamische Reli-
gionsgemeinschaften den gleichen Rechtsstatus bean-

spruchen können, wie ihn die christlichen Kirchen haben,
also den einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft.


(Beifall bei der F.D.P.)

Auf die verwaltungsrechtlichen Schwierigkeiten, die

das macht, wurde schon hingewiesen. Die deutsche Ver-
waltung muss aber wohl, da die Lebenssachverhalte in un-
serem Lande nun einmal so sind, wie sie sind, hier um-
denken und manche ihrer überkommenen Vorstellungen
von den Formvoraussetzungen überdenken. Denn diese
Formvoraussetzungen, die wir bisher als selbstverständ-
lich angesehen haben, können von den islamischen Ge-
meinschaften ihrer Identität nach so nicht erbracht werden.
Vielleicht sollte man den Regelstatus einer öffentlich-
rechtlichen Körperschaft ohnehin durch eine eigenstän-
dige Verbandsrechtsform ersetzen. Das gäbe jedenfalls
die Gelegenheit, öffentlich-rechtliche Körperschaft durch
einen viel spezifischeren Status auszutauschen; denn öf-
fentlich-rechtliche Körperschaft ist auch schon jetzt für
Religionsgemeinschaften kein optimales Instrument.


(Beifall bei der F.D.P. und des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zweitens. Eine andere Konsequenz ist natürlich – auch
darauf wurde schon vielfach hingewiesen, und hier gilt,
wie ich finde, Ähnliches wie zu dem Punkt, den ich eben
angeschnitten hatte –, dass auch die Muslime einen Schul-
religionsunterricht verlangen dürfen. Auch hier freilich
sind gegebenenfalls die vertrauten Strukturen, in denen
der Staat diesen Unterricht mit einer betreffenden Reli-
gionsgemeinschaft vereinbart, vorhält und garantiert, zu
modifizieren und den neuen Gegebenheiten anzupassen.
Jedenfalls ist es meines Erachtens nicht mehr zulässig,
dieses Problem aus den alten Bunkern heraus anzugehen.

Drittens. Generelle Folgerung aus der neuen Wirklich-
keit in Deutschland schließlich ist, dass der Islam hierzu-
lande deutlicher zur Kenntnis genommen werden muss,
dass ihm gegenüber die noch immer vorhandene öffentli-
che Ignorierung und Ausgrenzung aufhören und dass ein
Klima des gegenseitigen Interesses und des Dialogs – in
geistlicher wie geistiger Auseinandersetzung natürlich,
aber in Partnerschaft – beginnt. Die gemeinsamen Wur-
zeln lassen sich verdeutlichen. Vielleicht könnte gar eine
„abrahamische Erörterung“ geführt werden.

In verschiedenen Punkten kann gewiss auch fruchtbare
Kooperation erfolgen. Hoffnungsvoll stimmt etwa – ich
kann das jedenfalls ganz persönlich sagen – die Erfah-
rung, die im Rahmen der Europaratsbemühungen um bio-
medizinische Grenzsetzungen zu machen war. Hier stellte
sich nämlich heraus, dass beispielsweise die monotheisti-
schen Religionen mit ihren festen Vorstellungen vom
göttlich bestimmten und mit unverwechselbarer Identität
ausgestatteten Menschen sehr entschieden am gleichen
Strang zogen.

Quintessenz: Toleranz, Akzeptanz und Einbezug heißt
also die Devise –und nicht mehr Indifferenz und Verdrän-
gung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)





Dr. Edzard Schmidt-Jortzig

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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417015900
Nächster Redner ist
der Kollege Cem Özdemir für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417016000
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir
werden dem Islam in seinem gesamtgesellschaftlichen,
zivilisatorischen Kontext nur dann gerecht, wenn wir be-
greifen, dass der Islam im Prinzip kein Problem mit Plu-
ralismus hat, im Prinzip kein Problem mit Rationalismus
und auch mit Wissenschaft hat.

Kollege Polenz hat bereits darauf hingewiesen, welche
Rolle der Islam in der Vergangenheit spielte. Im mauri-
schen Spanien beispielsweise ist das zustande gekommen,
was wir heute Abendland, was wir heute westliche mo-
derne Zivilisation nennen. Vieles von dem, was wir heute
in unseren Schulen über die griechische Antike lehren und
lernen, verdanken wir dem maurischen Spanien, dass
nämlich vieles an Wissen nicht verloren gegangen ist, das
sonst heute nicht mehr bestehen würde. Es ist der Islam,
der häufig mit dem Islam, wie er uns heute entgegentritt,
einem eher bäuerlich geprägten Volksislam, verwechselt
wird. Man darf diesen Islam nicht mit dem Islam ver-
wechseln, wie er uns in der Vergangenheit entgegentrat.

Islamische Gesellschaften haben gerade in der zivilisa-
torisch bedeutsamen Blütezeit Platz für Menschen gehabt,
die nicht Teil des Islams waren, die andersgläubig waren,
die nicht praktizierten. Man kann nicht von einem streng
islamisch-monolithischen Gesellschaftsaufbau sprechen.

Wie sonst wäre erklärbar, dass in der Blütezeit des Is-
lam jemand wie Hafis seine schönsten Gedichte geschrie-
ben hat? Ich weiß nicht, wer von Ihnen schon einmal Ge-
dichte von Hafis aus dem heutigen Iran gelesen hat. Sie
sind sehr zu empfehlen. Die Gedichte von Hafis sind
wahrscheinlich ohne den Einfluss von recht viel Rotwein
gar nicht zu erklären.

In diesen Kontext gehört auch die Geschichte von
Nasreddin Hodja, die man sich vom Balkan bis an die
Grenzen Westchinas erzählt. Diese Gedichte, die sehr viel
Obrigkeitskritik enthalten, wären nicht ohne einen sehr li-
beralen Zeitgeist zu verstehen, der damals geherrscht ha-
ben muss.

Ebenfalls sehr ans Herz legen möchte ich Ihnen die
Bektaschiden-Witze oder Bektaschiden-Geschichten,
die man in unserem Kulturkreis leider viel zu wenig
kennt. Die in ihnen enthaltene Kritik an der religiösen Ob-
rigkeit und der staatlichen Führung spricht für einen – im
Vergleich zu dem, was damals in Europa vorgeherrscht
hat – sehr liberalen Zeitgeist.

Wenn wir hingegen von Fundamentalismus sprechen,
dann dürfen wir diesen – darauf haben meine Vorredner
eindrücklich hingewiesen – nicht mit dem gesamten Islam
gleichsetzen. Der Versuch von frommen, orthodoxen Mus-
limen, einen uniformen Islam zu kreieren, muss zurück-
gewiesen werden. Dieser Versuch, den es in der Ge-
schichte des Islam immer gab, wird der Breite des Islam
nicht gerecht.

Ich muss deshalb aber auch einen Teil dessen korrigie-
ren, was meine Vorredner gesagt haben. Es war sicherlich
sehr gut gemeint. Aber der Wunsch nach einer islami-
schen Dachorganisation, die analog zu den christlichen
Amtskirchen aufgebaut ist, wird das Gegenteil dessen be-
wirken, was wir wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Ich kann sehr gut verstehen, dass gerade die Landesregie-
rungen den Wunsch verspüren, einen Ansprechpartner
auf Landesebene zu bekommen, mit dem man den Reli-
gionsunterricht und viele andere praktische Probleme, die
in einer Zivilgesellschaft geregelt werden müssen, regeln
kann. Aber wir dürfen vom Islam nicht Dinge verlangen,
die nicht Bestandteil des Islam sind. Das Bild des Christen-
tums – das Jesuswort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers,
und Gott, was Gottes ist“ – ist nicht 1:1 auf den Islam
übertragbar. Eine vergleichbare, volkskirchenartige
Struktur sollte deshalb vom Islam nicht verlangt werden.
Die Konsequenz daraus wäre eher, dass die Gruppen sich
durchsetzten, von deren Durchsetzung wir nicht unbe-
dingt begeistert wären.

Gerade weil das so ist, ist eine Quantifikation, wie viele
Muslime in Deutschland und in Europa leben, sehr
schwierig. Wer ist denn, bitte schön, Muslim? Welche In-
stitution definiert, wer Muslim ist? Ich bin mit meiner Ge-
burt Muslim geworden. Die Tatsache, dass meine Eltern
Muslime sind, macht mich zum Muslim. Um Muslim zu
sein, genügt bereits ein Satz: „Al-hamdu-li-llahi, Müslü-
manim“ – „Allah sei gepriesen, ich bin ein Muslim“. Das
Verlassen des Islam ist nur durch Konversion oder Tod
möglich; das muss beides nicht unbedingt sein. Daher rate
ich dazu, bei der Diskussion zu berücksichtigen, dass wir
es mit einer völlig anderen Struktur zu tun haben und dass
die Strukturen des Islam im Hinblick auf Eintritt und
Austritt nicht mit denen des Christentums vergleichbar
sind. Insofern sollten wir den Anspruch aufgeben, das zu
definieren.

Wie schwierig das ist, erkennt man an einer Meldung
der Nachrichtenagentur ddp von heute. Daran sieht man,
dass auch die Journalisten sich damit sehr schwer tun. Da
wird eine Abgeordnete genannt, und die Rede ist von der
„einzigen bekennenden Muslimin“ im Deutschen Bun-
destag. Mir war bisher nicht bekannt, das wir eine Art Re-
ligionspolizei im Deutschen Bundestag oder wo auch im-
mer in der deutschen Gesellschaft haben. Daran sehen
Sie, wie schwer wir uns mit der Definition tun.

Wir sollten islamistischen, orthodoxen Organisationen
nicht erlauben, zu definieren, wer Muslim ist und wer kein
Muslim ist. Wir sollten ihnen nicht erlauben, zu definie-
ren, dass der Muslim eine bestimmte Religionspraxis ha-
ben muss, damit er als gläubiger Muslim gelten kann. Wir
sollten aber gleichzeitig auch selber diesen Anspruch
nicht erheben. Nur dann kommen wir der Aufgabe nach,
die wir in der Demokratie zu leisten haben, nämlich dass
wir diejenigen in der säkularen Gesellschaft schützen, die
sich zwar Muslime nennen, deren religiöse Praxis sich
aber diametral von der Praxis orthodoxer Muslime un-
terscheidet. In der Demokratie muss es also möglich sein,
dass Menschen nicht bzw. anders praktizieren. Es muss






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möglich sein, dass einige Menschen den Ramadan ein-
halten, während dies andere nicht tun. Beides muss in der
Demokratie erlaubt und möglich sein. Diesen Schutz zu
gewährleisten ist unsere Aufgabe als Demokraten.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417016100
Herr Kollege
Özdemir, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Eckart von Klaeden?


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417016200

Gerne.


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1417016300
Herr Kollege
Özdemir, ich stimme dem, was Sie zuletzt gesagt haben,
in allen Punkten zu. Zu der aufklärerischen Tradition, zu
der auch Sie sich gerade bekannt haben, gehört gerade
auch, dass der Staat keine religiösen Inhalte definieren
soll. Wie schaffen wir es, einen Partner zu finden, mit dem
der Staat Übereinkünfte zur Ausgestaltung des Religions-
unterrichtes treffen kann? Da der Staat diese Aufgabe
nicht übernehmen soll, wird es ja ohne einen Partner nicht
gehen können.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417016400
Die
Frage ist völlig berechtigt. Man muss deshalb das Ge-
spräch mit den unterschiedlichsten Organisationen su-
chen. Der Islam in der Bundesrepublik Deutschland ist
heterogen, so wie er auch weltweit heterogen ist. Es gibt
Muslime aus unterschiedlichen Ländern, die unterschied-
liche Sprachen sprechen – darauf hat Kollege Polenz be-
reits hingewiesen – und unterschiedlichen Konfessionen
angehören. Innerhalb der jeweiligen Konfessionen gibt es
unterschiedliche Rechtsschulen und Sekten. Dies ist
übrigens ein Phänomen, mit dem wir es sehr häufig zu tun
haben. Viele Phänomene, die uns ärgern, sind auf Sekten
und nichts anderes zurückzuführen. Diese mit dem Islam
gleichzusetzen wäre ungefähr genauso, als wenn Sie eine
christliche Sekte mit dem Christentum gleichsetzten. Ich
glaube, das sollten wir weder beim Christentum noch
beim Islam machen. Sie haben es auch nicht getan.

Es wird uns nicht erspart bleiben, dass wir das Ge-
spräch mit vielen, nicht nur mit einer Organisation su-
chen. Insofern stimme ich mit dem überein, was alle hier
gesagt haben. Auf der Basis der Werte unserer Verfassung,
die von Muslimen, Juden, Christen, Atheisten, von allen
getragen werden kann, muss man sich mit unterschiedli-
chen Organisationen über die Frage des Religionsunter-
richts unterhalten. Ich stimme auch hier mit dem Kollegen
Polenz überein, dass dieser Religionsunterricht in deut-
scher Sprache von Lehrern, die bei uns ausgebildet wur-
den, durchgeführt werden muss. Selbstverständlich wer-
den wir dabei die Erkenntnisse der al-Aksa-Moschee
und der Theologischen Fakultät von Istanbul einbezie-
hen. Die Theologen werden aber hier in deutscher Spra-
che ausgebildet. Diese werden in Deutschland unter der
Verantwortung des jeweiligen Kultusministeriums die
Kinder im Vormittagsunterricht und nicht in der Weise ei-
nes Konsulatsmodells unterrichten. Ich glaube, so kom-
men wir auf den Weg, den wir alle gemeinsam gehen wol-
len.

Warum ich in dieser Frage so insistiere, will ich an ei-
nem Beispiel deutlich machen. Mir scheint es, dass sich
hier ein weit verbreiteter Irrtum eingeschlichen hat, dass
nämlich Säkularismus und die Verteidigung des Laizis-
mus mit einer autoritären Struktur gleichgesetzt wird. Als
Beispiel dafür wird gerne die Türkei angeführt. Es waren
nun gerade die Putschisten des 12. September 1980 in der
Türkei, die dort den zwangsweisen muslimisch-sunniti-
schen Religionsunterricht eingeführt haben, zu Beginn
übrigens auch für die Christen. Heute noch ist dieser Un-
terricht für alevitische Kinder verpflichtend. Sie müssen
sich vorstellen, dass Sie in der Schule im Religionsunter-
richt lernen, dass die Religionsgemeinschaft, der Sie an-
gehören, etwas Verwerfliches ist. Ich möchte verhindern,
dass das auf deutschem Boden – egal, wer in welchem
Land regiert – oder wo auch immer in Europa geschieht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)


Wir haben eine Verantwortung für die Heterodoxen
und für die Minderheiten im Islam, ob es die Bahai oder
die Aleviten sind. Auch für deren Schutz sind wir gewählt.
Deren Rechte müssen wir durchsetzen und verteidigen. Es
kann in der Demokratie keinen Alleinvertretungsan-
spruch geben. Keiner der so genannten Dachverbände
kann den Anspruch erheben, dass er allein für alle Mus-
lime in der Bundesrepublik Deutschland spricht. Genauso
wenig wie die katholische Kirche den Anspruch erheben
kann, dass sie auch für die Protestanten spricht, kann es
die protestantische Kirche für andere. Dieses gilt übertra-
gen auch für den Islam.

Ich möchte das zusammenfassen, was ich gesagt habe:
Es muss ein Dialog mit allen Organisationen auf der Ba-
sis des Grundgesetzes stattfinden, Alleinvertretungsan-
sprüche müssen zurückgewiesen werden. Das Recht, ein
Bild zu definieren, wie der Muslime zu sein hat, hat nie-
mand. Ein solches gilt es ebenso zurückzuweisen. Die is-
lamische Theologie gewährt niemandem eine Defini-
tionsgewalt. Das Kalifat gibt es nicht mehr; auch wir
werden es nicht einführen. Deshalb hat niemand das
Recht, zu sagen, dieser sei ein guter Muslim und diese sei
eine schlechte Muslima. Unsere Demokratie muss dafür
Sorge tragen, dass die Menschen, die bei uns leben, unab-
hängig von ihrer Herkunft – es gibt zunehmend auch deut-
sche Muslime, Menschen, die hier geboren sind und mus-
limischen Glaubens sind – bei uns geschützt sind.

Ich will verhindern, dass folgende Situation in der
Bundesrepublik Deutschland Realität wird: In der Türkei
gibt es Gebiete, wo der religiöse Druck besonders groß ist,
weil die Orthodoxen in der Mehrheit sind. Dort stehen
Menschen – vor allem beispielsweise Aleviten – im Fas-
tenmonat morgens auf und schalten das Licht ein, damit
es so aussieht, dass sie sich an die im Fastenmonat gel-
tenden Regeln halten. Die Nachbarn sollen nicht den Ein-
druck haben, sie seien schlechte Muslime oder sie würden
den Islam nicht praktizieren. Diese Situation wird Gott
sei Dank auch in der Türkei kritisiert. Ich möchte verhin-
dern, dass diese Situation in Deutschland eintritt, dass
nämlich in bestimmten Quartieren Menschen der Mei-
nung sind, dass sie nur dann als gute Muslime von ihrer




Cem Özdemir

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(C)



(D)



(A)



(B)


Nachbarschaft akzeptiert werden, wenn sie eine be-
stimmte Praxis des Islam beachten. Es ist unsere Aufgabe,
das zu verhindern.


(Beifall der Abg. Ingrid Holzhüter [SPD])

Ich glaube, dass diese Gesellschaft eine Chance hat,

einen Dialog in Gang zu setzen. Dazu sind wir alle aufge-
rufen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den ka-
tholischen Theologen Küng, der mit seinem Weltethos-
projekt – das ist meines Erachtens ein sehr wichtiges
Projekt, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde – einen
Gesprächsprozess in Gang gebracht hat. Dieses Projekt
wird von vielen Theologen, auch von islamischen Theolo-
gen, unterstützt. Es ist gut, dass gerade in Deutschland
dieser Dialog geführt wird. Darin liegt eine große Chance.

Wir dürfen allerdings nicht den Fehler machen, den
Eindruck zu erwecken, uns würde es darum gehen, eine
Art deutschen Islam zu schaffen. Dieses ist theologisch
nicht haltbar. Der Staat hat nicht das Recht und auch nicht
die Aufgabe, zu definieren, welches die richtige und wel-
ches die falsche Religion ist. Wir müssen den Muslimen
hier die Chance geben, eine eigene Glaubenspraxis zu ent-
wickeln.

Das Gespräch zwischen Juden, Muslimen, Christen,
Atheisten und Andersgläubigen in der Bundesrepublik
Deutschland kann eine Chance sein, den weltweiten Dia-
log der Weltregionen zu fördern, wenn es darum geht,
die Schöpfung zu bewahren und sich für den Weltfrieden
sowie für die Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen. An-
gesichts der Versäumnisse in der Vergangenheit und der
Aufgaben in Gegenwart und Zukunft haben die großen
Buchreligionen eine gemeinsame Verantwortung, sich
stärker für den Dialog einzusetzen und sich dem Druck
der Politik, die in vielen Ländern versucht, die Religion
für ihre Zwecke zu missbrauchen, entgegenzusetzen.

Es liegt mir sehr viel daran festzustellen: Das Zusam-
menleben von Muslimen, Christen, Angehörigen anderer
Glaubensgemeinschaften, aber auch Konfessionslosen
kann nicht auf der Grundlage einer virtuellen abendlän-
dischen Identität aufgebaut werden. Kollege Polenz hat
bereits darauf hingewiesen, wie sich diese abendländische
Identität aus unterschiedlichsten Quellen gespeist hat und
wahrscheinlich auch in Zukunft speisen wird. Wenn wir
versuchen, die europäische oder auch die deutsche Iden-
tität quasi als Erbengemeinschaft von Karl Martell oder
Prinz Eugen zu konstituieren, dann grenzen wir damit
Menschen aus, die muslimischen, jüdischen oder anderen
Glaubens sind. Darum sollte man diesen Versuch zurück-
weisen.

Die Sicherung des christlichen Abendlandes gegen den
Islam gehört der Vergangenheit an; darum geht es heute
nicht mehr. Siege über Mauren und Türken dürfen nicht
das moderne Bild einer kulturell vielfältigen Gesellschaft,
wie wir sie in der Bundesrepublik Deutschland längst ha-
ben, prägen. Wer so denkt, verhält sich etwa so wie die
nordirischen Protestanten, die noch heute in provozie-
renden Umzügen die Siege Wilhelm von Oraniens gegen
die Katholiken feiern.

Das konstituierende Element Europas ist gerade der
Gedanke der Vielfalt. Deshalb gilt: All diejenigen, die

sich zu den Werten unseres Grundgesetzes bekennen, sind
in diesem Land willkommen. Wenn sie hier leben, dann
sind sie Teil unserer Gesellschaft, egal, welchen Glaubens
sie sind. Deshalb ist der Islam Bestandteil Europas ge-
nauso wie der Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417016500
Jetzt spricht der Kol-
lege Dr. Heinrich Fink für die PDS-Fraktion.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1417016600
Sehr verehrte Frau Präsi-
dentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit der
vorliegenden Drucksache 14/4530 ist mehr als nur eine
Antwort auf die Große Anfrage der Abgeordneten der
CDU/CSU-Fraktion geleistet worden. Damit sind erstma-
lig wichtige Informationen zusammengestellt und zu-
gänglich gemacht worden, die bisher im Bedarfsfall nur
unzulänglich und dank aufwendiger Recherchen erlangt
werden konnten. Leider kann ich in der kurzen Zeit, die
mir hier zur Verfügung steht, nicht auf die großen Leis-
tungen eingehen, sondern nur meinen Respekt erweisen.

Der durch die Anfrage bedingte Frage-Antwort-Stil
des vorliegenden Textes ist eine begrüßenswerte Lese-
erleichterung und Informationsquelle, nicht nur für Inter-
essierte. Die nun vorliegenden Antworten beanspruchen
nicht – das ist ausdrücklich betont und das finde ich sehr
wohltuend –, eine abschließende Information zu sein. Sie
werfen jeweils neue Fragen auf, die dringend weiterer
Antworten bedürfen. Sie sind eine wichtige Vorausset-
zung für einen Dialog zwischen Muslimen und Nicht-
muslimen,wobei Positionen der beiden Kirchen bzw. der
christlichen Religionsgemeinschaften einen speziellen re-
ligiösen Dialog im kulturellen Dialog darstellen.

Dankenswerterweise ist darüber eine Handreichung
des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland er-
schienen mit dem Titel: „Zusammenleben mit Muslimen
in Deutschland“. In dieser Handreichung wird behandelt,
was in der Drucksache fehlt, nämlich die theologischen
Differenzen. Ich finde es sehr gut, dass die Drucksache
darauf nicht eingeht; denn das wäre – der Kollege
Özdemir hat eben versucht uns das zu erklären – eine Ein-
mischung in innerreligiöse Angelegenheiten.

Auf Seite 3 der Drucksache wird ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass der Islam kein monolithischer Block
sei und dass die sprachliche Vereinfachung leider immer
wieder zu einer inhaltlichen Verkürzung führe. Es wird
ausdrücklich erwähnt, dass, wenn schon innerhalb eines
muslimischen Landes Unterschiede konfessionellerArt
zu Spannungen und Konflikten führen, die kulturell un-
terschiedlichen islamischen Traditionen, zum Beispiel
von Menschen aus der Türkei, aus Bosnien, aus dem Li-
banon oder aus Afghanistan, bei uns in Deutschland zu oft
als unlösbare Widersprüche verstanden werden.

Gerade diese Verständigungsschwierigkeiten wer-
den in den Antworten leider nicht berücksichtigt. Frauen,
Männer, Jugendliche und Kinder, die mit diesen konfes-
sionell wie kulturell extrem unterschiedlichen Erfahrun-




Cem Özdemir
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(C)



(D)



(A)



(B)


gen und Prägungen ihrer Religion in Deutschland einer
fremden, säkularisierten Kultur begegnen, haben kaum
eine Chance, abendländisch-religiöses, also christliches
Leben in Kirchen und Gemeindezentren zu erleben. Die-
ses Leben bleibt für sie unsichtbar und daher fremd. Ich
gehe gleich auf eine positive Situation ein.

Tendenzen zu Parallelgesellschaft und Gettobildung
müssen daher keineswegs schon eine Kritik an den Struk-
turen unseres demokratischen Rechtsstaates sein; viel-
mehr sind sie möglicherweise nur ein Schutz vor der tota-
len Irritation in einer Gesellschaft, zu deren
demokratischen Errungenschaften die für Moslems un-
verständliche Trennung von Staat und Religion gehört.

Wo können Moslems die Kultur des Abendlandes ler-
nen? Wo können Deutsche Religion und Kultur des Islams
lernen? Ich möchte mit Erich Fried fragen, wo sie „lernen
wollen lernen“ können.

Gerade Begegnungsangebote von Kirchengemein-
den zu gemeinsamen Festen, vielleicht sogar jeweils im
Wechsel von Kirche und Moschee, sind für viele Muslime
und für viele Christen sehr hilfreich. In Städten, in denen
es jüdische Gemeinden gibt, ist der Trialog ein besonde-
rer Gewinn. Nicht selten kommt es bei diesen Begegnun-
gen zu dem Aha-Erlebnis, dass sich alle drei auf den glei-
chen Stammvater – auf Abraham – berufen. Allein das
Bewusstsein des gemeinsamen Vaters sollte uns toleran-
ter werden lassen und uns dazu bewegen, dass wir uns
nicht weiterhin als Stiefgeschwister begegnen.

Es stellt sich die Frage, ob im alltäglichen Miteinander,
etwa am Arbeitsplatz, Menschen muslimischen Glaubens
überhaupt ausreichend Informationen über die abendlän-
disch-europäische Kultur erhalten. Wie können sich in
dieser Kultur Menschen öffnen, ohne sich selber in ir-
gendeiner Weise am Ende aufzugeben und ohne ihre ei-
gene kulturelle Identität zu verlieren? Es darf nicht zu
einer Assimilation kommen, wie wir es in der jüdischen
Tradition des 19. Jahrhunderts leider erlebt haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir uns schon
einmal klar gemacht, was in muslimischen Familien vor-
geht, wenn lieb gewordene, verbindliche Traditionen, die
sogar ein Gesetz für sie sind, von der jungen Generation
abgelehnt werden? Es ist doch nicht nur das Tragen des
Kopftuches, sondern es ist zum Beispiel die Tradition der
Autorität des Vaters. Mir erzählte neulich ein Großvater,
er habe es als Demütigung empfunden, dass er vor einer
deutschen Behörde sich von seiner zehnjährigen Enkelin
dolmetschen lassen musste, was ich gar nicht schlimm
fand, was aber in seiner Tradition eine Demütigung ist.

Für uns muss es Integration heißen. Es heißt Erfah-
rungsaustausch im Bereich gesellschaftlicher und rechtli-
cher Akzeptanz. Ich halte es für gefährlich, dass neben
Isolierung als Folge negativer Erfahrungen wie Ausgren-
zung und Angst gleich von Rückzug in extremistische Ge-
genpositionen die Rede ist. Fundamentalismus ist nicht
bedeutungsgleich mit Terrorismus. Unsere Gesellschaft
hat keine lebendige Dialogerfahrung aufzuweisen. Des-
wegen erscheint es mir dringend notwendig, für einen
Verständigung schaffenden Dialog zwischen Deutschen

und Muslimen nachhaltig einzutreten und ihn zu organi-
sieren.


