Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Zunächst teile ich mit, dass die Kollegin Claudia Roth
am 31. März 2001 auf ihre Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag verzichtet hat. Als ihr Nachfolger
hat der Abgeordnete Gerald Häfner am 1. April 2001 die
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich
begrüße den Kollegen Häfner, der vielen von Ihnen aus
früheren Wahlperioden noch bekannt ist, sehr herzlich in
unserem Kreis.
Sodann soll eine Änderung im Vermittlungsausschuss
vorgenommen werden. Die Fraktion der CDU/CSU teilt
mit, dass der Kollege Hans Peter Schmitz als
ordentliches Mitglied ausscheidet. Als Nachfolger wird
der Kollege Karl-Josef Laumann vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist der Kollege Karl-Josef Laumann als ordentli-
ches Mitglied im Vermittlungsausschuss bestimmt.
Des Weiteren möchte ich Sie darüber informieren, dass
der Kollege Jörg Tauss als Mitglied aus dem Stiftungsrat
der Stiftung CAESAR ausscheidet. Die Fraktion der
SPD hat als Nachfolger den Kollegen Dietmar Nietan
vorgeschlagen. Ich gehe davon aus, dass Sie mit der Be-
nennung einverstanden sind.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: zu
den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 5 bis 24
auf Drucksache 14/5724
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Seehofer, Peter
Rauen, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU: Soziale Partnerschaft stärken Be-
triebsverfassungsgesetz zukunftsfähig modernisieren
Drucksache 14/5753
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb,
Dirk Niebel, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.: Reform der Mitbestimmung zur Stär-
kung des Mittelstandes Drucksache 14/5764
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Optimierung
der Ostseesicherheit im Bereich der Kadetrinne Drucksa-
che 14/5752
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung soldaten-
versorgungsrechtlicher und anderer Vorschriften auf Euro
Drucksache 14/5436
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschus-
ses Drucksache 14/5748
Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt Palis
Helmut Rauber
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
: Sammelbericht 258 zu Petitionen Drucksa-
che 14/5775
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
: Sammelbericht 259 zu Petitionen Drucksa-
che 14/5776
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
: Sammelbericht 260 zu Petitionen Drucksa-
che 14/5777
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
: Sammelbericht 261 zu Petitionen Drucksa-
che 14/5778
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
: Sammelbericht 262 zu Petitionen Drucksa-
che 14/5779
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
: Sammelbericht 263 zu Petitionen Drucksa-
che 14/5780
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
: Sammelbericht 264 zu Petitionen Drucksa-
che 14/5781
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
: Sammelbericht 265 zu Petitionen Drucksa-
che 14/5782
6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zum rechtlichen Umgang mit Ar-
beitslosen vor dem Hintergrund der jüngsten Vorschläge
des nordrhein-westfälischen Arbeitsministers
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut Schauerte,
Gunnar Uldall, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU: Innovation und fairer Wettbewerb
im Handel nach Abschaffung von Rabattgesetz und Zuga-
beverordnung Drucksache 14/5751
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen,
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der F.D.P.: Distanzierung der Bundes-
ministerin Renate Künast von einem Aufruf zur Freilas-
sung als Mitglieder einer terroristischen Vereinigung
verdächtiger Personen Drucksache 14/5765
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Pia
Maier, Dr. Heidi Knake-Werner, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS: Zusätzliche Arbeitsplätze fördern so-
ziale Sicherungssysteme festigen Drucksache 14/5794
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
10. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek,
Marie-Luise Dött, Cajus Caesar, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Prüfung der Umwelt-
verträglichkeit den Erfordernissen einer modernen
Umweltpolitik anpassen
zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger,
Ulrike Flach, Horst Friedrich , weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der F.D.P.: Umsetzung der
IVU-Richtlinie Umweltgesetzbuch auf den Weg
bringen
Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
11. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,
des BÜNDISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.: Ausrei-
chende Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen und
Bereitstellung der Mittel zur Gewährung von Leistungen
an ehemalige Zwangsarbeiter und von anderem Unrecht
aus der Zeit des Nationalsozialismus Betroffene nach dem
Gesetz zur Errichtung einer Stiftung Erinnerung, Verant-
wortung und Zukunft Drucksache 14/5787
12. Beratung des Antrags der Fraktion der PDS: Sofortige Aus-
zahlung an die Opfer der NS-Zwangsarbeit Drucksache
14/5788
13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Margit Wetzel,
Dr. Ditmar Staffelt, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDIS-
SES 90/DIE GRÜNEN: Sicherung eines fairen Wettbewerbs
für deutsche und europäische Werften Drucksache
14/5769
14. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Hempelmann,
Dr. Ditmar Staffelt, Klaus Barthel , weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für ein modernes Aus-
fuhrgewährleistungssystem Drucksache 14/5767
15. Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G. Fritz, Gunnar
Uldall, Wolfgang Börnsen , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Für den Erhalt von Hermes
als Instrument der Außenwirtschaftsförderung und eine
Reform des Hermes-Instruments im internationalen Rah-
men Drucksache 14/5749
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll so-
weit erforderlich abgewichen werden.
Weiterhin wurde Folgendes vereinbart: Die Tagesord-
nungspunkte 6 und 9 sollen getauscht werden. Ich mache
darauf aufmerksam, dass die zur Heimkehrerentschädi-
gung beantragten zwei namentlichen Abstimmungen so-
mit voraussichtlich bereits gegen 16 Uhr stattfinden wer-
den.
Nach Tagesordnungspunkt 6 soll Tagesordnungs-
punkt 11 aufgerufen werden.
Der für Freitag in verbundener Beratung vorgesehene
Tagesordnungspunkt 19 c wird abgesetzt.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden?
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie die
Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
3a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
Drucksache 14/5741
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Präsident Wolfgang Thierse
15934
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung zu dem Antrag der Abgeord-
neten Dr. Ruth Fuchs, Dr. Klaus Grehn, Uwe
Hiksch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte
Eckpunkte für die Reform des Betriebsverfas-
sungsgesetzes
Drucksachen 14/4071, 14/5213
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brandner
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Seehofer, Peter Rauen, Karl-Josef Laumann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Soziale Partnerschaft stärken Betriebsverfas-
sungsgesetz zukunftsfähig modernisieren
Drucksache 14/5753
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.
Reform der Mitbestimmung zur Stärkung des
Mittelstandes
Drucksache 14/5764
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister Walter Riester.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Der heutige Tag bietet eine gute Chance für Millionen von
Menschen in den Betrieben, ein guter Tag, ein großer Tag
zu werden; denn es geht um ihre Rechte: um ihre Infor-
mationsrechte, um ihre Beteiligungsrechte und um ihre
Mitbestimmungsrechte.
Die Modernisierung der Betriebsverfassung ist ein
guter Anlass für die Regierung, drei Ziele für die Be-
schäftigten durchzusetzen:
Erstens. Wir möchten, dass auf allen Ebenen, auf denen
Entscheidungen getroffen werden, die Beschäftigten mit
ihren Vertretern ihre Interessen einbringen können.
Zweitens. Wir wollen über die Verbesserung der Ar-
beitsbedingungen der Betriebsräte sicherstellen, dass
diese auf gleicher Augenhöhe mit den Arbeitgebern ver-
handeln können.
Drittens. Alle Themen, die die Menschen in den Be-
trieben betreffen hier geht es insbesondere um die Frage
der Beschäftigungssicherung und um die Arbeitsbedin-
gungen , sollen Gegenstände sein, die die Beschäftigten
über die Betriebsräte einbringen können.
Warum geht es im Einzelnen? Die Betriebe, insbe-
sondere Mittel- und Großbetriebe, haben ihre Organisati-
onsformen verändert. Wir werden zukünftig sicherstellen,
dass über Tarifvertrag oder wo keine Tarifverträge gel-
ten auch über Betriebsvereinbarung die Betriebsrats-
strukturen so gestaltet werden können, dass beispiels-
weise auch in Sparten, in Filialbetrieben oder unter-
nehmenseinheitlich Betriebsräte gebildet werden können,
um in allen Bereichen die Vertretung der Beschäftigten
sicherzustellen.
Wir wollen als Zweites, dass die Wahlverfahren verein-
facht werden. Die überholte Trennung zwischen Arbei-
tern und Angestellten soll der Vergangenheit angehören.
Wir wollen gemeinsame Wahlen für eine gemeinsame
Belegschaft einführen.
Als Drittes geht es um die Wahlen in Kleinbetrieben.
Das bestehende Wahlverfahren war lassen Sie mich das
so ausdrücken eher ein Wahlbehinderungsverfahren.
Dadurch, dass es langatmig, kompliziert und kostenträch-
tig ist, hat es dazu geführt, dass in Kleinbetrieben Wahlen
im Regelfall erst gar nicht durchgeführt worden sind. Wir
möchten dafür sorgen, dass ein demokratisches, klares,
einfaches und kurzes Wahlverfahren sicherstellt, dass Be-
legschaften dort, wo sie es wollen, ihre Vertretungen bil-
den können.
Dieses Wahlverfahren soll gewährleisten, dass sieben
Tage, nachdem die Kandidaten für die Betriebsratswahl
feststehen, die Wahl erfolgen kann, wobei gewährleistet
sein muss, dass ein demokratischer, geheimer und für je-
des Belegschaftsmitglied möglicher Wahlvorgang durch-
geführt wird. Ich bin mir sicher, dass wir für die Beleg-
schaften in sehr vielen Kleinbetrieben mit dieser Wahl
erstmals tatsächlich die Möglichkeit einer Belegschafts-
vertretung eröffnen.
Wir werden alle Arbeitnehmer in die Wahlen einbeziehen,
das heißt auch Außendienstmitarbeiter, Telearbeitnehmer
und Leiharbeitnehmer, sofern sie mehr als drei Monate in
dem jeweiligen Betrieb beschäftigt sind.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Präsident Wolfgang Thierse
15935
Als nächsten wichtigen Schritt werden wir sicherstel-
len, dass in den Belegschaftsvertretungen, insbesondere
in den Betriebsräten, Männer und Frauen entsprechend
ihrem Anteil in der Belegschaft vertreten sind.
Dies ist insbesondere eine Förderung von Frauen. Wir
sind davon überzeugt, dass dann die Interessen der jeweils
im Betrieb beschäftigten Frauen besser eingebracht und
berücksichtigt werden können.
Ich komme zum nächsten Punkt, zu den Arbeitsbe-
dingungen der Betriebsräte. Die Arbeitsbedingungen
und die Themenstellungen haben sich in den zurücklie-
genden 30 Jahren, in denen das bisherige Gesetz galt,
enorm verändert und ausgeweitet. Deswegen ist es wich-
tig, die Arbeitsbedingungen dieser ehrenamtlich Tätigen
so zu verbessern, dass sie die Interessen der Belegschaften
in gleicher Augenhöhe mit den Geschäftsleitungen ver-
treten können.
Dies bedeutet zum einen, dass wir in größeren Betrie-
ben mit über 100 Beschäftigten, in denen die Themen-
stellungen und die Aufgabenstellungen umfassender sind
als in kleineren Betrieben, eine leichte Anhebung der Zahl
der Betriebsräte vornehmen. Ich möchte an diesem Punkt
anmerken denn es ist in der Öffentlichkeit viel Kritik
laut geworden,
die bei genauer Betrachtung sehr eigenartig ist : 98 Pro-
zent aller Betriebe haben weniger als 100 Beschäftigte.
Das bedeutet, in 98 Prozent aller Betriebe wird eine Aus-
weitung der Zahl der Betriebsräte gar nicht zum Tragen
kommen.
Wir wollen zum anderen, dass in größeren Betrieben
mit mehr als 200 Beschäftigten eine Teil- oder Vollfrei-
stellung erfolgen kann. Wir halten dies für zwingend er-
forderlich, um eine entsprechende Professionalität der
Betriebsräte sicherzustellen und um im Betrieb Anlauf-
stellen zu haben, wo die Belegschaften ihre Sorgen, ihre
Nöte, ihre Anregungen und ihre Vorschläge einbringen
können.
Wir werden als Nächstes sicherstellen, dass die Sach-
ausstattung der Belegschaftsvertretungen entsprechend
ihrer Aufgabenstellung erfolgt. Es kann nicht sein, dass
wir einerseits fordern, in den Schulen einen Zugang zum
Internet bereitzustellen, und dass wir gleichzeitig dem Be-
triebsrat nur ein schwarzes Brett zur Verfügung stellen.
Das zum Teil unwürdige Gezerre darüber, ob Betriebsräte
in Mittel- und Großbetrieben entsprechend mit Compu-
tern und Software ausgestattet werden, muss ein Ende ha-
ben. Es muss eine sachgerechte Ausstattung geben. Wie
gesagt: Wir wollen eine Interessenvertretung auf gleicher
Augenhöhe.
Ferner werden wir neu in das Gesetz aufnehmen, dass
die Betriebsräte in einem zu vereinbarenden Rahmen
auch Aufgaben an Arbeitsgruppen oder Projektgrup-
pen delegieren können, die im Betrieb eingerichtet sind
und die ihre Aufgabenstellungen unmittelbar selbst regeln
können. Dies ist ein weiteres neues Element, um demo-
kratische Gestaltung unmittelbar vor Ort zu bringen.
Ich komme zum nächsten Komplex, den Informations-,
Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechten. Insbesondere
dort, wo Veränderungen im Betrieb dazu führen, dass Be-
schäftigte ihre erworbene Qualifikation nicht mehr ein-
setzen können und Gefahr laufen, den Arbeitsplatz zu ver-
lieren, oder ihn tatsächlich verlieren, werden wir ein neues
Mitbestimmungsrecht in die Betriebsverfassung aufneh-
men, das einerseits sicherstellt, dass die Qualifikations- und
Berufsanforderungen von der Geschäftsleitung genau defi-
niert werden, und das andererseits sicherstellt, dass der Be-
triebsrat ein Mitbestimmungsrecht in Bezug auf die Quali-
fizierung gerade der Menschen hat, die ohne Qualifizierung
ihren Arbeitsplatz verlieren.
Zusätzlich werden wir bei neuen Organisationsformen,
die sich gerade in Großbetrieben zunehmend verbreiten
und gut sind, wie Gruppenarbeit, dem Betriebsrat das Mit-
bestimmungsrecht für die innere Ausgestaltung dieser
Gruppenarbeit geben, beispielsweise bei der Frage der
Wahl des Gruppensprechers, bei der Zusammenarbeit der
Gruppe, bei der Berücksichtigung auch leistungs-
schwächerer Arbeitnehmer und bei der Regelung von
möglicherweise anstehenden Konflikten.
Ein weiteres wichtiges Feld ist die Frage der Beschäf-
tigungssicherung. Wir wissen um die vielen, vielen Vor-
schläge, die gerade aus der Belegschaft kommen, um Be-
schäftigung zu halten, seien es Vorschläge zur flexiblen
Arbeitsgestaltung, seien es Vorschläge zur Vermeidung
oder Verringerung von Überzeiten, seien es Vorschläge zu
neuen Formen der Arbeitsorganisation. Sie werden heute
von den Arbeitgebern zum Teil positiv aufgenommen,
zum Teil aber auch auf die Seite gelegt. Manche Schwie-
rigkeit im Betrieb, ja mancher Firmenkonkurs wäre ver-
meidbar gewesen, wenn die Vorschläge der Beschäftig-
ten und der Betriebsräte rechtzeitig aufgenommen
worden wären. Wir werden mit dem neuen Gesetz si-
cherstellen, dass dann, wenn Betriebsräte Vorschläge zur
Beschäftigungssicherung einbringen, sie gehört werden,
dass darüber beraten werden und im Fall der Ablehnung
eine Begründung erfolgen muss, in Betrieben mit über
100 Beschäftigten muss die Begründung schriftlich erfol-
gen.
Gleichzeitig werden wir sowohl der Geschäftsleitung
als auch dem Betriebsrat über die Betriebsverfassung die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Bundesminister Walter Riester
15936
Möglichkeit eröffnen, zu Gesprächen und Entscheidun-
gen über diese beschäftigungssichernden Maßnahmen
Vertreter des jeweiligen örtlichen Arbeitsamtes oder des
Landesarbeitsamtes hinzuzuziehen.
Uns geht es um Beschäftigungssicherung und Qualifi-
zierung. Wir wollen aber auch die Informationsrechte der
Belegschaften und der Betriebsräte ausweiten, beispiels-
weise in der Frage des betrieblichen Umweltschutzes.
Der betriebliche Umweltschutz ist zunehmend ein Thema
im Betrieb, weil erkannt wird, dass er nicht nur umwelt-
relevant ist, sondern auch zur Kostenminderung beitragen
kann. In diesem Sinne möchten wir, dass eine umfassende
Information der Belegschaft auch über betriebliche Um-
weltfragen erfolgt und die Beteiligung des Betriebsrates
sichergestellt ist.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Förderung der In-
tegration ausländischer Arbeitnehmer in den Betrie-
ben. Schon in der Vergangenheit sind nach meiner Beur-
teilung im Betrieb die größten Integrationsanstrengungen
und -leistungen der ausländischen Mitbürger erfolgt. Wir
wissen aber auch um die Spannungen, die auftreten kön-
nen und teilweise auch auftreten. Wir wissen, dass diese
Spannungen zum Teil zu rassistischen Exzessen führen,
und möchten sicherstellen, dass auf Betriebsversammlun-
gen die Integration ausländischer Mitarbeiter und Frem-
denfreundlichkeit als Themen angesprochen werden kön-
nen und dass der Betriebsrat einschreiten kann, wenn es
zu Auswüchsen kommt.
Meine Damen und Herren, mit unserer Initiative wird
die Betriebsverfassung das kleine Grundgesetz für die
demokratische Mitwirkung der Beschäftigten in den Be-
trieben. Nach 30 Jahren Rechtsstillstand soll es für die
aktuelle und künftige Arbeitswelt modern ausgestaltet
werden. Wir haben eine große Chance. Ich kann Sie als
Abgeordnete nur auffordern, die demokratischen Grund-
rechte, die für Sie selbstverständlich sind, in den Berei-
chen sicherzustellen, in denen sie für die Arbeitnehmer in
den Betrieben existenziell wichtig sind. Kämpfen Sie mit
uns für die Verbesserung der betrieblichen Mitbestim-
mung! Kämpfen Sie für die demokratischen Rechte der
Beschäftigten in den Betrieben!
Ich erteile dem Kolle-
gen Gerald Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Riester, Ihr rhetorisches Breitwandgemälde vom großen
Tag, wie Sie eben gesagt haben, täuscht nicht darüber
hinweg, dass Sie soeben eine sehr gestrige Betriebsver-
fassungsreform vorgestellt haben.
Ich wage die Prognose, dass auch diese Reform wieder ein
Fall für Ihre politische Nachbesserungsklinik, ein Bruch-
projekt sein wird.
Ich möchte zwei Punkte vorwegschicken: Die CDU
und die CSU sind die Parteien der sozialen Marktwirt-
schaft und der sozialen Partnerschaft in Deutschland.
Als andere noch von Klassenkampf, Sozialisierung, Kol-
lektivierung und Planwirtschaft sprachen und landauf,
landab den Sozialismus predigten, sind wir für soziale
Marktwirtschaft und für Teilhabe der Beschäftigten in
Deutschland eingetreten.
Wenn Sie schon jetzt nervös werden, muss ich Sie vor
meinen weiteren Ausführungen warnen.
Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Tarifvertragsgesetz,
Betriebsverfassungsgesetz 1952 das waren Achsen-
gesetze der sozialen Marktwirtschaft und übrigens auch
Geburtshelfer des so genannten deutschen Wirtschafts-
wunders. Sie kamen unter der Führung der Union in
Deutschland zustande.
Herr Schröder, Sie pendeln zwischen vermeintlicher
Neuer Mitte und der alten Linken, je nachdem, was op-
portun ist und ankommt. Die Volksparteien CDU und
CSU bestimmen ihre Position so, dass Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer und der Mittelstand sich am Ende glei-
chermaßen im Sinne eines fairen Interessenausgleichs
wiederfinden.
Dieser Geist der sozialen Partnerschaft bestimmte das Be-
triebsverfassungsgesetz von 1952 und bestimmt auch
den Antrag, den wir Ihnen heute vorlegen. Die Weiterent-
wicklung der Sozialpartnerschaft ist angesagt, nicht eine
Rückkehr in alte ideologische Gräben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
einen Dank an die vielen tausend Menschen sagen, die in
Deutschland Betriebsratsarbeit leisten. Mein Dank gilt
auch den jungen Leuten, die in Jugend- und Ausbildungs-
vertretungen aktiv sind, sowie den Personalräten, auch
wenn Letztere heute nicht Gegenstand des zu beratenden
Gesetzes sind. Sie engagieren sich nicht nur für ihre Kol-
leginnen und Kollegen, sondern machen sich um ihre Be-
triebe und um diese Gesellschaft insgesamt verdient.
Die betriebliche Mitbestimmung hat sich bewährt
hier stimmen wir Ihnen zu , insbesondere in schwieri-
gen Zeiten des sozialen und wirtschaftlichen Umbruchs.
Die Betriebsverfassung ist ein erprobtes Konfliktlösungs-
modell. Darüber hinaus hat sie eine Ertragsseite, nämlich
Betriebsverfassung und Tarifautonomie. Streikarmut
und stabiler Frieden hängen damit eng zusammen. Dass
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Bundesminister Walter Riester
15937
wir Vizeweltmeister in Bezug auf Streikausfalltage sind,
hat mit dieser Unternehmensverfassung zu tun. Deshalb
verteidigen wir sie in ihrem Kern und brauchen sie in
ihrem Wesen nicht zu verändern. Das ist die Botschaft, die
wir Ihnen heute mitteilen.
Es geht also nicht um eine fundamentale Neufassung
und um grundlegende Änderungen das Rad muss nicht
neu erfunden werden , sondern wir müssen eine das
Wesen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der
sozialen Marktwirtschaft bestimmende Institution moder-
nisieren und an neue Fragestellungen und Rahmenbedin-
gungen anpassen. Es geht also um die sozialpartnerschaft-
liche Weiterentwicklung der Betriebsverfassung und
nicht hier haben wir einen aufkeimenden Verdacht, Herr
Riester um die Transformation der Betriebsverfassung
in Fremdbestimmung hinein.
Sozialpartnerschaft ist nicht von gestern, sondern für
morgen. Für den Anpassungsbedarf nennen wir einige
Stichworte: Flexibilität bei der Bildung von Betriebsrä-
ten, Abbau von Bürokratie, Modernisierung bei der
Durchführung und Ausgestaltung der Mitbestimmung,
und zwar vom Wahlverfahren bis zu den Verfahren bei der
Ausgestaltung der Mitbestimmungsrechte, Modernisie-
rung bei den Inhalten der Mitbestimmung, Qualifizie-
rung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Beschäfti-
gungssicherung, Anpassung der Arbeitsbedingungen der
Betriebsräte, und zwar angefangen von der Form der Frei-
stellung bis zu den Technologien, die Betriebsräte heute
brauchen.
Wenn Sie auf all diesen Feldern, Herr Riester, wirklich
überzeugende Vorschläge unterbreitet hätten, müssten wir
uns nicht so kritisch einlassen, wie wir es jetzt tun. Vieles
von dem, was Inhalt Ihrer gesetzlichen Neuregelung ist,
nutzt in Wahrheit am Ende weder den Beschäftigten noch
den Betrieben. Das ist der Kern unserer Kritik.
Ich möchte einige Beispiele nennen: Erstens sieht Ihr
Gesetzentwurf eine schriftliche Begründung vor, wenn
der Arbeitgeber Vorschläge des Betriebsrates zur Be-
schäftigungssicherung zurückweist. Ich bin sehr davon
überzeugt, dass die Vierfünftelzustimmung der Arbeitge-
ber zur Mitbestimmung gerade mit der Beschäftigungs-
sicherung im Zusammenhang steht. Warum muss es eine
schriftliche Begründung für eine abweichende Position
geben? Lassen Sie doch diesen bürokratischen, kosten-
treibenden Nonsens! Wir brauchen keine Bürokratisie-
rung der Mitbestimmung, sondern eine Modernisierung
der Mitbestimmung.
Zweitens soll nach den Vorstellungen der Bundesre-
gierung der Betriebsrat auch für allgemeinpolitische Auf-
gaben zuständig werden. Die Bekämpfung von Rassis-
mus und Fremdenfeindlichkeit ist ohne Zweifel ein
wichtiges gesellschaftspolitisches Ziel. Aber, Herr Riester
das ist ein elementarer ordnungspolitischer Fehler , die
Betriebsverfassung begründet keine allgemeinpoliti-
schen, sondern betriebliche, arbeitsplatzbezogene Man-
date. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
Drittens. Im Bereich des Umweltschutzes ist es ähnlich.
Soweit der Umweltschutz im Kern Arbeitsschutz ist, trägt
der Betriebsrat längst eine zentrale Mitverantwortung. Das
ist geltendes Recht. Wenn Sie jetzt den Begriff auf betrieb-
lichen Umweltschutz erweitern, frage ich Sie: Wie grenzt
man das ab? Was heißt das? Es schmeckt doch sehr danach,
dass Sie auch hier dem Betriebsrat eine allgemeinpolitische
und unternehmenspolitische und nicht betriebsbezogene
Mitbestimmungsaufgabe zuordnen wollen.
Als viertes Beispiel nenne ich den skandalösen Abbau
der Minderheitenrechte im Betrieb. Ihr Motto, Herr
Riester, lautet: The winner takes it all. Die Gewerk-
schaft, die 51 Prozent der Betriebsratsmitglieder stellt,
soll 100 Prozent der Freistellungen, 100 Prozent der Sitze
im Betriebsausschuss und 100 Prozent der Positionen in
anderen Gremien beanspruchen können. Man merkt die
Absicht und ist verstimmt. Wo sind die Teilhabechancen
der kleinen Gewerkschaften,
der christlichen Gewerkschaften, des Beamtenbundes?
Wo sind die Teilhabechancen der unabhängigen Betriebs-
räte? Diese schreiben Sie vorsätzlich in den Wind, Herr
Riester, weil Sie mit diesem Gesetz eine brutale Klientel-
politik betreiben.
Auf den vielen Veranstaltungen zur Mitbestimmung
haben wir bisher keine einzige wirklich überzeugende Be-
gründung dafür gehört, warum Sie die Minderheiten-
rechte aus dem Betriebsverfassungsgesetz eisern und bru-
tal entfernen. Es geht hier um ein Machtkalkül und nicht
um ein Vernunftkalkül. Entfernen Sie das aus Ihrer No-
velle, sonst wird es hierzu zum zentralen Streit kommen!
Die Einführung des vereinfachten Wahlverfahrens
ist in Ordnung. Das bisherige bürokratische Verfahren
war oft ein Sperrriegel gegen Betriebsräte. Es soll aber
nicht manipulationsanfällig sein. Sie haben bei der Zwei-
stufigkeit schon nachgebessert. Wir wollen aber auch eine
Nachbesserung in Richtung eines Quorums. Wir wollen
die Legitimation, die von innen kommt, und nicht die
Fremdbestimmung, die von außen kommt.
Dass Sie den materiellen Spielraum für das Organisa-
tionsrecht rühmen, ist angesichts Ihres Gesetzesvor-
schlags lachhaft. Wenn ein Tarifvertrag besteht, auch
wenn er ein reiner Lohntarifvertrag ist, kann man keine
Betriebsvereinbarung über Organisationsrechte im Be-
trieb treffen. Das Recht, das Sie hier als umfassend her-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Gerald Weiß
15938
vorgehoben haben, ist in Wahrheit ein ganz schmaler Ge-
staltungskorridor und völlig unbefriedigend geregelt.
Zur Modernisierung der Arbeitsbedingungen der Be-
triebsräte sagen wir Ja: E-Mail und Intranet statt Flug-
blätter und schwarzes Brett. Wenn der Streit nur darum
ginge, wäre er schnell beigelegt, Herr Riester. Wir sind für
eine Chancengleichheit hinsichtlich der Ausstattung.
Wir wollen qualifizierte Mitarbeiter für die Betriebs-
ratsarbeit gewinnen. Wir wollen auch Teilfreistellungen
ermöglichen.
Viele Betriebsräte wollen heute nicht mehr die volle Frei-
stellung, weil sie mit dem beruflichen Wissen up to date
bleiben wollen.
Also lassen Sie uns über Teilfreistellungen reden, damit
berufliche Arbeit und Betriebsratsarbeit besser miteinan-
der verbunden werden können.
Wir wollen ich sage das als Vorsitzender der Arbeit-
nehmergruppe der CDU/CSU die Kräfte der mittelstän-
dischen Betriebe nicht überfordern oder gar zerstören
was Sie vorsätzlich tun , sondern vielmehr durch ef-
fektive Mitbestimmung stützen. Das ist unser Ansatz.
Wir wissen, dass man großen Unternehmen eine andere
wirtschaftliche Belastung zumuten kann als kleinen und
mittelständischen Betrieben.
Wir brauchen als Anpassung an das gewachsene Tempo
ökonomischer Abläufe zügigere, beschleunigte Beteili-
gungsverfahren, allerdings auch eine sozialpartnerschaft-
liche Rückbindung. Also brauchen wir eine Verpflichtung
zu frühzeitiger Information durch den Arbeitgeber. Be-
schleunigung und Prozessorientierung in der Mitbestim-
mung gehören zwingend und sozialpartnerschaftlich zu-
sammen; sie sind zwei Seiten ein und derselben Münze.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie muss in
der heutigen Zeit Aktionsfeld des Betriebsrats sein. Die
berufliche Bildung ist sowohl für den Betrieb als auch für
den einzelnen Arbeitnehmer und seine berufliche Ent-
wicklung wichtig und entscheidend. Deswegen wollen
wir hier die Mitbestimmung sozialpartnerschaftlich wei-
terentwickeln. Qualifizierung und Weiterbildung bilden
die Schutzimpfung gegen Arbeitslosigkeit. Deshalb müs-
sen wir hier die Mitbestimmung weiterentwickeln. Aller-
dings wollen wir sie mit einem Zumutbarkeitskriterium,
einer Kostenklausel und einer Großbetriebsklausel ver-
binden.
Bei der Kernaufgabe auf dem entscheidenden Feld der
Bündnisse für Arbeit, nämlich der Beschäftigungssiche-
rung, geben Sie, Herr Riester, keine Antwort, sondern da
gilt: Augen zu und durch. Wir brauchen ein Stück
Legalisierung der Bündnisse für Arbeit. Wir müssen sie
aus der Grauzone herausholen und Sperrriegel gegen den
Missbrauch schaffen. Wir brauchen beides: saubere,
ordnungspolitisch durchdachte Regeln und Sperrriegel
gegen den Missbrauch, um die Tarifautonomie, den Ta-
rifvertrag und seine Frieden stiftende Wirkung zu ermög-
lichen. Das ist die Antwort, die Sie geben müssten und die
Sie in Ihrem Gesetzentwurf verweigern.
Gestern der Genosse der Bosse, heute eine sehr
gestrige Reform der Betriebsverfassung: Das ist eine Po-
litik der Beliebigkeit, der Prinzipienlosigkeit und des Op-
portunismus. Dem will unsere Fraktion einen Politikent-
wurf im sozialpartnerschaftlichen Geist entgegenstellen.
Wir wollen eine sozialpartnerschaftliche Alternative zum
Riester-Entwurf. Deshalb haben wir unseren Antrag vor-
gelegt. Die Gesellschaft in der Mitte zusammenzuführen
und in einer Synthese der Interessen von Arbeitnehmer-
schaft, Mittelstand und Gesellschaft insgesamt zusam-
menzuhalten, das ist unsere politische Ambition.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile der Kolle-
gin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Gäste aus den USA! Es steht heute ein wichtiges Thema
auf der Tagesordnung. Für uns ist die Reform der Be-
triebsverfassung ein zentrales Anliegen,
im Gegensatz zur F.D.P., die mit ihrem heute zur Debatte
stehenden Antrag Mitbestimmung erst ab einer bestimm-
ten Größenschwelle gewähren will. Dies heißt nichts an-
deres, als dass Teile dieses Hauses in vielen Betrieben in
diesem Land die Mitbestimmung heraushalten und nicht
hineinbringen wollen.
Wir wollen die Reform der betrieblichen Mitbestim-
mung, um die Betriebsräte zu stärken und das Zurück-
drängen von Betriebsräten aus zahlreichen Betrieben, wie
wir es in der Vergangenheit verfolgen mussten, auf-
zuhalten, beispielsweise durch verbesserte Wahlrechte
und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Be-
triebsräte insbesondere in kleinen und mittleren Betrie-
ben.
Wir wollen die Stärkung der Mitbestimmung anders,
als das der Kollege Weiß für die CDU deutlich gemacht
hat. Der Kollege Weiß hat dafür plädiert, dass sich Be-
triebsräte zukünftig auch für die Beschäftigungssicherung
einsetzen sollen wir haben das in unserem Entwurf
vorgesehen , erklärt dann aber ganz leise, es müsse eine
Großbetriebsklausel her. 80 Prozent der Beschäftigten
in diesem Lande sind in kleinen und mittleren Betrieben
beschäftigt. 98 Prozent der Betriebe haben weniger als
100 Mitarbeiter. Wenn die CDU unter dem Deckmantel
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Gerald Weiß
15939
der Beschäftigungssicherung und der Beschäftigungspo-
litik versichert, sich für die Betriebsräte einzusetzen, aber
gleichzeitig eine Größenschwelle einziehen will, dann ist
es klar, was hier gespielt wird: Hier geben einige vor, auf
den Zug der Mitbestimmung aufspringen zu wollen, ob-
wohl sie schon längst abgesprungen sind und die Mitbe-
stimmung in Wahrheit bekämpfen.
Es gibt gute Gründe, diese Reform hier und heute in
Angriff zu nehmen. Wir haben dafür drei zentrale Gründe.
Der erste Grund: Wir haben in der Bundesrepublik
Deutschland über die Mitbestimmungsregelung der Ver-
gangenheit eine besondere Kultur der industriellen Ko-
operation entwickelt, und zwar über einen von vielen
Seiten immer bekämpften Zwang zur Kooperation, den
das Mitbestimmungsgesetz letzten Endes ausübt.
Dieser Zwang zur Kooperation hat dazu geführt, dass
viele Betriebe erst in den Stand gesetzt worden sind, ko-
operationsfähig und damit handlungsfähig zu sein. Darin
liegt das Geheimnis dessen, was wir alle als den sozialen
Frieden in unserem Land feiern. Diese Kooperation durch
Mitbestimmung in den Betrieben ist für uns in der Bun-
desrepublik ein Standortvorteil. Gelingt die schwierige
Balance zwischen Tarifautonomie auf der einen Seite und
betrieblicher Mitbestimmung auf der anderen Seite, so
wird der Boden für flexible Reaktionsmöglichkeiten in
den Betrieben bereitet.
Im Bündnis für Arbeit ist im Juni des letzten Jahres an-
geregt worden, den Flächentarifvertrag zukünftig mög-
lichst flexibel zu gestalten, zum Beispiel durch den wei-
teren Ausbau von Öffnungsklauseln, weil flexible
betriebliche Reaktionen Voraussetzung für eine gute öko-
nomische Entwicklung sind. Insofern ist die betriebliche
Mitbestimmung ein Garant dafür, dass Entscheidungen
betriebsnah getroffen werden können.
Die Tarifautonomie ist das Standbein und die betrieb-
liche Mitbestimmung ist das Spielbein. Deswegen wollen
wir die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes so, wie
wir sie hier vorschlagen, unter den Schutz ich sage das
deutlich in Richtung auf die F.D.P. von § 77 Abs. 3 stel-
len, der den Tarifvorbehalt für materielle Regelungen fi-
xiert. Ohne betriebliche Mitbestimmung wären sozialver-
trägliche Veränderungen in den Betrieben nicht denkbar
gewesen und sind diese auch in der Zukunft nicht denk-
bar; das konzediert ja sogar die CDU/CSU. Ohne
Mitbestimmung wären die Kreativität und vor allen Din-
gen die Motivation der Beschäftigten in den Betrieben
sehr viel geringer.
Die Kultur der Mitbestimmung, die den Betriebsfrie-
den ermöglicht, ist also der erste Grund, warum wir in der
Koalition die Mitbestimmung mit diesem Gesetz ausdeh-
nen und stärken wollen.
Der zweite Grund ist für uns ebenfalls sehr zentral: Es
geht um Demokratie und Partizipation in den Betrieben.
Mitbestimmung ist ein Element einer demokratischen
Bürgergesellschaft. Demokratie und Partizipation kön-
nen nicht von Entscheidungen bestimmter Teile dieser
Gesellschaft, können nicht von der persönlichen Einstel-
lung der Unternehmer abhängig gemacht werden. Part-
nerschaftliche Strukturen, Partizipation und Mitbestim-
mung brauchen Regeln. Wir wissen, dass wir mit den
Start-ups junge Unternehmen haben, die im Rahmen der
demokratischen Kooperation, der Mitbestimmung und
der Stärkung von Individualrechten ihre eigenen Rege-
lungen finden. Wir wissen aber auch, dass diese Betriebe
in der letzten Zeit verstärkt erkannt haben, dass Betriebs-
räte in Krisensituationen helfen können. Wir brauchen da-
her die vorgeschlagenen Regelungen, um in allen Betrie-
ben Mitbestimmung zu ermöglichen.
Paternalistische Strukturen, bei denen der Chef ent-
scheidet, ob er seiner Belegschaft Mitbestimmung ermög-
licht oder nicht, gehören in die Mottenkiste der Ge-
schichte. Mitbestimmung ist ein modernes Instrument im
Hinblick auf eine industrielle Entwicklung. Der mit de-
mokratischen Rechten ausgestattete Arbeitnehmer kann
auch nicht als quasi gespaltene Persönlichkeit behandelt
werden, der sozusagen mit der Betätigung der Stechuhr
sein Recht auf Partizipation und Mitgestaltung abgibt.
Der Schutz durch persönliche Arbeitnehmerrechte ist
auch innerhalb der Betriebe unveräußerlich.
Auch deswegen brauchen wir die Mitbestimmung.
Ich sage in Richtung der F.D.P., die bestimmte Mitbe-
stimmungsrechte von der Betriebsgröße abhängig ma-
chen möchte, das heißt, kleinere Betriebe von der Mitbe-
stimmung ausschließen möchte
doch, Sie wollen zum Beispiel die Bildung eines Be-
triebsrates erst dann erlauben, wenn das Unternehmen
mehr als 20 Mitarbeiter hat : Partizipation und Mitbe-
stimmung gehören in die kleinste Hütte. Demokratische
Rechte darf man nicht von der Größe der Betriebe abhän-
gig machen.
Lieber Herr Kollege Gerhardt, das, was Sie gerade
dazwischengerufen haben, macht deutlich, dass sich die
ideologischen Hardliner in dieser Gesellschaft unter Mo-
dernisierung noch immer die alten dirigistischen Formen
der Unternehmensstruktur und Unternehmensführung
vorstellen.
Der dritte Grund, die bisherige Mitbestimmung zu re-
formieren, liegt für uns in der gesellschaftlichen Ent-
wicklung. Das bisherige Betriebsverfassungsgesetz ist
veraltet und wird den modernen Veränderungen nicht
mehr gerecht, zum Beispiel den veränderten Arbeitsfor-
men, den veränderten Arbeitnehmerstrukturen und der
Entwicklung, dass sich die Unternehmen rapide verän-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Thea Dückert
15940
dern, outsourcen und insourcen. Auch deswegen brau-
chen wir eine Reform der Mitbestimmung.
Wir haben das finde ich gerade aus Sicht meiner Frak-
tion sehr wichtig zum Beispiel keine abschließende Defi-
nition des Betriebsbegriffes und des Arbeitnehmerbegriffes
in diesen Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Be-
triebsverfassungsgesetzes hineingeschrieben, weil wir
heute nicht wissen, wie die Entwicklung morgen aussehen
wird, und weil wir eine Mitbestimmung wollen, die flexi-
bel auf die Veränderungen reagieren kann. Dies war für
die Grünen ein ganz wesentlicher Punkt, der in dem Ge-
setzentwurf der Bundesregierung gut berücksichtigt wor-
den ist. Unser Ansatz lautet: Wir brauchen flexible Formen
in der betrieblichen Mitbestimmung. Das, was neu einge-
führt worden ist, zum Beispiel in § 3 des Betriebsverfas-
sungsgesetzes zur Organisationsvereinbarung, öffnet
endlich den Weg zur verhandelten Mitbestimmung, die es
den Unternehmen ermöglicht, zusammen mit den Be-
triebsräten eigene Strukturen zu entwickeln.
In den heutigen Betrieben wird immer stärker in Grup-
pen und Teams mit flachen Hierarchien gearbeitet. Deswe-
gen das ist für uns ein zentrales Anliegen dieses Gesetz-
entwurfs wollen wir die Individual- und Gruppenrechte
stärken, wollen wir, dass Betriebsräte ihre Mitbestim-
mungsrechte an Gruppen in den Betrieben delegieren kön-
nen. Wir wollen auch, dass die Betriebsräte ein Stück ihrer
Macht an Gruppen in den Betrieben abgeben; denn solche
Gruppen wissen über Inhalt und Struktur ihrer Arbeit Be-
scheid und sollten deshalb auch selber zum Beispiel über
Urlaubsregelungen und Arbeitsverteilung entscheiden
können. Nach unserer Auffassung das sage ich ganz
deutlich gehört die Möglichkeit, Mitbestimmungsrechte
an Individuen und Gruppen zu delegieren, in jeden Be-
trieb. Wir finden es nicht richtig, dass Mitbestimmungs-
rechte von der Größe der Betriebe abhängig gemacht wer-
den sollen. Ich habe es bereits gesagt: 98 Prozent der
Betriebe haben weniger als 100 Mitarbeiter.
Gerade auch den neuen kleinen Betrieben wie den Start-
ups, die ganz andere Arbeitsformen haben, wird mit dem
Ansatz, Mitbestimmungsrechte an Gruppen zu delegieren,
ein attraktives Instrument zur Verfügung gestellt, das ih-
nen die Mitbestimmung sicherlich näher bringen wird.
Bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes sind
noch viele andere Punkte berücksichtigt worden. Im alten
Betriebsverfassungsgesetz war zum Beispiel der Um-
weltschutz nicht berücksichtigt. Jede Arbeitnehmerin
und jeder Arbeitnehmer muss sich auch mit dem betrieb-
lichen Umweltschutz auseinander setzen; denn er gehört
zu den fundamentalen Inhalten des Arbeitsschutzes. Ich
habe immer wieder festgestellt, dass die Belegschaften
sehr viel Kreativität bei der Umsetzung des betrieblichen
Umweltschutzes entfalten. Ich sage deshalb ganz deutlich
an die Adresse von Herrn Weiß: Es geht um die Einbin-
dung der Belegschaften auch bei der Entwicklung und
Durchsetzung des betrieblichen Umweltschutzes.
In der alten Mitbestimmung waren die Frauenrechte
in den Betrieben nicht hinreichend verankert. Deswegen
wollen wir diese über das neue Gesetz voranbringen. Ich
glaube, wir werden im weiteren Verfahren über die ge-
naue Ausgestaltung dieser Punkte noch reden müssen.
In der alten Mitbestimmung hat die Jugendvertretung
nicht hinreichend Gewicht. Wir wollen die Jugendvertre-
tung noch weiter stärken, aber nicht nur im Betriebsver-
fassungsgesetz, sondern auch außerhalb. Denn gerade
auch in außerbetrieblichen Ausbildungsstätten muss es
darum gehen, dass die jungen Leute lernen, ihre demo-
kratischen Rechte, ihr Recht auf Beteiligung zu vertreten.
Das aber muss dann zum Teil auch außerhalb der Be-
triebsverfassung geregelt werden.
Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf ist
kein Moloch, der sozusagen über die Hintertür den Sozia-
lismus in die Betriebe hineintragen will,
wie das Herr Weiß suggeriert hat. Dies ist ein sehr ausge-
wogenes, moderates Angebot der Entbürokratisierung,
der Erleichterung der Bildung von Mitbestimmung und
der Stützung der Betriebsräte. Es ist ein Angebot zur Ko-
operation in den Betrieben.
Wir wollen Mitbestimmung an vielen Stellen vo-
ranbringen, beispielsweise bei der Stärkung der Qualifi-
kation, bei der Stärkung der Frauen. Im Fortgang des
Gesetzgebungsverfahrens, wo wir auf der Basis dieses
Gesetzentwurfs diskutieren werden, werden wir noch
viele Änderungsvorschläge, auch die von Ihnen einge-
brachten, diskutieren. Ich sage Ihnen nur, was unsere
Perspektive dabei ist: Wir wollen die Demokratie im Be-
trieb stärken und die Minderheitenrechte schützen.
Deswegen werden wir uns im Fortgang des Verfahrens
auch für die Beibehaltung des Verhältniswahlrechts in
der Mitbestimmung einsetzen.
Ziel des Gesetzes ist es, die Akzeptanz in den Betrieben
zu erhöhen und die Mitbestimmung auszuweiten. Ziel des
Gesetzes ist es, auf der Basis von mehr Demokratie den so-
zialen Schutz in den Betrieben zu fördern und gleichzeitig
die Innovationsfähigkeit der Betriebe zu stärken.
Mitbestimmung, richtig angewandt, erhöht die Reakti-
onsfähigkeit der Betriebe und steigert deswegen die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Thea Dückert
15941
Wettbewerbschancen der Unternehmen in der Bundesre-
publik Deutschland. Mitbestimmung, richtig angewandt,
erhöht die Motivation und die Kreativität. Darin, meine
Damen und Herren, liegt auch eine Chance für die Pro-
duktivität der Unternehmen. Lassen Sie es uns anpacken!
Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heinrich Kolb, F.D.P.-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (von der F.D.P. mit Bei-
fall begrüßt): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Ich glaube, in einem Punkt besteht hier Konsens:
Ohne Zweifel hat die betriebliche Mitbestimmung einen
wesentlichen Beitrag zur Wahrung des Betriebsfriedens in
unserem Land geleistet.
Die F.D.P. hat das derzeit geltende Betriebsverfassungs-
gesetz 1972 mitbeschlossen. Auch wir sehen Handlungs-
bedarf und sehen uns für Veränderungen in der Pflicht.
Aber das muss ich dann doch sagen unsere Vor-
stellungen bewegen sich in eine völlig andere Richtung
als das, was Rot-Grün hier vorgelegt hat.
Sie sollten nicht lachen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Rot-Grün, sondern die zunehmenden Proteste in un-
serem Land zur Kenntnis nehmen,
wenn Sie sich und wenn insbesondere Ihr Bundeskanzler
sich an der Entwicklung und an den erhofften Erfolgen
auf dem Arbeitsmarkt messen lassen wollen. Schon jetzt
stellen wir eine Eintrübung der konjunkturellen Rahmen-
bedingungen fest
und der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf ist geeignet,
die Investitionsneigung im Mittelstand dramatisch zu
verschlechtern.
Er ist sozusagen der Tropfen, der das Fass zum Überlau-
fen bringt. Wenn Sie sich mit dem Mittelstand unterhalten
würden, Herr Dreßen, dann wüssten Sie, dass die Nerven
beim Mittelstand blank liegen. Das ist nach dem 630-
Mark-Gesetz und nach den Änderungen zur Teilzeitarbeit
und zum Kündigungsschutz, die allesamt Sie zu verant-
worten haben, auch kein Wunder.
Es macht keinen Sinn, mit der Dampfwalze über den
Mittelstand hinwegzurollen. Verfassung braucht Kon-
sens. Das gilt insbesondere für das Betriebsverfassungs-
gesetz. Deswegen: Wer die Akzeptanz der Mitbestim-
mung gerade im Mittelstand verbessern will, der muss
sich fragen, warum insgesamt nur 10,5 Prozent aller Be-
triebe einen Betriebsrat haben und warum besonders die
kleinen Unternehmen mit bis zu 20 Beschäftigten prak-
tisch ausnahmslos keine Betriebsräte haben. Ich kann Ih-
nen sagen, warum: weil die kleinen und mittleren Unter-
nehmen überproportional mit Kosten belastet werden und
weil sie anders als Großunternehmen den Verlust an
Flexibilität und an Schnelligkeit, der mit dem geltenden
Betriebsverfassungsgesetz verbunden ist, nicht verkraften
können.
Kollege Kolb, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Selbstverständlich.
Herr Dreßen, bitte.
Herr Kolb, Sie haben gerade be-
klagt, dass nur 10,5 Prozent der Betriebe einen Betriebs-
rat haben, und gefragt, woran das liegt. Ist Ihnen eigent-
lich bekannt, wie schwierig es für manche Arbeitnehmer
ist, einen Betriebsrat zu gründen? Bei der Firma Rocvin
können Sie aus allernächster Nähe beobachten, was für
Schwierigkeiten man dort bei dem Versuch hat, einen Be-
triebsrat zu gründen.
Sie können sich bei der Firma Käfer hier im Hause er-
kundigen. Da sind Mitarbeiter entlassen worden, weil sie
einen Betriebsrat gründen wollten.
Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen, wie schwierig
so etwas ist und dass man den Arbeitnehmern ein bisschen
entgegenkommen muss.
Sind Sie bereit, auch diesen Aspekt zu akzeptieren?
Herr Kollege Dreßen,
zunächst einmal: Ich habe das nicht beklagt, sondern ganz
nüchtern festgestellt.
Zweitens. Nach meinen Informationen wird bei der
Firma Rocvin heute ein Betriebsrat gewählt.
Das hat mir zumindest der Fahrer heute Morgen erzählt.
Drittens. Der Grund, warum es in kleinen und mittle-
ren Unternehmen unterdurchschnittlich häufig Betriebs-
räte gibt, ist ganz einfach auch Frau Dückert sollte
das zur Kenntnis nehmen : In kleineren Betrieben mit 20,
50 oder 100 Beschäftigten bleiben Sie ruhig stehen; ich
beantworte Ihre Frage gibt es eine informelle Mitbe-
stimmung.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Thea Dückert
15942
Dort arbeiten Unternehmer und Belegschaften übrigens
ohne ein Gewerkschaftsbüro direkt neben der Betriebs-
kantine; aber Sie haben Schwierigkeiten, sich so etwas
überhaupt vorzustellen im Sinne des § 2 Betriebsver-
fassungsgesetz vertrauensvoll zusammen, ohne dass die-
ses Gesetz Anwendung findet.
Nein, Sie können sich sicher sein, dass ich das alles im
Kopf habe.
In kleinen und mittleren Unternehmen gibt es tagtäg-
lich einen Zugang zum Unternehmer, weil in Betrieben
solcher Größe der Unternehmer in der Regel noch selbst
mitarbeitet. Herr Dreßen, dort lässt sich eine direkte
Kommunikation überhaupt nicht vermeiden. Das sollten
Sie einmal zur Kenntnis nehmen.
Die Unternehmen, von denen ich eben gesprochen
habe, mit 5, 20 oder bis zu 100 Beschäftigten, sind übri-
gens diejenigen Unternehmen, die anders als die großen
Unternehmen, die Kanzlerunternehmen ihre Mitar-
beiter nicht gleich entlassen, wenn die Anzahl der Auf-
tragseingänge einmal rückläufig ist. In diesen Unterneh-
men rückt man zusammen, um schwierige Phasen
gemeinsam durchzustehen.
Das Ganze funktioniert aber das stört Sie natürlich
auch ohne einen Betriebsrat.
Sie glauben nun, diese Unternehmen das ist die
Stoßrichtung Ihres Gesetzentwurfs sozusagen als Ge-
genleistung für die Wahlkampfhilfe des DGB in Höhe von
8 Millionen DM einer formalen Mitbestimmung zuführen
zu müssen.
Ihre Empörung zeigt nur, dass meine Aussage voll ins
Schwarze trifft. Jetzt werden allerlei Argumente be-
müht, Herr Wiesehügel. Aber seien Sie doch ehrlich:
Letztlich geht es um mehr Mandate für den DGB und vor
allem um mehr Freistellungen, um die Mitgliederwerbung
intensivieren zu können. Der DGB-Vorsitzende, Dieter
Schulte, hat das übrigens auch in einem Interview mit der
Süddeutschen Zeitung am 20. Dezember 2000 ganz of-
fen gesagt ich zitiere :
Und klar, ... verbessert eine Reform natürlich unsere
Chancen, Mitglieder zu werben. Dieses Motiv spielt
für uns bei der Reform eine Rolle. Ich finde das auch
legitim.
Ich muss Ihnen sagen: Ich habe für diese Vetterleswirt-
schaft kein Verständnis.
Auch wir kennen natürlich die vom DGB erstellte Unter-
suchung, wonach mehr als 95 Prozent der neuen Mitglie-
der durch Ansprache von Betriebsräten gewonnen wer-
den.
Ich kann verstehen, dass der DGB nicht nur wegen der
rückläufigen Zahl von Betriebsräten an sich besorgt ist.
Der DGB ist auch deshalb in heller Aufregung, weil dort,
wo bei den letzten Betriebsratswahlen Betriebsräte gebil-
det wurden, die Nicht-DGB-Gewerkschaften und unab-
hängige Kandidaten erheblich an Boden gut gemacht ha-
ben.
Schauen Sie sich die Statistiken an! Sie sprechen eine
eindeutige Sprache.
Aber das ist kein Grund, Herr Thönnes, mit Wahl-
rechtsänderungen innerhalb der Betriebsverfassung den
Weg für einen Durchmarsch des DGB frei zu machen.
Es ist geradezu paradox, wenn Frau Engelen-Kefer und
heute auch der Bundesarbeitsminister Riester mit der Be-
hauptung, es gebe ein Demokratiedefizit in den Betrieben,
auf eine Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes drän-
gen und dann außer bei der Betriebsratswahl selbst, wo
es beim Verhältniswahlrecht bleibt ein Mehrheitswahl-
recht eingeführt werden soll, das wir sonst nirgendwo in
Deutschland kennen.
Kein Mensch käme auf die Idee, die Ausschüsse des Deut-
schen Bundestages nach dem Prinzip des Mehrheitswahl-
rechts zu besetzen.
Ich finde es sehr skandalös, Frau Dückert, dass sich die
Grünen nicht zu schade sind, an dieser Verschlechterung
von Minderheitsrechten mitzuwirken.
Der Mitgliederschwund des DGB ist auch kein Grund,
den Mittelstand, den Kernbereich unserer Wirtschaft, der
sich in den letzten Jahren als Beschäftigungsmotor erwie-
sen hat, mit einer sogar noch verschärften Mitbestimmung
zu überziehen. Ihr Gesetzentwurf ist nicht nur ein An-
schlag auf die unternehmerische Freiheit; er wird auch
den Interessen der Arbeitnehmer im Mittelstand nicht
gerecht.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Heinrich L. Kolb
15943
Herr Baron, wenn ich mir Ihren Gesetzentwurf intensiv
ansehe, dann finde ich immerhin einen vernünftigen Vor-
schlag: Gemäss § 86 a des neuen Betriebsverfassungsge-
setzes können die Arbeitnehmer dem Betriebsrat Themen
vorgeben, mit denen dieser sich dann zu befassen hat. Das
war es dann aber auch schon.
Wir setzen gegen Ihre Vorstellungen einen eigenen
Entwurf einer modernen und an den Möglichkeiten des
Mittelstandes orientierten Mitbestimmung,
einer Mitbestimmung, die den Megatrends unserer Zeit
das sind Individualisierung, Flexibilisierung, Entbüro-
kratisierung und Betriebsautonomie; Herr Andres, ein
Richter am Bundesarbeitsgericht hat Ihnen das in einer
eindrucksvollen Rede mit auf den Weg gegeben gerecht
wird. Dieser Entwurf spart Kosten und strafft die Verfah-
ren.
Wir glauben auch nach dem, was ich eingangs gesagt
habe , dass es sinnvoll und vertretbar ist, den Eingangs-
schwellenwert anzuheben und Unternehmen bis 20 Be-
schäftigte von der formalen Mitbestimmung freizustellen,
weil es dort eine gut funktionierende informelle Mitbe-
stimmung gibt.
Frau Lotz, ich sehe, dass Sie den Kopf schütteln. Deshalb
will ich Ihnen sagen: Damit verfügt Deutschland zusam-
men mit Griechenland noch immer über den niedrigsten
Eingangsschwellenwert in der EU.
Sie wollen die Gremien weiter aufblähen. Wir glauben,
dass eine Verschlankung erforderlich ist. Es kann doch
nicht angehen, dass in einem Betrieb mit 21 Arbeitneh-
mern der Betriebsrat drei Mitglieder hat, was 15 Prozent
der Belegschaft entspricht; aber in einem Konzern mit
200 000 Beschäftigten gerade einmal 0,08 Prozent der Be-
legschaft im Betriebsrat sind.
Für die kleinen Unternehmen ist dies ein wichtiger
Punkt. Wenn die Vorschläge umgesetzt werden würden,
die wir heute einem Handzettel der IG BAU entnehmen
konnten, nämlich schon ab drei Mitarbeiter einen Be-
triebsrat zu bilden, dann ist künftig jeder Arbeitnehmer in
einem Betriebsrat. Das kann es doch wohl nicht sein.
Nach dem Gesetzentwurf von Rot-Grün würde sich gar
die Zahl der Betriebsratsmitglieder in Betrieben zwischen
101 und 150 Mitarbeitern um 40 Prozent erhöhen. Ab
201 Mitarbeitern gibt es nach Ihren Vorstellungen künftig
schon die erste Freistellung. Ihnen scheint nicht klar zu
sein, was das bedeutet. Damit verschärfen Sie die ohnehin
schon zu beobachtende Schwellenwertproblematik noch
einmal. Die Konsequenz ist, dass Beschäftigung im Be-
reich des Mittelstandes vernichtet wird,
weil die Unternehmen natürlich versuchen werden das
ist doch nachvollziehbar , unter Ausnutzung von Fluk-
tuationen wieder unter diese Schwellenwerte zu kommen.
So wird Mitbestimmung nach rot-grünem Muster zum
Jobkiller.
Haben Sie sich einmal gefragt, wie Teilzeitarbeit ge-
fördert werden soll, wenn Teilzeitkräfte pro Kopf und
nicht, wie zum Beispiel im Kündigungsschutzgesetz vor-
gesehen, anteilig nach ihrer Arbeitszeit berücksichtigt
werden? Wir schlagen deswegen eine Regelung nach § 23
des Kündigungsschutzgesetzes vor. Das wäre sachge-
recht.
Sie wollen eine Funktionärsmitbestimmung. Wir wol-
len eine Mitarbeitermitbestimmung.
Deswegen sieht unser Antrag vor, dass die Mitarbeiter in
den Betrieben mehr Rechte erhalten als bisher. Wir wol-
len, dass betriebliche Vereinbarungen das Gesetz und
auch den Tarifvertrag überschreiten können, und zwar all-
gemein, aber insbesondere natürlich in den Fragen des
§ 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes. Warum sol-
len diejenigen, die die Möglichkeiten vor Ort am besten
kennen, nicht über Löhne und Arbeitszeiten verhandeln
können? Das ist doch paradox!
Man könnte hier noch viel sagen, aber die Redezeit ist
zu kurz.
Bezeichnend ist aber, Herr Thönnes, dass Sie das, was Sie
der privaten Wirtschaft zumuten, für den öffentlichen
Dienst als zu teuer erachten.
Das hat mittlerweile auch der einflusslose Bundeswirt-
schaftsminister Werner Müller erkannt.
Er wird im Nachrichtenmagazin Der Spiegel vom
26. März 2001 wie folgt zitiert: Wenn ich nur die Aus-
dehnung der Mitbestimmungsreform auf den öffentlichen
Dienst gefordert hätte, dann wäre Bundesinnenminister
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Heinrich L. Kolb
15944
Otto Schily sofort dagegen gewesen und ich hätte einen
Verbündeten gegen Riester gehabt.
Leider hatte Herr Müller, dieser Placebo-Wirtschafts-
minister,
keinen Verbündeten. Ebenso haben die deutsche Wirt-
schaft und insbesondere der deutsche Mittelstand in
diesem Minister, ja in der gesamten Regierung keinen
Verbündeten. Wahlkampfhilfe ist Wahlkampfhilfe und
Versprechen ist Versprechen basta. Das ist Ihr Motto.