(Beifall bei der PDS)

Wir müssen, auch ernsthaft finanziell gestützt, gerade

für junge Menschen räumliche Begegnungsmöglichkei-
ten schaffen, die möglicherweise dann zum Dialog über
Inhalte führen, zu gemeinsamer außerschulischer Betäti-
gung wie Sport, Musik, Spiel. Hier möchte ich ganz be-
sonders den Lehrern danken, die in ihren Klassen musli-
mische Kinder betreuen. Die Lehrer sind für viele
muslimische Kinder die intensivsten Ansprechpersonen
und haben wesentlich zur Integration und Einführung in
unsere säkulare Gesellschaft beigetragen.

Nicht schon das Grundgesetz als solches bietet die
Grundlage dafür, sondern erst der demokratisch gewährte
Lebensraum schafft die Voraussetzung für Erfahrung von
Integration. Das zum Slogan gewordene Diktum von
Max Frisch: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen und es sind
Menschen gekommen“ verdeutlicht das Problem. Nicht
allein die sozialen und marktpolitischen Probleme der
Flüchtlinge und abendländischen Arbeitskräfte müssen
gelöst werden. Auch die kulturellen Prägungen, die uns
bis dahin fremd waren, müssen vertieft und wahrgenom-
men werden, und zwar von uns, um in ihrer Bedeutung
überhaupt erst einmal für das Zusammenleben von Men-
schen unterschiedlicher Kulturen begriffen zu werden.


(Beifall bei der PDS)

Dazu gehört der Islam als eine neue Herausforderung in
unserer Gesellschaft, der wir uns stellen müssen.

Mir liegt ausdrücklich daran – ich wiederhole, was
Kollegen schon gesagt haben –, mich bei den Kolleginnen
und Kollegen zu bedanken, die uns mit diesem „Kom-
pendium zum Islam in Deutschland“ dazu verhelfen wol-
len, den Islam und damit auch unsere durch den Islam ver-
änderte Kultur besser zu verstehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS sowie des Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417016700
Jetzt spricht der Kol-
lege Eckhardt Barthel für die SPD-Fraktion.


Eckhardt Barthel (SPD):
Rede ID: ID1417016800
Meine Damen und
Herren! Das Thema „Islam in Deutschland“ finde ich
schon deshalb passend für eine Diskussion zu jetziger
Zeit, weil sich alle Parteien mit den Fragen einer Zuwan-
derungs- und Integrationskonzeption beschäftigen.
Genau in diesen Rahmen gehört auch dieses wichtige
Thema. Ich bin auch froh, wenn ich das hier ergänzend
noch sagen darf, dass sich in dieser Diskussion ein Kon-
sens anzudeuten scheint. Ich würde mich freuen, wenn
beim Konsens über ein Zuwanderungs- und Integrati-
onskonzept der Blick nicht nur in Richtung ökonomische
und demographische Notwendigkeiten geht, sondern
wenn in diesen Konsens auch die humanitären Aspekte
voll einbezogen würden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Dr. Heinrich Fink

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(C)



(D)



(A)



(B)


Meine Damen und Herren, im Rahmen dieser Integra-
tionsdebatte wird häufig – vielleicht führt unsere Debatte
dazu, dass sich das ändert – über rechtliche, soziale, öko-
nomische und andere Fragen diskutiert. Das ist selbstver-
ständlich richtig. Aber ich glaube, wir müssen in dieser In-
tegrationsdebatte viel stärker Fragen der Kultur und der
Religion, Fragen der kulturellen Identität etc. aufnehmen.
Sie sind wichtig, gerade in einer Zeit, in der – das betrifft
die Mehrheitsgesellschaft wie die Minderheitsgesell-
schaften – die Angst vor Identitätsverlust gestiegen ist.
Durch einen Zuwanderungsprozess könnte diese Angst
sogar noch gesteigert werden. Deshalb finde ich es so
wichtig, dass wir uns mit solchen Themen, die die kultu-
relle und religiöse Identität von Menschen betreffen,
beschäftigen.

Ich möchte die Harmonie, die bei diesem Thema aus-
gebrochen ist, nicht stören.


(Heiterkeit bei der SPD)

Aber ich habe mich beim Lesen dieser Anfrage doch
manchmal gefragt: Wo soll das Ganze eigentlich politisch
hinführen? Was ist das Erkenntnisinteresse dieser Großen
Anfrage? Ich gestehe, dass ich mir meine eigene Frage
nicht so richtig beantworten konnte.

Ich möchte erst einmal denen ein großes Dankeschön
aussprechen, die diese 93 Seiten, die fast Lehrbuchcha-
rakter haben, hier vorgelegt haben. Ich weiß aber auch,
dass manche Fragen bereits behandelt worden sind. Zum
Beispiel zu Fragen bezüglich Islamisten und Fundamen-
talisten gibt es den Bericht des Verfassungsschutzes, in
dem viele Informationen enthalten sind. Es gibt auch die
Broschüren, die wir von der Ausländerbeauftragten be-
kommen haben: „Muslime in Deutschland“. Es gibt eine
Menge zu diesem Thema. Trotzdem finde ich die Debatte
sinnvoll, weil wir die Informationen hier komprimieren.
Aber ich wollte bei dieser Gelegenheit auch auf jene Bro-
schüren hinweisen, um zu zeigen, dass das nichts Neues
ist.

Ich will, wie ich zu Beginn gesagt habe, das Thema in
einen Zusammenhang mit Integrationsprozessen bringen.
Es ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass
man nicht von dem Islam und den Muslimen sprechen
kann. Das ist nicht nur abstrakt und akademisch wichtig,
sondern dabei geht es auch um das Veränderungs-
potenzial, das in der Religion und in der Kultur generell
liegt. Kultur und Religion sind keine homogenen Blöcke.
Sie sind veränderbar und sie verändern selbst. Sie werden
geprägt vom gesellschaftlichen Umfeld und sie prägen
auch das gesellschaftliche Umfeld.

Ich möchte daran erinnern, dass es zurzeit in Deutsch-
land eine Diskussion über einen europäischen Islam
gibt. Ich weiß, dass diese Diskussion und selbst dieser Be-
griff sehr umstritten sind. Aber ich bekenne mich dazu:
Ich möchte einen Islam, der in der europäischen Gesell-
schaft verwurzelt ist; denn wir reden über Islam in
Deutschland und nicht über Islam in Algerien oder sonst
wo. Ich möchte gern einen Islam haben, der in dieser Ge-
sellschaft, in der er von den Menschen, die hier leben,
praktiziert wird, verankert ist.

Dass der Islam eine große Weltreligion und in Deutsch-
land die drittgrößte Glaubensgemeinschaft ist, ist be-
kannt. Aber auch ich möchte, wie Herr Polenz, die Frage
stellen: Wie sieht eigentlich das Islambild in Deutsch-
land aus? Sicher auch so vielfältig, wie die Richtungen
sind. Aber manchmal, auch bei der Lektüre der Zeitungen,
die darüber berichten, was in einigen islamischen Ländern
geschieht, habe ich das Gefühl, dass die schlimmen
Geschehnisse, von denen wir erfahren, mit dem Islam
gleichgesetzt werden, dass viele, auch in Deutschland, Is-
lam und Fundamentalismus faktisch als Einheit verstehen
und dass der Islam nach dem Ende des Kommunismus in
der öffentlichen Debatte als neues Feindbild aufgebaut
wurde.

Es gibt übrigens auch differenziertere Formen im Um-
gang mit dem Islam. Es wird zwar toleriert, aber nicht ak-
zeptiert. In diesem Zusammenhang möchte ich an ein Be-
griffspaar erinnern. Wir benutzen zu Recht – im
positivsten Sinne des Wortes – immer den Begriff der To-
leranz.Aber ich hatte folgendes Erlebnis. Als ich einmal
bei einer Veranstaltung das Hohelied der Toleranz gesun-
gen habe, sagte mir ein Mensch arabischer Herkunft: Herr
Barthel, ich möchte von Ihnen nicht toleriert werden, son-
dern ich möchte von Ihnen respektiert und akzeptiert wer-
den. Denn bei dem Begriff der Toleranz klingt mit: Ei-
gentlich mögen wir das nicht, aber wir lassen es zu.

Ich finde, dass wir im Zusammenhang mit dem Islam
bei uns nicht nur von Toleranz sprechen dürfen, sondern
dass der Islam in dieser Gesellschaft als gleichwertig ak-
zeptiert werden muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt aber – das möchte ich sehr positiv sagen – in-
zwischen ein ungestörteres Bild vom Islam, vielleicht ge-
rade durch den Dialog, der durch Menschen unterschied-
licher religiöser Zugehörigkeit entstanden ist. Aber bei
aller Achtung des Islam und der Muslime möchte ich hier
durchaus noch erwähnen: Es gibt auch das Gegenteil da-
von. Denken Sie bitte daran, dass auch in Deutschland
Moscheen angegriffen und zerstört wurden. Vergleichs-
weise ist darüber wenig berichtet worden und die Verur-
teilung war auch viel geringer, aber das ist nun wirklich
ein manifester Angriff sowohl auf Muslime als auch auf
den Glauben, übrigens auch auf den Dialog zwischen den
Menschen aus verschiedenen Kulturen.

Was mich bei diesem Fragenkatalog verwundert hat,
war folgende Frage: Unter der Überschrift „Islam in
Deutschland“ ist die Frage nach der Situation der Chris-
ten in islamischen Staaten gestellt worden.

Ich will jetzt kein Missverständnis aufkommen lassen.
Ich halte das für eine ganz wichtige Frage. Wenn mich
nicht alles täuscht, haben wir darüber hier auch schon ein-
mal gesprochen. Mir ist auch bekannt, wie schlimm in
manchen arabischen Ländern die Situation von Christen
oder Angehörigen anderer Religionen, die nicht islamisch
sind, ist, etwa in der Frage der Diskriminierung usw. Ich
halte es für vollkommen richtig, diese Frage zu behan-
deln. Das wäre vielleicht auch ein Auftrag an die deutsche
Außenpolitik.




Eckhardt Barthel (Berlin)

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(D)



(A)



(B)


Doch im Zusammenhang mit dem „Islam in Deutsch-
land“ diese Frage zu stellen – ich weiß nicht, was ich da-
von halten soll. Sollen damit Rückschlüsse auf Deutsch-
land gezogen werden, eine Art Rückkopplung? Das hielte
ich natürlich für äußerst bedenklich. Wenn wir Berichte
aus Afghanistan oder Algerien hören, stellen sich Verbin-
dungen zum Islam und zu Muslimen her. Vielleicht wird
denen dann – gar nicht bewusst – eine Verantwortung zu-
geschrieben. Das wäre meines Erachtens etwas ganz
Schlimmes. Ich bin auch sicher, dass Sie das nicht ge-
meint und nicht diese Absicht verfolgt haben. Doch ich
will vor diesen Verbindungen, die da hergestellt werden
könnten, warnen. Es ist beim Islambild noch weit ver-
breitet, diese Verbindung zwischen einigen islamischen
Staaten, dem Islam generell und den Menschen, die hier
leben, herzustellen.

Selbstverständlich gibt es in Deutschland Islamisten.
Die Antwort der Bundesregierung hat das ja gerade deut-
lich gemacht. Es gibt Fundamentalisten und Islamisten,
also Menschen, die die Religion für ihre politischen
Zwecke instrumentalisieren und am liebsten weltweit ei-
nen Gottesstaat etablieren würden, die mit einem Absolut-
heitsanspruch auftreten, den sie religiös begründen und
der eigentlich nichts von dem zulässt, was in unserer Ver-
fassung an Werten niedergeschrieben ist. Es ist klar, dass
Organisationen dieser Art nicht der Religionsfreiheit un-
terliegen, sondern in die Zuständigkeit des Verfassungs-
schutzes fallen.

Allerdings sollte man hier – ohne ein Wort davon
zurückzunehmen – doch einen Blick auf die Realität wer-
fen. Es ist gut, dass das in der Antwort auch mit genannt
ist. Von den etwa 3 Millionen sind dies 30 000. Das ist
etwa 1 Prozent aller Muslime, die in Deutschland leben.
Aber, meine Damen und Herren, das sind immerhin noch
30 000 zu viel. Das ist sicherlich nicht die Frage; bloß soll
es in der richtigen Relation dargestellt werden.

Die Anerkennung des Islams auch im Integra-
tionsprozess ist deshalb so wichtig, weil die Alternative
dazu führen könnte, dass sich die Menschen in Selbstiso-
lierung oder Selbstethnisierung begeben und dann die
besten Integrationsbemühungen vergebens wären. Es
muss deutlich werden, dass Muslime in diesem Land Teil
dieser Gesellschaft sind, und umgekehrt übrigens auch,
dass sie sich selbst als Teil dieser Gesellschaft verstehen.

Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort bewusst das
neue Staatsbürgerschaftsrecht mit aufgeführt. Da kann
man sich erst einmal wundern, ob das dazugehört. Ich
glaube jedoch, es ist richtig, dass dieses Staatsbürger-
schaftsrecht mit dabei ist, weil es auch signalisiert: Du
gehörst dazu, unabhängig vom Glauben. Es gibt ja so eine
Aussage, so eine Art Gratulation. Wenn jemand eingebür-
gert wurde, dann sagt man nicht: Ich gratuliere zur Ein-
bürgerung. Es gibt vielmehr den Spruch – natürlich, wie
sich das gehört, in Englisch –: Welcome to the club. Ich
finde, das ist genau die Sache, um die es hier geht. Das ist
eine richtige Formulierung. Insofern ist die Frage der Ein-
bürgerung eine wichtige Frage: Wer gehört dazu? Da kann
es nicht nach der religiösen Herkunft gehen.

Meine Damen und Herren, es ist notwendig, dass die-
ses Thema im Religionsunterricht und in Religionskunde

mit behandelt wird. Es ist richtig, wir benötigen Kennt-
nisse der Religionen, zumindest der Religionen, die von
Menschen in unserem Lande praktiziert werden. Ich will
es einmal so sagen: Ich halte es für wichtig, dass Kinder
christlichen Glaubens wissen, was das Zuckerfest bedeu-
tet, und dass Kinder muslimischen Glaubens wissen, was
Ostern bedeutet. Die Kenntnis der Alltagskultur meines
Nachbarn führt dazu, dass ich für ihn Verständnis ent-
wickeln und mit ihm umgehen kann. Auf diese Art und
Weise ist – auch das ist ein Ziel der Integrationspolitik –
vor Ort ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben
von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft
möglich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Koranschulen sind erwähnt worden. Ich kenne
hier in Berlin eine Menge Koranschulen und kann nur sa-
gen, dass diese den Menschen und dem Glauben gegen-
über unwürdig sind. Was dort teilweise gepredigt oder ge-
lehrt wird, das ist sicher nicht das, was wir uns in einem
demokratischen Land unter dem Islam vorstellen. Das gilt
übrigens auch für andere Bereiche: Ich habe mir ein paar
Mal Predigten, die im Offenen Kanal gesendet wurden,
übersetzen lassen. Wenn man das hört, gehen einem – ich
darf das einmal so locker sagen – die Schnürsenkel auf.

Deswegen geht es hierbei genauso wie beim Reli-
gionsunterricht darum, Alternativen zu schaffen. Es gibt
viele – auch liberale – Eltern, die möchten, dass ihre Kin-
der religiös erzogen werden. Wenn sie keine Alternative
haben, dann schicken sie ihre Kinder in die Koranschule.
Deswegen ist es unsere Aufgabe, eine Alternative anzu-
bieten. Ich weiß, wie schwer das ist: Ich habe an manchem
runden Tisch gesessen, an dem Vertreter verschiedener re-
ligiöser Richtungen – von sehr gläubigen Schiiten bis hin
zu liberalen Aleviten – zusammensaßen. Man versuchte
dort, sich auf eine Trägerschaft für den Religionsun-
terricht zu einigen. Das ist jedes Mal gescheitert. Ich bin
nicht sehr optimistisch, dass man sich in Zukunft einigen
wird.

Es ist richtig geantwortet worden: Das Problem ist,
dass wir bei der Lösung von solchen Kompetenzfragen
keinen Ansprechpartner haben. Der Islam hat, um das ein-
mal kurz zusammenzufassen, keinen Vatikan. Das ist das
Problem beim Angebot von Religionsunterricht in den
Schulen.

Das Gleiche betrifft meines Erachtens die Religions-
lehrer. Es kann nicht gut gehen, wenn Kinder von Lehrern
unterrichtet werden, die weder die Landessprache noch
das gesellschaftliche Umfeld, noch die möglichen Kon-
flikte von Kindern kennen, die sich auf der einen Seite in
einer liberalen Schule befinden und möglicherweise auf
der anderen Seite in einem streng religiösen Elternhaus le-
ben. Das bewirkt Konflikte, die die Kinder austragen
müssen. Das müsste von jemandem, zum Beispiel von ei-
nem Religionslehrer, aufgefangen werden, der in dieser
Gesellschaft zu Hause ist und die Sprache der Kinder
spricht. Deswegen ist es notwendig, dass wir derartige
Lehrer bekommen.




Eckhardt Barthel (Berlin)


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(A)



(B)


Mich hat es betroffen gemacht, als ich in der Antwort
auf die Große Anfrage las, dass es in Deutschland keinen
Lehrstuhl für Islamische Theologie und keine Studi-
engänge für islamischen Religionsunterricht gibt. Herr
Körper, Sie haben auf die Kompetenzfrage hingewiesen.
Das ist, so glaube ich, an dieser Stelle nicht entscheidend.
Denn das ist die Beschreibung eines Mangels, der meines
Erachtens zwingend behoben werden muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Meine Damen und Herren, in dieser Großen Anfrage
wurden auch ein paar Reizpunkte genannt, vor denen man
sich gerne drückt. Auch wir haben uns heute davor ge-
drückt. Ich nenne einmal zwei dieser Punkte – sie sind als
Frage formuliert und dann auch beantwortet worden –:
Das ist die berühmte Frage nach dem Kopftuch und die
Frage nach dem Schächten. Dies sind zwei Themen, mit
denen jedenfalls ich, wenn ich in der Öffentlichkeit über
den Islam spreche, permanent konfrontiert werde. Inso-
fern unterscheidet sich die Diskussion, die ich vor Ort
führen muss, von der, die wir hier führen; das ist verständ-
lich. Aber das sind Themen, zu denen man etwas sagen
muss.

Ich möchte zu beiden noch ein paar Sätze sagen: Ich
glaube, wir sollten die Kopftuchfrage auf kleinerer
Flamme kochen und nicht so viel in diese Frage hinein-
interpretieren. Ich weiß, das Kopftuch kann Ausdruck ei-
nes fundamentalistischen Glaubens sein. Aber ich weiß
auch, dass es bei vielen Frauen Ausdruck eines modischen
Schmuckes ist. Die Palette der Motive ist sehr breit. Ich
weiß, dass dem nicht alle zustimmen. Aber gerade bei
jungen Frauen ist diese Bandbreite durchaus zu sehen. Ich
würde mich freuen, wenn wir damit in dem Bereich, in
dem die Neutralitätspflicht und die negative Bekenntnis-
freiheit nicht betroffen sind, etwas pragmatischer umge-
hen würden.

Ich möchte gern einmal ein Beispiel aus Holland dafür
bringen, wie man das macht. Die Holländer zeigen uns in
vielen Bereichen, wie man damit umgeht. Es gibt dort
eine Lebensmittelkette, in der drei Kolleginnen ein Kopf-
tuch tragen wollten. Darüber gab es eine lange Diskus-
sion. Man hat sich zu folgendem Ergebnis durchgerun-
gen: Die Kolleginnen trugen alle die gleiche Schürze.
Diese Schürze hat man für alle um ein Tuch ergänzt. Ei-
nige trugen es um den Hals und die anderen um den Kopf.
Von dem Moment an stellte das Tragen des Kopftuches in
dieser Kette kein Problem mehr dar.


(Beifall des Abg. Dr. Klaus Grehn [PDS])

Man kann also mit diesem Thema sehr pragmatisch um-
gehen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417016900
Herr Kollege Barthel,
ich muss jetzt ganz pragmatisch mit der Zeit umgehen. Sie
sind bereits ein Stück über Ihre Redezeit hinaus.


Eckhardt Barthel (SPD):
Rede ID: ID1417017000
Ich habe es be-
fürchtet, deswegen ein Schlusssatz: Der Dialog der Reli-

gionen, den Sie auch in Ihrer Frage ansprachen, existiert.
Das ist ja das Schöne. Wenn unsere Debatte, die wir heute
führen, dazu beigetragen hat, die Dialogbereitschaft zwi-
schen den Religionen zu fördern, war es eine gute De-
batte.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417017100
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Beatrix Philipp für die
CDU/CSU-Fraktion.


Beatrix Philipp (CDU):
Rede ID: ID1417017200
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Barthel, ich
glaube, so einfach, wie Sie es sich zum Schluss gemacht
haben, kann man es sich mit dem Kopftuch nicht machen.
Das brauchen wir aber auch nicht zu vertiefen.

Ich kann auch Ihre Interpretation von Toleranz über-
haupt nicht akzeptieren, weil ich glaube, dass das ein sehr
ernst zu nehmender und hier nicht umzudeutender Begriff
ist, ohne den wir eigentlich überhaupt nicht zusammenle-
ben könnten, zumindest nicht friedlich. Deswegen sollten
wir uns auf diesen Begriff verständigen.

Es reizt mich auch, zu sagen: Natürlich kann man über
die Auswahl der Fragen, die wir gestellt haben, unter-
schiedlicher Auffassung sein. Aber diese Fragen sind – und
darauf hat Herr Polenz zu Beginn hingewiesen – Ergebnis
von Gesprächen und einer Anhörung, die dokumentiert
ist. Im Zweifelsfall können Sie nachlesen, wie diese Fra-
gen zustande gekommen sind.

Ich stimme ausdrücklich all dem, was hier vorher ge-
sagt worden ist, zu, auch Ihnen, Herr Özdemir. Ich finde
es ausgesprochen gut, dass Sie darauf hingewiesen haben,
dass der Islam kein Problem mit Pluralismus, Rationa-
lismus und Wissenschaft hat! Aber außerhalb dieses
Hauses ist auch das viel zu wenig bekannt. Deswegen ist
ein wesentlicher Punkt und eine wesentliche Begründung
dafür, dass wir diese Große Anfrage gestellt haben und
heute über die Antwort sprechen, die Tatsache, dass wir
viel mehr dafür tun müssen, dass die Menschen den Islam
und das, was damit verbunden ist, kennen lernen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ausgangspunkt ist die Feststellung gewesen – auch da-

rauf hat Herr Polenz hingewiesen –, dass wir in Deutsch-
land Probleme haben. Ich denke, hier ist der richtige Ort,
sie zu benennen, darauf hinzuweisen und uns nicht darum
herumzumogeln. Es gibt diese Probleme in den Wohn-
gegenden, in den Schulen, in den Kindergärten, also ei-
gentlich in allen Alltagsbereichen.

Wir müssen uns auch damit befassen, warum das so ist
und was wir dagegen tun können, damit die Angst abge-
baut wird, von der hier auch schon mehrfach die Rede ge-
wesen ist. Es gibt eben Angst. „Angst ist ein schlechter
Ratgeber“, sagt ein altes Sprichwort. Angst haben die
Menschen vor Dingen, die sie nicht kennen. Die Mög-




Eckhardt Barthel (Berlin)

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(C)



(D)



(A)



(B)


lichkeiten, die wir Menschen haben, mit Angst umzuge-
hen und sie abzubauen, sind vielfältig. Uns stehen viele
Möglichkeiten offen, uns mit Unbekanntem auseinander
zu setzen und es kennen zu lernen.

Wie eben schon erwähnt, haben die christlichen Kir-
chen ständig Kontakt mit den Muslimen und den sie ver-
tretenden Organisationen. Es gibt eine hervorragende
Handreichung der EKD mit dem Titel „Zusammenleben
mit Muslimen in Deutschland“, die ich allen nur wirklich
ans Herz legen kann und die viele ganz konkrete Hand-
lungsanweisungen und auch Aufklärung enthält.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.])


Ich hoffe, dass unsere Anfrage einen Beitrag dazu leis-
tet, mehr Verständnis zu haben, aber auch dazu, die Pro-
bleme genauer zu erkennen und zu benennen. Herr Polenz
hat schon darauf hingewiesen, dass wir uns schon seit ge-
raumer Zeit mit dieser Problematik befassen.

Nun gibt es sicherlich Ereignisse, auf die wir sehr
schnell und kurzfristig antworten und reagieren müssen.
Es gibt aber auch Entwicklungen, die wir mit Sorgfalt und
Bedacht bedenken und die wir mit sich langfristig
auswirkenden Maßnahmen versehen müssen. Um ein sol-
ches Thema geht es hier und heute: Es nutzt meiner An-
sicht nach wenig, ständig den Begriff der Integration im
Mund zu führen, ohne die Bedingungen zu kennen und sie
zu beschreiben, unter denen Integration erst möglich ist.
Es nutzt auch wenig, Integration zu fordern, wenn nicht
klar und deutlich gesagt wird, dass beide Seiten integrati-
onsbereit sein müssen und dass man diese Bereitschaft
auch erkennen können muss.

Sie wissen, dass ich aus dem Schulbereich komme. Ich
behaupte, dass die Bereitschaft zur Integration vor zehn
bis 15 Jahren viel größer und deutlicher gewesen ist, als
sie es heute in den Schulen ist. Das ist so! Das wird Ihnen
jeder bestätigen, der sich in diesem Bereich auskennt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das muss uns nachdenklich machen. Darüber müssen wir
uns austauschen und zu Lösungen kommen. Wir müssen
uns fragen, warum das so ist. Beide Seiten müssen diese
Integrationsbereitschaft zeigen und sie deutlich machen.
Sonst schaukelt es sich gegenseitig hoch.

Schließlich zitiere ich aus dem Papier der Zuwande-
rungskommission der CDU Deutschlands:

Zuwanderungspolitik und Integrationspolitik können
nur dem gelingen, der sich seiner eigenen national-
kulturellen Identität gewiss ist.

Darauf haben Sie eben auch hingewiesen.
Hier liegt, glaube ich, ein ganz wesentlicher Grund für

die eingangs beschriebenen Ängste und Sorgen, die wir
nicht wegreden können, sondern die wir ernst nehmen
müssen – ob sie nun berechtigt sind oder auch nicht.
Meine Damen und Herren, ohne Diskussion über die ei-
gene Identität, über die deutsche Identität und ein ein-
deutiges Bejahen derselben und ohne eine Diskussion
über das eigene Selbstverständnis können – ich würde so-

gar sagen: dürfen – wir über Integration überhaupt nicht
sprechen.