Wir Liberale werden in den Ausschüssen weiter für
eine moderne Form der Mitbestimmung kämpfen, im In-
teresse der im Mittelstand arbeitenden Menschen und im
Interesse der Beschäftigung in unserem Land.
Vielen Dank.
Ich erteile Kollegin
Heidi Knake-Werner, PDS-Fraktion, das Wort.
Machen Sie sich mal
keine Sorgen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kolb, Vetternwirtschaft ist Ihnen ja so
ganz fremd, nicht?
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, woran es liegt, dass es
in diesem Land so wenige und immer weniger Betriebs-
räte gibt. Zu Beginn dieses Jahres wurden hier in Berlin
81 Kfz-Mechaniker fristlos entlassen, weil sie eine Be-
triebsratswahl vorbereitet hatten. Das Hauptargument
des Geschäftsführers des Unternehmens Tip-Auto mit
400 Beschäftigten war: Betriebsräte kosten zu viel.
Obwohl diese offene Behinderung einer Betriebsrats-
wahl bereits nach heutigem Gesetz strafbar ist, wissen wir
alle hier im Hause, dass es sich dabei natürlich um keinen
Einzelfall handelt. Das wissen auch Sie. Sie wissen eben-
falls, dass die Strategien der Unternehmer, Betriebsrats-
wahlen zu verhindern, immer dreister werden und dass
vor allen Dingen die Angst vor Entlassungen ein ent-
scheidender Grund dafür ist, dass die Zahl der betriebs-
ratslosen Unternehmen in den letzten Jahren dramatisch
zugenommen hat.
Es gibt sehr viele gute Gründe, warum wir heute das
alte Betriebsverfassungsgesetz novellieren und an die
Wirklichkeit anpassen müssen. Aber der wichtigste Grund
scheint mir zu sein, dass wir es nicht länger dulden kön-
nen, dass ein demokratisches Grundrecht hierzulande
zum Spielball von Willkür und Erpressung wird.
Deshalb frage ich Sie: Was hindert die Union und die
F.D.P., einem Gesetz zuzustimmen, das die Wahrneh-
mung demokratischer Rechte im Betrieb erleichtert?
Warum, frage ich Sie, beteiligen Sie sich an dieser unsäg-
lichen Unternehmerkampagne, die seit Wochen ein wah-
res Trommelfeuer gegen die angeblichen Kosten des ge-
planten Reformgesetzes abschießt?
Das Kostenargument in Bezug auf die Unternehmen
ist besonders abenteuerlich. Sie sagen, dass durch mehr
Betriebsräte höhere Kosten entstehen. Aber wo leben wir
denn? Was ist denn Sinn und Zweck dieser Novellierung
des Betriebsverfassungsgesetzes? Es geht doch wohl da-
rum, dass die Lücken endlich geschlossen werden und
wieder mehr Beschäftigte Interessenvertretungen in ihren
Betrieben haben.
Wo kommen wir denn hin, wenn künftig der Gesetzgeber
darauf verzichtet, solche Gesetze zu verabschieden, die
angeblich aus Kostengründen nicht eingehalten werden
können? Das klingt ja wie ein Witz in Tüten.
Liebe Kollegen von der F.D.P., ich glaube,
Sie haben sowohl ein gestörtes Verhältnis zur betrieb-
lichen Mitbestimmung
wie auch eine klammheimliche Sympathie für demokra-
tiefreie Zonen in der Betriebslandschaft.
Außerdem haben Sie ein gestörtes Verhältnis zu den Ge-
werkschaften. Das haben Sie ja sehr deutlich gemacht. Sie
wittern einmal mehr die Chance, deren Einfluss in den Be-
trieben zurückzudrängen. Dem muss man einen Riegel
vorschieben.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie-
rungskoalition, das ist genau der Grund, warum die PDS
nicht besonders begeistert von Ihrem äußerst zurückhal-
tenden Reformgesetz ist.
Bleiben wir einmal beim Problem der Betriebsrats-
wahlen. Natürlich ist die von Ihnen beabsichtigte Verein-
fachung des Wahlverfahrens richtig. Dies stellt eine längst
überfällige Entbürokratisierung dar. Ich frage Sie den-
noch: Warum haben Sie nicht den Mut, die Verpflichtung
zur Wahl von Betriebsräten gesetzlich zu normieren, wie
es bei ausnahmslos allen anderen demokratischen Wahlen
hierzulande üblich ist?
Wie Sie wissen, haben wir zu diesem Punkt in unserem
Antrag einen Vorschlag gemacht. Man muss ihn zwar
nicht gut finden, es besteht aber immerhin die Chance,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Heinrich L. Kolb
15945
eigene Ideen zu entwickeln. Ich erinnere Sie an den
berühmten Ausdruck von Willy Brandt: Mehr Demokra-
tie wagen kann doch nicht heißen, dass es nach wie vor
vom Wagemut der Beschäftigten abhängt, ob ein Be-
triebsrat gewählt wird oder nicht. Hier verlangen die Be-
schäftigten vom Gesetzgeber zu Recht mehr Schutz und
Sicherheit.
Nach unserem Dafürhalten geht es nicht wirklich um
mehr Mitbestimmung. In erster Linie geht es uns darum,
die nötige Modernisierung durch Anpassung der be-
trieblichen Mitbestimmung an die tief greifenden Um-
brüche in der Arbeitswelt und an neue Realitäten in den
Betrieben nachzuholen. Gerade um diese neuen Mitbe-
stimmungsnotwendigkeiten macht Ihre Reform des Be-
triebsverfassungsgesetzes einen großen Bogen. In allen
Regelungen, die Sie vorsehen, bleiben Sie leider immer
noch auf dem Stand der 70er-Jahre. Diese aber bleiben an-
gesichts der heutigen Arbeitswelt einfach wirkungslos.
Das bezieht sich zum Beispiel auf die veränderte Arbeits-
organisation, aber auch auf neue Beschäftigungsformen.
Sie wissen, dass die Strategien der Unternehmen zum
Unterlaufen sozialer und demokratischer Rechte immer
vielfältiger werden. Ich komme auf das eingangs ge-
nannte Beispiel zurück: In diesem Betrieb mit zahlreichen
Reparaturwerkstätten plant der Chef nach der Entlassung
von 81 Beschäftigten, die 139 verbliebenen Beschäftigten
zu leitenden Angestellten zu machen, um auf diese Weise
nun die Gründung eines Betriebsrates zu verhindern, so-
fern sich überhaupt noch jemand traut. Ich empfinde dies
als dreist und fürchte, dass auch der neue, von Ihnen vor-
gelegte Gesetzentwurf solchen und ähnlichen Machen-
schaften kaum etwas entgegensetzen wird.
Das liegt unter anderem daran, dass Sie in Ihrem Ge-
setzentwurf auf die notwendige Präzisierung des Arbeit-
nehmerbegriffes verzichten. Ich denke, dass es richtig
ist, die Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten
aufzuheben. Das unterstützen wir. Ich frage Sie aber:
Warum entwickeln Sie keinen Arbeitnehmerbegriff, der
dazu beiträgt, dass alle Beschäftigten wieder unter den
Schutzschild des Betriebsrates geholt werden? Es wäre
notwendig, bei der Novellierung dafür zu sorgen.
Das Gleiche gilt für den Betriebsbegriff. Auch hier wird
es nach Ihrer Novelle weiterhin die Möglichkeit zu Be-
triebsaufspaltungen, Outsourcing und anderen Maßnah-
men geben, die die Wahl von Betriebsräten verhindern
können.
Ich sage: Ihre Reform löst diese Probleme leider nicht.
Die Liste der nicht eingelösten Versprechen, die Sie ein-
mal gemacht haben, ließe sich fortsetzen. Ich nenne noch
ein Stichwort, den Umweltschutz.
Ich sage auch, dass ich es sehr bedauerlich finde, dass
Sie sich nicht dazu durchringen können, endlich den Ten-
denzschutzparagraphen einzuschränken oder ihn gar zu
beseitigen. Das sage ich deshalb, weil es hier nicht nur um
Medienvertreterinnen und Medienvertreter geht. Das ist
schon schlimm genug. Aber inzwischen betrifft das Milli-
onen von Beschäftigten, die zum Beispiel bei kirchlichen
Trägern arbeiten und die auf diese Weise auch auf den
letzten Rest eines Betriebsratsschutzes verzichten müs-
sen. Das finde ich angesichts einer solchen Reform völlig
unangemessen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
machen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Sie haben bei
Ihrem gesamten zögerlichen Verhalten ein bisschen Glück,
weil Sie die Unternehmer auf Ihrer Seite haben. Ohne den
gewaltigen Theaterdonner der Unternehmerseite würde es
Ihnen, glaube ich, ziemlich schwer fallen, in der Öffent-
lichkeit den Eindruck einer Reform zu erwecken.
Aber Sie haben ja noch alle Chancen. Wir beraten ja
noch. Ich hoffe, dass wir dabei einen Schritt weiter kom-
men und dann gemeinsam von einer wirklichen Reform
des Betriebsverfassungsgesetzes sprechen können.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Olaf Scholz, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Wir diskutieren hier über ein sehr
wichtiges Gesetz. Denn in Deutschland gehören Demo-
kratie, freie Marktwirtschaft und Betriebsverfassung zu-
sammen.
Das erste Betriebsrätegesetz stammt aus dem Jahre 1920,
gleich nachdem das erste Mal in Deutschland eine Demo-
kratie etabliert worden ist, und es ist 1934 von den Natio-
nalsozialisten abgeschafft worden. 1946 ist durch das
Kontrollratsgesetz Nr. 22 die Betriebsverfassung mit ei-
nem Betriebsrätegesetz wieder eingeführt worden. 1952
hat der Deutsche Bundestag die Betriebsverfassung in den
Rang erhoben, den wir heute kennen. 1972 hat die sozial-
liberale Koalition die Betriebsverfassung erneut refor-
miert. Es gibt in Deutschland keine relevanten Zeiten von
Demokratie, in denen es keine Betriebsräte gegeben hätte.
Dieser Zusammenhang muss hier betont werden.
Es ist deshalb sehr bedauerlich, dass vor allem aus der
F.D.P. heraus, mit der wir immerhin einmal in einer sozi-
alliberalen Koalition eine Betriebsverfassung beschlossen
haben,
Diskussionen zur Betriebsverfassung geführt werden, die
letztlich darauf hinauslaufen, dass die Betriebsverfassung
abgeschafft wird. Denn dies ist es, was Sie vorschlagen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Heidi Knake-Werner
15946
Wenn Sie die Möglichkeit schaffen wollen, dass man auf
Betriebsräte verzichten kann, dann wollen Sie letztend-
lich nur einen Weg finden, wie man diese endlich loswer-
den kann.
In dieser Frage müssen Sie sich noch weiterentwickeln.
Wir legen eine sehr kluge und eine sehr konstruktive
Reform vor. Dass das so ist, hat man an dem Beitrag des
Kollegen Weiß gemerkt, für den ich mich ausdrücklich
bedanken möchte. Wenn man nicht auf die drei Zwi-
schentöne hören würde, dann wüsste man gar nicht,
warum er dem Gesetz nicht zustimmen will.
Auch er hat betont, dass es sich um ein konstruktives Ge-
setz handelt, er hat Themen benannt, die mit dieser Re-
form bearbeitet werden. Das macht letztendlich deutlich,
dass man gegen den Reformentwurf, den wir vorgelegt
haben, eigentlich, wenn man die Betriebsverfassung für
wichtig hält, nichts haben kann von Detaildiskussionen
einmal abgesehen.
Ich will deshalb zu dem Punkt etwas ausführen, der in
der Diskussion eine wichtige Rolle spielt, nämlich zu der
Frage der Entbürokratisierung und Flexibilisierung.
Beides wird mit dieser Betriebsverfassung gewährleistet.
Jeder, der diese wichtige Forderung immer im Munde
führt, müsste jetzt Hurra schreien, nachdem die Bundes-
regierung den Gesetzentwurf vorgelegt hat. Wir haben
viele Möglichkeiten geschaffen, wie man den veränderten
Betriebswirklichkeiten Rechnung tragen kann und Be-
triebsräte auch in Konzernen, in outgesourcten Bereichen
oder sonstigen Unternehmensstrukturen bilden kann. Wir
haben sogar Formen vorgesehen, die auch gut für Internet-
unternehmen sind, bei denen wir nicht mehr wissen, wo
sich der Betrieb eigentlich befindet, auf irgendeinem Ser-
ver oder sonst wo. Auch da sind jetzt Regelungen mög-
lich.
Aber Ihre Kritik an der Betriebsverfassung wenn Sie
sagen, das sei gar nicht so zielt auf etwas ganz anderes
ab. Wenn Sie von Entbürokratisierung sprechen, dann ha-
ben Sie nicht im Sinn, dass es einfacher gehen soll, viel-
mehr wollen Sie, dass es eine Betriebsverfassung nicht
geben soll.
Und wenn Sie Flexibilisierung sagen, dann meinen Sie die
Beseitigung von demokratischen Rechten für Betriebs-
räte.
Kollege Scholz, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Ja.
Herr Kollege Scholz,
Sie werden doch nicht abstreiten wollen, dass es schon
heute zu lange Mitbestimmungsverfahren gibt und dass es
insbesondere zu sachwidrigen Kopplungen in diesem Be-
reich kommt. Ich zitiere und ich bitte dazu um Ihre Stel-
lungnahme; meine Frage lautet, wie Sie das bewerten
aus einer Broschüre des DGB-Bundesvorstandes Be-
triebsverfassungsgesetz Forderungen aus der Praxis.
Darin heißt es:
Um sich auch in Fragen durchzusetzen, bei denen sie
nicht mitbestimmen können, haben clevere Betriebs-
räte folgende Technik entwickelt: Wenn sie mit dem
Arbeitgeber in einer nicht mitbestimmungspflichti-
gen und in einer mitbestimmungspflichtigen Sache
verhandeln, machen sie ihre Zustimmung zu dieser
von einer Einigung in jener Angelegenheit abhängig.
Dann heißt es weiter:
Immer mal wieder verweigert die Personalvertretung
die Zustimmung zu Mehrarbeit oder zu personellen
Einzelmaßnahmen und kauft sich auf diese Weise ein
Initiativrecht ein, wo sie eigentlich gar keines hat.
Meine Frage: Sehen Sie vor dem Hintergrund dieser
Veröffentlichung des DGB-Bundesvorstandes einen
Handlungsbedarf oder nicht?
Ich sehe vor dem Hintergrund der
Veröffentlichung des DGB-Bundesvorstandes überhaupt
keinen Handlungsbedarf.
Ich möchte Ihnen auch sagen, warum: Sie verkaufen sich
ja gern als die Partei der Kaufleute. Insofern müssten Sie
wissen, dass es auf der Welt überhaupt nichts gibt, bei dem
nicht das eine mit dem anderen in Verbindung gebracht
wird.
Das ist etwas, womit Sie sich eigentlich auskennen soll-
ten, und das macht die Betriebsverfassung hier auch mög-
lich. Insofern ist das gar kein Problem.
Aber ich will, weil Sie das angesprochen haben, noch
etwas zur Frage der Flexibilität und zur Dauer solcher
Verfahren sagen. Wenn wir uns die gegenwärtige Be-
triebsverfassung genau ansehen, dann stellen wir fest,
dass es sehr schwierig ist, einen Betriebsrat zu wählen.
Das wird jetzt einfacher gemacht, indem wir ein einfaches
Wahlverfahren für Betriebe mit bis zu 50 Beschäftigten
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Olaf Scholz
15947
haben. Das ist Entbürokratisierung und darüber sollten
Sie sich freuen.
Ich will noch etwas zu der Entbürokratisierung sagen,
die mit dem vereinfachten Wahlverfahren in kleinen Be-
trieben zusammenhängt. Das ist ja der Punkt, über den
sich die meisten aufgeregt haben. In Wahrheit zeigt das,
worum es geht, wenn man bestimmte Worte verwendet,
aber eigentlich etwas ganz anderes meint. Denn wenn es
einfacher ist, einen Betriebsrat zu wählen, dann gibt es
natürlich auch mehr Betriebsräte. Das ist die geset-
zeskonforme Idee dieses Entwurfs, die Idee, die wir ha-
ben, wenn man für Betriebsräte ist. Die Aufregung, die
aufgekommen ist, kommt nur deshalb zustande, weil man
meint: Ja, tatsächlich wird es mehr Betriebsräte geben,
weil es einfacher ist, sie zu wählen. Deshalb sind Sie
plötzlich für bürokratische Hürden, die es schwer ma-
chen, einen Betriebsrat zu wählen. Das ist der Fehler in Ih-
rer Diskussion.
Sie plädieren also für Bürokratie, damit man Betriebsräte
nicht zustande kommen lässt, und das ist etwas, was wir
nicht wollen.
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung: Das Wahlver-
fahren für Betriebsräte ist heute so schwer und enthält so
viele Anforderungen, dass es komplizierter ist als eine
Bundestags- oder eine Landtagswahl. Herr Koch wäre,
wenn er Betriebsratsvorsitzender wäre, schon längst von
einem Gericht wegen Nichtigkeit der Wahlen abgesetzt
worden. So ist das!
Ich möchte bei dieser Gelegenheit über ein schein-
demokratisches Argument sprechen, das angeführt wor-
den ist und das leider auch Herr Weiß in seinem ansonsten
sehr konstruktiven Beitrag aufgegriffen hat, nämlich die
Forderung, dass man in den Betrieben hinsichtlich der
Frage, ob man einen Betriebsrat bilden soll, ein Quorum
benötigt. Das ist nur scheinbar eine demokratische Forde-
rung und das ist auch nichts besonders Schönes. Denn wer
sich wirklich einmal mit der Situation in den Betrieben
auseinander gesetzt hat, der weiß, dass es Betriebsinhaber
gibt nicht die Mehrheit übrigens; die sind nicht so, wie
die F.D.P. sie sich schnitzt , die sich für enteignet halten,
wenn in ihrem Unternehmen ein Betriebsrat gebildet
wird, und die mit allen Möglichkeiten versuchen, das zu
verhindern, auch mit Entlassungen, mit fristlosen Entlas-
sungen, mit Druck und all diesen Dingen. Wenn wir eine
Abstimmung über die Frage zuließen, ob ein Betriebsrat
gebildet werden soll, dann würden wir es möglich ma-
chen, dass schreckliche Szenen unsere Betriebe und den
Betriebsfrieden in unseren Betrieben zerstören. Das wol-
len wir verhindern.
Deshalb sage ich: Es gibt in Deutschland keinen Be-
triebsrat, der zustande gekommen ist, ohne dass ihn die
Mehrheit der Beschäftigten auch haben will. Das, was hier
gefordert wird, liefe auf eine Zerstörung des Betriebsfrie-
dens hinaus. Das kann niemand wollen, der unsere Be-
triebsverfassung mit ihrer langen Tradition schätzt.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, den ich für
die wichtigste inhaltliche Verbesserung im Rahmen der
Betriebsverfassungsreform halte: Die Bundesrepublik
Deutschland lebt davon, dass bei uns gut ausgebildete
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer existieren. Sie lebt
davon, dass diese qualifiziert an den Tätigkeiten in den
Betrieben teilnehmen. Sie hat davon gelebt, dass die deut-
schen Unternehmen viel investiert haben, um Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern das Mithalten bei der wirt-
schaftlichen Entwicklung zu ermöglichen. Qualifikation
hat am Wirtschaftsstandort Deutschland immer eine große
Rolle gespielt.
Aber wenn wir uns jetzt umschauen, dann stellen wir
fest, dass diese Tugend ein bisschen rückläufig ist, dass
sich die Unternehmen für diese zentrale Aufgabe weniger
verantwortlich fühlen, die für die Sicherung der Be-
schäftigung in unserem Lande von Bedeutung ist. Weil
das so ist, ist es eine ganz bedeutende Innovation, dass die
Betriebsräte in die betriebliche Berufsbildung mit einge-
bunden werden, dass sie die Möglichkeit haben, initiativ
zu werden, damit Beschäftigte weiterqualifiziert werden.
Denn es ist doch eine gute Situation: Neue Techniken
werden eingeführt; dafür sind die Betriebsräte in unserem
Land immer eingetreten. Modernste technische Anlagen
werden angeschafft; dafür sind die Betriebsräte immer
eingetreten. Zu ermöglichen, dass die Beschäftigten mit
den Anforderungen, die mit dieser technischen Entwick-
lung einhergehen, mithalten können, ist für den Produkti-
onsstandort, den Bildungsstandort und den Wirtschafts-
standort Bundesrepublik Deutschland wichtig. Wir haben
das möglich gemacht.
Die Betriebsverfassungsreform ist modern. Sie führt
dazu, dass die lange Tradition der Einheit von Demokra-
tie, Marktwirtschaft und Betriebsverfassung in unserem
Lande aufrechterhalten werden kann. Wir sollten uns
gemeinsam über diesen wichtigen Reformschritt freuen
und dafür sorgen, dass er in den nächsten Jahren in unse-
rem Lande Wirklichkeit wird.
Schönen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Gunnar Uldall, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Gunnar Uldall (von Abgeordneten der
CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Minister Riester, die Regierung
Schröder ist seinerzeit mit dem hoch gesteckten Ziel an-
getreten, die deutsche Wirtschaft zu modernisieren.
Das neue Betriebsverfassungsgesetz ist kein Beitrag zur
Modernisierung der deutschen Wirtschaft, sondern ein
Gesetz, das rückwärts gewandt ist und der Befriedigung
von Gewerkschaftsfunktionären dient.
Was unsere Wirtschaft braucht, sind schnellere und de-
zentrale Entscheidungswege.
Diesem Ziel wird Ihr Vorschlag, Herr Minister, in keiner
Weise gerecht. Diesem Ziel aber entspricht der Antrag,
der von unserer Fraktion heute hier eingebracht wird.
Herr Kollege Scholz, Sie haben völlig Recht, wenn Sie
sagen, dass das Betriebsverfassungsgesetz viele Jahr-
zehnte alt ist. Als dieses Gesetz geschaffen wurde, gab es
noch nationale Märkte. Die Märkte waren durch Grenzen,
durch Zölle und durch hohe Transportkosten gesichert.
Heute gibt es einen international fast unbeschränkten
Wettbewerb. Die wichtigsten Betriebe waren damals die
Großbetriebe der Stahl- und Kohlebranche. Heute ist es
die hohe Zahl an kleinen Unternehmen der Informations-
technologie. In den Unternehmen herrschte damals die
Fließbandorganisation vor, wobei eine Vielzahl von Ar-
beitnehmern immer wieder den gleichen Handgriff mach-
ten. Heute gibt es computergesteuerte Arbeitsabläufe. Ein
Telefonat in die USA war nur über die Vermittlung, über
ein Amt, wie es damals hieß, möglich. Heute kann jeder
für ein paar Pfennig von seinem Handy aus in die USA te-
lefonieren und braucht dafür nicht mehr einen Wochen-
lohn zu spendieren, wie es damals der Arbeiter machen
musste.
Wer diese Entwicklung in der Welt außer Acht lässt,
der muss sich nicht wundern, wenn das neue Betriebsver-
fassungsgesetz völlig an der Wirklichkeit vorbeigeht.
Deswegen sage ich: Das neue Betriebsverfassungsgesetz
wird nicht einen einzigen neuen Arbeitsplatz bei uns in
Deutschland schaffen.
Es sind insbesondere fünf Punkte, weswegen wir den
Gesetzentwurf ablehnen.
Erstens. Wir wollen keine zusätzlichen Kosten für die
Mittelstandsbetriebe.
Ein Mittelständler mit zum Beispiel 200 Mitarbeitern
muss im Extremfall, wenn er einen hohen Anteil von Teil-
zeitkräften hat, einen großen Teil seines Gewinns für die
Freistellung eines neuen Betriebsratsmitglieds ausgeben.
Zweitens. Wir wollen keine Erweiterung der Mitbe-
stimmungsbürokratie, sondern wir wollen schlankere Ab-
läufe.
Drittens. Wir wollen keine Aufblähung der Betriebs-
ratszahlen. Durch ein oder zwei zusätzliche Angehörige
des Betriebsrats wird keinem einzelnen Arbeitnehmer im
Betrieb geholfen.
Viertens. Wir wollen keine Benachteiligung von Min-
derheiten in den Betrieben. Die unabhängigen Betriebs-
räte, deren Anzahl immer größer wird, und die Vertreter
kleinerer Gewerkschaften müssen die gleichen Chancen
bei den Wahlen haben wie die Vertreter der DGB-Ge-
werkschaften.
Fünftens. Wir wollen keine Politik in die Betriebe tra-
gen.
Die Entscheidung, ob ein Mitarbeiter als rechtsextrem
einzustufen ist oder nicht, darf nicht durch den Betriebs-
rat getroffen werden.
Die Vorschläge, die Sie dazu vorlegen, führen zu Schnüf-
felei und zu ständigen Streitereien, die den Betriebsfrie-
den stören werden.
Was unsere Volkswirtschaft jetzt braucht, ist eine mo-
derne Betriebsverfassung, die den neuen Entwicklun-
gen im Wirtschaftsleben gerecht wird. Eine moderne Be-
triebsverfassung muss deswegen die beiden genannten
Ziele erfüllen: Es muss schnellere Entscheidungswege
geben und es müssen dezentrale Entscheidungswege er-
möglicht werden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001 15949
Deswegen sehen wir in unserem Antrag vor, dass die Ver-
fahrensabläufe der betrieblichen Mitbestimmung durch
eine zeitliche Begrenzung zu beschleunigen sind. Das gilt
insbesondere für das Einigungsstellenverfahren. Wenn
zum Beispiel in Kündigungsfällen eine nicht ordnungs-
gemäße Anhörung des Betriebsrates geltend gemacht
wird, dann wollen wir, dass dies innerhalb einer Dreiwo-
chenfrist geschehen muss, um die Entscheidungsabläufe
zu beschleunigen. Dadurch werden unnötige Prozesse
vermieden und Rechtssicherheit für alle geschaffen.
Wir meinen, dass in den kleineren Betrieben mit bis zu
20 Mitarbeitern ein Betriebsrat nur dann eingerichtet wer-
den soll,
wenn die Mitarbeiter vorher für die Einrichtung eines Be-
triebsrates votiert haben. Warum soll ein Handwerker, der
jeden Tag bei Wind und Wetter mit seinem Meister auf der
Baustelle zusammen ist, wo sie permanent miteinander
sprechen, wo sie ihre Frühstückspause zusammen ma-
chen, in Zukunft überhaupt den Umweg über ein Be-
triebsratsmitglied gehen, wenn er bisher seine Sorgen und
Probleme direkt dem Unternehmer vorgetragen hat?
Wenn die Kleinbetriebe keinen Betriebsrat haben wollen,
dann sollten sie nicht durch Gesetz dazu gezwungen wer-
den.
Wir haben für die kleinen und mittelständischen Betriebe
ohnehin schon eine viel zu große Zahl von Vorschriften,
von steuerlichen Erlassen, von Regelungen, von Bürokra-
tie, dass wir jetzt nicht noch zusätzlich draufsatteln soll-
ten durch Mitbestimmungsbürokratie, die das Leben der
kleinen Unternehmer weiter erschwert.
Was wir für mittelständische Unternehmen brauchen, ist
ein freier Kopf des Unternehmers. Er soll sich um seine
Kunden kümmern. Er soll sich um seine Produkte küm-
mern. Er soll sich um seine Dienstleistung, die er anbie-
tet, kümmern. Um seine Mitarbeiter soll er sich kümmern.
Er soll aber nicht mit zusätzlichen Vorschriften übermäßig
belastet werden. Deswegen darf dieses Gesetz so nicht
Realität werden.
Es dürfen aber nicht nur die Entscheidungswege
schneller gestaltet werden, es müssen auch dezentrale
Entscheidungsmöglichkeiten gestärkt werden. Es gilt ja
die allgemeine Erkenntnis: Je dichter man am Ort des Ge-
schehens ist, umso besser kann man beurteilen, was für
den Betrieb und für die Arbeitnehmer richtig ist. Deswe-
gen wollen wir betriebliche Bündnisse für Arbeit ermögli-
chen. Es grenzt doch schon ans Komische, wenn sich, wie
zum Beispiel bei Philipp Holzmann, die Vertreter der Be-
legschaft und die Unternehmungsleitung einig sind, was
zur Verbesserung der Beschäftigungsaussichten gemacht
werden muss, ein solcher Einigungsprozess dann aber
durch die Tarifvertragsparteien verzögert oder sogar ge-
stoppt werden kann. Einen solchen Luxus können wir uns
in Deutschland auf Dauer nicht mehr erlauben.
Erinnert sei auch an den bekannten Fall eines Unter-
nehmens, das die Herstellung einer Produktlinie ins Aus-
land verlagern wollte. Auf Initiative des Betriebsrats hat-
ten sich Arbeitnehmer und Vorstand darauf geeinigt,
durch eine Verlängerung der Arbeitszeit die Produktion in
Deutschland zu ermöglichen. Gegen die Interessen der
Beschäftigten und gegen die Interessen der Arbeit-
suchenden wurde diese einvernehmliche Regelung ge-
stoppt. So etwas darf es angesichts von 4 Millionen Be-
schäftigungsuchende in Deutschland in Zukunft nicht
mehr geben. Deswegen brauchen wir betriebliche Ar-
beitsbündnisse.
Auf die mittelständischen Betriebe das ist, wie wir
vorhin von Ihnen, Herr Minister, gehört haben, die über-
wiegende Zahl der Betriebe in Deutschland kommen zu-
sätzliche Kosten dadurch zu, dass zusätzliche Mitarbeiter
für die Betriebsratsarbeit freigestellt werden müssen. In
einem Betrieb mit 200 Mitarbeitern muss in Zukunft ein
Mitarbeiter freigestellt werden. Dies bedeutet einen zu-
sätzlichen Aufwand von 100 000 DM für Löhne, Gehäl-
ter, Ausbildungskosten, Reisekosten und so weiter.
Dieser Betrag von 100 000 DM würde in einem Betrieb
mit 200 Mitarbeitern ausreichen, um jedem Mitarbeiter
zusätzlich 500 DM Weihnachtsgeld zu zahlen.
Gehen Sie einmal in die Betriebe und fragen Sie die Leute
dort, was sie lieber wollen: zusätzliche Mitbestimmungs-
bürokratie durch einen freigestellten Mitarbeiter oder lie-
ber ein zusätzliches Weihnachtsgeld.
Wichtig ist noch ein Blick ins Ausland. Dort, wo man
ein so ausgefeiltes Mitbestimmungsrecht wie in Deutsch-
land gar nicht kennt, schüttelt man nur den Kopf darüber,
dass dieses in Deutschland sogar noch weiter ausgebaut
werden soll. Das neue Betriebsverfassungsgesetz wird
keinen ausländischen Investor beflügeln, seine neue Be-
triebsstätte mit zusätzlichen Arbeitsplätzen bei uns in
Deutschland zu errichten.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Gunnar Uldall
15950
Insofern werden unsere Bemühungen um eine Verbesse-
rung der Standortbedingungen durch das, was die Regie-
rung hier vorschlägt, konterkariert.
Ein weiterer Punkt ist: Es ist dringend erforderlich,
dass die Teilzeitmitarbeiter auch nur mit ihrem tatsäch-
lichen Zeitanteil bei der Berechnung der Mitarbeiter-
zahlen berücksichtigt werden. Für den Unternehmer wird
die Einstellung von Teilzeitmitarbeitern weniger attraktiv,
weil er so die Schwellenwerte für die Freistellung von Be-
triebsräten schneller erreicht als bei der Einstellung von
Vollzeitkräften. Dies ist vor allem eine Benachteiligung
der Frauen, die eine Teilzeitbeschäftigung in verstärktem
Maße wünschen. Eine solche Regelung passt einfach
nicht mehr in unsere Zeit. Deswegen muss in diesem
Punkte das Betriebsverfassungsgesetz geändert werden,
so wie wir es in unserem Antrag vorgesehen haben.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Der Anspruch,
unsere Wirtschaft zu modernisieren, wird durch diesen
Gesetzentwurf der Regierung in keiner Weise erfüllt.
Der Regierungsentwurf zur Neuregelung des Betriebsver-
fassungsgesetzes ist ein rückwärts gewandtes Gesetz, das
nur die Funktionäre befriedigen wird. Unsere Vorschläge
für eine Neuregelung des Betriebsverfassungsgesetzes
sind ein großer Schritt nach vorn. Sie sind ein echter Bei-
trag zur Modernisierung unserer Volkswirtschaft.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Weiermann, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die Ausführungen meines Vorred-
ners erwecken den Eindruck, als fürchteten Sie die Be-
triebsräte wie der Teufel das Weihwasser.
Es hat keine Epoche gegeben, in der wir über die Ein-
führung eines Betriebsverfassungsgesetzes debattiert ha-
ben, und zwar bis zu den Anfängen, in der es nicht zu-
mindest einen Aufruf gab als Beispiel nenne ich den
Aufruf in der Paulskirche im Jahre 1848 , so etwas Ähn-
liches wie eine Betriebsvertretung aufzubauen mit dem
Wunsch, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
mit dem Betrieb identifizieren. Hierbei ging es noch nicht
einmal um Mitbestimmungsfragen. Aus der Geschichte
heraus kann man sich erinnern, dass es bereits zu dieser
Zeit erhebliche Einwände seitens der Unternehmen gab.
Das hat sich über die Zeit der Betriebsverfassung im Jahre
1952 und über das Jahr 1972 hinaus fortgeführt. Überall
gab es Kassandrarufe der Wirtschaft. Offensichtlich wa-
ren die Prognosen der Wirtschaft über den wirtschaftli-
chen Ruin, den sie prophezeit hatte, nicht eingetreten. Es
gab aber immer wieder die gleichen Äußerungen. Deswe-
gen ist das schon fast eine Art Tradition, allerdings keine
Tradition, auf die man sehr stolz sein kann.
Es wird immer wieder gesagt, die Mitbestimmung ge-
fährde den Wirtschaftsstandort. Die deutschen Unter-
nehmen seien nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Mitbe-
stimmung sei ein unnützer Kostenfaktor. Das Gegenteil
ist doch der Fall, meine Damen und Herren. Als Beispiel,
wie gut es ohne Mitbestimmungsregelungen geht, wurde
in letzter Zeit immer wieder die so genannte New Eco-
nomy angeführt. Sie stand nun wirklich nicht in dem Ver-
dacht, gewerkschaftlichen Ideen gegenüber aufgeschlos-
sen zu sein.
Aber anscheinend beginnt gerade sie umzudenken und
den Reiz betrieblicher Mitbestimmung zu entdecken.
Recht hat sie. Wir sollten sie darin unterstützen.
Hier gab es genau das, was Sie mehrfach angeschnit-
ten haben, nämlich den persönlichen Kontakt zwischen
der Betriebsführung und den Beschäftigten. Als es jedoch
wirtschaftlich nicht gut lief, haben alle sehr schnell er-
kannt, insbesondere die Beschäftigten, wie wichtig es ist,
in Deutschland betriebsratsgeschützt zu sein.
Ich will an dieser Stelle ganz deutlich sagen Sie ha-
ben sicherlich auch die Erhebungen lesen können , dass
die Unternehmen, die Betriebsratskörperschaften haben,
zu einem hohen Anteil, nämlich zu 70 Prozent, mit der ge-
meinsamen Arbeit, die in den Betrieben geleistet werden
kann, durchaus einverstanden und zufrieden ein Teil ist
sogar sehr zufrieden sind.
Immer wieder hört man von den Unternehmensver-
bänden, Mitbestimmungsregelungen seien ein Griff in die
klassenkämpferische Mottenkiste.
Hierbei muss man sich aber fragen, ob das Feldgeschrei
der Unternehmen und auch Ihr Feldgeschrei nicht genau
aus dieser Klamottenkiste kommen, meine Damen und
Herren.
Die Wirtschaftswoche, das Zentralorgan der deut-
schen Wirtschaftsliberalen, schreibt von einer Überregu-
lierung der Arbeitsmärkte und von der Verhinderung
neuer Arbeitsplätze. Auch darüber hat mein Vorredner
vorhin gesprochen. Die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts
so heißt es verlange nach flexibleren und dezentrale-
ren Systemen als nach der angeblich bürokratischen und
angeblich von Berufsfunktionären dominierten Betriebs-
verfassung, die schon den Anforderungen der Vergangen-
heit nicht gerecht wurde. So der Originalton. Sie schreibt
außerdem von einem Bremsklotz für Wachstum und Be-
schäftigung.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Gunnar Uldall
15951
Das ist doch unwahr und das wissen Sie auch, meine
Damen und Herren!
Dazu lässt sich dreierlei sagen: Erstens. Wenn das nicht
das verstaubte Vokabular von vorgestern ist, dann frage
ich Sie: Was ist es dann eigentlich?
Zweitens. Woher wissen die Autoren eigentlich, was
die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts verlangt?
Drittens haben sie völlig Recht, denn natürlich wird
das 1972 zuletzt novellierte Betriebsverfassungsgesetz
den Gegebenheiten des Wirtschaftslebens von heute nicht
mehr gerecht. Aber darum machen wir ja ein neues Ge-
setz. Dies ist der Grund für die Neugestaltung.
Wovor fürchtet sich die Wirtschaft an dieser Stelle ei-
gentlich so sehr? Hat sich nicht in nahezu 50 Jahren der
geldwerte Vorteil des Betriebsverfassungsgesetzes allein
schon darin gezeigt, dass in Deutschland durchgängig ein
hohes Maß an Betriebsfrieden herrscht, um das man die
deutschen Unternehmer weltweit beneidet? Die ausländi-
schen Unternehmen kommen auch und investieren in
Deutschland, weil es so ist, wie wir es beschrieben haben.
Sozialer Frieden das muss man dem Unternehmens-
lager offenbar immer wieder von neuem klarmachen ist
ein Standortvorteil und kein Kostenfaktor.
Beides zusammen ist nur um den Preis einer guten Mit-
bestimmung zu haben.
Für wie dumm hält man eigentlich die Arbeitnehmer?
Auch sie wissen, dass die Summe, die angeblich aufge-
bracht werden muss, um Betriebsratstätigkeiten zu finan-
zieren, nicht einmal ein halbes Prozent der entnommenen
Unternehmergewinne ausmacht. Noch wichtiger ist, dass
diese Summe nur dadurch zusammenkommt, dass bislang
in etwas mehr als 60 Prozent aller Betriebe, in denen es
möglich gewesen wäre, einen Betriebsrat zu schaffen, die
Belegschaften ausgehebelt worden sind und somit nicht
betriebsratsgeschützt waren. Dies ist auch ein Grund, um
deutlich zu machen, dass insbesondere die Belegschaften
in kleinen Unternehmen mit fünf, 50 oder 100 Mitarbeitern
endlich die Chance bekommen, einen Betriebsrat zu
wählen, der die Wünsche der Arbeitnehmer vertreten kann.
Wir wollen nicht im 21. Jahrhundert wieder den Ta-
gelöhner hoffähig machen.
Wir wollen selbstbewusste Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer, die den Standort Deutschland offensiv ver-
treten und die die Motivation haben, aus dem Betrieb das
wirtschaftlich Beste herauszuholen. Das lassen wir uns
auch nicht durch Ihre Kritik am heutigen Tage vermiesen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile der Kolle-
gin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Dagmar Wöhrl (von Abgeordneten der
CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube, wir sollten uns
wenigstens dahin gehend einig sein, dass wir zukunfts-
fähige Arbeitsplätze in Deutschland erhalten und neue
Arbeitsplätze schaffen wollen.
Dazu brauchen wir qualifizierte, selbstbewusste und
verantwortungsvolle Arbeitnehmer, gesunde und interna-
tional wettbewerbsfähige Betriebe
und auch gesetzliche Rahmenbedingungen, die einer Ent-
wicklung zu einer modernen globalen Wirtschaft Rech-
nung tragen.
Welche Antworten geben Sie? Welche Antworten ge-
ben Sie auf veränderte Rahmenbedingungen? Auf Fra-
gen von heute geben Sie Antworten von gestern.
Das ist alles, was Sie zustande bringen.
In unserer Gesellschaft gibt es Betriebe, deren Arbeits-
organisationen schnell und flexibel den Marktbedürfnis-
sen angepasst werden müssen. Und was machen Sie?
Sie machen genau das Gegenteil. Sie nehmen ihnen die
Möglichkeit, flexibel zu reagieren. Wo ist hier die zu-
kunftsgerichtete Reform? Hier ist weit und breit nichts da-
von zu sehen. Wo ist die Flexibilität? Wo sind die
Freiräume? Wo stellen Sie klar, dass es sich um mündige
Betriebsräte handelt?
Sie sorgen dafür, dass das Mitbestimmungsgefälle in
Europa noch stärker wird. Sie sorgen dafür, dass sich
zukünftig ausländische Unternehmen überlegen werden,
ob sie sich mit deutschen Firmen zusammenschließen.
Denn was bekommen sie als Mitgift?
Sie bekommen ein noch schärferes Mitbestimmungsge-
setz, als es jetzt schon existiert. Europa AG ade, kann man
in diesem Zusammenhang nur sagen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Wolfgang Weiermann
15952
Noch ein anderer Punkt. Ein ganz großes Problem sehe
ich auch in der Zukunft: Ihr neues Gesetz wird zu mehr
Konfrontation zwischen Unternehmensleitung und Mit-
arbeitern führen und belastet die bis jetzt vertrauensvolle
Zusammenarbeit. Ich glaube, dies ist nicht in unserem
Sinne hier in diesem Hause.
Ihr Gesetz sorgt für mehr gewerkschaftliche Fremdbe-
stimmung anstelle individueller Mitbestimmung.
Das ist das Hauptcharaktermerkmal Ihres Gesetzes: Be-
vormundung. Nicht nur die Unternehmen, sondern auch
die Mitarbeiter werden bevormundet.
Sie sollten nicht den Gewerkschaften, sondern den Be-
trieben und ihren Betriebsräten mehr Rechte geben, zum
Beispiel das Recht, betriebliche Bündnisse für Arbeit zur
Arbeitsplatzsicherung zu schließen.
Warum soll sich der Betriebsrat unter bestimmten Vo-
raussetzungen nicht mit der Lohnhöhe und dem Ar-
beitsentgelt befassen können, wenn dies im Interesse aller
Beteiligten des Betriebes ist?
Dies ließe sich durchaus regeln, ohne dass dabei das Ver-
fassungsprinzip der Tarifautonomie aufgegeben wird. Sie
sind es doch, die die Tarifautonomie kaputtmachen.
Sie sind es, die die Massenflucht der Unternehmer aus den
Arbeitgeberverbänden forcieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Betriebsver-
fassungsgesetz zeigt etwas, was sich wie ein roter Faden
durch Ihre ganze Politik zieht: Ihre ausgeprägte Mittel-
standsfeindlichkeit.
Eine volle Arbeitskraft bei 200 Mitarbeitern freizustellen
erhöht die Personalkosten um 0,5 Prozent. Die Erhöhung
der Zahl der Betriebsräte in Betrieben ab 101 Mitarbeitern
von jetzt fünf auf zukünftig sieben bedeutet eine Auf-
blähung um 40 Prozent. Es zeigt sich, dass gerade die mit-
telständischen Betriebe im Vergleich zu Großunterneh-
men überprozentual belastet werden. Wo ist denn Ihre so
genannte Mittelstandsfreundlichkeit? Ich kann sie in
diesem Gesetzentwurf auf keinen Fall entdecken.
Noch etwas anderes: Sie reden dauernd davon, Teilzeit-
arbeitsplätze schaffen zu wollen. Sie bestrafen aber mit
Ihrem Gesetzentwurf die Unternehmen, die den größten
Anteil an Teilzeitarbeitsplätzen haben: Gebäudereini-
gungsunternehmen und den Einzelhandel. Der Einzelhan-
del hat über 50 Prozent Teilzeitarbeitskräfte. Die Absen-
kung der Schwellenwerte wirkt sich hier extrem aus. Dies
ist ein Teilzeitabschreckungsgesetz.
Ich frage mich: Wo ist denn Ihre viel gelobte Vereinbar-
keit von Beruf und Familie, wenn Sie die Teilzeitkräfte als
Vollzeitkräfte rechnen? Nehmen Sie unseren Vorschlag
an, Teilzeitmitarbeiter künftig entsprechend ihrer Arbeits-
zeit auf die Schwellenwerte anteilig anzurechnen.
Wenn Ihnen Mehrkosten von 2,7 Milliarden DM im
Jahr vorgerechnet werden, dann zucken Sie einfach mit
den Schultern und erklären: Innerbetriebliche Demokratie
hat eben ihren Preis. Ich gebe Ihnen einen Rat: Fragen Sie
einmal die unabhängigen Betriebsräte und die christli-
chen Gewerkschaften, was sie von der Demokratie im
Zusammenhang mit Ihrem Gesetzentwurf halten. Die
Antwort wird sein: gar nichts. Diese werden nämlich
zukünftig von allen Schlüsselpositionen im Betriebsrat
ausgeschlossen. Sie haben nämlich ein Manko: Sie sind
nicht Mitglied einer DGB-Gewerkschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr Gesetzentwurf ist
undemokratisch, kostentreibend und mittelstandsfeind-
lich.
Frau Kollegin, Sie
müssen zum Schluss kommen.
Er ist rückwärts ge-
wandt und in unserer heutigen Arbeitswelt nicht die rich-
tige Antwort für die Zukunft. Er ist völlig fehl am Platze.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Klaus Brandner, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Allen Unkenrufen zum Trotz: Mit-
bestimmung und Teilhabe sind in diesem Lande ein
Erfolgsmodell und wir, das heißt Sozialdemokraten und
Bündnisgrüne, wollen dieses Erfolgsmodell auf eine neue
Grundlage stellen: mit der Reform des Betriebsverfas-
sungsgesetzes 2001.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dagmar Wöhrl
15953
Wir haben dabei viele Befürworter. Die Mitbestim-
mungskommission der Hans-Böckler-Stiftung sagt, be-
triebliche Mitbestimmung behindere nicht den Struktur-
wandel in der Wirtschaft, sondern unterstütze ihn in vielen
Fällen. Das ist das Gegenteil von dem, was Frau Wöhrl
gerade vorgetragen hat.
Betriebliche Mitbestimmung ist daher kein Auslaufmo-
dell, sondern ein Erfolgsmodell. Noch mehr: Betriebliche
Mitbestimmung ist ein Zukunftsmodell, für das Sozialde-
mokraten und Bündnisgrüne stehen.
In diesem Zusammenhang will ich deutlich sagen: Be-
triebliche Mitbestimmung ist ein Zukunftsmodell, weil
sie Innovationen nicht gefährdet, sondern fördert. Sie ist
deshalb Zukunftsmodell, weil sie ein Instrument ist, um
Interessenkonflikte auf der Ebene der Betriebe friedlich
zu lösen. Ihre Einwände gegen das Günstigkeitsprinzip
und Ihre Forderung nach betrieblichen Bündnissen kön-
nen wir in der vorgetragenen Form nicht teilen. Würde
man den Betriebsräten die gleichen Arbeitskampfmög-
lichkeiten an die Hand geben wie den Gewerkschaften,
würde das System der betrieblichen Mitbestimmung nicht
zum Betriebsfrieden beitragen können, so wie das zur-
zeit der Fall ist. Außerdem wissen Sie sehr wohl, dass da-
mit nichts anderes bewirkt würde, als Gewerkschaften
und Betriebsräte zu entmachten. Es ist doch zu sehen, dass
der Betriebsrat niemals die gleiche Machtposition wie
eine Gewerkschaft hat, um zum Beispiel Löhne, Gehälter
oder Arbeitszeiten zu vereinbaren.
Deshalb sagen wir ganz ausdrücklich: Hände weg von
§ 77 Abs. 3 und Hände weg von einer Novellierung des
Günstigkeitsprinzips, so wie sich das einige von Ihnen
vorstellen.
Wir haben heute zwei Welten der CDU erlebt: Herr
Uldall hält Teilhabe für den Grund allen Übels, er redet
über einen Gesetzentwurf, der gar nicht vorliegt; Herr
Weiß ist sich nicht zu schade, die Rolle des Klas-
senkämpfers der Wirtschaft zu übernehmen. Ich freue
mich deshalb und hoffe auch darauf, dass zumindest die
CDA bei der Novellierung der Betriebsverfassung eine
konstruktive Rolle spielen wird, so wie sie das auch in der
Vergangenheit, im Jahre 1972, bereits getan hat.
Es war oft davon die Rede, Mitbestimmung würde
insbesondere ausländische Investoren abschrecken.
Gerade jetzt zeitlich sehr günstig legt die Hans-Böck-
ler-Stiftung in Verbindung mit der Bertelsmannstiftung
eine Untersuchung vor, die genau belegt, dass ausländi-
sche Investoren sehr pragmatisch und wenig ideologisch
mit den deutschen Mitbestimmungsgesetzen umgehen.
Sie unterstützen die deutsche Mitbestimmung sogar, weil
auf der betrieblichen Ebene verlässliche Gesprächspart-
ner vorhanden sind, und erkennen das duale Ausbil-
dungssystem als ein gutes System an, in dem betriebliche
Praxis und theoretische Ausbildung in einem engen
Zusammenhang stehen. Sie begrüßen, dass auf der be-
trieblichen Ebene Positives für die Gesellschaft geschieht
und schätzen die Zusammenarbeit zwischen Betriebsräten
und Managern, insbesondere ausländischen Managern,
als gut bis sehr gut ein. Man kommt insgesamt zu dem Er-
gebnis, dass durchweg eine Sympathie ausländischer In-
vestoren für den Standort Deutschland besteht.
In dieser Debatte ist viel von Kosten die Rede gewe-
sen. Es ist seit langem bekannt, dass Kosten in einer poli-
tischen Debatte unterschiedlich gewichtet werden. Inte-
ressant ist aber, dass die BDA davon ausgeht, dass die
Kosten der Betriebsratsarbeit um 2,4 Milliarden DM pro
Jahr gesteigert werden müssen. Ich habe in diesem Zu-
sammenhang in einige Unterlagen geschaut, unter ande-
rem in das Statistische Jahrbuch. Dabei bin ich auf eine in-
teressante Tatsache gestoßen: 1998 haben die Unternehmen
allein für Unternehmens- und Public-Relations-Beratung
33 Milliarden DM ausgegeben.
Das ist das 15fache von dem, was sie selbst als Kostenbe-
lastung durch Betriebsratsarbeit erwarten.
Wer Teilhabe als etwas Negatives verkauft, wer Teil-
habe so darstellt, dass Betriebsratsarbeit ein Kostenfaktor
ist, der weiß nicht, welchen Nutzen Betriebsratsarbeit für
die Menschen in diesem Lande bedeutet, dass nämlich
Betriebsräte mithelfen, Betriebe zu modernisieren und die
Produktivität zu erhöhen, und dafür sorgen, dass Arbeits-
abläufe letztlich schneller und flexibler gestaltet und um-
gesetzt werden können. Fest steht: Ohne vorausschauende
Betriebsräte und ohne deren Bereitschaft zur Kooperation
und zum Interessenausgleich stünden viele Unternehmen
nicht da, wo sie sich heute befinden, nämlich hochpro-
duktiv und absolut konkurrenzfähig auf internationalen
Märkten.
Die fast 30-jährige, ganz überwiegend gute Erfahrung
mit dem Betriebsverfassungsgesetz hat gezeigt, dass nicht
die Mitbestimmung den Betrieben Schwierigkeiten
macht, sondern der Mangel an Dialog und Kooperation.
Nicht die von der rot-grünen Bundesregierung beabsich-
tigte Anpassung des Betriebsverfassungsgesetzes an die
veränderten Arbeitsbedingungen in Wirtschaft und Ge-
sellschaft gefährdet deshalb den Standort Deutschland,
sondern die Arbeitgebervertreter, die offensichtlich die
grundsätzlich und sehr heftig geführte Auseinanderset-
zung um die Mitbestimmung der 50er-Jahre erneut aufle-
ben lassen wollen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Klaus Brandner
15954
Aber mit den Methoden der 50er-Jahre können wir das
21. Jahrhundert nicht erfolgreich gestalten. In einer Wirt-
schaft, in der es immer mehr auf Teamwork und Engage-
ment der einzelnen Mitarbeiter sowie auf kontinuierliche
Innovationsprozesse ankommt, steigert eine wirksame
Mitbestimmung Effizienz und Motivation. Das wollen
wir auch weiterhin erreichen.
Mitbestimmung ist aber auch Ausdruck gelebter De-
mokratie und trägt wesentlich zur Humanisierung der
Arbeit bei. Wir alle gemeinsam sollten deshalb ein Inte-
resse daran haben, das auf Kooperation und Interessen-
ausgleich angelegte System der Mitbestimmung zu erhal-
ten und weiterzuentwickeln. Sie, meine sehr verehrten
Damen und Herren von der CDU/CSU und der F.D.P.,
hatten 16 Jahre Gelegenheit, den schleichenden Erosions-
prozess zu stoppen.
Herr Kolb, Sie haben die Zeit nicht genutzt. Wenn ich
mir den Inhalt der Anträge der Opposition anschaue, dann
weiß ich auch, warum. Was sollen die 200 000 gewählten
Betriebsratsmitglieder, die in vielen Fällen durch ihre Ar-
beit und durch ihre Unterstützung mitgeholfen haben,
Unternehmenskrisen zu bewältigen und die einen Beitrag
zum Unternehmenserfolg geleistet haben, davon halten,
wenn sie in dem Antrag der F.D.P. lesen dürfen, dass sie
sich künftig an den Betriebsratskosten hälftig beteiligen
sollen?
Gilt das demnächst auch für die Sicherheitsfachkraft,
für den Umweltschutzbeauftragten und für den Werks-
arzt? Sollen die Arbeitnehmer demnächst die Sozial-
leistungen auf betrieblicher Ebene hälftig bezahlen? Ist
das Ihre Antwort auf die Modernisierung der Betriebsver-
fassung? Ich halte diesen Vorschlag für beschämend und
möchte die Gelegenheit an dieser Stelle ausdrücklich nut-
zen, den Betriebsräten Dank für ihr Engagement und für
ihren Einsatz bei der Modernisierung der Gesellschaft
und der Wirtschaft in diesem Land zu sagen.
Wir, die SPD-Fraktion, sind stolz auf die Betriebsräte in
diesem Land.
Die F.D.P. hat nämlich ganz offensichtlich vergessen, dass
sie 1971 das Betriebsverfassungsgesetz mitbeschlossen
hat. Ihre heutigen Positionen bleiben hinter denen von
1971, wie Sie wissen, weit zurück. Das mag daran liegen,
dass die Zeiten der sozialliberalen Koalition lange
zurückliegen. Mit solchen Positionen das sei Ihnen an
dieser Stelle ausdrücklich gesagt wird eine Neuauflage
der Koalition mit uns jedenfalls nicht gelingen.
Nicht viel besser sieht es zu meinem Bedauern bei der
Union aus.
Zwar reklamiert man die Urheberschaft bei der innerbe-
trieblichen Mitbestimmung. Aber der Inhalt unseres Ge-
setzes strahlt für Sie den Geist des Klassenkampfes aus,
ist angeblich kostentreibend und dient nur den Interessen
der Gewerkschaftsfunktionäre. Da Sie sich so um das
Ehrenamt bemühen, frage ich: Gilt das nur für das Eh-
renamt außerhalb der Betriebe oder gebührt nicht auch
den Betriebsräten aufgrund ihres hohen Engagements
Ehre?
Kollege Brandner, Sie
müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Für
uns Sozialdemokraten gilt noch heute der Ausspruch
Willy Brandts, mit dem man 1970 für die Mitbestimmung
in den Betrieben warb: Demokratie muss ein Prinzip
sein, das alles gesellschaftliche Sein der Menschen beein-
flusst und durchdringt. Danach werden wir auch weiter-
hin streben.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/5741 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Frak-
tion der PDS mit dem Titel Mehr Mitbestimmungsrechte
für Betriebsräte Eckpunkte für die Reform des
Betriebsverfassungsgesetzes, Drucksache 14/5213. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4071
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
Gegenprobe! Enthaltungen? Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Bünd-
nis 90/Die Grünen und F.D.P. gegen die Stimmen der PDS
angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/5753 und 14/5764 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis d auf:
4 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm,
Siegfried Helias, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Klaus Brandner
15955
Eine internationale soziale Marktwirtschaft als
Grundmodell für eine globale Struktur- und
Ordnungspolitik Chancen und Risiken der
Globalisierung der Weltwirtschaft für die Ent-
wicklungsländer
Drucksachen 14/1960, 14/3967
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung zu
dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der Kohärenz von EU-Agrarpoli-
tik und Entwicklungspolitik im Rahmen der
WTO-II-Verhandlungen
Drucksachen 14/1860, 14/2794
Berichterstattung:
Abgeordnete Adelheid Tröscher
Siegfried Helias
Dr. Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther
Carsten Hübner
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu dem Antrag der Abgeord-
neten Ursula Lötzer, Carsten Hübner, Kersten
Naumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Zukunftsfähiger Handel und umfassende Re-
form der WTO
Drucksachen 14/1834, 14/2700
Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Reinhold
Hemker, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika
Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele,
Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Agrarreform in der Entwicklungszusam-
menarbeit einen höheren Stellenwert geben
zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus-Jürgen
Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert
Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Bemühungen für Agrarreformen in Ent-
wicklungsländern verstärken
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Joachim Günther ,
Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Agrarpolitische Entwicklungszusammen-
arbeit fördern
Drucksachen 14/1194, 14/1663, 14/3102,
14/4324
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhold Hemker
Marlies Pretzlaff
Dr. Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in
unseren Bundesländern und in den europäischen Ländern
eine Lebenssituation, die zwar auch in vielen Fällen von
Konflikten und Problemen und in manchen Fällen durch-
aus auch von Armut gekennzeichnet ist. Die Situation in
den Partnerländern, in den Entwicklungsländern stellt
sich aber ungleich dramatischer dar. Ich möchte Ihnen zu
Beginn gern noch einmal ein paar Zahlen nennen.
1,2 Milliarden Menschen leben in absoluter Armut, das
heißt von weniger als 1 Dollar pro Tag. Das bedeutet für
viele Elend und für viele Hunger. Das drückt sich darin
aus, dass 120 Millionen Kinder in den Entwicklungslän-
dern überhaupt nicht die Chance haben, in die Schule zu
gehen. Fast 880 Millionen Menschen können nicht lesen
und schreiben; die meisten davon sind Frauen und
Mädchen. 10 Millionen Kinder sterben, bevor sie ihr fünf-
tes Lebensjahr erreicht haben. Diese Zahlen zu nennen ist
notwendig. Wir müssen sie uns immer wieder vergegen-
wärtigen. Sie machen deutlich, welche Herausforderung
sich uns stellt, nämlich der globalen Entwicklung ein
menschliches Antlitz zu geben
und, wie wir das gestern im Bundeskabinett getan haben,
mit einem Aktionsprogramm zur Armutsbekämpfung
dazu beizutragen, dass bis zum Jahr 2015 weltweit die
Zahl der Menschen, die in Armut leben, um die Hälfte re-
duziert wird. Das ist die Verpflichtung, die sich die Staats-
und Regierungschefs bei ihrem Millennium-Gipfel im
September letzten Jahres gegeben haben. Diese Ver-
pflichtung wollen wir mit unserem Armutsbekämpfungs-
programm mit einlösen.
Damit rückt zum ersten Mal in der Geschichte unseres
Landes die Bekämpfung der weltweiten Armut auf die Ta-
gesordnung der gesamten Regierung. Armutsbekämpfung
wird zu einem überwölbenden Ziel und ist seit gestern
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Präsident Wolfgang Thierse
15956
nicht nur die Aufgabe des Entwicklungsressorts, sondern
auch die Politik in allen anderen Ressorts orientiert sich
künftig daran, wie die extreme Armut in den Partnerlän-
dern eingedämmt werden kann. Unsere Überzeugung ist
ich bin sicher, das ist auch Ihre : Wir in Deutschland
und in den Industrieländern werden auf Dauer nicht in
Frieden und Wohlstand leben können, wenn es nicht ge-
lingt, die bittere Armut weltweit einzudämmen.