Insofern habe ich persönlich – das darf ich hier sa-
gen – die fast irrationale Debatte über die Verwendung des
Begriffes „deutsche Leitkultur“ überhaupt nicht verstan-
den. Das heißt doch nicht: Deutschland, Deutschland über
alles. Das heißt auch nicht: Es gibt nur eine Kultur, unter
der sich alle anderen zusammenfinden müssen. Vielmehr
heißt es, dass es in diesem unseren Land Regeln gibt, die
alle Menschen, die hier leben, einhalten müssen, damit ein
friedliches Miteinander überhaupt möglich ist. Das ist
auch mehr als Verfassungspatriotismus. Denn in der Ver-
fassung steht nicht geschrieben, dass man die deutsche
Sprache lernen, verstehen, sprechen und möglichst auch
schreiben können sollte.

Es gibt Dinge, die für uns selbstverständlich sind, aber
längst nicht für alle anderen, die bei uns leben oder zu uns
kommen: etwa die Gleichberechtigung von Mann und
Frau oder die Trennung von Staat und Kirche. Aber
dies sind die Bedingungen, unter denen wir hier leben und
die Akzeptanz finden müssen.

Wir brauchen diese Akzeptanz – nicht mehr, aber auch
nicht weniger –, weil sie Basis des Zusammenlebens, und
zwar des friedlichen Zusammenlebens ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir dürfen sie nicht nur von Ausländern und von Men-

schen, die hierher kommen, erwarten. Sie ist ganz selbst-
verständlich von jedem Deutschen und jeder Deutschen
zu erwarten.

Meine Damen und Herren, im Übrigen schüttelt man
im Ausland über unsere Debatte nur den Kopf, weil man
es dort für ganz selbstverständlich hält, wie man mit der
eigenen Leitkultur umgeht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen
gegangen ist, aber ich habe nur Kommentare gehört nach
dem Motto: undenkbar. Das höchste der Gefühle war: ty-
pisch Deutsch. So lauteten die Kommentare, die ich
gehört habe.

Meine Damen und Herren, wie gesagt: Man darf den
Menschen in unserem Lande – das meine ich ernst – nicht
die Möglichkeit nehmen, sich zu ihrem Lande zu beken-
nen. Man darf dieses Bekenntnis nicht mit einem negati-
ven Vorzeichen versehen und ihnen absprechen, stolz sein
zu dürfen. Auch diese Debatte hat mich gestört. Wenn je-
mand stolz sein möchte, soll er es doch sein. Entweder
man ist es oder man ist es nicht. Das ist doch Wurscht.
Aber wir müssen doch dafür keine Maßstäbe anlegen. –
Frau Präsidentin, wenn ich die Herren von der SPD-Frak-
tion, die sich so angeregt unterhalten, wirlich fürchterlich
störe, höre ich auf zu sprechen. Es stört mich schon ein
bisschen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wie gesagt: Wenn man den Menschen abspricht, stolz
sein zu dürfen, oder dies mit einem negativen Vorzeichen
versieht, dann nimmt man ihnen ein Stück ihrer Identität.
Dass wir aber auf die Bereitschaft jedes einzelnen Men-
schen angewiesen sind, brauche ich doch eigentlich nicht
zu betonen.




Beatrix Philipp

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(A)



(B)


Meine Damen und Herren, trotzdem würden wir die
Realität nicht vollständig beschreiben, wenn wir nicht
auch auf die anderen Kulturen und Religionen hinweisen
würden, die in zunehmendem Maße bei uns anzutreffen
sind. Ich habe deshalb ein wenig weiter ausgeholt, weil
bei der Frage nach den Bedingungen, unter denen Inte-
gration stattfinden kann, nun auch deutlich werden wird,
was für jede Gesellschaft und jedes Staatswesen gilt. Ich
zitiere noch einmal den Beschluss des CDU-Bundesvor-
stands:

Jedes Staatswesen und jede Gesellschaft muss auf
ein bestimmtes, gemeinsames Fundament, ein ge-
genseitiges Vertrauen und ein Zusammengehörig-
keitsgefühl achten. Zu diesem Fundament gehört
auch die Akzeptanz eines gemeinsames Grundwerte-
kanons.
Anders kann ein Gemeinwesen mit unterschiedli-
chen individuellen Lebensvorstellungen nicht stabil
bleiben. Ohne Loyalität gegenüber den Wertvorstel-
lungen des Aufnahmestaats und einem entsprechend
gemeinsamen Identitätsbewusstsein kann unser Ge-
meinwesen weder seine Aufgaben erfüllen, noch
seine Bürger für das Gemeinwohl in die Pflicht neh-
men. ... Integration ist in diesem Sinne weder ein-
seitige Assimilation noch unverbundenes Nebenei-
nander auf Dauer. Multikulturalismus und Parallel-
gesellschaften sind kein Zukunftsmodell. Unser Ziel
muss eine Kultur der Toleranz und des Miteinander
sein auf dem Boden unserer Verfassungswerte und
im Bewusstsein der eigenen Identität.

Daraus ergeben sich einige Fragen, die zu diskutieren
sind: Erstens. Kann man gläubiger Muslim sein und sich
dennoch loyal gegenüber den grundlegenden Wertvorstel-
lungen des Aufnahmestaates Deutschland verhalten? Ant-
wort: ja. Das haben wir gelernt und ausführlich diskutiert.
Herr Polenz hat schon darauf abgehoben, wie diese Frage
in der Anhörung eindeutig geklärt worden ist. Manche
glauben es aber vielleicht nicht. Deswegen muss man es
den Menschen draußen ständig und auch von dieser Stelle
aus sagen. Die größte Zahl der hier lebenden Muslime
verhält sich entsprechend. Sie haben sich selbstständig
gemacht oder gehen einer regelmäßigen Arbeit nach.

Anders verhält es sich mit den extremistischen Grup-
pierungen. Auch das ist hier schon gesagt worden. Ihre
Zahl umfasst ausweislich der Beantwortung der Großen
Anfrage und, wie Herr Barthel gerade gesagt hat, des neu-
esten Verfassungsschutzberichtes zwischen 31 000 und
32 000 Muslime. Ich zitiere aus dem Bericht:

Den Ideologen dieser Denkrichtung geht es nicht um
eine Exegese des Koran, die auf die Fragen der mo-
dernen Welt eingeht und sie zu berücksichtigen ver-
sucht, sondern um eine Instrumentalisierung der Re-
ligion für politische Zwecke.

32 000 Muslime sind 1 Prozent der hier lebenden Mus-
lime. Es ist schon seltsam: 1 Prozent ist ungefähr die Zahl
der sich in Irland bekriegenden Katholiken und Protes-
tanten. Wenn man es genau untersucht, entspricht die Zahl
von 1 Prozent wahrscheinlich auch der der Rechts- und
Linksextremisten in unseren eigenen Reihen. Sie zum

Maßstab für die Beurteilung der Loyalität zu unserem
Staat zu machen ist unredlich, auch wenn diese Menschen
zweifellos lauter sind und dadurch mehr auffallen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.])


Zweitens. Kann oder darf sich ein gläubiger Muslim
klar und deutlich für unsere Verfassung und unsere Staats-
ordnung entscheiden und sich in unsere kulturellen Le-
bensverhältnisse einordnen, ohne in religiöse Konflikte
zu geraten? Antwort: Daran hindert ihn der Islam nicht. In
der Anhörung ist diese Frage ebenfalls eindeutig beant-
wortet worden.

Zur Frage des Tragens eines Kopftuchs kennen Sie
alle die Debatte. Ich habe schon eben etwas zur Diskus-
sion in Baden-Württemberg gesagt. Aber meiner Ansicht
nach reichen diese Fragen und Antworten nicht aus. Die
Angst der Menschen mag darin begründet sein, dass ihnen
Frauen mit Kopftüchern, denen sie auf der Straße begeg-
nen, fremd vorkommen. Dass die Zahl dieser Frauen zu-
nimmt, dass sie oft das Bild ganzer Stadtteile prägen und
dass sich die Stellung der Frau im Islam zweifellos von
der der deutschen Frau unterscheidet, macht deutlich,
dass die Zahl der Zuwanderer mindestens ebenso im Auge
behalten werden muss wie die Frage der Ansiedlung die-
ser Menschen.

Aus meiner zehnjährigen Tätigkeit im Rat der Stadt
Düsseldorf weiß ich: Kommunikation mit diesen Frauen
ist in den meisten Fällen nur selten bis gar nicht möglich,
weil sie oft nur wenig oder kein Deutsch sprechen. Sie
werden zum Teil ganz bewusst und gezielt von Außen-
kontakten fern gehalten, und zwar nicht durch den Koran
und den Islam, sondern durch ihre Männer. Auch bei uns
gibt es sicherlich einige, die das ganz toll finden. Aber die-
ses Thema will ich jetzt nicht vertiefen. – Ich gebe sofort
zu: Das war ein nicht ganz passender Scherz. Aber ich
meine es sehr ernst. Das ist keine Verpflichtung, die aus
dem Koran kommt. Es sind ihre Männer, die das so orga-
nisieren.

Das Erlernen der Sprache und der Schrift wird diesen
Frauen fast unmöglich gemacht. Sie werden ausgegrenzt,
was ihre Gettoisierung fördert. Dem, denke ich, gilt es
entgegenzuwirken, und zwar von allen Seiten. Ich habe es
früher nicht gewusst und erst jetzt erfahren, Herr
Özdemir: Das erste Wort im Koran heißt „lies“ von „le-
sen“. Das finde ich toll und dies wird auch von emanzi-
pierten, selbstbewussten und gut ausgebildeten Musli-
minnen immer wieder betont. Von diesen Frauen gibt es
– auch das gehört dazu – eine zunehmende Zahl. Das
finde ich sehr erfreulich.

Es ist sehr begrüßenswert, wenn in diesem Hohen
Hause nun endlich Einigkeit darüber herrscht, dass das
Erlernen und der Gebrauch der deutschen Sprache
ebenso wie die Akzeptanz der Grundwerte ein eindeutiges
Integrationskriterium ist. Ich zitiere aus dem letzten Be-
richt der Ausländerbeauftragten aus dem Jahr 2000:

Wir müssen eindeutige Kriterien für Integration de-
finieren – und die sind vor allem Sprachkompetenz




Beatrix Philipp
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(A)



(B)


und die Akzeptanz der gesellschaftlichen Grund-
werte.

Lassen Sie mich noch einen Augenblick bei dem Be-
griff der Toleranz bleiben, meine Damen und Herren;
meine Ausführungen dazu richten sich an Herrn Barthel
mit seiner Frage nach der Situation der Christen in ande-
ren Ländern. Es gibt natürlich keine Kollektivhaftung der
Mitglieder von Weltreligionen. Selbstverständlich sind in
einem freiheitlichen Verfassungsstaat die Menschen-
rechte nicht von der Menschenrechtslage in anderen Staa-
ten abhängig, denn unsere Maßstäbe sind absolut und
nicht ein gnädiger Gunsterweis. Aber man wird schon,
wenn man sich gegenseitig verstehen, vertrauen und auch
achten will, fragen dürfen: Wie hältst du es, der du Reli-
gionsfreiheit in Deutschland in Anspruch nimmst, mit der
Freiheit von Christen und Juden in anderen Teilen der
Welt und wie steht es mit der Gleichberechtigung der Frau
und des Mannes? Und wie ist es mit den Menschenrech-
ten?

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. In
den Leitsätzen des Deutsch-Türkischen Forums heißt es:

Integration ist für uns eine wechselseitige Annähe-
rung von Deutschen und Menschen ausländischer
Abstammung unter Wahrung ihrer kulturellen Iden-
tität. In diesem Annäherungsprozess ist es natürlich,
dass die Minderheit einen längeren Weg gehen muss
als die Mehrheit.

Ich halte dies für eine realistische Einschätzung; auch um
die sollte man sich nicht herummogeln. Ich wünschte mir,
dass ein Teil der Vorbemerkung aus der Anfrage auch dem
Stil der heutigen Debatte entspräche. Ich fände das sehr
erfreulich. Deshalb darf ich zum Schluss zitieren:

Eine Assimilierung der Zuwanderer wird von keiner
Seite ernsthaft in Betracht gezogen. Die hier leben-
den Muslime sollen ihre kulturelle und religiöse
Identität nicht preisgeben. Allerdings ist von ihnen zu
verlangen, dass sie sich in die Strukturen eines de-
mokratischen Rechtsstaates einfügen,


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417017300
Frau Philipp, ich muss
auch Sie leider etwas bremsen.


Beatrix Philipp (CDU):
Rede ID: ID1417017400
Ich führe nur noch kurz
das Zitat zu Ende, wenn ich das darf:

das Grundgesetz uneingeschränkt bejahen, insbeson-
dere die Trennung von Staat und Religion anerken-
nen und keine Parallelgesellschaft oder Gettobildung
anstreben.

Ich hoffe, dass die heutige Debatte dazu beigetragen
hat, dass diese beiden Gruppierungen weiter und enger
aufeinander zugehen.

Ich bedanke mich sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417017500
Ich schließe die Aus-
sprache und rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Dietmar Nietan, Doris Barnett, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Winfried Hermann, Hans-Josef
Fell, Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN
Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen
Union
– Drucksache 14/6057 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich sehe
keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
SPD-Fraktion ist die Kollegin Ursula Burchardt.


Ulla Burchardt (SPD):
Rede ID: ID1417017600
Frau Präsidentin! Meine
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Bera-
tung unseres Antrages findet im Kontext einer immer in-
tensiver werdenden Debatte über die zukünftige Gestal-
tung und die zukünftige Gestalt Europas statt und sie zielt
auf die anstehende Tagung des Europäischen Rates in
Göteborg ab. Unsere Botschaft für diesen Europäischen
Rat lautet: Europa muss nachhaltiger und demokratischer
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Als größter Wirtschaftsraum der Welt trägt die Euro-
päische Union eine besondere Verantwortung für die Si-
cherung der Lebenschancen und der Lebensqualität heu-
tiger und zukünftiger Generationen, und wie kaum eine
andere Region der Welt steht Europa in der Pflicht, wenn
im Jahre 2002 Bilanz gezogen wird, was zehn Jahre nach
Rio tatsächlich geschehen ist, nicht nur Deklarationen,
sondern substanzielle Ergebnisse und neue Weichenstel-
lungen vorzuweisen.

Deshalb begrüßen wir ausdrücklich das Vorhaben der
europäischen Staats- und Regierungschefs, im Juni in Gö-
teborg eine europäische Nachhaltigkeitsstrategie auf den
Weg zu bringen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und wir begrüßen ausdrücklich den Verfahrensvorschlag
der Kommission; sie schlägt vor, den Lissabon-Prozess,
der darauf zielt, Europa zum wettbewerbsfähigsten und
dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der
Welt zu machen, um die Dimension der Nachhaltigkeit zu
erweitern. Diese Erweiterung ist notwendig, denn die
Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen ist die
existenzielle Bedingung für mehr Wohlstand, mehr Le-
bensqualität und mehr soziale Stabilität in Europa – in
Verantwortung für die gesamte Welt.

Ich denke, eine nachhaltige Gemeinschaft ist eine Vi-
sion, für die man Menschen begeistern kann, für die man
sie gewinnen kann.Diese Vision bietet die Chance, Skep-
sis gegenüber Europa und seiner künftigen Entwicklung




Beatrix Philipp

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zu überwinden, wenn sie offensiv angegangen, umgesetzt
und genauso kommuniziert wird.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Richtig!)

Doch die Skepsis gegenüber der Union hängt nicht nur

mit einer bislang fehlenden Vision und Kommunikation
zusammen. Ich denke, für 99 Prozent der Bürgerinnen und
Bürger – Abgeordnete sind auch nur Menschen – ist
undurchschaubar, wer wo wie für sie entscheidet – und
was. Mehr Demokratie ist also angesagt. Transparente
Entscheidungsprozesse, klare Verantwortlichkeiten und
Abgrenzungen, die Frage, was auf den unterschiedlichen
Ebenen – auf der europäischen Ebene, in den Mitglied-
staaten, den Ländern, Regionen und Kommunen – zu re-
geln ist, sowie die Stärkung der Rechte des Europäischen
Parlaments, all das steht zur Klärung an.

All das ist aber nicht ausreichend, um das viel be-
schworene Demokratiedefizit zu beheben und die Zivil-
gesellschaft zu stärken. Wenn man sich ansieht, wie Ent-
scheidungen vorbereitet werden und damit letztendlich
auch Vorentscheidungen getroffen werden, stellt man fest,
wie groß der Einfluss der Bürokratien ist. Deswegen sa-
gen wir: Mehr Parlament ist angesagt. Mehr als bisher
müssen sich die Parlamente der Mitgliedstaaten das Recht
und den Raum nehmen, auf die inhaltliche Zukunftsge-
staltung Europas Einfluss zu nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Um es einmal ganz drastisch zu formulieren und es auf
den Punkt zu bringen: Als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages wollen wir uns nicht mit der Rolle eines Exe-
kutivorgans europäischer Gesetzgebung zufrieden geben.
Deswegen wollen wir mit unserem Antrag der Bundesre-
gierung für den Gipfel in Göteborg einen ganz klaren Ver-
handlungsauftrag mit auf den Weg geben.

Die bisherigen Kommissionsvorschläge zur Nachhal-
tigkeitsstrategie finden in vielen Punkten unsere Zustim-
mung, sollten aber an einigen entscheidenden Stellen ver-
bessert werden. Ich nenne in diesem Zusammenhang drei
Punkte:

Erstens. In dem Konsultationspapier sind entschei-
dende Problemfelder benannt, die angegangen werden
müssen: Klimawandel, Gesundheitsschutz, Erhalt der
natürlichen Ressourcen, Mobilität, Armut und demogra-
phischer Wandel. Aus unserer Sicht ist es unverzichtbar,
diesen Katalog um die Agrarpolitik und den Verbraucher-
schutz zu erweitern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens. Die Nachhaltigkeitsstrategie braucht eine
starke ökologische Säule. Das 6. Umweltaktionspro-
gramm bietet sich an. Der dazu vorliegende Entwurf ist al-
lerdings noch zu schwach. Er muss durch konkrete Ziele,
Zeitpläne, Maßnahmen und Überprüfungsmechanismen
ergänzt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Drittens. Nicht nur die Umweltpolitik steht in der
Pflicht. Diese Erkenntnis verfolgt die EU seit mehr als
zwei Jahren; Stichwort: Cardiff-Prozess. Umweltbelange
sollen integraler Bestandteil der Fachpolitiken – Wirt-
schaft, Finanzen, Verkehr und Energie – werden. Wir sind
der Meinung, dass die Forschungspolitik – der For-
schungsministerrat – aus diesem Prozess der Integration
von Umweltpolitik in die Sektorpolitiken nicht länger
ausgeklammert werden darf. Gerade die Forschungspoli-
tik ist ein entscheidender Bereich, in dem sich die Wei-
chenstellung für die Zukunft vollzieht.


( V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Ich komme zum Schluss: Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte Sie und appelliere an Sie – an alle
Seiten des Hauses –: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Wenn wir diesen heute verabschieden, so ist das Ausdruck
parlamentarischen Selbstbewusstseins, des Willens, künf-
tig stärker auf die Gestaltung Europas Einfluss zu nehmen
und die Interessen unserer Kinder und Enkelkinder wahr-
zunehmen. Ich denke, je ungeteilter das Votum des Deut-
schen Bundestages ausfällt, desto stärker wird das Signal
in Europa wirken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417017700
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Peter Paziorek von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Dr. Peter Paziorek (CDU):
Rede ID: ID1417017800
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Christlich Demokratische
Union und die Christlich-Soziale Union können Ihrem
Antrag unter keinem Gesichtspunkt zustimmen.

Das gesamte Verfahren im Zusammenhang mit diesem
Antrag ist in höchstem Maße erstaunlich: Wir haben den
Antrag Dienstagabend vorgelegt bekommen.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Mittwochmorgen!)


– Sie am Mittwochmorgen, also im Grunde genommen
zeitlich gleich. – Trotzdem wollen Sie diesen Antrag heute
bereits abschließend beraten und darüber beschließen. Sie
gehen damit von dem guten Verfahren ab, solche Anträge
zuerst in den Ausschüssen – im konkreten Fall im Um-
weltausschuss und im Wirtschaftsausschuss – zu beraten.
Es stellt sich die Frage: Warum wählen Sie auf einmal eine
solche Verfahrensweise, mit der Sie die inhaltliche Bera-
tung im Bundestag verhindern?

Für diese Hektik gibt es überhaupt keine Veranlassung;
denn es ist allgemein bekannt, dass das 6. Umweltak-
tionsprogramm, worauf sich Ihr Antrag bezieht, bis zum
Gipfel in Göteborg nicht mehr durch das Europäische Par-
lament kommen wird. Im Europäischen Parlament sind
inzwischen 300 Änderungsanträge zu dem eingebracht
worden, was Sie selbst gerade als konkretisierungsbe-
dürftig bezeichnet haben. Sie selbst haben ja zugegeben,
dass das, was im Augenblick vorliegt, noch nicht ausge-
reift und in sich geschlossen sei. Erstaunlich ist ja, dass




Ursula Burchardt
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(A)



(B)


gerade die sozialistische Fraktion viele Änderungsanträge
eingebracht hat, auf die ich gleich noch genauer eingehen
werde.

Es stellt sich nun die spannende Frage: Warum wollen
Sie die inhaltliche Diskussion, die im Augenblick in Eu-
ropa stattfindet, nicht auch im Deutschen Bundestag
führen? Warum führen Sie ein Verfahren durch, das ge-
rade die inhaltliche Diskussion im deutschen Parlament
verhindert? Ich kann Ihnen sagen, warum Sie das tun.
Man muss sich nur einmal die Punkte konkret anschauen,
die strittig sind. In Art. 4 des Kommissionsentwurfes zum
Umweltaktionsprogramm heißt es – ich wende mich ins-
besondere an die sozialdemokratischen Vertreter, die sich
bisher lautstark für die Steinkohle und die Braunkohle
eingesetzt haben –, dass „Subventionen für Kohle die
Umstellung auf umweltfreundlichere Energien hemmen“,
und dort wird die „Abschaffung von Energiesubventionen
für nicht erneuerbare Energiequellen“ vorgeschlagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Ruhrgebiet, die
Sie bisher immer dafür gestritten haben, dass alles zu-
sammengefasst wird – Herr Weiermann, hier waren wir
immer einer Meinung –, Ihnen muss doch klar sein, dass
Sie dann, wenn Sie den vorliegenden Antrag verabschie-
den, Positionen stärken, die den klaren Interessen der So-
zialdemokraten in Nordrhein-Westfalen zuwiderlaufen.


(Ursula Burchardt [SPD]: Das haben Sie falsch gelesen!)


– Frau Burchardt, ich habe nichts dagegen, wenn wir zum
Beispiel darüber diskutieren, ob die Kohlesubventionen
weiter heruntergefahren und dafür andere Bereiche – das
alles steht in dem Kommissionsentwurf, zu dem Sie Ihren
Antrag vorgelegt haben – subventionieren werden sollten.
Aber warum diskutieren wir darüber nicht im deutschen
Parlament? Ich kann Ihnen genau sagen, warum wir das
nicht tun. Sie haben Angst, dass die im 6. Umweltak-
tionsprogramm enthaltenen konkreten Aussagen bekannt
werden; denn wenn sie bekannt würden, dann würde die
Diskussion in Ihrer Fraktion erst richtig losgehen.

Wo wollen Sie – da wird es spannend – die Subventio-
nen hinlenken: wie bisher in den Bereich der Kohle oder
in den der erneuerbaren Energien? In Ihrem Antrag heißt
es:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung dazu auf, bei der Beratung der Vorschläge der
Europäischen Kommission für ein 6. Umwelt-
aktionsprogramm dafür Sorge zu tragen, dass der
vorliegende Entwurf um konkrete Ziele und Zeit-
pläne ergänzt wird.

Welche konkreten Ziele und Zeitpläne meinen Sie? Auf
diese Frage geben Sie in Ihrem Antrag überhaupt keine
Antwort. Das ließe sich reihenweise fortsetzen.

Heute Nachmittag haben uns Vertreter von Betriebsrä-
ten und Mitarbeiter aus der Chemieindustrie besucht. In
der Chemieindustrie wird im Augenblick darüber disku-
tiert, wie sich die Politik bezüglich der Chemikalien ver-
ändern wird. Darauf wird im Umweltaktionsprogramm
eingegangen. Auch an dieser Stelle wird deutlich, warum
Sie als Sozialdemokraten eine konkrete Diskussion im
Deutschen Bundestag nicht wollen. Die Europäische

Union fordert zum Beispiel die Einführung eines Emissi-
onshandels. Das hört sich im ersten Augenblick phantas-
tisch an. Es stellen sich nur folgende Fragen: Soll der
Emissionshandel auf europäischer Ebene durchgeführt
werden? Dazu gibt es keinen konkreten Vorschlag. Soll
der Emissionshandel auf nationaler Ebene durchgeführt
werden? Sie selbst wissen doch, dass Ihre Vorberatungen
noch lange nicht so weit sind, dass Ihre Regierung einen
Gesetzentwurf zum Emissionshandel auf nationaler
Ebene einbringen kann, wo ein solcher Handel sinnvoll
wäre.

Die Europäische Union schlägt in den Begleitpapieren
zum 6. Umweltaktionsprogramm vor, einen Emissions-
handel auf Unternehmensebene durchzuführen. Das be-
deutet, dass Sie den großen chemischen Fabriken Chargen
vorgeben müssen. Es ist ganz klar, dass multinationale
Konzerne wie BASF einen Teil ihrer Produktion ins Aus-
land verlagern werden, wenn ihnen solche Caps vorgege-
ben werden.

Betriebsräte von der IG BCE sind zu uns gekommen
und haben gesagt: Das, was Rot-Grün machen will und
in den Antrag hineingeschrieben hat, darf auf keinen Fall
realisiert werden, weil das nicht nachhaltig ist. Nachhal-
tigkeit bedeutet nämlich, zwischen ökologischen, ökono-
mischen und sozialen Aspekten abzuwägen. In dem
Entwurf des Umweltausschusses des Europäischen Par-
laments gibt es Stellen, an denen man als Umweltpoliti-
ker die Frage aufwerfen muss, ob es ökologisch sinnvoll
ist, wenn die Produktion aufgrund falscher Vorgaben nur
verlagert wird. Dadurch werden Arbeitsplätze beein-
trächtigt, und Sie gewinnen ökologisch überhaupt nichts
für die gesamte Situation.

Das alles steht in diesen Papieren. Und Sie bringen am
Dienstag einen Antrag ein und sagen: Den wollen wir am
Donnerstag ohne Beratung in den Ausschüssen schon ab-
schließend behandeln.


(Ursula Burchardt [SPD]: Aber zu einem anderen Thema!)


– Das ist das Thema! – Sie wollen durch diese Vorge-
hensweise nur eine intensive Beratung in den Ausschüs-
sen verhindern.