Unser Aktionsprogramm setzt auf drei Ebenen an und
zeigt auf, welche Strukturen der Ungerechtigkeit über-
wunden werden müssen. In diesen Ausführungen spreche
ich nur die internationalen Strukturen an. Es ist einfach
eine ungerechte Ausgangsposition, dass die große Mehr-
zahl der Entwicklungsländer immer noch in der Rolle der
Rohstoffexporteure, die sie zu Kolonialzeiten hatten, ge-
halten werden. Alle Industrieländer reden vom freien
Markt. Aber wenn es darum geht, ihre eigenen Märkte zu
schützen, sind sie in vielen Bereichen protektionistisch.
Das muss überwunden werden. Eine Aufgabe unseres
Programms besteht darin, dazu einen Beitrag zu leisten.
Den Entwicklungsländern gehen durch die protektio-
nistischen Maßnahmen der Industrieländer im Agrarbe-
reich die zu bekämpfen ein Teil unseres Aktionspro-
gramms ist Einnahmen in Höhe von 40 Milliarden US-
Dollar verloren. Die Europäische Union hat daran sehen
Sie, dass wir kohärent arbeiten mit Unterstützung der
Bundesregierung einen ersten Schritt getan und ab dem
5. März dieses Jahres die Produkte der allerärmsten Län-
der zollfrei gestellt. Die Bundesregierung fordert alle
anderen Industrieländer auf, sich diesem Schritt anzu-
schließen. Dadurch könnten nach Schätzungen die Ex-
porte der ärmsten Länder um über 10 Prozent die des
südlichen Afrikas sogar um 14 Prozent steigen. 10 Pro-
zent entsprechen in diesem Fall einem Betrag von rund
3 Milliarden US-Dollar. Das ist ein wichtiger Beitrag zur
Veränderung des wirtschaftlichen Ungleichgewichts.
Die Entwicklungsländer verfügen über 90 Prozent der
weltweiten genetischen Ressourcen und über einen rei-
chen Schatz an traditionellem Wissen. Globalisierung
kann und darf nicht heißen, dass Unternehmen aus Indus-
trieländern diese Ressourcen frei ausbeuten. Im Hinblick
auf das Einkommen, die Beschäftigung und die Armut in
den Entwicklungsländern ist es von entscheidender Be-
deutung, dass die Vorteile, die sich aus der Nutzung die-
ser Ressourcen ergeben, gerecht verteilt werden.
Dafür zu sorgen ist ebenfalls ein Teil unseres Aktionspro-
gramms.
Die von der Bundesregierung in Gang gesetzte Ent-
schuldungsinitiative entlastet die mittlerweile 22 begüns-
tigten Länder in einer Größenordnung von 34 Milliar-
den US-Dollar. Wir stellen zusammen mit unseren inter-
nationalen Partnern sicher, dass die frei werdenden Res-
sourcen den Armen es geht vor allen Dingen um
Mädchen und Frauen durch Verbesserung der Bildung
und des Gesundheitssektors Förderung von Familien-
planung und Bekämpfung des HIV-Virus zugute kom-
men. Wenn sich nichts ändert, werden im Jahre 2015 auf
der Erde 7 Milliarden Menschen leben. Das ist ein weite-
rer Teil unseres Aktionsprogramms.
Darüber hinaus beinhaltet unser Aktionsprogramm den
Versuch der Stabilisierung der internationalen Finanz-
architektur. Sie erinnern sich: Die asiatische Finanzkrise
hat zu einem sprunghaften Anstieg der Armut in den ent-
sprechenden Ländern geführt. Diese Bundesregierung
setzt sich für Maßnahmen der Stärkung der internationa-
len Finanzarchitektur ein. So streben wir möglichst ver-
bindliche Standards zur Bankenregulierung an. Auch der
Privatsektor soll an der Krisenvermeidung und an der Kri-
senbewältigung beteiligt werden. Das schützt zukünftig
vor Finanzkrisen und trägt dazu bei, dramatische Rück-
fälle der Menschen in diesen Ländern in die Armut zu ver-
hindern.
Wenn man der Globalisierung ein menschliches Antlitz
geben will, dann muss man sie gestalten. Märkte brauchen
Regeln, nicht nur um gesellschaftliche und soziale Ziele
zu erreichen, sondern um überhaupt effizient funktionie-
ren zu können. Das gilt auch für globale Märkte. Wir ste-
hen heute vor dem Problem, dass für die Herausbildung
globaler Märkte nationale Regeln allein nicht mehr grei-
fen. Die Politik und das internationale Recht müssen also
mit der zunehmenden internationalen Verflechtung der
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen
Schritt halten.
Wir brauchen eine Vereinheitlichung von Regeln und
Standards, eine Harmonisierung in einigen Politikberei-
chen und Ausgleichsmaßnahmen für die schwächeren
Partner. Dazu müssen neue Entscheidungsstrukturen auf-
gebaut werden, die die Beteiligung aller Länder und nicht
nur die der reichen Industrieländer sicherstellen.
Dies möchte ich bezogen auf die anstehenden Entschei-
dungen zum Welthandelssystem und bezogen auf unser
Aktionsprogramm deutlich machen.
Die WTO wird im November in Katar ihre vierte Mi-
nisterkonferenz abhalten. Die Bundesregierung erwartet
von dieser Konferenz die Einleitung einer neuen Welt-
handelsrunde, die strengere Normen für den globalen
Austausch von Gütern und Dienstleistungen auf den Weg
bringt. Es geht dabei um Standards im Bereich Umwelt-
und Verbraucherschutz. Insbesondere die Situation auf
den Agrarmärkten und die BSE-Krise haben deutlich ge-
macht, dass Verbraucher- und Umweltschutz nicht an den
Grenzen Halt machen.
Wir brauchen Sozialstandards und Kernarbeitsnormen,
die das Verbot der Zwangsarbeit, die Ächtung ausbeu-
terischer Kinderarbeit, den Grundsatz der Nichtdiskrimi-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
15957
nierung am Arbeitsplatz und das Recht auf freie Gewerk-
schaften als Teil der Menschenrechte verwirklichen.
Wir brauchen Standards im Bereich der Wettbewerbspo-
litiken, die einen fairen Handel über die Grenzen hinweg
sicherstellen.
Viele Entwicklungsländer das ist eine Tatsache ste-
hen solchen Anliegen skeptisch gegenüber. Sie befürchten,
dass die Umsetzung der neuen Regeln neue Institutionen,
Kapazitäten und Geld erfordern. Die Entwicklungsländer
befürchten außerdem, dass diese Standards letztendlich
protektionistisch gegen sie angewendet werden. Wir wer-
den zusammen mit den Entwicklungsländern in der WTO
das ist Teil unseres Aktionsprogramms eine entspre-
chende Beratung und auch eine Unterstützung beim Auf-
bau ihrer Kapazitäten sicherstellen, damit diese Länder die
Regeln der WTO einhalten können und sie die sich daraus
ergebenden Chancen nutzen können. Das ist die wichtigste
Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklungszusam-
menarbeit.
Auch das ist Teil unseres Aktionsprogramms: Wir wer-
den die Entwicklungsländer auf dem Weg in Richtung ge-
meinsame Regeln und Standards nur mitnehmen können,
wenn wir ihnen gegenüber glaubwürdig für eine Öffnung
der Märkte der Industrieländer eintreten. Die erwähnte
Zollfreistellung gegenüber den ärmsten Ländern ist ein
erster wichtiger Schritt. Die Bundesregierung setzt sich
innerhalb der EU aber auch für eine Reform des EU-
Zuckermarktes ein. Diese Frage muss Teil der vorgesehe-
nen Überprüfung der Marktordnungen im Jahre 2003
werden. Denn die Wahrheit ist immer ganz konkret.
Die Reform der Agrarpolitik liegt im Übrigen in unse-
rem eigenen Interesse. Sie bietet aber auch eine Chance
für die Entwicklungsländer. Sofern diese Länder strenge
Standards in der Nahrungsmittelproduktion erfüllen, dür-
fen sie eben nicht durch überhöhte Zölle von unseren
Märkten fern gehalten werden. Die hohen Zölle treffen
vor allen Dingen weiterverarbeitete Produkte, was des-
halb dramatisch ist, weil damit den Entwicklungsländern
die Chance auf eine Weiterentwicklung ihrer Wirtschaft
vorenthalten wird. Wir können von ihnen nicht Diversifi-
zierung verlangen, wenn wir mit hohen Zöllen ihre
weiterverarbeiteten Produkte von den Märkten der
Industrieländer fern halten. Deshalb ist ein Teil unseres
Aktionsprogramms, dazu beizutragen, dass die Zölle für
diese weiterverarbeiteten Produkte gesenkt werden, damit
die Entwicklungsländer eine Chance haben, diese Pro-
dukte zu exportieren und damit ihre Wirtschaft weiterzu-
entwickeln.
Es ist in unserem eigenen Interesse, dass wir so han-
deln. Denn innerhalb der WTO sind mittlerweile 80 Pro-
zent aller Beteiligten Entwicklungsländer. Wir wollen,
dass die nächste WTO-Runde eine Entwicklungsrunde
wird.
Gestatten Sie mir an der Stelle da wir über gemein-
same Regeln sprechen auch daran zu erinnern, dass es
gemeinsame internationale Regeln für den Klimaschutz
gibt. Ich appelliere in dieser Debatte an die US-Regie-
rung, sich ihren internationalen Verpflichtungen aus dem
Kioto-Protokoll nicht zu entziehen.
Wenn sie das doch täte, wäre dies ein schwerer Schlag ge-
gen die Entwicklungsländer und ein Zeichen von
schlimmstem, kurzsichtigem Egoismus. Denn der welt-
weit größte Verursacher des Treibhausgases Kohlendio-
xid sind die USA. 1996 war die Pro-Kopf-Emission in den
USA rund zwanzigmal so hoch wie im südlichen Afrika
und zehnmal so hoch wie in Asien und in Lateinamerika.
Dagegen wären die Entwicklungsländer, die selber viel
weniger für die Kohlendioxidemissionen verantwortlich
sind, diejenigen, die von den Auswirkungen des Klima-
wandels als Erste betroffen wären. Im Interesse dieser
Entwicklungsländer, im Interesse der Gerechtigkeit und
der Bekämpfung von Armut fordere ich die amerikani-
sche Regierung auf, ihre ablehnende Position zum Kioto-
Protokoll zu überwinden und sich an den internationalen
Bemühungen gegen den Klimawandel zu beteiligen.
Die Wahrheit ist immer konkret und deshalb muss auch
unser Engagement immer konkret sein. Daher möchte ich
einen weiteren Appell an alle Beteiligten richten. Ich habe
vorhin dargestellt, wie dramatisch die Situation in vielen
Entwicklungsländern ist. Eine der besonderen Belastun-
gen ist Aids. Sie wissen, dass es mittlerweile lebensver-
längernde Medikamente gibt, die die Pharmaindustrie
entwickelt hat. Aber Sie wissen auch, dass ein Preis von
25 000 DM pro Patient und Jahr für Entwicklungsländer
unerschwinglich ist. Es ist ein Fortschritt, dass es bereits
Unternehmen gibt, die sagen, dass sie die Preise redu-
zieren wollen. Aber dennoch gilt: Ein Entwicklungsland
kann nicht pro Kopf der Bevölkerung 1 000 oder
1 500 DM zahlen. Gerade vor wenigen Tagen ist uns mit-
geteilt worden, dass die Pro-Kopf-Ausgabe pro Patient im
Gesundheitswesen in den betroffenen Ländern 5 DM be-
trägt.
Deshalb möchte ich eindringlich und herzlich an die
Pharmaunternehmen appellieren, nicht gegen Südafrika
zu klagen, sondern sich mit den betroffenen Entwick-
lungsländern zusammenzusetzen, zu kooperieren und
dafür zu sorgen, dass die Medikamente zur Rettung von
Millionen Menschenleben tatsächlich den Menschen in
Afrika zur Verfügung gestellt werden,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
15958
statt lange Rechtsstreitigkeiten und Auseinandersetzun-
gen auszutragen.
Im Übrigen verweise ich darauf da sind wir wieder
bei der WTO : Das Abkommen über das geistige Eigen-
tum ermöglicht es den Entwicklungsländern, unter sol-
chen Bedingungen des nationalen Notstandes verbilligte
Medikamente in ihre Länder einzuführen oder Paral-
lelimporte durchzuführen und so die Patente an dieser
Stelle zu durchbrechen. Ich denke, davon sollte Gebrauch
gemacht werden. Deshalb sollte es eine entsprechende ge-
meinsame Aktion der Pharmaunternehmen und der be-
troffenen Entwicklungsländer geben.
Wir als Bundesregierung das ist Teil des Programms,
das wir verabschiedet haben wollen dazu beitragen, dass
den Menschen lebensrettende Medikamente zur Verfügung
gestellt werden. Wenn wir das unter einer großen Beteili-
gung möglichst vieler tun können, ist das umso besser.
Ich möchte an Sie alle appellieren: Wir sollten dazu
beitragen, dass sich diese Grundhaltung die, wie wir
wissen, bei vielen Menschen in der Bevölkerung vor-
handen ist verstärkt. Wir werden nur dann eine gute Zu-
kunft haben, wenn auch andere, ärmere Länder für sich
eine gute Zukunft haben. Ich wünsche mir, dass wir in die-
sem Sinne die Debatte führen und auch dementspre-
chende Beschlüsse fassen.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort
hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU,
Friedrich Merz.
Friedrich Merz (von der CDU/CSU mit
Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-
men und Herren! Wir diskutieren heute über die Antwort
der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Unions-
fraktionen
zu einer internationalen sozialen Marktwirtschaft als
Grundmodell für eine globale Struktur- und Ordnungspo-
litik.
Wir haben von Ihnen, Frau Wieczorek-Zeul, vieles
Richtige und Wichtige gehört. Dieses anzugehen ist not-
wendig; es steht außer Frage, dass das nicht Gegenstand
des politischen Streits in diesem Lande und auch in die-
sem Hause ist. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass
Sie im Zusammenhang mit den Maßnahmenbündeln, die
in der Entwicklungspolitik zu ergreifen sind, auch etwas
über die Notwendigkeit grundlegender politischer Ent-
scheidungen bis hin zu ordnungspolitischen Maßnahmen
gesprochen hätten.
Ich bedauere, dass das Wort soziale Marktwirtschaft
in Ihrer Rede nicht gefallen ist.
Unserem Land hat die Einführung der sozialen Markt-
wirtschaft ein bisher nie gekanntes Maß an Wohlstand ge-
bracht. Die soziale Marktwirtschaft ist aber nicht allein
ein wirtschaftspolitisches Programm. Die soziale Markt-
wirtschaft geht über das Ökonomische weit hinaus und
bildet eine Ordnung nicht nur für freie wirtschaftliche
Betätigung, sondern auch für die Freiheit der Menschen
im umfassenden Sinne. Deswegen hat der indische No-
belpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Amartya
Sen, vor einigen Monaten zu Recht darauf hingewiesen,
dass der Freiheit als oberstes Ziel, aber auch als wich-
tigster Antrieb für die Entwicklung der Länder dieser Welt
insgesamt zentrale Bedeutung zukommt. Wörtlich hat er
gesagt:
Freiheit ist also nicht allein der höchste Zweck der
Entwicklung, sie ist auch ihr wirkungsvollstes Mit-
tel.
Wenn man über internationale Politik und über Ent-
wicklungshilfepolitik spricht, dann, so finde ich, müssen
die Grundsätze wieder mehr in den Vordergrund gestellt
werden. Was der Einzelne zu leisten und zu erreichen ver-
mag darauf hat Sen zu Recht hingewiesen , hängt von
seinen wirtschaftlichen Chancen, aber auch von politi-
schen Freiheiten, von dem Angebot sozialer Einrich-
tungen sowie von den Voraussetzungen, die es dem Ein-
zelnen erst ermöglichen, von diesen Einrichtungen
Gebrauch zu machen, etwa seiner Gesundheit und seiner
Schulbildung, ab. Nach unserer festen Überzeugung er-
gibt sich aus dieser Feststellung zwingend die Schlussfol-
gerung, dass Freiheit im Sinne eines umfassenden politi-
schen Ansatzes nur in einem ganzheitlichen politischen
Konzept verwirklicht werden kann.
Das mag abstrakt klingen, aber diese Grundentschei-
dungen, die auch von uns gefordert werden, müssen in
den Ländern, über die wir sprechen und deren Armut Sie,
Frau Wieczorek-Zeul wer wollte Ihnen da nicht zustim-
men , völlig zu Recht beklagt haben, getroffen werden,
wenn ein entsprechender politischer und ökonomischer
Wandel und Aufschwung möglich sein soll.
Es gibt kein gesellschaftspolitisches Konzept, kein
wirtschaftspolitisches Ordnungskonzept, das besser in der
Lage wäre, Freiheit zu gestalten und auch umzusetzen, als
das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, eingebettet in
eine freiheitliche parlamentarische Demokratie. Diesen
Hinweis zu Beginn einer solchen Debatte, die durch unsere
Große Anfrage an Sie ausgelöst wurde, halten wir für not-
wendig, damit wir uns bei den Maßnahmen, die konkret er-
griffen werden, auch immer wieder vergewissern, ob wir
denn in den Grundentscheidungen für diese Länder auf
dem richtigen Weg oder auf einem falschen Weg sind.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
15959
Es gibt keinen besseren Weg, den Ländern dieser Welt die
bestmöglichen Chancen auf Entwicklung einzuräumen,
als die konsequente Verwirklichung des Konzepts der so-
zialen Marktwirtschaft.
Die nationalen Volkswirtschaften und die Märkte die-
ser Welt, insbesondere in der westlichen Hemisphäre,
wachsen immer schneller zusammen. Das Welthandels-
volumen hat sich im Jahr 2000 mit 10 Prozent doppelt so
stark wie noch im Jahr zuvor entwickelt und dennoch ste-
hen viele Länder und viele Menschen abseits und nehmen
an dieser Entwicklung nicht teil.
Trotz der voranschreitenden wirtschaftlichen Verflech-
tung der nationalen Volkswirtschaften muss immer noch
die Hälfte der Menschen dieser Welt auch Sie haben da-
rauf hingewiesen, Frau Wieczorek-Zeul mit nur 2 Dollar
pro Tag oder weniger das eigene Überleben sichern. Die-
sen Zustand können wir auch aus Sicht der wohlhabenden
Länder nicht auf Dauer hinnehmen. Probleme, die in die-
sen Ländern entstehen, sind auch unsere Probleme.
Diese Probleme drücken sich heute schon aus in Form
von Flüchtlingsbewegungen, in Form von nicht bewältig-
ten regionalen oder sogar globalen Umweltproblemen
ich werde darauf noch zu sprechen kommen , in Form
knapper werdender Ressourcen, wie Wasser und Energie,
in Form des Drogenproblems, der Geldwäsche, der Kapi-
talflucht, der Kriminalität, des Terrorismus, in Form von
Gewalt und Krieg.
Die erfolgreiche Gestaltung der Globalisierung ist
deshalb ein gemeinsames Anliegen der hoch entwickelten
Länder wie der ärmeren dieser Welt. Kofi Annan hat auf
dem Weltwirtschaftsforum in Davos zu Beginn dieses
Jahres gesagt: Die Globalisierung funktioniert nur, wenn
sie für alle funktioniert; ansonsten wird sie schließlich für
niemanden mehr funktionieren.
So wenig auf nationaler Ebene ein Staat, eine Gesell-
schaft auf Dauer ohne den notwendigen inneren Zusam-
menhalt, ohne Teilhabe und sozialen Ausgleich lebens-
fähig sind, so wenig werden auch eine internationale
Ordnung und die weltwirtschaftliche Verflechtung auf
Dauer ohne die Teilhabe aller Länder Bestand haben.
Voraussetzung allerdings für die erfolgreiche Gestal-
tung der Globalisierung ist die Bereitschaft auf allen Sei-
ten, sich zu öffnen, sich Veränderungen zu stellen, die ei-
genen Märkte zugänglich zu machen und die
notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass In-
tegration in die internationale Arbeitsteilung gelingen
kann. Lassen Sie mich dazu etwas Konkreteres sagen.
Die Verantwortung für eine erfolgreiche Gestaltung
dieses Prozesses der Globalisierung ruht auf den Schul-
tern aller Beteiligten, auf denen der westlichen Industrie-
länder, also auf unseren Schultern, aber auch auf denen
der Schwellenländer ihre Zahl nimmt Gott sei Dank
zu und der Entwicklungsländer, deren Zahl immer noch
viel zu groß ist. Die Chancen der Globalisierung, die
Chancen der Teilhabe am wirtschaftlichen Wachstum und
am steigenden Wohlstand bieten sich nur für denjenigen,
der bereit ist, sich in diesem Prozess zu engagieren und
sich in diesen Prozess zu integrieren.
Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel anführen: Ein
Land wie Südkorea, das vor 30 Jahren noch so arm war wie
der afrikanische Staat Ghana, konnte dank seiner Bereit-
schaft, sich über intensiven Außenhandel in die Weltwirt-
schaft einzugliedern dabei gab es auch Rückschläge ,
beim Wohlstandsniveau mittlerweile zu Portugal auf-
schließen. Dies zeigt: Die Integration in die internationale
Arbeitsteilung, die erfolgreiche politische wie wirtschaft-
liche Gestaltung der Globalisierung kann gelingen, wenn
in diesen Ländern ein gemeinsames Ordnungskonzept
umgesetzt wird und ein Mindestmaß an gemeinsamer
Auffassung über das politisch und wirtschaftlich Notwen-
dige besteht. Diese Chancen auch für viele andere Länder
dieser Welt zu nutzen, dazu können die Bundesrepublik
Deutschland und die Europäische Union beitragen.
Meine Damen und Herren, Voraussetzung dafür ist
allerdings und wir diskutieren hier, das will ich noch
einmal betonen, über die Chancen einer internationalen
sozialen Marktwirtschaft , dass eine solche Ordnung er-
kennt, was die soziale Marktwirtschaft in ihrem Wesen
ausmacht. Es ist eine Ordnung, die durch die Festlegung
fairer, das heißt vor allem für alle gleichermaßen gültiger
Regeln einen marktwirtschaftlichen Wettbewerb ermög-
licht und dem Einzelnen auf der Basis von freiheitlichem
und verantwortlichem Handeln die Aussicht auf wirt-
schaftliche und gesellschaftliche Teilhabe und Entfaltung
seiner Persönlichkeit gibt.
Dazu bedarf es Institutionen. Das haben wir in
Deutschland gelernt, das wissen wir in der Europäischen
Union. Dem müssen sich viele andere Länder dieser Welt
erst stellen. Dazu bedarf es des Zugangs zu technischem
Fortschritt und zu modernen Technologien.
Ich will in diesem Zusammenhang die Wissens- und
Informationsgesellschaft ansprechen. Wir werden im-
mer wieder in den letzten Wochen und Monaten sogar
häufiger auf die Gefahr des digital divide angespro-
chen, also die Gefahr, dass die Segnungen der Internet-
revolution an den Entwicklungsländern vorbeigehen. Es
gibt nun Anzeichen dafür, dass dies so nicht völlig zutrifft.
Auch in Ländern wie Indien oder China, in Ländern in La-
teinamerika, ja selbst in Ländern der Subsahara nimmt der
Anteil derer, die Zugang zu den modernen Kommunika-
tionstechnologien, zum Internet und zu vielem anderen
haben, zu.
Dennoch bleibt die Feststellung richtig, dass die Ver-
breitung von Internet und New Economy in diesen Län-
dern deutlich hinter der Entwicklung der OECD-Staaten
zurückbleibt. Ebenso richtig ist die Feststellung, dass
viele Ursachen hierfür auch in diesen Ländern selbst zu
suchen sind. Fehlender Wettbewerb und dadurch bedingte
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Friedrich Merz
15960
hohe Kosten etwa bei Kommunikationsdienstleistungen,
hohe Einfuhrbarrieren zum Beispiel für Computergeräte,
Kapitalverkehrsbeschränkungen, unzureichende recht-
liche Rahmenbedingungen sind leider immer noch kenn-
zeichnende Merkmale für die Situation in sehr vielen Ent-
wicklungsländern.
Auf der anderen Seite sind die Ursprungsländer dieser
modernen Technologien, also die OECD-Staaten, wir,
aufgefordert, auch das Unsere zu tun, um diesen Ländern
in Asien, in Afrika, in Lateinamerika den Weg in die mo-
derne Wissens- und Kommunikationsgesellschaft zu eb-
nen: durch eine zukunftsweisende Zusammenarbeit,
durch die Beendigung von Handelsbarrieren und auch
durch die Beteiligung an internationalen Fachkonferen-
zen und an so genannten Public-Private-Partnership-Pro-
jekten. Die weniger entwickelten Länder dieser Welt
dürfen nicht von Anfang an zu den Verlierern des Inter-
netzeitalters gehören.
Wenn wir also von den Entwicklungsländern zu Recht
die Bereitschaft zur Integration in die Weltwirtschaft er-
warten, so erwarten diese Länder im Gegenzug von uns
faire Chancen zum Marktzugang in die hoch entwickelten
Volkswirtschaften. Ich bringe es einmal auf einen Nenner
und in einen Satz: Eine Politik offener Märkte ist die
wirksamste Form der Entwicklungshilfe.
Sie ist nicht nur für die betroffenen Länder die wirk-
samste Form der Entwicklungshilfe, sie ist auch für uns
die preiswerteste Form der Entwicklungshilfe. Denn die
Industrienationen geben so jedenfalls Angaben der Ver-
einten Nationen allein zur Abschottung ihrer Agrar-
märkte etwa 350 Milliarden DM pro Jahr aus. Das ist das
Siebenfache dessen, was dieselben Länder an Beitrag zur
öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit leisten.
Der Widerstand vieler Entwicklungsländer gegenüber
einer neuen Welthandelsrunde Sie haben das angespro-
chen, und wir sind uns darin weitgehend einig resultiert
eben vor allem aus der Unzufriedenheit mit den Ergeb-
nissen der letzten Handelsrunde, resultiert aus der Auffas-
sung, dass nach wie vor wichtige Märkte wie etwa die
Agrarmärkte und die Textilmärkte abgeschottet bleiben.
Hier zu substanziellen Fortschritten zu kommen, dies ist
eine zentrale Aufgabe, meine Damen und Herren, auch
und gerade der europäischen Politik.
Deshalb sei mir an dieser Stelle ein Wort zum Gipfel
der Staats- und Regierungschefs von Nizza gestattet.
Wer so engagiert wie Sie, Frau Ministerin, von dieser
Stelle aus die Zusammenarbeit mit den ärmsten Ländern
dieser Welt vertritt, der kann mit dem Ergebnis von Nizza
im Hinblick auf die europäische Handelspolitik nicht zu-
frieden sein.
Die Vorstellungen der Europäischen Kommission in
Brüssel sind viel weitgehender und viel näher an der Lö-
sung der Probleme als das, was die Staats- und Regie-
rungschefs auf dem Gipfel in Nizza nicht zuletzt wegen
der Haltung der deutschen und der französischen Regie-
rung zustande gebracht haben.
Wir hätten uns gewünscht, dass die Bundesregierung der
Bundesrepublik Deutschland in Nizza mit dem gleichen
Engagement wie hier von dieser Stelle aus für die Ent-
wicklungszusammenarbeit, für eine Öffnung der Handels-
politik und auch für Mehrheitsentscheidungen in der
Europäischen Union eingetreten wäre. Dies hätte einen
europäischen Beitrag zur internationalen Entwicklungs-
zusammenarbeit bedeuten können.
Lassen Sie mich zum Abschluss deutlich machen: Die
Ausdehnung und weltweite Verbreitung des Ordnungs-
modells der sozialen Marktwirtschaft auch auf die Län-
der der so genannten Dritten Welt erfordert eine verän-
derte Konzeption staatlichen Handelns auf nationaler und
auf internationaler Ebene. Wir sind nicht mehr so wie zu
Zeiten Ludwig Erhards in der Lage, dieses Konzept al-
lein im nationalen Maßstab umzusetzen. Nur in Zusam-
menarbeit mit diesen Ländern, nur in Zusammenarbeit
mit unseren Partnern in der Welt wird dies zukünftig mög-
lich sein. Nur durch die Stärkung der internationalen
Institutionen, nur durch die Bereitschaft, auch auf inter-
nationaler Ebene Verpflichtungen einzugehen und einzu-
halten, können die Voraussetzungen dafür geschaffen
werden, dass Märkte liberalisiert werden und dass die
Länder der Dritten Welt Chancen bekommen. Dies geht
weit über die Senkung von Zolltarifen hinaus.
Deswegen möchte ich an dieser Stelle auf die gemein-
same Umweltpolitik eingehen; Frau Wieczorek-Zeul,
Sie haben sie bereits angesprochen. Die gemeinsame Um-
weltschutzpolitik ist ein zentrales internationales Anlie-
gen. Es ist richtig, dass auch wir die Einstellung und die
Haltung der neuen amerikanischen Administration zur
Emission von Treibhausgasen und die Infragestellung des
Kioto-Protokolls kritisieren. Aber, meine Damen und
Herren, die Glaubwürdigkeit der Kritik der Bundesregie-
rung an der Haltung der USA wäre wesentlich größer und
würde international wachsen, wenn die Bundesregierung
ihrerseits endlich ein wirklich überzeugendes Konzept
für den Klimaschutz vorlegen würde,
ein Konzept, das vor allem eine überzeugende Antwort
auf die Frage gibt, wie denn der Ausstieg aus der Kern-
energie in Deutschland mit den internationalen Klima-
schutzzielen zusammenpassen soll.
Es war Ihr Bundeswirtschaftsminister, der zu Recht
darauf hingewiesen hat, dass aufgrund des geplanten
Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie
das von der Bundesregierung angestrebte und richtige
Klimaschutzziel nicht mehr zu erreichen ist. Wer selbst
keine glaubwürdige Klimaschutzpolitik betreibt, hat es
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Friedrich Merz
15961
verständlicherweise schwer, für seine Position bei unse-
ren amerikanischen Partnern überzeugend zu werben.
Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft ich habe
es zu Beginn gesagt hat unserem Land nach der Kata-
strophe des Zweiten Weltkriegs einen beispiellosen wirt-
schaftlichen und sozialen und auch einen beispiellosen
politischen Aufstieg ermöglicht. Es gibt keinen Grund,
anzunehmen, dass die politische Ordnung der sozialen
Marktwirtschaft nicht auch in vielen anderen Ländern
dieser Welt Ähnliches möglich macht. Der politische
Wille, dies zum Ausdruck zu bringen, ist Aufgabe auch
dieser Bundesregierung.
Das Wort
hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Margareta
Wolf.
M
Sehr geehrter
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Merz, lassen Sie mich vorab eine Bemerkung ma-
chen: Zum ersten Mal macht eine Bundesregierung eine
wirklich glaubhafte Klimaschutzpolitik:
Wir haben ein sehr umfassendes Klimaschutzprogramm
verabschiedet und realisieren es auch.
Ich fand Ihre Rede übrigens beeindruckend. Nur in die-
sem Punkt sind Sie wieder etwas in Ihre alte Rolle hi-
neingerutscht. Das sei jetzt verziehen.
Ich teile auch Ihre Einschätzung, dass die soziale
Marktwirtschaft, die lassen Sie mich das ergänzen so-
ziale und ökologische Marktwirtschaft eine Freiheits-
ordnung ist. Ich freue mich, dass wir hier einen Konsens
haben, und ich möchte ergänzen: Die Aufgabe von Politik
ist Freiheit, wie Hannah Arendt es formuliert hat. Unter
diesem Motto steht die Politik auch dieser Bundesregie-
rung.
Mehr als je zuvor in der Geschichte muss eine wach-
sende Volkswirtschaft heute eine im umfassenden Sinne
offene Volkswirtschaft sein. Wir wissen: Länder, deren
Märkte relativ weit geöffnet sind, haben in den fünf De-
kaden der Nachkriegszeit etwa ein doppelt so hohes Wirt-
schaftswachstum erreicht wie weniger marktoffene Län-
der. Besonders erfolgreich sind dabei die Länder, die
parallel zur Marktöffnung nach außen auch Strukturrefor-
men im Innern vorangetrieben haben. Dies ist ausdrück-
lich auch für die Entwicklungsländer belegbar.
Das Beispiel unseres eigenen Landes zeigt darauf
wurde schon hingewiesen in, wie ich finde, eindrucks-
voller Weise, dass diese These stimmt. Gerade unser
Wohlstand beruht ganz wesentlich auf freiem Warenver-
kehr, auf der Liberalisierung und auf der sozialen Markt-
wirtschaft. Sie alle kennen die Zahlen unserer Exporte
und der Arbeitsplätze, die darauf beruhen.
Die Bundesregierung sieht die Chancen, die die Glo-
balisierung für Wachstum, Beschäftigung und sozialen
Fortschritt bietet, und zwar in den Industrie- und in den
Entwicklungsländern. Die Bundesregierung sieht aber
auch die Herausforderungen. Für die nationale Wirt-
schaftspolitik sind es im Wesentlichen zwei Herausforde-
rungen.
Die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen müs-
sen so gestaltet werden, dass die heimische Wirtschaft
gute Voraussetzungen vorfindet, um im internationalen
Wettbewerb bestehen und sich entwickeln zu können.
National sind hier Reformvorhaben wie die Steuerreform
hervorzuheben, aber auch der Transfer von Umwelttech-
nologien, der Transfer von Forschung und Entwicklung
hin zu den kleinen und mittleren Unternehmen sowie ganz
zentral die weitere Ausstattung und Durchdringung mit
neuen Technologien in unserer Wirtschaft.
Im außenwirtschaftlichen Bereich möchte ich hier eine
Initiative hervorheben, die auch vom BDI und von der
BDA mit unterstützt wird, unser Außenhandelsportal
ixpos, das die Voraussetzungen dafür schafft, dass die
internationalen Märkte für unsere Ökonomie transparen-
ter und ergo nutzbarer werden.
Gleichzeitig müssen wir aber auch dafür Sorge tragen,
dass die Globalisierung weltweit zu einer wirtschaftlich,
sozial und ökologisch ausgewogenen Entwicklung
beiträgt und nicht ausgrenzt. Hier müssen wir die Appelle
der NGOs im Kontext von Seattle wirklich ernst nehmen.
In gut zwei Monaten findet in Brüssel die dritte Kon-
ferenz der Vereinten Nationen für die am wenigsten ent-
wickelten Länder statt. Sie soll den laufenden Dialog über
den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in den
Entwicklungsländern aufnehmen und mit einem Akzent
auf die besonderen Anliegen der least developed coun-
tries hinweisen, diese auch vertiefen. Im Vorfeld dieser
Konferenz veranstaltet die Bundesregierung einen zu-
gegeben sehr schwierigen Dialog über private Investi-
tionen mit dem besonderen Akzent auf Infrastrukturinves-
titionen. Frau Ministerin Wieczorek-Zeul wird im
Rahmen der Konferenz eine sehr wichtige Chair-Funktion
einnehmen zu dem Thema The role of investment and
enterprises development, zu der wir ihr heute schon viel
Erfolg wünschen wollen.
Darüber hinaus laufen aber zurzeit auch verschiedene
Initiativen seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Es
laufen Regionalseminare, zum Beispiel in Chile oder in
Südafrika, mit der speziellen Zielsetzung der praxisorien-
tierten Fachdiskussion über handelspolitische Verbes-
serungen für die Entwicklungsländer. Gerade in den
48 Entwicklungsländern trifft Armut mit einer besonde-
ren Schwäche der ökonomischen, institutionellen und
menschlichen Möglichkeiten zusammen, häufig auch
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Friedrich Merz
15962
noch erschwert durch geographische Situationen. Be-
waffnete Konflikte verhindern allzu oft jeden sozialen
und wirtschaftlichen Fortschritt. Dies macht deutlich,
dass es leider keine raschen Antworten auf die gravieren-
den Probleme in diesen Ländern gibt. Aber weder mehr
Entwicklungshilfe und eine stärkere Marktöffnung, die
von den Entwicklungsländern verlangt wird, noch nach-
haltigere nationale Reformen, wie von den Industrielän-
dern gefordert, können allein eine dauerhaft erfolgreiche
Entwicklung begründen. Ich denke, alle Beiträge haben
auch deutlich gemacht: Es geht hier nicht um Alternati-
ven. Vielmehr müssen sich die Maßnahmen gegenseitig
ergänzen. Zu den unerlässlichen Voraussetzungen für die
strukturelle Entwicklung in diesen Ländern gehören aber
auch good governance, Demokratie, Rechtssicherheit,
die Bekämpfung der Korruption und die Öffnung der
Märkte einschließlich der Deregulierung und der Privati-
sierung.
Dass uns die Entwicklung der angesprochenen Länder
besonders am Herzen liegt, hat Frau Wieczorek-Zeul
schon gesagt. Es wurde gerade schon das Programm der
Initiative everything but arms angesprochen.
Können Sie kein Englisch, Herr Kollege Staffelt?
Durch diese Initiative haben die Entwicklungsländer für
alle Produkte außer für Waffen ab sofort den völlig freien
Marktzugang erhalten. Nur für sensible Produkte gilt die
Zollfreiheit mit einer Übergangsfrist. Sie alle kennen das
Bananen-, Reis- und Zuckerproblem. Die Umsetzung und
der Umfang dieser Maßnahme sollte ein Vorbild für an-
dere Staaten sein, für Staaten wie Kanada, Japan und die
USA. Auch sie haben sich im Mai des Jahres 2000 in der
WTO zu einer Verbesserung des Marktzugangs für die
Entwicklungsländer verpflichtet. Wir sehen aber in dieser
Strategie nicht nur ein handelspolitisches Signal, sondern
glauben auch, dass es eine vertrauensbildende Maßnahme
für die schon angesprochene neue WTO-Runde und ein
substanzieller Beitrag zu der bereits erwähnten Entwick-
lungsländerkonferenz ist.
Die handelspolitischen Aktivitäten im Bereich der
Agrarwirtschaft möchte ich nur kurz streifen. Im
März 2000 begann die Fortsetzungsverhandlung zum
WTO-Agrarübereinkommen. In den bestehenden WTO-
Bestimmungen ist das Ziel einer weiteren Liberalisierung
des Agrarmarktes bereits vorgegeben. Dies liegt auch im
Interesse der Entwicklungsländer. Die EU bekennt sich
voll und ganz zur Fortsetzung des im Artikel 20 des
Agrarübereinkommens verankerten Reformprozesses.
Deutschland hält zusammen mit seinen EU-Partnern
weiterhin nachdrücklich an dem Ziel fest, baldmöglichst
eine umfassende neue WTO-Verhandlungsrunde zur wei-
teren Liberalisierung des Handels und eine Stärkung des
WTO-Regelwerks einzuleiten.
Die Bundesregierung vertritt nach wie vor die feste Über-
zeugung, dass nur im Rahmen einer neuen, umfassenden
Runde die aktuellen Probleme und die großen Herausfor-
derungen der Weltwirtschaft angegangen und gelöst wer-
den können. Dazu gehört das Schaffen von Kohärenz zwi-
schen Handel, Investitionen und Wettbewerb, dazu
gehören Umwelt-, Verbraucher- und Gesundheitsschutz
sowie die Einhaltung von Mindestarbeitsnormen und So-
zialstandards. Insofern wünschen wir der Ministerkonfe-
renz in Katar, die im November stattfindet, viel Erfolg.
Ich danke Ihnen.
Als
nächster Redner hat jetzt der Kollege Dr. Günter Rexrodt
von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich freue mich, dass heute einmal Ge-
legenheit besteht, ein globales Rahmen- und Regelwerk
anzusprechen, das nicht nur in ganz starkem Maße das
tägliche Leben der Entwicklungsländer bestimmt, son-
dern in zunehmendem Umfang auch die Bürger unseres
Landes berührt; die Globalisierung steht damit im Zu-
sammenhang. Im Übrigen setzt dieses System jeden Tag
Maßstäbe für die Regierungs- und Gesetzgebungsarbeit
in Bund und Ländern.
Die Antwort auf die Große Anfrage der Union lässt nun
erfreulicherweise erkennen, dass die Bundesregierung
beim Thema Struktur- und Ordnungspolitik zu einer
gewissen Vernunft und Kontinuität zurückgefunden hat,
und das nach einem sehr gewagten Anlauf von Oskar
Lafontaine, die Welt in seinem Sinne zu revolutionieren.
Lafontaines Ansatz zielte zunächst darauf ab, die gegen-
wärtige Weltfinanzordnung zu verändern; dafür gibt es im
Übrigen in gewissem Umfang Berechtigung.
Er stand darüber hinaus der internationalen Arbeitstei-
lung sehr skeptisch gegenüber. Er hatte Vorbehalte gegen
eine wachsende Verflechtung der Weltwirtschaft und er
suchte einen binnenwirtschaftlichen Ansatz, der veraltet
ist, um mit den wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen
Tagesfragen fertig zu werden. Das hat dazu geführt, dass
die Märkte enorm verunsichert wurden, dass es ein
Wachstumsdefizit in Deutschland gab das gibt es immer
noch und dass sogar zusätzlicher Druck auf den Euro
entstand. Dies alles stand und steht im Gegensatz zu einer
Politik der Öffnung der Märkte, der Liberalisierung des
Handels und der Investitionen sowie der Erfüllung inter-
nationaler Verpflichtungen sowie im Gegensatz zu einer
aktiven Rolle in internationalen und supranationalen In-
stitutionen.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass Sie zu diesen Prinzi-
pien zurückgekehrt sind. Zu beklagen ist allerdings die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf
15963
Tatsache, meine Damen und Herren, dass die Bundesre-
publik Deutschland ihre Führungsrolle in der Libera-
lisierungspolitik und die Rolle des Mahnenden und
Drängenden nicht mehr erkennen lässt.
Diese Rolle, die uns aufgrund unseres Gewichts in der
Weltwirtschaft zusteht, liegt auch im Interesse der Wirt-
schaft und des Arbeitsmarktes. Wer Arbeitsplätze schaf-
fen will, muss eine Vorreiterrolle in der Europäischen
Union und in den internationalen Institutionen ausfüllen,
wenn es um Öffnung der Märkte und Freiheit der Investi-
tionen geht. Exporte sind dabei nur die eine Seite der Me-
daille. Unsere Volkswirtschaft muss für Einfuhren aus
aller Welt frei sein. Dies erfordert einen weiteren Abbau
von Zöllen und anderen Handelshemmnissen. Güter und
Dienstleistungen müssen frei zugänglich sein. Handel ist
keine Einbahnstraße.
Es liegt im Interesse auch unseres Landes, dass die
Länder der Dritten Welt eine Chance haben, in die Welt-
wirtschaft einzutreten, und dass die Gruppe der Schwel-
lenländer ihre erfolgreiche Entwicklung fortsetzen kann.
Diese Länder müssen Partner auf gleicher Augenhöhe
werden.
Die Zuständigkeit für Handels- und Marktöffnungspo-
litik liegt nicht mehr auf nationaler, sondern zunehmend
auf europäischer Ebene. Die Europäische Union arbeitet
aber nicht im luftleeren Raum. Uns als zweitgrößtem
Welthandelsland kommt es zu, auf europäischer Ebene
dafür zu kämpfen, dass die Märkte geöffnet werden und
dass sehr egoistische Interessen, auch die einiger unserer
Nachbarländer, zurückgedrängt werden.
Meine Damen und Herren, ich stelle fest: Die Bundes-
regierung ist auch innereuropäisch immer mehr bereit,
faule Kompromisse zu akzeptieren. Ich erinnere an die
makabre Verlängerung des Briefbeförderungsmonopols
in Deutschland und der Europäischen Union.
Des Weiteren erinnere ich daran, dass wir es akzeptieren,
dass die Liberalisierung auf den Energiemärkten in der
Europäischen Union nicht stattfindet.
Natürlich ist das so; informieren Sie sich doch einmal,
meine Damen und Herren.
Es liegt in unserem Interesse, dass wir Vorleistungen
erbringen. Selbst wenn die anderen nicht mitziehen, müs-
sen wir dafür sorgen,
dass Liberalisierung stattfindet.
Ich höre auch nicht die Stimme Deutschlands, wenn es
darum geht, in Genf dafür zu kämpfen, dass die nächste
Welthandelsrunde schnell stattfindet und dass die Themen
definiert werden, die dort behandelt werden müssen.
Meine Damen und Herren, eine neue Welthandelsrunde
ist dringend erforderlich, um die Zölle für eine ganze
Reihe von Gütern zu beseitigen sowie Dienstleistungen
im Finanzbereich und in den Bereichen Tourismus und
Telekommunikation frei zugänglich zu machen. Ich stelle
fest, dass es sehr merkwürdige Positionen eines wichtigen
Nachbarlandes und guten Freundes zur Freiheit für Me-
dien und Mediendienstleistungen gibt. Die deutsche Poli-
tik tut nichts. Von einem unserer Nachbarn werden Inte-
ressen durchgesetzt, die mit der Liberalisierung der
Märkte nicht im Einklang stehen.
Unser Land muss mit einer deutlichen Stimme spre-
chen, damit es endlich zum Abschluss eines internatio-
nalen Investitionsabkommens kommt. Das ist ein ganz
wichtiges Thema. Wo ist hier die Bundesregierung? Statt-
dessen wird Atomausstieg gemacht, Frau Wolf.
Ein anderes Thema ist die Außenwirtschaftspolitik.
Auch in diesem Bereich ist die Stimme der Bundesre-
gierung nicht zu hören. Sie können keinen Handel mehr
treiben, ohne Freiheit bei den Investitionen zu haben.
Kein Land importiert mehr Waren und Dienstleistungen
in einem größeren Umfang, wenn nicht gleichzeitig auch
in diesem Land investiert wird. Das Ganze nennt man lo-
cal content. Deshalb ist ein internationales Investitions-
abkommen auch für uns und unsere Arbeitsplätze enorm
wichtig. Dazu herrscht jedoch beim zuständigen Bundes-
wirtschaftsministerium Stille.
Informieren Sie sich, ehe Sie dazwischenrufen. Es ist so.
Sie wissen doch gar nicht, um was es geht; wenn ich mir
diese Bemerkung erlauben darf. Das ist ein Faktum.
Was wahr ist, ist wahr.
Nun antworten Sie einmal auf die Fragen: Wo sind
denn die Stimmen der Deutschen, wenn es um die neuen
Themen geht, wenn es um Welthandel und Umwelt geht?
Welches sind Ihre Vorstellungen darüber, ob und inwie-
weit Welthandel sanktioniert werden soll, wenn es zu ele-
mentaren Verletzungen der Umweltschutzbestimmungen
kommt? Wo ist denn Ihre Stimme, wenn es darum geht,
Welthandel und die elementaren Bedingungen der Ar-
beitswelt miteinander in Einklang zu bringen? Ich höre
dazu nichts oder nicht viel.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Günter Rexrodt
15964
Wo ist die Stimme der Bundesregierung, wenn es da-
rum geht, eine Weltkartellordnung, eine Weltwettbe-
werbsordnung aufzubauen? Es wird von einem Weltkar-
tellamt gesprochen. Es kommt aber aktuell darauf an, dass
die Kartellbehörden in den USA, in Europa und in Japan
enger und mehr zusammenarbeiten. Darauf müssen wir
als zweitgrößte Handelsnation drängen. Darauf kommt es
an.
Wo ist denn die Stimme der Bundesregierung, wenn es
darum geht, ein Rahmenwerk für das Internet zu ent-
wickeln, das immer mehr den Welthandel und den Aus-
tausch von Informationen und Dienstleistungen weltweit
bestimmt, wenn es um Urheberrechte, Datensicherheit
und Datenschutz geht, wenn es darum geht, die rechtsra-
dikalen oder sonstigen radikalen Inhalte aus dem Internet
zu verbannen? Dies bedarf einer kontinuierlichen und
hochkarätigen Arbeit, die nur von hoch entwickelten Län-
dern wie dem unseren geleistet werden kann. Hier haben
wir viel aufzuholen.
Es ist sicher wichtig, über Energiepolitik, Agrarpolitik
und auch Entwicklungspolitik zu sprechen. Aber eine
Weltordnung das sage ich noch einmal , die unsere täg-
liche Arbeit, insbesondere die Gesetzgebungsarbeit in
Bund und Ländern, die die Lebensumstände der Men-
schen bestimmt, hat absolute Priorität. Das muss auch in
diesem Hause das würde ich mir wünschen stärkere
Beachtung finden.
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Ja, Herr Präsident. Ich
will nur noch einen Gedanken anführen. Wenn wir mehr
Wohlstand, mehr Sicherheit und mehr Menschenwürde
für viel mehr Menschen auf diesem Planeten erreichen
wollen, können wir diese Weltordnung nur so gestalten,
dass die Prinzipien der Öffnung, der Liberalisierung und
vor allen Dingen die Prinzipien des freien Zugangs von
Waren und Dienstleistungen, auch von agrarischen Gü-
tern,
stärkeren Eingang in die Weltwirtschaftsordnung und die
Welthandelsordnung finden. Das ist eine urliberale For-
derung,
ein urliberales Prinzip. Deshalb setzen sich die Liberalen
dafür auch mit Nachdruck ein.
Als
nächster Redner hat der Kollege Carsten Hübner von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Als meine Fraktion im Rahmen der
Haushaltsberatungen zum BMZ-Etat für dieses Jahr einen
besonderen Haushaltstitel zur Förderung von Frauen im
ländlichen Raum beantragt hat, mussten wir uns von Frau
Staatssekretärin Eid belehren lassen, Frauenförderung sei
auch in der Entwicklungszusammenarbeit Querschnitts-
aufgabe und bedürfe keines gesonderten Titels; sie sei
überall integraler Bestandteil.
Mal abgesehen davon, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, dass diese Querschnittsverantwortung bis heute we-
der in der Theorie noch in der Praxis der Entwicklungs-
zusammenarbeit in angemessener Weise Umsetzung
findet, wird dieser Ansatz der aktuellen Situation von
Frauen in Entwicklungsländern schon von seinen Grund-
prämissen her nicht gerecht.
Denn Frauen tragen und das mittlerweile schon seit Ge-
nerationen nicht nur die Hauptlast von Unterentwick-
lung, Armut und Elend. Sie sind gleichzeitig überall dort,
wo Entwicklungsprozesse in Gang kommen; sie sind ihr
Motor und ihr Fundament. Sie übernehmen dabei nicht
nur die Verantwortung für sich, ihre Familie und ihre Kin-
der, sondern sie stabilisieren ganze soziale Gefüge, zumal
im ländlichen Raum. Vor dem Hintergrund von stark pa-
triarchaler und oftmals offen Frauen unterdrückender ge-
sellschaftlicher Strukturen ist das eine Lebensleistung, die
es nicht nur zu würdigen gilt, sondern der man mit der
Formel Querschnittsaufgabe schlichtweg nicht gerecht
wird.
Gerade im ländlichen Raum und mit Blick auf eine
nachhaltige Agrarreform in Entwicklungsländern muss
sich die besondere Rolle von Frauen in besonderen För-
derprogrammen in aller Deutlichkeit niederschlagen. Ich
erinnere nur daran, dass in ganzen Regionen Afrikas bis
zu 80 Prozent der Ernährungssicherung durch Frauen ge-
währleistet wird. Ich erwarte deshalb, dass im kommen-
den Haushalt ein entsprechender Titel ausgewiesen und
konzeptionell untersetzt wird. Der vorliegende Antrag der
Regierungskoalition ist in dieser Frage jedenfalls bisher
nicht ausreichend.
Ein zweiter Punkt, den ich unbedingt aufgreifen
möchte, ist die Frage der Landreform; denn wenn ich mir
die Anträge ansehe, so bin ich sicher, dass wir uns über
eines alle einig sind: Ohne eine umfassende und gerechte
Landreform, von der diejenigen massiv profitieren, die im
ländlichen Raum leben und arbeiten, werden wir keine
überzeugenden Antworten auf Probleme wie die Gewähr-
leistung der Ernährungssicherung, die zum Teil massive
Landflucht oder auf Fragen nach einer nachhaltigen Struk-
turentwicklung im ländlichen Raum geben. Dass eklatante
soziale Verwerfungen und inakzeptable Besitzverhältnisse
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Günter Rexrodt
15965
immer auch ein Ausgangspunkt für gesellschaftliche Kon-
flikte bis hin zu bewaffneten Auseinandersetzungen und
damit ein Hemmschuh für Demokratisierung und Kon-
fliktprävention sind, sei hier ebenfalls unterstrichen.
Umso entscheidender ist es aber, dass diese Landrefor-
men von unserer Seite auch finanziell und konzeptionell
nachdrücklich gefordert und gefördert werden.
Genau da ist in den vergangenen Jahren viel zu wenig pas-
siert, wenn ich etwa an die Situation in Kolumbien oder
an die Auseinandersetzungen in Simbabwe denke, die
sich nicht zuletzt aus diesen Versäumnissen speisen. Ich
erwarte hier von der Regierungsseite mehr Mut und kon-
zeptionelle Entschlossenheit und weniger Bekenntnispo-
litik.
Ein dritter Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist die
Frage der Wasserversorgung, eine der Schlüsselfragen
nachhaltiger Reformen im Agrarbereich. Über die Bedeu-
tung auch dieses Themas herrscht hier, so denke ich je-
denfalls, Einigkeit. Keine Einigkeit herrscht hingegen
über den Weg dorthin; denn seit geraumer Zeit wird ge-
rade die Frage der Wasserversorgung, also danach, wie
Menschen mit einem der wichtigsten Lebensgüter ver-
sorgt werden können, zunehmend unter dem Gesichts-
punkt der Public Private Partnership diskutiert. Davor
kann ich nur warnen; denn bis heute konnte mir niemand
glaubhaft erklären, wie in dieser Frage ich erinnere da-
ran, dass wir über die Wasserversorgung in Regionen
sprechen, in denen äußerste Armut herrscht die notwen-
dige Basisversorgung der Bevölkerung mit dem Profit-
interesse von privaten Unternehmen in Einklang gebracht
werden soll.
Um es auf den Punkt zu bringen: Das Wasser wird Geld
kosten, und zwar so viel Geld, dass für das Unternehmen,
zumal wenn es um Unternehmen aus dem Ausland, zum
Beispiel aus dem Norden geht, ein lohnender Gewinn ab-
fällt. Dieses Geld werden dort viele Menschen nicht ha-
ben. Damit werden wiederum viele außen vor bleiben.
Genauso werden viele außen vor bleiben, wenn wir zu-
nehmend die Basisgesundheitsversorgung oder die Basis-
bildung mittels PPP realisieren wollen.
Dass das in die Hose gehen muss, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ergibt sich allein schon aus den betriebs-
wirtschaftlichen Zwängen, denen private Unternehmen
unterworfen sind. Dazu muss ich nicht einmal die Ideolo-
gie bemühen. Damit will ich jedoch nicht sagen, dass es
nicht auch private Investitionen gibt, die für die Entwick-
lung einer Region sinnvoll sein können. Aber wir sollten
schön voneinander trennen: auf der einen Seite öffentliche
Entwicklungszusammenarbeit und auf der anderen Seite
private Investitionen. Als Ausputzer für einen schrump-
fenden BMZ-Etat ist die Privatwirtschaft jedenfalls ein
schlechter Partner.
Das beweist nicht zuletzt der gnadenlose Protektionis-
mus, mit dem die Wirtschaftslobby des Nordens ihre
Märkte abschottet, während sie gleichzeitig die Märkte
des Südens gnadenlos bestürmt.
Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Adelheid Tröscher von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wir werden allmählich zu einem Par-
lament der Glaubensbekenntnisse, heute zur sozialen
Marktwirtschaft und zur Liberalisierung. Sie sagen nicht,
was dafür an Voraussetzungen für die Entwicklungsländer
notwendig sind. Ich habe auch nichts über unsere Verant-
wortung gegenüber den armen Ländern gehört.
Bis zum Jahr 2015 soll die Armut in der Welt halbiert
werden. Die Bundesregierung hat gestern ein Aktions-
programm dazu vorgestellt. Wir danken Frau
Bundesministerin Wieczorek-Zeul ausdrücklich dafür,
dass die Bundesrepublik nun das erste Industrieland ist,
das mit der Umsetzung der Verpflichtung beginnt, und vor
allem dafür, dass es zum ersten Mal in der Bundesrepublik
gelungen ist, alle Ressorts der Bundesregierung auf die
Armutsbekämpfung zu verpflichten.
Die Fachpolitik aller Ressorts, etwa des Wirtschaftsminis-
teriums, des Finanzministeriums und des Verbraucher-
schutzministeriums orientiert sich in Zukunft daran, wie
die globale Armut eingedämmt werden kann. Frau Minis-
terin, herzlichen Dank für diese Initiative und die Arbeit,
die Sie in diesem Zusammenhang geleistet haben!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Armut ist das Schlüs-
selproblem vieler unserer Partnerländer. Immer noch leben
1,2 Milliarden Menschen in absoluter Armut. Deshalb ha-
ben Armutsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit in
der Entwicklungspolitik der Bundesregierung einen beson-
deren Stellenwert. Wir haben dieses Thema daher immer
wieder in Zusammenarbeit mit anderen Ländern auf
internationalen Treffen angesprochen und konkrete Maß-
nahmen angeregt. Die erweiterte Entschuldungsinitiative
etwa ist ein überzeugendes Beispiel dafür, wie entschei-
dende Beschlüsse zur Bekämpfung der Armut auf globaler
Ebene initiiert, in konkrete Maßnahmen vor Ort umgesetzt
und wie die Erfolge der Initiative durch Einbeziehung aller
Akteure gefördert werden können. Die Initiative ist damit
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Carsten Hübner
15966
zugleich ein gelungenes Beispiel für die angestrebte Ver-
zahnung der verschiedenen Handlungsebenen.
Noch kein G-7-/G-8-Gipfel hat sich so intensiv mit
Fragen von Armut und Entwicklung beschäftigt wie der in
Okinawa im Juli letzten Jahres. Themen wie Armuts-
bekämpfung, Bekämpfung von Aids, Überwindung der
digitalen Kluft, Handel, Bildung sowie Entschuldung
wurden in das Abschlusskommuniqué aufgenommen. Ar-
mutsbekämpfung ist bei IWF, Weltbank und regionalen
Entwicklungsbanken zu einem prioritären Ziel geworden.
In der Schlusserklärung des Millennium-Gipfels der Ver-
einten Nationen im letzten September ist das Ziel der Ar-
mutsbekämpfung festgeschrieben worden. Damit steht
fest: Armutsbekämpfung ist eine gemeinsame Zukunfts-
aufgabe.
Von besonderem Gewicht ist dabei: Ohne die Entwick-
lung einer leistungsfähigen Wirtschaft ist die Verbesse-
rung der Lebensverhältnisse der Partnerländer nicht mög-
lich. Die Entwicklungspolitik trägt daher dazu bei, die
Wirtschaftskraft der Länder sozial ausgewogen und öko-
logisch nachhaltig zu stärken. Dazu setzen wir sowohl an
den nationalen als auch an den internationalen Rahmen-
bedingungen an.
Ich möchte das gerne an zwei Beispielen etwas kon-
kretisieren, und zwar zum einen am Beispiel des Welt-
handels und zum anderen an der Überwindung des digi-
tal divide, der digitalen Kluft.
Erstens. Die Bundesregierung hat sich in den ver-
schiedenen multilateralen Organisationen dafür einge-
setzt, dass globale Standards für den Welthandel ge-
schaffen bzw. weiterentwickelt werden. Sie tritt dafür ein,
dass dieses Thema in einer neuen Welthandelsrunde bera-
ten wird. Da die Frau Ministerin schon über die Ent-
wicklung des Welthandelssystems gesprochen hat, kann
ich mich hier etwas kürzer fassen. Der globale Ord-
nungsrahmen muss den nationalen Regierungen der Part-
nerländer genügend Spielraum lassen, angepasste eigene
wirtschaftliche Strategien zu formulieren und effiziente
Umweltpolitiken umzusetzen. Zugleich müssen die Ent-
wicklungsländer verstärkt technische Hilfe erhalten, um
sich in die WTO besser einbringen zu können.