Wo war denn bisher die heftige Kritik am so genannten
5. Umweltaktionsprogramm? Es war einhellige Mei-
nung – das ist auch am letzten Mittwoch im Umweltaus-
schuss bei einem anderen Tagesordnungspunkt gesagt
worden, als nämlich der Bericht des Umweltbundesamtes
vorgelegt wurde –: Das 5. Umweltaktionsprogramm ist zu
nebulös gewesen, es hat keine richtigen Leitideen für die
Umweltpolitik enthalten. Aber – so sagten auch die Fach-
leute – das jetzt vorliegende 6. Umweltaktionsprogramm
muss sich sogar den Vorwurf gefallen lassen, dass es in
vielen Bereichen noch viel weniger konkret ist als das
Vorgängerprogramm. Es wird in diesem Programm über-
haupt nicht dargestellt, wie zum Beispiel die Verzahnung
zwischen den verschiedenen medialen Bereichen, zwi-
schen den verschiedenen sektoralen Bereichen stattfin-
det.

Es soll jetzt neue Ansätze geben: Querschnittsaufgabe
Nachhaltigkeit. Das ist ja richtig. Sie sagen: Ich brauche




Dr. Peter Paziorek

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(D)



(A)



(B)


jetzt eine Leitidee, um diese Verzahnung tatsächlich her-
zustellen. Recht haben Sie. Aber sagen Sie uns doch ein-
mal in dem Antrag, wie Ihre Leitidee konkret aussehen
soll, um diese Verzahnung zu ermöglichen! Das steht an
keiner Stelle in Ihrem Papier, weil Sie nämlich, wenn Sie
es täten, in Ihrer Fraktion Fronten aufreißen würden – bei
den Grünen vielleicht nicht, aber bei der SPD –, wie es in
der Kohle- und wie es in der Umweltpolitik weitergeht,
wie es in der Chemikalienpolitik weitergeht. Es gibt ja
Ausführungen in diesem Umweltaktionsprogramm auch
zur Chemikalienpolitik. Es wird gesagt: Das müssen wir
unterstützen. Zu der Frage zum Beispiel, ob auch für den
letzten kleinen mittelständischen Handwerker Vorgaben
gemacht werden müssen – wenn etwa ein Lack angewen-
det wird –, sagen Sie nichts. Das sind die Themen, die im
Augenblick diskutiert werden.

Deshalb kann ich nur sagen, dass Ihr gesamter Antrag
nur einen tieferen Grund hat: Sie wollen eine Aussprache
zu den wirklich spannenden Themen, wie nämlich Öko-
nomie, Ökologie und Soziales verbunden werden können,
im Deutschen Bundestag nicht führen. Sie kneifen,


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Günter Gloser [SPD]: Es wird nicht besser, wenn Sie es wiederholen!)


Sie tauchen weg und legen einen Antrag vor, der nur ganz
allgemein und pauschal ausgerichtet ist.

Ich kann zusammenfassend nur sagen: Ihr Antrag soll
Initiative vortäuschen. Er ist jedoch letztlich nichts ande-
res als das Eingeständnis von Unfähigkeit, konkret Profil
zu zeigen, Profil im Sinne einer nachhaltigen Umweltpo-
litik.

Mit Blick auf die Vorbereitung für Göteborg wie auch
für den Weltgipfel im Jahre 2002 in Südafrika fordern wir
die Bundesregierung auf, die nationale und internationale
nachhaltige Umweltpolitik zu konkretisieren, die Aus-
sprache hier in diesem Hause zu suchen, konkrete Initia-
tiven, wie es sie bei den Vorgängerregierungen gab, auf-
zugreifen und nicht mehr, wie mit diesem Antrag, nur
verbale Absichtserklärungen vorzutragen. Gleich wird
mein Fraktionskollege Arnold Vaatz auch darauf hinwei-
sen, wie schlecht bisher die Umweltpolitik teilweise ko-
ordiniert worden ist.

Man kann abschließend wieder einmal sagen, dass Sie
einen allgemeinen Antrag vorgelegt haben, weil der Satz
auch für Sie gilt: Wenn ein Kapitän nicht weiß, welches
Ufer er ansteuern soll, dann ist kein Wind der richtige.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Günter Gloser [SPD]: Sie haben noch nicht einmal das Meer gefunden! – Franziska EichstädtBohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CDU als neue Umweltpartei!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417017900
Das Wort
hat jetzt der Kollege Winfried Hermann vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417018000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Lieber Kollege Paziorek, um in der Sprache des See-
manns zu bleiben: Das einzige Problem Ihrer Rede war,
dass Sie nicht wissen, auf welchem Dampfer wir sind. Das
ist Ihr Problem.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das weiß ich schon!)


Es tut mir herzlich Leid. Es ist normalerweise, Kollege
Paziorek, pure Polemik, wenn man sagt: Sie wissen nicht,
wovon Sie reden. Aber ich muss Ihnen in dem Fall wirk-
lich allen Ernstes sagen: Sie haben in Ihrer gesamten Rede
zum 6. Umweltaktionsprogramm und zu dem entspre-
chenden Antrag geredet. Das ist aber nicht das Thema der
heutigen Tagesordnung. Wir reden heute über die europä-
ische Nachhaltigkeitsstrategie


(Zuruf von der CDU/CSU: Das liegt dem doch zugrunde!)


und nicht über das Umweltaktionsprogramm. Insofern
haben Sie komplett am Thema vorbei gesprochen.


(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Deswegen werde ich auch im Einzelnen gar nicht auf Sie
eingehen können.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das können Sie auch nicht!)


Ich werde in einem Punkt auf Sie eingehen, bei dem es
Überschneidungen gibt. Bisweilen sagen Europaspötter:
Gottes Mühlen mahlen langsam, aber die der Europä-
ischen Union noch langsamer. Das hat sehr lange Gültig-
keit gehabt. Aber gestern hat uns die Europäische Kom-
mission überrascht, mich jedenfalls. Ich hatte mit der
Vorlage der Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen
Union durch den Präsidenten der Kommission persönlich,
Herrn Prodi, gestern nicht gerechnet.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja, weil unsere Michaele Schreyer da ist!)


Sie steht unter dem Titel „ASustainable Europe for a Bet-
ter World: AEuropean Union Strategy for Sustainable De-
velopment“. Kollege Paziorek, das ist das Thema, darum
geht es. Dazu haben Sie nicht gesprochen.


(Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Da sind ein paar Hammer für die SPD-Fraktion drin! Für Sie ist das kein Problem, aber für die SPD-Fraktion!)


Dieser Entwurf soll in Göteborg besprochen und dis-
kutiert werden. Das war der Grund, warum wir gesagt ha-
ben: Wir müssen das heute ins Plenum bringen, um unse-
rer Regierung noch einmal einen Anstoß zu geben, wie sie
über diese Strategie verhandeln soll.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)





Dr. Peter Paziorek
16668


(C)



(D)



(A)



(B)


Was steht nun in diesem Papier? Ich finde, es ist für die
Verhältnisse der Europäischen Union durchaus ehrgeizig.
Es erfüllt übrigens in vielen Bereichen bereits die Ziele
unseres Antrages. Es benennt die zentralen Herausforde-
rungen aus europäischer Sicht: Treibhauseffekt und
Klimawandel, Gesundheitsgefahren und Lebensmittelsi-
cherheit, Armut – übrigens keine Frage des Umweltak-
tionsprogramms –, Überalterung der Bevölkerung – auch
kein Umweltthema –, Artenrückgang und Artensterben
und schließlich übermäßige Belastungen durch Verkehr.

Dieses Konzept hat eine klare Gliederung. Es enthält
konkrete Qualitätsziele, die ich nicht in allen, aber in vie-
len Bereichen sehr interessant finde. Darüber müssen wir
streiten. Es wird vorgeschlagen, eine jährliche Bericht-
erstattung einzuführen und jedes Jahr zum Frühjahrsrat
der Europäischen Union neben dem Beschäftigungsgipfel
einen Nachhaltigkeitsinformationsgipfel zu veranstalten.
Das ist ein echter Fortschritt.

Herr Paziorek, auf europäischer Ebene gibt es dem-
nächst einen Nachhaltigkeitsrat. Er wird „Round Table“
heißen. Dessen Konstruktion entspricht unserer Konzep-
tion eines Nachhaltigkeitsrates für Deutschland.

Ich finde es auch sehr interessant, dass die Europäische
Union klipp und klar sagt: Wir brauchen mehr Bürger-
beteiligung – Kollegin Burchardt hat das angemahnt –,
mehr Bürgerengagement im Sinne der nachhaltigen Ent-
wicklung. Wir müssen auch mehr in Sachen Bildung für
nachhaltige Entwicklung tun – ein schöner Vorschlag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich darf Ihnen einige dieser, wie ich finde, anspruchs-
vollen Ziele einmal vortragen: Die Europäische Union
will die Treibhausgase bis zum Jahre 2020 um jährlich
1 Prozent, gemessen an 1990, reduzieren. Das ist sehr an-
spruchsvoll und deutlich mehr als das, was bisher auf der
Ebene der Europäischen Union verhandelt wurde.

Die Europäische Union will – das wird die CDU nicht
freuen – bis zum Jahre 2002 eine Richtlinie zur europa-
weiten, harmonisierten Energiebesteuerung und Ressour-
cenbesteuerung vorlegen.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Dann ist Schluss mit der billigen Tankstellenrhetorik der
CDU. Dann wird sozusagen europaweit Ökosteuer ge-
macht.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Die EU will keine Ökosteuer, sondern einen Emissionszertifikatehandel, Herr Herrmann!)


Die EU schlägt vor, dass bis 2020 biogene Treibstoffe
einen Anteil von 20 Prozent erreichen sollen. Das ist eben-
falls ein anspruchsvolles Ziel, das uns auch national he-
rausfordert.

Sie will im Bereich der Chemikalienpolitik – das hat-
ten Sie kurz angesprochen, weil es auch im Umweltak-
tionsprogramm steht – bis 2020 zu einer sicheren Kreis-
laufwirtschaft ohne Belastungen für Umwelt und Mensch
kommen. Auch dies ist ein weit reichendes Ziel. Beginnen

will man 2004 mit der Umsetzung des Weißbuchs in einer
neuen Richtlinie.

Es wird die Entkopplung von Wirtschaftswachstum
und Ressourcenverbrauch vorgegeben. Das ist ein Ziel,
über das wir auf nationaler Ebene schon lange diskutieren.
Wenn es aber europaweit gilt, auch für die neuen Staaten,
dann ist es sehr ambitioniert.

Die externen Preise des Verkehrs, die gesellschaftli-
chen und ökologischen Kosten, sollen internalisiert wer-
den, und das schon ab 2005. Meine Damen und Herren
von der Opposition, Sie müssen sich einige Gedanken ma-
chen, wie Sie zukünftig überhaupt noch in der Debatte
eine Rolle spielen wollen.

Schwerpunkt der öffentlichen Infrastrukturinvesti-
tionen soll eindeutig der öffentliche Verkehr sein. Das ist
der neue Akzent, den wir als neue Regierung setzen. Er
gilt jetzt also auch europaweit.

Jetzt habe ich die EU viel gelobt. Ich will auch deutlich
machen: Es ist nicht alles gut. Wir sehen noch Verbesse-
rungsmöglichkeiten. Dass man den Aspekt der Umwelt-
entwicklung weitgehend ausgeklammert und gesagt hat,
das liefern wir erst nächstes Jahr nach, ist zum Beispiel
schade; denn damit macht sich die EU ein Stück weit an-
greifbar. Sie verfährt nämlich nach dem Motto: Wir han-
deln nur in unserer komfortablen, elitären europäischen
Festung nachhaltig. Es ist aber auch nötig, dass die Euro-
päische Union ihre Wirtschaftsweise und den Lebens-
wandel ihrer Bürger am Maßstab der Nachhaltigkeit misst
und auf Auswirkungen auf andere Länder überprüft. Es
muss auch in Europa über den „ökologischen Rucksack“
unserer Lebensweise diskutiert werden. Eine europäische
Strategie der Nachhaltigkeit muss auch aufzeigen, wie wir
die ökologischen Problempakete anpacken, die wir zu-
lasten der Dritten Welt schnüren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Unser Wunsch an die Regierung und damit an den Rat in
Göteborg ist, dass auch für andere Felder, auf denen es noch
nicht so konkrete Maßnahmen wie zum Beispiel im Bereich
des Klimaschutzes gibt – das kann man nachlesen –, son-
dern eher allgemeine Absichtserklärungen vorherrschen,
konkrete Ziele mit Zeitangaben und möglichst einleuch-
tenden Indikatoren vorgegeben werden.

Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle
der schwedischen Ratspräsidentschaft außerordentlich
danken. Sie hat dafür gesorgt, dass Nachhaltigkeits-
strategien auf europäischer Ebene so weit vorangebracht
wurden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein Grund dafür, dass sie es so erfolgreich tun konnte, lag
in ihrer Glaubwürdigkeit; denn schon seit 1996 gibt es in
Schweden eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie auf ge-
setzlicher Basis, die mehrfach überarbeitet und mit ganz
konkreten Zielen für viele Bereiche versehen wurde.

Ich möchte auch noch einmal den Begriff der Um-
weltintegration aufgreifen, der vom Kollegen Paziorek




Winfried Hermann

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(C)



(D)



(A)



(B)


aus einem anderen Blickwinkel angesprochen wurde. Da-
mit möchte ich deutlich machen, warum Sie meiner Mei-
nung nach ein Stück weit an der Sache vorbei gesprochen
haben. Das Prinzip der Umweltintegration, das gerade
durch das Umweltaktionsprogramm nochmals verstärkt
werden soll, nachdem das, wie man im Rückblick fest-
stellen muss, durch das 5. Aktionsprogramm nicht gelun-
gen ist, gilt es weiterhin durchzusetzen. Das wird über-
haupt nicht bestritten und auch im Entwurf zur
Nachhaltigkeitsstrategie ausdrücklich noch einmal be-
tont. Hier liegt kein Konkurrenzverhältnis vor, sondern
hiermit wird ein ökologischer Schwerpunkt gesetzt, der
Teil des europäischen Vertragswerkes ist, gemäß dem
Umweltziele in alle anderen Politikbereiche zu integrie-
ren sind. Aber hierbei geht es eben nur um Umweltziele,
während die Nachhaltigkeitsstrategie weit über das Öko-
logische hinausgeht und ein ambitionierteres Vorhaben
ist; sie hat nämlich soziale, ökonomische und weitere Di-
mensionen. Auch diese müssen nachhaltig gestaltet wer-
den.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:
Die EU hat lange gezögert und lange gebraucht, bis sie die
in Rio eingegangenen Verpflichtungen aufgegriffen und
in konkretes Handeln bzw. in Strategievorschläge um-
gesetzt hat. Der Antrag der Koalitionsfraktionen wurde
noch aus dem Geist heraus geschrieben, die EU müsse an-
getrieben werden, damit sie endlich etwas vorlege. Heute
müssen wir sagen: Sie hat etwas geliefert, was nicht
schlecht ist. Jetzt müssen wir aufpassen – das sage ich
ganz besonders an die Adresse der Opposition –,


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Das sagen Sie mal Ihren eigenen Leuten! – Gegenruf der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ihr Fallschirmspringer!)


dass wir den internationalen Anschluss nicht verlieren.
Wir müssen jetzt sehr aktiv, kreativ und partizipativ an ei-
ner europäischen und an einer deutschen Nachhaltigkeits-
strategie arbeiten.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Günter Gloser [SPD]: Das war ein Beispiel, wie man zum Thema sprechen kann!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417018100
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von der F.D.P.-
Fraktion.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1417018200
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P. begrüßt grundsätz-
lich den Vorstoß der EU-Kommission, den Lissabon-Pro-
zess um die Umweltdimension zu erweitern und somit
eine Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit in der EU
einzuleiten.


(Beifall bei der F.D.P.)


Aber der Antrag, den Sie hierzu vorlegen, ist schon be-
merkenswert.


(Zustimmung bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Er ist deshalb bemerkenswert, weil Sie trotz einstimmigen
Beschlusses des Deutschen Bundestages die Sache bis vor
kurzem verschlafen haben.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Gut, dass unsere Frau Homburger immer so wach ist!)


Nachdem Sie die Koalition gebildet und die Regie-
rungsverantwortung übernommen hatten, hatten Sie so-
fort erklärt, dies umsetzen zu wollen; es gab ja auch schon
während der letzten Legislaturperiode einen entsprechen-
den Beschluss des Deutschen Bundestages. Aber nach
dieser Erklärung vor zweieinhalb Jahren kam erst einmal
lange nichts. Vor zwei Jahren, nämlich im Juni 1999, hat
der Umweltausschuss des Deutschen Bundestages ein-
stimmig beschlossen, dass ein nationaler Nachhaltig-
keitsrat eingesetzt werden soll. Im Januar 2000 hat das
Plenum des Deutschen Bundestages dies ebenfalls ein-
stimmig beschlossen.


(Rainer Brinkmann [Detmold] [SPD]: Und heute haben wir ihn!)


Im Juni 2000 habe ich nachgefragt: Es wurde geantwortet,
der Nachhaltigkeitsrat werde in Kürze eingesetzt.


(Ursula Burchardt [SPD]: Jetzt sind Sie traurig, dass es ihn gibt! – Weiterer Zuruf von der SPD: Was lange währt, wird endlich gut!)


Im April 2001 haben Sie ihn endlich zu Wege gebracht.
Sie haben dafür also knapp zwei Jahre gebraucht. Trotz-
dem haben Sie jetzt den Anspruch, den Nachhaltigkeits-
prozess in Europa vorantreiben zu wollen. Da werden die
anderen Länder angesichts der Leistungen, die Sie hier in
Deutschland erbracht haben, aber beeindruckt sein.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ursula Burchardt [SPD]: Angesichts der Kommentare der Opposition!)


Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass Ihr Antrag nur Ak-
tivität vortäuscht.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Reden Sie von Herrn Westerwelle?)


Bemerkenswert finde ich es auch, dass Herr Bury zu die-
sem Thema reden wird. Ich begrüße den Herrn Staatsmi-
nister ganz besonders.


(Beifall bei der F.D.P.)

Er sollte eigentlich schon seit Januar im Umweltaus-
schuss des Deutschen Bundestages einen Bericht abge-
ben, weil die Regierung in dieser Frage nicht vorwärts
kam. Es gab aber immer zig Gründe, warum er sich im
Umweltausschuss nicht hat sehen lassen. Ich bin also ge-
spannt darauf, was er uns heute zu sagen hat. Vorhin
wurde das Beispiel von Herrn Prodi gebracht. Sie können
daraus lernen. Vielleicht kommen Sie dann besser voran
als bisher.




Winfried Hermann
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(C)



(D)



(A)



(B)


Hinzu kommt, dass der nationale Nachhaltigkeitsrat
von vornherein torpediert wird. Es soll doch das Ziel er-
reicht werden, ökonomische, ökologische und soziale
Aspekte bei Entscheidungen für die Zukunft gleicher-
maßen zu berücksichtigen. Das haben wir gemeinsam
festgelegt. Stattdessen erklärt der Bundeskanzler Gerhard
Schröder – meines Wissens von der SPD – laut ddp aus
Anlass der Einführung des Nachhaltigkeitsrates, dieser
solle kein zweiter Umweltrat sein; er solle vielmehr öko-
nomische Fragen berücksichtigen. Mir scheint sinnvoll zu
sein, dass Sie erst einmal Herrn Schröder informieren und
auf Linie bringen, bevor Sie Europa voranbringen wollen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn für einen Nachhaltigkeitsbegriff?)


Obwohl Sie bis heute national keine Handlungsfelder
definiert haben – der Nachhaltigkeitsrat wurde ja gerade
erst eingesetzt –, legen Sie in Ihrem Antrag ein ganzes
Sammelsurium von Handlungsfeldern für die europäische
Ebene fest.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wohl überlegte und wohl begründete Handlungsfelder!)


Sie haben sie vorhin genannt, Frau Burchhardt und Herr
Hermann. Ich brauche sie deswegen nicht zu wiederho-
len.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau!)


Sie haben diese Handlungsfelder noch um zwei Punkte
über das hinaus, was die EU-Kommission vorschlägt, er-
weitert. Sie, Herr Hermann, nennen das ambitioniert.


(Günter Gloser [SPD]: Ehrgeizig!)

Ich sehe das nicht so. Die F.D.P. unterstützt diesen Kata-
log nicht, weil er nicht zielführend ist und weil er zu viel
enthält. Damit werden Sie auf jeden Fall scheitern.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben noch gar keine Ziele genannt! Woher wissen Sie denn, was zielführend ist? – Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Widersprüchlich!)


Die Begriffe sind außerdem zu weit gefasst. Sie haben
selbst gesagt, Frau Burchhardt, die Punkte müssten noch
konkretisiert werden. Es gibt keine klare Kompetenzver-
teilung. Bei den Punkten, die in dem Katalog von der EU-
Kommission und von Ihnen aufgelistet werden, besteht
die Gefahr der Verletzung des Subsidiaritätsprinzips.
Um es klar zu sagen: Die F.D.P. will eine klare Kompe-
tenzverteilung zwischen EU und Nationalstaaten im Ver-
fassungsvertrag bis 2004 regeln. Dabei können wir uns
gerade im Umweltbereich einiges an gemeinschaftlichen
Regeln vorstellen, um Wettbewerbsverzerrungen zu ver-
hindern. Wir dürfen nicht national, sondern müssen eu-
ropäisch und international in der Umweltpolitik handeln,
aber unter strikter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips.

Das ist weder mit dem EU-Vorschlag noch mit Ihrem An-
trag sichergestellt.


(Rainer Brinkmann [Detmold] [SPD]: Aber nicht neoliberal!)


Hinzu kommt: Sie machen den Vorschlag, den Nach-
haltigkeitsprozess durch ein Monitoring zu überwachen.
Das ist prinzipiell richtig.


(Zuruf von der SPD: Aha!)

Aber im Rahmen der Lissabon-Strategie dürfen keine
überflüssigen neuen bürokratischen Elemente eingeführt
werden. Auf den ersten Blick ist Ihr Antrag ganz in die-
sem Sinne. Sie sagen, es existiere bereits ein Monitoring-
system; dieses könne man in den Umweltbereich einbe-
ziehen. Was Sie allerdings nicht sagen, ist, dass in diesem
Monitoringprozess bisher nur wirtschaftliche und soziale
Indikatoren berücksichtigt werden. Dabei handelt es sich
um Daten, die heute schon erhoben werden und beim Sta-
tistischen Bundesamt abgerufen werden können.

Aber das, was Sie in Ihrem Antrag an Themen behan-
deln, wird dazu führen, dass eine ganze Reihe von Daten
erst einmal erhoben werden muss. Das entsprechende Da-
tenmaterial liegt gar nicht vor, um es in einen Monito-
ringprozess einzubeziehen.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist ja fürchterlich!)


So schafft man neue Bürokratie und erreicht nichts ande-
res, als Berichtspflichten einzuführen, die neben hohem
bürokratischem Aufwand wahrscheinlich nichts anderes
bringen als Datenfriedhöfe.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich komme zum Schluss. Die F.D.P. begrüßt grundsätz-

lich – ich sage es noch einmal – die Erweiterung der
Lissabon-Strategie um die Umweltdimension. Auch wir
wollen eine europäische Nachhaltigkeitsstrategie, die alle
drei Säulen des Begriffs umfasst. Ein solches Vorhaben
kann man aber nicht im Hauruckverfahren – ohne Befas-
sung im Ausschuss und ohne saubere Abstimmung –
durchs Plenum peitschen. Hier einfach abzustimmen wird
der Sache insgesamt nicht gerecht und deswegen werden
wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417018300
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Kersten Naumann von
der PDS-Fraktion das Wort.


Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417018400
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Seit der Konferenz von Rio 1992 ist der
Begriff „nachhaltige Entwicklung“ zu einem umweltpoli-
tischen Leitbild geworden. Die integrierende Betrachtung
ökologischer, ökonomischer und sozialer Probleme macht
den übergreifenden Zusammenhang deutlich, in den die
Umweltprobleme gestellt werden müssen.

Die Koalition hat in ihrem Antrag hoch gesteckte Ziele
formuliert, was die PDS sehr begrüßt. Zu Recht sind die
bisher weitgehend unverbundenen Sektorstrategien zur




Birgit Homburger

16671


(C)



(D)



(A)



(B)


Einbeziehung des Umweltschutzes aufeinander abzustim-
men; zu Recht wird von der Stärkung der Beschäftigung
gesprochen; denn man kann dem Markt nicht die Dimen-
sion einer sozialökologischen Nachhaltigkeit überlassen.
Schließlich ist im Antrag von klaren Zielvorgaben und
zeitlich definierten Schritten zur Umsetzung die Rede.
Leider finden sich im Forderungsteil jedoch keine kon-
kreten Vorstellungen und keine Angebote als Auftrag an
die Bundesregierung.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!)

Ein Vergleich des vorliegenden Antrags mit der von der

Koalition formulierten nationalen Nachhaltigkeitsstrate-
gie macht deutlich, dass es gravierende Unterschiede gibt:
Warum werden nicht auch die Atomkraft, mehr Genera-
tionengerechtigkeit, eine breitenwirksame Medien- und
Bildungsoffensive sowie friedenspolitische Aspekte in
die europäische Nachhaltigkeitsstrategie einbezogen?
Schwerpunkte einer Nachhaltigkeitsstrategie müssten un-
ter anderem sein: eine Langfrist- und Folgeorientierung,
die Verbindung von regionalen und globalen Analyseebe-
nen, die Orientierung an gesellschaftlichen Bedürfnisfel-
dern, eine Akteurs- und Anwenderorientierung, Sozial-
verträglichkeit und die Bildung und Erziehung zur
nachhaltigen Entwicklung.

Oft verbirgt sich hinter dem Etikett „nachhaltige Ent-
wicklung“ nur eine schöne Ummantelung konkreter Pro-
jekte, deren Nachhaltigkeit für die Zukunftsfähigkeit der
Gesellschaft umstritten ist. Seit Jahren ist ein zuneh-
mendes ökologisches Unwohlsein in der Gesellschaft zu
beobachten. Um dem Einhalt zu gebieten, gibt es inzwi-
schen sehr viele Papiere zur Nachhaltigkeit auf allen Ebe-
nen. Sie sollen den Ergebnissen von Rio, der Agenda 21
oder dem Vertrag von Amsterdam Rechnung tragen.

Auch in der Wirtschaft haben sich fast alle großen
Konzerne die Nachhaltigkeit in ihre Unternehmensphilo-
sophie geschrieben, mit dem Erfolg, dass seit Jahren die
profunden Aussagen und Analysen in Umweltberichten,
des Rates der Sachverständigen für Umweltfragen und
der damaligen Enquête-Kommission „Schutz des Men-
schen und der Umwelt“ zunehmenden Ressourcenver-
brauch, abnehmende Artenvielfalt sowie hausgemachte
Katastrophen verkünden und dass seit Jahren bei jeder
Rationalisierung, bei jeder Fusion Arbeitsplätze abgebaut
werden. Seit Jahren wird politisch verbal auf Nachhaltig-
keit gesetzt; aber nachhaltig gestalten sich nur die Profite
der Großindustrie.