Zweitens. Voraussetzung für die Integration in die glo-
bale Wirtschaft ist auch die Überwindung des digital
divide, der sozialen Kluft. Das heißt, es muss die Nut-
zung moderner Informationstechnologien, der Zugang
zum Internet sowie die Teilhabe und Mitwirkung an glo-
balen Informationsströmen und Kommunikationsnetzen,
ermöglicht werden. Es wird auch zu den Aufgaben der
Entwicklungspolitik gehören, die Partnerländer bei der
effizienten Nutzung moderner Kommunikationstechnolo-
gien zu unterstützen. Eine enge Kooperation mit der pri-
vaten Wirtschaft ist dabei aus unserer Sicht unerlässlich.
Die sich weiter verschärfende globale Armut ist ein
Schlüsselproblem im Rahmen der internationalen Bezie-
hungen. Zusammen mit der Umweltzerstörung stellt es
die größte Bedrohung des Weltfriedens dar. Der Zusam-
menhang von Armut, Umwelt und Frieden ist evident. Ar-
mut bedroht die menschliche Würde, verhindert die Ver-
wirklichung der Menschenrechte, insbesondere die von
Frauen und Kindern, verstärkt das Bevölkerungswachs-
tum, verschärft Flucht und Wanderungsbewegungen und
führt zu Konflikten um lebensnotwendige Ressourcen
wie etwa Wasser und Boden. Die Minderung von Armut
ist ein ethischer, politischer, sozialer, wirtschaftlicher und
ökologischer Imperativ und zielt darauf ab, die mensch-
liche Sicherheit durch den Schutz vor chronischen Bedro-
hungen wie Hunger, Unterdrückung und Krankheit zu er-
höhen. Deshalb ist und bleibt die Bekämpfung von Armut
Schwerpunkt unserer Entwicklungspolitik.
Wie die EU zu ihrer neuen Strategie der Entwick-
lungspolitik vom Herbst 2000 feststellt, besteht Armut
nicht nur im Mangel an finanziellen Mitteln, sondern auch
im fehlenden Zugang zu angemessener Ernährung, zu Er-
ziehung und Bildung, zu Gesundheitseinrichtungen, zu
natürlichen Ressourcen, zu Trinkwasser und Boden, zu
Beschäftigung und Zugang zu Krediten, zu Informationen
und politischer Mitwirkung, zu Dienstleistungen und In-
frastruktur. Eine der wesentlichen, jedoch nicht hinrei-
chenden Bedingungen für Armutsbekämpfung wird in ei-
nem nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstum gesehen.
Es ist von allergrößter Bedeutung, dass die Bundesre-
gierung ihren nationalen Aktionsplan zur Armutshalbie-
rung entschieden auf das gesamte Ursachengeflecht von
Armut und globaler wirtschaftlicher und sozialer Unge-
rechtigkeit ausrichtet und diesen Ansatz auch im multila-
teralen Bereich umsetzen will. Dazu gehört auch, dass die
Partnerländer selbst die notwendigen Eigenanstren-
gungen mit Blick auf gute Regierungsführung, Einhal-
tung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokra-
tie und den Aufbau tragfähiger Wirtschaftsstrukturen
erbringen.
Armutsbekämpfung ist ohne Beteiligung der Zivil-
gesellschaft, insbesondere der Frauen, nicht denkbar;
denn sie sind der Motor jeder Entwicklung. Deshalb muss
entwicklungspolitische Zusammenarbeit die Beteiligung
der Zivilgesellschaft fördern und dazu beitragen, dass die
Möglichkeiten von Frauen an der gleichberechtigten Ge-
staltung ihres Lebensumfelds und der Gesellschaften ge-
stärkt wird.
Ohne wirksame Entschuldung der ärmsten Länder
kann Armutsbekämpfung nicht erfolgreich sein. Die Bun-
desregierung hat sich für die Umsetzung einer Entschul-
dungsinitiative für die ärmsten und am höchsten verschul-
deten Länder eingesetzt. Wir wissen, dass das zügig
durchgeführt wird. Zur Armutsbekämpfung gehören
auch ein stabiles internationales Finanzsystem mit
transparenten Kapitalmärkten, mehr Wirtschaftsfairness
in den internationalen Beziehungen und offenere Märkte
bei Beachtung von ausreichenden sozialen und ökologi-
schen Normen im Arbeits- und Produktionsbereich. Die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Adelheid Tröscher
15967
Entwicklungshilfeministerin wird daher von uns aus-
drücklich ermuntert, den von ihr hier eingeschlagenen
Weg mit ihren internationalen Partnerinnen und Partnern
konsequent weiterzugehen.
Die Globalisierung verändert das Gesicht der Welt.
Wir müssen ihre Chancen nutzen und ihre Risiken
bekämpfen. Im 21. Jahrhundert wird Friedensfähigkeit
daran gemessen werden, inwieweit es der Menschheit ge-
lingt, den längst begonnenen Prozess globaler Integration
nachhaltig und menschenwürdig zu gestalten.
Dies ist eine Herausforderung an die Beteiligungs- und
Gestaltungsbereitschaft aller und sie gilt letztlich für alle
Politik- und Lebensbereiche.
Entwicklungspolitik trägt dazu bei, die Wirklichkeit zu
verändern. Sie selbst findet eine andere Wirklichkeit vor
als noch vor Jahren. Wir wissen, dass Entwicklungspoli-
tik als ausschließlich länder-, sektor- und projektdefi-
nierte Entwicklungshilfe keine ausreichenden Antworten
auf die veränderte Wirklichkeit mehr liefert. Entwick-
lungspolitik kann heute nicht mehr nur lokale, regionale
oder nationale Programm- und Projektarbeit sein. Sie
muss auch globale Strukturpolitik sein, das heißt, sich an
globaler Verantwortung orientieren. Dabei schreibe ich
Verantwortung groß.
Die Globalisierung ist so zu gestalten, dass sie dem
Wohl der Menschen dient, dass Armut und Hunger über-
wunden und Umweltschäden vermindert werden. Aber
das heißt auch, dass der globale Markt im Sinne einer
internationalen sozialen und ökologischen Marktwirt-
schaft so gestaltet wird, dass universelle Werte wie Frei-
heit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Chancengleich-
heit und Fairness, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit
und Verantwortung für andere nicht untergraben, sondern
als humane Rahmenbedingungen strikt und konsequent
beachtet werden.
Wenn wir Entwicklungspolitik so verstehen, dann ist
Entwicklungspolitik vorbeugende Friedenspolitik. Sie
trägt dazu bei, dass in den Entwicklungsländern Entwick-
lungen in Gang gesetzt und gestärkt werden, die men-
schenwürdig und demokratisch, ökonomisch, sozial und
ökologisch nachhaltig sind. Es gehört zur Verantwortung
des geeinten Deutschlands, sein Gewicht in Europa und in
der Welt für dieses Leitbild mit aller Kraft einzusetzen.
Ich danke Ihnen.
Als
nächster Redner hat jetzt das Wort der Kollege Klaus-
Jürgen Hedrich von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Recht wurde darauf
hingewiesen: Planwirtschaftliche Konzepte sind geschei-
tert. Aber der Marktwirtschaft stehen einige Bewährungs-
proben noch bevor, denn es darf durchaus gefragt werden,
welche Art dieses Systems sich durchsetzen wird, die ra-
dikale oder die soziale Form.
Indonesien führt drastisch vor Augen, welche extreme
Berg- und Talfahrt einem Entwicklungsland in einer sich
immer weiter globalisierenden Weltwirtschaft widerfah-
ren kann. Dieser Staat galt bis zur fernöstlichen Finanz-
krise als wirtschaftlich erfolgreiches Schwellenland, dem
hervorragende Zukunftsaussichten attestiert wurden. Und
doch verwandelten die durch das Umschwenken interna-
tionaler Finanzströme ausgelösten Turbulenzen es über
Nacht in ein von immensen wirtschaftlichen, politischen
und sozialen Problemen gekennzeichnetes Entwick-
lungsland mit einem rapide anwachsenden Armutspro-
blem. Viele Experten machen in erster Linie die dort seit
langem kritisierten Rahmenbedingungen in Form von
Korruption, Vetternwirtschaft und einem mangelhaften
Banken- und Finanzsystem für den Absturz verantwort-
lich. Richtig! Ich möchte aber auch mein Unbehagen nicht
verhehlen, denn die Industriestaaten als Lenker der Welt-
wirtschaft hätten durch rechtzeitige Etablierung eines in-
ternationalen Finanzordnungsrahmens einen massiven
Unfall wie den der fernöstlichen Krise vermeiden oder zu-
mindest abfedern können.
Internationale soziale Marktwirtschaft bedeutet eben
auch, effiziente Regulierungen, Überwachungsmechanis-
men, Rechenschaftsverfahren, Verhaltenskodizes und
Frühwarnsysteme zur Vermeidung gravierender Krisen
und zum Schutze der ansonsten gefährdeten Volkswirt-
schaften zu entwickeln. Ansonsten werden die Weltwirt-
schaft und das internationale Finanzsystem wie ein Fuß-
ballspiel ohne Schiedsrichter und ohne Regeln auf eine
Stadionschlacht mit Gewinnchancen nur noch für die
Stärkeren hinsteuern. Dies kann nicht in unserem Inte-
resse liegen.
Natürlich sind die Ursachen unterschiedlicher Natur.
Es ist auf die WTO hingewiesen worden. Man hat durch-
aus Verständnis dafür, dass sich das eine oder andere Ent-
wicklungsland gegen Sozial- und Umweltstandards
sträubt. Aber zu Recht spricht man heute von so genann-
ten defekten Reformen, also jenen Reformen, die auf hal-
bem Wege stecken bleiben und bei denen man sich fragt,
warum dies so ist. Die Reformen bleiben stecken, weil die
jeweiligen Machtcliquen des Entwicklungslandes gar
kein Interesse daran haben, dass Reformen wirklich zu-
gunsten der Menschen umgesetzt werden.
Frau Ministerin, Sie haben, wie ich finde, zu Recht auf
das Problem Aids hingewiesen. An dieser Stelle sollte
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Adelheid Tröscher
15968
man vielleicht einmal der Firma Boehringer einen Dank
für ihr Engagement in Südafrika sagen.
Aber ich weise auch darauf hin, dass natürlich auch hier
zuallererst die Eigenverantwortung unserer Partnerlän-
der gefordert ist. Solange Herr Museveni rund 800 Milli-
onen Dollar für Waffen ausgeben kann, kann dort nicht
nach internationaler Hilfe geschrien werden.
Die Konflikte über Globalisierung und ihre Symptome
werden nicht rasch überwunden werden. Der Davos-
Mensch, also das internationale Geschäfts- und Politik-
establishment, stehen dem Seattle-Menschen, also der or-
ganisierten Zivilgesellschaft und ihren Lobbyisten, gegen-
über, wie es Kumon von der International University of Ja-
pan ausdrückt. Was kann getan werden, um die destruktive
Konfrontation zu überwinden? Ohne Anspruch auf Voll-
ständigkeit möchte ich drei Bereiche nennen.
Erstens: Bildung. Wie im nationalen gilt auch im in-
ternationalen Bereich: Die Qualifizierteren werden stär-
ker an der Entwicklung teilhaben als die Ungebildeten.
Nicht nur Grundbildung, sondern vor allem Eliten sind
dringend erforderlich. Nur eine Nation mit einer hoch
qualifizierten Führerschaft in allen Bereichen hat Chan-
cen, im globalen Wettbewerb mitzuhalten.
Damit sind wir unter anderem bei der Wissenschafts-
kooperation. Ich meine, dass wir in dieser Hinsicht mehr
tun könnten. Deutschland wir haben darüber in einem
anderen Zusammenhang diskutiert muss ein Interesse
daran haben, dass es die Besten der Welt für attraktiv hal-
ten, zu uns zu kommen, in unserem Land zu studieren und
zu arbeiten. Dies ist nicht nur eine kulturelle Bereicherung
für unseren manchmal verengten Horizont, sondern es
liegt auch in unserem wirtschaftlichen Interesse.
Deutschland muss auch weltweit präsent sein. Ich
nenne als Beispiel für die Präsenz unseres Landes in der
Welt das Schanghai-Kolleg in China, das weitestgehend
durch die deutsche Wirtschaft finanziert wird. Der Unter-
richt dort wird übrigens überwiegend in Deutsch absol-
viert.
Zweitens: Märkte darauf ist hingewiesen worden
müssen sich weiter öffnen. Aber die Beschränkung auf die
klassischen Handelsströme greift zu kurz. Deshalb ver-
weise ich insbesondere auf die Bedeutung des Dienstleis-
tungssektors. In diesem Zusammenhang werden Versi-
cherungsmärkte und Versicherungssysteme von immer
größerer Wichtigkeit sein. Wenn sich unterprivilegierte
Bürger nicht an Vorsorgesystemen beteiligen können,
dann werden sie sich auf Dauer nicht aus dem Teufels-
kreis, der mit der Armut verbunden ist, befreien können.
Nun mag man zu Recht darauf verweisen, dass unsere
Strukturen auf die meisten Entwicklungsländer schlech-
terdings nicht übertragbar sind. Von der Übertragung un-
serer Fehlentwicklungen ist sowieso abzuraten. Die meis-
ten unserer Partnerländer wären bei einem solchen
Vorgehen auch administrativ überfordert. Ich denke vor
allem an kommunale Versicherungssysteme. Eine Studie
des Zentrums für Entwicklungsforschung in Bonn ver-
weist auf interessante Beispiele in Ghana und im Senegal.
Damit bin ich bei meinem dritten Punkt: Dezentrali-
sierung. Entwicklungspolitik konzentriert sich derzeit zu
sehr auf die globale Ebene und unterbewertet lokale Lö-
sungen.
Der Ruf nach besserer globaler Governance ist bestenfalls
die halbe Lösung. Die andere, die bessere Hälfte ist De-
zentralisierung. Joachim von Braun formuliert es so: De-
zentralisierung ist nicht nur ein paralleler Trend zur Glo-
balisierung, sondern wird von ihr zum Teil hervorgerufen.
Dies gilt im Hinblick auf die Anreize für bessere Handels-
und Steuerpolitiken genauso wie für die Rechts- und So-
zialpolitiken. Von Braun hebt hervor, dass politische De-
zentralisierung mit demokratischen Wahlen auf der loka-
len Ebene positive Effekte für die Armutsbekämpfung
hat. Wo es lokale Fiskal- und Entscheidungsautorität gibt,
dort geht es den Armen besser. Die Einbeziehung der Bür-
gergesellschaft ist in diesem Zusammenhang von essenzi-
eller Bedeutung.
Delegation der Verantwortung von oben nach unten,
ergänzt durch das Prinzip der Subsidiarität, ist das Lebens-
elixier sozialer Marktwirtschaft. Das Ausmaß von Akzep-
tanz eines marktwirtschaftlichen Systems ergibt sich aus
dem Maßstab der Gerechtigkeit. Insofern ist die soziale
Marktwirtschaft in der Tat ein Ordnungssystem. Gesell-
schaftliche, soziale und politische Verhältnisse müssen
die Menschen als gerecht betrachten und empfinden.
Frau Ministerin, lassen Sie mich hier ein Wort zu Ihrem
Aktionsprogramm 2015 sagen. Das mag man zwar als
richtig und auch als lobenswert betrachten; aber es war
zutiefst enttäuschend: nichts Neues, nichts Konkretes. Sie
haben weder gestern in der Regierungsbefragung noch
heute etwas darüber gesagt, welche Vereinbarungen Sie
über den Aufwuchs des Einzelplans 23 mit dem Finanz-
minister getroffen haben.
Sie haben nichts darüber gesagt, welche Zusagen des
Wirtschaftsministers Sie für die Öffnung deutscher und
europäischer Märkte haben. Sie haben nichts darüber ge-
sagt, welche Vereinbarungen Sie mit der neuen Landwirt-
schaftsministerin über den möglichen Abbau von
Agrarsubventionen getroffen haben.
Im Gegenteil: Die Repräsentanten von IWF und Welt-
bank, Köhler und Wolfensohn, haben der Bundesregie-
rung bei der Anhörung in Berlin am letzten Montag deut-
lich ins Stammbuch geschrieben: Auch Deutschland
damit die von Ihnen vertretene rot-grüne Bundesregie-
rung hält seine Zusagen für einen weiteren Aufwuchs
der öffentlichen Entwicklungshilfe nicht ein. Sie haben
sogar das Gegenteil getan. Wenn Sie hier schon ein großes
Verdienst für sich in Anspruch nehmen: Werden Sie kon-
kret, dann sind Sie glaubwürdiger!
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Klaus-Jürgen Hedrich
15969
Nur wenn auch die Schwächeren einer Gesellschaft an
den Früchten von Wohlstand, Freiheit und Rechtsstaat-
lichkeit partizipieren auf diesen Punkt habe ich schon
hingewiesen; ich habe den Eindruck, dass wir darin
übereinstimmen , kann man von einer langfristigen inne-
ren und äußeren Stabilität eines Landes ausgehen. Insofern
kann die soziale Marktwirtschaft auch einen Beitrag zu ei-
ner friedlicheren Weltordnung von morgen leisten.
Herzlichen Dank.
Das Wort
hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Uschi Eid.
Dr
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her-
ren! CDU/CSU und F.D.P. müssten eigentlich erst einmal
sagen, was sie wollen; denn der Ministerin wird zum ei-
nen vorgeworfen, sie handele nicht global genug, und zum
anderen, sie handele nicht konkret genug. Daran kann
man erkennen, dass es Ihnen nur um Polemik geht.
Ich möchte mich dem zweiten Thema der heutigen De-
batte zuwenden. 70 Prozent der Bevölkerung in den Ent-
wicklungsländern leben von der Landwirtschaft. Deshalb
müssen wir uns der Frage stellen: Welche Auswirkungen
hat die Globalisierung, dieser höchst vielschichtige und
komplexe Prozess, auf die Menschen in unseren Partner-
ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika? Wir müssen
die Chancen der Globalisierung aufspüren und sie in Vor-
teile verwandeln, dabei aber gleichzeitig die Nachteile
dieses Prozesses minimieren.
Die Ausgangsbedingungen in der Landwirtschaft in
den Entwicklungsländern sind für den größten Teil der
Menschen dort auch jenseits der Globalisierungsprozesse
so ungünstig, dass es selten für mehr als die Erwirtschaf-
tung des zum Leben Notwendigen reicht. Armut, Unter-
beschäftigung sowie medizinische und schulische Unter-
versorgung sind gerade in ländlichen Regionen weit
verbreitet. 1996 hat die internationale Staatengemein-
schaft auf dem Welternährungsgipfel in Rom beschlos-
sen, den Anteil der Menschen, die unter Hunger und Un-
terernährung leiden, bis zum Jahre 2015 zu halbieren.
Damals gab es 840 Millionen Menschen, die täglich we-
niger zu essen hatten, als es zur körperlichen und geisti-
gen Gesunderhaltung nötig wäre.
Die jetzige Bundesregierung nimmt im Gegensatz zur
Vorgängerregierung das möchte ich hier betonen diese
Verpflichtung sehr ernst. So hat das BMZ mit dem derzeit
laufenden Themenjahr Welternährung der Ernährungs-
sicherung und der Landwirtschaft einen besonders hohen
Stellenwert eingeräumt:
Vor kurzem trafen sich in unserem Hause auf unsere Ein-
ladung internationale Experten mit dem UN-Menschen-
rechtskommissariat und besprachen Schritte zur Umset-
zung des Menschenrechts auf Ernährung. Vor zwei
Wochen konnte ich eine internationale Tagung zu dem sehr
sensiblen Thema Zugang zu Land auch das steht heute
zur Debatte in Bonn eröffnen. Experten aus 20 Ländern
unterstrichen am Ende dieser Tagung in einer gemeinsa-
men Erklärung die Bedeutung von Agrarreformen und ge-
sicherten Landnutzungsrechten als Grundvoraussetzung
für eine nachhaltige Nahrungsmittelproduktion.
Eines ist bei all unseren Beratungen deutlich gewor-
den: Eine diversifizierte und wettbewerbsfähige Agrar-
wirtschaft, eine Agrarmarktpolitik zugunsten kleinbäuer-
licher Erzeugerinnen und Erzeuger, eine Agrarpolitik, die
die nachhaltige Bewirtschaftung und den schonenden
Umgang mit Boden und Wasser befördert, eine Agrarre-
form, die langfristig gesicherte Eigentums- und Landnut-
zungsrechte ermöglicht, die Schaffung eines Finanzwe-
sens, das Kleinbäuerinnen und Kleinbauern Zugang zu
Agrarkrediten gewährt, der Aufbau einer sozialen und
wirtschaftlichen Infrastruktur im ländlichen Raum, eine
Agrarforschung, die sich an den Bedürfnissen der Bäue-
rinnen und Bauern orientiert all dies sind notwendige
Voraussetzungen, um die Chancen der Globalisierung
nutzen zu können.
Parallel dazu muss der Agrarprotektionismus der Indus-
trieländer abgebaut und müssen unsere Märkte für die
Produkte aus Entwicklungsländern geöffnet werden. Wir
alle wollen dies; es besteht in diesem Punkt eine große Ei-
nigkeit, wie ich den Ausführungen von Herrn Merz und
Herrn Rexrodt entnehmen konnte. Der Unterschied ist,
dass Sie den Protektionismus 16 Jahre aufgebaut und mit-
getragen haben und wir diejenigen sind, die ihn jetzt ab-
bauen.
In der EU ist vor kurzem der erste Schritt gemacht wor-
den, indem alle Zölle für Produkte aus den ärmsten Ent-
wicklungsländern mit Ausnahme von Reis, Zucker und
Bananen abgeschafft worden sind. Dies ist ein Erfolg
dieser Bundesregierung.
Beim Agrarhandel und bei den Fragen zu geistigen Ei-
gentumsrechten, zum Beispiel bei den TRIPS, ist es
natürlich erforderlich, dass in den Verhandlungen der
WTO die besondere Situation der Entwicklungsländer,
speziell bei der Ernährungssicherung, berücksichtigt
wird.
Deshalb fordern wir substanzielle Schritte im Zuge der
Vorbereitung der neuen WTO-Runde. Der Marktzugang
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Klaus-Jürgen Hedrich
15970
der Entwicklungsländer vor allem bei konkurrierenden
Produkten muss verbessert werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal betonen,
dass unsere Partnerländer im Süden eine solide Wirt-
schaftspolitik verfolgen müssen, wenn sie den eigenen
Bürgerinnen und Bürgern eine gesicherte Ernährung bie-
ten und darüber hinaus international wettbewerbsfähig
werden wollen. Wir aus den Industrieländern unterstützen
sie dabei.
Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat jetzt der Kollege Joachim Günther
von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Bundestags-
fraktion begrüßt es, dass es der WTO-Delegation in Genf
am 27. März gelungen ist, sich auf eine Tagesordnung für
die Verhandlungen über den Abbau von Hemmnissen im
Agrarbereich zu einigen. Aber diese Einigung kann nicht
darüber hinwegtäuschen, dass sich die Voraussetzungen
für eine umfassende neue Welthandelsrunde nicht verbes-
sert haben. Die Differenzen, die im Dezember 1999 zu
dem Fiasko von Seattle geführt haben, sind noch immer
nicht ausgeräumt.
Nach unserer Meinung sind Freihandel und Investi-
tionen die besten Entwicklungshelfer. Freihandel und die
Mobilisierung von Investitionskapital haben schon heute
einen erheblich höheren Stellenwert als alle öffentliche
Entwicklungshilfe zusammengenommen. Entscheidend
für die Entwicklungschancen der Partnerländer ist die
Teilnahme am freien Welthandel.
Insofern ist die Entscheidung der Europäischen Kom-
mission, Handelshemmnisse für Agrarexporte aus den
ärmsten Ländern abzubauen, ein erster richtiger Schritt,
aber eben nur ein erster Schritt.
Das entwicklungspolitische Potenzial ist bei weitem
noch nicht ausgeschöpft. Nach wie vor sind insbesondere
die entwicklungsrelevanten Sektoren wie Landwirtschaft
und Textil von Handelshemmnissen betroffen. Nach
Expertenmeinung würde eine weitere Liberalisierung des
Welthandels bis zum Jahr 2005 zu zusätzlichen Export-
einnahmen von 700 Milliarden Dollar für die Entwick-
lungsländer führen. 700 Milliarden Dollar was ist dage-
gen manchmal die Diskussion über unseren Haushalt?
Die Liberalisierung des Agrarmarktes ist nicht nur ein
Gebot entwicklungspolitischer Vernunft. Auch im transat-
lantischen Bereich haben die Europäer hier eine Bring-
schuld. Wie hartnäckig der neue US-Präsident seine Ziele
verfolgt, hat der Bundeskanzler erst letzte Woche erfah-
ren. Das vorrangige Ziel der neuen US-Administration
für die nächste Welthandelsrunde ist die Liberalisierung
der Agrarmärkte.
Deshalb ist es wichtig, dass wir uns konsequent darauf
vorbereiten. Ebenso ist wichtig, dass vorher Zugeständ-
nisse kommen, Frau Ministerin. Denn bisher haben einige
WTO-Mitglieder signalisiert, dass sie in Katar nicht
teilnehmen werden, wenn es im Agrarbereich nicht zu
neuen Regelungen kommt.
In einem beeindruckenden Statement hat Dr. Horst
Köhler am Montag dieser Woche hier in diesem Haus Fol-
gendes gesagt:
Der wahre Glaubwürdigkeitstest für die Industrielän-
der, Armut zu bekämpfen, liegt für mich in ihrer Be-
reitschaft zur Marktöffnung gegenüber den armen
Ländern und in der Einhaltung von Versprechungen
der staatlichen Entwicklungshilfe.
Und weiter:
Es ist ein politischer und wirtschaftlicher Irrsinn,
dass in den OECD-Ländern 360 Milliarden Dollar
jährlich für Agrarsubventionen aufgewendet werden,
während gleichzeitig in den Entwicklungsländern
die Armut vor allem in den landwirtschaftlichen Re-
gionen besonders ausgeprägt ist.
Bei der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit
sollte daher der Förderung der Landwirtschaft Priorität
eingeräumt werden. Dabei sollte der besondere Schwer-
punkt auf die Stärkung der Kapazitäten in den Partner-
ländern gelegt werden. In unserem vorliegenden Antrag
fordern wir daher die Bundesregierung auf, auf mehr
Kohärenz zwischen Entwicklungs-, Agrar- und Handels-
politik zu achten und sich gleichzeitig für die Verbesse-
rung des Marktzuganges für landwirtschaftliche Produkte
aus den Entwicklungsländern einzusetzen.
Ein ganz wichtiger Faktor für die landwirtschaftlichen
Produktionsstrukturen in den Entwicklungsländern sind
gesicherte Bodenbesitzverhältnisse bzw. langfristige Nut-
zungsrechte für die Landwirte. Dass diesem Thema vor
allem in den Entwicklungsländern wenig Beachtung ge-
schenkt wird, hat erst vor kurzem das Beispiel Namibia
deutlich gemacht. Das Modell Simbabwe würde uns in
keiner Weise voranbringen.
Die Bundesregierung hat angekündigt, Beratung bei
der Landreform zu einem Schwerpunkt ihrer Politik zu
machen eine bloße Ankündigung, Ergebnisse habe ich
noch nicht gesehen. Es ist ja auch bemerkenswert, dass
die Koalitionsfraktionen heute ihre eigene Regierung in
den vorliegenden Anträgen auffordern, den Agrarrefor-
men einen höheren Stellenwert zu geben, die Umsetzung
von Aktionsplänen der Weltkonferenzen kritisieren und
eine zügige Umsetzung der Beschlüsse der Weltkonferenz
über Agrarreform einfordern.
Im Zuge der WTO-Verhandlungen wird immer deutli-
cher, dass es eine Verknüpfung von europäischer Agrar-
politik und Entwicklungspolitik gibt. Aus unserer Sicht ist
das ein zusätzliches Argument dafür, eine viel engere ent-
wicklungspolitische Zusammenarbeit zwischen den EU-
Staaten herbeizuführen. Dazu besteht die Chance; sie
muss allerdings in den nächsten Tagen wirklich konse-
quent genutzt werden.
Herzlichen Dank.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid
15971
Als
nächste Rednerin hat jetzt die Kollegin Ulla Lötzer von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ja, die Wahrheit ist konkret, wie
Frau Ministerin heute Morgen sagte, gerade auch in Be-
zug auf das Aidsproblem. Einen Hoffnungsschimmer für
viele Aidskranke gibt es, weil in Indien mittlerweile ein
wirkungsvoller Aidscocktail aus der Entschlüsselung der
Bestandteile entwickelt wurde. Mit einheimischen Er-
zeugnissen produziert kostet er pro Patient 350 bis
600 Dollar pro Jahr. Diese Entwicklung und infolge des-
sen die heute Morgen erwähnten ersten Zugeständnisse
der Pharmakonzerne waren nur möglich, weil Indiens Ge-
setze entgegen den WTO-Regelungen die Patentierung
von Medikamenten nicht erlauben.
Inzwischen ist Indien der WTO beigetreten und soll seine
Patentgesetze bis 2005 den WTO-Regelungen anpassen.
Die Einführung des Patentschutzes ist gegen den er-
bitterten Widerstand der Entwicklungsländer in der Uru-
guay-Runde durchgesetzt worden. Seit langem haben sich
die Pharmakonzerne dafür eingesetzt. In dem Prozess von
40 Pharmakonzernen gegen Südafrika geht es um Leben
oder Tod von Millionen, tatsächlich um die Alternative
Leben oder Riesengeschäfte der Pharmakonzerne. Die
WTO-Regelung schützt die Pharmakonzerne.
Ich schließe mich mit meiner Fraktion dem Appell der
Ministerin von heute Morgen an. Darüber hinaus fordern
wir als Konsequenz endlich eine Evaluierung der Ergeb-
nisse der Uruguay-Runde hinsichtlich ihrer sozialen, ge-
sundheitlichen und ökologischen Folgen und ihrer Aus-
wirkungen auf die Menschenrechte. Die EU hält,
unbeeindruckt von allen Erkenntnissen, an der Forderung
nach einer umfassenden WTO-Runde fest; hiermit würde
die Ausweitung des Patentschutzes einhergehen.
Mit der im Dezember neu vorgelegten Strategie bean-
sprucht die EU-Kommission, auf das Scheitern in Seattle
angemessen reagiert zu haben. Über Investitionen und
Wettbewerb soll zwar im Rahmen der Runde weiter ver-
handelt werden; die Ergebnisse der Verhandlungen sollen
jedoch nicht für alle WTO-Mitglieder verpflichtend sein.
Es wird gesagt, dass man damit auf die Bedenken der Ent-
wicklungsländer eingehe. Doch diese Vorgehensweise
minimiert die Verhandlungsposition der Entwicklungs-
länder; denn die Kommission machte gleichzeitig deut-
lich, dass die Investoren genügend Druck auf nicht unter-
zeichnende Staaten ausüben könnten, dem Abkommen
doch noch beizutreten.
Der viel zitierte Druck der Märkte, der Sachzwang der
Globalisierung wird hier erneut bewusst politisch produ-
ziert. Ein möglicher gemeinsamer Widerstand wie gegen
das MAI zersplittert in Einzelauseinandersetzungen um
die Unterzeichnung.
Erst recht geht der Ansatz nicht auf die Forderung ein,
ein multilaterales Investitionsabkommen nur unter dem
Dach der UNO zu verhandeln. Nur so ist zu gewährleis-
ten, dass soziale, ökologische und entwicklungspolitische
Regulierungsinteressen gestärkt werden.
Auch die Auseinandersetzung um Sozialstandards
wird in der EU-Strategie in ein Arbeitsforum mit der ILO
verschoben. Liberalisierung sofort und weiter gehend, so-
zialer Schutz, Demokratie und Gesundheit später oder
nie dies zieht sich wie ein roter Faden durch die EU-
Strategie.
Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, soll in Katar
verhandelt werden. Große Demonstrationen wie in Seattle
sollen die Verhandlungen nicht stören, auch wenn es
NGO-Vertretern ermöglicht werden soll einzureisen.
Doch Bewegung für soziale, ökologische und auch ent-
wicklungspolitische Interessen lässt sich nicht länger aus-
sperren. Das sollten Sie aus Seattle gelernt haben.
Im Gefolge von Seattle hat in Porto Alegre ein Prozess
begonnen. Unter dem Motto Eine neue Welt ist möglich
werden Alternativen entwickelt und in die weltweite Aus-
einandersetzung eingebracht, ob nun in Katar demons-
triert werden kann oder nicht. Setzen Sie sich doch end-
lich damit ernsthaft auseinander und stoppen Sie die
WTO-Runde! Wenn es Ihnen mit der Armutsbekämp-
fung wie es heute Morgen so oft gesagt wurde Ernst
ist und das nicht nur ein weiteres Glaubensbekenntnis in
diesem Saal sein soll, dann sollte sich die Ministerin dafür
einsetzen. Das wäre im Interesse der Entwicklungsländer
wie auch der Mehrheit der Menschen in den Industrielän-
dern tatsächlich notwendig.
Danke.
Als
nächste Rednerin hat jetzt die Kollegin Dagmar Schmidt
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kaum war die alte Re-
gierung abgewählt, haben sich wackere Entwicklungspo-
litiker und Entwicklungspolitikerinnen der CDU/CSU ans
Werk gemacht und unserer Regierung einen umfangrei-
chen Fragenkatalog präsentiert. Der Titel Ihrer Anfrage
könnte übrigens aus alter sozialdemokratischer Feder
stammen. Das lässt mich hoffen, meine Damen und Her-
ren von der Opposition, dass Sie vielleicht doch den
Schulterschluss mit allen in der Entwicklungspolitik En-
gagierten suchen. Allerdings entwickelt sich die Sozial-
demokratie ständig weiter.
Sie zeigt besonders mit ihrer globalen Verantwortung,
dass das Wechselspiel der wirtschaftlichen Kräfte nicht
nur die soziale Verantwortungsebene, sondern auch die
ökologische und die politische mit einbezieht. Das ist Fakt
und das zieht sich wie ein roter Faden durch den vorlie-
genden Antwortenkatalog.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 200115972
Im Auftrag der Menschen in Deutschland tragen wir
diese globale Verantwortung. Aus Verantwortung für die
Mehrheit der Menschen der Welt, nämlich für die 80 Pro-
zent Armen, bin ich Ihnen dankbar, meine Damen und
Herren von der Opposition, für die Gelegenheit der heuti-
gen Debatte, da Sie es ja sonst vorziehen, zu dieser De-
battenzeit über unsere Minister herzuziehen.
Worum geht es heute? Es geht um den Zusammen-
hang von Entwicklung und Globalisierung. In diesem
Kontext gesehen, ist Armut in vielen Teilen der Welt eine
riesige Herausforderung. Entwicklungszusammenarbeit
muss die institutionellen und infrastrukturellen Vorausset-
zungen für die Verbesserung der Lebensgrundlagen aller
Menschen stärken. In der europäischen Gemeinsamen
Erklärung heißt es:
Die Liberalisierung des Handels und der Investitio-
nen in den Entwicklungsländern muss sich in einem
Rhythmus vollziehen, der der Anfälligkeit ihrer
Volkswirtschaften Rechnung trägt.
Darum geht es im Kern und darum kümmert sich unsere
Ministerin im kritischen Dialog mit IWF und Weltbank,
aber nicht in Bullerkopf-Manier.
Wie kann man der Krisenanfälligkeit der Volkswirt-
schaften gerade der armen Staaten Rechnung tragen? Mit
Handelsregeln allein sicherlich nicht. Eine wesentliche
Voraussetzung für eine gerechte Marktteilhabe ist der Zu-
gang zu Ressourcen, vor allem zu Bildung, zu Wissen, zu
neuen Technologien.
Wir arbeiten an der Überwindung der digitalen Kluft.
Uns geht es nicht darum, den Prozess der Globalisierung
an den Pranger zu stellen. Es geht uns darum, diesen Pro-
zess fair, sozial und umweltverträglich zu gestalten. Mit
Kofi Annan sage ich: Wenn wir es nicht schaffen, dass alle
von der Globalisierung profitieren, wird am Ende nie-
mand davon profitieren können.
Die globalen Probleme, die wir heute nicht angehen,
landen morgen vor unserer Haustür. Noch profitieren wir,
wir, die Menschen in den reichen Ländern, und die armen
bleiben am Rande zurück, vor allem afrikanische Staaten.
Vom Wegfall von Handelsbarrieren haben allenfalls
einzelne Schwellenländer profitiert.
Und doch müssen hier auch Fragen erlaubt sein: Ers-
tens. Wer hat in diesen Ländern profitiert? Zweitens. Wie
lange? Drittens. Wann holen uns solche regionalen Fi-
nanzkrisen ein? Die gewaltigen Probleme der armen Län-
der schreien nach Lösungen. Sie dürfen uns nicht kalt las-
sen nach dem Motto: Was kümmert es mich? Erst ich, und
das, bitte schön, sofort, dann eine ganze Zeit gar nichts
und nach mir die Sintflut.
Fehlende Rechtssicherheit, ineffizientes Bankenwe-
sen, fehlende Haushaltstransparenz, mangelhafte Partizi-
pation und Korruption alles lange bekannt, auch bei Ih-
nen, als Hemmnisse für Entwicklung. Aber wer hat denn
zum Beispiel in puncto Korruption die Abschreibungs-
möglichkeiten für so genannte nützliche Aufwendungen
abgeschafft? Wir doch, gleich 1999!
Meine Damen und Herren von der Union, Sie wollen
sich damit trösten, in den Entwicklungsländern werde in
zunehmendem Maße investiert. Darin sehen Sie ein Indiz
für den Nutzen aus der Globalisierung dieser Länder. Das
Globalisierungsgeschehen spielt sich jedoch in der
Hauptsache zwischen den Industrieländern ab.
Unsere Bundesregierung hat die notwendigen Schlüsse
aus dieser Entwicklung gezogen. Sie setzt verstärkt auf
ein neues Instrument der Entwicklungszusammenarbeit:
auf die Partnerschaft mit der Wirtschaft. Wir brauchen
diese neuen Allianzen, neue Allianzen für Menschen-
rechte, menschenwürdige Arbeitsbedingungen, nachhalti-
gen Umweltschutz und soziale Verantwortung. Das alles
gehört untrennbar zusammen. Das alles erfordert eine
Wirtschaft, die Wirtschaftsethik als Pluspunkt im Wettbe-
werb anerkennt.
Für die nächste Welthandelsrunde wollen wir nach wie
vor daran festhalten, dass Sozial- und Umweltstandards in
die Verhandlungen einbezogen werden. Aber an dieser
Stelle treffen wir oft auf den Vorwurf des Protektionis-
mus. Sind denn das wirklich Schutzvorkehrungen gegen
Produkte aus den armen Ländern oder sind es nicht eher
Schutzvorkehrungen für die Armen in den Ländern?
Die politischen Eliten und die Wirtschaftskräfte müs-
sen akzeptieren, dass man den globalen Anschluss nicht
mit Sklaven-, Zwangs- oder Kinderarbeit findet. Sie müs-
sen begreifen, dass man den Anschluss verpasst, wenn
man weiter an unzumutbaren Arbeits- und Umweltbedin-
gungen festhält. Nachhaltigkeit erreicht man also nicht
ohne Veränderungen im sozialen und ökologischen Be-
reich. Diese Erkenntnis hat nichts mit Protektionismus zu
tun. Da, wo dies in der Produktion beachtet wird, müssen
die Europäer den Waren der Entwicklungsländer die
Märkte öffnen. Unsere Regierung kämpft dafür, dass sich
diese Einsicht in Europa durchsetzt.
Aber geht es nur um Handelsfragen? Bedeutet Globa-
lisierung nicht mehr als das? Zur Bekämpfung der Armut
in den Entwicklungsländern ist es nötig, vor allem der
Rolle der Frauen als Schlüssel der Entwicklung weiter-
hin mehr und mehr Beachtung zu schenken.
Ihre Teilhabe an Bildungs- und Gesundheitsprogrammen,
ihr Zugang zu Krediten, die Verbesserung ihrer Rechte
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dagmar Schmidt
15973
schlechthin, das ist unsere permanente Querschnittsauf-
gabe.
Alles in allem: Ökonomische Entwicklung ist nur dann
nachhaltig, wenn sie sozial und umweltbewusst ist und
wenn sie unter gerechter politischer Teilhabe aller Betrof-
fenen abläuft. Der Bezug Ihrer Anfrage allein auf den so-
zialen Aspekt reicht uns schon lange nicht aus.
Dass sich seit 1960 die Schere zwischen Arm und
Reich in dieser Welt weiter geöffnet hat, nehmen Sie
1999, nach einem Jahr in der Opposition, zum Anlass Ih-
rer Anfrage. Ein bisschen spät für Ihre Glaubwürdigkeit!
Zu Ihrem Fragenkatalog muss ich eines feststellen: Sie
haben vor 1998 nicht genug getan. Seit dem rot-grünen
Machtwechsel gibt es eine ganzheitliche Lösungsstrate-
gie, die sich in den unterschiedlichsten Ressorts
wiederfindet. Es gibt einen Unterausschuss Globalisie-
rung beim Auswärtigen Ausschuss, eine eigene Arbeits-
gruppe zur Nachhaltigkeit, den Rat für nachhaltige Ent-
wicklung beim Bundeskanzler, übrigens auch das neue
Aktionsprogramm der gesamten Regierung, eine En-
quete-Kommission zum Thema Energie und eine En-
quete-Kommission zum Thema Globalisierung der
Weltwirtschaft.
Ich finde es übrigens traurig, dass Sie von der Opposi-
tion in diese Kommission keine Entwicklungspolitiker
geschickt haben. Dies ist eine Kommission, in der Politik
und Wissenschaft gemeinsam den Auftrag bearbeiten,
nach Antworten auf die wichtigsten Fragen zur Globali-
sierung zu suchen.
An alledem zeigt sich, dass unsere Politik nicht bera-
tungsresistent ist und ressortübergreifend arbeitet.
Wir halten Beratungen für wichtig. Wir halten darüber
hinaus für wichtig, neben Experten aus der Wissenschaft
Repräsentanten der kleinen und mittleren Unternehmen,
der Nichtregierungsorganisationen, der Gewerkschaften
und der Kirchen sowie das möchte ich betonen Wis-
senschaftlerinnen bei unseren Beratungen dabeizuhaben.
Das beweist, dass bei uns ein ganzheitlicher, vernetzender
Ansatz aller Politikressorts besteht: die Suche nach neuen
Allianzen.
Die Risiken der Globalisierung sind erkannt. Ihre
Chancen werden untersucht und genutzt, auch und vor al-
lem zur Verwirklichung des Rechts aller Menschen auf
Entwicklung.
Schönen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Christian Ruck von der
CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Christian Ruck (von Abgeordneten
der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gegenstand der
heutigen Debatte ist die Frage, ob die internationale so-
ziale Marktwirtschaft auch der Situation der Entwick-
lungs-, Schwellen- und Transformationsländer zugute
kommt. Das sind nämlich die Länder, in denen heute be-
reits 90 Prozent der Kinder dieser Welt geboren werden.
Ich kann mich mit vielem einverstanden erklären, was
gesagt wurde; nur mit einem nicht, nämlich dass gesagt
wurde, wir dürften nach dem Regierungswechsel die jet-
zige Regierung nicht mehr dazu befragen, was sie
entwicklungspolitisch tut. Frau Schmidt, so weit geht die
Übereinstimmung nicht.
Nun aber zunächst zu dem, was uns verbindet, nämlich
die Erkenntnis, dass trotz mancher Lichtblicke und unbe-
strittener Erfolge in den letzten Jahrzehnten die Lage in
vielen dieser Länder Anlass zur Besorgnis gibt, dass die
weltweite Liberalisierung und Globalisierung den meis-
ten Menschen in der überwiegenden Zahl dieser Länder
bisher zu wenig geholfen hat und dass die zunehmende
Verflechtung der Weltwirtschaft mit einem weiteren
Auseinanderdriften zwischen armen und reichen Län-
dern, aber auch mit einer wachsenden Kluft innerhalb die-
ser Länder einherging.
Zwar weisen die Entwicklungsländer, die sich der
Weltwirtschaft stärker geöffnet haben darauf wurde
hingewiesen , eine größere Wachstumsdynamik aus.
Aber dies beschränkt sich zurzeit leider noch auf zu we-
nige Entwicklungsländer. Diese fehlende soziale und öko-
logische Balance in der Weltwirtschaft ist ein Sprengsatz,
der für uns alle, auch für die Industrieländer, gefährlich
werden kann.
Damit komme ich natürlich zwangsläufig auf die in-
ternationale soziale Marktwirtschaft zu sprechen; denn
die soziale Marktwirtschaft ist in ihrem Kern einerseits
auf Dynamik und andererseits auf Balance ausgerichtet.
Wohlstand für alle war ja das berühmte Stichwort von
Ludwig Erhard, und zwar nicht in Form einer sozialen
Hängematte, sondern durch Hilfe und Freiheit zur Selbst-
hilfe. Diese Vorstellung stellt eine klare Abgrenzung ei-
nerseits zum Sozialismus und anderseits zum Manches-
ter-Kapitalismus dar. In dem einen System wurde die
Freiheit zur Entwicklung unterbunden und in dem ande-
ren System haben zu viele Menschen keine Chance, mit
dieser Freiheit etwas anzufangen.
Deswegen müssen wir sowohl als Entwicklungspoliti-
ker als auch als Bürger des Vorzeigestaates mehr und stär-
ker Flagge zeigen für die soziale Marktwirtschaft. Ich
glaube, dass wir das in den letzten Jahren zu behutsam
und zu zögerlich getan haben, zum Beispiel auch das
sage ich ganz offen gegenüber dem Ansturm der so ge-
nannten Chicago-Boys auf die Transformationsländer,
wo die Beratungserfolge aus meiner Sicht teilweise zu ei-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dagmar Schmidt
15974
ner Art politischem Desaster geführt haben. Sie haben
zwar viel Dynamik erzeugt,
provozierten aber letztendlich wegen der fehlenden poli-
tischen Rahmenbedingungen wachsende soziale und öko-
nomische Ungleichgewichte.
Wir wollen dem in einem friedlichen, aber entschlos-
sen geführten Wettstreit unsere soziale Marktwirtschaft
entgegenhalten als eine Ökonomie der Balance. Das be-
deutet, dass wir natürlich die Freihandelsziele der WTO
unterstützen, aber nicht als Bühne für Wildwest-Metho-
den, sondern mit einem vernünftigen sozialen und ökolo-
gischen Grundkonsens, und dass wir auch einen klaren
Blick dafür bewahren müssen, welche Hilfestellungen ge-
rade die ärmeren Länder für ein allmähliches Einklinken
in die Weltwirtschaft brauchen. Sie brauchen nämlich
zum Beispiel erst einmal Hilfestellung beim Aufbau re-
gionaler Märkte oder eine effiziente Unterstützung beim
Aufbau eines tatsächlich funktionierenden öffentlichen
Sektors mit Qualität und auch mit einer Bezahlung, die
die Justiz, das Schulwesen, den Zoll, die Polizei usw.
nicht mehr so korruptionsanfällig macht. Sie brauchen
Unterstützung natürlich auch durch eine schrittweise Öff-
nung unserer Märkte für Produkte aus dem Süden und
Osten.
Nur so haben wir dann auch das Recht, von den Ent-
wicklungs- und Schwellenländern soziale und umweltpo-
litische Mindeststandards im Welthandel einzufordern.
Dazu gehört natürlich auch das sage ich ganz klar eine
weitere Entschuldung. Wir unterstützen ja alle geeigneten
Initiativen. Aber wenn Sie sagen, HIPC-Hilfen seien die
große Nummer und müssten zügig vorangetrieben wer-
den, dann trifft das das müssen Sie auch selber wissen
nicht zu. HIPC stoppt, und das aus vielerlei Gründen.
Weil Sie betont haben, die Wahrheit sei immer konkret:
Es ist nun einmal so, dass Ihre Armutsbekämpfung und
Ihr großes Programm bisher heiße Luft sind und nichts an-
deres,
dass aber die Kürzungen im BMZ-Haushalt ganz konkret
auf Mark und Pfennig erfolgt sind. Deswegen sagen auch
wir: Wahrheit ist immer konkret.
Wir sind dafür, dass der BMZ-Haushalt wieder aufge-
stockt wird. Wir sind auch für eine weitere Entschuldung,
weil wir dann eine politische Gegenleistung von den Ent-
wicklungsländern verlangen können. Das wäre auch ganz
im Sinne der sozialen Marktwirtschaft; das wäre nämlich
gute Regierungsführung.
Die Ökonomie der Balance, die die Regierungen des
Südens im Welthandel von uns einfordern, müssen sie
auch gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung verwirkli-
chen: durch entwicklungsorientiertes Handeln, durch
Rechtsstaatlichkeit gleiches Recht für alle und durch
Partizipation für die breite Bevölkerung am politischen
und wirtschaftlichen Geschehen. Dabei ist es ganz wich-
tig das besagen auch die Anträge aller Parteien , dass
wir endlich zu einer Landreform kommen, die in vielen
Ländern wirklich ein wesentlicher Teil der Ernährungssi-
cherung und auch der inneren Gerechtigkeit ist. Nur muss
man dann auch, nicht nur als Entwicklungspolitiker, son-
dern auch als Außenminister Joschka Fischer den Mut ha-
ben, solche kitzligen Dinge in Brasilien oder anderswo
einmal anzusprechen.
Gerade diese inneren Reformen sind für uns ein Eck-
pfeiler des Wettstreits um die richtige Form der globalen
Ökonomie. Bei diesem Wettstreit müssen wir uns aber
auch selber fragen, ob wir dafür gerüstet sind.
Was die EU anbelangt, so wirkt ihr alltägliches Tep-
pichhändlergefeilsche eher abschreckend auf viele Ent-
wicklungs- und Schwellenländer. Die Entwicklungspoli-
tik hat keine klare Handschrift, keine Koordination und
keine Effizienz. Das sieht man zum Beispiel daran, dass
man Verbrecher wie Mugabe bei uns allmählich zu Recht
ächten will, während ihm in anderen europäischen Haupt-
städten der Teppich ausgerollt wird.
Ich bin der Meinung, dass wir Deutsche selbst den Ein-
fluss, den wir haben, viel zu wenig nutzen. Wir sind zwar
wesentliche Zahler in vielen Institutionen wie der Welt-
bank oder der Europäischen Union; aber wir sind nicht die
wichtigsten Akteure, gerade auch in der Entwicklungspo-
litik nicht. Hier müssen wir unsere Ideen viel offensiver
und zum Teil auch aggressiver vertreten, wenn es darum
geht, unsere Überzeugung von good governance, von
sozialer Balance oder Bewahrung der Schöpfung durch-
zusetzen.
Dies ist nicht nur eine Aufgabe des politischen Marke-
tings, sondern auch der politischen und personellen Re-
präsentanz im Ausland. Hier hat die Regierung bisher die
Defizite, die ja auf dem Tisch liegen, nicht ändern können.
Gerade bei der immer wichtiger werdenden WTO liegt
unser Finanzanteil zum Beispiel bei über 10 Prozent, aber
unser Personalanteil bei nur knapp 3 Prozent. Da kann
man natürlich nicht sagen, dass wir in eine so wichtige Or-
ganisation wie die WTO mit Macht hineindrängen.
Schließlich müssen wir die soziale Marktwirtschaft in
unserem eigenen Land wieder so gestalten, dass sie ein
Vorbild und ein attraktives Modell für andere Länder in
Nord und Süd ist. Unter Rot-Grün laufen wir Gefahr, die
Planwirtschaft durch die Hintertür wieder hoffähig zu ma-
chen. Wenn heute junge Leute aus Entwicklungsländern
wie Indonesien, Nigeria oder Brasilien zum Studium und
zur Forschung nicht nach Deutschland, sondern in die
USA gehen, dann liegt das nicht in erster Linie an der
deutschen Sprache, sondern daran, dass andere Länder für
diese jungen Leute offensichtlich ein attraktiveres Modell
des Wirtschaftens an den Tag legen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Christian Ruck
15975
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Ruck,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Jawohl. Wir hin-
gegen würgen unsere soziale Marktwirtschaft allmählich
ab, etwa durch einen rigiden Arbeitsmarkt oder das ha-
ben wir heute früh diskutiert durch Maßnahmen zur Ver-
schärfung des Betriebsverfassungsgesetzes.
Ich rufe die Bundesregierung auf, auch ihrerseits die
geeigneten Schritte zu unternehmen, um das Modell der
sozialen Marktwirtschaft auch im eigenen Land wirklich
attraktiv zu halten und nicht im Keim zu ersticken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich unserer nächsten Rednerin das
Wort erteile, möchte ich recht herzlich einen Gast auf der
Tribüne begrüßen. Es handelt sich um die stellvertretende
UB-Generalsekretärin, Frau Dr. Anna Tibaijuka, Leiterin
des UN-Centers for Human Settlements, also der Habitat.
Frau Tibaijuka wird begleitet von Herrn Günther Karl,
Dr. Rolf Wichmann und Herrn Mikel Park. Herzlich will-
kommen! Wir freuen uns sehr, dass Sie dieser Debatte bei-
wohnen können.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Handel und Entwicklung gehören eng zusammen.
UNCTAD-Berechnungen zufolge das haben wir heute
schon gehört gehen dem Süden durch protektionistische
Maßnahmen des Nordens Jahr für Jahr 700 Milliarden
Dollar verloren. Gleichzeitig ist ein ständig sinkender
Beitrag öffentlicher Mittel für die Entwicklungszusam-
menarbeit zu verzeichnen. Im Jahr 2000 lag dieser Beitrag
wieder unter 50 Milliarden DM.
Wir unterstützen als Koalitionsfraktionen ganz aus-
drücklich die Bemühungen von Heidemarie Wieczorek-
Zeul, unserer Ministerin, und der Staatssekretärin Uschi
Eid, solchen Entwicklungen entgegenzuwirken. Hier
möchte ich insbesondere das Querschnittsaktionspro-
gramm der Bundesregierung und natürlich auch den Ein-
satz für die Bemühungen um die Wahrung des Men-
schenrechtes auf Ernährung erwähnen.
Mit dem Einsatz dieses Aktionsprogramms ist ein großer
Schritt getan worden, der in den Erfolg führen wird.
In den letzten 50 Jahren ist das internationale Han-
delsvolumen um das 14fache gestiegen. Das hat Wachs-
tum geschaffen. Viele Länder konnten davon profitieren.
Einen Automatismus zwischen freiem Handel und Ent-
wicklung gibt es aber nicht. Der freie Handel zeichnet sich
in vielen Fällen durch mangelhafte Wertschöpfung insbe-
sondere für die Entwicklungsländer aus. Obwohl gerade
die 49 ärmsten Länder der Welt durch die IWF-gelenkten
Strukturreformen in den 90er-Jahren eine überdurch-
schnittliche Handelsliberalisierung betrieben haben, gin-
gen davon leider weder besondere Entwicklungseffekte
aus, noch hat sich die Attraktivität dieser Länder für aus-
ländische Direktinvestitionen erhöht. Ganz im Gegenteil
müssen wir leider sagen: Die Direktinvestitionen gingen
anteilig zurück. Alle Entwicklungsländer zusammen
lockten in den 90-er Jahren gerade einmal 1,4 Prozent der
Auslandsinvestitionen an. Die Öffnung der Märkte allein
führt also nicht zu steigendem Wohlstand. So genannte
freie Marktkräfte, die von meinem Vorredner von der
CDU/CSU erwähnt wurden er hat in diesem Zusam-
menhang von Manchester-Kapitalismus gesprochen ,
können gerade in Entwicklungsländern mit unzureichen-
den gesetzlichen und institutionellen Rahmenbedingun-
gen enorme soziale, ökologische, gesundheitliche und
volkswirtschaftliche Probleme hervorrufen.
Gerade am Beispiel BSE sehen wir, wie eine solche
Entwicklung der Liberalisierung aussehen kann, wenn sie
nicht von entsprechenden Maßnahmen zum Beispiel im
Bereich des Verbraucherschutzes, des Gesundheits-
schutzes und des Tierschutzes flankiert wird. Globalisie-
rung im Handelsbereich muss mit der Globalisierung der
Standards im Verbraucher-, Gesundheits-, Umwelt- und
Tierschutz sowie im sozialen Bereich einhergehen, wenn
Globalisierung ein Erfolgsprojekt sein soll.
BSE und MKS, die Maul- und Klauenseuche, sollen
uns eine Warnung sein. Die Gründe für BSE-Erkrankun-
gen waren, dass billig produziert wurde und die Grund-
sätze artgerechter Tierernährung sowie des Verbraucher-
schutzes grob missachtet wurden. Tiere, Futtermittel und
Fleisch wurden frei gehandelt, womit die Probleme welt-
weit verbreitet wurden. Das ist ein ökonomisches De-
saster und eine Gefährdung der Gesundheit von Men-
schen. Der Tierschutz wurde mit Füßen getreten. Darum
setzen wir uns dafür ein, dass die Umwelt- und Sozial-
standards bei der WTO zu einem entscheidenden Thema
gemacht und verankert werden. Ich halte auch nichts da-
von, Handel und Umwelt institutionell, zum Beispiel
durch Auslagerung der Umweltfragen, auf ein anderes
UN-Forum zu übertragen oder zeitlich zu entkoppeln. In
diesem Bereich muss sich auch die neue amerikanische
Regierung überzeugen lassen. Vielleicht ist es ein Beitrag
zur Überzeugung, wenn man deutlich macht, dass gen-
technisch verändertes Soja ohne Kennzeichnung auf dem
europäischen Markt nicht absetzbar ist.
Viele Entwicklungsländer sind gegenüber den Um-
welt- und Sozialstandards vorsichtig. Sie fürchten Pro-
tektionismus. Hier gilt es, mit vertrauensbildenden Maß-
nahmen den Bedenken der Entwicklungsländer zu
begegnen. Ein Beispiel dafür können die Hermesbürg-
schaften sein. Die Industrieländer können hier Vorreiter
werden, wenn sie sich gemeinsam auf von der Weltbank
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 200115976
bereits praktizierte Umweltstandards verständigen. Als
zweites Beispiel nenne ich die Exporterstattungen im
Agrarbereich. Diese Exporterstattungen gegen die die
Kollegen von der CDU/CSU und F.D.P. keinesfalls
gekämpft haben, wie Sie in dieser Debatte vorgeben
müssen abgebaut werden. Dazu verpflichtet sich diese
Regierung.
Der unlautere Wettbewerb, der durch Protektionismus
erzeugt wird, bedroht die Existenz der Kleinbauern in den
Entwicklungsländern. Wir alle kennen die fatalen Aus-
wirkungen der Rindfleischexporte nach West- und Süd-
afrika. Daraus werden wir die Konsequenzen ziehen.
Deshalb erheben wir in den Anträgen, die heute in die-
ser Debatte zur Abstimmung stehen, entsprechende For-
derungen: Erstens fordern wir die Neugestaltung der
WTO nach ökologischen, sozialen und gesundheits-
schutzbezogenen Regeln sowie die Verankerung der ent-
sprechenden Standards und der Kennzeichnungsregeln.
Zweitens fordern wir die Sicherung des Menschen-
rechtes auf Ernährung als ein essenzielles Anliegen der
Entwicklungsländer und damit verbunden die Möglich-
keit eines Schutzes der Märkte der Entwicklungsländer.
Drittens fordern wir die Verbesserung des Marktzu-
ganges für die Entwicklungsländer und vor allem eine
Unterstützung bei der Schaffung von Wertschöpfungs-
möglichkeiten, die mit einem solchen Handel, insbeson-
dere im Agrarbereich, verbunden sind. In diesem Zusam-
menhang fordern wir im Übrigen auch die Entwicklung
von entsprechenden Produktlabels, die diese Entwicklun-
gen unterstützen können, zum Beispiel im Bereich des
Holzes und der Blumen.
Viertens fordern wir den Abbau der Exportsubventio-
nen und eine Stärkung der so genannten Greenbox in den
WTO-Verhandlungen.
Fünftens fordern wir die Ausrichtung der Strukturan-
passungsprogramme auf soziale und ökologische Krite-
rien im Rahmen der internationalen Finanzinstitutionen
und der NGOs, zugunsten einer besseren Unterstützung
der Agrarreformen und selbstverständlich das ist bereits
von den Kolleginnen aufgeführt worden einer Verbes-
serung der Bedingungen für die Arbeit von Frauen in den
Entwicklungsländern.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Kol-
lege Erich Fritz für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich freue mich über diese Debatte
und über die vorgelegten Anträge, weil sie zeigen, dass,
wenn auch mit unterschiedlichen Ansätzen, alle in diesem
Hause daran interessiert sind, im internationalen Rahmen
Ordnungspolitik zu betreiben.
Die Strukturen einer solchen Ordnung zeichnen sich
erst allmählich ab. Es gibt noch keinen abgesicherten
Pfad, lediglich Teilelemente sind sichtbar. Aber ich glau-
be, es gibt allmählich einen gemeinsamen Kern, den ich
für wichtig halte zu dem hat Friedrich Merz eingangs ei-
niges gesagt , nämlich eine gemeinsame Wertegrund-
lage. Das Erstaunliche ist, dass sich diese Wertegrundlage
unabhängig davon verbreitert, aus welchen geistigen und
kulturellen Bereichen die einzelnen Teilnehmer kommen.
So kann man sagen, dass die internationalen Institutionen
und die multilaterale Arbeit schon eine positive Rückwir-
kung zeigen.
Ob der Zugang über den Begriff der sozialen Markt-
wirtschaft, also das Verhältnis von Freiheit und Verant-
wortung, oder über das Stichwort Nachhaltigkeit, also die
Einbeziehung ökologischer, ökonomischer und sozialer
Probleme unter Beteiligung der Entwicklungsgesichts-
punkte und der Menschenrechte, geschieht oder ob er sich
aus der Wertebasis der internationalen Organisationen
von den Vereinten Nationen bis zur ILO, den Entwick-
lungsorganisationen und der WTO entwickelt, ist eigent-
lich belanglos. Wichtig ist, dass es etwas Gemeinsames
gibt, das es möglich macht, ohne Misstrauen miteinander
zu reden und eine gemeinsame Ordnungsbasis zu finden.
Entscheidend ist also, dass sich eine internationale Po-
litik der Freiheit und der Verantwortung durchsetzt und
dabei alle Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung
berücksichtigt werden. Es kommt jetzt darauf an, das auch
kohärent zu versuchen. Deshalb freut mich ein Ansatz wie
der britische mit dem im Dezember veröffentlichten
Weißbuch und begrüße ich natürlich auch das, was heute
hier diskutiert wird. Es ist weder national noch internatio-
nal eine leichte Aufgabe, zu Kohärenz zu kommen. Es
gibt auch durchaus unterschiedliche Ansätze für solche
Strategien. Aber richtig ist, dass der Versuch unternom-
men wird.
Deutschland, Europa, den Schwellenländern und den
Entwicklungsländern muss gleichermaßen eines klar sein:
Multilaterale Lösungen auf der Basis von Gleichberechti-
gung und das sage ich ausdrücklich dazu Würde der
Beteiligten müssen Vorrang vor nur regionalen und bila-
teralen Ansätzen haben. Wir müssen aufmerksam verfol-
gen, was sich in dieser Hinsicht in den nächsten Wochen
in den USA tut.
Nur multilaterale Ansätze machen es möglich, dass
Machtverhältnisse seien sie politischer oder wirtschaft-
licher Art so relativiert werden können, dass die Inte-
ressen aller Beteiligten berücksichtigt werden. Dies ist
natürlich auf internationaler Ebene langwierig und müh-
sam und kann auch nicht ohne öffentliche Beteiligung und
eine stärkere Einbeziehung der Bevölkerung in diese Pro-
zesse gelingen.
Die WTO gilt derzeit als die einzige handlungsfähige
internationale Organisation. Als Instrumente hat sie das
Streitschlichtungsverfahren und Sanktionsmöglichkeiten.
Das hat allerdings dazu geführt, dass die Ansprüche, in-
nerhalb der WTO zu einer kohärenten internationalen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Ulrike Höfken
15977
Ordnungspolitik zu kommen, viel zu hoch geworden sind.
Die WTO ist keine Weltregierung. Sie kann vieles von
dem, was an sie herangetragen wird, nicht leisten. Aber sie
ist zunächst einmal diejenige Organisation, die den Frei-
handel absichern und dafür sorgen muss, dass möglichst
viele an den Vorteilen des Freihandels partizipieren kön-
nen.
Sie hat noch einen sehr großen Vorteil: Sie kann die
Plattform sein, auf der über die Dinge, die nicht in einer
Weltregierung behandelt werden können, miteinander be-
raten werden kann. Aber nicht alles kann auch an dieser
Stelle entschieden werden: Man kann nicht alles über den
Handelsleisten schlagen.
Ich bin sehr dafür, dass man den Handel im Zusam-
menhang mit Sozialstandards, Umweltstandards, Wettbe-
werbsregeln und Investitionsregeln behandelt. Aber wir
werden uns darauf einlassen müssen, den Weg intensiv zu
diskutieren, Frau Höfken. Die Frage ist, ob es etwas nützt,
wenn wir unsere und auch die europäische Position per-
manent wiederholen, obwohl wir wissen, dass es trotz in-
tensivster Bemühungen in der nächsten Runde nicht zu
Verhandlungen über die neuen Themen kommen wird.
Ist es dann nicht viel besser, zu sagen: Wir nutzen die
neu entstandenen Bereitschaften der internationalen Or-
ganisationen, um alle zur Diskussion dieser neuen The-
men in ein Boot zu holen und zu vermeiden, dass sie nir-
gends auf der Tagesordnung stehen?
Ich meine, dass wir deshalb bei den Überlegungen, wie
wir bei der internationalen Ordnungspolitik weiterkom-
men, den gesamten Kanon der internationalen Organisa-
tionen, die Vereinten Nationen, den Rio-Prozess, die ILO,
die UNCTAD usw., im Auge haben müssen. Wir wissen
zwar, dass diese Strukturen zum Teil aus der Nachkriegs-
zeit stammen und dass sie in ihren Handlungsmöglichkei-
ten nicht kompatibel sind. Aber wo sonst haben wir eine
solche Bühne?
Ich bewundere die Bereitschaft der Spitzen dieser Or-
ganisationen, Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu fin-
den, und zwar selbst da, wo die Mitgliedstaaten noch gar
nicht dazu bereit sind. Dabei müssen sie oft auf
wissenschaftliche Studien ausweichen, um diese Themen
überhaupt ins Gespräch zu bringen. Zum aktuellen Um-
gang mit den neuen Themen bei der WTO schlage ich also
vor, dass wir flexibel sind und lieber einmal einen Umweg
gehen, um die Debatte mit wirklich allen Beteiligten
führen zu können, statt Gefahr zu laufen, eine neue Runde
scheitern zu lassen.
Der Generaldirektor der WTO, Mike Moore, bemüht
sich ich füge hinzu: nach den Erfahrungen von Seattle
ganz intensiv um eine neue Zusammenarbeit mit den
Entwicklungsländern. Er macht das für meine Begriffe
sehr gut. Er stößt dabei auf Entwicklungsländer, die ihre
Interessen mit einem ganz neuen Selbstbewusstsein ver-
treten, die nicht mehr akzeptieren, im Hinterhof der Ver-
handlungen zu sitzen, und die ganz klare Forderungen
nach Marktzugang stellen. Ohne diesen Marktzugang
wird Bewegung in anderen Fragen überhaupt nicht zu er-
zeugen sein. Dazu ist heute schon viel Richtiges gesagt
worden.
Ich lobe nicht gerne andere Leute, besonders dann
nicht, wenn sie politisch anders angesiedelt sind,
aber ich lobe hier einmal ganz ausdrücklich Pascal Lamy.
Was Pascal Lamy in den letzten Monaten im Umgang mit
den Entwicklungsländern erreicht hat, finde ich bewun-
dernswert. Das Tolle ist, dass es Bewegung gibt. Aber ge-
nauso deutlich ist, dass es einige Hardliner gibt, die bis
zum Herbst zu nichts zu bewegen sein werden. Deshalb
plädiere ich für eine flexible Vorgehensweise.
Viele Widerstände bei den Entwicklungsländern resul-
tieren natürlich nach wie vor aus der Schwierigkeit, dass
sie hinter den Vorschlägen zu einer internationalen Ord-
nungspolitik gewisse Absichten vermuten. Diese Ängste
zu beseitigen ist eine unvermeidbare Aufgabe der nächs-
ten Zeit. Wir müssen den Schwellen- und Entwicklungs-
ländern die Vorteile der Globalisierung nutzbar machen.
Dabei ist die Frage des Marktzugangs die Kernfrage.
Everything but arms ist nur ein erster Schritt. Genau die
Dinge, die am einfachsten zu regeln gewesen wären, sind
wieder auf später verschoben worden.
Auch die technische Hilfe ist wichtig, damit die Ent-
wicklungsländer überhaupt Möglichkeiten der Implemen-
tierung haben und an diesem Prozess des multilateralen
Verhandelns gleichberechtigt teilnehmen können. Es ist
ein Witz, wenn man bei solchen Konferenzen bemerkt,
mit welch unterschiedlichen Ressourcen Industriestaaten
auf der einen und Entwicklungsländer auf der anderen
Seite auftreten. Schon aufgrund dessen können sie keine
gleichwertigen Möglichkeiten haben.
Frau Präsidentin, bitte lassen Sie mich noch einen Ge-
danken zu Ende führen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte fassen Sie sich
kurz!
Einen solchen Prozess
müssen wir mit veränderten Ansätzen der Strategie der
Armutsbekämpfung verbinden. Wir haben dazu einiges
gehört. Ich sehe aber, dass sich aus unterschiedlichen
Punkten etwas in die richtige Richtung bewegt. Die
UNCTAD zum Beispiel leistet eine sehr gute Arbeit, weil
die Themen dort ohne Verhandlungsdruck bearbeitet wer-
den können. Gleiches gilt für den gemeinsamen Fonds,
der sich jetzt stärker auf die Frage der Effizienzsteigerung
konzentriert, also die Vorbereitung auf den Marktzugang
in den Entwicklungsländern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Fritz,
jetzt muss ich Sie leider bremsen. Mein Angebot galt für
maximal einen Satz.
Frau Präsidentin, ich habe
Ihre Worte nicht als Zustimmung zu nur einem Satz ver-
standen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Erich G. Fritz
15978
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die
Möglichkeit der Diskussion und würde mich freuen, wenn
wir diese bei nächster Gelegenheit im Parlament fort-
setzen könnten. Ich halte eine Debatte vor der WTO-
Runde für sehr wichtig, weil wir die Bevölkerung mit-
nehmen müssen, und fordere die Bundesregierung auf,
möglichst früh hierzu eine Möglichkeit zu geben.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Reinhold Hemker für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Fritz, ich
hätte Ihnen gerne, ebenso wie anderen Kollegen, die heute
gesprochen haben, noch etwas länger zugehört. Die heu-
tige Debatte, lieber Herr Kollege Hedrich, offenbart einen
Klärungsprozess: Was meinen wir eigentlich, wenn wir
über globale Strukturpolitik sprechen? Ich empfinde die
54 Antworten der Bundesregierung auf die eingebrachte
Große Anfrage als einen Beitrag zu diesem Klärungspro-
zess, nicht zuletzt im Hinblick auf die so genannten
marktwirtschaftlichen Instrumente, die wir in unserem
Land anwenden und weltweit vermitteln wollen.
Ich glaube, lieber Kollege Fritz, wir werden die Dis-
kussion daher in den verschiedenen Gremien des Hauses
weiterführen. Ich merke dabei, besonders nach der Lek-
türe des jetzt auch in deutscher Sprache erschienenen
Weltentwicklungsberichtes, den wir als Weltbankbericht
bezeichnen, dass auch unsere Denkrichtung einem Pro-
zess der Veränderung unterliegt. Wenn noch 1990 ich zi-
tiere eine Überschrift aus dem damaligen Weltentwick-
lungsbericht von der umfassenden Bereitstellung von
Sozialleistungen durch Geberländer an Nehmerländer
als einer Hauptaufgabe gesprochen wurde, so wird deut-
lich, dass wir einen Paradigmenwechsel vollzogen haben.
Der Weltentwicklungsbericht spricht nun von einer Er-
weiterung der Entwicklungs- und Anteilnahmemöglich-
keiten für Entwicklungsländer, von Empowerment
und sicheren Rahmenbedingungen für das Handeln der
Entwicklungsländer auf dem Weltmarkt. Das ist eine ge-
waltige Neuorientierung.
So gesehen steht die Vorlage des Aktionspro-
gramms 2015 der Bundesregierung in dieser Konti-
nuität. Dieses Programm ist ein wichtiger Ansatz für die
Diskussion, die wir in den nächsten Wochen und Monaten
zu führen haben. Das Thema wird uns auch in den nächs-
ten Jahren noch begleiten.
Die Entwicklungsländer werden nur dann eine Zukunft
haben, wenn die erforderlichen Empowerment-Prozesse
und Partizipationsprozesse von uns unterstützt werden
und sie sich nach Öffnung des Weltmarktes und Abbau
von Protektion am Weltmarkt beteiligen. Nur wenn sich
breite Bevölkerungskreise an den notwendigen Entwick-
lungsprozessen beteiligen, können wir in der Sache wei-
terkommen.
Dabei ist wichtig, zu verstehen, was die Weltbank
meint, wenn sie im Hinblick auf Protektionismus und die
Rolle der führenden Nationen Folgendes ausführt:
Wenn Möglichkeiten gefunden werden könnten, die
politischen Hemmnisse für die Beseitigung dieser
Handelsschranken abzubauen, würde dies den Abbau
der Armut in den Entwicklungsländern massiv unter-
stützen.
Und dann eine für mich sehr wichtige Aussage :
Schätzungen zufolge erleiden aber auch die Länder
mit hohem Einkommen erhebliche Wohlfahrtsverlus-
te durch ihre eigene verzerrende Handelspolitik al-
lein im Bereich der Landwirtschaft etwa 63 Milliar-
den US-Dollar pro Jahr.
Diese Aussagen sind im Hinblick auf die Mobilisie-
rung all derjenigen, die unseren Positionen heute noch kri-
tisch gegenüberstehen, außerordentlich wichtig, weil hier
deutlich wird, dass die protektionistische Handelspolitik
auch zu unserem eigenen Nachteil ist.
An einem anderen Punkt heißt es: Herauszustellen ist
die Rolle und der Wille der Führer der Industrienationen
für diesen Veränderungsprozess. In diesem Zusammen-
hang muss ich sagen, Frau Ministerin: Ich glaube fest da-
ran, dass das Signal, das vom Bundeskanzler auf dem Mil-
lennium-Gipfel in Berlin ausgegangen ist, eine Grundlage
für das jetzige Aktionsprogramm 2015 geschaffen hat.
Gerhard Schröder hat mit seiner damaligen Aussage zur
Halbierung der Zahl der Armen bis zum Jahre 2015 eine
Führungsrolle übernommen. Es ist wichtig, die eingelei-
teten Maßnahmen in den nächsten Jahren entsprechend
fortzuführen.
Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass der
Rahmen mit entsprechendem Inhalt gefüllt werden muss,
damit dieses ehrgeizige Programm umgesetzt werden
kann.
Im multilateralen Bereich stehen Forderungen nach
Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten der Weltentwick-
lungsorganisation im Vordergrund. Wir hören immer
wieder, dass der ehemalige Bundestagskollege und Bun-
desumweltminister Töpfer diesbezügliche Forderungen
stellt, denen auch niemand widerspricht. Aber noch gibt
es offensichtlich keine Übereinstimmung darüber, in wel-
chen Größenordnungen Mittel zur Stärkung der Welt-
entwicklungsorganisation bereitgestellt werden können
und sollen. Es ist wichtig zu wissen, dass der im Aktions-
programm gewählte Ansatz auf eine stärkere Beteiligung
an den internationalen Organisationen abzielt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Erich G. Fritz
15979
Das Gleiche gilt für eine Weltumweltorganisation und
dafür, was wir in Vorbereitung auf die Welternährungs-
konferenz in Rom 1996 besprochen haben. Auch damals
ist ein Aktionsprogramm verabschiedet worden, das bis
zum heutigen Tag noch nicht vollständig umgesetzt wor-
den ist. Es ist gut, dass nicht nur Sie, Frau Ministerin, son-
dern auch einige andere Kolleginnen und Kollegen heute
Aussagen zur Agrarwirtschaft mit Blick auf die Vorberei-
tung der Rom-plus-Fünf-Konferenz gemacht haben, die
noch in diesem Jahr stattfinden wird. Ich denke, dass wir
die zur Beratung anstehenden Anträge zur Agrar- und Er-
nährungspolitik mit Blick auf unseren eigenen Beitrag zu
der anstehenden Konferenz in Rom noch einmal sehr ge-
nau überprüfen müssen.
Wenn wir das Gesagte ernst nehmen, gerade mit Blick
auf Kohärenz und die Tatsache, dass wir die Schwer-
punkte auf die Länder legen wollen, in denen Land- und
Agrarreformprozesse initiiert werden, lieber Kollege
Hübner, dann bedeutet das, dass der Mittelansatz an die-
ser oder jener Stelle des Aktionsprogramms der Bundes-
regierung ich als Entwicklungspolitiker sage das ganz
eindeutig erhöht werden muss, und zwar gerade für
diese Schwerpunktsetzung. Es kann nicht sein, dass wir
sagen: Es wird Grund und Boden bereitgestellt, aber es
gibt keine Möglichkeit, bei den Investitionen unterstüt-
zend tätig zu werden. Es sind ja in diesem Zusammenhang
zwei Länder genannt worden, von denen wir wissen, dass
der dortige Landreformprozess genau daran scheitert. Da-
her ist das Aktionsprogramm der Bundesregierung mit
den genannten Schwerpunkten ein wichtiger Rahmen für
eine globale Strukturpolitik, der nun Schritt für Schritt
ausgefüllt werden muss. Das geht das sage ich vor allem
an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen der Oppo-
sition nicht von heute auf morgen. Dafür haben Sie si-
cherlich Verständnis und werden das auch in den anste-
henden Ausschussberatungen zugeben müssen.
Ich möchte noch ein paar Anmerkungen zur inhalt-
lichen Ausfüllung des Aktionsprogramms im Hinblick auf
den wichtigen Agrarbereich machen. Auf der einen Seite
sollen bessere rechtliche Voraussetzungen für den Land-
und Agrarreformprozess geschaffen werden. Auf der
anderen Seite, Frau Ministerin, ist es wichtig, dass Pro-
jektarbeit lieber Kollege Hedrich, wir sind uns ja einig,
wenn Sie sagen, dass der regionale und lokale Ansatz in
den größeren Zusammenhang der globalen Strukturpoli-
tik eingebunden werden müsse auf der Basis der jewei-
ligen Identität vor Ort und in den einzelnen Regionen ge-
leistet wird.
Ich verweise hier zum Beispiel auf das, was in der
Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland als
Agrarentwicklungspfade bezeichnet wird. In dieser
Denkschrift kann man sehr genau nachvollziehen, wie
eine nachhaltige und standortgerechte Landwirtschaft
aussehen soll und was im Zuge der Agrarreformprojekte
zu geschehen hat. Ich möchte nur ein paar Stichworte aus
dieser Denkschrift zitieren: Verzicht auf die in der indus-
triellen Landwirtschaft in großen Mengen eingesetzten
fossilen Energien, stattdessen Nutzung der Sonnenenergie
in der Landwirtschaft; Selbsterzeugung eines Teils der
Energien in ökologisch orientierten landwirtschaftlichen
Betrieben; Nutzung von Regenwasser und kleinräumigen
Bewässerungssystemen statt großer wie in der Vergan-
genheit; Verwendung organischer Düngemittel; Bekämp-
fung von Pflanzenkrankheiten und -schädlingen durch
das Anlegen von Mischkulturen; Verwendung traditio-
neller heimischer Saatgutsorten und so füge ich hinzu;
dazu ist ja schon einiges gesagt worden Schutz dieser
Sorten und nicht Ausbeutung über Patentierung durch das
Ausland.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das führt
natürlich auch dazu, dass zumindest beim Aufbau neuer
Systeme auf Monokulturen verzichtet wird und es eben
nicht zur weiteren Ausformung industrieller Landwirt-
schaft mit Produkten kommt, die dann zu niedrigen Prei-
sen in die Industrieländer exportiert werden.
So könnte man noch eine ganze Reihe solcher Vor-
schläge nur für den Agrarbereich machen. Es lohnt sich,
diese Diskussion im Blick auf die vorliegenden Anträge
ich sage ganz deutlich: aller Fraktionen und des Antrags
zur Kohärenz noch einmal zu führen.
Ich freue mich als Entwicklungspolitiker, der seit vie-
len Jahren ehrenamtlich und auch hauptamtlich in diesem
Bereich tätig ist, dass wir diese Debatte heute so führen.
Ich habe großen Konsens festgestellt und viele Ansätze
vernommen, die wir sicherlich in den Fachausschüssen
und insbesondere in der Enquete zu Globalisierungsfra-
gen noch weiter diskutieren werden.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Zunächst rufe ich auf die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen zur Verbesserung der Kohärenz
von EU-Agrarpolitik und Entwicklungspolitik im Rahmen
der WTO-II-Verhandlungen, Drucksache 14/2794. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1860
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? Gegenprobe! Enthaltungen? Die Beschluss-
empfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe auf die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Frak-
tion der PDS zu zukunftsfähigem Handel und umfassender
Reform der WTO, Drucksache 14/2700. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1834 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Ge-
genprobe! Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung auf Drucksache 14/4324.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Reinhold Hemker
15980
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit
dem Titel Agrarreform in der Entwicklungszusammen-
arbeit einen höheren Stellenwert geben, Drucksa-
che 14/1194. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
Gegenprobe! Enthaltungen? Die Beschlussempfeh-
lung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. an-
genommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der CDU/CSU mit dem Titel Bemühungen für Agrar-
reformen in Entwicklungsländern verstärken,
Drucksache 14/1663. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? Gegenprobe! Enthaltungen? Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Ebenfalls unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der F.D.P. mit
dem Titel Agrarpolitische Entwicklungszusammenarbeit
fördern, Drucksache 14/3102. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? Gegenprobe! Enthaltungen?
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 d sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
24. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Be-
Drucksache 14/5593
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstel-
lung der umweltrechtlichen Vorschriften auf den
Euro
Drucksache 14/5641
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorberei-
Drucksache 14/5736
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus
Grehn, Uwe Hiksch, Dr. Heidi Knake-Werner,
Dr. Ilja Seifert und der Fraktion der PDS
Für den Erfolg des Stockholmer EU-Gipfels zur
Beschäftigungs- und Sozialpolitik
Drucksache 14/5585
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen , Dirk Fischer (Hamburg),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Optimierung der Ostseesicherheit im Bereich
der Kadetrinne
Drucksache 14/5752
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, vielleicht noch
einen Moment sitzen zu bleiben; denn wir haben noch ei-
nen ganz schönen Abstimmungsmarathon vor uns.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 g sowie
Zusatzpunkte 5 a bis 5 i auf. Es handelt sich um die Be-
schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache
vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 25 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
regierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur siebten Ände-
rung der Richtlinie 76/768/EWG zur Anglei-
chung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaa-
ten über kosmetische Mittel
KOM 189 endg.; Ratsdok. 07716/00
Drucksachen 14/3576 Nr. 2.37, 14/5619
Berichterstattung:
Abgeordneter Detlef Parr
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung die Kenntnisnahme der Unterrichtung durch
die Bundesregierung. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? Gegenprobe! Enthaltungen? Die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss
15981
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe!
Enthaltungen? Auch diese Beschlussempfehlung ist ein-
stimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu der Verordnung der Bun-
desregierung
Vierundfünfzigste Verordnung zur Änderung
der Außenwirtschaftsverordnung
Drucksachen 14/5069, 14/5171 Nr. 1.1, 14/5672
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord-
nung der Bundesregierung nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe!
Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu der Verordnung der Bun-
desregierung
Aufhebbare Einhundertzweiundvierzigste Ver-
ordnung zur Änderung der Einfuhrliste An-
lage zum Außenwirtschaftsgesetz
Drucksachen 14/5071, 14/5171 Nr. 1.2, 14/5673
Berichterstattung:
Abgeordneter Christin Müller
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord-
nung der Bundesregierung nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe!
Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-
tionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 25 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 254 zu Petitionen
Drucksache 14/5699
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Sammelübersicht
254 ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 255 zu Petitionen
Drucksache 14/5698
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Sammelübersicht
255 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 256 zu Petitionen
Drucksache 14/5697
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Sammelüber-
sicht 256 ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 257 zu Petitionen
Drucksache 14/5696
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Sammelüber-
sicht 257 ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ange-
nommen.
Zusatzpunkt 5 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung soldatenversorgungsrechtlicher
Drucksache 14/5436
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-
gungsausschusses
Drucksache 14/5748
Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt Palis
Helmut Rauber
Der Verteidigungsausschuss empfiehlt auf Drucksa-
che 14/5748, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen?
Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss
15982
Zusatzpunkt 5 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 258 zu Petitionen
Drucksache 14/5775
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Sammelüber-
sicht 258 ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom-
men.
Zusatzpunkt 5 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 259 zu Petitionen
Drucksache 14/5776
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Sammelüber-
sicht 259 ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom-
men.
Zusatzpunkt 5 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 260 zu Petitionen
Drucksache 14/5777
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Auch die Sammel-
übersicht 260 ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion ange-
nommen.
Zusatzpunkt 5 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 261 zu Petitionen
Drucksache 14/5778
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Sammelüber-
sicht 261 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 5 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 262 zu Petitionen
Drucksache 14/5779
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Sammelübersicht
262 ist bei Gegenstimmen von CDU/CSU und F.D.P. an-
genommen.
Zusatzpunkt 5 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 263 zu Petitionen
Drucksache 14/5780
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Sammelüber-
sicht 263 ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen.
Zusatzpunkt 5 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 264 zu Petitionen
Drucksache 14/5781
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Sammelüber-
sicht 264 ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion ange-
nommen.
Zusatzpunkt 5 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 265 zu Petitionen
Drucksache 14/5782
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Sammelüber-
sicht 265 ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom-
men.
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Disziplin bei
diesem Abstimmungsmarathon.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zum rechtlichen
Umgang mit Arbeitslosen vor dem Hintergrund
der jüngsten Vorschläge des nordrhein-west-
fälischen Arbeitsministers
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Kol-
legin Pia Maier für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Vom Kopf auf die Füße stellen will der Ar-
beitsminister in Nordrhein-Westfalen das Arbeitsförde-
rungsgesetz. Nach dem Interview in der Berliner Zei-
tung am Montag habe ich das Gefühl, Herr Schartau
selbst muss wieder auf die Füße gestellt werden, um die
Welt der Arbeitsuchenden aus der richtigen Perspektive
zu sehen.
Aus diesem aktuellen Anlass richten sich die Fragen
der PDS-Fraktion an die Bundesregierung: Ist das die
Richtung Ihrer neuen Arbeitsmarktpolitik? Sind das die
Konturen einer Reform des SGB III, wie wir sie erwarten
dürfen? Orientieren Sie sich jetzt nur noch am falschen
Bild des Arbeitslosen als Arbeitsscheuen?
Das erste von zwei zentralen Elementen der neuen
schartauschen Sozialpolitik ist, dass kein Anspruch mehr
auf Geldleistungen aus der Arbeitslosenversicherung
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss
15983
bestehen soll. Stattdessen gäbe es nur noch professionelle
Hilfe, einen neuen Job zu finden. Nebenbei bemerkt: Das
ist eine Frechheit gegenüber den Arbeitsämtern.
Ich gehe davon aus, dass der Arbeitsminister das
SGB III kennt. In § 4 ist zwar der Vorrang der Vermittlung
in Ausbildung und Arbeit festgeschrieben. Doch trotz des
Vorrangs dieses Vermittlungsauftrages war bisher immer
unbestritten, dass auf die Beitragszahlung das Recht auf
Leistung folgt. Indem Schartau die Aufgabe der Vermitt-
lung als etwas Neues verkauft, versteckt er aber die ei-
gentliche Absicht, nämlich den Rechtsanspruch auf Ar-
beitslosengeld aufzulösen. Bestätigen sich hier etwa
unsere Befürchtungen, dass dort, wo es geht, die Hilfen
zusammengelegt werden sollen, dass also Arbeitslosen-
hilfe abgeschafft wird und nur noch die Sozialhilfe ohne
Bezug zum vorherigen Lohn und zum vorherigen Ar-
beitsleben mit Bedürftigkeitsprüfung übrig bleibt, dass
die Zwangsmaßnahmen ausgeweitet werden und kein An-
spruch mehr auf Arbeitslosengeld besteht?
Der zweite zentrale Punkt in den Vorschlägen von
Schartau ist, dass Abfindungen, die Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen gegebenenfalls bekommen, mitver-
braten werden. Abfindungen sollen offensichtlich erst
aufgebraucht werden, bevor das Arbeitslosengeld ausge-
zahlt wird.
Wer schnell genug einen Job findet, darf den Rest behal-
ten. Wir winken mit der Wurst, so nennt es Schartau.
Es tun sich viele Probleme auf: Erstens. Nicht jeder be-
kommt eine Abfindung. Wo, bitte, bleibt hier der Grund-
satz der Gleichbehandlung nach gleicher Leistung, also in
diesem Fall nach der Einzahlung in die Arbeitslosenversi-
cherung? Zweitens. Um beim Bild mit der Wurst zu blei-
ben: Es gibt leider nicht genug Wurst, um jedem Arbeits-
losen eine vor die Nase zu hängen, die er ergreifen kann.
Solange nicht genügend Arbeitsplätze vorhanden sind, ist
es nicht getan mit einer Arbeitsmarktpolitik, die ein viel
zu kleines Angebot vorhält und die vor allem die Peitsche
schwingt, was in dem Interview wohlweislich nicht er-
wähnt wurde.
Ich will einmal die Situation mit den neuesten Zahlen
plastisch darstellen: In Nordrhein-Westfalen gibt es zur-
zeit 114 000 gemeldete Stellen; ihnen gegenüber stehen
rund 770 000 Arbeitslose. Damit bekommen die Nord-
rhein-Westfalen noch eher einen Wurstzipfel ab als die
Sachsen-Anhaltiner. In Sachsen-Anhalt stehen nämlich
14 000 gemeldeten Stellen 280 000 arbeitslos Gemeldete
gegenüber. Es ist allgemein analysiert worden, dass sich
die Arbeitsmarktlage im März deutlich verschlechtert hat.
Da wollen Sie noch der Meinung sein, dass es mit profes-
sioneller Vermittlung getan wäre? Das kann ich mir nicht
vorstellen.
Die Vorschläge von Herrn Schartau sind ein weiteres
Scheibchen der Salamitaktik. Auch Rot-Grün zermürbt
die Arbeitslosen weiter,
als seien sie allein Schuld an ihrer Lage und als wollten
sie gar nicht arbeiten. Sie schüren die Stimmung, jeder
könne arbeiten, wenn er nur wolle, und ignorieren eine
Arbeitslosenquote von 9,8 Prozent und eine ständig stei-
gende Arbeitslosigkeit im Osten. Sie bieten aber keine Lö-
sungen für diese Probleme.
Zum Abschluss des Interviews sagte der Arbeitsminis-
ter Schartau ich zitiere :
Es gibt Leute, die haben in ihrem Leben nichts ande-
res gelernt, als vom Sozialamt ihre Unterstützung ab-
zuholen.
Dazu kann ich nur sagen: Offensichtlich hat es die Sozial-
politik der SPD in Nordrhein-Westfalen zugelassen, dass
Menschen für sich keine andere Chance mehr sehen als
den Sozialhilfebezug.
Ich zitiere weiter:
Das gibt es genauso wie Leute, die Steuern hinter-
ziehen. Ich will, dass ein solches Verhalten künftig
geächtet wird.
Damit setzen Sie das Recht auf Sozialhilfe mit dem Be-
trug durch Steuerhinterziehung gleich. Das ist eine Unge-
heuerlichkeit gegenüber allen Menschen, denen keine an-
dere Chance gegeben wird,
ihren Lebensunterhalt zu bekommen, als die Sozialhilfe
zu beantragen und sich den Bedürftigkeitsprüfungen zu
stellen. Im Gegensatz zur Steuerhinterziehung ist das kein
Kavaliersdelikt.
Ich habe wörtlich zitiert; das ist keine Diffamierung.
Ich möchte von Ihnen heute erfahren, ob Sie sich die-
sen Vorstellungen anschließen. Wird das die neue Auffas-
sung von Sozialpolitik in der SPD, wie das Interview es
nahe legt? Noch hege ich die Hoffnung, dass Sie sich der
eigentlichen Aufgabe stellen, nämlich neue Arbeitsplätze
zu schaffen, in Ost wie in West, damit nicht die einen den
Speck und die anderen die Reste abbekommen.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Bundesregie-
rung spricht der Parlamentarische Staatssekretär Gerd
Andres.
G
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mir angehört,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Pia Maier
15984
was Frau Maier hier vorgetragen hat. Ich muss sagen: Ich
habe sowohl das Interview als auch die Pressebericht-
erstattung der Äußerungen von Harald Schartau gelesen,
aber ich habe vieles von dem, was Sie hier vorgetragen ha-
ben, da nicht vorgefunden.
Ich muss sowieso einmal festhalten: Ich habe das Ge-
fühl, dass kaum eine Debatte so ideologisch besetzt ist
wie die Debatte um den richtigen Weg zur Beseitigung der
Massenarbeitslosigkeit. Eigentlich wäre es notwendig, in
einer sachlichen Auseinandersetzung, in einer sachlichen,
gesellschaftlich organisierten Debatte darüber zu reden,
was in dieser Gesellschaft nötig ist, um die Arbeitslosig-
keit abzusenken und mehr Beschäftigung aufzubauen.
Hören Sie doch auf herumzuschreien.
Deswegen will ich diese Debatte dazu nutzen, ein paar
Positionen geradezurücken,
die in der öffentlichen Diskussion in den letzten Wochen
eine Rolle gespielt haben.
Erstens. Diese Bundesregierung hat auf dem Arbeits-
markt Erfolge vorzuweisen.
Die Arbeitslosigkeit sinkt und die Zahl der Beschäftigten
in dieser Gesellschaft steigt.
Das unterscheidet uns von Ihnen, die Sie bis zum Jahre 1998
die Verantwortung in diesem Land gehabt haben.
Der zweite Punkt ist: Trotz dieser Situation muss un-
glaublich viel getan werden.
Überall, wo wir Möglichkeiten sehen, diesen Prozess zu
beschleunigen oder zu verbessern, sollten diese ergriffen
werden.
Harald Schartau hat in dem Interview mit der Berliner
Zeitung Vorschläge gemacht. Er hat vorher auch schon
andere Vorschläge unterbreitet, die bei der Reform der In-
strumentarien, die wir angehen wollen, aufgegriffen, ge-
prüft und entsprechend mit aufgenommen werden können.
Ich möchte noch etwas anderes sagen. Wir leben in ei-
ner Gesellschaft, die solche Debatten medienmäßig ordent-
lich zuspitzt. Auch das zeigt sich im Interview der Berli-
ner Zeitung. Da wird natürlich sofort gefragt: Was tut ihr,
um Druck auf die Leute auszuüben: Leistungen kürzen
oder sonst was? Vor diesem Hintergrund ist es dann nicht
mehr möglich, gesellschaftliche Wahrheiten gelassen aus-
zusprechen.
Beispiele, wie Harald Schartau sie genannt hat, gibt es
in dieser Gesellschaft. Es gibt Menschen, die sich in der
Arbeitslosigkeit eingerichtet haben. Es gibt Menschen,
die nebenbei schwarzarbeiten. Dies ist ein asoziales Ver-
halten wie Steuerhinterziehung auch. Das zu sagen ist
eine Wahrheit.
Damit hat man aber nicht gesagt, dass sich alle Arbeitslo-
sen in der Arbeitslosigkeit eingerichtet haben, dass alle
Arbeitslosen schwarzarbeiten und die Arbeitslosen ei-
gentlich nur zu faul sind, etwas zu tun, denn sonst hätten
sie alle eine Beschäftigung.
Wahrheiten aussprechen zu können, ohne dass man in
die eine oder andere Ecke geschoben wird, halte ich für
außerordentlich wichtig.
Das bezieht sich auch auf meine Bemerkungen vor 14 Ta-
gen.
Der dritte Punkt das sage ich hier für die Bundesre-
gierung ganz gelassen und ganz ruhig : Das Bündnis für
Arbeit hat am 4. März getagt und eine Reihe von Dingen
verabredet. Es hat sehr weit reichende und gute Be-
schlüsse gefasst. Das ist in der öffentlichen Berichterstat-
tung untergegangen und deswegen will ich es hier he-
rausstellen. Es ist verabredet worden, dass sich alle
Bündnispartner, also Arbeitgeber, Gewerkschaften und
Bundesregierung, das Ziel setzen, den Abbau der struktu-
rellen Arbeitslosigkeit auch bei steigender Beschäftigung
zukünftig durch eine stärker aktivierende und vorbeu-
gende Arbeitsmarktpolitik voranzutreiben. Dazu wollen
wir im Konsens die Arbeitsvermittlung zur frühzeitigen
Verhinderung von Langzeitarbeitslosigkeit modernisie-
ren. Wir wollen eine Neuorientierung und größere
Transparenz der Fördermaßnahmen, um eine frühzeiti-
gere Wiedereingliederung in den regulären Arbeitsmarkt
zu ermöglichen. Wir wollen den Zugang von Frauen zu
Maßmahmen der Arbeitsförderung und die Evaluation der
Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik verbessern.
Ich sage Ihnen: Sowohl im Bündnis als auch in den Ko-
alitionsfraktionen überprüft jeweils eine Arbeitsgruppe
die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik, um den
Prozess der Arbeitslosenvermittlung in der Arbeitsver-
waltung mit dem Ziel zu verbessern, entweder eine
schnellere Vermittlung zu erreichen oder sicherzustellen,
dass da, wo eine Vermittlung nicht ohne weiteres möglich
ist, Qualifikationsmaßnahmen oder Ähnliches organisiert
werden. Wir müssen uns nämlich auf den Arbeitsmarkt
der Zukunft einstellen. Eines ist auch wahr, das braucht
mir doch niemand zu sagen: Die beste Vermittlung und
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
15985
Qualifizierung nutzen dort sehr wenig, wo in großem Um-
fang Arbeitsplätze fehlen.
Dass es sowohl in den alten als auch in den neuen Bun-
desländern Regionen gibt, in denen Arbeitsplätze fehlen,
ist die eine Wahrheit. Die andere Wahrheit ist, dass in and-
ren Regionen in dieser Republik händeringend Fachkräfte
gesucht werden und Arbeitsplätze nicht besetzt werden
können. Da das so ist, muss man sich überlegen, wie man
mit dem vorhandenen Instrumentarium darauf reagiert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dazu gehört
eine weitere Erkenntnis: Es ist geradezu verrückt, dass be-
stimmte Instrumente der Arbeitsmarktpolitik vorausset-
zen, dass man erst Langzeitarbeitsloser werden muss, be-
vor man in den Genuss dieser Instrumente kommen kann.
Wenn ein Mensch von Langzeitarbeitslosigkeit bedroht
ist, macht es doch mehr Sinn, diese Instrumente umzu-
bauen und so einzusetzen, dass verhindert wird, dass die-
ser ein Langzeitarbeitsloser wird, als die Gewährung von
Maßnahmen bzw. Angeboten von einer einjährigen Ar-
beitslosigkeit abhängig zu machen.
In diesem Bereich werden wir Änderungen vornehmen.
Wir werden alles daransetzen, die Beschäftigungsfähig-
keit zu erhöhen und arbeitsmarktpolitische Instrumente so
einzusetzen, dass sie zu Verbesserungen der Arbeits-
marktsituation beitragen.
Ich komme zu einem weiteren Punkt: Ich habe öffent-
lich gesagt, dass diese Reform unter dem Motto Fördern
und fordern stehen muss. Ich bin fest davon überzeugt,
dass das richtig ist. Diese Gesellschaft und auch die Ver-
sichertengemeinschaft dürfen es nicht hinnehmen, dass
gewaltige finanzielle Mittel eingesetzt werden, um die
Beschäftigungsfähigkeit, die Qualifikation und Ähnliches
von Menschen zu erhalten, und dieses von einigen Men-
schen abgelehnt wird. In diesem Prozess eine Balance
zwischen sozialen Rechten auf der einen und sozialen
Verpflichtungen auf der anderen Seite zu erreichen, halte
ich für völlig richtig und gesellschaftlich geboten. Daran
besteht überhaupt kein Zweifel.
Das bedeutet, dass wir die Instrumente und Mittel im
Bereich der Arbeitsverwaltung in diesem Sinne nutzen
müssen. Nach einem Eingliederungsplan und Ähnlichem
rufen in der Zwischenzeit ja alle; ich bin einmal gespannt,
ob sich auch alle daran erinnern, wenn darüber beraten
wird. Es muss konkrete Angebote der Arbeitsverwaltung
geben. Umgekehrt bedeutet dies auch, dass die Arbeitslo-
sen diese Angebote wahrnehmen müssen. In diesem Zu-
sammenhang habe ich für viele Positionen, die Harald
Schartau bezüglich Transfergesellschaften, der Nutzung
von Abfindungen und Ähnlichem vorgetragen hat, großes
Verständnis. Es geht dabei nicht darum, Nichtstun zu fi-
nanzieren, sondern Arbeit möglich zu machen. Wir wer-
den entsprechende Vorschläge in die Reformdiskussion
einbeziehen. In diesem Zusammenhang bitte ich alle um
eine sachlichere Debatte.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Meckelburg.
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kol-
lege Andres, die sachliche Debatte fängt nicht heute an.
Die sachliche Debatte darüber, was gemacht werden
muss, über die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik und
darüber, wie man Menschen in Arbeit bekommt, hat vor
vielen Jahren begonnen. Sie hat in diesem Haus zu einer
Zeit begonnen, als Sie ganz anders über solche Maßnah-
men geredet haben. Daran möchte ich Sie einmal erin-
nern.
Ich will auf Folgendes hinweisen: Wir haben in den
letzten zwei Jahren der letzten Regierung, in den Jahren
1997/98, eine Reform der Arbeitsförderung durchgeführt
und haben auch gesagt: Wir müssen stärker darauf achten,
dass Arbeitslose vermittelt werden können, dass sie in den
Arbeitsmarkt kommen, dass sie nicht Arbeitslosengeldbe-
zieher werden und bleiben, und schon gar nicht, dass sie
dauerhaft von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in die
nächste weitergereicht werden. Sie sollten vielmehr in
den ersten Arbeitsmarkt hineinkommen. Sie haben diese
Reform von Norbert Blüm hier bis auf das Messer
bekämpft. Wir haben diese Reform zweimal ändern müs-
sen. Wir haben zum einen Dinge herausnehmen müssen,
die damals im Bundesrat, in dem Sie die Mehrheit hatten,
gescheitert sind, und haben zum anderen das, was wir im
Bundestag alleine durchsetzen konnten, durchgesetzt.
1998 haben wir dann das, was wir mit Ihnen durchbringen
konnten, gemeinsam gemacht.
Sie haben dann im Jahre 1999 das war nicht die alte
Zeit; das war schon zu Ihrer Regierungszeit Korrektu-
ren vorgenommen, weil sich angeblich im Bereich der Ar-
beitsförderung Härten ergeben hätten, und zwar bei den
Zumutbarkeitsgrenzen, die etwas erhöht worden sind.
Beispielsweise wurde eine längere Fahrzeit für zumutbar
erklärt, wenn man dadurch einen Job bekommen würde.
Das haben Sie zurückgenommen.
Deswegen erstaunt mich das alles sehr, was hier zurzeit
stattfindet, das, was Sie, Herr Staatssekretär, vor zwei,
drei Wochen gesagt haben, und das, was Sie, Herr
Schartau, gesagt haben. Wenn Sozialdemokraten in Re-
gierungsämtern sind und die Probleme nicht lösen kön-
nen, kommen sie offensichtlich zu der Erkenntnis, dass
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
15986
man als arbeitsmarktpolitisches Instrument auch Sanktio-
nen braucht und mehr Hilfestellung bei der Arbeitssuche
auf dem ersten Arbeitsmarkt bieten muss.
Bisher haben Sie das jedenfalls nicht so gesehen. Das ist
eine Kehrtwende in Ihrer Politik. Ich bin sehr gespannt,
was Sie uns wirklich auf den Tisch legen werden.
Vieles von dem, was hier gefordert wird, ist nach dem
SGB III heute schon möglich. Es gibt laut § 6 SGB III die
Möglichkeit des Wiedereingliederungsplans. Das war ein
Teil der blümschen Reform; Sie haben dagegen gestimmt.
Deswegen bauen Sie heute doch keinen Popanz auf und
tun nicht so, als sei das alles eine neue Erfindung!
Ich kann auch den § 144 nennen, in dem es um die
Sperrzeiten geht. Das ist alles möglich; Sie können das al-
les verschärfen. Wir können darüber eine sehr sachliche
Debatte führen. Aber tun Sie nicht so, als hätten Sie in der
Vergangenheit nicht das genaue Gegenteil von dem ge-
sagt, was Sie jetzt lautstark einfordern.
Was mich daran besonders stört, ist die Sprache, in der
Sie das tun; das muss ich deutlich sagen. Stellen Sie sich
einmal vor, Norbert Blüm hätte vor zwei Jahren das ge-
sagt, was Schartau oder Andres jetzt sagen was hier im
Saal los gewesen wäre! Das ärgert mich schon an der De-
batte.
Alles das, was jetzt diskutiert wird, wirft eigentlich
mehr Fragen auf, als dass Antworten gegeben würden.
Wir sind gespannt, ob denn die Antworten auch wirklich
kommen. Die SGB-III-Reform war für das letzte Jahr vor-
gesehen; Sie sind mit der Gesetzgebung ein Jahr in Ver-
zug.
Wer Arbeitslose in Arbeit bringen will, der muss vor al-
lem dafür sorgen, dass Arbeit vorhanden ist. Da haben Sie
in den letzten zweieinhalb Jahren kläglich versagt.
Die aktuelle Statistik, gestern veröffentlicht, weist aus:
3,99 Millionen Arbeitslose.
Das ist im Vergleich der letzten drei Jahre Ihrer Regie-
rungszeit der geringste Rückgang. Sie schaffen noch nicht
einmal mehr den Rückgang um 200 000, der automatisch
eintritt, weil mehr Menschen in Rente gehen, als Men-
schen in den Arbeitsmarkt kommen.
Entschuldigung. Es ärgert mich schon. Sie haben uns in
den letzten zwei Jahren unserer Regierungszeit wegen
dieser Dinge bekämpft, setzen jetzt noch eines drauf und
bedienen sich einer Sprache, die unerträglich ist. Das
muss man an dieser Stelle sagen.
Wer Arbeitslose in Arbeit bringen will, muss für
Arbeitsplätze sorgen. Sie haben bei der Steuerreform ver-
sagt. Sie ist nicht mittelstandsfreundlich genug.
Sie verschieben die einschlägigen Bestimmungen auf das
Jahr 2005. Sie haben eine mittelstandsfeindliche Gesetz-
gebung hinsichtlich der Teilzeitarbeit in Gang gesetzt.
Das wird nicht mehr Arbeitsplätze schaffen.
Bei der Bekämpfung der illegalen Beschäftigung Sie
haben versprochen, dass das schnell und zügig kommt
haben Sie gerade einmal Eckpunkte zustande gebracht.
Auch das soll erst noch kommen.
Hinsichtlich der Arbeitnehmerüberlassung, bei der wir
gesagt haben, dass wir das etwas liberaler, lockerer sehen
sollten, haben Sie gerade in der letzten Woche im Aus-
schuss gesagt: Nein, wollen wir nicht.
Wer nicht die Möglichkeiten nutzt, dass wirklich neue
Arbeitsplätze entstehen können, der lässt an dieser Stelle
eine Frage offen, wenn er sagt: Wir wollen Eingliede-
rungspläne, damit möglichst viele Menschen in Arbeit
kommen.
Es bleibt nämlich der Verdacht, dass Sie die 1,4 Milli-
onen Langzeitarbeitslosen noch einmal durch die Mühle
der Pläne schicken wollen und dann möglicherweise fest-
stellen: Die wollen wir gar nicht mehr darin haben, die
zählen wir nicht mehr. Es besteht einfach der Verdacht,
dass Sie was Sie an anderer Stelle schon gemacht haben,
nämlich im April letzten Jahres, als Sie einfach durch
neues Zählen die Arbeitslosenquote um 0,4 Prozent-
punkte gesenkt haben möglichst viele Langzeitarbeits-
lose aus der Statistik hinausdrücken wollen, damit Sie
Ihre Arbeitsmarktzahlen überhaupt noch erreichen. Das
ist die Gefahr, und darüber werden wir konkret reden.
Alles Mögliche wird getan werden, um Menschen in
Arbeit zu bringen; aber statistische Veränderungen, die
nur Zahlen verfälschen, werden wir nicht mitmachen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Dr. Thea Dückert.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Wolfgang Meckelburg
15987
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kol-
lege Meckelburg, es ist schon eine große Herausforde-
rung, im Anschluss an Ihre Rede nicht darauf hereinzu-
fallen und nicht die knappe Redezeit darauf zu
verwenden, über Ihre Hinterlassenschaft und Ihre rück-
wärtsgewandte Politik zu reden.
Ich will mich darauf überhaupt nicht einlassen. Ich will
hier darüber reden, was wir in der Zukunft machen wer-
den.
Aber für die Fehlinformation, die Sie hier täglich wie-
der in die Welt setzen, nur ein einziges Beispiel: Sie ha-
ben eben behauptet, dass die steigende Erwerbstätigkeit,
die wir seit Herbst 1999 kontinuierlich zu verzeichnen ha-
ben, damit zu tun hätte, dass mindestens ebenso viele äl-
tere Menschen aus dem Arbeitsmarkt ausgetreten sind.
Richtig, Herr Meckelburg, ist dies nicht; es ist falsch.
Richtig ist vielmehr, dass beispielsweise im letzten Jahr
200 000 ältere Menschen aus dem Arbeitsmarkt ausge-
schieden sind und allein die Erwerbsbeteiligung um
300 000 gestiegen ist. Das macht einen Saldo von insge-
samt 100 000 zusätzlichen Menschen in der Erwerbs-
tätigkeit.
Ich will diese Debatte überhaupt nicht weiterführen,
weil das eine kleinkarierte Debatte um Zahlen ist, in der
jeder dem anderen etwas zuschieben will. Ich will nur ei-
nes feststellen, und das sagen alle Institute, das sagen alle
Statistiken: Es ist so, dass wir Ende 1998 einen Riesen-
berg an Arbeitslosigkeit übernommen haben. Und es ist
so, dass sich als Reaktion auf unsere Konjunktur- und
Haushaltspolitik und auch unsere Arbeitsmarktpolitik die
Beschäftigungssituation seit 1999 kontinuierlich verbes-
sert hat. Ich füge hinzu, was ich schon immer gesagt habe:
Das ist nicht genug.
Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir
das ist überhaupt keine Frage eine aktive Arbeits-
marktpolitik angestrengt und auf hohem Niveau, insbe-
sondere auch in den neuen Ländern, weiterführen.
Wir sollten uns dabei auf das konzentrieren, was wirklich
im Mittelpunkt der Arbeitsmarktpolitik stehen muss.
Ein großes Problem ist das sagen Sie richtig die
Langzeitarbeitslosigkeit. Darauf bezieht sich übrigens
auch der Ansatz, den Herr Schartau vorgeschlagen hat.
Nun behaupten Sie, Herr Meckelburg, das hätten Sie
schon alles geleistet. Beim SGB III hätten wir schon alles
vorgefunden. Das ist falsch.
Im SGB III ist zum Beispiel nicht vorgesehen, dass
jede und jeder Arbeitslose einen Anspruch auf einen Ein-
gliederungsplan haben werden. Das ist dort eine Kann-
Leistung für die Arbeitsämter. Sie tun es nicht. Es muss
deshalb eine Muss-Leistung werden. Jemand, der in die
Arbeitslosigkeit kommt, soll nicht sechs Monate warten
müssen, soll nicht langzeitarbeitslos werden, bevor er
überhaupt den Anspruch zum Beispiel auf eine ordentli-
che, qualifizierte Begleitung hat, den Anspruch auf indi-
viduell bezogene Qualifikationsprogramme hat, den An-
spruch hat, aktiv von Seiten der Arbeitsämter an die Hand
genommen zu werden und wirklich interessante Angebote
zu erhalten, die dann in den Arbeitsmarkt zurückführen.
Wir müssen die Langzeitarbeitslosigkeit bearbeiten. Die
Langzeitarbeitslosigkeit allein um einen Monat gekürzt
würde beispielsweise für die Arbeitslosenkassen eine
Einsparung von 1 Milliarde DM bringen.
In diesem Zusammenhang sage ich auch: Wenn die An-
gebote stimmen, ist es natürlich richtig, dass zu den An-
geboten auch eine Leistung gehört, dass Fördern und For-
dern zusammengehören.
Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, auch
hier sind die Instrumente vorhanden. Nur, sie werden
nicht oder nur selten angewandt. Warum werden sie nicht
angewandt? Weil zum Beispiel die Rückmeldung aus
der Wirtschaft selber, was die Nichtannahme von Arbeits-
angeboten anbelangt, nicht ausreicht.
Nein, Herr Meckelburg, das ist nicht richtig.
Wir vertreten seit langer Zeit den Ansatz, dass die Ange-
bote stimmen müssen. Wenn sie stimmen, dann können
die vorgesehenen Regelungen, zum Beispiel die bezüg-
lich der Sperrzeiten, angewandt werden. Das muss aber
zusammenpassen, wie das zum Beispiel in Dänemark der
Fall ist.
Nun zu dem, was von der PDS zum Thema dieser Ak-
tuellen Stunde gemacht worden ist, zur Einrichtung von
Sozialagenturen. Liebe Frau Maier, nach dem, was ich ge-
lesen habe wir werden gleich Herrn Schartau hören; der
wird es vielleicht noch deutlicher ausführen , wurde in
Nordrhein-Westfalen darüber nachgedacht, Sozialagentu-
ren als eine Dienstleistung für arbeitslose Sozialhil-
feempfänger einzurichten und nicht für Arbeitslosengeld-
empfänger, denen in diesem Falle das Arbeitslosengeld
gestrichen bzw. gestohlen werden soll, wie Sie behaupten.
Diese Sozialagenturen sollen Angebote an die Kommu-
nen sein, sich vor allen Dingen mit der aktiven Begleitung
von arbeitslosen Sozialhilfeempfängern auseinander zu
setzen.
Auf diese zugeschnitten entwickelt Nordrhein-Westfalen
Angebote. So habe jedenfalls ich es verstanden; Herr
Schartau kann es richtig stellen, wenn es nicht stimmen
sollte. Das sind die Maßnahmen, die in Nordrhein-West-
falen übrigens auch im Zusammenhang mit den Mo-
dellprojekten der Bundesregierung gefahren werden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 200115988
Ich denke, auch das ist wichtig. Die Sozialhilfeemp-
fänger, die arbeitsfähig sind, aber lange Zeit arbeitslos
waren, brauchen in vielfältiger Weise eine qualifizierte
Beratung, damit deren Integration in den Arbeitsmarkt ge-
lingt. Auch das muss der Arbeitsmarkt der Zukunft bein-
halten. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.
Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Dirk Niebel.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich finde diese Aktuelle
Stunde in höchstem Maße interessant. Denn sie zeigt wie-
der einmal, dass die Liberalen mit ihren Forderungen
nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern ihrer Zeit meist
voraus sind.
Ich kann mir annähernd vorstellen, welche netten
Worte Sie zum Beispiel mir, wenn das, was Staatssekretär
Andres in seiner Rede hier oder was Minister Schartau in
seinem Interview gesagt hat, von mir in diesem Haus ge-
sagt worden wäre, an den Kopf geworfen hätten. Ich freue
mich, dass Sie in der Realität angekommen sind. Will-
kommen im Klub! Offenkundig sozialisiert man sich ja
doch ein bisschen durch die Aufgabe, die man hat. Das
Regieren haben Sie jetzt zumindest so weit internalisiert,
dass Sie wissen, dass manche Probleme der Lösung har-
ren und dass Ihre bisherigen politischen Vorschläge nicht
in die richtige Richtung gewiesen haben.
Selbstverständlich haben wir in diesem Land immer
noch in vielen Bereichen viel zu wenig Arbeitsplätze; das
ist der Hauptansatzpunkt. Bisher war es aber ein Tabu-
bruch, wenn man Dinge wie zum Beispiel die angespro-
chen hat, dass es selbstverständlich auch Menschen gibt,
die sich im System der sozialen Transferleistungen einge-
richtet haben, die in ihrem Elternhaus nichts anderes ken-
nen gelernt haben, als durch soziale Transferleistungen
ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und die teilweise
durch Nachbarschaftshilfe Sie können es auch
Schwarzarbeit nennen einen Lohn erhalten, der sich im
Endeffekt kaum von dem der unteren Tariflohngruppen
abhebt.
Man sollte doch dafür sorgen, dass das Geld, das in un-
serem System zur Verfügung steht es ist ja nun wahrlich
nicht wenig Geld , da ankommt, wo es hingehört. Es gibt
nämlich auch in Deutschland Not. Ich finde es unerträg-
lich, dass es Menschen gibt, die zwar dringend soziale
Hilfe benötigen, für die das Geld aber nicht ausreicht, weil
es andere Menschen gibt, die es nicht unbedingt benöti-
gen und die es absorbieren. Ich finde es richtig, dass die-
ses Problem angesprochen wird.
Ich bin der festen Überzeugung: Wir müssen in der Ar-
beitsmarktpolitik neue Wege gehen. Es ist auch richtig,
dass man möglichst frühzeitig einschreiten muss, um die
Integration in den ersten Arbeitsmarkt hinzubekommen.
Auf der anderen Seite des Hauses war es bisher nicht ge-
wollt, darüber zu diskutieren. Wir müssen zum Beispiel
über das Lohnabstandsgebot und darüber diskutieren, wie
man Anreize schaffen kann, damit jemand eine Tätigkeit
aufnimmt, auch wenn sie nicht ganz so hoch bezahlt wird
wie die vorherige Tätigkeit oder wenn der Arbeitsplatz
beispielsweise fünf Kilometer weiter entfernt ist als der
bisherige.
Sie können mir doch nicht erzählen, dass es für einen
Sozialhilfeempfänger ein Anreiz ist, zu seiner Sozialhilfe
hinzuzuverdienen, wenn er all das, was er über 273 DM
hinaus verdient, abgezogen bekommt.
Das ist doch kein Anreiz. Unter einer solchen Bedingung
tue ich das doch nicht. Wenn ich den ganzen Tag nicht ar-
beite und nur 273 DM weniger habe, als wenn ich arbeite,
dann habe ich keine rational nachvollziehbare Notwen-
digkeit, eine Tätigkeit aufzunehmen.
Deswegen sollten wir hier auch einmal über die Frage der
Einrichtung eines Niedriglohnbereiches diskutieren. Wir
müssen über die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe diskutieren.
Allein die Verwaltung dieser beiden steuerfinanzierten
Bedürftigkeitsleistungen kostet die Bundesrepublik
Deutschland pro Jahr 15 Milliarden DM. Das sind 15 Mil-
liarden DM, die den tatsächlich Bedürftigen entzogen
werden, weil die Bundesrepublik Deutschland sich als
einziges Land der Welt zwei steuerfinanzierte Lohn-
ersatzleistungen leistet. Darüber müssen wir reden.
Wir müssen darüber reden, ob Arbeitslosengeldbezug
von bis zu 32 Monaten nicht im Gegensatz zu der Inten-
tion der Leistung steht, eine Notlage zu überbrücken, son-
dern sich vielmehr zu einer Daueralimentation entwickelt
hat. Wir müssen darüber reden, ob es nicht vielleicht Si-
tuationen gibt, in denen es eventuell auch sinnvoll ist, eine
andere Tätigkeit anzunehmen mit einem Lohn, der eben
nicht dem Lohn der vorherigen Tätigkeit entspricht, weil
es besser ist, eine Arbeit zu haben als keine Arbeit zu ha-
ben. Das alles waren bisher Tabus und ich bin sehr froh,
dass das hier jetzt offen angesprochen wird.