Auch bei dem Verbraucher stellt sich – bewusst oder
unbewusst – ein zunehmendes ökologisches Unwohlsein
ein. Das beginnt frühmorgens beim Zähneputzen mit dem
Geschmack von chloriertem Wasser. Das setzt sich fort,
wenn man – bei ständig steigenden Preisen für eine Um-
weltkarte – mit dem Bus im Stau steht, und es endet mit
einem Biss ins Ungewisse, obwohl die Qualität und die
Sicherheit deutscher Lebensmittel schon von jeher als die
besten propagiert werden. Der Hauptkonflikt für eine
nachhaltige Entwicklung besteht nun einmal zwischen
den wirtschaftsorientierten Kapitalinteressen sowie dem
Wunsch nach menschenwürdigen Lebensbedingungen
und Lebensweisen, die das untrennbare Verflochtensein
von Mensch und Natur beinhalten.


(Beifall bei der PDS)


Die Nachhaltigkeitsstrategie scheint daher eher eine
End-of-pipe-Strategie, eine Reparaturtechnologie, zu
sein. Sie bekämpft nicht die wahren Ursachen von Um-
weltzerstörung, Hunger in der Welt, Fehlernährung in den
Industrieländern sowie von wirtschafts- und sozialpoli-
tisch negativen Tendenzen in Entwicklungsländern. Was
uns in diesem Antrag fehlt, ist die Einsicht der Politik,
dass eine breite Integration des Umweltschutzes mit einer
Weiterentwicklung der Öffentlichkeitsbeteiligung ver-
bunden werden muss. Deshalb wird sich die PDS bei der
Abstimmung über diesen Antrag der Stimme enthalten.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417018500
Für die
Bundesregierung hat jetzt der Staatsminister Hans Martin
Bury das Wort.

H
Hans Martin Bury (SPD):
Rede ID: ID1417018600
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Angesichts des schnellen technischen, wirtschaft-
lichen und gesellschaftlichen Strukturwandels wächst das
Bedürfnis nach einer langfristigen Orientierung deutscher
und europäischer Politik. Die Frage lautet: Wie wollen wir
in Zukunft leben? Wir müssen heute die Weichen stellen,
damit auch nachfolgende Generationen in einer gesunden
Umwelt leben und ihre Chancen auf Bildung, befriedi-
gende Arbeit und Wohlstand ergreifen können.

Unser Leitfaden ist die Idee der nachhaltigen Entwick-
lung. Ich begrüße es deshalb, dass auch auf EU-Ebene eine
Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitet wird. Wer in Göteborg
die europäische Diskussion glaubwürdig führen will,
muss auch im eigenen Land die Herausforderung anneh-
men.

Bei allem Respekt, Frau Kollegin Homburger, da ver-
deckte Ihr starker Auftritt doch eher die schwachen In-
halte Ihrer Partei.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Gudrun Kopp [F.D.P.]: Na, na, na!)


Ich freue mich ja, dass Sie jeden Schritt unserer fort-
schrittlichen Politik so aufmerksam verfolgen.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Das sollten Sie bei uns auch tun!)


Ich kann das auch verstehen; denn Sie hatten in 16 Jahren,
von denen Sie acht Jahre persönlich hier zugebracht ha-
ben, einige Gelegenheit, in puncto Nachhaltigkeit Wei-
chen zu stellen. Aber das einzig Nachhaltige Ihrer Politik
war, dass sie nachhaltig falsch war und ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für die Bundesregierung bedeutet Nachhaltigkeit nicht
einfach die Fortsetzung der Umweltpolitik mit anderen
Mitteln. Nachhaltigkeit ist ein Handlungsprinzip, das für
alle Politikbereiche gilt:


(Christine Ostrowski [PDS]: Richtig!)





Kersten Naumann
16672


(C)



(D)



(A)



(B)


von der Haushaltskonsolidierung über die Stärkung der
Zukunftsbereiche Bildung und Forschung bis zur neuen
Säule der Altersvorsorge oder dem Einstieg in eine neue
Energiepolitik. Zukunftsfähigkeit ist der rote Faden des
Regierungshandelns.

Die Bundesregierung hat zudem einen Staatssekre-
tärsausschuss für nachhaltige Entwicklung, das „Green
Cabinet“, eingesetzt.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Ein Ausschuss ist schon mal gut!)


Seine wichtigste Aufgabe ist es, für die Rio-Folgekon-
ferenz 2002 in Johannesburg eine nationale Nachhal-
tigkeitsstrategie zu entwickeln. Schon während des Ar-
beitsprozesses ist ein kontinuierlicher Dialog mit den
gesellschaftlichen Gruppen und der Bevölkerung vorge-
sehen. So hat auch der Rat für nachhaltige Entwicklung
seine Arbeit aufgenommen. Von ihm erwarten wir Bei-
träge zu diesem Dialog, weiterführende Impulse für die
Strategie und Vorschläge für konkrete Maßnahmen. Wir
wollen den bereits existierenden Kommissionsberichten
nicht einfach einen weiteren hinzufügen, sondern uns auf
zentrale Handlungsfelder konzentrieren und dafür kon-
krete Projekte auf den Weg bringen.

Im Mittelpunkt steht für uns die Steigerung der Ener-
gie- und Ressourceneffizienz.Das ist unsere Antwort auf
steigende Ölpreise und auf die Herausforderungen des
Klimaschutzes.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Damit vermindern wir die Abhängigkeit von Importen,
geben Impulse für Innovationen und mehr Beschäftigung.
Ich sehe darin zugleich einen entscheidenden Beitrag, um
die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirt-
schaft zu stärken. Wir wollen, dass Deutschland die Num-
mer eins ist, wenn es um neue, hocheffiziente und um-
weltverträgliche Technologien geht. Wir konzentrieren
uns dabei zunächst auf die Handlungsfelder Klimaschutz
und Energie, Mobilität sowie Umwelt, Ernährung, Land-
wirtschaft.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das sieht man überall!)


Meine Damen und Herren, die klare Setzung von Prio-
ritäten ist auch unsere entscheidende Forderung für den
Europäischen Rat in Göteborg. Angesichts der Krise der
europäischen Landwirtschaftspolitik gehört für mich vor
allem die Neuorientierung der europäischen Agrarpo-
litik und ihre Verknüpfung mit den Themen Umwelt und
Gesundheit zu den Kernthemen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Birgit Homburger [F.D.P.]: Wie soll die denn aussehen?)


Auf diesem Gebiet hat die Europäische Union umfas-
sende Kompetenzen. Hier muss Europa zeigen, wie wir
nachhaltige Entwicklung künftig buchstabieren.

Wir wollen, dass nachhaltige Entwicklung zu einem
gemeinsamen europäischen Projekt wird. Mit der gleich-
rangigen Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer

und sozialer Belange knüpft das Konzept der Nachhaltig-
keit an europäische Traditionen an und weist Europa zu-
gleich den Weg in die Zukunft. Diesen Weg wollen wir in
Göteborg fortsetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417018700
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Arnold Vaatz
von der CDU/CSU-Fraktion.


Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1417018800
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Bury, die
Kollegin Homburger hat nach meiner Auffassung zu
Recht gesagt, dass es schon richtig ist, dass Sie keine Fort-
setzung der Umweltpolitik mit anderen Mitteln betreiben.
Was Sie betreiben, ist der Stillstand der Umweltpolitik mit
anderen Leuten.


(Zurufe von der SPD: Oh! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war ja witzig!)


Ich bin auch einer Meinung mit dem Kollegen
Hermann. Sie sind auf dem richtigen Dampfer, Herr Kol-
lege Hermann, aber ich habe das Gefühl, Sie sind mit dem
richtigen Schiff auf hoher See vor Anker und merken das
nicht.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Vor Monte Carlo!)


Das Problem, das ich hier sehe, ist folgendes. Es dürfte
in diesem Raum niemand sein, der der Auffassung ist,
dass wir keine klaren Kriterien für Nachhaltigkeit brau-
chen. Ich bin auch überzeugt, dass es notwendig ist, uns
sehr genau Gedanken darüber zu machen, wie das Moni-
toring aussehen muss, damit wir die Zielabweichungen
von der Nachhaltigkeit in verschiedenen Politikdiszipli-
nen feststellen können. Daran gibt es sicher keinen Zwei-
fel. Aber der Teufel steckt nach meiner Auffassung im De-
tail.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!)

Es muss klar werden, wo diese großen philosophischen
Forderungen tatsächlich die Erde berühren,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

wo sie die Umweltpolitik erreichen und in sie eingreifen.
Da schweigen Sie sich in Ihrem Antrag leider aus


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


und das bemängeln wir.
Ich will zum Beispiel fragen: Wie soll nach Ihrer Mei-

nung nach diesen Kriterien ein Zustand, wie er im euro-
päischen Umweltrecht im Augenblick vorhanden ist,
nämlich dass es sehr viele unterschiedliche Gesetze gibt,
die nicht übereinstimmen, bewertet werden, zum Beispiel
die Tatsache, dass in Dänemark Dosenverkauf verboten,
aber die Herstellung von Dosen erlaubt ist und wir uns in
Deutschland mit den importierten Dosen und der Mehr-
wegquote herumschlagen? Solche Fragen sind konkreter




Staatsminister Hans Martin Bury

16673


(C)



(D)



(A)



(B)


Natur. Der Bürger wartet darauf, beurteilt zu sehen, an
welcher Stelle in diesem Zusammenhang die Nachhaltig-
keitsprinzipien verletzt werden. Das machen Sie aber
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Als Nächstes zum Thema Vollzugsqualität. Sie wis-

sen alle, dass europaweit gleiche Trinkwassernormen gel-
ten, und diese werden scheinbar ordentlich eingehalten.
Aber wenn Sie nach Griechenland oder Süditalien fahren,
müssen Sie sich oft die Frage stellen, ob das Trinkwasser
die gleiche Qualität hat, wenn es leicht bräunlich aussieht
und etwas Nachgeschmack hat. Die EU sagt, es habe die
gleiche Qualität. Jetzt ist meine Frage: Wenn es in der Eu-
ropäischen Union diese Vollzugsdifferenzen gibt, wie
wollen Sie dann – diese Frage müssen Sie beantworten –
eigentlich garantieren, dass Nachhaltigkeitskriterien eine
höhere Autorität entfalten als die bisherigen Richtlinien
und tatsächlich eingehalten werden?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dazu sehe ich nichts in Ihrem Papier.

Wenn über diese Dinge keine Auskunft zu erhalten ist,
dann haben Sie uns letzten Endes weiße Salbe zugemutet,
statt etwas Konkretes zu sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn Sie aber nichts Konkretes sagen, wenn Sie nicht
einmal sagen, wie Sie beispielsweise Zielabweichungen,
die durch das Monitoringsystem festgestellt werden,
sanktionsbewehren wollen, wie Sie überhaupt die Dis-
kussion darüber beginnen wollen, dann führen Sie die
Menschen in die Irre. Sie spiegeln ihnen vor, dass Sie ein
Problem in Angriff genommen und gelöst haben, während
Sie es in Wirklichkeit überhaupt nicht erkannt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ursula Burchardt [SPD]: Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass das eine gemeinsame Strategie ist?)


Noch etwas gefällt mir an diesem Papier nicht. Wir ha-
ben uns in letzter Zeit sehr viel darüber unterhalten, wel-
chen Raum eigentlich freiwillige Verpflichtungen im
Wirtschaftsbereich einnehmen sollen. Ich halte es für
äußerst gefährlich, wenn der Eindruck erweckt wird, dass
das Instrument der freiwilligen Verpflichtung, das ein
wichtiges Stück Wettbewerb bei der Einhaltung von Nach-
haltigkeitskriterien darstellen könnte, durch den zu schnel-
len Griff nach ordnungspolitischen Regeln außer Kraft ge-
setzt wird bzw. keinen Raum mehr erhält. Das muss nach
meiner Auffassung in ein solches Papier hinein.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Völlig richtig!)


Wenn Sie solche Papiere vorlegen, dann gibt es noch
etwas zu beachten. Der Bürger auf der Straße – das gilt für
jedes Land der Europäischen Union – möchte die Trans-
parenz des Ganzen erkennen können. Er möchte wissen,
wie die Entscheidungen fallen, und er möchte insbeson-
dere wissen, ob Sie nun eigentlich mehr Regulierung oder
mehr Deregulierung vorhaben.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Auf jeden Fall weniger Vaatz!)


Sie aber geben keinerlei Auskunft darüber, was Sie vor-
haben.

Es ist noch eine weitere Frage von Bedeutung: Inwie-
fern sollen beispielsweise die Nachhaltigkeitskriterien bei
den europäischen Förderprogrammen berücksichtigt
werden?


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Es wär interessant, zu wissen, ob Sie europäischen För-
derprogrammen nur noch dann zustimmen wollen, wenn
sie mehr Nachhaltigkeit bringen.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das können sie nicht sagen und das wollen sie nicht sagen!)


Sagen Sie das doch! Wir wissen aber, dass Ihnen das
wehtäte, weil Sie ganz genau wissen, dass Sie dann sehr
viel Widerspruch ernten würden, auch bei den europä-
ischen Mitgliedsländern. Doch an dieser Stelle muss mei-
nes Erachtens das Fuhrwerk nach vorn geschoben wer-
den. Die Vorspiegelung, man könne darauf verzichten und
eine Reihe von wolkigen Bemerkungen machen, lassen
wir Ihnen nicht durchgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dann sage ich Ihnen noch etwas. Ich sehe nicht, wie

Sie das Prozedere gestalten wollen, solche Kriterien zu
entwickeln. Sie haben eine ganze Reihe von Angeboten,
zur Mitarbeit bekommen. So haben die Länder auf der
ACK im Mai dieses Jahres angeboten, Ihnen ihre Erfah-
rungen mitzuteilen. Die Kommunen haben erhebliche Er-
fahrungen bei der lokalen Umsetzung der Agenda 21 ge-
sammelt. Ich frage Sie: Wie wollen Sie alle diese
Erfahrungen in den europäischen Prozess einbringen?

Meine Damen und Herren, solange Sie darauf keine
Antwort geben können, sollten Sie nicht solche Anträge
stellen. Überlegen Sie sich das noch einmal in Ruhe und
bringen Sie dann etwas ein, das wirklich Hand und Fuß
hat. Ihr Antrag ist ein genaues Abbild der stagnierenden
Überlegungen der Bundesregierung zur Nachhaltigkeit.
Er ist unausgegoren, undifferenziert, wenig durchdacht,
wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet, und schadet der
Umwelt deshalb mehr, als er ihr nützt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Ursula Burchardt [SPD]: Wir sind beeindruckt, Herr Kollege!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417018900
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der
Kollege Dietmar Nietan von der SPD-Fraktion das Wort.


Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1417019000
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich bin wirklich überrascht, wie
man einen so klar strukturierten Antrag so missverstehen
kann wie Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Arnold Vaatz
16674


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn Sie aber zu dem Ergebnis kommen, dieser Antrag
werfe für Sie Fragen über Fragen auf, dann stimmt mich
das wieder hoffnungsfroh, denn Sie kennen den Spruch:
Wer nicht fragt, bleibt dumm. Also fragen Sie weiter!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie zudem der Meinung sind, dieser Antrag sei
sehr unkonkret und unspezifisch, dann kann ich Ihnen
auch da weiterhelfen. Ich empfehle Ihnen das schöne
dicke Buch mit 120 Seiten, in dem die SPD-Bundestags-
fraktion aktuell alle Facetten nachhaltiger Politik für
Deutschland und Europa beschrieben hat. Ich stelle es Ih-
nen gerne zur Verfügung. Vielleicht sind Sie dann in der
Lage, unserem nächsten Antrag zu diesem Thema zu fol-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Birgit Homburger [F.D.P.]: Es ist peinlich, wenn Sie dafür so viel Erklärungspapier brauchen!)


Sie reden hier wirklich an der Sache vorbei. Wir spre-
chen über das Konsultationspapier der Kommission zur
Nachhaltigkeitsstrategie, das seit ungefähr zwei Monaten
vorliegt und gestern zusammen mit einem, wie ich finde,
hervorragenden Papier der Kommission zur Konkretisie-
rung dieser Nachhaltigkeitsstrategie vorgestellt wurde.
Interessant ist, dass sich keiner Ihrer Beiträge auf diese
Papiere der Kommission bezog. Ich weiß nicht, ob Sie sie
nicht gelesen oder nicht verstanden haben. Aber genau um
diese Aktionen der Europäischen Kommission dreht sich
unser Antrag.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Kollege Nietan, wir haben sie schon angewandt!)


Frau Kollegin Homburger hat auf die anderen Staaten
der EU verwiesen. Ich möchte hier hervorheben, dass die
Europäische Kommission SPD und Grüne ausdrücklich
gelobt hat, weil wir eines der wenigen Parlamente sind,
die überhaupt einen konkreten Antrag zur Nachhaltig-
keitsstrategie der Europäischen Union vor dem Gipfel in
Göteborg behandeln. Das zeigt, dass wir an dieser Stelle
sehr fortschrittlich und unserer Zeit ein ganzes Stück vo-
raus sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was ist dagegen einzuwenden, dass wir versuchen wol-
len, die ehrgeizigen ökonomischen Ziele des Lissabon-
Prozesses um ökologische und soziale Ziele und Leit-
planken zu ergänzen? Nur so wird aus diesem Prozess
doch ein nachhaltiger Prozess und genau das ist es, was
wir mit diesem Antrag erreichen wollen. Wir haben die-
sen Antrag eingebracht in der Hoffnung, dass einem so
guten Anliegen eigentlich jeder zustimmen kann. Wir hät-
ten nicht im Traum daran gedacht, dass wir ihn noch ein-
mal in den Ausschüssen beraten müssen, weil er eigent-
lich klar gegliedert diesen fortschrittlichen Prozess
unterstützt. Dass Sie ihm nicht folgen wollen, spricht
nicht gerade für Sie.

Ich will sehr deutlich sagen, dass die Kommission in
ihren gestrigen Vorschlägen dazu, diesen Nachhaltigkeits-

prozess weiterzubringen und in Zukunft zum Beispiel bei
der Überarbeitung der gemeinsamen Agrarpolitik ein
Hauptaugenmerk auf die nachhaltige Entwicklung zu
richten, die Politik der Bundesregierung hin zu einer
Agrarwende erkennt und unterstützt. Auch da waren wir
unserer Zeit einen Schritt voraus, was man von Ihnen
nicht behaupten kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Kommission schlägt jetzt vor, dass der europäische
Gipfel in jedem Frühjahr nicht nur die Nachhaltigkeits-
strategie bewerten soll, sondern auch, wie die Umsetzung
der Nachhaltigkeitsstrategie in der Europäischen Union
und in den einzelnen Mitgliedstaaten gelingt. Damit sind
wir genau an dem Punkt, von dem der Kollege Vaatz ge-
sprochen hat, nämlich dass wir über Sanktionen erst dann
diskutieren können, wenn wir ein Überprüfungssystem
und dementsprechend Indikatoren geschaffen haben,


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das stimmt absolut!)


aufgrund deren wir dann Sanktionen verhängen können,
wenn die entsprechenden Ziele nicht erreicht werden. Ich
finde es sehr bemerkenswert, dass Sie an dieser Stelle
diese Reihenfolge offensichtlich verwechselt haben.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)


Wir stehen historisch gesehen vor der Chance – wir
wollen die Bundesregierung mit unserem Antrag bestär-
ken, diese Chance zu nutzen –, auf dem Gipfel in Göte-
borg einen wirklich großen Schritt weiterzukommen,
nämlich die nachhaltige Strategie in alle Politikbereiche
der Europäischen Union zu integrieren. Das ist ein großer
Schritt, der natürlich konkretisiert werden muss; da sind
wir uns einig.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sie wollen nicht gemachte Hausaufgaben überkleistern!)


Aber ich sage sehr deutlich: Jetzt geht es darum, diesen
Schritt in Göteborg durchzusetzen. Dafür braucht die
Bundesregierung Rückendeckung. Ich kann Sie nur
auffordern – das sollte eigentlich auch in Ihrem Interesse
sein –, durch eine große Mehrheit für diesen Antrag eine
solche Rückendeckung für die Bundesregierung herzu-
stellen. Denn es handelt sich in der Tat um sehr ehrgeizige
Ziele. Die sollten wir jetzt gemeinsam angehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich als Europapolitiker zum Schluss noch
etwas sagen: Sie sehen an diesem Antrag und zum Bei-
spiel auch an der Implementierung eines runden Tisches,
der unserem System des Nachhaltigkeitsrates folgt, dass
die Bundesregierung in Europa auf diesem Feld eine fort-
schrittliche Politik macht. Sie muss jetzt darangehen,
diese fortschrittliche Politik auch mit den europäischen
Partnern umzusetzen. Sie sehen daran in aller Deutlich-
keit, dass wir nicht nur in der Diskussion über die konsti-
tutiven Elemente und die institutionellen Reformen, die
wir im Rahmen des Leitantrages der SPD betreffend




Dietmar Nietan

16675


(C)



(D)



(A)



(B)


Europa debattieren werden, führend sind, sondern dass
wir unsere Vorschläge hinsichtlich der Reform der Insti-
tutionen auch mit konkreten Inhalten füllen. Folgen Sie
uns auf diesem Weg! Ich glaube, wir alle haben etwas da-
von.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417019100
Wir kom-
men zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Nachhaltig-
keitsstrategie der Europäischen Union. Wer stimmt für
diesen Antrag auf Drucksache 14/6057? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion
angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Günter Rexrodt, Hildebrecht Braun

(Augsburg), Rainer Brüderle, weiteren Abgeord-

neten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des deut-
schen Rabattrechts an die EU-Richtlinie über den

(RabattrechtsanpassungsG)

– Drucksache 14/4423 –

(Erste Beratung 133. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss)

– Drucksache 14/6060 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Birgit Roth

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. eine Redezeit von acht Minuten erhalten soll. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat für die an-
tragstellende F.D.P.-Fraktion die Kollegin Gudrun Kopp
das Wort.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1417019200
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Herren und Damen! Die liberale Handhabung
von Rabatten und Zugaben bringt allen Marktbeteiligten
Vorteile: den Verbrauchern wie dem Handel. – So lautet
das Ergebnis einer jüngsten internationalen Expertenbe-
fragung in verschiedenen benachbarten EU-Ländern, die
bereits Erfahrungen mit einer solchen Liberalisierung ha-
ben. Das hat die F.D.P. schon vor Jahren gewusst, nämlich
in Person des ehemaligen Wirtschaftsministers Günter
Rexrodt, der seiner Zeit weit voraus war


(Beifall bei der F.D.P.)

und die Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabe-
verordnung vorangebracht hat. Allerdings hat dieses Vor-

haben im damaligen Bundesrat keine Mehrheit gefunden.
Aber wir versuchen es wieder.

Seit sieben Monaten schon liegen die beiden erneuten
Anträge der F.D.P.-Bundestagsfraktion auf Abschaffung
des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung vor. Wir
wollen damit nicht nur EU-Richtlinien erfüllen. Durch die
Liberalisierung wollen wir Preisvorteile für die Verbrau-
cher im elektronischen Geschäftsverkehr, aber auch im
Handel schaffen. Aber was bedeutet das? Es ist typisch
deutsch, da wieder allerhand Ängste zu schüren und Pro-
bleme aufzubauen, die eigentlich gar keine sind; denn es
wird niemand nach Basar-Manier oder in Preiskriegen
über den Preis für ein halbes Pfund Butter streiten. Natür-
lich geht es vielmehr darum, dass auch höherwertige Gü-
ter zu günstigen Preisen abgegeben werden sollen – zum
Wohle der Verbraucher. Wir, die F.D.P.-Bundestagsfrak-
tion, trauen den Bürgern zu, dass sie diese Wahl eigen-
ständig treffen können und dass sie keine Bevormundung
durch den Staat brauchen, der befürchtet, dass diese Ent-
scheidung nicht von erwachsenen Menschen allein ge-
troffen werden könnte.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich hoffe, wir sind uns einig darüber, dass Auswüchse
durch das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb, also das
UWG, verhindert werden.

Eine Umfrage der Beratungsgesellschaft Ericsson
Consulting, die in verschiedenen europäischen Ländern
im vergangenen Monat durchgeführt wurde, hat zudem
ergeben, dass eine Liberalisierung der Regelungen in Ra-
battgesetz und Zugabeverordnung den größeren Firmen
keinerlei Vorteile gegenüber den kleinen Firmen gebracht
hat, sondern dass von der Liberalisierung sowohl der
kleine und mittelständische Handel als auch die Großbe-
triebe profitieren. Ich denke, wir brauchen nicht zu be-
fürchten, dass es durch die Liberalisierung zu Konzentra-
tionstendenzen im Handel kommen wird.


(Beifall bei der F.D.P.)

Heute entscheiden wir leider nur über einen unserer

Anträge, nämlich über den Antrag zur Abschaffung des
Rabattgesetzes. Ich hoffe, dass wir am heutigen Abend
mit Ihrem Votum unter Beweis stellen, dass wir im Deut-
schen Bundestag auch einmal auf ein Gesetz verzichten
können, das längst überflüssig ist. Ich denke, das wäre
vernünftig.

Ich verhehle nicht, dass ich mich darüber wundere,
dass Sie von der CDU/CSU-Fraktion ein wenig zögerlich
sind und zum einen überlegen, eine Anhörung zu diesem
Thema zu machen, die am 25. Juni stattfinden soll, und
zum anderen, ob nicht gerade dem mittelständischen Han-
del ein weiteres Jahr an Übergangsfrist zugestanden wer-
den soll, damit entsprechende Marketingstrategien vorbe-
reitet werden können. Ich denke, das brauchen wir nicht.
Der Handel weiß lange genug, was auf ihn zukommt. Wir
sollten nicht länger verzögern und Rechtsunsicherheit
schaffen.


(Beifall bei der F.D.P.)





Dietmar Nietan
16676


(C)



(D)



(A)



(B)


Zu allem Überfluss ist unser Antrag auf Abschaffung
des Rabattgesetzes im Wirtschaftsausschuss schon vor ei-
nigen Wochen von Rot-Grün abgelehnt worden.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Unerhört!)

Das Kuriose dabei ist, dass die Regierungsfraktionen in-
zwischen einen eigenen Antrag gleichen Inhalts vorgelegt
haben. Allerdings – das gestehe ich Ihnen zu –: Sie wol-
len das Gleiche wie die F.D.P.-Fraktion, nur sind die In-
halte noch nicht von jeder Fraktion genannt worden. In-
sofern hoffe ich, dass Sie heute Abend den Mut haben,
einem Antrag der F.D.P.-Bundestagsfraktion zuzustim-
men. Das wäre einmal etwas ganz Kühnes: völlig auf den
Inhalt bezogen und weg vom Taktieren.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir haben seit neuestem ein Verbraucherministe-

rium, ein Ministerium, das sich fernab von Agrarkrisen
auch um den umfassenden Verbraucherschutz kümmern
sollte. Ich vermisse in diesem Zusammenhang die Anwe-
senheit der Verbraucherministerin oder eines Vertreters
bzw. einer Vertreterin aus dem Verbraucherministerium.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Die interessiert das doch gar nicht!)