Aber Sie dürfen sich jetzt nicht darauf ausruhen, denn
die Signale, die Sie der Bevölkerung geben, sind durch-
aus ambivalent. Wenn Sie die Debatte zum Betriebsver-
fassungsgesetz von heute Morgen mit der jetzigen ver-
gleichen, stellen Sie fest: Es ist der klassische Kampf
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Thea Dückert
15989
zwischen der alten Linken und der vermeintlich neuen
Mitte.
Ich möchte wirklich einfordern, dass sich diese vermeint-
liche neue Mitte, die sich in Einzeläußerungen von ein-
zelnen Personen hier immer wieder findet, dann auch ein-
mal durchsetzt gegen die alte Linke in den Reihen der
SPD.
Ich erkenne tatsächlich die Notwendigkeit von Ge-
werkschaften an, das ist in Ordnung. Aber wenn zwei
Drittel von Ihnen, die Sie Mitglieder im Ausschuss für Ar-
beit und Sozialordnung sind, hauptamtliche Funktionäre
irgendeiner Gewerkschaft gewesen sind, bevor Sie Abge-
ordnete wurden,
und deswegen meinen, Sie könnten jetzt die Richtlinien
der Politik bestimmen, dann sind Sie falsch gewickelt.
Die Richtlinien der Politik bestimmt nicht der Deutsche
Gewerkschaftsbund, sondern der Herr Bundeskanzler.
Das müssen wir auch einfordern.
In seiner Arbeitsmarktbilanz ist er bisher alles andere als
erfolgreich. In diesem Sinne hoffe ich tatsächlich auf eine
hochinteressante, fachlich fundierte Diskussion, fernab
von allen Tabus, in der auch Sie Ihre Scheuklappen able-
gen und mit uns in einen konstruktiven Dialog eintreten.
Die Liberalen haben seit Jahren gute Vorschläge gemacht,
wie man die Menschen in den ersten Arbeitsmarkt inte-
grieren kann. Sie haben sie immer verhöhnt, Sie haben sie
mit irgendwelchen Vorurteilen belegt. Willkommen im
Klub! Sie sind in der Realität angekommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsiden-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Zuallererst muss man in dieser
Aktuellen Stunde auf das eingehen, was Herr Meckelburg
angesprochen hat, nämlich auf die Arbeitsmarktentwick-
lung.
Das ist zwar nicht das Hauptthema, aber er hat es wieder
zum Thema gemacht. Dabei können wir nicht umhin, die
positive Grundtendenz darzustellen, die sich nach der Re-
gierungsübernahme durch die rot-grüne Bundesregierung
auf dem Arbeitsmarkt abgezeichnet hat. Ich muss daran
erinnern, dass wir 1999 allein 402 000 und im Jahre 2000
fast 600 000 zusätzliche Arbeitsplätze aufzuweisen ha-
ben, in zwei Jahren also 1 Million. Vergleichbare Größen-
ordnungen haben Sie in der Vorgängerzeit nirgends auf-
zuweisen gehabt.
Deshalb muss ich Ihnen ganz klar sagen: Wir haben
nicht nur den Abbau von Arbeitsplätzen gestoppt, wir ha-
ben den Aufbau von Arbeitsplätzen erreicht. Ihre Aktivität
besteht das verstehen Sie wohl unter Produktivität
anscheinend nur in Miesmachen. Sie sollten lieber mit-
helfen und anpacken, damit wir die Arbeitslosigkeit ge-
meinsam bekämpfen können. Das geschieht durch zu-
sätzliche Arbeitsplätze.
Völlig klar ist, dass wir auf die sich etwas ab-
schwächende Konjunktur sofort reagiert haben und in der
Arbeitsmarktentwicklung ein rasches Handeln, insbeson-
dere durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik, unterstützen.
Das geschieht durch die Förderung von älteren Arbeitslo-
sen, durch die Einführung von Jobrotation und durch die
Bekämpfung von illegaler Beschäftigung.
Das sind die Tagesordnungspunkte, die wir abzuhandeln
haben und mit denen wir dafür sorgen, dass der Arbeits-
platzaufbau weiterhin von Erfolg gezeichnet ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich nun
zum Antrag der PDS kommen, zum Anlass der Aktuellen
Stunde. Die SPD hat im Deutschen Bundestag klar Stel-
lung bezogen, zuletzt in der letzten Debatte zur Jobrota-
tion am vergangenen Freitag. Ich muss im Kern das wie-
derholen, was ich dort gesagt habe: Wir werden keine
neuen Druckmittel oder Sanktionen gegen Arbeitslose
einführen. Wir bekämpfen die Arbeitslosigkeit und nicht
die Arbeitslosen.
Insofern gibt es auch überhaupt keinen inhaltlichen An-
lass für die heutige Debatte. Die Koalitionsfraktionen
werden bis zur Sommerpause einen Gesetzentwurf zur
Verbesserung der Arbeitsförderung vorlegen. Herr
Meckelburg hat gefragt, was konkret passiert. Sie hören
dazu die konkrete Antwort.
Gespensterdebatten über angebliche Arbeitsscheue,
Daumenschrauben einführen oder die Arbeitslosenpolizei
bemühen: Das bringt uns nicht einen Millimeter weiter.
Mit mittelalterlichen Methoden schaffen wir nicht einen
zusätzlichen Arbeitsplatz. Deshalb verwahren wir uns ge-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dirk Niebel
15990
gen diese Diffamierung in der Gesellschaft. Gerade die
Opposition auf der rechten Seite des Hauses leistet nicht
unbedingt einen Aktivitätsbeitrag, um dieser Polemik zu
entgegnen.
Harald Schartau hat im Übrigen das habe ich jeden-
falls gelesen gesagt: Fördern und Fordern,
das sozialdemokratische Leitbild in der Arbeits-
marktpolitik; erstens das Fördern, zweitens das Fordern.
Die PDS sollte deshalb nicht nur auf Überschriften in den
Medien achten. Die Beschäftigung mit den Inhalten des
Gesagten ist aus meiner Sicht lohnender. Harald Schartau
fordert einen stärker präventiven Ansatz in der Arbeits-
marktpolitik,
um Arbeitslosigkeit erst gar nicht entstehen zu lassen.
Was soll daran eigentlich so anstößig sein? Der nordrhein-
westfälische Arbeitsminister tritt für eine aktivierende Ar-
beitsmarktpolitik ein, die Arbeitslose aus der Arbeitslo-
sigkeit herausholt, statt sie nur zu alimentieren.
Was kann die PDS daran eigentlich ernsthaft kritisieren?
Das gilt im Übrigen auch für die Nutzung von Zeitar-
beitsunternehmen,
sofern damit das will ich deutlich sagen kein Tarif- und
Sozialdumping verbunden ist. Dass der nordrhein-westfä-
lische Arbeitsminister mit ihnen in einen konstruktiven
Dialog eintritt, wird von der Bundesregierung und meiner
Fraktion ausdrücklich begrüßt, weil damit tariflich abge-
sicherte Arbeitsverhältnisse organisiert werden können.
Die Nutzung der neuen Vermittlungsformen ist ein Bei-
trag zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Wir setzen auf Kooperation mit Arbeitslosen, auf indi-
viduelle Vereinbarungen zwischen Arbeitsberatern und
Arbeitslosen über die einzelnen Schritte zurück zur Er-
werbsarbeit. Wer als Arbeitsloser die ausgestreckte Hand
partout nicht ergreift auch das muss deutlich gesagt wer-
den , kann selbstverständlich nicht mit der Solidarität der
Beitragszahler rechnen.
Dann greifen die vorhandenen Aktionen. Das ist banal
und im Übrigen nichts Neues. Dem Fordern geht das För-
dern voran. Wir streben eine Verbesserung der Förderung
Arbeitsloser mithilfe von Eingliederungsvereinbarungen
an. Das wird Bestandteil der neuen SGB-III-Reform sein.
Ich komme zum Schluss. Wir haben dafür gesorgt und
werden dafür sorgen, dass ausreichend Mittel der Bun-
desregierung für den aktiven Arbeitsmarkt zur Verfügung
stehen. Deshalb helfen polemische Debatten den Arbeits-
losen jedenfalls nicht weiter. Taten sind gefragt. Die Bun-
desregierung hat gehandelt, gerade auch in den neuen
Bundesländern. Die Hälfte der Mittel, die über den Ein-
gliederungstitel für aktive Arbeitsmarktmaßnahmen im
Osten bereitstehen rund 14 Milliarden DM , gilt es ge-
schickt und effizient zu nutzen. Gleiches gilt für das
JUMP-Programm, das erfolgreiche Programm der Bun-
desregierung gegen Jugendarbeitslosigkeit. So viel zur
Klarheit zu unserer Arbeitsmarktpolitik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Kol-
lege Johannes Singhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsi-
dentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit einigen
Tagen können wir beobachten, dass die Mitglieder der rot-
grünen Bundesregierung und die Mitglieder einiger rot-
grüner Landesregierungen Liebenswürdigkeiten im Kam-
merton austauschen. Frau Künast wirft ihrer Kollegin
Höhn vor, sie hätte auf Länderebene völlig versagt.
Der Herr Schartau wählt den verbalen Fußtritt gegen die
Bundesregierung, um seine Frustration darüber erkennbar
zu machen, dass im Bereich der Arbeitsmarktpolitik
Hilflosigkeit und Erfolglosigkeit herrschen.
Herr Schartau, Sie haben nicht ganz Unrecht: Diese
Bundesregierung bekommt die Entwicklung zu einem ge-
spaltenen Arbeitsmarkt, die wir feststellen, nicht in den
Griff. Wir haben in einigen Bereichen der süddeutschen
Bundesländer fast Vollbeschäftigung
und in anderen Bereichen nach wie vor eine sehr hohe Ar-
beitslosigkeit. Es gelingt Ihnen nicht, Arbeitsplätze und
Arbeitslose zusammenzubekommen. Ich nenne Ihnen ein
Beispiel. Wir haben im Münchener Bereich 5 000 freie
Plätze im Bereich der Pflegeberufe, also eine Mangelsi-
tuation; dort wird dringend Personal gesucht. Im Rest des
Bundesgebiets, vor allem in den neuen Bundesländern,
haben wir 28 500 arbeitslose Fachpflegekräfte.
Es gelingt dieser Bundesregierung nicht, Arbeitsplätze
und Arbeitslose zusammenzubringen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Klaus Brandner
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Deshalb verstehe ich die Unruhe, mit der Herr Schartau
darauf hinweist. Denn der Befund ist doch klar: Die Kon-
junktur kommt immer mehr ins Stottern und die Arbeits-
losigkeit verharrt insgesamt auf einem viel zu hohen Ni-
veau. Ein Gutachten, das das Bundesfinanzministerium
vor wenigen Tagen in Auftrag gegeben hat und das veröf-
fentlicht worden ist, spricht ein desaströses Urteil über
Sie, nämlich dass die 44 Milliarden DM, die Sie für die
aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stellen, letztlich
nicht den gewünschten Erfolg bringen, sondern mehr ver-
schleiern, wie viele Arbeitslose Sie schaffen.
Lassen Sie mich etwas zu den Zahlen sagen. Die Bun-
desregierung schafft es nicht einmal, den europäischen
Durchschnitt beim Abbau der Arbeitslosenzahlen zu errei-
chen. Der Durchschnitt beträgt in Europa 8,7 Prozent. Ih-
nen ist es im vergangenen Jahr nicht gelungen, diesen
Durchschnitt zu erreichen. Wäre Ihnen dies gelungen, dann
hätten Sie 360 000 Arbeitslose weniger zu verzeichnen ge-
habt. Den Beschäftigungszuwachs, den es gibt, haben Sie
nur durch Tricks in der Statistik erreicht. Ich erinnere in die-
sem Zusammenhang an das 630-DM-Job-Gesetz. Wenn
diese Leute nicht in der Statistik wären, dann hätten Sie
584 000 Beschäftigte weniger.
Ein weiterer Punkt. Ohne die Zugkraft der Bundeslän-
der im Süden ich nenne stellvertretend Bayern, Baden-
Württemberg und Hessen wären die Arbeitslosenzahlen
in Deutschland insgesamt viel höher. Allein diese drei
Bundesländer, nämlich Bayern, Baden-Württemberg und
Hessen,
haben im vergangenen Monat zur Hälfte zum Arbeitslo-
senabbau beigetragen. Sie sollten sich also einmal ein
Beispiel an der Wirtschaftspolitik dort nehmen. Dann
würde es bei Ihnen auch besser werden. Die einzige
Wachstumsbranche, die einzige Konjunkturlokomotive
einer unangenehmen Art, ist derzeit die Schwarzarbeit. In
diesem Bereich haben wir nämlich noch Zuwachsraten,
während sonst die Konjunktur schwächelt.
Was muss man tun, Herr Schartau? Sie haben natürlich
Recht, dass Innovation und Erfolg bei der Umsetzung ei-
ner Reihe von Konzepten nötig sind und dass mit alten
Rezepten wohl nicht mehr allzu viel anzufangen ist. Ich
nenne Ihnen zwei konkrete Beispiele, an denen deutlich
wird, dass sich diese Bundesregierung bewegen muss.
Erstens. Wir brauchen endlich eine Umsetzung der Kom-
bilohnmodelle für arbeitsfähige Sozialhilfe- und
Arbeitslosenhilfeempfänger. Denn Modellprojekte erset-
zen keine flächenweite Umsetzung.
Zweitens. Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe müssen für
Arbeitsfähige unter bestimmten Voraussetzungen zwin-
gend abgesenkt werden. Wenn zum Beispiel ein Arbeits-
losenhilfeempfänger, jung, gesund, männlich, keine
Betreuungspflichten gegenüber irgendjemandem hat,
dann frage ich Sie: Warum soll nicht mit mehr Nachdruck
darauf hingewirkt werden, dass er zu einer Arbeit kommt?
Warum soll man dann, wenn er keiner Arbeit nachgehen
will, nicht mit Kürzungen vorgehen?
Das ist gegenüber denjenigen gerecht, die sich anstrengen
und ihrer Pflicht nachkommen.
Es bleibt viel zu tun und wir erwarten, dass Ihren
Ankündigungen endlich Taten folgen. Worte allein genü-
gen nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Werner Schulz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Wenn man die Debatte verfolgt, dann gewinnt man den
Eindruck, es gehe mehr darum, wer Recht hat, und nicht
darum, was richtig ist, um die Arbeitslosigkeit abzubauen.
Diese Auseinandersetzungen sind zum Teil schon über
Jahre hinweg geführt worden.
Das ist keine Ablenkung, sondern eine Frage der Einsicht,
die man in der Opposition haben sollte und die man natür-
lich haben muss, wenn man Regierungsverantwortung
trägt.
Ich weiß nicht, wo Sie sich schon lange befinden.
Das Thema, um das es heute geht man kann grandios
am Thema vorbeireden, Kollege Singhammer , lautet:
Was passiert in Nordrhein-Westfalen? Das hat die PDS
zum Thema dieser Aktuellen Stunde gemacht. Es geht um
Modellversuche, die dort gestartet worden sind, um im
Rahmen einer Modernisierung von Sozialhilfe aus So-
zialämtern Sozialagenturen zu machen, wenn ich das rich-
tig verstehe. Es geht also um eine Koppelung von Ar-
beitsämtern und Sozialämtern, um eine wenn man so
will Modernisierung, auch Entbürokratisierung im
Dienstleistungsbereich, um Sozialhilfeempfängern Arbeit
und Eingliederungshilfe anzubieten. Das ist nichts Neues,
nichts Umwerfendes, nichts Revolutionäres.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Johannes Singhammer
15992
Sie haben es seit Jahren gesagt, aber nicht gemacht. Das
scheint der große Unterschied zu sein.
Aber es gibt Städte, in denen es gemacht worden ist, so
zum Beispiel in der Stadt Leipzig im Rahmen des Projekts
Arbeit für Leipzig. Dort sind sehr gute Erfahrungen ge-
macht worden. Die Stadt Leipzig hat allen Sozialhilfe-
empfängern, die das wollten, eine Arbeit in einer großen
Beschäftigungsgesellschaft anbieten können.
Dies hatte allerdings den merkwürdigen Effekt, dass
20 Prozent der Sozialhilfeempfänger überhaupt nicht
mehr nach Sozialhilfe gefragt haben. Man hat analysiert,
woran das liegt. Es waren vielfach Sozialhilfebezieher,
die nicht unbedingt darauf angewiesen waren. Ein großer
Teil konnte über Qualifizierung innerhalb der Beschäfti-
gungsgesellschaft auf den ersten Arbeitmarkt gebracht
werden.
Genau das will man in Nordrhein-Westfalen versu-
chen. Ich habe positiv zur Kenntnis genommen, dass man
den Versuch von den eigentlich vereinbarten drei Modell-
regionen auf zehn erweitern und das Modell des fördern-
den, aktivierenden Sozialstaats in die Tat umsetzen will.
Es ist ein enormer Fortschritt, dass der Einzelne nun
nicht mehr diesen Hürdenlauf durch die einzelnen Ämter
machen muss, wo er mit Antragsformularen zugeschüttet
wird, und dass so Zeit und Mittel für echte Beratungen
und Dienstleistungen frei werden, um ihm eine individu-
elle, maßgeschneiderte Eingliederungshilfe anbieten zu
können.
Meine Damen und Herren von der PDS, Sie haben
heute einen Antrag zu Tagesordnungspunkt 6 vorgelegt,
bei dem es um die Neugestaltung der aktiven Arbeits-
marktpolitik geht. In Ihrem Antrag beklagen Sie, dass die
Arbeitslosigkeit nur verwaltet und keine effektive Hilfe
angeboten wird. Sie fordern eine individuelle Eingliede-
rungshilfe. Ich frage Sie: Was geschieht denn in Nord-
rhein-Westfalen anderes? Sie müssen einmal auf die
Köpfe schauen, auf die Sie sich berufen, also auf diesen
nicht ganz unbekannten Textilunternehmer Friedrich
Engels, der gesagt hat, man müsse das Ganze im Blick be-
halten, denn mit Detailbetrachtungen gerate man in Ge-
fahr, es gänzlich zu zerfasern. Das machen Sie aber mit
der heutigen Debatte. Sie zerfasern einen außerordentlich
positiven Ansatz, der ein wesentlicher Schritt ist, um Ar-
beitslosigkeit abzubauen.
Seitens meiner Fraktion kann ich nur betonen: Wir
werden diese Modellversuche mit Interesse verfolgen.
Wir werden sie beobachten und schauen, welche Erfah-
rungen man damit macht. Ich bin davon überzeugt, dass
wir mit solchen Modellversuchen im Gegensatz zu ideo-
logischem Kampfgeschrei Schritt für Schritt weiter-
kommen. Ihre Energien auf diesem Gebiet können Sie in
Mecklenburg-Vorpommern loswerden. Dort sind Sie in
der Lage, Ihre Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Ich
sehe nichts Vergleichbares, mit dem Sie dort dazu beitra-
gen, um die sehr hohe Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-
Vorpommern abzubauen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Herr
Kollege Dr. Klaus Grehn für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich
wollte zunächst eine sehr persönliche Rede halten, weil
ich selber seit elf Jahren in der Arbeitslosenbewegung
Deutschlands und auch auf internationalem Gebiet tätig
bin. Ich verzichte darauf. Aber ich könnte Ihnen einige Er-
fahrungen vermitteln, die ich aus Tausenden von Beispie-
len gewonnen habe.
Ich möchte aber etwas dazu sagen, dass Sie immer von
den Arbeitslosen sprechen. Die gibt es nicht.
Sie müssen schon deutlich sagen, wen Sie eigentlich mei-
nen. Sie, Herr Staatssekretär, sprechen von einer ideolo-
gisch besetzten Debatte. Das, was Herr Schartau hier vor-
getragen oder auch nicht vorgetragen hat er dementiert
offensichtlich ,
ist auch nur eine Sache unter vielen.
Ich rede von einer Kampagne, die von den Arbeitslo-
sen gespürt wird. Da sagt Herr Schommer, Amtskollege in
Sachsen, er unterteile in Nicht-Arbeitsfähige und Arbeits-
fähige. Menschen sollen nicht nur alimentiert werden,
sondern sie müssen auch eine Chance zur Erbringung ei-
ner Gegenleistung erhalten. Die Tätigkeit, die dann ver-
richtet werden soll, soll eine gemeinnützige Tätigkeit
sein. Er nennt sie auch: Kleiderkammer, Aufarbeitung von
Kirchenakten oder Hausaufgabenhilfe. Das sind die Al-
ternativen.
Dann steht in einer Umfrage, dass mehr als die Hälfte
der Führungskräfte das Arbeitslosengeld als generell zu
hoch bewertet. Ich möchte diesen Leuten einmal empfeh-
len, von Arbeitslosengeld zu leben. 76 Prozent der Top-
manager sind für eine Kürzung des Arbeitslosengeldes.
CDU/CSU und F.D.P. schlagen die Einführung einer Ar-
beitslosenpolizei vor. Herr Riester erklärt, den faulen Ar-
beitslosen solle die Stütze gestrichen werden. Herr
Miegel redet davon, dass 2 Millionen Arbeitslose gar
nicht arbeiten wollten. All das sind Vorschläge und Reden
aus der letzten Zeit. Ich könnte damit fortfahren. So geht
das immer weiter. Wenn hier also jemand ideologisiert,
dann ist es nicht die PDS.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Werner Schulz
15993
Zweitens. Sie haben gesagt, die Zahl der Beschäftigten
steige. Herr Brandner, auch Sie haben auf dieses Pferd ge-
setzt. Wir haben darüber im Ausschuss gesprochen. Was
in der Tat zutrifft, ist, dass die Zahl der Arbeitsstunden
nach dem Bericht des Sachverständigenrates gleich ge-
blieben ist. Die vorhandene Arbeit ist also nur auf mehr
Köpfe verteilt worden. Teilzeit- und 630-DM-Jobs sind
das Ergebnis.
Das ist keine existenzsichernde Arbeit. Darüber müssen
wir uns einig sein.
Drittens. Es gibt Beispiele so sagen Sie, Herr Staats-
sekretär von Menschen, die sich eingenistet haben.
Meine Frage ist: Wie viele sind es denn? Schauen Sie
doch nach, was das IAB untersucht hat. Die Größenord-
nung liegt bei 5 Prozent. Wir möchten, dass über die rest-
lichen 95 Prozent geredet wird und nicht über die 5 Pro-
zent.
Ich bin nicht dafür, dass die Kofferträger mit der Partei
identifiziert werden. Ich will auch nicht, dass einige Steu-
erhinterzieher mit den Unternehmern im Allgemeinen
gleichgesetzt werden. Machen Sie dies bitte auch nicht bei
den Arbeitslosen! Das ist zynisch.
Wenn Sie über dieses Thema reden, dann reden Sie
über die Masse der Arbeitslosen. Reden Sie über diejeni-
gen, die keine Hilfe brauchen, sondern die arbeitsmarkt-
fähig sind und arbeiten wollen, aber keine Arbeit finden.
Reden wir über diejenigen, Kollege Meckelburg, die nun
in Scharen aus Ost Richtung West wandern. Die alten
Bundesländer sind ja die Nutznießer dieser Wanderung
der jungen Leute, während der Osten vergreist.
Herr Schulz, darüber könnten Sie reden. Das trifft für
Leipzig genauso wie für meine Stadt, Hoyerswerda, zu.
Wir wollen über Alternativen zur Arbeitslosigkeit und
nicht über Maßnahmen gegen die Arbeitslosen diskutie-
ren. Hier ist viel über Niedriglöhne geredet worden. Sie,
Herr Niebel, sind ein Bezieher eines höheren Einkom-
mens und plädieren für niedrige Löhne auf dem Arbeits-
markt.
Nach der These, dass niedrige Löhne Arbeitsplätze schaf-
fen das wiederhole ich , müsste Ostdeutschland ein El-
dorado für Arbeitsplätze sein. Es ist aber ein Eldorado für
Arbeitslose. Damit ist Ihre Behauptung ad absurdum ge-
führt. So können Sie nicht mit den Arbeitslosen umgehen.
Herr Staatssekretär, welches sind denn die Instru-
mente, um Langzeitarbeitslosigkeit zu vermeiden? Zu den
Aussagen von Herrn Miegel sei gesagt: Es ist so, dass von
den 1,3 Millionen Langzeitarbeitslosen nur 75 000 nicht
bereit sind, eine Weiterbildungsmaßnahme anzunehmen.
Das ist eine Tatsache. Das ist die Wahrheit. Das ist die Si-
tuation bei den Arbeitslosen. Über diese sollten wir reden
und wie wir sie wieder in Arbeit bringen können. Die Ver-
mittlungsfähigkeit muss erhöht werden. Auch das ist so
eine Geschichte: Sie schieben die Schuld den Arbeitslo-
sen zu. Ich sage Ihnen: Die Arbeitslosen sind zum über-
wiegenden Teil vermittlungsfähig. Was wir nicht haben,
sind Arbeitsplätze. Wir sollten darüber reden, wie wir zu
Arbeitsplätzen kommen, damit diese Leute in existenzsi-
chernde Arbeit kommen. Daran fehlt es jedoch.
Die Arbeitsämter, Herr Schartau, sind nicht deshalb so
voll, weil dort das Geld ausgezahlt wird. Wie Sie viel-
leicht wissen, wird es überwiesen. Die Hallen, Zimmer
und Korridore der Arbeitsämter sind deshalb so voll, weil
die Menschen Arbeit suchen, und nicht deswegen, weil sie
dort Geld abholen wollen. Sie sollten sich Gedanken da-
rüber machen, warum das so ist, statt eine Kürzung der
Leistungen zu fordern. So ist es jedenfalls bei mir ich
habe den Artikel vorliegen herübergekommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Grehn,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Lassen Sie uns ernsthaft da-
rüber nachdenken, wie wir die Arbeitslosen mit ins Boot
nehmen und wieder in Arbeit bringen können, statt über
Zwangsmaßnahmen für Arbeitslose nachzudenken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Minister für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Tech-
nologie des Landes Nordrhein-Westfalen, Harald
Schartau.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich rede über Nordrhein-Westfalen, über ein Land,
das sich im Strukturwandel eines angewöhnt hat, nämlich
gegen alles anzugehen, was arbeitslose Menschen diskri-
miniert. Deshalb möchte ich Ihnen eines sagen: Wenn Sie
sich hier als Florence Nightingale der Arbeitslosen hin-
stellen, kann ich das nur dann akzeptieren, wenn Sie Wege
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Klaus Grehn
15994
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aufzeigen, um den
betroffenen Menschen Perspektiven zu eröffnen.
Erstens. Wir wollen, dass an der Stelle, wo Arbeitslo-
sigkeit entsteht, das Nachdenken beginnt. Transfer heißt
für uns der zentrale Begriff. Wir wollen, dass von dem
Zeitpunkt an, an dem klar ist, dass der Arbeitsplatz verlo-
ren geht, alles in Bewegung gesetzt wird, um nach dem
Verlust des einen Arbeitsplatzes möglichst nahtlos einen
anderen zu bekommen. Abfindungen, die im Rahmen von
Sozialplänen ausgehandelt worden sind, haben den Men-
schen, die ein Jahr oder länger arbeitslos sind, vielleicht
in den ersten Tagen der Arbeitslosigkeit geholfen. Durch
Abfindungen aber gibt es keine neuen Arbeitsplätze. Des-
halb müssen die von den Unternehmen hierfür aufge-
wendeten Mittel investiert werden, um neue Beschäfti-
gungsmöglichkeiten zu schaffen.
Zweitens. Wir haben in Nordrhein-Westfalen das Ziel,
Jugendarbeitslosigkeit zu einem Fremdwort zu machen;
die Latte, dies zu erreichen, liegt sehr hoch. Wir versu-
chen, es zu erreichen, indem wir jugendlichen Langzeit-
arbeitslosen in einem guten System eine neue Perspektive
aufzeigen. Wir gehen zu ihnen hin wir wissen, dass auf
der anderen Seite Handwerker und Industrieunternehmen
entsprechende Arbeitskräfte suchen und machen dann
Fördern und fordern. Wir fördern die Jugendlichen in-
tensiv mit Geld und fordern sie heraus, die angebotene
Beschäftigung anzunehmen und den Schritt in eine neue
existenzielle Zukunft zu gehen. Das ist der Weg: erst för-
dern und dann fordern.
Drittens. Wir wenden uns gegen jede Diskriminierung
auf dem Arbeitsmarkt. Dies betrifft ältere Arbeitslose, die
keine Vermittlungschancen mehr haben, weil sie älter als
45 Jahre sind. In NRW gehen wir massiv gegen solche
Diskriminierungen vor. Schwerbehindert und keine
Chance nicht mit uns. Wir greifen auf diesem Feld an
und suchen nach neuen Modellen. Migrant sein und des-
halb arbeitslos nicht mit uns. Auch dafür muss es Mo-
delle und Ideen geben Fördern und fordern , um die
Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt hineinzube-
kommen.
Ich habe hier nur ein paar Minuten Zeit; deshalb befasse
ich mich mit dem, was Sie sagen, höchstens nach meiner
Rede.
Was heißt in diesem Zusammenhang Fördern und for-
dern? Man muss dabei einen kleinen Unterschied auf-
zeigen. Es gibt Leute, die glauben, mit Drohpotenzial
Kürzungen von Unterstützungsgeldern oder Drohen mit
der Arbeitslosenpolizei könnten die Probleme der Ar-
beitslosigkeit gelöst werden. Von solchen Meinungen dis-
tanzieren wir uns mit aller Kraft.
Die erste Voraussetzung ist, dass arbeitslose Men-
schen aus der Anonymität der Arbeitslosigkeit herausge-
holt und individualisiert werden. Es muss vor dem per-
sönlichen Problemhintergrund jedes Einzelnen ein Weg
aufgezeigt werden, der beschritten werden kann. Wenn
dies geschehen ist, dann fordern wir, dann machen wir
Druck, damit dieser Weg gegangen wird. Aber erst das
eine und dann das andere; nur so kann es aus meiner Sicht
gehen.
Wir haben eine Reihe von Erfahrungen, zum Beispiel
auf dem Montansektor. Es handelt sich um ein Gemein-
schaftsprojekt der Montanunternehmen übrigens, Herr
Singhammer, der Industrien, in denen die Menschen jahr-
zehntelang gearbeitet haben, damit Ihr schönes Bayern
jetzt prosperieren kann; immer daran denken
mit dem Handwerk, wonach die Montanarbeiter, die ihren
Arbeitsplatz verlieren, Praktika in Handwerksbetrieben
machen, bevor das Arbeitsverhältnis beendet ist. Ein
großer Teil der Betroffenen bleibt im Handwerk, weil sie
die Verhältnisse dort gesehen haben und wissen, dass es
dort eine Arbeitsperspektive gibt.
Eine weitere Möglichkeit ist, Akquisiteure einzu-
stellen, die neben dem Arbeitsamt auf dem Arbeits-
markt nach freien Stellen suchen und sich an die
Betriebe wenden, um betroffenen Arbeitslosen Emp-
fehlungen geben zu können, wo sie eine Beschäftigung
finden können.
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen: Wir haben
beispielsweise in Dortmund einen großen Strukturwandel
zu verzeichnen. Wir sind dort dem Transfergedanken ge-
folgt: Die betroffenen Menschen sollen, wenn klar ist,
dass der Arbeitsplatz verloren geht, nicht warten, bis der
Tag der Entlassung kommt. Es wird vielmehr sofort damit
begonnen, zu gucken, was im Arbeitsmarkt an Möglich-
keiten besteht bzw. welche Umschulungsmaßnahmen
notwendig sind. Mit den notwendigen Maßnahmen wird
begonnen, bevor die Arbeitslosigkeit eintritt. Das bedeu-
tet, wir aktivieren Potenziale, ohne darauf zu warten, dass
die Menschen erst arbeitslos werden.
Wir werden in Nordrhein-Westfalen darüber hinaus
mit Zeitarbeitsfirmen in großem Umfang zusammenar-
beiten. Ich habe Zeitarbeitsfirmen gebeten die sind
äußerst seriös , uns bei der Lösung eines der größten
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Minister Harald Schartau
15995
Probleme behilflich zu sein, nämlich beim Abbau der Ar-
beitslosigkeit von älteren Menschen.
Diese Zeitarbeitsfirmen nehmen ältere Arbeitslose unter
ihre Fittiche, leihen sie aus und machen beste Erfahrun-
gen, weil die Älteren nicht mehr unter dem Druck stehen,
beweisen zu müssen, dass die Vorurteile, die man gegen
sie hat, nicht zutreffen. Sie werden geholt, weil sie zeigen
sollen, welche Qualifikationen sie haben. Sie machen das
prächtig. Diesen Weg werden wir weitergehen,
weil wir immer davon ausgehen, dass es niemand gibt, der
sich am Zustand der Arbeitslosigkeit erfreut. Alle wollen
eine Chance haben. Wir müssen kreativ sein, um hier vo-
ranzukommen.
Wir führen verschiedenste Kompetenzen in den Kom-
munen im Rahmen so genannter Sozialagenturen zusam-
men das ist ein großes Projekt , weil jeder weiß, dass
man sich etwas einfallen lassen muss, wenn man diejeni-
gen, die in Familien aufgewachsen sind, in denen seit Ge-
nerationen Sozialhilfe bezogen wird und die nichts ande-
res als Sozialhilfe kennen gelernt haben davon gibt es
viele , aus der Sozialhilfe herausholen will. Deshalb
führen wir die Kompetenzen Schuldenberatung, Wohnbe-
ratung, Suchtberatung und Arbeitsberatung zusammen,
um eine Lösung aus einer Hand anzubieten und die Men-
schen dann auch mit einem wohlmeinenden Druck zu be-
gleiten, um sie dazu zu bringen, dass sie den Weg, der aus
der Sozialhilfe herausführt, auch zu Ende gehen. Wer
kann dagegen ernsthaft etwas haben?
Die Frage, ob Druck ausgeübt werden soll, spielt in
dem Zusammenhang genauso oft eine Rolle wie die
Frage, ob es nicht auch Leute gibt, die sich an die Zahlung
von Transferleistungen gewöhnt haben. Ich sage dazu
ganz klar: Wenn wir einen Weg aufgezeigt haben, der be-
gehbar ist, dann machen wir auch Druck. Wenn es Leute
gibt, die im Beziehen von Transferleistungen eine Per-
spektive sehen nach dem Motto Sozialhilfe plus
Schwarzarbeitjob reichen mir, dann wickeln wir um die-
ses Problem keinen Lappen, sondern benennen es laut und
deutlich.
Ich möchte jetzt komme ich zum Kern, zu dem, was
bezeichnet wird als vom Kopf auf die Füße stellen die
mentale Einstellung zur Gegenleistung der Arbeitslosen-
versicherung für den monatlich tapfer entrichteten Ar-
beitslosenbeitrag verändern.
Die Einstellung darf nicht so aussehen: Wenn ich arbeits-
los werde, habe ich einen Anspruch auf Arbeitslosengeld.
Vielmehr muss die Einstellung sein: Dann, wenn ich selbst
nicht in der Lage bin egal, aus welchen Gründen , ei-
nen Job zu finden, bekomme ich eine erstklassige Assis-
tenz von den Arbeitsämtern die dazu in der Lage sind;
deshalb muss sich hier niemand schützend vor die Ar-
beitsämter stellen; das wissen wir , um möglichst schnell
wieder in Beschäftigung zu kommen. Der Weg besteht in
der Entanonymisierung des Arbeitslosenschicksals, der
Individualisierung und in dem Eröffnen individueller Per-
spektiven. Dann helfen wir mit.
Nur, wenn wir die Einstellung nicht verändern, haben
bestimmte Leute die Möglichkeit, Strategien zu fahren,
Arbeitslosengeld zu beziehen, gleichzeitig einen Job zu
machen und sich an den Vermittlungsbemühungen nicht
zu beteiligen. Das sind zwar nur wenige. Trotzdem müs-
sen wir darüber reden, weil manche meinen, das sei das
Hauptproblem der Arbeitslosigkeit. Das ist es nicht. Das
wissen wir alle. Dennoch rede ich darüber, weil es zur
Gänze dazugehört.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Franz Romer für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich freue mich über
den Vorstoß von Minister Schartau, der gefordert hat, die
heutige Form der Arbeitslosenversicherung und der So-
zialversicherungen grundlegend zu überdenken. Offenbar
wird nun auch in den Reihen der SPD erkannt leider
noch nicht von allen , dass die Arbeitsmarktpolitik der
alten Bundesregierung doch der richtigere Weg war.
Ich bin eigentlich erstaunt nein, eigentlich bin ich nicht
mehr erstaunt : Das, was noch gestern verteufelt und
furchtbar kritisiert wurde, ist heute der richtige Weg. Ich
empfehle Ihnen, anschließend im Protokoll nachzusehen,
an welchen Stellen der Rede von Herrn Schartau Sie,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
Beifall geklatscht haben.
Herr Schartau fordert einen Bewusstseinswandel. Die
Geldleistungen der Solidarkassen sollen dem Ziel dienen,
dass die Empfänger möglichst bald wieder auf den eige-
nen Füßen stehen. Die unionsgeführte Bundesregierung
hatte bereits in der vergangenen Legislaturperiode Vor-
schriften zur Missbrauchsbekämpfung eingeführt. Dazu
gehörte bekanntlich die Pflicht der Arbeitslosen, ihre per-
sönliche Arbeitslosmeldung im Abstand von drei Mona-
ten zu erneuern.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Minister Harald Schartau
15996
Auch hatten wir die zumutbaren Pendelzeiten für Arbeit-
nehmer verlängert, und zwar bei Vollzeit von 2,5 Stunden
auf 3 Stunden und bei Teilzeit von 2 auf 2,5 Stunden täg-
lich.
Welches Geschrei aus Ihren Reihen, meine Damen und
Herren von Rot-Grün, war da zu hören!
Unsere Maßnahmen wurden als unsozial, unmenschlich
und unchristlich bezeichnet.
Sie wurden von Ihnen wieder rückgängig gemacht, indem
Sie das Zweite Gesetz zur Änderung des Dritten Sozial-
gesetzbuches verabschiedeten. Im Juni 1999 angepriesen
als wichtiger Baustein zur Bekämpfung der Arbeitslosig-
keit, hat sich dieses Gesetz jetzt als Flop erwiesen wie so
vieles andere mehr, was von Ihnen in der Vergangenheit
auf den Weg gebracht wurde.
Der für das Frühjahr vergleichsweise schwache Rück-
gang der Arbeitslosigkeit spricht für sich. Bei den
alarmierenden Konjunkturdaten können wir von Glück
sprechen, dass die Arbeitslosenzahlen überhaupt zurück-
gegangen sind. Wir wissen ja, was zu diesem Rückgang
geführt hat: die jährliche saisonale Belebung, aber auch
Frühverrentung und Altersteilzeit.
Meine Damen und Herren von der SPD, Ihr Partei-
freund Herr Schartau hat offenbar die Zeichen der Zeit er-
kannt.
Nehmen Sie sich ein Beispiel an ihm.
Die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft von einer
Industrie- zu einer Informationsgesellschaft stellt hohe
Anforderungen gerade an die Arbeits- und die Sozialpoli-
tik. Globalisierung und demographische Entwicklung
haben erhebliche Auswirkungen auf die Lebensbedin-
gungen der Menschen. Dem müssen wir Rechnung tragen
und die Politik danach ausrichten. Unser Land braucht die
richtigen Rahmenbedingungen. Was haben Sie gemacht?
Einsetzung von Kommissionen, Prüfaufträge, Bündnisse
für Arbeit und alles ohne Ergebnisse.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden mir zu-
stimmen, wenn ich sage, dass in diesen Zeiten das Enga-
gement des Einzelnen gefragt ist. Was der Einzelne zu-
mutbar leisten kann, muss er selbst leisten. Wer etwas
bekommt, muss etwas zurückgeben. Die Politik muss
dafür Anreize schaffen. Eigene Anstrengungen müssen
sich lohnen. Das sind keine Floskeln, sondern aktuelle
Notwendigkeiten und in der Zukunft wichtiger denn je.
Das bedeutet keinesfalls die Aufgabe des Sozialstaates.
Die Gemeinschaft der Beitragszahler sollte aber nur dann
einspringen müssen, wenn der einzelne Leistungsempfän-
ger sich selbst auch entsprechend einbringt. Dem allge-
meinen Anspruchsdenken muss entgegengewirkt werden.
An die Adresse von Herrn Schröder und Herrn Riester
möchte ich sagen: Ein Blick nach Düsseldorf könnte si-
cher nicht schaden.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht die Kol-
legin Renate Rennebach für die SPD-Fraktion.
Meine Milde ist durch
nichts zu überbieten. Deswegen werde ich zunächst ein-
mal Herrn Niebel eine Mark schenken, ohne dass er mich
darum bittet.
Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte mit ihren
vielen Facetten zeigt, dass in diesem Land immer noch
nicht verstanden worden ist, was wir in den letzten Mo-
naten, die wir regieren
in den letzten zweieinhalb Jahren, seitdem wir regieren;
ich freue mich, dass ich zu Ihrer Erheiterung beigetragen
habe , getan haben, um den Arbeitsmarkt zu regulieren,
um Arbeitslosigkeit zu beseitigen, um den Arbeitsschutz
wieder sicher zu machen, um Frauen und Familien zu för-
dern und Steuergerechtigkeit zu schaffen. Was diese Bun-
desregierung geschafft hat, war eine Glanzleistung, nach-
dem Sie 16 Jahre nichts anderes gemacht haben, als die
soziale Schraube nach unten zu drehen.
Herr Schemken, Sie sind zwar nach mir dran, aber ich
komme noch zu Ihnen. Wir haben diesen Prozess ge-
stoppt und die Schraube dreht sich langsam wieder nach
oben.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Franz Romer
15997
Sie verstehen das natürlich nicht, Kollegen von der Op-
position, weil Sie Ihre Instrumente nur zum Diffamieren
genutzt haben; Stichwörter: Freizeitpark, Arbeitslose
anreizen, Arbeitslose ruhen sich aus, sie sind an ihrem
Schicksal schuld.
Arbeitslose sind an ihrem Schicksal nicht schuld. In Wirk-
lichkeit waren Ihre Instrumente falsch. Die Kannbestim-
mungen, die Sie in den letzten Jahren Ihrer Regierungs-
zeit eingeführt haben, und die Streichungen, die Sie
vorgenommen haben, haben dazu geführt, dass die Ar-
beitslosigkeit bis auf fast 5 Millionen angestiegen ist.
Sie haben dafür gesorgt, dass Menschen, die keinen Anreiz
mehr zur Arbeit hatten, weil sie langzeitarbeitslos und per-
spektivlos waren, in die Sozialhilfe getrieben worden sind.
Die von uns eingesetzten Instrumente und Mittel sol-
len dazu beitragen, eine aktive Arbeitsmarktpolitik in un-
serem Land zu gestalten. Dazu gehört Fördern und for-
dern. Die Arbeitslosenversicherung ist vor vielen Jahren
doch deshalb eingerichtet worden, um kurze Zeiten der
Arbeitslosigkeit zu überbrücken. Während Ihrer Regie-
rungszeit diente die Arbeitslosenversicherung dazu,
Langzeitarbeitslosigkeit zu überbrücken. Wir wollen
dafür sorgen, dass die Zeiten der Arbeitslosigkeit wieder
kurz sind. Wir wollen die Menschen an die Hand nehmen
und ihnen helfen.
Hier ist von Strafen gesprochen worden. Das SGB III
enthält Strafen noch und nöcher. Dass es die dort gibt, ist
überhaupt nicht der Punkt. Aber es geht uns nicht um Stra-
fen. Fördern heißt an die Hand nehmen und heißt, den
Menschen zu zeigen, wo es langgeht.
Dazu haben wir uns in anderen Bundesländern umge-
schaut, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen.
Wir haben uns auch in Nachbarländern umgeschaut. Wir
werden in den nächsten Monaten auf den Tisch legen, wie
unser eigener Weg aussieht. Ich bin gespannt, welche Dis-
kussion wir hier dann führen werden, auch was die PDS
angeht.
Wenn Sie sagen, Sie spürten den Puls der Bevölkerung,
Sie seien die Vertreter der sozial Schwachen in diesem
Land und Sie müssten alles aufgreifen, was gegen unser
Vorhaben spricht, dann kann ich nur sagen: Machen Sie
endlich Ihre Ohren auf! In diesem Land hat sich bereits et-
was verbessert. Diese Bundesregierung hat in diesem Land
maßgebliche Verbesserungen durchgeführt und es geht den
Menschen besser. Sie haben sogar mehr Geld in der Tasche.
Zu dem vielstimmigen Chor hier vorne möchte ich Fol-
gendes sagen. Ich habe vorhin zufällig gehört, wie Herr
Schemken zu Herrn Merz gesagt hat: Der Blüm würde bei
dieser Diskussion vor Freude über die Tische springen.
Herr Blüm wäre vor Freude über die Tische gesprungen,
wenn Sie von der CDU/CSU und die F.D.P. ihn nicht da-
ran gehindert hätten, Sozialpolitik zu machen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Aktuellen Stunde ist der Kollege Heinz Schemken,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau
Rennebach, so ist es, wenn man draufhaut und nicht
zuhört. Ich habe meinem Fraktionsvorsitzenden gesagt
dazu stehe ich : Wenn das Herr Blüm gesagt hätte, dann
wäre Herr Dreßen reihenweise über die Tische gesprun-
gen.
Das sollte so zu Protokoll genommen werden, damit es
nicht wiederholt wird.
Die Lage ist eigentlich zu ernst. Herr Minister
Schartau, ich sage ausdrücklich: Der Ansatz ist sicherlich
zu wertvoll, als dass wir ihn hier zerreden sollten. Kollege
Brandner, wir müssen uns in der Tat bemühen, Initiativen
zu ergreifen. Ich hoffe, dass wir miteinander an die No-
vellierung des Arbeitsförderungsgesetzes herangehen.
Wir stehen nicht daneben, wie Sie es getan haben. Wir
werden mit anpacken, wenn Sie mit uns gemeinsam ver-
nünftige Wege gehen.
Die Lage am Arbeitsmarkt ist schwierig. Dass das so
ist, müssen wir uns nicht wechselseitig vorwerfen. Wir
können konkret feststellen die Zahlen machen es deut-
lich : Die Zahl der Beschäftigten lag im Dezember bei
38,9 Millionen und jetzt liegt sie bei 38,2 Millionen. Die
Zahl der Beschäftigten ist also zurückgegangen. Die Zahl
der Arbeitslosen stagniert. Nach der Aussage von
Bernhard Jagoda haben wir saisonbereinigt sogar eine
Erhöhung der Zahl der Arbeitslosen um 12 000.
Nein. Herr Jagoda hat außerdem festgestellt, dass in
den letzten drei Monaten die Arbeitslosigkeit wiederum
saisonbereinigt nicht nur stagniert, sondern zugenom-
men hat.
Frau Lotz, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist
auch unser Anliegen. Es macht doch keinen Sinn, sich ge-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Renate Rennebach
15998
genseitig Vorwürfe zu machen. Ich rate Ihnen deswegen,
in dieser Frage nicht so überheblich zu sein.
Es muss nämlich noch vieles auf den Weg gebracht wer-
den.
Wir müssen uns mit der Arbeitslosigkeit intensiv aus-
einander setzen. Es geht in erster Linie um den einzelnen
Betroffenen und nicht allein um die Statistik. Das Schick-
sal der Arbeitslosen bewegt uns. Deswegen haben wir in
den letzten Jahren versucht, durch kleine Schritte Verbes-
serungen zu erreichen. Sie konnten sich aber nicht durch-
ringen, uns zu unterstützen. Sie haben viele Maßnahmen
mit dem Schlagwort sozialer Kahlschlag abgelehnt.
Ich nehme die Konzeption des Arbeitsministers von
Nordrhein-Westfalen zum Anlass zu sagen: Unsere Vor-
schläge mögen in einer unsensiblen Weise präsentiert
worden sein. Dennoch muss man feststellen, dass sie im
Kern Richtiges enthalten haben. Und jetzt bringt der
Minister Elemente in die Diskussion, die schon zu unse-
rer Zeit eingeführt wurden. Ich denke dabei an Maßnah-
men zur Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit. Bei-
spielsweise sind 300 000 Langzeitarbeitslose durch das
Programm nach § 6 des AFG in Arbeit gekommen. Sie
können diese Zahl nachprüfen.
Hören Sie doch bitte zu! Ich möchte über die Vorschläge
Ihres Ministers reden, die uns nach vorne bringen können.
Der Herr Minister hat deutlich gemacht wir hatten
eine entsprechende Maßnahme schon eingeführt , dass
es sinnvoll ist, wenn sich ein Arbeitsloser innerhalb von
drei Monaten zu melden hat. Auch die Frage der Zumut-
barkeit muss in diesem Zusammenhang gestellt werden.
Dies kann ein Weg sein, um zu verhindern, dass es immer
mehr Arbeitslose bei immer mehr offenen Stellen gibt,
weil die angebotene Arbeit nicht angenommen wird. Ich
sage mit Nachdruck, dass wir hier tätig werden müssen;
denn zur Menschenwürde gehört auch, eine Arbeit zu ha-
ben.
Dieses Anliegen liegt uns sehr am Herzen. Wir sind bereit,
an flexiblen Lösungen und auch an einer Fortschreibung
des AFG mitzuwirken. Darauf können Sie sich verlassen.
Es ist schon erstaunlich das konnte man auch den
Äußerungen von Frau Rennebach entnehmen , dass je
nach Situation unterschiedlich gesprochen wird. Es sollte
doch so sein, dass es eine Übereinstimmung zwischen den
Regierungen von SPD-regierten Ländern und der
Bundesregierung in dieser Frage gibt. An verschiedenen
Orten sollte zum gleichen Thema nicht unterschiedlich
geredet werden.
Herr Brandner, wir müssen gemeinsam für die
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eintreten. Sie dürfen
uns vor Ort nicht sozialen Kahlschlag vorwerfen, wenn
Sie auf der anderen Seite den einfühlsamen Sozialpoli-
tiker spielen, der angesichts der jüngsten Äußerungen von
einem kleinen Ausrutscher spricht.
Das Thema mag in einer unsensiblen Weise von dem
Minister angegangen worden sein. Wenn es um das
Schicksal des einzelnen Arbeitslosen geht, kann man zu
dem Schluss kommen, dass die Überschrift irreführend
ist. Aber wenn wir auf die globale Herausforderung rea-
gieren wollen, müssen flexible Elemente eingebaut wer-
den. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie bitten, sich
an die eine oder andere Maßnahme von uns zu erinnern,
die im Ansatz richtig war. Diese Maßnahmen könnten Be-
standteil einer Konzeption sein, die Sie mit Ihren Vor-
schlägen noch anreichern können und die unsere Zustim-
mung finden kann. Damit helfen wir den Arbeitslosen, der
Wirtschaft und dem Mittelstand.
Bei den Neugründungen gab es im vergangenen Jahr
einen Rückgang. Das führte dazu, dass mindestens
100 000 Arbeitsplätze nicht geschaffen wurden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Schemken, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ein letzter Satz.
Wir hatten ein Programm aufgelegt, mit dem Neugrün-
dungen unterstützt wurden nach der Devise: Ein Arbeits-
loser nimmt einen weiteren Arbeitslosen mit so im
AFRG, von der CDU/CSU-F.D.P.-Koalition verabschie-
det. Hätten wir beispielsweise 100 000 Neugründungen
mehr, dann hätten wir 200 000 Arbeitsplätze mehr.
Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie
Zusatzpunkt 7 auf:
5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-
bung des Rabattgesetzes und zur Anpassung
anderer Rechtsvorschriften
Drucksache 14/5594
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-
bung der Zugabeverordnung und zur Anpas-
sung weiterer Rechtsvorschriften
Drucksache 14/5494
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Heinz Schemken
15999
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Schauerte, Gunnar Uldall, Dagmar Wöhrl, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Innovation und fairer Wettbewerb im Handel
nach Abschaffung von Rabattgesetz und Zuga-
beverordnung
Drucksache 14/5751
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Bundesregierung der Herr Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie, Dr. Werner Müller.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Stellen Sie sich einmal folgenden Sachverhalt
vor: Ein Einzelhandelsgeschäft gibt seinen Kunden, wenn
sie etwas gekauft haben, eine Einkaufstasche aus Stoff,
damit sie die gekaufte Ware nach Hause tragen können.
Das klingt nicht sehr unnormal, hat aber einen Konkur-
renten gestört. Er hat ein deutsches Gericht bemüht, das
dann festgestellt hat, dass diese Einkaufstasche aus Stoff
im Wert von 1,50 DM eine verbotene Zugabe ist, weshalb
dieses Geschäft die Einkaufstasche fortan nicht mehr mit-
geben durfte.
Angesichts dieses Beispiels fragt man sich: Was soll ei-
gentlich eine solche Zugabeverordnung? Wenn man be-
denkt, wie viele Male deutsche Gerichte aufgrund des Ra-
battgesetzes und der Zugabeverordnung schon über einen
solchen Kleinmist zu befinden hatten, kommt man zu dem
Punkt, dass man auch bei diesem Sachverhalt letztlich zu
viele Vorschriften, zu viel Bürokratie hat. Man klagt da-
rüber, aber selten wird daran etwas geändert.
Ich freue mich, weil wir diesmal eine echte kurze Re-
form auf der Tagesordnung haben. Die Bundesregierung
schlägt die Streichung, und zwar die ersatzlose Strei-
chung, des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung
vor. Dieser Schritt ist längst überfällig, denn wir brauchen
diese Gesetze nicht,
weder die Verbraucher, die heute selbst beurteilen und
entscheiden können, welcher Kauf sich für sie lohnt und
welcher nicht, noch die Unternehmen, die in intensivem
Wettbewerb stehen und auch bei der Gestaltung ihrer
Preise und ihrer Produkte Wege gehen wollen, die bei aus-
ländischen Unternehmen und im Ausland längst üblich
sind.
Der Hinweis auf das Ausland bringt mich zu einem we-
sentlichen Argument, zu einem Motiv für diese Reform.
Deutschland hat nämlich im Rabattrecht in Europa sozu-
sagen die rote Laterne. Ein grundsätzliches Rabattverbot
wie bei uns gibt es nirgends sonst in Europa. In der Ver-
gangenheit sind wir mit dem Rabattverbot trotz seiner
Fragwürdigkeit noch so einigermaßen klargekommen,
weil es für alle in Deutschland agierenden Unternehmen
verbindlich war. Aber jeder von Ihnen weiß, dass sich die
Unternehmen an dieses Verbot oft nicht gehalten haben.
Wir wollen diese Rechtsmaterie also grundsätzlich än-
dern. Die EU-Richtlinie für den elektronischen Handel
sieht in ihrem so genannten Herkunftslandprinzip vor,
dass für ausländische Unternehmen das Recht ihres Hei-
matstaats gilt, wenn sie in Deutschland Waren und Dienst-
leistungen über das Internet anbieten. Das heißt, auslän-
dische Anbieter können entsprechend ihrem liberalen
nationalen Recht in großzügigem Maße in Deutschland
Rabatte einsetzen. Die deutschen Konkurrenten hingegen
sind nach geltendem Recht an das strenge Rabattverbot
gebunden.
Dieses Ergebnis ist wirtschaftspolitisch unannehmbar
und für die Unternehmen ungerecht.
Die Bundesregierung darf eine solche Inländerdiskrimi-
nierung, die gerade die mittelständischen Unternehmen
erfassen würde, nicht hinnehmen. Sie hat daher den si-
chersten und schnellsten Weg gewählt, um dieser Gefahr
zu begegnen:
eine Reform, die zu einer echten, vollständigen Liberali-
sierung im Rabatt- und Zugaberecht führt.
Verehrte Frau Kopp, wegen Ihres Zurufs will ich kurz
erwähnen, dass das Bundeswirtschaftsministerium diesen
rechtlichen Anlauf schon vor sechs Jahren unter Herrn
Rexrodt genommen hat.
Das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung wären
schon weg, hätte damals nicht ihr Parteikollege Brüderle
als rheinland-pfälzischer Wirtschaftsminister die Sache
zu Fall gebracht; aber das nur am Rande.
Herr Schulz, Sie brauchen über Herrn Brüderle jetzt
nicht zu lachen, weil er nicht da ist.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss
16000
Wenn Rabatte und Zugaben in Zukunft grundsätzlich
erlaubt und nicht, wie heute, grundsätzlich verboten sein
werden, bedeutet das mehr Freiheit und mehr Eigenver-
antwortung. Die Herausforderung mehr Eigenverant-
wortung gilt gleichermaßen für Verbraucher und Unter-
nehmer. Neue Vertriebs- und Marketingmethoden werden
entstehen, Angebot und Nachfrage werden insbesondere
im Internet denken Sie an das Stichwort Powershop-
ping zu mehr Wettbewerb und das ist besonders wich-
tig zu mehr Verbrauchernutzen führen.
Ich will Ihnen ein Beispiel für mehr Verbrauchernutzen
nennen: Ein Versandhandel für Bekleidung wollte ein
grundsätzliches Recht auf Rückgabe der Bekleidung auch
nach Ende der Gewährleistungszeit ohne Angabe von
Gründen einführen. Das ist zwar überaus verbraucher-
freundlich, hat aber die Konkurrenz gestört; also hat man
die Frage, ob das erlaubt sei, durch einige Instanzen
durchgefochten. Schlussendlich hat ein Oberlandesge-
richt entschieden, dass eine solche Rückgabegarantie eine
verbotene Zugabe sei; also dürfe sie nicht weiter gewährt
werden. Diese Entscheidung erging zum Nachteil des Ver-
brauchers. Auch so etwas ist in Zukunft nicht mehr mög-
lich. Ich bin überzeugt, die Aufhebung des Rabattgesetzes
und der Zugabeverordnung wird als ein positives Beispiel
für den Abbau überflüssiger und einengender Regulie-
rungen zum Nutzen aller angesehen werden.
Nun will ich noch auf eine Sorge eingehen, die in der
Diskussion über diese Reform immer wieder zu hören
war: Es wurde gesagt, eine ersatzlose Streichung des Ra-
battgesetzes mache den Verbraucher zum Freiwild, da un-
seriöse Anbieter ihn zum Beispiel mit irreführenden An-
geboten über den Tisch ziehen könnten. Außerdem
verschlechtere die Reform die Position der mittelständi-
schen Anbieter, weil die großen Wettbewerber den Ver-
braucher durch Rabattsysteme und Staffelpreise an sich
binden würden. Die neue Freiheit werde zu zügelloser Ra-
battgewährung führen und die Belange schutzbedürftiger
Marktteilnehmer würden ignoriert. Solche Befürchtun-
gen sind durchaus verständlich, denn man muss natürlich
auch einkalkulieren, dass die deutschen Verbraucher gar
nicht daran gewöhnt sind, in einem Laden den Preis zu
hinterfragen, weil es ja nun 70 Jahre verboten war. Hier
geschieht nun ein sehr grundsätzlicher Systemwandel.
Nachdem man sich 70 Jahre nur völlig einseitig verhalten
konnte, wird fortan flexibles Verhalten von Verbrauchern
und Unternehmern Platz greifen.
Ich will die Berechtigung der Befürchtungen, die da-
durch entstehen, dass etwas Neues eintritt, nicht völlig in
Abrede stellen, möchte aber auch darauf hinweisen, dass
unsere Rechtsordnung für solche Veränderungen, wie wir
sie vorhaben, gut gerüstet ist. Mit der Aufhebung des Ra-
battgesetzes und der Zugabeverordnung werden in
Deutschland keine Wildwestsitten einreißen. So wird der
Verbraucher insbesondere durch das Gesetz gegen den
unlauteren Wettbewerb vor unredlichen Werbe- und Ver-
kaufsmethoden geschützt. Das in diesem Gesetz veran-
kerte Irreführungsverbot untersagt zum Beispiel die
Vorspiegelung so genannter Mondpreise als Ausgangs-
preise, welche tatsächlich nie verlangt wurden. Großen,
marktmächtigen Unternehmen, die über so genannte Bo-
nussysteme versuchen, Kunden an sich zu binden, setzt
das Kartellrecht Grenzen. Dies gilt insbesondere dann,
wenn große Unternehmen versuchen, mittelständische
Wettbewerber durch Kundenbindungssysteme aus dem
Markt zu drängen.