Frau Künast hat sich zum Inhalt überhaupt nicht geäußert.
Das ist eben vom Wirtschaftsministerium und im Wirt-
schaftsausschuss bearbeitet worden und hat mit dem Ver-
braucherministerium null Komma nichts zu tun. Ich finde,
das beweist sehr schön, wie wenig Bedeutung die Bun-
desregierung dem umfassenden Verbraucherschutz und
der umfassenden Verbraucherpolitik tatsächlich beimisst.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es ist schon klar, dass der Umbau der Agrarpolitik, der
nun seit vielen Monaten angekündigt wird – obwohl sich
recht wenig tut –, viel Arbeit macht. Aber wir als F.D.P.-
Bundestagsfraktion haben gleich gewarnt und gesagt:
Dies ist eine Überforderung des Ministeriums. Wichtige
andere Fragen wie die des Wettbewerbs, der Wirtschafts-
politik kommen hier einfach zu kurz.


(Zuruf von der F.D.P.: So ist es!)

Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, ich bitte Sie

sehr herzlich, heute Abend dem Antrag der F.D.P.-
Bundestagsfraktion auf Abschaffung des Ladenschluss-
gesetzes zuzustimmen und mutig nach vorne zu gehen,
um den Verbrauchern die Möglichkeit zu bieten, endlich
von günstigeren Preisen zu profitieren. Denn Sie alle wis-
sen, dass in der Praxis Preisrabatte von weit über 3 Pro-
zent bei höherwertigen Gütern an der Tagesordnung sind.
Ob Möbel, Automobile oder andere Artikel gekauft wer-
den, es ist längst an der Tagesordnung, dass sich Verbrau-
cher entsprechend orientieren. Ich finde, sie sollten das
mit Fug und Recht möglichst bald tun.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417019300
Als
nächster Redner hat der Kollege Dirk Manzewski von der
SPD-Fraktion das Wort.


Dirk Manzewski (SPD):
Rede ID: ID1417019400
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Mit dem hier debattierten Gesetzent-
wurf begehrt die F.D.P.-Fraktion die Aufhebung des Ra-
battgesetzes. Das Anliegen der F.D.P.-Fraktion, Frau
Kollegin Kopp, hat durchaus seine Berechtigung. In der
Vergangenheit hat es immer wieder Bemühungen gege-
ben, das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung ab-
zuschaffen. Der bisherige Widerstand der Wirtschafts-
und Verbraucherinteressenverbände


(Zuruf von der F.D.P.: Der Verbraucherverbände!)


ist spätestens nach der im Juli letzten Jahres in Kraft ge-
tretenen EU-Richtlinie über den elektronischen Ge-
schäftsverkehr, den so genannten E-Commerce, gewi-
chen, zu Recht. Denn danach muss sich ein Anbieter, der
über das Internet wirbt, ausschließlich an das Wettbe-
werbsrecht seines Heimatlandes halten.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Wie viel Prozent geben Sie denn für ein neues Auto?)


– Frau Kollegin, ich möchte Ihnen eines vorschlagen: Sie
lassen mich jetzt ein paar Minuten lang reden, anstatt hier
hereinzuschreien. Dann bin ich gerne bereit, Ihnen Rede
und Antwort zu stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie können mir auch eine Zwischenfrage stellen. Aber ich
bin gerade dabei, meine ersten zwei Sätze zu reden und
Sie schreien schon dazwischen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Ich rufe dazwischen! Das ist ein Unterschied!)


Warten Sie doch erst einmal ab.

(Alfred Hartenbach [SPD]: Unglaublich ist das!)

Für Anbieter mit Sitz in Deutschland würde dies eine

massive Benachteiligung gegenüber ihren Mitbewerbern
aus den Nachbarländern bedeuten, da Deutschland in die-
sem Zusammenhang innerhalb der Europäischen Union
die einengendsten Vorschriften hat. Insoweit bin ich doch
völlig auf Ihrer Seite, werte Frau Kollegin. Konkret würde
dies bedeuten, dass Anbieter aus anderen EU-Staaten in-
nerhalb der EU und damit auch in Deutschland mit hohen
Rabatten und attraktiven Zusatzleistungen Kunden wer-
ben dürften, während dies einheimischen Anbietern un-
tersagt wäre.

Daher teile ich – Frau Kollegin, das sage ich ganz deut-
lich – das grundsätzliche Ansinnen der F.D.P., dies nicht
tatenlos hinzunehmen, und halte es nur für folgerichtig,
dass der Gesetzgeber zugunsten der Chancengleichheit
Vorgaben schaffen muss, um Wettbewerbsnachteile deut-
scher Unternehmen im In- und Ausland zu verhindern.
Deshalb weise ich in diesem Zusammenhang aber auch
darauf hin, dass die Bundesregierung eigene Gesetzesent-
würfe vorgelegt hat, die genau dies zum Inhalt haben.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Eben!)

Insofern – jetzt werde ich ein bisschen ernster und all-

mählich auch böse – ist es mir völlig unverständlich – das
sage ich ganz klar –, warum wir hier heute gesondert den




Gudrun Kopp

16677


(C)



(D)



(A)



(B)


Antrag der F.D.P.-Fraktion debattieren müssen. Dies kos-
tet das Parlament nur Zeit und bringt in der Sache wenig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man gewinnt vielmehr den Eindruck – das sage ich Ih-
nen ganz klar –, dass Sie diese Debatte ausnutzen,


(Zuruf von der F.D.P.: Nicht schreien!)

um ein wenig politisches Profil zu erlangen, das Sie an-
sonsten überhaupt nicht aufweisen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es hätte Ihnen, meine Damen und Herren von der
F.D.P.-Fraktion, ganz gut angestanden, hier etwas zurück-
haltender zu sein,


(Zurufe von der F.D.P.: Oh!)

weil Sie lediglich auf einen fahrenden Zug aufgesprungen
sind. Das möchte ich hier einmal ganz klar sagen.


(Zuruf von der F.D.P.: Das gibt es doch gar nicht! Sie sind auf einen fahrenden Zug aufgesprungen! – Alfred Hartenbach [SPD]: Genau so!)


Die Bundesregierung hat – daran möchte ich Sie erin-
nern – erst im letzten Jahr eine ausführliche Anhörung zu
diesem Gesetzesvorhaben durchgeführt,


(Zuruf von der CDU/CSU: Warum schreien Sie denn so!)


an der über 70 Verbände und Interessengruppierungen
teilgenommen haben. Sie hat zu Recht erst einmal das Er-
gebnis dieser Anhörung abgewartet, was Sie leider nicht
getan haben.


(Zuruf von der F.D.P.: Doch! Im November!)

Nachdem die F.D.P.-Fraktion dann mitbekommen hat,

wohin der Zug fährt, in welche Richtung sich die Bun-
desregierung positionieren wird und wie ihr Meinungs-
bild sein wird, hat sie ganz schnell einen eigenen Gesetz-
entwurf aus der Tasche gezogen und eingebracht. Dieses
Verhalten mag zwar legitim sein, ändert aber nichts daran,
dass die F.D.P. lediglich den Ball aufgenommen hat, der
von der Bundesregierung bereits längst ins Spiel gebracht
worden war.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417019500
Herr Kol-
lege Manzewski, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kopp?


Dirk Manzewski (SPD):
Rede ID: ID1417019600
Selbstverständlich.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1417019700
Herr Kollege, meine Frage
können Sie dazu nutzen, ein wenig abzukühlen. Sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Initiative zur Ab-
schaffung des Rabattgesetzes und auch der Zugabever-
ordnung schon lange vor dieser Zeit von der F.D.P., von
Herrn Rexrodt, erfolgt ist, wie ich das eben gesagt habe?


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Aber nicht durchgesetzt!)


Sind Sie ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass un-
sere Anträge vom November des letzten Jahres datieren?

Sie haben eben davon gesprochen, dass wir auf den
fahrenden Zug aufgesprungen seien. Sie als Regierungs-
fraktion sind es gewesen, die vor wenigen Wochen Ihren
gleich lautenden Antrag nachträglich eingebracht haben.
Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Ihnen
das unangenehm sein mag, aber dass Sie damit leben müs-
sen?


Dirk Manzewski (SPD):
Rede ID: ID1417019800
Frau Kollegin, ich möchte
Ihre letzte Frage zuerst beantworten. Es ist natürlich rich-
tig, dass Sie den Gesetzentwurf als Erste eingebracht ha-
ben. Dies geschah allerdings erst – das habe ich vorhin
eindeutig gesagt –, nachdem die Bundesregierung eine
Verbandsanhörung durchgeführt hat und klar war, in wel-
che Richtung sich die Bundesregierung positionieren
würde. Das als erste Antwort.

Wenn Sie sagen, Sie haben vor drei, vier oder fünf Jah-
ren bereits eine Gesetzesinitiative eingebracht, dann mag
das sein. Ich weiß es nicht. Ich war damals noch nicht im
Bundestag. Entscheidend ist doch, dass offensichtlich
nichts passiert ist.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Das hat der Bundestag beschlossen!)


– Frau Kollegin, wir haben immer noch das Rabattgesetz
und die Zugabeverordnung. Sie sind doch in der Regie-
rung gewesen. Sie können mir doch keine Vorwürfe ma-
chen. Wenden Sie sich an Ihren ehemaligen Koalitions-
partner und nicht an uns.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ina Lenke [F.D.P.]: Warum schimpfen Sie denn? Sie schreien ja!)


– Frau Kollegin, ich bin möglicherweise ein bisschen lau-
ter geworden, weil Sie nicht in der Lage gewesen sind,
meine bis dahin ruhig vorgetragene Rede vernünftig an-
zuhören. Damit müssen Sie leben.


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Diese Rechthaberei ist unerträglich!)


– Sie ist wirklich fürchterlich. Das sehe ich genauso.
Aber ich möchte gerne in meiner Rede fortfahren. Man

kann über alles diskutieren. Ich will damit sagen, dass die
Intention Ihres Gesetzentwurfs von uns im Grundsatz ge-
teilt wird. Was ich nicht verstehe – Sie haben es selbst an-
gesprochen – ist, warum nicht abgewartet wird, bis der
Diskussionsbedarf, der offenbar besteht, befriedigt ist. Die
überwiegende Mehrheit der Wirtschafts- und Verbraucher-
verbände spricht sich tatsächlich für eine ersatzlose Ab-
schaffung aus. Aber es gibt einzelne, wenn auch wenige
Verbände, die unsicher sind, ob die bestehenden Gesetze
ausreichen, um vor einer Verwilderung der Wettbewerbs-
sitten zu schützen. Dazu gehört zum Beispiel auch der
Hauptverband des Deutschen Einzelhandels, der HDE.

Ich teile zwar die Bedenken dieses Verbandes im We-
sentlichen nicht. Aber ich halte es in der Sache für voll-
kommen richtig, die Bedenken des Einzelhandels ernst
zu nehmen. Dafür sind jedenfalls mir persönlich, Frau




Dirk Manzewski
16678


(C)



(D)



(A)



(B)


Kollegin, Thema und Klientel viel zu wichtig. Ich befür-
worte deshalb eindeutig die Vorgehensweise, nicht zu
schnell zu handeln, weil wir uns nichts vergeben, wenn
wir diese Anhörung und die Diskussion abwarten. Ich
sage Ihnen ganz klar: Es ist für mich auch Mittelstands-
politik, die Sorgen des Einzelhandels ernst zu nehmen.
Deswegen verstehe ich Ihre Ungeduld nicht.

Der Deutsche Bundestag wird eine Anhörung durch-
führen, um abzuklären, ob Rabattgesetz und Zugabever-
ordnung ersatzlos gestrichen werden können oder ob
nicht doch noch im UWG verankerte Auffangregeln zum
Schutz des Wettbewerbsrechts geschaffen werden müs-
sen. Nach der Anhörung – davon bin ich fest überzeugt –
werden wir mit noch größerer Sicherheit sagen können,
ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben oder ob
wir nicht doch noch Maßnahmen ergreifen müssen, um
den Betroffenen ihre Ängste zu nehmen.

Ich selbst habe – darauf habe ich bereits in der letzten
Rede hingewiesen – lediglich bei den so genannten Kun-
denbindungssystemen Bedenken. Zum einen befürchte
ich, dass hier die Konzerne im Vorteil sein könnten. Das
ist aber nur meine momentane Sorge. Zum anderen sehe
ich die Gefahr, dass die Verbraucher, um in den Genuss
der dort ausgegebenen Bonuspunkte zu kommen, keinen
Preisvergleich mehr anstellen. Auch hierüber – deswegen
halte ich sie für sehr wichtig – wird die Anhörung Klar-
heit bringen. Es wäre sehr schön und sachgerecht gewe-
sen, Frau Kopp, wenn auch Sie diese Anhörung noch ab-
gewartet hätten. Bereits hieraus ergibt sich, wie unsinnig
die heutige Debatte ist.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Das sehe ich ganz anders!)


– Das ist meine Auffassung.
Es wird hierdurch deutlich, wie wenig sich die F.D.P.

offensichtlich für die Belange des Einzelhandels interes-
siert. Anders kann man Ihre Argumentation nicht inter-
pretieren. Wenn ich, was zurzeit öfters vorkommt, Frau
Kollegin, zu diesem Thema mit den regionalen Vertretern
der Verbände Gespräche führe, wird dieses Verhalten – um
es vorsichtig auszudrücken – nicht gerade freundlich zur
Kenntnis genommen. Dies zeigt dann aber auch ganz
deutlich, Frau Kollegin Kopp, welche Interessen die
F.D.P. vertritt – jedenfalls nicht die des Einzelhandels.


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Sowieso nicht! – Gudrun Kopp [F.D.P.]: Aber Sie!)


Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Ich
halte es für sehr wichtig, dass die Bundesregierung das
Vorhaben weiter begleiten wird. Das Bundesjustizminis-
terium hat deshalb zutreffenderweise parallel zu dieser
Reform eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Verbrau-
cherverbände und der beteiligten Wirtschaftskreise einge-
richtet, um die Rechts- und Wirtschaftspraxis im Bereich
von Zugaben und Rabatten zu verfolgen und zu bewerten.
Diese Arbeitsgruppe wird aber auch Vorschläge für die
weitere Modernisierung des Rechts gegen den unlauteren
Wettbewerb – die ich für wichtig erachte – und – das halte
ich für noch wichtiger – für ein europäisches Harmoni-
sierungskonzept erarbeiten.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Sie müssen aber in wenigen Monaten fertig sein!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der zu-
nehmenden Verflechtung internationaler Märkte und
der wachsenden Bedeutung grenzüberschreitender Mar-
ketingstrategien wird es entscheidend darauf ankommen
– darauf lege ich sehr viel Wert –, unabhängig von dem,
was wir hier beschließen, international vereinheitlichte
Rahmenbedingungen für den Wettbewerb zu schaffen. In-
soweit halte ich es dann auch für richtig, dass sich die Eu-
ropäische Kommission nicht zuletzt auf Initiative der
Bundesregierung, der ich dafür sehr danken möchte, ver-
pflichtet hat, Vorschläge für geeignete Regeln für das
Marktverhalten von Unternehmen zu erarbeiten. Ich den-
ke, dies ist der einzig richtige Weg, mit diesem Thema
sachgerecht umzugehen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das war ein schwacher Auftritt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417019900
Als
nächster Redner hat Herr Kollege Hartmut Schauerte von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Das Rabattgesetz im Sauerland!)



Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1417020000
Herr Manzewski,
ich denke, an einer Stelle sollten wir ganz redlich sein:
Beim Rabattgesetz und bei der Zugabeverordnung war es
wirklich vor allem und immer nur die F.D.P., die beides
eigentlich schon lange hat abschaffen wollen. Damals
waren die SPD und wesentliche Teile der CDU/CSU da-
gegen. Dass sich aber eine kleinere Koalitionspartei ge-
genüber dem größeren Koalitionspartner nicht immer
durchsetzt, ist nicht nur verständlich, sondern sogar be-
grüßenswert. Was würden sonst die Grünen permanent
mit Ihnen machen, Herr Staffelt!


(Susanne Kastner [SPD]: Machen Sie sich mal keine Gedanken über diese Dinge!)


Das ist doch einfach nur vernünftig. An dieser Stelle soll-
ten wir uns wirklich nicht streiten.

Es besteht auch Einigkeit darüber, dass das Rabattge-
setz und die Zugabeverordnung in ihrer jetzigen Form
nicht aufrechterhalten werden können und abgeschafft
werden sollen; darüber gibt es keinen wirklichen Streit.

Ich brauche jetzt auch nicht die Gründe dafür zu nen-
nen, warum das alles so ist. Das wissen wir: technologi-
sche Gründe, Inländerdiskriminierung, Umgehungstatbe-
stände, die Tatsache, dass die Kunden klüger geworden
sind – ich könnte die Liste der Gründe beliebig verlän-
gern; darüber gibt es ja viele Untersuchungen.


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Der Wähler auch! Das hat sich bemerkbar gemacht!)


Aber die Ziele, die mit diesen beiden Gesetzen über
viele Jahre angestrebt werden sollten, nämlich der Ver-
braucherschutz und die Sicherung des Wettbewerbs,
bleiben ja wichtig. Die Frage ist: Wie können wir diese




Dirk Manzewski

16679


(C)



(D)



(A)



(B)


Ziele in der sich verändernden Zeit dennoch verfolgen?
Wie kriegen wir das hin?

Deswegen finde ich es zu kurz gedacht, einfach zu sa-
gen: „Ersatzlos weg damit“, ohne dass man abwartet, wo
es ein Problem gibt, und sich dann fragt: Wie kann man
diesem Problem begegnen? Das ist nach meiner Meinung
zu kurz und nicht nachhaltig gedacht; die Nachhaltigkeit
ist hier ja heute breit diskutiert worden.

Machen wir uns nichts vor: Das, was wir hier tun, be-
wirkt eine sehr bedeutende Veränderung der Verhaltens-
weisen im deutschen Markt. Die Beziehung zwischen
Kunde und Kaufmann, die eigentlich ein ganz wesentli-
ches Element jeder Marktwirtschaft ist – vielleicht das
wesentliche Element –, wird gründlich geändert. Viele
Veränderungen sind mit diesen so unwirklich klingenden
Gesetzen verbunden. Sie betreffen das Verhalten von
Käufern und Herstellern, das Verhalten von Käufern und
Verkäufern – alles das wird verändert. Wenn man da bei
einer schwachen Handelsstruktur Fehler macht, kann das
bei manchen Betroffenen zu erheblichen Problemen
führen. Deswegen müssen wir das Thema ernst nehmen.
Man kann nicht einfach sagen: Weg damit!

Ich will jetzt nicht eine lange Liste aufführen, welche
Veränderungen im Einzelnen stattfinden. Unglaublich
viel wird sich im deutschen Käuferverhalten, im Verhält-
nis zwischen Anbietern und Nachfragern verändern. Der
Einzelhandel ist in Deutschland so schwach strukturiert,
dass ich keine Experimente nach der Methode erleben
will: Schauen wir erst einmal, wie viele dabei auf der
Strecke bleiben; dann fällt uns vielleicht etwas ein.

Da lautet meine Frage: Wie sind wir darauf vorberei-
tet? Wir haben genug Zeit gehabt. Wir wissen seit späte-
stens zwei, drei Jahren – CDU/CSU und SPD –, dass das
nicht zu halten ist.

Was haben wir denn getan? Wir erheben in diesem Zu-
sammenhang die Forderung nach Entwicklung eines
europäischen Lauterkeitsrechts. Dazu muss ich sagen:
Fehlanzeige! Bisher ist nichts passiert. Schade! Ich will
gar nicht genau angeben, was das sein müsste, aber es
sollte etwas passieren.

Das muss man aktiv gestalten. Dann wird dann gesagt,
das sei in Europa schwer durchzusetzen. Das Wettbe-
werbsrecht, das es in Europa gibt, ist in Deutschland ent-
wickelt worden; es ist damals mutig in die Europäische
Union getragen worden und ist heute einer der wesentli-
chen Stützpfeiler für ordentliches Marktverhalten. Diesen
Mut wünsche ich mir auch im Zusammenhang mit einem
Lauterkeitsrecht.

Ich denke, die Sache kann vorangehen, wenn der Kanz-
ler wirklich will. Er hat bei der Frage des Übernahme-
rechts, allerdings zu spät, eine Aktion gestartet. Er ist da-
bei wohl von VW angesprochen worden. Die Sache war
ihm offensichtlich so wichtig, dass er sich gegen alle
14 Länder stellt. Das ist eine interessante Entwicklung.
Wenn er eine Sache wirklich ernst nehmen würde, zum
Beispiel die Entwicklung eines vernünftigen, harmoni-
sierten europäischen Lauterkeitsrechts, könnte er etwas
bewegen. Ich muss in diesem Zusammenhang leider von
einer Fehlgestaltung sprechen.

Es ist wichtig, zu prüfen, wie es sich mit dem UWG
und dem GWB verhält. Man muss sich überlegen, was
man dort eventuell noch einbauen kann. Es gibt Vor-
schläge, die ich mir momentan noch nicht zu Eigen ma-
che. Wir sind in diesem Bereich in einem Such- und Lern-
prozess. Aber diesen müssen wir wenigstens beginnen,
damit wir die Betroffenen nicht alleine lassen und verhin-
dern, dass sie Konsequenzen zu tragen haben, die sie
existenziell bedrohen.

Für die Verbraucherschützer ist es ein wichtiges und
bisher nicht wirklich gelöstes Problem, wie eine irre-
führende Preisgestaltung verhindert werden kann. Eine
solche wollen wir nicht; wir wollen fair miteinander um-
gehen. Wir müssen uns überlegen, wie wir das regeln
können und was uns dazu einfällt. Man darf in diesem Zu-
sammenhang nicht so tun, als seien nur die Deutschen so
verrückt. So finden wir in sieben europäischen Ländern
Zugaberegelungen. Wir stehen somit nicht alleine mit un-
seren Überlegungen, das Marktverhalten fair zu gestalten,
ohne die Innovationskraft zu beeinträchtigen und gleich-
zeitig Sicherheit und Solidität zu gewährleisten.

Um diese Fragen zu klären, haben wir gesagt: Wir ver-
anstalten ein Hearing. Ein solches gehört zum zentralen
Bestand der parlamentarischen Mittel. Die Regierung ver-
anstaltet selbstverständlich eine Anhörung, bevor sie ei-
nen Referentenentwurf macht. Aber wir waren alle nicht
anwesend; vielleicht muss das geändert werden. Deshalb
veranstalten wir ein eigenes Hearing; wir machen es auch
relativ kurz: nur zweieinhalb Stunden. Angesichts des
komplexen Themas müssen wir sehen, dass wir das so
konzentriert hinbekommen, dass die richtigen Fragen ge-
stellt werden können und die wichtigen Verbände und
Interessenvertreter dabei sind. Ich denke, wir sind hier auf
einem guten Wege. Morgen findet noch ein Obleute-
gespräch statt.

Lassen Sie mich noch einen anderen Gedanken an-
sprechen, der mir sehr wichtig ist: Ich glaube, dass wir die
größten Veränderungen in den Strukturen über die Ent-
wicklung von Kundenbindungssystemen bekommen
werden. In diesem Zusammenhang besteht ein unglaub-
lich großes Veränderungspotenzial.

Ich will dabei nur eine Frage ansprechen, die mir sehr
wichtig ist: Im europäischen und deutschen Wettbewerbs-
recht gilt, dass Konzerne alles dürfen, weil sie eine Firma
sind. An jedem Ort, an dem sie vertreten sind, können sie
Absprachen treffen, Werbestrategien machen und einkau-
fen, wie sie wollen. Sie sind absolut frei. Dagegen sind
selbstständige Händler und selbstständige Kaufleute
durch einige Regeln im Wettbewerbsrecht daran gehin-
dert, sich so zu verbinden, dass sie ähnliche Vorteile wie
Konzerne erreichen können. Ein selbstständiger Kauf-
mann, der sich mit seinem Nachbarn – ein Nachbar in ei-
ner anderen Stadt oder in einer anderen Branche – beim
Einkauf oder bei der Werbung derart verbinden würde,
würde an Grenzen stoßen, die durch das Kartellrecht ge-
zogen werden: Das ist eine Absprache.

Das Wettbewerbsrecht darf aber nicht so gestaltet sein,
dass derjenige, der es ausnutzen will, gezwungen wird,
ein Konzern zu werden. Das würde bedeuten, dass das
Wettbewerbsrecht eine Beschleunigungswirkung in Be-




Hartmut Schauerte
16680


(C)



(D)



(A)



(B)


zug auf die Konzernbildung hätte; eine solche wollen wir
alle nicht. Also muss man bei Kundenbindungssystemen
überlegen: Welche neuen Freiräume muss ich zum Bei-
spiel dem Einzelhandel geben, damit er, ohne das Kartell-
recht zu verletzen, seine Einkaufs- und Verkaufsstrategien
so entwickeln kann, wie es für ihn passt? Das ist ein ob-
jektiv gegebenes Problem.

Deswegen dürfen wir nicht vorschnell Regelungen er-
satzlos beseitigen, sondern müssen uns überlegen, welche
Wirkungen eintreten und welche Maßnahmen wir treffen
können, um die Wirkungen so zu steuern, dass sie die
Chancen vergrößern und die Risiken vermindern. In die-
sem Zusammenhang sind wir alle gefragt. Deswegen dür-
fen wir das nicht überstürzen; es ist nicht kriegsentschei-
dend, ob wir eine Entscheidung in zwei, drei, fünf oder
sechs Monaten treffen. Rabatt- und Zugabeverbote wer-
den fallen. Dies betrifft viele selbstständige Existenzen
sowie die Verbraucher. Lassen Sie uns deshalb vernünf-
tige Ansätze finden, um Fehlentwicklungen rechtzeitig zu
erkennen, und nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen
gefallen ist. Man kann Fehlentwicklungen in vielen Be-
reichen kommen sehen und vorsorglich die entsprechen-
den Maßnahmen ergreifen.

Ich möchte zum Schluss kommen und nicht die ganzen
16 Minuten nutzen, die mir an Redezeit zustehen und die
ich lieber bei einem anderen Thema und bei vollem Haus
hätte; denn es wird zum selben Thema nach dem Hearing
eine neue Debatte mit einem fast identischen Gesetzent-
wurf geben. Wir wollen – damit das klar ist – den Betrof-
fenen Fragen stellen und von ihnen Antworten hören. Wir
wollen ihnen zeigen, dass wir ihre Sorgen ernst nehmen
und nicht einfach kaltschnäuzig über sie hinweggehen.
Wir wollen mit ihnen gemeinsam nach Lösungen suchen.

Wir fordern erstens die Harmonisierung des Wettbe-
werbsrechts und des Lauterkeitsrechts in Europa, zwei-
tens europataugliche Reformen des UWG und des GWB
und drittens von der Bundesregierung – diese Bitte habe
ich schon in der letzten Debatte Anfang April vorgetra-
gen –, einen Bericht über den Stand der Harmonisierung
des europäischen Wettbewerbsrechts vorzulegen, und zwar
bald und rechtzeitig, damit wir aus ihm Konsequenzen für
das ziehen können, was noch anzupacken ist. Dieser Be-
richt ist überfällig.