Es würde aber zu kurz greifen, beim Stichwort Mittel-
stand nur auf das hohe rechtliche Schutzniveau hinzu-
weisen, das die deutsche Gesetzgebung kennzeichnet. Ein
derartiger defensiver Ansatz würde der mittelständischen
Wirtschaft in Deutschland sicherlich nicht gerecht. Schon
in der Anhörung, die von der Bundesregierung im letzten
Jahr veranstaltet wurde, zeigte sich deutlich: Der Mittel-
stand sieht nicht nur die vorhin von mir erwähnten Fragen
und Probleme, die mit einer solchen Reform verbunden
sein könnten, sondern vor allem die Chancen dieser Re-
form. Immer mehr Mittelständler wollen Flexibilität
auch bei der Preisgestaltung, um sie im Wettbewerb in die
Waagschale werfen zu können.
In meinem Hause melden sich immer wieder Unter-
nehmensgründer, deren Geschäftsideen nur dann wir-
kungsvoll in die Praxis umgesetzt werden können, wenn
das Rabattverbot dorthin verabschiedet wird, wohin es,
ehrlich gesagt, gehört, nämlich in die Rechtsgeschichte
des letzten Jahrhunderts.
Die Hauptfrage, die immer wieder, ob schriftlich oder
mündlich, an die Mitarbeiter gestellt wird, lautet: Wann
endlich ist das Rabattgesetz weg? Mit dieser Frage spricht
man dem Wirtschaftsminister völlig aus dem Herzen.
Deswegen wäre ich Ihnen egal, auf welcher Seite des
Hauses sehr verbunden, wenn Sie diese Reform einhel-
lig unterstützten. Es wird zwei Profiteure geben, nämlich
die Verbraucher auf der einen Seite und die lebendigen,
die dynamischen Unternehmen auf der anderen Seite. Ich
verspreche mir davon auch eine Belebung des Konsums,
eine Verbesserung des Konsumklimas. Vielleicht kommt
es auch dazu, dass der Konsum hier und da ein bisschen
mehr Freude macht.
Herzlichen Dank.
Ich erteile
dem Kollegen Hartmut Schauerte für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ra-
battgesetz und Zugabeverordnung waren gesetzgeberi-
sche Antworten einer sehr nationalen Wirtschaftspolitik.
Insoweit ist es sicherlich richtig, dass man gerade nach ei-
ner Jahrhundertschwelle noch einmal überlegt: Sind die
richtigen Antworten gegeben worden? Was hat sich geän-
dert? Es hat sich ja in der Tat enorm viel geändert. Der
Umbruch in der Wirtschaft ist so umfassend, wie man sich
das kaum vorstellen kann und wie man sich das nur selten
klarmacht.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Bundesminister Dr. Werner Müller
16001
Nur wenige Aspekte: Die Internationalisierung hat in
einer Dimension zugenommen, wie das vorher nicht er-
wartet wurde. Das Internet ist eine technologische Revo-
lution. Die Informationen laufen in einer Weise auch in
Richtung Verbraucher, wie wir uns das früher nicht haben
vorstellen können. Das geht bis hin zu einer aktiven Ver-
braucherpolitik. Ich nenne nur: E-Commerce-Richtlinie,
Herkunftslandprinzip, Entwicklung von Kundenbindungs-
systemen und neuen Verkaufsstrategien bis hin zum Pow-
ershopping. Es gibt ja wirklich alles und das sind fast al-
les Dinge, die man sich vor 50 Jahren gar nicht richtig
vorstellen konnte.
Rabattgesetz und Zugabeverordnung waren Kinder ei-
nes Denkens im Deutschland der 30er-Jahre; da sind sie
entstanden. Wenn man sich ihre Herkunftsgeschichte an-
schaut, wird einem ganz schwindelig. Ich will das nicht
vertiefen, Herr Minister.
Das Ziel aber war zweierlei, der Schutz des Mittel-
standes und der Schutz des Verbrauchers. Ich glaube,
dass die Regelungen im Prinzip überwiegend positiv ge-
wirkt haben. Sie waren Mauern; sie haben die Eigenschaft
einer jeden Mauer gehabt: Sie haben geschützt, haben
aber auch daran gehindert, dass man herauskommt. Die
Frage ist immer: Was überwiegt? Ich glaube, unter dem
Strich bei abnehmendem Nutzen waren diese Rege-
lungen überwiegend positiv. Denn man darf ja auch da-
rauf hinweisen, dass in Deutschland die Lage des Mittel-
standes, trotz aller politischen Fehler, die wir gemacht
haben die einen mehr, die anderen weniger ,
immer noch besser als in vielen anderen europäischen
Ländern ist, insbesondere in England, wo man ja exakt
eine ganz andere Philosophie schon seit Jahrzehnten ver-
treten hat.
Rabattgesetz und Zugabeverordnung passen nicht
mehr in die Gegenwart. Aber die Ziele, die mit ihnen er-
reicht werden sollten, bleiben natürlich richtig. Die Frage,
die wir uns stellen müssen, lautet jetzt nicht: Wie kom-
men wir hau ruck! da heraus und woanders hinein?,
sondern: Wie können wir weiterhin die Ziele erreichen?
Denn die Ziele sind ja die gleichen geblieben; es geht wei-
terhin um Verbraucherschutz und Schutz des Mittelstan-
des. Wie können wir in dieser Beziehung bei aller Vorfahrt
für Freiheit ein Optimum an Schutz erreichen?
Es bleiben Gefahren. Ich nenne die Stichworte: irre-
führende Werbung, Diskriminierung, Verdrängungsab-
sicht, Täuschung, die Problematik der Preise unter Ein-
standspreis, die wir gerade im Zusammenhang mit der
sechsten GWB-Novelle diskutiert haben, bei der wir ja
erstmals entsprechende Regelungen eingefügt haben,
Machtwirtschaft statt Marktwirtschaft oder Nachfrage-
macht. Nachfragemacht ergibt sich in zweierlei Hinsicht.
Zum einen ist die Richtung vom Hersteller zum Händler
zu nennen. Dabei geht es um die Frage: Wer ist von wem
abhängig? Haben die großen Einkäufer die Macht, Her-
steller kaputtzumachen? Zum anderen geht es um die
Richtung vom Händler zum Kunden oder zum kleinen
Wettbewerber. Da gibt es ja überall jene alten Frontlinien,
an denen wir, wenn wir soziale Marktwirtschaft richtig
verstehen, sorgfältig arbeiten müssen. Wir dürfen die
Dinge nicht einfach laufen lassen, sondern müssen hin-
schauen. Jeder Eingriff muss natürlich gut begründet sein.
Die soziale Marktwirtschaft sagt Ja zur Freiheit, aber
gleichermaßen auch zu Regeln. Die Regeln sind die Si-
cherung für Freiheit und für Marktstrukturen und zur Ver-
meidung von Machtstrukturen. Die soziale Marktwirt-
schaft ist der intelligente, immer neu zu definierende
Auftrag, die Freiheit der Marktteilnehmer, von Käufern
und Verkäufern, Herstellern und Verbrauchern, zu si-
chern. Freiheit ist der Zweck solcher Regeln.
Jetzt haben wir zwei Gesetze, die durch viele techni-
sche Dinge überholt sind. Aber wir haben noch keine pro-
funde Diskussion, wie wir denn den Schutzzweck eini-
germaßen sichern, der, wie ich gesagt habe, bestehen
geblieben ist. Das ist eine Diskrepanz: Wir räumen ab, be-
vor wir aufgebaut haben. Das ist der Punkt, an dem wir
miteinander im Streit sind und über den wir miteinander
diskutieren können. Dazu sage ich ganz schlicht und er-
greifend: Diese Entwicklung in Europa konnte man und
hat man kommen sehen. Es mag auch sein, dass wir sie
vor vier oder fünf Jahren schon beherzter hätten anpacken
können. Das will ich nicht bestreiten. Aber sie hat natür-
lich gerade mit der Einführung des Euro eine neue Di-
mension bekommen.
Sie haben das ist jetzt gar nicht einmal auf das Pro-
blem mit Rabattgesetz und Zugabeverordnung bezogen,
das wir gerade diskutieren in der gesamten Diskussion
über die Organisierung des europäischen Wirtschafts-
rechts die Zeichen der Zeit nicht erkannt und haben sich
allenfalls bruchstückhaft und unorganisiert mit diesem
Thema beschäftigt. Das ist ein schweres, ein erhebliches
Versäumnis, Herr Wirtschaftsminister Müller. Wir können
das nicht dem Justizminister überlassen. Der Justizminis-
ter hat in diesen Fragen, ob er das will oder nicht, eher eine
dienende Funktion. Er müsste die gesetzesfeste Hülle für
das liefern, was wir wirtschaftspolitisch wollen.
Sie aber haben sich in der Vergangenheit um die Frage,
was wir wirtschaftspolitisch und wettbewerbspolitisch
wollen und wie wir es in Europa durchsetzen können,
auch nicht ein Jota gekümmert. Sie betrachten Wettbe-
werbsfragen mit einer zu großen Nachlässigkeit. Das ist
bedingt durch Ihre Herkunft. In den Bereichen, in denen
Sie Wirtschaft gelernt haben, war Wettbewerb eh nicht be-
sonders erwünscht, und das müssen Sie jetzt üben. In der
Großindustrie, bei Veba und wo immer, war das eigentlich
eine vernachlässigenswerte, eher störende Größe. Aber
sie ist im Zentrum von Wirtschaftspolitik eigentlich Ihre
Kernaufgabe.
Herr Müller, es tut mir Leid: Im Sauerland haben wir
von Wettbewerb mehr verstanden als Sie beim Veba-Kon-
zern; denn wir hatten uns Ihrer Marktmacht immer wieder
zu erwehren. Sie waren damals auf der starken Seite, wir
waren auf der schwachen Seite und der Schwache
braucht den Schutz des Wettbewerbs, nicht der Starke!
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Hartmut Schauerte
16002
Deswegen sind Sie in dem Punkt absolut defizitär.
Sie verlangen jetzt die Änderung. Sie betreiben die Än-
derung; aber Sie sagen nichts zum neuen Anforderungs-
profil. Sie sind im gesamten GWB-Bereich völlig unsor-
tiert. Diese nationalen impulshaften Reaktionen auf das,
was von Brüssel kommt, sind absolut unstrategisch und
unüberlegt, wenn Sie sich an unsere Diskussion über das
europäische Kartellrecht erinnern. Das sind Reaktio-
nen, die wir nicht werden durchhalten können. Sie müs-
sen das ordnen!
Die eine Abteilung in Ihren Häusern sagt: Wir müssen
jetzt den deutschen Weg betonieren. Ich sage Ihnen, dass
das scheitern wird. Die zweite Abteilung kann sich nicht
durchsetzen. Das wäre die Einzige, die dafür in Betracht
käme. Das muss zur europäischen Chefsache gemacht
werden. Wir müssen uns mit den anderen Europäern an
den Tisch setzen und ein funktionierendes Wettbewerbs-
recht schaffen,
bei dem klar ist, wer welchen Richter hat, bei dem klar ist,
wer in welche Verwaltungsebene gehört, bei dem klar ist,
wer wo welche Anträge zu stellen hat.
Wir haben nur Salat, und Sie haben sich bis heute nicht
darum gekümmert. Sie fangen vielleicht an einer sehr po-
pulären Ecke an.
Aber da, wo es wirklich einmal um ein Ordnungssystem
geht, versagen Sie leider völlig. Wir müssen Ihnen in die-
ser Hinsicht schwere Vorwürfe machen.
Sie haben bisher keine Antwort auf die Fragen nach
Verbraucherschutz und Marktsicherung. Elemente davon
waren ja auch in diesen beiden Gesetzchen, wie ich sie
einmal nennen will. Sie haben für diese Elemente keinen
Ersatz gezeigt. Sie haben nicht einmal eine Idee, wie Sie
das, was noch an positiven Elementen darin enthalten war,
überhaupt in die modernen Anforderungsprofile übertra-
gen können. Das ist absolut mangelhaft.
Ich komme zu unserem Antrag. Wir sind ja in der ers-
ten Lesung. Wir haben deswegen einige Forderungen in
den Antrag aufgenommen, und ich will gleich noch zwei
oder drei hinzufügen.
Das Erste ist: Wir verlangen, dass mit hoher Priorität für
eine Harmonisierung des europäischen Wettbewerbs- und
Lauterkeitsrechts auf hohem Schutzniveau gearbeitet
wird, und zwar nicht nur einmal zufällig geredet, sondern
gearbeitet wird. Dies ist eine zentrale Aufgabe Ihres Hau-
ses. Herr Minister, Ihnen sind sehr viele Aufgaben wegge-
nommen worden. Sie hätten jetzt wirklich Zeit, sich um die
wenigen verbliebenen zu kümmern. Etwas weniger Kohle
und etwas mehr Wettbewerb, das wäre wirklich nötig.
Zweitens. Eine europataugliche Reform des UWG
und des GWB muss sichergestellt werden. Organisieren
Sie das! Wir fragen nicht die rote Laterne. Wir waren das
Land, das den marktwirtschaftlichen Wettbewerb in Eu-
ropa immer am höchsten gehalten hat. Er ist in Deutsch-
land geboren und entwickelt worden. Werden Sie Ihren
Vorgängern gerecht oder versuchen Sie wenigstens, mit
Tanzschühchen in die großen Schuhe zu steigen, die Ih-
nen hinterlassen wurden! Aber im Moment tanzen Sie ja
nicht einmal in diese Richtung.
Drittens. Wir wollen prüfen, ob dem mittelständi-
schen Einzelhandel eine Übergangsfrist eingeräumt wer-
den muss. Ich möchte dies geprüft sehen. Die Konzerne
haben ihre Kundenbindungssysteme on top entwickelt.
Wenn sich der Mittelstand darauf einrichten will, braucht
er sehr viele völlig neue Kooperationsformen bis hin zur
Klärung von Kartellrechtsproblemen: Wie weit darf man
sich zusammentun, um gemeinsam aufzutreten, obwohl
man untereinander Konkurrenz organisieren muss? Auch
auf diese Frage haben Sie keine Antwort. Ich frage Sie, ob
wir nicht einen Übergang brauchen.
Ansonsten sage ich Ihnen: Wir wollen zu diesem
Thema ein Hearing durchführen denn wir wollen in
wirklich engem Kontakt mit den Betroffenen bleiben ,
um das nicht nur bei Ihnen hausintern diskutiert zu sehen,
sondern auch dort, wo es hingehört: in die Öffentlichkeit,
also vor den Deutschen Bundestag. Da werden Sie sich
diesen Fragen neu zu stellen haben.
Ich fordere mit Nachdruck einen Bericht des
Bundeswirtschaftsministeriums an, und zwar rechtzeitig
zu diesem Hearing, in dem eindeutig beantwortet wird,
wie denn der Stand der Harmonisierung des europäischen
Wettbewerbsrechts zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist.
Dies ist nur ein kleiner Baustein in dem großen, bedeu-
tenden Grundgesetz der sozialen Marktwirtschaft. Das
können wir nicht weiter mit links behandelt sehen. Das
muss vielmehr in das Zentrum einer vernünftigen Wirt-
schaftspolitik gerückt werden. Herr Müller, Sie sind an
der Reihe! Sie haben Zeit genug. Ihre Kompetenzen sind
schmal genug geworden; kümmern Sie sich um die ver-
bliebene Kernkompetenz!
Herzlichen Dank.
Nun spricht
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege
Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Schauerte, an Ihrer Rede fällt auf, dass Sie offensicht-
lich nichts Negatives zum vorliegenden Gesetzentwurf
der Bundesregierung sagen können. Deshalb haben Sie
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Hartmut Schauerte
16003
versucht, dieses Thema weitestgehend zu vermeiden, und
haben einfach über anderes gesprochen.
Heute ist ein guter Tag für die Verbraucherinnen und
Verbraucher und auch für den Wettbewerb in unserem
Land. Denn mit der Abschaffung von Rabattgesetz und
Zugabeverordnung machen wir die Bürgerinnen und Bür-
ger auch rechtlich zu dem, was sie längst sind: mündige
Verbraucher, die beim Einkauf nicht vom Gesetzgeber an
die Hand genommen werden müssen. Zugleich ist dieser
Wettbewerb gut für die Wirtschaft und für die Unterneh-
men in unserem Land.
Es ist nicht nur so, dass eine Benachteiligung deutscher
Unternehmen gegenüber Mitbewerbern anderer Staaten
mit der Aufhebung dieser Gesetze entfällt, die so genannte
Inländerdiskriminierung also abgewendet wird. Wir stär-
ken vielmehr auch neue Marktformen im Internetbe-
reich. Ich meine da insbesondere das Powershopping.
Das kennen Sie wahrscheinlich nicht; das kam in Ihrer
Rede nicht vor.
Aber gerade die Unternehmen, die versucht haben, sich
auch in Deutschland auf dem Markt zu positionieren, hat-
ten erhebliche Probleme mit Urteilen der Gerichte. Es ist
gut, dass wir die hier bestehenden Regelungen abschaf-
fen.
Diese Branche, die gerade mit Preisnachlässen zuguns-
ten der Verbraucher arbeitet, muss sich jetzt keine Sorgen
mehr machen, dass deutsche Gerichte ihr Steine in den
Weg legen. Wir alle können froh sein, dass diese Unter-
nehmen nicht gezwungen werden, ins Ausland abzuwan-
dern. Unsere Rechtslage wird kein Investitionshemmnis
mehr für die Unternehmen darstellen, die in diesem Lande
im E-Commerce-Bereich Fuß fassen wollen.
Meine Damen und Herren, die Aufhebung dieser Ge-
setze, insbesondere die des fast 70 Jahre alten Rabattge-
setzes, war längst überfällig. Es wäre in der Tat gut gewe-
sen, dies wäre Ihnen schon in der letzten Wahlperiode
gelungen.
Es bedurfte offensichtlich Rot-Grün, dass der jetzt vor-
liegende vernünftige Gesetzentwurf durchsetzbar wurde.
Rot-Grün weiß einfach, was Liberale wünschen.
Im Vergleich zur Rechtslage in anderen Mitgliedstaa-
ten der EU war unsere Rechtslage in ihrer Restriktivität
geradezu einmalig. Erinnern Sie sich: Das 1933 in Kraft
getretene Rabattgesetz sollte flüchtige und unkritische
Verbraucher vor einer Irreführung über Preis und Qualität
bewahren.
Heute können wir mit Fug und Recht behaupten, dass
die Verbraucher dieses massiven Schutzes ich möchte es
eher Bevormundung nennen nicht mehr bedürfen. Dafür
sorgt nicht nur die in unseren Lande höchst wirkungsvolle
Verbraucherberatung. Die wird zum Beispiel garantiert
von der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände,
deren unermüdlicher Einsatz für die Verbraucherbelange
an dieser Stelle ausdrückliche Würdigung verdient.
Welch hohen Stellenwert für diese Koalition der Ver-
braucherschutz insgesamt genießt, beweist nicht nur tag-
täglich eindrucksvoll unsere engagierte Verbraucherminis-
terin Renate Künast,
sondern auch die Tatsache, dass wir die Stiftung Waren-
test im Haushalt abgesichert haben und ursprünglich an-
gedachte drastische Kürzungen vermieden werden konn-
ten.
Meine Damen und Herren, die Verbraucher in unserem
Lande müssen sich keine Sorgen machen, künftig Opfer
einer Verwilderung von Wettbewerbssitten zu werden.
Auch ohne Rabattgesetz und Zugabeverordnung werden
ihre berechtigten Interessen hinreichend durch das Gesetz
gegen den unlauteren Wettbewerb, das Gesetz gegen
Wettbewerbsbeschränkungen und die Preisangabenver-
ordnung geschützt. Ich fand es schon beeindruckend, mit
welch überwältigender Mehrheit sich im Rahmen einer
Anhörung dieser Bundesregierung im Juni 2000 die Ver-
bände von Handel, Handwerk, Industrie und Verbrau-
chern für das Abschneiden dieser alten Gesetzeszöpfe ent-
schieden haben. Auch die Bundesländer hatten dagegen
nichts einzuwenden.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu Befürchtungen
sagen, die gelegentlich aus Kreisen des Einzelhandels im
Hinblick auf die Folgen der Aufhebung von Rabattgesetz
und Zugabeverordnung geäußert werden. Um es vorweg-
zunehmen: Ich teile diese Ängste nicht. Sie werden auch
im Einzelhandelsbereich selbst weitgehend nicht geteilt.
Im Gegenteil, aktuelle Umfragen bestätigen Zuversicht,
weil es für die Einzelhändler eben nicht zu spürbaren
Wettbewerbsverschärfungen kommen wird. Profitieren
werden letztlich die Verbraucher. Nach einer aktuellen
Umfrage der Kölner Unternehmensberatung BBE kündigt
jetzt schon nahezu die Hälfte der befragten Einzelhändler
an, ihren Kunden zukünftig grundsätzlich Rabatte ge-
währen zu wollen.
Meine Damen und Herren, mit aller Entschiedenheit
möchte ich mich auch gegen die Vorschläge aussprechen,
die aus einer gemeinsamen Stellungnahme von HDE und
ZDH hervorgehen. Diese Ideen würden uns auf unserem
modernen verbraucherorientierten Kurs wieder zurück-
werfen. Auch das Problem der Inländerdiskriminierung
würde durch sie nicht gelöst, sondern sich erneut stellen.
Positiv beurteile ich allerdings einen Vorschlag des
HDE, der nach meiner Meinung in den Ausschussbera-
tungen und auch in der von Ihnen angesprochenen An-
hörung durchaus noch einmal ernsthaft geprüft werden
sollte. Beim Herauskaufen sollten wir denjenigen, die
günstige Angebote anbieten, um Kunden anzulocken, und
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Volker Beck
16004
die damit für kleinere Konkurrenten Wettbewerbsnach-
teile schaffen, aufgeben, dass sie an jeden, der kommt und
zu diesen Bedingungen einkaufen will, diese Waren auch
unbegrenzt abgeben müssen. Wenn das eine vernünftige
betriebswirtschaftliche Kalkulation ist, entsteht dadurch
ja für niemanden ein Schaden. Wenn es aber ein subven-
tionierter Dumpingpreis ist, müssen wir schon fragen, ob
wir wollen, dass sich die Marktmacht von wirtschaftlich
hochpotenten Anbietern am Markt gegen die Interessen
von kleinen Konkurrenten wenden kann. Über diese
Frage der Herauskaufverpflichtung sollten wir ernsthaft
nachdenken. Das bietet einige rechtliche Probleme, des-
halb scheuen sich da viele. Aber wenn wir unter der ver-
fassungsrechtlichen Lage zu einem Ergebnis kommen,
das machbar ist, sollten wir meines Erachtens ernsthaft
darüber nachdenken, nicht um hier Kleine zu schützen,
sondern einfach um auf diesem Weg im Bereich des Ein-
zelhandels einen fairen Wettbewerb als Regel am Markt
zu garantieren.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Ich gebe
nunmehr das Wort für die F.D.P.-Fraktion der Kollegin
Gudrun Kopp.
Herr Präsident! Sehr geehrte
Herren und Damen! Herr Kollege Beck, ein Wort vorweg
an Sie: Wenn Sie sich hier hinstellen und als Retter der
Stiftung Warentest aufspielen, dann möchte ich Ihnen
zunächst einmal sagen, dass Rot-Grün die jährlichen Zu-
schüsse an die Stiftung Warentest von 13 Millionen DM,
die über zehn Jahre gezahlt wurden, im vergangenen Jahr
in Frage gestellt und damit die Stiftung in ernsthafte
Existenznöte gebracht hat.
Wir haben die Anträge eingebracht, um ihr wieder eine
Existenzgrundlage zu schaffen. Erst vor wenigen Tagen
haben die Grünen eine Verbraucherabgabe auf Altersvor-
sorgeprodukte gefordert, um bei der Stiftung Warentest
das dringend nötige Stiftungskapital aufzubauen. Das ist
also wirklich heuchlerisch.
Sehr geehrter Herr Minister Müller, wir sind uns in die-
ser Frage ja einig. Das ist längst nicht immer so. Aber da
Sie hier sagten darauf habe ich vorhin schon mit mei-
nem Zwischenruf reagiert , dass Sie mit der Abschaffung
des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung vorangin-
gen, muss ich Sie daran erinnern, dass die F.D.P.-Bundes-
tagsfraktion bereits vor fünf Monaten, im November
2000, exakt solche Anträge in den Deutschen Bundestag
eingebracht hat. Diese Anträge befinden sich im Augen-
blick in den Ausschussberatungen. Lieber Herr Minister,
Sie waren gestern nicht im Ausschuss, sonst hätten Sie
sich Ihre Bemerkung sicherlich verkniffen. Gestern stan-
den diese beiden Anträge, bei denen wir inhaltlich völlig
auf einer Linie sind, zur Abstimmung an und Rot-Grün
hat diese beiden Anträge abgelehnt. So viel also zu der
Behauptung, Sie hätten das schon immer gewollt. Es war
vielmehr eine späte Erkenntnis. Wir erkennen aber an,
dass die Bundesregierung jetzt zu dieser Erkenntnis ge-
kommen ist und entsprechende Gesetzentwürfe einge-
bracht hat. Aber, wie gesagt, noch gestern sind unsere An-
träge abgelehnt worden.
Angesichts solcher Vorgänge, die auch den Wählerin-
nen und Wählern nicht verborgen bleiben, ist es doch kein
Wunder, dass kaum noch jemand zur Wahl geht. Es wird
der Eindruck vermittelt, dass inhaltliche Fragen kaum
eine Rolle spielen, dass es um taktische Spielereien geht,
nicht aber darum, wie wir durch ordnungspolitische Maß-
nahmen mehr Freiheit am Markt erreichen können.
Ich möchte noch eine weitere Bemerkung vorweg-
schicken: 1994 hat sich der damalige F.D.P.-Wirtschafts-
minister Günter Rexrodt für die Abschaffung des Ra-
battgesetzes und der Zugabeverordnung engagiert. Er ist
seinerzeit an der erforderlichen Mehrheit im Bundesrat
gescheitert. Die F.D.P. wollte also ein Mehr an Wettbe-
werb schon vor vielen Jahren und hat dafür gekämpft.
Dazu bedurfte es auch nicht einer EU-Richtlinie, die wir
jetzt bis zum Jahresende umzusetzen haben. Insofern sind
die Liberalen diejenigen, die auf diesem Gebiet zu weni-
ger Gesetzen und Verordnungen kommen wollen.
Im Übrigen ist dies auch ein Leistungsnachweis, nach
dem die Bürger immer mehr fragen. Am Ende der Legis-
laturperiode werden Sie uns alle wieder fragen, welche
Gesetze und Verordnungen wir abgeschafft und nicht im-
mer bloß neu geschaffen haben.
Auch die Liberalen wollen keinen freien Geschäfts-
und Warenverkehr nach Wildwestmanier. Wir haben
genügend Gesetze die drei einschlägigen Gesetze sind
eben schon genannt worden , die unsere Verbraucher hier
vor Ausuferungen schützen. Aber auch unsere Händler
haben ein Recht auf faire Wettbewerbsbedingungen, um
auf dem deutschen, europäischen und weltweiten Markt
konkurrenzfähig zu sein. Dies ist gerade angesichts einer
Europäischen Union notwendig, die demnächst noch
größer sein wird; in diesem Zusammenhang denke ich
etwa an den Internethandel und an E-Commerce.
Eben wurden bereits viele Umfragen zitiert. Ich
möchte dies auch tun. Laut Emnid ist die Aushöhlung des
Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung längst an der
Tagesordnung. Es entspricht also nicht den Tatsachen,
wenn hier ein Horrorszenario dargestellt wird. 44 Prozent
der westdeutschen und 30 Prozent der ostdeutschen Be-
fragten gaben bei einer Umfrage an, schon heute Rabatte
zu erhalten, die zum Beispiel bei Kleidung bis zu 33 Pro-
zent, bei Unterhaltungselektronik bis zu 17 Prozent und
bei Haushaltsgeräten gut 16 Prozent betragen. Solche
Preisreduktionen sind heute beinahe alltäglich. Dies be-
legt, dass das uralte Rabattgesetz aus dem Jahre 1933 kein
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Volker Beck
16005
Verbraucherschutzgesetz ist, sondern den Wettbewerb
zum Nachteil der Konsumenten und auch zum Nachteil
eines flexiblen Handels behindert.
An die CDU/CSU gerichtet, sage ich: Ich wünsche mir
bei dem Herangehen an die Abschaffung des Rabattgeset-
zes und der Zugabenverordnung ein bisschen mehr Mut.
Wir sollten nicht so sehr die Bedenken herausstellen, son-
dern wir sollten gerade den kleinen und mittelständischen
Unternehmern die Chancen aufzeigen, die sie haben,
weil sie aufgrund von kleinen Einheiten und kleinen fle-
xiblen Organisationsstrukturen die Möglichkeit haben,
viel flexibler auf Kundenwünsche einzugehen. Das soll-
ten wir ihnen auch ermöglichen. Ich finde, dass unsere
Verbraucher und der Handel ein Recht haben, hiervon um-
fangreich zu profitieren.
Vor dem Hintergrund, dass die Beratung der Anträge
fortgesetzt wird, und zwar auch der beiden Anträge der
F.D.P.-Bundestagsfraktion, hoffe ich, dass sich Rot-Grün
dazu durchringen kann, einem solchen Antragspaket
zuzustimmen. Damit würden Sie herausstellen, dass es Ih-
nen um Inhalte und nicht nur um Taktik geht.
Danke schön.
Für die
PDS-Fraktion spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Manche Zeitungen haben in den vergangenen
Wochen den Eindruck vermittelt, als würde ab Juli in den
Geschäften des Abendlandes ein Feilschen und Schachern
wie auf den morgenländischen Basaren beginnen. Ich bin
der Meinung, es wird auf beiden Seiten gelernt werden
müssen. So schnell geht das sicherlich nicht. Auch das
Gesetzgebungsverfahren ist noch nicht so weit, dass wir
schon ab Juli damit beginnen könnten.
Nein, den Anzug habe ich so bezahlt, Herr Schauerte.
Uns geht auch in diesem Fall Präzision vor Schnellig-
keit, weil sonst zu viele kleine und mittlere Händler auf
der Strecke bleiben könnten, und das sind nicht immer nur
die unbeweglichen, unflexiblen Händler.
Es ist gut, dass es jetzt eine parlamentarische Gesetzes-
initiative gibt. Ich hoffe jedoch, dass am Ende der Bera-
tungen, über die jetzt so viel gesprochen worden ist, ein
etwas anderer Gesetzentwurf vorliegen wird. Wir sollten
uns nicht unnötig unter Druck setzen. Nach so viel ver-
geudeter Zeit sollten wir uns wenigstens die Zeit für eine
ordentliche Beratung nehmen.
Der Druck entsteht formal nicht durch die E-Com-
merce-Richtlinie, da erstens ihre Umsetzungspflicht erst
Ende 2001 ausläuft und zweitens die Abschaffung von
Rabattgesetz und Zugabeverordnung nicht zwingend
dazugehört. Auch real kommt der Druck nicht von der E-
Commerce-Richtlinie. Denn seit Dezember dürfte wohl
allen klar geworden sein, dass der deutsche Internethandel
momentan nicht an solchen Rechtsgrenzen, sondern am
Neuen Markt scheitert, und dass der zusammenbricht, hat
weniger mit Spekulation, sondern mehr mit der Einsicht
zu tun, dass fundamentale Entwicklungen von Wirt-
schaftsprozessen etwas anderes sind als bunte Anleger-
prospekte.
Es bleibt also nur noch der Druck von Lufthansa,
McDonalds und Bertelsmann, die in der Initiative Mehr
Bonus für Kunden vehement für den kleinen Kaufmann
an der Ecke kämpfen. Natürlich ist das Pay-back-System
ein Beispiel dafür, wie sich im Zeitalter der elektroni-
schen Datenverarbeitung mit dem Rabattgesetz ein einsti-
ger Schutzwall in ein Verließ für kleine und mittlere
Händler verwandeln kann. Natürlich könnten auch sie ge-
gen Metro und Co. erfolgreich konkurrieren, beispiels-
weise mit lokalen Werbegemeinschaften. Allerdings brau-
chen sie dazu viel mehr als die großen Handelskonzerne
mit ihrer Freiheit bei Preisabschlägen und bei Zuga-
bemöglichkeiten zum Kauf der Hauptware. Sie brauchen
Schutzmechanismen davor, dass allein die schiere Größe
sie trotz aller eigenen Kreativität und Flexibilität platt
macht. Es ist aus meiner Sicht völlig unzureichend, in den
Folgeabschätzungen lapidar auf die Einsetzung einer Ar-
beitsgruppe zu verweisen, die beim Justizministerium an-
gesiedelt ist. Das riecht allzu sehr nach Reparaturbetrieb
nach dem Motto: Schauen wir einmal in ein paar Jahren
nach, woran der Patient gestorben ist! Nein, ich finde,
es ist wichtig, schon jetzt in den Ausschussberatungen
gründlich zu prüfen, ob die anderen vorhandenen Instru-
mente auch nach Wegfall der beiden Gesetze Preis-
wahrheit, Preisklarheit und damit Kostenwahrheit sichern
helfen, denn darauf kommt es sowohl bei Händlern als
auch bei Verbrauchern an.
Wir plädieren nachdrücklich dafür, den einstigen § 6 d
UWG modifiziert wieder einzuführen, wonach es bei be-
worbenen Angeboten keine Abgabemengenbeschrän-
kung geben darf. Damit hätte jeder Wettbewerber die
Chance, zu Kampfpreisen beworbene Produkte oder
Dienstleistungen selber aufzukaufen und günstig anzu-
bieten. Wettbewerb würde nicht länger allein über den
Preis, bei dem die Kleinen einfach nicht mithalten kön-
nen, sondern viel stärker über das gesamte Spektrum der
Dienstleistungen eines Händlers stattfinden. Hier sind
Frau Kopp, ich gebe Ihnen Recht wiederum die Klei-
nen im Vorteil.
Ferner sollte geprüft werden, ob nicht zulässige Zuga-
ben und Mindestkriterien für Verbraucherinformationen
bei Werbung mit Zugaben und Rabatten künftig wie in
den meisten anderen EU-Ländern im UWG positiv de-
finiert werden sollten.
Kurzum: Schnellschüsse taugen nichts. Eine fundierte
Beratung mit einer nicht nur formalen Anhörung, die den
eben umrissenen Problemkreis ausleuchtet, die die Vor-
schläge aufnimmt und prüft, ist Voraussetzung für die Zu-
stimmung unserer Fraktion zu diesem Gesetz.
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Gudrun Kopp
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Danke schön.
Nun spricht
der Kollege Dirk Manzewski für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! In der Vergangenheit hat es immer wie-
der Bemühungen gegeben, Rabattgesetz und Zugabever-
ordnung abzuschaffen. Bislang sind jedoch sämtliche
Initiativen am überwiegenden Widerstand der Wirt-
schafts- und Verbraucherinteressenverbände gescheitert.
Spätestens nach der im letzten Juli in Kraft getretenen
EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsver-
kehr, den so genannten E-Commerce, hat sich dies jedoch
grundlegend geändert. Danach muss sich nämlich ein An-
bieter, der über das Internet wirbt, ausschließlich an das
Wettbewerbsrecht seines Heimatlandes halten, und dies
unabhängig davon, wo er seine Waren oder Leistungen
anbietet.
Da Deutschland innerhalb der Europäischen Union in
diesem Zusammenhang die restriktivsten Vorschriften
hat, bedeutet dies für Anbieter mit Sitz in Deutschland,
dass sie beim E-Commerce gegenüber ihren Mitbewer-
bern aus den Nachbarländern massiv benachteiligt sind.
Das heißt konkret: Anbieter aus anderen EU-Staaten dür-
fen in Deutschland mit hohen Rabatten und attraktiven
Zusatzleistungen um Kunden werben, während dies ein-
heimischen Anbietern untersagt ist.
Das ist aber noch nicht alles. Da das Herkunftsland-
prinzip gilt, sind deutsche Unternehmen darüber hinaus
an das hiesige Rabatt- und Zugabeverbot auch dann ge-
bunden, wenn es sich um Geschäfte im europäischen Aus-
land handelt, sind also auch dort benachteiligt.
Diese erheblichen Wettbewerbsnachteile beschränken
sich ich sehe das in diesem Zusammenhang völlig an-
ders als der Kollege Kutzmutz nicht nur auf den Bereich
des E-Commerce. Aufgrund der Dynamik der Entwick-
lung im Internethandel stehen die Internetanbieter immer
mehr auch mit stationären Händlern und Dienstleistern in
Konkurrenz.
Meine Damen und Herren, wir stehen in der Pflicht,
dies nicht tatenlos hinzunehmen. Ich halte es daher nur für
folgerichtig, dass der Gesetzgeber zugunsten der Chan-
cengleichheit Vorgaben schafft, um Wettbewerbsnach-
teile deutscher Unternehmen im In- und Ausland zu ver-
hindern. Auch deutschen Anbietern muss es möglich
gemacht werden, sich mit Rabatten oder Zusatzleistungen
im internationalen Wettbewerb zu behaupten.
Durch die Aufhebung von Rabattgesetz und Zugabe-
verordnung würde der bisherige Ausnahmefall der
Minister hat es angesprochen nunmehr vom Grundsatz
her erlaubt sein. Die Befürchtung, dass die Liberalisie-
rung zu einer Verwilderung der Wettbewerbssitten oder zu
einer Beeinträchtigung von Verbraucherinteressen führen
wird, teile ich nicht. Dies zeigt nicht nur ein Blick auf Ös-
terreich. Dort hat die Abschaffung des Rabattgesetzes zu
keinem ausufernden Rabattwettbewerb geführt. Die Vor-
schriften des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb,
die Preisangabenverordnung und das Gesetz gegen Wett-
bewerbsbeschränkungen werden dafür sorgen, dies zu
verhindern.
Die Preisklarheit und -wahrheit werden weiterhin si-
chergestellt. Sittenwidrige Werbung bleibt verboten. Irre-
führende Angaben sind nach wie vor untersagt und markt-
beherrschende Unternehmen dürfen auch zukünftig
Rabatte und Zugaben nicht so einsetzen, dass sie Wettbe-
werber oder andere Marktteilnehmer behindern oder gar
diskriminieren.
Art. 82 des EG-Vertrages und soweit es den elektro-
nischen Geschäftsverkehr betrifft die E-Commerce-
Richtlinie selbst setzen zudem der Gewährung von Ra-
batten enge Grenzen und stellen hohe Anforderungen an
die Transparenz von Preisen.
Des Weiteren hat die Rechtsprechung eine Vielzahl
von Grundsätzen aufgestellt, die auch nach der Aufhe-
bung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung ihre Gül-
tigkeit behalten werden. So werden vor allem alle Hand-
lungen verboten bleiben, die darauf gerichtet sind, den
Wettbewerb als solchen zu beseitigen oder auf einem be-
stimmten Gebiet in nicht unerheblichem Ausmaß aufzu-
heben. Das Schutzniveau des Wettbewerbsrechts in
Deutschland bleibt also sichergestellt. Das ist für mich das
Entscheidende.
Im Übrigen wird das Bundesjustizministerium, Herr
Kollege Schauerte, die Angelegenheit meines Wissens
weiter begleiten. Es hat deshalb parallel zu dieser Reform
eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Verbraucherver-
bände und der Wirtschaftskreise eingesetzt, die die sich
entwickelnde neue Wirtschafts- und Rechtspraxis im Be-
reich von Rabatten und Zugaben verfolgen und bewerten
soll.
Diese Arbeitsgruppe wird auch Vorschläge für die weitere
Modernisierung des Rechts gegen den unlauteren Wett-
bewerb und Sie haben es angesprochen, Kollege
Schauerte für ein europäisches Harmonisierungskon-
zept erarbeiten.
Angesichts der zunehmenden Verflechtung internatio-
naler Märkte und der wachsenden Bedeutung grenzüber-
schreitender Marketingstrategien wird es nämlich ent-
scheidend darauf ankommen darauf lege ich sehr viel
Wert; es ist hier schon angesprochen worden , unabhän-
gig von dem, was wir hier beschließen werden, interna-
tional vereinheitliche Rahmenbedingungen für den Wett-
bewerb zu schaffen. Insoweit halte ich es auch für richtig,
dass sich die Europäische Kommission nicht zuletzt auf
Initiative der Bundesregierung, Herr Kollege, verpflichtet
hat, Vorschläge für geeignete Regeln über das Marktver-
halten von Unternehmen zu erarbeiten.
Ich möchte noch ein Wort zum Beitrag der Kollegin
Kopp sagen. Frau Kollegin, ich finde es schon ziemlich
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Rolf Kutzmutz
16007
unverschämt, der Bundesregierung hier Untätigkeit vor-
zuwerfen.
Tatsächlich ist es doch so gewesen, dass die F.D.P. auf ei-
nen fahrenden Zug aufgesprungen ist. Es wäre schön ge-
wesen das sage ich Ihnen ganz ehrlich , wenn man ge-
wartet hätte, bis dieser Zug hält.
Die Bundesregierung hat daran möchte ich Sie erin-
nern erst im letzten Jahr zu diesen Gesetzentwürfen eine
ausführliche Anhörung durchgeführt, an der über 70 Ver-
bände und Interessengruppierungen teilgenommen ha-
ben, und hat das Ergebnis dieser Anhörung abgewartet.
Nachdem die F.D.P. mitbekommen hat, in welche Rich-
tung die Bundesregierung marschiert und wie das Mei-
nungsbild sein würde, hat sie ganz schnell einen eigenen
Gesetzentwurf eingebracht. Dieses Verhalten ist zwar op-
portun. Aber ich finde es nicht in Ordnung, der Bundesre-
gierung hier Untätigkeit vorzuwerfen. Das sage ich Ihnen
ganz ehrlich.
Zu den geäußerten Befürchtungen habe ich eine ganz
andere Meinung als der Kollege Schauerte und teile im
Ergebnis nicht seine Bedenken. Aber in der Sache ist es
völlig richtig, auch die Bedenken des Einzelhandels zu
berücksichtigen und abzuwägen. Dafür hat sich die Bun-
desregierung Zeit genommen und hat wie im Übrigen
unsere Fraktion und auch ich selbst weitere Gespräche
mit den Verbänden geführt.
Das ist wichtig. Sie haben das nicht gemacht. Nach der
Anhörung haben Sie erfahren, in welche Richtung die
Bundesregierung geht, und daraufhin Ihren eigenen Ge-
setzentwurf eingebracht,
ohne sich überhaupt über den Einzelhandel, der angeblich
Ihre Klientel ist, Frau Kollegin, Gedanken zu machen.
Als Letztes noch etwas zu dem Kollegen Schauerte.
Sie haben die Frage aufgeworfen, Herr Kollege, inwie-
weit wir so möchte ich es einmal nennen Auffangtat-
bestände brauchen. Ihre Sorgen kann ich durchaus nach-
vollziehen. Allerdings vertrete ich die Auffassung, dass
wir sie nicht brauchen. Ich habe schon angesprochen, dass
meiner Meinung nach die bestehenden Gesetze ausrei-
chen und die Rechtsprechung viele Grundsätze entwickelt
hat, die greifen werden.
Womit ich leichte Bauchschmerzen habe das gestehe
ich zu , sind die so genannten Kundenbindungssys-
teme. Aber ich meine, dass wir über diesen Bereich im
laufenden Gesetzgebungsverfahren sicherlich noch aus-
giebig diskutieren werden, möglicherweise in einer An-
hörung. In dieser Hinsicht bin ich persönlich ganz offen,
hier auch flexibel zu reagieren, wenn man wider Erwarten
feststellen sollte, dass wir nach der Anhörung zu einem
anderen Ergebnis kommen.
Ich danke Ihnen.
Als letzte
Rednerin in dieser Debatte spricht die Kollegin Annette
Widmann-Mauz für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sehr schön,
heute von Ihnen diese Worte zu hören. Ich möchte Sie
aber bitten: Fragen Sie einmal Ihre Kolleginnen und Kol-
legen, die in der letzten Legislaturperiode diesem Hohen
Hause angehört haben, wie sich die SPD seinerzeit zu den
Entwürfen gestellt hat. Damals war die SPD noch nicht
dieser Meinung.
Herr Minister Müller, Sie wollen heute die Aufhebung
von Rabattgesetz und Zugabeverordnung als weiteren
Schritt zur Stärkung des Mittelstandes feiern. Um keine
Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Liberalisie-
rung des Handels ist an dieser Stelle unvermeidlich. Aber
wenn ich an Gesetze wie Steuerreform, Ökosteuer,
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit oder das Betriebs-
verfassungsgesetz denke, dann ist dies erstens kein weite-
rer Schritt zu einer mittelstandsfreundlichen Politik, wie
Sie es immer darstellen wollen, sondern allenfalls ein ers-
ter Schritt, der zudem nicht ausdrücklich mittelstands-
feindlich ist.
Zweitens. Nicht der Bundesregierung verdanken wir
diese Liberalisierung, sondern der E-Commerce-Richt-
linie der Europäischen Union; denn das dort verankerte
Herkunftslandprinzip lässt uns keine andere Wahl, als die
Aufhebung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung an-
zugehen. Ansonsten würden deutsche Unternehmen im
internationalen Vergleich hoffnungslos benachteiligt. Des-
halb ist dieser Schritt wohl unvermeidlich.
Jetzt gibt es also Rabatte. Die Verbraucher in unserem
Land sollen sich freuen: Egal, ob sie eine neue Armband-
uhr kaufen, beim Fachhändler ein neues Fahrrad bestellen
oder eine Reise nach Mallorca buchen, der Preis wird
entweder günstiger oder Zugaben werden möglich sein.
Der Fall des Rabattgesetzes bringt den Menschen entwe-
der bares Geld oder zusätzliche Vorteile, beispielsweise
die kostenlose Sitzplatzreservierung, mehr Gepäck ohne
Aufpreis im Flugzeug, ein kostenloses Strandtuch oder
einen besseren Mietwagen zum gleichen Preis. Der
Kunde wird König.
Das wäre für sich genommen keine schlechte Sache.
Doch wie so oft gibt es auch hier eine Kehrseite der Me-
daille: Die Sogwirkung von Mengenrabatten bietet nicht
nur Chancen, sondern könnte auch die Preisspirale nach
unten verschärfen. Ein Race to the bottom bringt auch
Risiken für Einzelhändler und Verbraucher. Klasse
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dirk Manzewski
16008
statt Masse oder Qualität hat ihren Preis, das waren
doch in den letzten Wochen die Worte der Verbraucher-
schutzministerin dieser Bundesregierung, Frau Künast.
Jetzt droht in manchen Bereichen ein Preisdumping, und
zwar in einem Maße, wie wir es vielleicht noch gar nicht
erlebt haben.
Ein Blick über die Grenzen lässt die Richtung erahnen.
Internetangebote ausländischer Händler locken Spon-
tankäufer bereits mit Rabatten in Höhe von 50 oder
75 Prozent, die angeblich nur wenige Stunden gelten.
Happy Hours, zu denen es großzügige Preisnachlässe
oder zwei Hemden zum Preis von einem gibt, dürften in
Zukunft auch in Deutschland nicht mehr ausschließlich in
Kneipen und Cocktailbars üblich sein. Der Fantasie sind
keine Grenzen gesetzt.
Gerade am Anfang werden die Händler sehr vieles aus-
probieren. Aber wo sind die Grenzen, was im Einzelnen
erlaubt ist und was nicht? Wo beginnt der unlautere Wett-
bewerb und wo endet die Preisklarheit? Wie können Qua-
lität und Seriosität der Produkte gewährleistet werden?
Wer schützt die Verbraucher?
Sie heben nationale Beschränkungen auf, ohne gleich-
zeitig einen effektiven Verbraucherschutz zu gewähr-
leisten. Wie wollen Sie künftig irreführende Preisgestal-
tungen verhindern und Kunden vor Übervorteilung
schützen? Es kann nicht im Sinne einer modernen Ver-
braucherschutzpolitik sein, wenn unerfahrene oder ver-
handlungsschwächere Kunden durch Mondpreise oder
eine irreführende Werbung mit Rabatten und Zugaben zu
nachteiligen Vertragsabschlüssen verleitet werden. Nicht
alle Menschen werden sich in der Schnäppchengesell-
schaft zurechtfinden. Wohlfühlen werden sich die Starken
und Cleveren, so wie bisher schon. Doch wer schützt auf
diesem Basar die Schwachen?
Ein anderer Punkt: Wie steht es mit dem Datenschutz?
Wer mit der Kundenkarte zahlt, gibt den Unternehmen
viele Informationen von sich preis. Außer den persönli-
chen Angaben wie Alter, Beruf, Wohnort und Familien-
stand erfahren die Firmen rasch, welche Vorlieben die
Verbraucher haben. Die Konsequenzen für den Verbrau-
cherschutz sind enorm.
Die Windungen und Wendungen der Grünen sind er-
staunlich. Es ist noch gar nicht so lange her, da haben Sie
die Volkszählung diffamiert und massiv vor einem gläser-
nen Bürger gewarnt. Jetzt aber: stellen wir nur braves
Stillhalten fest. Sie halten ja mittlerweile bei allem still,
was von Gerhard Schröder befohlen wird.
Doch die Probleme der Grünen sollen uns hier nicht in-
teressieren.
Lassen Sie mich einen weiteren wichtigen Punkt nen-
nen: Die wie Pilze aus dem Boden schießenden Preisver-
gleichsagenturen nehmen den Kunden die Suche nach
günstigen Waren ab. Ihr Dienst bietet Sparmöglichkeiten
an. Preise werden durch unterschiedliche Zugaben jedoch
in Zukunft nicht mehr auf den ersten Blick vergleichbar
sein. Das spricht für unabhängige Agenturen. Unabhängig
sind die bisherigen Anbieter jedoch nicht immer. Preis-
vergleichsagenten im Internet finanzieren sich auch da-
durch, dass sich potenzielle Kunden auf die Seiten des
Anbieters klicken. Je nach Prämie könnte die Objektivität
leiden und die Verbraucher würden über den Tisch gezo-
gen.
Haben Frau Däubler-Gmelin oder Sie, Herr Müller,
Ihre Verbraucherschutzministerin eigentlich über die
Konsequenzen dieser Politik für die Verbraucher auf-
geklärt? Überhaupt vermisse ich Vertreter des Verbrau-
cherschutzressorts auf der Regierungsbank. Das Thema
scheint sie nicht sonderlich zu interessieren. Vielleicht ist
deshalb die Arbeitsgruppe nicht beim Verbraucherschutz-
ministerium, sondern beim Justizministerium angesiedelt.
Entweder gibt es Koordinierungsschwierigkeiten in Sa-
chen Verbraucherschutz oder Frau Künast ist durch ihre
wahnsinnigen Kühe oder ihre Kollegin in Nordrhein-
Westfalen zu stark gebunden. Auf jeden Fall ist Verbrau-
cherschutz mehr als BSE und MKS. Die Ministerin ist da-
her auch bei diesem Thema gefordert.
Wir brauchen einheitliche EU-weite Mindeststandards
für den Wettbewerb im Handel. Wir brauchen institutio-
nalisierte Risikoanalysen, Risikobewertungen und ein Ri-
sikomanagement auf europäischer Ebene. Dafür müsste
sich Frau Künast stark machen. Doch hier ist ein leerer
Stuhl.
Vorbeugender Verbraucherschutz muss mit der Libera-
lisierung des Handels Schritt halten. Wir dürfen nicht die
gleichen Fehler wie bei BSE machen, nämlich erst die
EU-weite Liberalisierung und dann den Schutz der Ver-
braucher aufgrund von Fehlentwicklungen nachträglich
einleiten.
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5441, 14/5594 und 14/5751 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Anderweitige Vorschläge liegen nicht vor. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Klaus Brähmig, Otto Bernhardt, Friedrich
Bohl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über eine einmalige Entschädigung an die
Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet
Drucksache 14/4144
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-
ausschusses
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Annette Widmann-Mauz
16009
Drucksache 14/5516
Berichterstattung:
Abgeordnete Gisela Schröter
Hartmut Büttner
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Drucksache 14/5737
Berichterstattung:
Abgeordnete Gunter Weißgerber
Dietrich Austermann
Oswald Metzger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Christa Luft
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
vor. Ich weise schon jetzt darauf hin, dass wir später
über den Änderungsantrag und den Gesetzentwurf na-
mentlich abstimmen werden. Ich bitte darum, daran zu
denken, damit wir mit der namentlichen Abstimmung
pünktlich beginnen können.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Das Haus ist
damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kol-
legin Gisela Schröter für die Fraktion der SPD.
Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Vor knapp einem halben Jahr haben wir an dieser
Stelle zum ersten Mal über den Entwurf eines Gesetzes
über eine einmalige Entschädigung an die Heimkehrer
aus dem Beitrittsgebiet der CDU/CSU-Fraktion beraten.
Wir, das heißt SPD und Grüne, haben diesen Entwurf da-
mals abgelehnt. Seitdem hat es zahlreiche Gespräche, Be-
ratungen und Schriftwechsel im Ausschuss, innerhalb un-
serer Fraktion, mit der Bundesregierung und auch mit den
Verbänden gegeben. Ich möchte das Ergebnis vorweg-
nehmen, um keine falschen Hoffnungen zu wecken: Für
unsere Fraktion sind keine neuen Argumente erkennbar,
warum wir unsere Auffassung ändern sollten. Ich komme
gleich darauf zurück.
Ein Gutes hat die breite Diskussion gebracht, was ich
ausdrücklich anerkennen möchte. Sie hat die Aufmerk-
samkeit auf das harte Schicksal der Menschen gelenkt, die
damals nach dem Krieg aus der Gefangenschaft in die
DDR zurückgekehrt sind. Ich habe an dieser Stelle bereits
darauf hingewiesen, dass mir der schwere Lebensweg der
Betroffenen durchaus aus der eigenen Verwandtschaft ver-
traut ist. Sie durften nicht über ihr Schicksal reden, ge-
schweige denn eine Entschädigung erwarten. Ich wieder-
hole: Ich empfinde tiefen Respekt vor diesen Menschen
und vor ihren Lebensleistungen. Unsere Diskussion hat in-
soweit ihre Leistungen wieder ein Stück weit in den Mit-
telpunkt der Gesellschaft gerückt. Ich denke, das ist gut so.
Wir haben uns seit der ersten Lesung in unserer Frak-
tion und in Gesprächen mit der Bundesregierung mehr-
fach mit der Frage beschäftigt: Was können wir für den
betroffenen Personenkreis tun? Denn wir wollen helfen,
wo es wirklich notwendig und möglich ist.
Uns in diesem Zusammenhang, wie es manchmal gesche-
hen ist, Hartherzigkeit oder Herzlosigkeit vorzuwerfen
sollte nicht der Stil sein, in dem man diese Debatte führt.
Dieser Vorwurf geht auch an den Tatsachen vorbei.
Nach das möchte ich betonen ernsthafter Prüfung
und Überlegung haben wir uns dazu entschieden, den
Fonds der Heimkehrerstiftung durch die Bereitstellung
von zusätzlich 5 Millionen DM deutlich aufzustocken.
Das ist, wie Sie wissen, bei unserer Haushaltslage nicht
ganz einfach gewesen. Deshalb möchte ich diese Leistung
betonen.
Die Summe ermöglicht der Stiftung, den Betroffenen zu-
sätzliche Leistungen zur Verfügung zu stellen. Ich freue
mich, dass diese Initiative der SPD-Bundestagsfraktion
nach längeren Verhandlungen erfolgreich war und auch
von den Verbänden begrüßt worden ist.
Im Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz von
1954 das möchte ich betonen ging es darum, den
Heimkehrern, also denjenigen, die in die alte Bundesre-
publik zurückgekehrt sind, mit Barmitteln eine Starthilfe
zu geben. Auch wenn der Name des Gesetzes den Gedan-
ken der Entschädigung in den Vordergrund rückt, war die
Grundidee doch die Eingliederung. Bis zum Stichtag
31. Dezember 1967 konnten Zahlungen beantragt wer-
den. Ende der 60er-Jahre war dieser Prozess also abge-
schlossen.
Dann wurde 1970 die Heimkehrerstiftung gegründet
mit dem Zweck, all denen zu helfen, die aufgrund ihres
Heimkehrerschicksals weiterhin auf besondere Unterstüt-
zung angewiesen waren und es bis heute sind. Seit 1993
erhalten auch bedürftige ostdeutsche Heimkehrer Unter-
stützung von der Stiftung. Die Stiftung bekommt vom
Bund die erforderlichen Mittel erstens für einmalige Hil-
fen zur Linderung einer Notlage und zweitens zur Aus-
zahlung von Rentenersatzleistungen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union,
von einer unionsgeführten Bundesregierung wurde der
Einigungsvertrag ausgehandelt und von ihr wurde be-
schlossen, dieses Kriegsfolgenleistungsgesetz nicht zu
übernehmen. Im Gegenteil, auf Initiative derselben Bun-
desregierung wurde 1992 die Aufhebung des Kriegsge-
fangenenentschädigungsgesetzes beschlossen. Die Be-
gründung der unionsgeführten Bundesregierung war
damals ich denke, auch für Sie und nicht nur für uns
einleuchtend; ich zitiere nochmals daraus:
Einer uneingeschränkten Übertragung des Kriegs-
gefangenenentschädigungsgesetzes steht entgegen,
dass auch dort
hier ergänze ich: in den neuen Ländern
inzwischen mehr als 45 Jahre vergangen sind. Die
Betroffenen sind eingegliedert.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
16010
Auch wir haben uns dieser Auffassung angeschlossen.
Übrigens waren die Verbände damals damit einverstan-
den, dass es keine so genannten Entschädigungszahlun-
gen mehr geben sollte.
Frau Kolle-
gin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte jetzt weiterreden.
Ich merke hier schon sehr große Unruhe. Ich glaube, wir
sollten jetzt zum Ende kommen.
Deshalb finde ich Ihr Argument auch in den Diskus-
sionen im Innenausschuss unredlich, wo Sie sagten, Sie
hätten die Sache damals nicht richtig eingeschätzt und das
habe man damals nicht genau wissen können.
Aus unserer Sicht gibt es bis heute jedenfalls keine neuen
Fakten, die Ihr Ansinnen begründen könnten.
Auch für die Öffentlichkeit ist Ihre Initiative insofern
nicht besonders verständlich. Ich verstehe sehr wohl, was
dahinter steckt. Aber ich finde Ihren Gesetzentwurf, wie
ich schon gesagt habe, nicht besonders redlich.
Gestern schrieb die Süddeutsche:
Unklar blieb, warum die Regierung unter Altkanzler
Helmut Kohl die Gruppe nach 1990 nie entschädigte.
Sie hatten dafür Zeit. Der Unterschied besteht für Sie
darin, dass Sie heute in der Opposition sind.
Ja, das ist so in Ordnung.
Seien wir mal ganz ehrlich: Die ganze Debatte ist doch
erst im Zusammenhang mit der Diskussion um die Ent-
schädigung der NS-Zwangsarbeiter aufgekommen; das
haben die Diskussionen im Innenausschuss auch gezeigt.
Die Kolleginnen und Kollegen vom Innenausschuss wis-
sen: Wir hatten dazu im Ausschuss wirklich eine sehr
emotionale Debatte. Ich möchte hier die Gelegenheit nut-
zen, jeden Vergleich mit der Entschädigung für NS-
Zwangsarbeiter mit aller Deutlichkeit als unzulässig
zurückzuweisen.
Ich hoffe, ich spreche hier im Namen des gesamten Hau-
ses.
Herzlichen Dank.