Ich hoffe auf das Verständnis der F.D.P., wenn ich jetzt
erkläre: Die Antragslage ist kompliziert. Sie haben wie
wir und die Regierung einen eigenen Antrag eingebracht.
Außerdem haben wir noch ein Hearing vor uns. In einer
solchen Situation entscheiden wir nicht einfach. Wir wol-
len die Ergebnisse des Hearings abwarten und enthalten
uns deswegen hier und heute der Stimme.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Na, Herr Schauerte, das ist zu wenig!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417020100
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Helmut
Wilhelm vom Bündnis 90/Die Grünen.

Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Am 5. April dieses Jahres wurde der Antrag der
Bundesregierung zur Aufhebung des Rabattgesetzes auf
den parlamentarischen Weg gebracht. Im Warum sind wir
uns ja völlig einig: Die EU-Richtlinie über den elektroni-
schen Geschäftsverkehr ist in nationales Recht um-
zusetzen. Dann müssen in Deutschland anbietende aus-
ländische Unternehmen kein Rabattgesetz beachten,
deutsche Unternehmen im Ausland schon. Deutsche Un-
ternehmen werden also am Markt diskriminiert. Darüber
besteht absoluter Konsens.

Am 9. Mai hat der Wirtschaftsausschuss eine
Sachverständigenanhörung beschlossen. Ich weiß
wirklich nicht, warum wir uns heute nochmals mit dem-
selben Anliegen befassen müssen, ohne die anstehende
Anhörung zu diesem Thema abgewartet zu haben. Es ist
ja wohl guter parlamentarischer Brauch, auf Antrag Sach-
verständigenanhörungen durchzuführen. Aber Sie, meine
Damen und Herren von der F.D.P., wollen heute abschlie-
ßend über Ihren Antrag beraten. Sie sollen Ihren Willen
bekommen. Gleich ist Ihr Antrag vom Tisch!


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Ein starkes Argument!)


Ich frage mich natürlich – ich bin heute Abend sicherlich
nicht der Einzige, der sich das fragt –, warum Sie so agie-
ren. Diese sozusagen außerplanmäßige Befassung macht
meines Erachtens keinen Sinn. Sie, meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen von der F.D.P., vergeuden hier Ihre
kostbare Debattenzeit und unsere gleich mit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gudrun Kopp [F.D.P.]: Bisher haben Sie noch gar nichts zum Inhalt gesagt!)


Fest steht doch, dass es in der Sache keinerlei Dissens
gibt. Zumindest wir von Rot-Grün wollen und werden die
Anhörung am 26. Juni nutzen, um uns eingehender infor-
mieren zu lassen, damit in der Sache noch kompetenter
entschieden werden kann.


(Beifall des Abg. Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.])

Ihr Antrag muss also abgelehnt werden, weil er zu früh,
also zur Unzeit, eingebracht worden ist. Halten Sie von
der F.D.P. Wissensvermehrung durch eine Anhörung für
überflüssig? Ich verstehe Sie nicht. Wenn Sie dieser Mei-
nung wären, würden Sie schon im Vorfeld nicht nur die
sachverständigen Anhörpersonen, sondern letztendlich
auch Ihre Wählerinnen und Wähler brüskieren. Aber mei-
netwegen, uns kann es nur recht sein.

Dem Debattenstand vom 5.April ist zum jetzigen Zeit-
punkt inhaltlich nichts Neues hinzuzufügen. Unnötige
Wiederholungen sind mir ein Gräuel. Wer nutzlos meine
Zeit mir nimmt, ist ein Dieb – diesen Spruch sollten wir
verinnerlichen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Sie müssen hier nicht reden!)


Da man nicht stehlen darf, werde ich Ihnen Ihre kostbare
Debattenzeit nicht länger nehmen. Nach der Anhörung im




Hartmut Schauerte

16681


(C)



(D)



(A)



(B)


Ausschuss sehen wir uns zum gleichen Thema hier wie-
der,


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Dann geht es noch weiter!)


dann aber leider ohne den an sich richtigen F.D.P.-Antrag;
denn der ist dann bereits beerdigt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417020200
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Rolf Kutzmutz
von der PDS-Fraktion.


Rolf Kutzmutz (PDS):
Rede ID: ID1417020300
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Wäre die Häufigkeit des Aufrufs eines The-
mas in einem bestimmten Zeitabschnitt ein Wertmaßstab,
müsste es um eine Jahrhundertreform gehen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Diesen Eindruck müsste man gewinnen. Sie schauen so
entsetzt, aber das ist einfach so. Innerhalb von nicht mehr
als fünf Monaten reden wir jetzt zum dritten Mal darüber
und haben schon das vierte Mal für Juni/Juli geplant.

Ich habe gerade gehört: Die Argumente werden sich
selbst nach der Anhörung nicht verändern.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: So ist es!)

Wenn ich in eine Anhörung gehe, versuche ich, immer
noch etwas mitzunehmen. Wenn ich aber vorher schon
feststelle, dass ich in eine Anhörung gehe und hinterher
die gleiche Rede halte, dann können wir uns darauf ver-
ständigen: Wir halten zum vierten Mal die gleiche Rede
und prüfen nur nach, ob sie so perfekt ist wie beim ersten
Mal. Das ist aber eigentlich nicht der Sinn der Parlaments-
arbeit.

Wir haben über die Abschaffung von Rabattgesetz und
Zugabeverordnung unsere Argumente ausgetauscht. Ich
will hier nur noch einmal deutlich sagen, warum wir heute
beide Gesetzentwürfe ablehnen. Die Abschaffung der bei-
den Rechtsnormen bedarf nach unserer Auffassung einer
präziseren Regelung im Gesetz gegen den unlauteren
Wettbewerb, wenn nicht Verbraucher und Händler vor
einem heillosen Chaos stehen sollen. Das ist beispiels-
weise beim momentanen Rechtsstreit – Frau Kopp, Sie
haben das vorhin anders gesagt, aber ich entnehme das
einfach den Tickermeldungen von heute – zwischen
Edeka und Fiat eindrucksvoll zu beobachten. Ich meine
den heftig beworbenen Verkauf von Autos, gekoppelt bei-
spielsweise mit Motorrollern, Druckern, Handys, Kame-
ras oder Hotelübernachtungen – über alle denkbaren Ver-
triebswege. Natürlich geht es dabei auch um andere
Rechtsnormen, aber eben auch – für den Verbraucher so-
gar vordergründig – um Rabatte oder Zugaben, je nach
persönlicher Sichtweise: ob man tatsächlich im Moment
alles braucht oder nur den Wagen, den man kaufen wollte.

Drei Gerichte – das kann man heute nachlesen –, näm-
lich in Köln, Karlsruhe und Offenburg, sprechen Recht,
aber alle in drei verschiedene Richtungen. Es gibt also

durchaus eine Rechtsunsicherheit, eine Auslegungsmög-
lichkeit bei dem, wovon wir hier reden. Davor sollte man
sowohl die Verbraucher als auch die Händler schützen.

Es ist allein schon strittig, ob es bei dem Angebot über-
haupt Rabatte gegenüber dem Einzelpreis der Waren gibt,
also für den Kunden bei dem Geschäft Zugaben heraus-
kämen. Bereits das sollte uns als Gesetzgeber aufmerk-
sam machen.

Der Fall Edeka/Fiat bietet gewiss nur einen kleinen
Vorgeschmack – das sehe ich so; Sie mögen das anders se-
hen – auf das, was uns nach dem formalen Fall von Ra-
batt- und Zugabeverbot an bisher unbekanntem Marke-
ting ins Haus steht. Das belegt aus unserer Sicht viererlei:

Erstens. Offensichtlich reichen die bisherigen Normen
in UWG und GWB nicht aus, um Verbraucher vor mögli-
cherweise irreführenden Werbestrategien zu schützen.

Zweitens. Nicht nur der erforderliche Verbraucher-
schutz gerät leicht ins Rutschen, sondern auch die Liefe-
ranten der Händler. Wie sollen beispielsweise noch Mar-
ken aufgebaut und gehalten werden, wenn künftig alles
und jedes als Zugabe verramscht werden kann?

Drittens. Die Gemengelage ist schon so kompliziert,
als dass man auch noch die CDU/CSU-Idee verfolgen
sollte, Herr Schauerte, bei einer Regelung Übergangsfris-
ten für bestimmte Marktteilnehmer einzuführen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Nicht für bestimmte!)


– Sie haben ja bestimmte Gruppen genannt!
Ich sage jedenfalls voraus: Wir hätten dann plötzlich

Unternehmen als mittelständische Einzelhändler, von de-
nen wir es uns bisher nie erträumt hätten, dass sie sich als
Mittelständler bezeichnen würden.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das hat nie einer gefordert!)


Das wäre auch wieder ein unnötiger Streit.
Viertens. Wer sich angesichts aller Probleme als Ge-

setzgeber allein auf das Richterrecht verlässt, der ist ver-
lassen. Deshalb, meine Damen und Herren von der Ko-
alition: Gehen Sie nicht nach dem Motto „Augen zu und
durch“ vor, schaffen Sie nicht jetzt schnell das Rabattge-
setz und die Zugabeverordnung ab und beobachten erst
dann die Rechtspraxis. Der Preis könnte sich für viele
Menschen – als Konsumenten, als Händler oder als Pro-
duzenten – als entschieden zu hoch erweisen.

Kurzum: Wenn wir schon in eine Anhörung gehen – sie
ist für den 25. Juni beschlossen –, sollten wir aus der An-
hörung auch ein Stück klüger herausgehen und das bei der
Gesetzgebung berücksichtigen.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417020400
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin
Birgit Roth von der SPD-Fraktion das Wort.




Helmut Wilhelm (Amberg)

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(C)



(D)



(A)



(B)



Birgit Roth (SPD):
Rede ID: ID1417020500
Herr Präsident! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Das deutsche Rabattgesetz stammt aus dem
Jahre 1933. Wir alle wissen, wie stark, wie schnell, wie ra-
sant, wie grundlegend sich die Märkte und die Wirt-
schaftsabläufe seitdem verändert haben, sei es bei uns in
Deutschland, sei es europaweit, sei es international.

Deswegen liegt es jetzt auch an uns, die Herausforde-
rungen anzunehmen und das Rabattgesetz auf einen aktu-
ellen, auf den neuesten Stand zu bringen, denn wir wissen
alle: Wir haben die E-Commerce-Richtlinie.Wir sind ja
gerade dabei, diese in nationales Recht umzusetzen. Je
schneller wir die wirtschaftlichen, aber vor allem auch die
gesetzgeberischen Rahmenbedingungen verändern, desto
besser wird es für die deutschen Anbieter sein.


(Beifall bei der SPD)

Es ist bereits mehrfach erwähnt worden: Im Internet

besteht eine Inländerdiskriminierung. Das ist überhaupt
keine Frage. Wir haben sicherlich eines der restriktivsten
Rabattgesetze, die es gibt, wahrscheinlich sogar das res-
triktivste überhaupt. Alleine aus wirtschaftspolitischen
Gesichtspunkten heraus können wir diese Situation nicht
länger akzeptieren. Deshalb werden wir auch entspre-
chend handeln.

Es hat von unserer Seite aus bereits letztes Jahr eine
Verbändeanhörung mit über 70 Verbandsvertretern ge-
geben. Da hat sich die überwältigende Mehrheit für die
Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverord-
nung ausgesprochen. Bereits letztes Jahr haben sich beide
Minister – Frau Herta Däubler-Gmelin und der Wirt-
schaftsminister – ganz klar für die Abschaffung von Ra-
battgesetz und Zugabeverordnung ausgesprochen. Den
Gesetzentwurf der Bundesregierung werden wir hier in
den nächsten Wochen debattieren.

Deswegen ein kurzer Satz an die Kolleginnen und Kol-
legen von der F.D.P.: Ich glaube nicht, dass es darum geht,
darüber zu streiten, wer denn nun angefangen hat, wer
denn nun der Erste war. Wichtig finde ich, dass in diesem
Bereich etwas passiert. Genau daran sind wir beteiligt.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Immer wenn Sie vor Jahren dagegen waren, kommt dieser Spruch!)


– Dazu fällt mir immer spontan ein: Mensch, warum ha-
ben Sie es denn nicht gemacht? Sie hatten ja wirklich
lange genug Zeit.

Wir haben gewisse Übereinstimmungen in der Sache;
das ist überhaupt keine Frage. Aber was wir nicht möch-
ten, ist eine vorschnelle Lösung


(Zuruf von der F.D.P.: Vorschnell? Sie hatten jahrelang Zeit!)


zulasten des Mittelstandes; das muss ich Ihnen ganz klar
sagen. Das, was Sie gerade machen, ist aus meiner Sicht
mittelstandsfeindlich. Wir haben schon des Öfteren er-
wähnt – die CDU teilt diese Perspektive mit uns –, dass
wir zum Bereich der Kundenbindungssysteme noch-
mals eine Anhörung machen sollten. Diese ist bereits auf
den 25. Juni terminiert. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der F.D.P., ich verstehe nicht, warum Sie nicht noch

diese fünf Wochen abwarten, da wir doch diese Debatte
seit Jahren führen. Wir sollten wenigstens abwarten, bis
die Bedenken formuliert sind, und nicht im Vorfeld, nicht
zur Unzeit handeln, wie es der Kollege von den Grünen so
schön formuliert hat.

Wir sollten den kleinen und mittleren Unternehmen
Chancengleichheit zubilligen: im Bereich der Kunden-
bindungssysteme, im Bereich der Rabattkooperationen
oder auch im Bereich der Bonussysteme. Ich möchte noch
einmal betonen: Wenn wir an die Abschaffung des Ra-
battgesetzes und der Zugabeverordnung gehen, dann soll-
ten beide Seiten davon profitieren, sowohl kleine und
mittlere Unternehmen als auch die Marktführer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen stimmen wir dem Antrag der CDU/CSU-
Fraktion auf eine Anhörung zu. Wir nehmen diese Beden-
ken ernst. Warten wir doch einfach einmal die Ergebnisse
ab!

In diesem Sinne können wir momentan nicht anders,
als den Gesetzentwurf der Liberalen abzulehnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417020600
Ich
schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines
Rabattrechtsanpassungsgesetzes der Fraktion der F.D.P.
auf Drucksache 14/4423. Der Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/6060, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
bei Zustimmung der F.D.P.-Fraktion und Enthaltung der
CDU/CSU mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der PDS-Fraktion in zweiter Beratung abgelehnt. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-
tung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen jetzt
bekannt, wie die Debatte weiter ablaufen soll. Die Reden
zu den Tagesordnungspunkten 8, 9, 10 und 11 sowie zu
Zusatzpunkt 6 sollen mit Ihrem Einverständnis zu Proto-
koll gegeben werden. Zum Tagesordnungspunkt 12 ist
eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen; die
F.D.P. gibt ihren Redebeitrag zu Protokoll. Die Reden zu
Tagesordnungspunkt 13 sollen zu Protokoll gegeben wer-
den; nur die PDS beabsichtigt, dazu zu reden. Sie sehen
also: Es ist nur noch eine gute halbe Stunde, vielleicht eine
Dreiviertelstunde, die wir hier zusammen arbeiten müs-
sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un-
terrichtung durch die Bundesregierung
Weißbuch zur Umwelthaftung






(C)



(D)



(A)



(B)


– Drucksachen 14/3341 Nr. 2.17, 14/4115 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Dr. Peter Paziorek
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

Die Reden hierzu sollen zu Protokoll gegeben werden,
wie ich eben bekannt gegeben habe.1) Die Reden zu die-
sem und zu den folgenden Punkten liegen übrigens alle in
Schriftform vor. Ich erspare mir deshalb, die Namen der
Redner jetzt im Einzelnen vorzutragen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf
Drucksache 14/4115. Der Ausschuss empfiehlt in Kennt-
nis des Weißbuches der Europäischen Kommission zur
Umwelthaftung, eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. sowie bei Enthaltung
der PDS-Fraktion angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-

Jürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm, Siegfried
Helias, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Konzept der regionalen und sektoralen Schwer-
punktsetzung in der deutschen Entwicklungs-
zusammenarbeit umgehend korrigieren
– Drucksache 14/4928 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-
Jürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm, Siegfried
Helias, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Perus Rückkehr zur Demokratie unterstützen
– Drucksache 14/4527 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Auch die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten sol-
len zu Protokoll gegeben werden.2) – Wie ich sehe, sind
Sie damit einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4928 und 14/4527 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred

Hartenbach, Hermann Bachmaier, Doris Barnett,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Volker Beck (Köln),
Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über
Arbeitnehmererfindungen
– Drucksache 14/5975 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des Pa-
tentwesens an den Hochschulen
– Drucksache 14/5939 –
Überweisungsvorschläge:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung

Auch die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten sol-
len zu Protokoll gegeben werden.3) – Es gibt keinen Wi-
derspruch.

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 14/5975 und 14/5939 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich komme jetzt zum Tagesordnungspunkt 11 sowie
zum Zusatzpunkt 6:
11. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Importverbot für qualgezüchtete Tiere
– Drucksachen 14/3505, 14/6058 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Heino Wiese (Hannover)


ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marianne
Klappert, Heino Wiese (Hannover), Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD,




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
16684


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 2
2) Anlage 3 3) Anlage 4

der Abgeordneten Heinrich-Wilhelm Ronsöhr,
Albert Deß, Peter Bleser, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
ordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin
Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haltungs- und Ausstellungsverbot für qual-
gezüchtete Tiere
– Drucksache 14/6052 –

Die Reden zu diesem Punkt sollen zu Protokoll ge-
nommen werden.1) – Es gibt keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zu einem Im-
portverbot für qualgezüchtete Tiere auf Drucksache
14/6058. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 14/3505 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung einstim-
mig angenommen.

Zusatzpunkt 6: Abstimmung über den Antrag der Frak-
tionen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen
zu einem Haltungs- und Ausstellungsverbot für qual-
gezüchtete Tiere auf Drucksache 14/6052. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist der Antrag gegen die Stimmen der
F.D.P.-Fraktion mit den Stimmen aller anderen Fraktionen
angenommen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der F.D.P.
Für die demokratische Erneuerung Pakistans
– Drucksache 14/5684 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch, dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Christian Ruck von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1417020700
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich bin froh, dass der frak-
tionsübergreifende Antrag „Für die demokratische Er-
neuerung Pakistans“ nach monatelanger Arbeit und Ab-
stimmung heute auf der Tagesordnung des Bundestages
steht. Ich bin den Kollegen auch dafür dankbar, dass die
Reden trotz der vorgerückten Stunde nicht zu Protokoll

gegeben werden, sondern kurz persönlich Stellung ge-
nommen wird. Dies ist nämlich auch ein Signal an die pa-
kistanische Politik und an eine pakistanische Delegation,
die sich derzeit in Berlin aufhält.

Wir haben bis in die jüngste Zeit noch um die eine oder
andere Formulierung gekämpft und Kompromisse ge-
schlossen. Aber in den Kernaussagen waren wir uns par-
teiübergreifend und zwischen Außen- und Entwicklungs-
politikern sehr schnell einig: Pakistan befindet sich in
einer sehr entscheidenden und kritischen Phase seiner Ge-
schichte. Es steht sehr viel für das Land, für die Bevöl-
kerung, aber auch für die gesamte Region Südasien auf
dem Spiel. Deswegen sind auch wir als deutsche Parla-
mentarier gefordert, das in unseren Kräften Stehende zu
tun, damit die Weichen am Indus in die richtige Richtung
gestellt werden, auch wenn unser Beitrag dabei natürlich
nur bescheiden sein kann.

Wir als Demokraten haben den Militärputsch in Pakis-
tan vor eineinhalb Jahren nicht gutgeheißen. Aber wer
sich in den Jahren zuvor mit Pakistan beschäftigt hat,
konnte auch mit den durch demokratische Wahlen
herbeigeführten politischen Zuständen nicht zufrieden
sein. Die Pakistan-Freunde in Deutschland waren ent-
täuscht und manchmal auch verzweifelt, zu sehen, wie das
Land immer stärker durch Misswirtschaft, Korruption
und außenpolitische Abenteuer litt. Wir haben alle vor der
Entscheidung gestanden, das Prinzip Demokratie an sich
hochzuhalten oder der Regierung des Generals Musharraf
unter Bedingungen bei seinen angekündigten, dringend
notwendigen Reformbemühungen Unterstützung zu ge-
währen.

Mit unserem Antrag haben wir uns für beides entschie-
den. Musharraf hat angekündigt, die Zeit der Militär-
herrschaft für grundlegende politische, soziale und wirt-
schaftliche Reformen des Landes zu nutzen, die
Wirtschaft wieder zu beleben, Korruption aufzudecken
und zu ahnden sowie durch eine Rundumerneuerung von
Staats- und Verwaltungsstrukturen die Grundlage für die
Renaissance der Demokratie zu legen. In der Tat: Ohne
eine solche Reform steht ohnehin jede Wiedereinführung
der Demokratie nur auf dem Papier und ist zum Scheitern
verurteilt.

Die Regierung Musharraf hat den Ankündigungen
viele konkrete Schritte – zum Beispiel bei der Korrup-
tionsbekämpfung, bei der Neuordnung des Staatsaufbaus
und auch bei der Reform der Gebietskörperschaften – fol-
gen lassen. Die Rückkehr zur Demokratie ist nach ei-
nem Urteil des Obersten Gerichtshofs in Pakistan für
Herbst 2002 geplant.

Aber zum voreiligen Optimismus besteht leider kein
Anlass. Die bisherigen Reformschritte sind mutig, aber
für die notwendige Modernisierung von Staat, Wirt-
schaft und Gesellschaft Pakistans noch nicht ausrei-
chend. Die Außenpolitik Pakistans, zum Beispiel gegen-
über Afghanistan und Indien, ist dubios. Die bis in
einflussreiche Regierungs- und Militärkreise hinein
wachsende religiöse Militanz und die zunehmende Stärke
und Selbstständigkeit religiös motivierter paramilitä-
rischer Gruppen erregen Besorgnis. Die Spannungen zwi-
schen den einzelnen Provinzen und Volksgruppen steigen.




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

16685


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 5

Mein Eindruck ist, dass wir den reformwilligen Kräf-
ten von Politik und Regierung in Pakistan schnell die
Hand reichen müssen – schneller als bisher geplant. Ich
appelliere daher an die Bundesregierung, die kurzfristig
abgesagten hochrangigen außenpolitischen Kontakte sehr
rasch auf höchster diplomatischer Ebene anzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Angelika Köster-Loßack [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Außerdem müssen wir bei den anstehenden Regie-
rungsgesprächen über die Entwicklungszusammenarbeit
deutliche Signale setzen und unsere verstärkte Hilfe an-
bieten. Dies betrifft vor allem die Hilfestellung bei der
Konzipierung und Durchführung der gesellschafts- und
wirtschaftpolitischen Reformen und die Politikberatung.
Das ist jetzt entscheidend. In diesem Punkt müssen unsere
politischen Stiftungen gestärkt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin dankbar, dass Pakistan in die Kategorie
„Schwerpunktland“ der deutschen Entwicklungszusam-
menarbeit eingestuft wurde. Aber dies müssen wir in Pa-
kistan wieder mit Leben erfüllen. Zum Beispiel ist das
Auslandsbüro der GTZ in kürzester Zeit von 20 auf vier
Mitarbeiter abgemagert – aus Gründen, die wir teilweise
parteiübergreifend mitgetragen haben. Wenn wir es ernst
meinen mit unseren Anliegen, müssen wir ganz rasch den
Personalbestand wieder hochfahren.

Wir müssen uns dafür einsetzen, dass unsere Verbün-
deten, zum Beispiel in Europa, ebenfalls ihren Beitrag zur
Stabilisierung der Region leisten. Wir müssen auch ernst-
haft unsere guten Kontakte nutzen und unsere indischen
Freunde dazu animieren, ihrerseits neue Initiativen für
eine Stabilisierung der angespannten Situation auf dem
indischen Subkontinent zu unternehmen. Es gab auch in
der jüngsten Zeit entsprechende Signale von der indi-
schen Seite.

In dem vorliegenden Antrag drängen wir die pakistani-
sche Regierung und die pakistanische Politik, mit den not-
wendigen Reformen die Grundlage für eine dauerhafte
demokratische Stabilität zu schaffen, die Menschenrechte
zu schützen und auf Frieden in der Region hinzuarbeiten.
Aber wir senden auch aus dem Bundestag das Signal, dass
wir den Reformkräften in Pakistan tatkräftig helfen wol-
len. Wir drängen die Bundesregierung, dies nun rasch und
entschlossen zu tun; sonst könnte es bald zu spät sein.
Dies wäre gefährlich für die ganze Region.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417020800
Als
nächster Redner hat der Kollege Johannes Pflug von der
SPD-Fraktion das Wort.


Johannes Pflug (SPD):
Rede ID: ID1417020900
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Die parlamentarische Geschäftsführerin
unserer Fraktion hat mir geraten, meine elf Minuten Re-
dezeit nicht unbedingt auszunutzen. Ich will das gerne be-
herzigen. Ich möchte Sie bitten, nach den wenigen Sätzen,
die ich vorzutragen habe, den Rest meiner Rede zu Proto-
koll zu nehmen.1)

Es ist genau 19 Monate her, seit am 12. Oktober 1999
der damalige Generalstabschef des pakistanischen Mi-
litärs General Pervez Musharraf in einem Militärputsch
die Regierungsmacht in der Islamischen Republik Pakis-
tan übernahm. Der Sturz des damaligen Premierministers
Nawaz Sharif durch das Militär erfolgte in einer Zeit, in
der sich Pakistan seit Jahren in einem ökonomischen, öko-
logischen und sozialen Niedergang befand und allgegen-
wärtige Korruption, Kriminalität, Armut und Bildungs-
notstand das Land völlig lähmten und politisch
handlungsunfähig machten.

Pakistan ist ein Schlüsselland für die Stabilität in
Asien. Obwohl Pakistan arm ist, hat es doch genügend
höchst qualifizierte Wissenschaftler und Ingenieure, um
Raketen und die Atomwaffe zu bauen. Pakistan gehört zu
den vier Ländern, die dem Nichtverbreitungsvertrag bis
heute nicht beigetreten sind. Deswegen hat Pakistan mit
dem Bau und dem Test von Atomwaffen bisher keinen in-
ternationalen Vertrag gebrochen. Dennoch ist die sicher-
heitspolitische Entwicklung in diesem Land ein Anlass
zur Sorge und ein Grund für politisches Handeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Seit einiger Zeit sprechen die Amerikaner, die Eu-
ropäer, die Russen und die Chinesen über die Gefahr der
Weiterverbreitung von Atomwaffen. Für den Westen ste-
hen Länder wie Nordkorea, Iran und Irak als Beleg dafür,
dass die Proliferationsrisiken global gestiegen sind. In der
Wirklichkeit sind es nicht diese drei, die nuklear gewor-
den sind; in der Wirklichkeit handelt es sich vielmehr aus-
schließlich um zwei Staaten, die in der Diskussion so gut
wie gar nicht vorkommen: Pakistan und Indien. Anders
sieht es aus, wenn nicht von der Weiterverbreitung von
Atomwaffen, sondern von der Weiterverbreitung von Ra-
ketentechnologie gesprochen wird. In diesem Fall sind
Nordkorea und der Iran zutreffend benannt. Aber die
wirklichen Weiterverbreiter von Raketentechnologie wa-
ren früher Russland und China; heute ist es Pakistan.

Unser Interesse ist es, dass Pakistan mit der Macht, die
es in den Händen hält, verantwortungsbewusst umgeht.
Dies lässt sich nicht durch Boykotte und Sanktionen er-
reichen; dies erfordert vielmehr die internationale Ein-
bindung des Landes.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daran kann und sollte auch die Bundesrepublik Deutsch-
land teilhaben, auch wenn die Gefahr, die heute von
Pakistan ausgehen könnte, Deutschland noch nicht un-
mittelbar, sondern nur indirekt berührt.




Dr. Christian Ruck
16686


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 6

Obwohl Pakistans Innenpolitik unübersichtlich und
komplex ist, darf uns dies aus sicherheitspolitischen
Gründen nicht daran hindern, die Zusammenarbeit mit
diesem Land zu fördern und uns an der Einbindung dieses
Landes in internationale Institutionen und Vertragswerke
zu beteiligen. Asien insgesamt und der Teil Asiens, in dem
Pakistan liegt, brauchen eine Sicherheitsarchitektur mit
rüstungskontrollpolitischen Regimen, mit Abrüstungs-
vereinbarungen und mit militärischen vertrauensbilden-
den Maßnahmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])


Pakistan braucht ausländische Unterstützung beim
wirtschaftlichen Aufbau und bei der Herstellung eines
besseren Lebensstandards der Menschen. Außerdem
braucht es Unterstützung bei der Herstellung von Rechts-
staatlichkeit und bei einer vergrößerten Teilhabe der Men-
schen an den politischen und gesellschaftlichen Entschei-
dungen des Landes. Dafür muss die Isolation Pakistans
aufgehoben werden. Es ist richtig, diesem Land für eine
Beteiligung des Westens an seiner Entwicklung eigene
Leistungen abzufordern. Aber wir dürfen auch nicht die
Geschichte sowie das Umfeld Pakistans außer Acht lassen
und unangemessene Maßstäbe anlegen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unser gemeinsamer Antrag versucht, hier die Balance
zu wahren. Er will die Bundesregierung ermutigen, ge-
meinsam mit unseren Partnern Pakistan eine Perspektive
im Rahmen der internationalen Gemeinschaft zu bieten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417021000
Da der
Kollege Dr. Hoyer von der F.D.P.-Fraktion seine Rede zu
Protokoll gegeben hat1), hat jetzt der Kollege Wolfgang
Gehrcke von der PDS-Fraktion das Wort.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Nicht Frau Dr. Köster?)


– Die kommt danach. Opposition und Regierungsfraktio-
nen sind abwechselnd dran. Bitte schön, Herr Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417021100
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! So Leid es mir tut, von
meinen drei Minuten kann ich nichts mehr abgeben, sonst
hätte ich das gerne getan. Das möchte ich versichern.

Ich verstehe auch, wenn sich politisch Interessierte, die
diese Debatte noch verfolgen, und auch Kolleginnen und
Kollegen die Frage stellen: Muss man wirklich im Bun-
destag über die demokratische Erneuerung Pakistans dis-
kutieren? Ich finde, wir sollten dies tun. Wir sollten zur

Kenntnis nehmen, dass die politischen Gewichte in der
Welt sich so verschoben haben, dass sicherheitspolitische
Entscheidungen nicht mehr von Europa allein oder nur
von Europa und den USA zu treffen sind. Dafür will ich
ein paar Argumente vortragen.

In dieser Region, in den drei aneinander grenzenden
Ländern Indien, Pakistan und China, leben über 50 Pro-
zent der Weltbevölkerung. Das muss man einmal zur
Kenntnis nehmen. Es ist eine Region mit tiefen sozialen
und kulturellen Gegensätzen und Spannungen und es ist
leider – das hat Johannes Pflug auch ausgeführt – eine Re-
gion, in der es ständig zu militärischen Konflikten
kommt. Ich nenne nur Stichworte, weil ich sie nicht ein-
zeln aufführen kann: Afghanistan, Kaschmir-Konflikt,
Taliban-Konflikt. In dieser Region drohen militärische
Konflikte und alle drei von mir genannten Länder, Indien,
Pakistan und China, verfügen über Atomwaffen und an-
dere Massenvernichtungsmittel.

Es gibt also viele Gründe, sich für eine aktive und be-
rechenbare Außenpolitik in dieser Region einzusetzen.
Das ist, wenn ich es richtig lese und davon absehe, dass
ich natürlich sauer bin, dass wir nicht eingeladen wurden,
an diesem Antrag mitzuarbeiten, in diesem Antrag ver-
nünftig geleistet worden. Deswegen sehe ich auch keinen
Grund, dem Antrag, nachdem wir ihn in den Ausschüssen
debattiert haben, nicht zuzustimmen.

Das ist das Positive; jetzt – ich bin Opposition – noch
zu zwei Problemen. Ich finde, die Schwäche des Antrags
liegt in dem, was nicht im Antrag steht. Der Antrag macht
zu Recht zum Beispiel auf die Verantwortung Pakistans
für die Taliban in Afghanistan aufmerksam, auch auf die
entsprechende Verflechtung, er verschweigt aber die Vor-
geschichte. Er verschweigt, dass eben diese Taliban, in
Afghanistan selber wie auch in anderen Ländern, im Zuge
des Systemkonfliktes auch Opfer des Systemkonfliktes
geworden sind und dass die Taliban in Afghanistan vom
CIA der USA gegründet, aufgerüstet und eingesetzt wor-
den sind. Zu diesen Auswirkungen der Systemkonflikte
muss man in einem solchen Antrag auch Stellung nehmen.
Ich befürchte, wir werden diese Problematik in einem an-
deren Fall noch in neuer Variante bekommen. Darüber
werden wir noch häufiger reden. Wir müssen uns also da-
rüber klar sein, dass ein Teil der Konflikte nicht in der Re-
gion wurzelt, sondern in die Region hineingetragen wor-
den ist.


(Jörg Tauss [SPD]: Das liegt aber nicht am Antrag!)


In den Antrag gehört auch hinein – damit möchte ich
enden –, dass wir eine enge Entwicklungszusammenar-
beit und demokratische Zusammenarbeit mit Pakistan,
mit Indien und anderen Ländern in der Region wollen.
Aber gerade weil die dortige Situation so kompliziert ist,
sollten wir uns einer militärischen Zusammenarbeit und
Rüstungslieferungen in diese Region kategorisch ver-
weigern.


(Beifall bei der PDS)

Der Appell an Pakistan, den Atomwaffenteststoppvertrag
sowie den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atom-
waffen zu unterschreiben, wird dann glaubwürdiger,




Johannes Pflug

16687


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 6

wenn die Atomwaffenmächte selber signalisieren, dass
sie zur Abrüstung bereit sind. Solange das nicht passiert
und wenn wir uns nur an andere wenden und nicht selber
vorangehen, werden wir auch in dieser Region nicht genü-
gend Resonanz finden.

Schönen Dank an diesem späten Abend.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417021200
Als letzte
Rednerin hat nun das Wort die Kollegin Dr. Angelika
Köster-Loßack vom Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Im Anschluss an das, was meine Kollegen
schon ausgeführt haben, möchte ich insbesondere die
Wichtigkeit der Unterstützung aller menschenrechtlichen
Organisationen in Pakistan durch die Entwicklungs-
zusammenarbeit, aber auch durch den menschenrechts-
politischen Dialog betonen.

Bei meinen eigenen Besuchen in Pakistan ist mir ins-
besondere die Bedrohung der Frauenorganisationen, die
sich um Menschenrechte und Frauenrechte kümmern,
aber auch der Organisationen, die sich um die Frage der
Minderheiten in diesem Lande, auch der religiösen Min-
derheiten, kümmern, klar geworden. Es gibt einen Dialog
innerhalb des Landes und auch einen Dialog zwischen
den Menschenrechtsorganisationen dieses Landes und In-
dien. Ich glaube, dass unsere Stiftungen in den vergange-
nen Jahren sehr viel dazu beigetragen haben, diese Men-
schenrechtsorganisationen zu unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was uns angeht, so müssen wir versuchen, die Isolie-
rung des Landes aufzuheben; denn ohne eine wirkliche
Kooperation erscheint auch eine Demokratisierung nicht
möglich. Die Demokratisierung wäre aber auch in meinen
Augen die Voraussetzung dafür, dass es zu einer Lösung
des Konflikts zwischen den beiden Hauptkontrahenten in
diesem Kontext, zwischen Pakistan und Indien, kommt.
Die Signale aus Indien, die, insbesondere bei Besuchen in
diesem Jahr bei vielen Gesprächen, auch mit den Mitglie-
dern des Auswärtigen Ausschusses des indischen Parla-
ments, sichtbar geworden sind, zeigen: Die Bereitschaft
zu Gesprächen ist vorhanden. Ich glaube, dass entspre-
chende Zusammenschlüsse, auch wenn sie politisch, öko-
nomisch und menschenrechtlich bisher nicht funktioniert
haben, gestärkt werden müssen und dass wir, auch als
Mitglied der EU, das Unsere dazu beitragen können –
auch wenn wir in diesem Konflikt nicht direkt als Mittler
auftreten sollten –, derartige Zusammenschlüsse und die
Austauschprozesse, die dort laufen könnten, zu unterstüt-
zen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ein besonders ermutigendes Zeichen für die Koopera-
tion zwischen Indien und Pakistan ist das „India-Pakis-
tan People’s Forum“, das jedes Jahr Intellektuelle,
Schriftsteller, Journalisten, Exmilitärs, Expolitiker und
Parlamentarier zusammenführt, die über die Zukunft ihrer
beiden Länder beraten. Das Problem, das, insbesondere in
den letzten zwei, drei Jahren, im Weg gestanden hat,
möchte ich als eine scharfe Islamisierung der innenpoliti-
schen Situation in Pakistan bezeichnen. Pakistanische In-
tellektuelle sprechen von einer „Talibanisierung“ des
Landes. „Talibanisierung“ würde heißen, dass die zivilen,
die menschenrechtlichen Orientierungen gerade der Teile
der politischen Klasse, die auf eine Demokratisierung ge-
richtet sind, nicht mehr zum Tragen kommen können.

Gerade für uns aus der Bundesrepublik Deutschland ist
es sehr wichtig, diejenigen in die Verantwortung für eine
Demokratisierung dieses Landes mit hineinzunehmen,
die bisher dazu beigetragen haben, das Land zu destabili-
sieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU)


Das sind sowohl diejenigen, die im Nahen Osten und mitt-
leren Osten zur Finanzierung der islamistischen Gruppie-
rungen beitragen, die das Land von innen destabilisieren,
wie auch diejenigen, die in den Jahren zuvor dazu beige-
tragen haben, dass überhaupt erst Taliban-Schulen entste-
hen konnten, die heute nicht nur Pakistan bedrohen, son-
dern auch in Afghanistan ein Schreckensregime errichtet
haben, das sich jeder internationalen Einbindung entzieht.

Insofern denke ich: Wir alle sitzen in dem Boot der
Verantwortung. Ich hoffe, dass die Signale, die aus Indien
in Richtung der pakistanischen Regierung, aber auch in
Richtung der früheren Parlamentarier gesendet worden
sind, aufgenommen werden.

Der Appell geht natürlich genauso an die pakistanische
politische Klasse, das, was bisher an Sicherstellung der
Minderheitenrechte versäumt worden ist, nachzuholen zu
versuchen. Dazu gehört insbesondere die Aufhebung der
Blasphemiegesetze, durch die islamistische Gruppierun-
gen in diesem Land heute sehr viel mehr Einfluss gewon-
nen haben, als das in den vergangenen Jahren der Fall war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Cajus Caesar [CDU/CSU])


Sonst wird die Destabilisierung einer ganzen Region wei-
tergetrieben. Ich glaube, wir haben die Verantwortung,
den ganzen Prozess des Austausches weiter zu begleiten,
insbesondere die Wiederherstellung von Menschenrech-
ten, die Wiederherstellung von Demokratie und die Wie-
derherstellung der Gesetzestreue – Rule of Law wird das
genannt – innerhalb des Landes.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)





Wolfgang Gehrcke
16688


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417021300
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5684 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 e sowie
den Zusatzpunkt 7 auf:
13 a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-

neten Christine Ostrowski, Heidemarie Ehlert,
Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagen-
gesetzes (EigZulG)

– Drucksache 14/4351 –

(Erste Beratung 128. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 14/5349 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Elke Wülfing
Dr. Barbara Höll

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen (15. Ausschuss) zu dem Antrag der
Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Barbara
Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS
UMTS-Milliarden für Entlastung von Altschul-
den auf dauerhaft leer stehendem Wohnraum
– Drucksachen 14/4350, 14/4693 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christine Lucyga

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen (15. Ausschuss) zu dem Antrag der
Abgeordneten Christine Ostrowski, Gerhard
Jüttemann, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS
Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Existenz
von Wohnungsgenossenschaften aus Treuhand-
liegenschaftsbeständen in den neuen Bundes-
ländern
– Drucksachen 14/4011, 14/5556 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Otto (Erfurt)

Reinhard Weis (Stendal)


d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Christine
Ostrowski, Heidemarie Ehlert, Gerhard
Jüttemann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der PDS

Herabsetzung der Grundsteuer bei strukturel-
lem Mietwohnungsleerstand
– Drucksachen 14/4010, 14/5347 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Dr. Barbara Höll

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine
Ostrowski, Sabine Jünger, Dr. Heinrich Fink, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Dranske retten – der Gemeinde eine Perspek-
tive geben
– Drucksache 14/5806 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine
Ostrowski, Gerhard Jüttemann, Rolf Kutzmutz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Maßnahme-Programm zum wohnungswirt-
schaftlichen Strukturwandel in den neuen Län-
dern vorlegen
– Drucksache 14/6051 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

Alle Redner mit Ausnahme der Rednerin der PDS-
Fraktion wollen ihre Reden zu Protokoll geben.1) Auf die
PDS-Fraktion entfällt eine Redezeit von sieben Minuten.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Christine Ostrowski.


Christine Ostrowski (PDS):
Rede ID: ID1417021400
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Heute Vormittag wurde in der Kern-
debattenzeit die Situation in Ostdeutschland beraten. Der
Wohnungsleerstand Ost ist ein schreiendes Signal der
Prozesse in Ostdeutschland. Unsere Anträge, die sich
damit befassen, hätten heute Vormittag debattiert werden
müssen. Die Anträge sind ans Ende der heutigen Ple-
nardebatte geschoben worden. Alle Redner geben ihre Re-
den zu Protokoll und die Hälfte der Wohnungspolitiker ist
auch abhanden gekommen.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Jetzt werden wir alle beschimpft!)


– Nein, Sie ja nicht. Sie können nichts dafür, Sie sitzen ja
noch da.

Nun ist es ja nicht so, dass uns das aus der Kurve dreht;
wir sind das ja gewöhnt. Denn Sie mögen es nicht, dass
unsere Anträge zum Wohnungsleerstand Ost, zur Situa-
tion der ostdeutschen Wohnungswirtschaft, behandelt
werden. Dafür haben Sie Ihre Gründe.

Erstens glauben Sie: Je später am Abend, desto weni-
ger öffentliche Wirkung. Zweitens ist es Ihnen, der Re-
gierungskoalition – Frau Eichstädt-Bohlig, es tut mir






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1) Anlage 7

wirklich Leid – unangenehm. Außer einer unzulänglichen
Novelle des Altschuldenhilfe-Gesetzes haben Sie bisher
an parlamentarischen Initiativen zum Wohnungsleerstand
Ost nichts, aber auch gar nichts eingebracht. Das ist die
Wahrheit.


(Beifall bei der PDS – Franziska EichstädtBohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht Worte, sondern Taten zählen, meine liebe Kollegin!)


Die CDU mit ihren primitiven Initiativen, die schon
lange zurückliegen, kann man vergessen. Die F.D.P. hat
gestern einen Antrag eingereicht. Die Hälfte dieser For-
derungen haben wir hier schon vor Monaten eingebracht.
Die andere Hälfte kann man nicht mittragen. Immerhin,
Sie kommen, wenn auch spät. Das macht wahrscheinlich
Ihre Trunkenheit, 18 Prozent usw. Tatsache ist: Hätte die
PDS hier nicht Antrag für Antrag eingebracht, wäre am
Bundestag bis jetzt der Wohnungsleerstand Ost, die Krise
der ostdeutschen Wohnungswirtschaft vorbeigegangen.


(Beifall bei der PDS)

Denn alles, was die Bundesregierung gemacht hat, läuft
außerhalb des Parlaments ab.

Selbst die heutige Abstimmung über einen Antrag, der
schlicht lautet, die Bundesregierung solle unverzüglich
ihr Maßnahmeprogramm zur Realisierung der Vorschläge
der Leerstandskommission vorlegen, verhindern Sie. Man
rate, warum. Sie tun es, damit der Antrag in den Aus-
schüssen so lange vor sich hinschmort, bis Sie aus dem
Mustopf gekommen sind.

Ich denke aber, meine Damen und Herren, diese Tricks
helfen Ihnen nicht. Die Wohnungsunternehmen verfolgen
sehr genau, welche Fraktionen etwas tun, welche Fraktio-
nen aktiv sind und welche Fraktion welche Vorschläge
einreicht.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir tun etwas!)


Ich kann Ihnen sagen: Die PDS-Fraktion hat einen guten
Ruf in der Wohnungswirtschaft und wir haben ihn zu
Recht.

Vor über einem Jahr haben Sie mit großer Inszenierung
eine Expertenkommission eingesetzt, auf dass sie Lösun-
gen für den Wohnungsleerstand finde. Vor einem halben
Jahr hat sie ihre Vorschläge vorgelegt. Jetzt schreiben wir
Mai und noch immer ist nichts passiert, aber auch gar
nichts, abgesehen davon, dass die Mehrzahl der Vor-
schläge der Expertenkommission von uns bereits lange
zuvor eingebracht worden war, Vorschläge zur Erhöhung
der Investzulage im Altbestand, zur Erhöhung der Eigen-
heimzulage im Bestand, zur Schaffung eines Sofortpro-
gramms für den Abriss. Man fragt sich natürlich, was die
Experten – außer einer Zeitverzögerung – erreicht haben.

Ich halte es für das Letzte, wenn Sie derart zögerlich an
die Umsetzung selbst gestellter Aufgaben herangehen.


(Beifall bei der PDS)

Seit Wochen sprechen die beteiligten Politiker von
Sanierungsprogrammen statt von Umbauprogrammen.

Das alles klingt furchtbar nett und furchtbar schön. Bis
jetzt sind es leere Worte.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ihr meint, auf Bundesebene wird kommunale Politik gemacht!)


Jeder Tag, der verstreicht, führt zu einer leeren Wohnung
mehr.

Ich möchte Sie einmal Folgendes fragen – Sie können
ruhig die Hand heben –: Wer von Ihnen war schon einmal
in Dranske?


(Zurufe: Wo?)

– Sehr schön, dass Sie fragen: Wo? Dranske ist Ihrer Mei-
nung nach bestimmt ein unbedeutender Ort in der Bun-
desrepublik. Wunderbar!

Dranske war einmal ein Bundeswehrstandort. Als sol-
cher hatte er den Menschen Arbeit gegeben. Als die Bun-
deswehr wegzog, zogen die Menschen mit ihr weg. Er
hatte einmal 3 700 Einwohner; jetzt hat er nur noch 2 200.
Die Plattensiedlung in Dranske übertrifft alles, was ich
bisher kennen gelernt habe.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was macht denn der Kollege Holter für Dranske? Können Sie uns das einmal sagen?)


Von den 700 Wohnungen in dieser Plattensiedlung steht
die Hälfte leer. Ich kann nicht beschreiben, wie trostlos
man sich vorkommt und wie öde es ist, wenn man in die-
ser Siedlung steht: Mit Brettern wurden die Haustüren
zugenagelt. Man sieht kaputte Balkons, zerfetzte Gardi-
nen und auch ein auf einen leeren Wohnblock aufge-
sprühtes Hakenkreuz. Dies ist ein übles Umfeld.

Dranske hatte im Vertrauen auf Seriosität, Fairness und
Sachverstand 700 Wohnungen vom Bund gekauft. Daran
sind Sie von der CDU/CSU schuld; Sie haben das zu ver-
antworten.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Wer hat denn die Platten dort gebaut? Wer regiert denn in Schwerin?)


Dranske ist vom Bund über den Tisch gezogen worden,
weil der Bund den Sanierungsaufwand unseriös kalkuliert
und Vertragsbedingungen diktiert hat, die für diese Ge-
meinde unannehmbar und nahe der Sittenwidrigkeit wa-
ren.


(Beifall bei der PDS)

Dranske kann diese 700 Wohnungen entweder erhalten

– das ist unmöglich, weil es keine Mieter gibt – oder sie
verkaufen; auch dies ist unmöglich, weil sich kein Käufer
findet.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Regieren Sie in Schwerin mit? – Gegenruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS]: Leider nur mit!)


Die Lage ist extrem: Es bestehen Zwangsverwaltung und
eine Verschuldung von 12 000 DM pro Einwohner.




Christine Ostrowski
16690


(C)



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(B)


Während das Land Mecklenburg-Vorpommern seine
letzten Gelder aus dem Wohnumfeldprogramm zusam-
menkratzt, um Dranske zu helfen, tut der Bund so, als
ginge ihn das überhaupt nichts an. Das liegt nun wieder in
der Verantwortung der Koalitionsfraktionen: Sie lassen
diesen Ort sehenden Auges verkommen. Nun mag
Dranske ein Ort sein, der unbedeutend ist. Er mag ein Ort
sein, der einen Sonderfall darstellt. Aber Dranske ist auch
und gerade ein Ort, der uns vor Augen führt, was aus Ge-
meinden im Osten werden kann, wenn Sie so weiterma-
chen wie bisher.

Ich denke nur an die heutige Debatte über den Osten
und an die schönen Sprechblasen vom Aufbau Ost, der ge-
lingen wird, und daran, dass der Strukturwandel in vollem
Gange ist. Besonders nett sind die Appelle an das Selbst-
bewusstsein der Ostdeutschen. Dazu kann ich nur sagen:
Ihr größtes Problem, das Sie in der Bundesrepublik
Deutschland haben, ist Ostdeutschland. Sie haben es
überhaupt nicht begriffen:


(Susanne Kastner [SPD]: Haben Sie doch nicht einen solchen Verfolgungswahn zu so später Stunde!)


Was die Städte und Gemeinden dort brauchen, sind das
Engagement und die finanzielle Unterstützung des Bun-
des. Was denn sonst?


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Da, wo Sie Verantwortung haben, können Sie vor Ort etwas tun!)


Sie wollen nur wenig Geld zur Verfügung stellen; am
besten gar keines. Wenn Sie Geld geben, dann sprechen
Sie vorrangig von Straßen und von Infrastruktur. Ich
würde gerne einmal wissen, wie viele sächsische Bürger
in 80 Jahren über Ihre ausgebauten Straßen fahren wer-
den, wenn Sachsen von jetzt 4,3 Millionen Einwohnern
auf 1 Million geschrumpft sein wird.

Es ist doch wohl ein Witz, dass sich der Ostbeauftragte
heute Vormittag im Zusammenhang mit den Altschulden
für die Entlastung um 700 Millionen DM gefeiert hat, die
gerade einmal für die Sanierung von 85 000 Wohnungen
reichen. Dazu möchte ich einmal einen Vergleich anstel-
len: Wir haben 1 Million leer stehende Wohnungen. Für
diese 1 Million entsteht den ostdeutschen Wohnungs-
vermietern ein Einnahmeverlust von jährlich 2,2 Milliar-
den DM. Sie denken, mit 700Millionen DM sei Ihre Leis-
tung erbracht. Das ist doch wohl nicht wahr!

Meine Damen und Herren, ergreifen Sie endlich Maß-
nahmen, die den Wohnungsunternehmen helfen und die
wir heute unter anderem zur Abstimmung bringen! Strei-
chen Sie die Altschulden für leere Wohnungen! Auch
wenn Sie die Milliarden, die wir aus den UMTS-Erlösen
fordern – wir haben den vorliegenden Antrag schon vor
langer Zeit eingebracht –, schon längst verbraten haben,
so führt für Sie an der Streichung der Altschulden kein
Weg vorbei.


(Beifall bei der PDS)

Kümmern Sie sich um die TLG-Genossenschaften! Es

gibt nur zehn davon. Davon ist die Hälfte wirklich kon-
kursbedroht. – Sie von der CDU/CSU tragen hierfür Ver-

antwortung, weil Sie diese Wohnungen an die Genossen-
schaften veräußert haben, die sich im Vertrauen auf Sie
neu gegründet haben. – Unterlassen Sie die Erhebung der
Grundsteuer auf dauerhaft bewohnbare Wohnungen!


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417021500
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.


Christine Ostrowski (PDS):
Rede ID: ID1417021600
Ich komme zum Schluss
und möchte noch einen Vorschlag machen: Der Minister-
präsident Roland Koch in Hessen und der Chefredakteur
des „Focus“ haben für einen Tag ihr Amt getauscht. Diese
Idee finde ich gar nicht so schlecht. Der Bundeskanzler
sollte vielleicht einmal für einen Monat Bürgermeister in
Dranske spielen. Ich verspreche: Wenn Bundeskanzler
Schröder es schaffen würde, Dranske – gleichsam wie
Münchhausen sich selbst am eigenen Zopf – aus dem
Sumpf zu ziehen, dann spendiere ich ihm einen Kasten
Rotkäppchensekt und leiste Abbitte.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417021700
Ich
schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Änderung des Eigenheimzula-
gengesetzes auf Drucksache 14/4351. Der Finanzausschuss
empfiehlt auf Drucksache 14/5349, den Gesetzentwurf ab-
zulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung bei Zustimmung der PDS-Fraktion gegen die
Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt.

Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die wei-
tere Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem
Titel „UMTS-Milliarden für Entlastung von Altschulden
auf dauerhaft leer stehendem Wohnraum“; das ist die
Drucksache 14/4693. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/4350 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Frak-
tion und der F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der PDS-
Fraktion angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem
Titel „Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Existenz von
Wohnungsgenossenschaften aus Treuhandliegenschafts-
beständen in den neuen Bundesländern“; das ist die
Drucksache 14/5556. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/4011 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Frak-
tion und der F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der PDS-
Fraktion angenommen.




Christine Ostrowski

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(C)



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(A)



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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
16692

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussem-
pfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion der PDS zur Herabsetzung der Grundsteuer bei
strukturellem Mietwohnungsleerstand; das ist die
Drucksache 14/5347. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/4010 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit
dem gleichen Stimmenverhältnis wie eben angenom-
men.

Nun bleiben noch Tagesordnungspunkt 13 e und Zu-
satzpunkt 7. Interfraktionell wird Überweisung der Vorla-

gen auf den Drucksachen 14/5806 und 14/6051 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 18. Mai 2001, 9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.