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Hartmut Büttner.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der
gesamtdeutsche Bundestag hat in den vergangenen zehn
Jahren Unterstützungsleistungen und Entschädigungen
für die unterschiedlichsten Opfergruppen beschlossen. Es
handelte sich um Opfer des SED-Regimes, aber auch um
Opfer des Zweiten Weltkriegs, die in der DDR keinerlei
Unterstützung bekommen hatten. So konnte das vereinte
Deutschland für viele Betroffene zumindest nachträglich
etwas Gerechtigkeit schaffen.
Nur eine Gruppe von Menschen mit einem ganz
schweren Schicksal ist bisher völlig vernachlässigt wor-
den. Es handelt sich um Menschen, die als Kriegsgefan-
gene zwei oder mehr Jahre in Gefangenschaft waren. Die
letzten von ihnen sind erst 1955 aus sowjetischer Kriegs-
gefangenschaft entlassen worden.
Die Kriegsgefangenen, die in das westliche Deutsch-
land entlassen worden sind
ich komme darauf zu sprechen , erhielten Leistungen
das ist schon gesagt worden nach dem Kriegsgefan-
genenentschädigungsgesetz. Für jeden Monat des Fest-
haltens in fremdem Gewahrsam gab es für die nach dem
1. Januar 1947 Entlassenen eine monatliche Entschädi-
gung von 30 DM. Wer nach dem 1. Januar 1949 entlassen
wurde, erhielt monatlich 60 DM. Die Gesamtentschädi-
gung war auf einen Höchstbetrag von man höre und
staune! 12 000 DM begrenzt worden. Kriegsgefangene
mit dem gleichen Schicksal, die in die SBZ oder die spä-
tere DDR entlassen worden sind, erhielten außer 50 Ost-
mark keinerlei Entschädigungsleistungen.
Die westdeutschen Bestimmungen sind das ist zu
Recht gesagt worden auf die Leidensgefährten in den
neuen Bundesländern bei der Wiedervereinigung nicht
übertragen worden. Begründet wurde dies damit Frau
Schröter hat es hier gesagt , dass ein Hauptgrund für die
Entschädigungsleistungen im Westen der Aspekt der Ein-
gliederung in die deutsche Gesellschaft gewesen sei. Die-
ser Aspekt sei 45 Jahre nach Kriegsende abgeschlossen
gewesen. Nur Leistungen der Heimkehrerstiftung für
Kriegsgefangene bzw. deren hinterbliebenen Ehegatten
zur Linderung einer aktuellen Notlage gibt es seit 1993
auch für die neuen Länder.
Nur ein kleiner Teil der Spätheimkehrer aus den neuen
Ländern erhielt allerdings diese Leistung. Die übergroße
Mehrheit von ihnen bekam keine Mark. Diese Stiftungs-
mittel wurden zu etwa 80 Prozent für bewilligte Renten-
zahlungen in West und Ost ausgegeben, wobei der
Schwerpunkt der Zahlungen im Westen liegt. Die restli-
chen 20 Prozent sind für Unterstützungen in aktuellen
Notlagen vorgesehen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Gisela Schröter
16011
Heute wird vielfach gesagt das wurde auch im In-
nenausschuss geäußert , das Schicksal dieser Menschen
sei mit Geld nicht ungeschehen zu machen. Das ist wohl
richtig. Diese Argumentation übersieht aber, dass sich die
Spätheimkehrer bereits in der DDR als Menschen zweiter
Klasse gefühlt haben. In der DDR wurden sie häufig so-
gar als Kriegsverbrecher hingestellt. Auch das vereinte
Deutschland unternahm nichts, um die nach Ostdeutsch-
land entlassenen Spätheimkehrer ihren Westkollegen
gleichzustellen.
Ich komme darauf zu sprechen, Frau Schröter.
Ich bekenne ganz freimütig, dass auch ich die ganze
Dimension des persönlichen Zurückgesetztseins dieser
ehemaligen Kriegsgefangenen zunächst nicht erkannt
habe. Erst seit sich Zusammenschlüsse der Spätheim-
kehrer auch in meinem Wahlkreis gebildet haben, bin ich
auf die tiefe Verbitterung dieser Menschen gestoßen.
Zitat:
Es war doch der gleiche Krieg, in dem wir unseren
Kopf hinhalten mussten. Wir hatten doch den Hun-
ger, die Zwangsarbeit, die Entbehrung genauso zu er-
tragen wie unsere Leidenskollegen, die auf die deut-
sche Sonnenseite entlassen worden sind.
Das ist nur eine der Aussagen von Betroffenen.
Die Verbitterung wuchs noch, nachdem bekannt gewor-
den war, dass die deutsche Gesellschaft 10 Milliarden DM
als Wiedergutmachung für ausländische Zwangs- und
Sklavenarbeiter zu zahlen bereit ist. Ich will nur an Fol-
gendes erinnern: Davon zahlt allein der deutsche Steuer-
zahler 7,5 Milliarden DM. Es ist ziemlich zwecklos, den
Betroffenen den feinen juristischen Unterschied zwischen
Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern zu erläutern.
Herr Kol-
lege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Volker Beck?
Nein,
ich möchte gerne im Kontext vortragen.
Das Entscheidende ist: Das Gefühl mangelnder Ge-
rechtigkeit schreit einfach nach einer schnellen und prag-
matischen Lösung.
Wir haben deshalb einen Vorschlag des interfraktionell
besetzten parlamentarischen Beirats des Heimkehrerver-
bandes aufgegriffen. Der Beirat hat um es so einfach
wie möglich zu machen eine Entschädigung bis zu
3 000 DM in drei Jahresstufen vorgeschlagen.
Die Lösung muss in der Tat schnell kommen: Die jüngs-
ten Spätheimkehrer sind heute bereits 75; die Ältesten
sind hoch in den 90ern.
Im Beirat war zunächst ein interfraktioneller Antrag
angestrebt worden. Die Vertreter der Regierungsfrak-
tionen sie hatten zunächst einmal ihre Sympathie für
diesen Antrag deutlich gemacht und wollten ihn auch un-
terstützen sind von ihren Finanzpolitikern aber zurück-
gepfiffen worden.
So musste die Union diesen Antrag allein einbringen.
Ich will an dieser Stelle auf die zahlreichen Zwi-
schenrufe eingehen. Tatsache ist doch, dass sich keine
Fraktion des Deutschen Bundestages bei einer Entschädi-
gungslösung für die in den Osten Deutschlands entlasse-
nen Kriegsgefangenen mit Ruhm bekleckert hat.
Ich ziehe mir ganz bewusst die Jacke an, wenn kritisiert
wird, Union und F.D.P. hätten in ihrer Regierungszeit eine
befriedigende Regelung für die Spätheimkehrer treffen
können. Das ist richtig. Bei der Aufhebung des
Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes im Jahr 1992 gab es
von keiner Fraktion in diesem Hause einen entsprechen-
den Antrag, von meiner eigenen allerdings auch nicht.
Erklärend, nicht entschuldigend will ich nur hinzufü-
gen: Ich kenne allerdings auch keine andere gesellschaft-
liche Gruppe als die Spätheimkehrer, die überhaupt kei-
nen Fürsprecher neudeutsch Lobby genannt hatte. Im
Gegensatz zu anderen Verbänden ich nenne hier nur die
Heimatvertriebenen hatte es damals auch keine beson-
deren Bemühungen der westdeutschen Partnerverbände
gegeben. Zumindest habe ich davon nichts bemerkt.
Ich komme auf die Finanzen zu sprechen. Es wäre an-
gesichts der finanziellen Aufwendungen für andere Op-
fergruppen doch wohl möglich gewesen, die notwendigen
90 Millionen DM für die noch lebenden 30 000 Spät-
heimkehrer und für die 20 000 Geltungskriegsgefange-
nen das sind verschleppte Zivilpersonen ebenfalls
noch aufzubringen. Allein die Einmalleistungen für die
Heimatvertriebenen in den neuen Ländern haben uns
5,2 Milliarden DM gekostet. Wir hätten auch 5,3 Milli-
arden DM tragen können.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von SPD und
Grünen, wir hätten heute die Möglichkeit, wenigstens
späte Gerechtigkeit in Deutschland zu schaffen. Noch ist
es für viele Betroffene nicht zu spät.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Hartmut Büttner
16012
Die PDS spreche ich nicht gesondert an. Auf ihre Zu-
stimmung werden wir wahrscheinlich ohnehin verzichten
müssen; denn im federführenden Innenausschuss hatte
die PDS beantragt, einen Absatz aus dem Beschlussvor-
schlag zu verändern,
der in sämtlichen Leistungsgesetzen für Opfer enthalten
war, die in diktatorischen Systemen leben mussten. In die-
sem Absatz heißt es ich zitiere :
Die einmalige Entschädigung erhalten solche Heim-
kehrer nicht, die vor oder nach Ende des Zweiten
Weltkrieges einem totalitären System erheblich Vor-
schub geleistet oder durch ihr Verhalten gegen die
Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaat-
lichkeit verstoßen haben.
Die PDS wollte allen Ernstes zwischen Menschen-
rechtsverletzungen in den beiden diktatorischen Regi-
men in Deutschland unterscheiden:
Wer in der NS-Zeit gegen Menschenrechte verstoßen
hatte, sollte leer ausgehen. Wer aber Ähnliches in der
zweiten deutschen Diktatur, also in der DDR, getan hatte,
sollte trotzdem eine Entschädigung bekommen.
Dieses Messen mit zweierlei Maß hat der Innenausschuss
mit allen Stimmen der anderen Fraktionen abgelehnt.
Ich denke, das Plenum wird dies ebenfalls tun.
Ich appelliere jetzt an alle Abgeordneten der Regie-
rungskoalition, in der folgenden namentlichen Abstim-
mung den betroffenen Spätheimkehrern ein deutliches
Zeichen für die soziale Gerechtigkeit in Deutschland zu
geben. In den letzten Tagen mehrten sich auch Stimmen
der Scham und der Fürsprache aus Ihren Parteien.
Der Verband der Heimkehrer hat in einem Brief an Sie,
Frau Schröter, Folgendes ausgeführt:
Sie stellen zwar zu Recht fest, dass die frühere
Bundesregierung acht Jahre Zeit gehabt hatte, diese
Forderungen zu erfüllen. Diese Feststellung kann
aber kein Freibrief für die jetzige Untätigkeit und Ab-
lehnung sein.
Ich denke, besonders die Abgeordneten aus den neuen
Ländern sollten sich auf die Seite der Menschen ohne
Lobby stellen und unserem Gesetzentwurf zustimmen.
Danke schön.
Das Wort
hat der Kollege Cem Özdemir für Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Um es gleich vor-
weg zu sagen: Auch meine Fraktion bekennt sich zur Ver-
antwortung gegenüber den Opfern von Krieg und Gewalt.
Die Teilnehmer des Krieges haben Anspruch auf Hilfe
und Unterstützung. Ich erwähne dies deshalb besonders,
weil Vertreter des Verbandes der Heimkehrer, Kriegsge-
fangenen und Vermisstenangehörigen Deutschlands hier
anwesend sind. Alle Fraktionen bekennen sich zu dieser
Verantwortung.
Es gehört zu einem der traurigsten Kapitel der deut-
schen Nachkriegsgeschichte, dass diese Menschen, die in
die DDR heimgekehrt sind, statt Hilfe vom Staat die Wei-
sung erhalten haben, über ihr Schicksal zu schweigen. Die
Erlebnisse mussten tabu bleiben, weil der große Bruder
und Freund Sowjetunion nicht in dunklen Farben ge-
zeichnet werden durfte. Gerade diesen Menschen wurde
alles verweigert, was den Kriegsheimkehrern in der
Bundesrepublik Deutschland alt nicht verweigert worden
ist. Jetzt geht es darum, dass wir bei allem Streit einen be-
scheidenen Ausgleich für das erlittene Schicksal leisten.
Dies hat die Koalition getan. Frau Schröter hat darauf hin-
gewiesen.
Es gehört für mich zu den großen Enttäuschungen der
letzten zehn Jahre, erleben zu müssen, wie schwer oder
geradezu unmöglich es in der Politik oft ist, vergangenes
Unrecht auszugleichen. Egal, wie viel Geld wir einstellen:
Wir werden das vergangene Unrecht nicht ausgleichen
können. Auch wenn Ihr Antrag durchkommen sollte: Was
diese Menschen erdulden mussten, was sie erlebt haben,
kann durch nichts wieder gutgemacht werden. Ich appel-
liere an die Betroffenen, dass sie das, was wir heute hier
debattieren und beschließen werden, egal, welcher Antrag
durchkommt, nicht als Verhöhnung empfinden. Jenseits
allen Streites sollten alle Fraktionen, die sich seriös mit
dem Thema beschäftigen, zugeben, dass wir nicht in der
Lage sind, das erlebte Schicksal wieder gutzumachen.
Wir alle haben Zuschriften bekommen. Kollege
Büttner hat aus diesen Zuschriften zitiert. Es sind bewe-
gende Briefe. Diese Menschen haben tiefe Wunden erlit-
ten. Das vergangene Jahrhundert mit zwei Weltkriegen,
mit Völkermord und Massendeportation hat bei vielen
Menschen schreckliche Traumata hinterlassen.
Eines muss man klar dazusagen hier appelliere ich an
die Union : Der Verweis auf die Diskussion zur Ent-
schädigung von Zwangsarbeitern ist in der Sache nicht
nur nicht hilfreich, er ist falsch.
Den Betroffenen nehme ich ihn nicht übel. Ich kann ver-
stehen, dass sie diesen Verweis in ihren Briefen machen.
Aber an die Union appelliere ich, damit aufzuhören, Ei-
fersucht zu schüren. Das hilft uns nicht weiter; es ist ein
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Hartmut Büttner
16013
schlechtes Mittel. Die Zwangsarbeiter sind Menschen, die
von unserem Staat nie etwas bekommen haben. Sie muss-
ten die deutsche Kriegswirtschaft als Sklaven in Gang
halten. Sie leben in der ganzen Welt verstreut, oftmals un-
ter erbärmlichen sozialen Bedingungen.
Die Vertriebenen, die Heimkehrer und die politisch
Verfolgten aber leben in der Bundesrepublik Deutschland.
Bei allen Unzulänglichkeiten, über die wir uns einig sind,
nehmen sie am deutschen Sozialstaat teil. Deshalb bitte
ich Sie, in dieser Frage nicht in Populismus zu verfallen.
Ich habe das Gefühl, dass Sie dieser Versuchung nicht wi-
derstehen konnten, als Sie für heute die namentliche Ab-
stimmung beantragt haben.
Herr Kol-
lege Özdemir, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Bitte schön,
Herr Kollege Hohmann.
Herr Özdemir, sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das, was Sie so-
eben dargestellt haben, nicht ganz zutrifft? Denn auf eine
schriftliche Anfrage an die Bundesregierung, wie viele
von den Menschen, die jetzt aus dem Zwangsarbeiter-
fonds entschädigt werden sollen, erstmals Zahlungen aus
deutschen Kassen bekommen, hat mir die Bundesre-
gierung geantwortet, 10 Prozent bekämen jetzt erstmals
eine Entschädigungsleistung aus deutschen Kassen. Das
heißt, 90 Prozent haben bereits in irgendeiner Form Leis-
tungen erhalten. Es kann nur eines stimmen: entweder
das, was Sie gesagt haben, oder die Auskunft der Bundes-
regierung.
Eine zweite Frage. Sehen Sie das Thema nicht auch als
ein Problem bezüglich der Menschenrechte? Können wir
Menschenrechte teilen und sagen, dass es für Deutsche
eine andere, herabgestufte Art von Menschenrechten
gibt?
Zum
ersten Punkt, Herr Kollege. Ich dachte eigentlich, dass wir
in der Frage der Zwangsarbeiterentschädigung hier im
Hohen Hause über alle Fraktionsgrenzen hinweg Einig-
keit haben. Das scheint nicht bei allen der Fall zu sein. Ich
bedaure das sehr.
Zum zweiten Punkt. Sie bedienen vielleicht ohne es
zu wollen mit diesem Argument ein Ressentiment in der
Bevölkerung, das sehr weit verbreitet ist. Ihre Regierun-
gen, unsere Regierungen, alle Regierungen haben in der
Vergangenheit in Form von Wiedergutmachungen zu
Recht Großes geleistet. Es gibt aber in unserer Bevölke-
rung ein weit verbreitetes Vorurteil, dass wir unsere Bür-
ger schlechter behandeln würden als andere. Lassen Sie
uns dieses Vorurteil gemeinsam bitte nicht bestätigen!
Wir würden damit wirklich Schaden anrichten, auch an
dem Bild der Bundesrepublik Deutschland in Israel und
im anderen Ausland. Wir haben zu Recht vieles ge-
leistet. Auch Ihre Regierung hat unter Adenauer vieles an
Wiedergutmachungen geleistet. Lassen Sie uns das bitte
nicht kaputtmachen! Fragen dieser Art, Herr Kollege, zer-
stören den Eindruck, den die vergangene Regierung und
die gegenwärtige Regierung über allen Streit hinweg ge-
meinsam erweckt haben. Ich halte diesen Ansatz nicht für
hilfreich.
Lassen Sie uns für diese Menschen eine Lösung finden.
In der letzten Haushaltsdebatte Sie erinnern sich hat
Ihre Fraktion, Herr Büttner, Kritik geübt. Wir haben das
sehr ernst genommen. Das hat dazu geführt, dass wir über
die Fraktionsgrenzen hinweg 5 Millionen DM eingestellt
haben. Lassen Sie uns im nächsten Haushaltsjahr weiter-
diskutieren, ob wir da nicht noch eine Lösung finden kön-
nen.
Aber lassen Sie uns eines nicht machen: Lassen Sie uns
nicht Opfergruppen gegeneinander ausspielen. Das nützt
niemandem; kein Opfer hat etwas davon.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Redezeit
läuft bald ab; ich komme deshalb zu meinem letzten
Punkt. Es war das von der Union unter den Ägiden von
Zimmermann und Kanther verabschiedete Kriegsfolgen-
bereinigungsgesetz, in dem die soziale Bedürftigkeit als
Kriterium zur Bewilligung von Leistungen festgelegt
wurde. Wir halten an diesem Kriterium fest.
Ich möchte jedoch eines der Redlichkeit halber sagen:
Die alte Regierung war es, die im Unrechtsberei-
nigungsgesetz festgelegt hat, dass die ehemaligen DDR-
Häftlinge nur den halben Haftentschädigungssatz be-
kommen. Die jetzige Regierung hat dafür gesorgt, dass
die Summen angeglichen wurden.
Sie, Herr Büttner, sollten auch dazu einmal einen Satz sa-
gen. Sie haben ja ehrlicherweise eingeräumt, dass die alte
Regierung einiges aufzuarbeiten habe. Sie sollten aber
auch noch einmal etwas zum Thema Haftentschädigung
von DDR-Häftlingen sagen; es gehört zur deutsch-deut-
schen Politik dazu, niemanden schlechter zu behandeln.
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, zum PDS-An-
trag nichts zu sagen. Nachdem ich ihn mir aber jetzt auf-
merksam durchgelesen habe, möchte ich zum Schluss
noch Folgendes feststellen Herr Büttner hatte bereits da-
rauf hingewiesen : Ich kann verstehen, dass die PDS als
Oppositionspartei sich dem CDU/CSU-Antrag an-
schließt; das ist geschenkt. Aber dass sie die Streichung
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Cem Özdemir
16014
des § 2 Abs. 2 aus dem Unionsantrag verlangt, ist an Ge-
schmacklosigkeit wirklich nicht zu überbieten.
Ich setze mich ja nun wirklich dafür ein, dass die PDS
nicht durch den Verfassungsschutz beobachtet wird, weil
das zu viel der Ehre wäre. Aber diese Forderung ist an Ge-
schmacklosigkeit wirklich nicht zu überbieten. Hiermit
wird der Konsens unter Demokraten aufgekündigt.
Für die
F.D.P.-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Max
Stadler.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Die F.D.P. wird dem Ge-
setzentwurf der Union zustimmen, wenn auch aus etwas
anderen Gründen, als sie vom Kollegen Büttner vorgetra-
gen worden sind. Herr Kollege Büttner hat heute hier und
in einer noch größeren Deutlichkeit im Innenausschuss
dargestellt, dass ein aktueller Vorgang, die Diskussion um
und auch die Gesetzgebung zur Entschädigung der
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der unmittel-
bare Anlass gewesen ist, um ein weiteres Problem zur Be-
wältigung der NS-Zeit hier ins Parlament zu bringen,
nämlich das schwere Schicksal der Spätheimkehrer in die
sowjetische Besatzungszone und in die DDR.
Der Zusammenhang beider Themen ist jedoch nur vor-
dergründig. In Wahrheit geht es um sehr unterschiedliche
Sachverhalte, die man in der Tat nicht miteinander ver-
gleichen kann; da gebe ich Frau Kollegin Schröter völlig
Recht.
Wie mein Kollege Jürgen Türk in der ersten Lesung zu
Recht festgestellt hat, gibt es doch eine Gerechtigkeits-
lücke. Verglichen werden müssen nämlich die Heimkeh-
rer in die Westzonen bzw. in die Bundesrepublik
Deutschland sowie diejenigen, die in die Sowjetzone
bzw. in die DDR zurückgekehrt sind. Letztere haben
nichts erhalten, Erstere sind entschädigt worden. Das ist
der richtige Vergleich. Die Ungerechtigkeit, die man bei
diesem Vergleich feststellen kann, darf man so nicht ste-
hen lassen.
Meine Damen und Herren, es wäre ein sehr formales
Argument, darauf zu verweisen, dass über diesen Sach-
verhalt schon einmal befunden worden ist, nämlich indi-
rekt 1993, als man, da man der Ansicht war, dass man mit
der Kriegsfolgenentschädigung zu einem Abschluss ge-
kommen sei, dieses Problem keiner Lösung zugeführt
hat. Ich finde, dass es zu formal ist, sich darauf zu beru-
fen. Es war wiederum Jürgen Türk, der in der ersten Le-
sung zu Recht gesagt hat, wenn ein Problem in der Ver-
gangenheit falsch behandelt worden sei, sei dies noch
keine Begründung dafür, es in der gleichen Weise wei-
terhin zu tun.
Jetzt muss eine Lösung erreicht werden.
Es reicht nach unserer Auffassung nicht aus, für Härte-
fälle 5 Millionen DM mehr in den Haushalt einzustellen.
Wir haben nämlich den Eindruck, dass es in erster Linie
gar nicht um ein finanzielles Problem geht, sondern jetzt
vielmehr das Anliegen ist, die Gerechtigkeitslücke zu
schließen; deshalb stimmen wir dem Gesetzentwurf zu.
Für die
Fraktion der PDS spricht die Kollegin Petra Pau.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe am 8. November des vergangenen
Jahres, als wir uns hier im Plenum erstmals mit diesem
Thema befassten, namens meiner Fraktion Unterstützung
für das Anliegen dieses Gesetzentwurfes signalisiert. Das
meinte und meine ich nach wie vor sehr ernst.
Wir waren bereit auch darüber habe ich am 8. No-
vember des vergangenen Jahres gesprochen , zumindest
wenn es um die Abstimmung über diesen Gesetzestext
geht, darüber hinwegzusehen, dass in der Begründung,
welche ja keine Auswirkungen auf Zahlungen hat, Dinge
gleichgesetzt werden, die nicht gleichzusetzen sind.
Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben dazu schon
gesprochen. Ich denke, es sollte Schluss damit sein, die
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die bis
heute noch keinen Pfennig Entschädigung gesehen ha-
ben das werden wir heute Nacht wieder einmal beraten
mit denjenigen gleichzusetzen, um die es heute hier in
diesem Gesetzentwurf geht.
So weit, so gut.
Nun aber zu dem Gesetzentwurf und dem hier schon
mehrfach zitierten § 2 Abs. 2. Am 8. November des letz-
ten Jahres dachte ich noch immer, dass dies entweder zu
heilen sei oder aber dass sich hier etwas eingeschlichen
hat, was den Gesetzentwurf ad absurdum führen sollte.
Ich lese Ihnen den Satz, um den es hier geht, noch einmal
vor:
Die einmalige Entschädigung erhalten solche Heim-
kehrer nicht, die vor oder nach dem Ende des Zwei-
ten Weltkrieges einem totalitären System erheblich
Vorschub geleistet oder durch ihr Verhalten gegen die
Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaat-
lichkeit verstoßen haben.
Meinen Sie denn ernsthaft, dass auch diejenigen Sol-
daten der Wehrmacht, die gezwungenermaßen und garan-
tiert nicht begeistert in den Krieg gezogen sind, nicht ge-
gen die Menschlichkeit verstoßen haben und dass sie
nicht im Namen eines totalitären Systems in diesen Krieg
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Cem Özdemir
16015
gezogen sind? Mit diesem Absatz führen Sie dies doch
selbst ad absurdum. Da hilft auch nicht das Argument,
dass in allen Leistungsgesetzen in Bezug auf die ehema-
lige DDR wenn wir das Urteil von gestern hinzuneh-
men: auch in Bezug auf die Spätaussiedler ein solcher
Absatz geschrieben steht. Ich denke, er sollte aus diesem
Gesetzentwurf herausgenommen werden, da man soziale
Leistungen nicht mit dem Strafrecht verbinden kann.
Nutzen Sie also in der namentlichen Abstimmung die
Chance, diesen Absatz herauszunehmen. Dann sind auch
wir bereit, der Entschädigung für Spätheimkehrer zuzu-
stimmen. Verwechseln Sie aber bitte nicht Ursache und
Wirkung und dichten Sie nicht die Geschichte mit diesem
Gesetzentwurf nachträglich um!
Als letzte
Rednerin in dieser Debatte spricht für die Bundesregie-
rung die Parlamentarische Staatssekretärin Cornelie
Sonntag-Wolgast.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schade, Frau Pau,
dass Sie durch Ihren Änderungsantrag, in dem Sie die
Streichung des von Ihnen zitierten § 2 Abs. 2 verlangen, ei-
nen Ton in diese Debatte gebracht haben, der der Gesamt-
atmosphäre, die wir hier erzeugt haben, nicht gut tut.
Denn es gibt hier im Saal ja wohl kaum jemanden, den das
Schicksal der einstigen Kriegsgefangenen und Ver-
schleppten aus der ehemaligen DDR kalt ließe. Das haben
sowohl die Beratung im Innenausschuss als auch die erste
Lesung dieses Gesetzentwurfes, die wir schon vor einigen
Monaten durchgeführt haben, gezeigt.
Die Betroffenen die Verbände der Heimkehrer, der
Ruhestandsbeamten, der Vertriebenen und der Volksbund
Deutscher Kriegsgräberfürsorge haben geschrieben und
sich noch einmal zu Wort gemeldet. Ich kann wirklich
manches, was in diesen Briefen geschrieben wurde, gut
nachvollziehen auch die Bitternis. Es ist sicherlich
wichtig, dass uns das Schicksal der Menschen, die
während des DDR-Regimes keinen Ausgleich erhielten
und die noch nicht einmal über ihre Leiden sprechen durf-
ten, durch diese Debatte wieder vor Augen geführt wird.
Insofern ist es richtig, dass wir dies hier zum Thema ma-
chen.
Herr Kollege Büttner, freilich muss ich auch erklären,
warum die Bundesregierung und die sie tragenden Koali-
tionsfraktionen einen anderen Weg als den der einmali-
gen Entschädigung gehen, wie Sie ihn fordern. Unser
Weg ist das möchte ich noch einmal klarmachen der
Weg einer stetigen Hilfe, ausgerichtet auf diejenigen, die
sie besonders nötig haben. Eine Pauschalzahlung dagegen
würde die Nachkriegsgesetzgebung wieder neu beleben
mit unübersehbaren Konsequenzen. Dies wäre auch
der Versuch, in abgewandelter Form das Kriegsgefan-
genenentschädigungsgesetz aus dem Jahre 1954 wieder
aufleben zu lassen, das ja zum Jahresende 1992 aufgeho-
ben wurde.
Es ging seinerzeit darum, den Menschen möglichst
schnell die Wiedereingliederung in die Nachkriegsgesell-
schaft zu ermöglichen. Das galt auch für diejenigen, die in
der DDR heimisch wurden.
Anders wurde übrigens die Situation der Spätaus-
siedler beurteilt. Der Gesetzgeber entschloss sich später,
für Spätheimkehrer aus der DDR dagegen die Kriegsge-
fangenenentschädigung nicht zu gewähren, jedoch an Be-
dürftige Unterstützungsleistungen nach dem so genannten
Heimkehrerstiftungsgesetz zu zahlen. Man muss daran er-
innern, dass sich mit dieser Regelung die Interessenver-
bände zunächst einverstanden erklärten. Erst in jüngster
Zeit hat sich die Stimmung gewandelt.
Man musste und konnte davon ausgehen, dass ehema-
lige Kriegsgefangene, die aus dem ausländischen Ge-
wahrsam in die ehemalige DDR entlassen wurden und
dort bis zum Beitritt gelebt hatten, gleichfalls in diese Ge-
sellschaft eingegliedert waren, obwohl ihnen das ist ja
völlig unbestritten das dortige Regime vergleichbare
Leistungen, wie sie nach dem Kriegsgefangenenentschä-
digungsgesetz bis 1993 möglich waren, versagt hatte.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Unions-
fraktion, Ihr Gesetzentwurf ist auch insofern unaufrichtig,
als ja die von Ihnen geführte Regierung damals im Eini-
gungsvertrag mit großer Entschiedenheit die Kriegsge-
fangenenentschädigungsregelung ausgeschlossen hat.
Auch in den folgenden Jahren Ihrer Regierungszeit haben
Sie keinen Versuch einer Änderung unternommen. Ich
muss einfach noch einmal daran erinnern.
Wenn ich noch etwas zur augenblicklichen Regelung
sagen darf: Man kann feststellen, dass sie sich durchaus
bewährt hat. Von den Unterstützungsleistungen, die nach
dem Heimkehrerstiftungsgesetz geleistet werden, ist ein
gehöriger Anteil an Empfänger in den neuen Ländern ge-
flossen, obwohl Leistungsberechtigte dort ja erst frühes-
tens ab 1. Januar 1993 überhaupt Anträge stellen konnten.
Ich bin auch überzeugt davon, meine Damen und Herren,
dass wir den Menschen jetzt nicht falsche Hoffnungen auf
eine pauschale Entschädigung machen, sondern das ist
eben unser Weg lieber denjenigen, die Unterstützung
brauchen, auf verlässlicher Grundlage helfen sollten.
Um das noch einmal zu unterstreichen das hat ja auch
die Debatte ergeben , ist beschlossen worden, dass im
laufenden Bundeshaushalt für den Fonds der Heimkeh-
rerstiftung 5 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung ste-
hen, die dann auch sicherlich gut verwendet werden. Dies
ist ein positives Signal. Es ist auch ein Zeichen der Aner-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Petra Pau
16016
kennung und des Respekts vor Schicksalen, die, meine
Damen und Herren, mit Geld allein ganz sicherlich nicht
aufzuwiegen sind.
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU über eine einmalige Entschä-
digung an die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet, Druck-
sachen 14/4144 und 14/5516. Der Innenausschuss emp-
fiehlt, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Zum Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/5802 vor, über den
wir zuerst abstimmen. Die Fraktion der PDS verlangt na-
mentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Urnen besetzt?
Sind jetzt alle Urnen besetzt? Ich bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, künftig pünktlich an den Ur-
nen zu sein.
Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? Ich schließe die Ab-
stimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Die unter-
brochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Än-
derungsantrag der Fraktion der PDS zu dem Gesetzentwurf
über eine einmalige Entschädigung an die Heimkehrer aus
dem Beitrittsgebiet auf Drucksache 14/5802 bekannt.
Abgegebene Stimmen 533. Gültige Stimmen 533. Mit
Ja haben gestimmt 30, mit Nein haben gestimmt 5021),
Enthaltung 1.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
16017
1) Anlage 2
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: ...............
533;
davon
ja: 30
nein: 502
enthalten: 1
Ja
PDS
Monika Balt
Dr. Dietmar Bartsch
Petra Bläss
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Dr. Gregor Gysi
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Kutzmutz
Heidi Lippmann
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Pia Maier
Angela Marquardt
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Nein
SPD
Brigitte Adler
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans Peter Bartels
Eckhardt Barthel
Ingrid Becker-Inglau
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Peter Friedrich
Lilo Friedrich
Harald Friese
Anke Fuchs
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Reinhold Hiller
Stephan Hilsberg
Jelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
16018
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß
Winfried Mante
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer
Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Gerhard Neumann
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Michael Roth
Birgit Roth
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Horst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Dagmar Schmidt
Regina Schmidt-Zadel
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Volkmar Schultz
Ewald Schurer
Dietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie Sonntag-
Wolgast
Wieland Sorge
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl
Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek
Helmut Wieczorek
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Hanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ilse Aigner
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Renate Blank
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Sylvia Bonitz
Wolfgang Börnsen
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Georg Brunnhuber
Klaus Bühler
Hartmut Büttner
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens
Peter H. Carstensen
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Bartholomäus Kalb
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Hans Michelbach
Bernward Müller
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
16019
Elmar Müller
Bernd Neumann
Günter Nooke
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Norbert Otto
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard
Katherina Reiche
Erika Reinhardt
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Dr. Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Wolfgang Schulhoff
Gerhard Schulz
Diethard Schütze
Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-
Schilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Heinz Seiffert
Dr. h. c. Rudolf Seiters
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Hans-Peter Uhl
Angelika Volquartz
Dr. Theodor Waigel
Peter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann
Marieluise Beck
Volker Beck
Angelika Beer
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer
Katrin Göring-Eckardt
Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Kerstin Müller
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt
Werner Schulz
Christian Simmert
Christian Sterzing
Jürgen Trittin
Dr. Antje Vollmer
Dr. Ludger Volmer
Helmut Wilhelm
Margareta Wolf
F.D.P.
Ina Albowitz
Rainer Brüderle
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
Detlef Parr
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Ingeborg Voß
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver-
sammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete(r)
Behrendt, Wolfgang Dr. Brecht, Eberhard Fuchtel, Hans-Joachim Griefahn, Monika
SPD SPD CDU/CSU SPD
Hornung, Siegfried Dr. Köster-Loßack, Angelika Dr. Lamers, , Karl A. Raidel, Hans
CDU/CSU BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU CDU/CSU
Schloten, Dieter Zierer, Benno
SPD CDU/CSU
Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf der Fraktion der CDU/CSU über eine einmalige
Entschädigung an die Heimkehrer aus dem Beitrittsge-
biet. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche
Abstimmung.
Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben ihre
Plätze eingenommen.
Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim-
me noch nicht abgegeben hat? Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung
zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.1)
Wir setzen die Beratungen fort. Ich bitte die Kollegin-
nen und Kollegen, die der nun folgenden Debatte nicht
beiwohnen möchten, Ihre Gespräche in der Lobby fortzu-
setzen.
Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Distanzierung der Bundesministerin Renate
Künast von einem Aufruf zur Freilassung als
Mitglieder einer terroristischen Vereinigung
verdächtigter Personen
Drucksache 14/5765
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Jörg van Essen für die Fraktion der F.D.P.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion fordert
die Bundesministerin Künast auf, ihre Unterschrift unter
einem Aufruf zurückzuziehen, in dem die sofortige Ein-
stellung des Verfahrens gegen Personen gefordert wird,
die unter anderem wegen der Mitgliedschaft in der terro-
ristischen Vereinigung Revolutionäre Zellen angeklagt
sind.
Der Prozess läuft seit dem 22. März dieses Jahres vor
dem Kammergericht Berlin. Es geht dabei um Terroran-
schläge auf zwei Menschen, auf die geschossen wurde
und die dabei schwer verletzt wurden, sowie um Spreng-
stoffanschläge. Frau Künast, ich akzeptiere, dass Sie eine
andere Meinung als ich zu § 129 a StGB haben,
aber wir akzeptieren nicht, dass Sie das rechtsstaatliche
Verfahren des Kammergerichts nicht abwarten wollen
und sich unmittelbar vor Prozessbeginn für die sofortige
Freilassung der Angeklagten einsetzen.
Der Aufruf stammt zwar aus dem letzten Jahr, ist aber
am 21. März 2001, also einen Tag vor Prozessbeginn, in
der taz mit den alten Vorwürfen und Forderungen und
Ihrer Unterschrift erneut erschienen. Sie waren zu diesem
Zeitpunkt bereits Bundesministerin und hatten damit bei
Ihrer Amtseinführung Anfang des Jahres geschworen, das
Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und
zu verteidigen.
Es gehört zu den Grundlagen des demokratischen
Rechtsstaates, den Sie zu verteidigen haben, dass nach der
Zulassung einer Anklage unabhängige Richter darüber
entscheiden, ob eine Anklage zu Recht erhoben worden ist
oder nicht.
Wegen der Gewaltenteilung hat die Regierung der Justiz
nichts vorzuschreiben.
Wer die sofortige Einstellung des Verfahrens fordert, will
sich über Recht und Gesetz in diesem Land hinwegsetzen.
Sie offenbaren ein verfassungswidriges Rechtsverständ-
nis und plädieren für ein Sonderrecht für linke Terroristen.
Frau Künast, wir nehmen diesen Angriff einer Minis-
terin auf die unabhängige Justiz auch deshalb nicht hin,
weil in dem Aufruf der Bundesanwaltschaft und dem Ge-
richt unterstellt wird, sie hätten willkürlich gehandelt und
machten sich der Freiheitsberaubung schuldig. Dies ist
ein schwerwiegender Vorwurf gegen die der Dienstauf-
sicht der Bundesregierung unterstehende Bundesanwalt-
schaft und gegen die die Dienstaufsicht führende Bundes-
justizministerin.
Die Vorwürfe sind für ein Mitglied der Bundesregierung
so gravierend, dass sie entweder belegt oder zurückge-
nommen werden müssen.
Der Text des Aufrufs, Frau Künast, widerspricht im
Übrigen einer Antwort der Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage, in der im Gegensatz zu den Ausführun-
gen in dem von Ihnen unterschriebenen Aufruf ausgeführt
wird, dass den Betroffenen nicht nur Straftaten nach
§ 129 a StGB zur Last gelegt werden und diese noch nicht
verjährt sind. Die Antwort der Bundesregierung macht
deutlich, dass eine ausdrückliche Aufgabe des Konzepts
der Revolutionären Zellen nicht festgestellt werden kann
und es auch nach 1992 noch zu Sprengstoffanschlägen ge-
kommen ist, die den RZ zugerechnet werden können. Es
ist ein unglaublicher Vorgang, wenn eine Bundesminis-
terin der eigenen Regierung in einem Aufruf unterstellt,
das Parlament belogen zu haben.
Der Bundesinnenminister musste vor wenigen Tagen
bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts nicht
nur eine erhebliche Zunahme rechtsradikaler, sondern
auch eine Zunahme linksradikaler Gewalt feststellen. Die
Liberalen stellen sich gegen jede Form politischer Gewalt
in diesem Land und stärken der unabhängigen Justiz den
Rücken.
Die Justiz hat diese Unabhängigkeit vor allem in diesem
Verfahren mehrfach gezeigt. Der von Frau Künast unter-
zeichnete Aufruf ist ein schwerer Angriff auf die richter-
liche Unabhängigkeit und die Gewaltenteilung.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
16020
1) Seite
Wenn die Bundesministerin Künast ihren Amtseid
ernst nimmt, muss sie ihre Unterschrift sofort zurückzie-
hen. Wir fordern sie dazu mit Nachdruck auf.
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Dieter Wiefelspütz. Er spricht für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr
Kollege van Essen, was ist aus liberaler Rechtspolitik ge-
worden?
Damit das sofort klargestellt ist, möchte ich vorab sagen:
Der § 129 a StGB ist kein Thema einer Diskussion in der
Koalition. Dieser Paragraph wird so bleiben, wie er ist.
Im Übrigen ist es kein Thema in der Bundesregierung,
was eine Ministerin vor einem Jahr in ihrer früheren Ei-
genschaft als Parteivorsitzende als Meinung äußerte.
Herr van Essen, Sie wollen Zensur,
und das weisen wir entschieden zurück.
Ich muss Ihnen freimütig sagen: Ihnen fällt in der sachli-
chen Auseinandersetzung nichts mehr ein. Sie wollen
Menschen persönlich beschädigen und Zensur ausüben.
Wenn an Ihrer Stelle, Herr van Essen, der geschätzte
Kollege Dr. Burkhard Hirsch säße, der uns gelegentlich
berät
Ich finde es bemerkenswert, Herr Westerwelle ich
spreche Sie persönlich an , dass Sie mit Ihrer Körper-
sprache diesem das sage ich ohne Ironie geschätzten
ehemaligen Kollegen dieses Hauses gegenüber, der meh-
rere Jahre lang Vizepräsident dieses Hauses war, Spott
zum Ausdruck bringen.
Dass man als Sozialdemokrat die Liberalität der F.D.P.
sozusagen in Schutz nehmen muss, tut mir sehr Leid. Ich
bedauere das sehr und gebe Ihnen Gelegenheit zu einer
Zwischenfrage, um das zu präzisieren oder zu klären,
Herr Westerwelle.
Herr Kol-
lege Westerwelle.
Wollen Sie bitte zur
Kenntnis nehmen, sehr geehrter Kollege bei allem Res-
pekt , dass ich nicht über den Kollegen Hirsch, sondern
über Sie und Ihre Bemerkung gelacht habe?
Wunderbar, das ist inso-
weit eine Klarstellung.
Ich finde es einfach nur peinlich, dass Ihnen nichts an-
deres einfällt, als zu einer Erklärung, die ein Jahr alt ist,
eine Debatte zu beantragen.
Noch peinlicher finde ich, dass Sie sich auf die Ebene der
CDU/CSU-Fraktion begeben, die ein solches Vorgehen
hier auch schon mehrfach versucht hat. Das ist leider viel
zu wenig. Sie werden damit niemanden überzeugen kön-
nen.
Ich sage noch einmal sehr deutlich: Ich habe eine klare
Meinung zu § 129 a StGB. Wir werden diesen Paragra-
phen weiterhin benötigen, ihn aber hoffentlich nie an-
wenden müssen. Dabei geht es nicht um die Form von
Terrorismus, ob von links oder von rechts. Ich hoffe, dass
wir solche Herausforderungen nie mehr werden erleben
müssen.
Ich will noch hinzufügen: Herr Gerhardt, es gibt in die-
sem Zusammenhang eine Reihe von schwersten Straf-
taten, die noch nicht aufgeklärt sind.
Dies gilt es überhaupt nicht zu verharmlosen. Aber ich
muss respektieren, Herr Gerhardt, Herr van Essen, dass
sehr ernst zu nehmende Juristen in dieser Frage des
§ 129 a StGB das haben auch Sie eingeräumt anderer
Auffassung sind.
Wenn Sie in dieser Angelegenheit ernsthaft einen Diskurs
wollen, werden wir ihn immer mit Ihnen führen. Es lohnt
sich, darüber zu reden, wie sich der demokratische
Rechtsstaat gegenüber Herausforderungen des Terroris-
mus verhält. Das ist eine lohnende Debatte. Aber es ist
nicht richtig das weisen wir zurück , Menschen zu be-
schädigen, statt eine ernsthafte Debatte führen zu wollen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Jörg van Essen
16021
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dieter Wiefelspütz
16022
Deswegen werden wir über diesen Antrag sehr zügig
abstimmen. Kehren Sie zu einer sachorientierten Opposi-
tionspolitik zurück!
Schönen Dank.
Bevor ich
das Wort weitergebe, gebe ich das von den Schriftführe-
rinnen und Schriftführer ermittelte Ergebnis der na-
mentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der
Fraktion der CDU/CSU über eine einmalige Entschädi-
gung an die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet bekannt:
Abgegebene Stimmen 538. Gültige Stimmen 538. Mit Ja
haben gestimmt 215, mit Nein haben gestimmt 322, Ent-
haltungen1).
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: ...............
537;
davon
ja: 215
nein: 321
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Renate Blank
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Sylvia Bonitz
Wolfgang Börnsen
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Georg Brunnhuber
Klaus Bühler
Hartmut Büttner
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens
Peter H. Carstensen
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt
Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Bartholomäus Kalb
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Hans Michelbach
Bernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Günter Nooke
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Norbert Otto
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard
Katherina Reiche
Erika Reinhardt
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Dr. Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Wolfgang Schulhoff
Gerhard Schulz
Diethard Schütze
Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-
Schilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Heinz Seiffert
Dr. h. c. Rudolf Seiters
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Hans-Peter Uhl
Angelika Volquartz
Dr. Theodor Waigel
Peter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter Willsch
Bernd Wilz
Willy Wimmer
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
F.D.P.
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun
1) Anlage 2
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
16023
Rainer Brüderle
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
Detlef Parr
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Nein
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann
Marieluise Beck
Volker Beck
Angelika Beer
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer
Katrin Göring-Eckardt
Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Kerstin Müller
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt
Werner Schulz
Christian Simmert
Christian Sterzing
Jürgen Trittin
Dr. Antje Vollmer
Dr. Ludger Volmer
Helmut Wilhelm
Margareta Wolf
PDS
Monika Balt
Dr. Dietmar Bartsch
Petra Bläss
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Dr. Gregor Gysi
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Kutzmutz
Heidi Lippmann
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Pia Maier
Angela Marquardt
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
SPD
Brigitte Adler
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans Peter Bartels
Eckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-Inglau
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Peter Friedrich
Lilo Friedrich
Harald Friese
Anke Fuchs
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Reinhold Hiller
Stephan Hilsberg
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß
Winfried Mante
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Michael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Gerhard Neumann
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Dr. Eckhart Pick
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt.
Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die weitere
Beratung.
Wir fahren in der Aussprache fort. Ich gebe dem Kol-
legen Norbert Geis für die Fraktion der CDU/CSU das
Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Frau Ministerin
Künast hat vor einem Jahr einen Aufruf unterschrieben,
in welchem die Freilassung von sechs Gefängnisinsas-
sen gefordert wird. Diese sechs Gefängnisinsassen ste-
hen unter dem Verdacht, der terroristischen Vereinigung
Revolutionäre Zellen anzugehören sowie an dem An-
schlag gegen den Leiter der Berliner Auslandsbehörde
und an dem Anschlag gegen einen Vorsitzenden Richter
am Bundesverwaltungsgericht beteiligt gewesen zu
sein.
Dieser Aufruf bedeutet wie Herr van Essen richtig
festgestellt hat zweifellos einen Angriff auf die Unab-
hängigkeit unserer Justiz und nichts anderes, sehr ver-
ehrte Frau Ministerin.
Wie wollen Sie denn der Bevölkerung erklären, dass sie
die Institutionen unseres Staates zu achten hat? Wie wol-
len Sie denn der Jugend klarmachen, dass sie sich für den
Rechtsstaat einsetzen und die Institutionen des Rechts-
staates anerkennen soll, dass sie die Gewaltenteilung ernst
nehmen soll, wenn führende Köpfe aus einer Regierungs-
partei selber nicht bereit sind, diese verfassungsmäßigen
Grundsätze zu achten?
Damit beweisen Sie eine Missachtung unserer Verfassung
und zeigen, welch miserable Verfassungsgesinnung Sie
haben.
In diesem Aufruf kommt auch ein massives Misstrauen
gegenüber den ermittelnden Polizeibeamten und Staats-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
16024
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Michael Roth
Birgit Roth
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Horst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Dagmar Schmidt
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Volkmar Schultz
Ewald Schurer
Dietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie Sonntag-
Wolgast
Wieland Sorge
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl
Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek
Helmut Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Hanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Peter Zumkley
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Ingeborg Voß
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver-
sammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete(r)
Behrendt, Wolfgang Dr. Brecht, Eberhard Fuchtel, Hans-Joachim Griefahn, Monika
SPD SPD CDU/CSU SPD
Hornung, Siegfried Dr. Köster-Loßack, Angelika Dr. Lamers , Karl A. Raidel, Hans
CDU/CSU BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU CDU/CSU
Schloten, Dieter Zierer, Benno
SPD CDU/CSU
anwälten zum Ausdruck. Darin ist ein bösartiger Angriff
auf die Moral dieser ermittelnden Polizeibeamten und
Staatsanwälte zu sehen nichts anderes!
Was sollen denn die Polizeibeamten davon halten, die sich
oft unter Einsatz ihres Lebens gegen terroristische Um-
triebe einsetzen und dagegen ermitteln? Sollen sie von
solchen Aufrufen halten, dass sie nicht damit rechnen
können, dass ihnen Regierungsparteien für solche Ein-
sätze Rückendeckung geben?
Im Gegenzug dazu bedeutet ein solcher Aufruf nichts
anderes als die Stärkung der Position von Linksextre-
misten in unserem Land. Diese werden sich in Zukunft die
Augen reiben und sich selbst auf die Schulter klopfen,
wenn sie feststellen, dass sie plötzlich in höchsten Regie-
rungskreisen Fürsprecher haben.
Meine sehr geehrte Frau Ministerin, distanzieren Sie
sich deshalb eindeutig von Ihrem damaligen Aufruf!
Das sind Sie Ihrem Amtseid als Ministerin schuldig. Un-
sere Jugend braucht klare Standpunkte zu unserer Verfas-
sung und zu unserem Rechtsstaat. Nehmen Sie Ihre Un-
terschrift zurück.
Widersetzen Sie sich damit, sehr verehrte Frau Ministerin,
einer ganz anderen Art der Seuche, nämlich der des
schwindenden Respekts, der Aushöhlung des Rechtsbe-
wusstseins in unserer Bevölkerung.
In Ihrem Aufruf greifen Sie § 129 a des Strafgesetz-
buches, der terroristische Vereinigungen unter Strafe
stellt, an. Sie nennen diese Norm ein Gesinnungsstraf-
recht und vergleichen sie mit den Sozialistengesetzen
Bismarcks. Es geht und es ging den damaligen Mitglie-
dern des Parlaments, die die Antiterrorgesetze in den
70er-Jahren erlassen haben, einzig und allein um die
Sorge vor dem Terrorismus. Deswegen haben damals die
Damen und Herren Mitglieder des Deutschen Bundesta-
ges diese Gesetze erlassen. Es ging nie um Gesinnungs-
strafrecht, sondern um harte Fakten. Wir werden uns des-
halb der Streichung des § 129 a StGB ganz entschieden
widersetzen.
Wir sind nach wie vor der Auffassung, dass der Terro-
rismus in unserem Lande noch lange nicht gebannt ist.
Der Innenminister hat in seinem Verfassungsschutz-
bericht in der vorletzten Woche ganz klar dargelegt, dass
es nach wie vor linksextremistische Umtriebe im Land
gibt und dass die Zahl linksextremistischer Gewalttaten
im Land wächst. Sie nimmt nicht ab, sondern zu. Dass aus
diesem Linksextremismus, der nicht auf Gewalt verzich-
tet, sondern bereit ist, Gewalt einzusetzen, Terrorismus
entstehen kann, lehrt uns die Erfahrung der vergangenen
Jahrzehnte.
Wenn die Grünen nach wie vor dem Irrglauben nach-
hängen, sie müssten diese linksextremistischen Bestre-
bungen in unserem Land nicht ernst nehmen und sie könn-
ten davon ausgehen, dass der Linksterrorismus gebannt
ist, dann sollten sie wenigstens den Rechtsextremismus
ernst nehmen.
Wir wissen aus dem Verfassungsschutzbericht, dass
rechtsextremistische Gewalttaten nach wie vor zuneh-
men: im Jahr 2000 um 34 Prozent. Dies sollten Sie ernst
nehmen.
Es ist sicherlich richtig, dass es unter den Rechtsextre-
misten Einzeltäter gibt, denen es nicht um die rechtsex-
tremistische Ideologie, sondern um blanke Gewalt und
Kriminalität geht. Aber es gibt zweifellos das zeigt auch
der Verfassungsschutzbericht rechtsextremistische Or-
ganisationen, denen es um eine Umwälzung unserer staat-
lichen Ordnung geht und die wieder ein totalitäres Re-
gime einführen wollen. Das wissen wir doch. Das sollten
wir ernst nehmen.
Wenn wir das ernst nehmen, dann müssen wir daran
festhalten, dass wir rechtliche Instrumente brauchen, dass
wir Gesetze gegen den Terrorismus brauchen. Man kann
darüber streiten, meine sehr verehrten Damen und Herren
von den Grünen, ob diese Antiterrorgesetze bis in ihre
Verästelungen hinein zweckmäßig sind. Aber man darf
nie behaupten, es handele sich hier um Gesinnungsstraf-
recht. Wer das behauptet, kennt nicht die Sorge der Mit-
glieder des Parlamentes aus den 70er-Jahren, der kennt
nicht die Vergangenheit und macht im Grunde die Täter
zu Opfern. Das können wir so nicht hinnehmen.
Wir müssen deshalb an § 129 a StGB festhalten. Ich
bitte Sie, Frau Ministerin, im Interesse einer vernünftigen
Regierungsarbeit: Nehmen Sie Ihren Aufruf zurück. Dis-
tanzieren Sie sich von Ihrem damaligen Vorgehen. Dis-
tanzieren Sie sich von Ihrer Behauptung, bei § 129 a
handle es sich um Gesinnungsstrafrecht. Wer so denkt
Sie sollten das nicht so einfach abtun , begibt sich in
den Verdacht, die Grundstrukturen unserer Verfassung
entweder nicht begriffen zu haben oder abzulehnen. Der-
jenige oder diejenige, sehr geehrte Frau Ministerin, für
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Norbert Geis
16025
den bzw. die das zutrifft, gehört nicht auf die Regierungs-
bank; dem kann man unser Land nicht anvertrauen.
Das Wort hat nun die
Kollegin Katrin Göring-Eckardt vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Sie eröffneten wieder eine neue Debatte, in der es um Dis-
tanzieren und Entschuldigen geht. Eines geht aber nicht:
Sie haben Renate Künast eine miserable Verfassungsge-
sinnung vorgeworfen. Sie haben das einer Frau vorge-
worfen, die im November letzten Jahres viele Menschen
dieser Republik und alle Parteien dieses Hauses auf die
Straße gebracht hat, um gegen rechts zu demonstrieren.
Ich bitte Sie im Namen meiner Fraktion mit Nachdruck,
Ihren Vorwurf zurückzunehmen. Man kann Renate
Künast keine miserable Verfassungsgesinnung vorwer-
fen.
Ich komme nun zu dem, was uns die F.D.P. durch ihren
Antrag wahrscheinlich sagen will, nämlich, dass sie sich
um das Ansehen der Regierung und ihrer Ministerin so-
wie um die Gewaltenteilung sorgt. Ich glaube, es wäre
wirklich besser, wenn Sie sich Sorgen um die Politik und
die Zukunft unseres Landes machen würden. Das würden
die Bürgerinnen und Bürger besser finden. Ich kann ver-
stehen, dass Sie die Tatsache schmerzt, dass zwei grüne
Minister zu den beliebtesten Politikern dieser Republik
gehören. Ich kann das verstehen. Aber dass Sie, Herr
Westerwelle, bereit sind, für eine solche Art von dumpfen
Manövern Ihre Wurzeln, den Liberalismus, den Stil der
politischen Auseinandersetzung und Ihre gesamte Glaub-
würdigkeit zu verraten, das kann ich nicht verstehen.
Wenn Sie einmal ehrlich sind, müssen Sie zugeben: Ihr
Antrag ist nicht eine Ohrfeige für Renate Künast, sondern
ein heftiger Schlag ins Gesicht der ehemaligen F.D.P.-
Justizminister Kinkel, Leutheusser-Schnarrenberger und
Schmidt-Jortzig. Wenn wir uns den von Ihnen gestellten
Antrag einmal genauer ansehen, können wir feststellen,
dass bei den 27 Unterzeichnern die Namen es mag Zu-
fall sein, aber mir fällt es auf Kinkel und Leutheusser-
Schnarrenberger fehlen.
Das zeigt, wohin Sie sich bewegen. Es ist auch merkwür-
dig, dass Ihr Generalsekretär und angehender Vorsit-
zender der F.D.P. landauf, landab nationale Gesinnung
predigt und irgendwelche Bekenntnisse einfordert. Ich
frage mich nur: Ist ein solches Vorgehen liberal oder frei-
heitlich?
Ich sage Ihnen: Liberalität, Bürgerrechte, Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit sind bei Bündnis 90/Die Grünen
und deren ehemaligen und jetzigen Vorsitzenden sehr gut
aufgehoben. Wir standen und stehen zu Bürgerrechten so-
wie zu rechtsstaatlichen Verfahren.
Einer Formulierung von 1983, die mir untergekommen
ist, könnten wir heute zustimmen: Die Überprüfung der
Antiterrorgesetze ist fortzusetzen, insbesondere muss
das Kontaktsperregesetz aufgehoben werden und das
Verbot der Mehrfachverteidigung geändert werden. Der
§ 129 a StGB muss überprüft werden. Herr Westerwelle,
Punkt 8 im Wahlprogramm der F.D.P.
Nun haben Sie sich ja hier gewunden, indem Sie gesagt
haben, jeder könne seine Meinung haben, aber eben nicht
Minister und Ministerinnen dieser Bundesregierung. Wir
haben das Strafrecht eines Rechtsstaates. Wir bestrafen
nicht politische, religiöse oder weltanschauliche Gesin-
nungen. Genau deswegen Ministerin Künast hat das als
Parteivorsitzende gefordert sind wir für die Abschaffung
des § 129 a StGB.
Herr Westerwelle und Herr van Essen, nun ist Ihnen die
Sache offenbar irgendwie peinlich geworden, weil Sie
wissen, dass Ihre Partei irgendwann einmal für Bürger-
rechte eingetreten ist.
Sie reden von der Aufforderung im Aufruf, die Haftbefehle
müssten aufgehoben werden. Was wären denn die Folgen?
Die Aufhebung der Haftbefehle, die nach § 129 a StGB
ausgestellt worden sind, hätte zur Folge, dass Richter und
Staatsanwälte prüfen müssten, ob und welche konkreten
Straftatbestände vorliegen. Danach wäre dann Anklage zu
erheben oder auch nicht, wenn zum Beispiel die Straftaten
verjährt sind. Das ist eigentlich ganz einfach.
Dass eine Parteivorsitzende für eine solche Forderung
eintritt und deswegen gewiss kein Problem mit der
Rechtsstaatlichkeit hat, ist bei uns jedenfalls selbstver-
ständlich. Das machen die Vorsitzenden bei uns so. Viel-
leicht ist das bei Ihnen anders. Ihre Forderung nur, um
einen Vergleich anzustellen , dass sich Renate Künast
von dem Aufruf distanzieren soll, wäre in etwa so, als
würde man von Westerwelle verlangen, nicht mehr die
Leistungsbereiten zu loben, oder Brüderle verbieten, das
Wort Mittelstand in den Mund zu nehmen oder noch
schlimmer Weinprinzessinnen zu küssen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Norbert Geis
16026
Meine Damen und Herren von der F.D.P. auch die
Union kann sich ruhig angesprochen fühlen diese Art
der Auseinandersetzung kennen wir seit Wochen. Sie wird
nicht besser. Sie bleibt substanzlos und, glaube ich, lang-
weilt die Leute. Vielleicht interessieren sich die F.D.P.-
Wähler deswegen so sehr für das Fallschirmspringen. Ich
rate Ihnen, Herr Westerwelle, einmal den Möllemann
anzurufen und ihm zu sagen: Tut mir Leid, Jürgen,
Mission 18 fehlgeschlagen, oder einfach: Mission impos-
sible!
Zu einer Kurzinter-
vention hat der Kollege Westerwelle das Wort, bitte sehr.
Frau Kollegin, ich
habe mich zu Wort gemeldet, weil Sie mich persönlich
angesprochen haben und weil Sie als ehemalige Theolo-
giestudentin einen umfangreichen juristischen Vortrag ge-
halten haben.
Ich möchte Ihnen bei allem Respekt als Erstes etwas
zur Verjährung sagen, weil das besonders notwendig zu
sein scheint. Wenn ein Haftbefehl ausgestellt und ein
Hauptverfahren eröffnet wird, wenn also Angeklagte vor
Gericht stehen, dann haben unabhängige Richter bereits
vorher geprüft, ob die Straftat verjährt ist oder nicht. Er-
zählen Sie also bitte bei allem Respekt nicht einen sol-
chen juristischen Unsinn.
Zweitens. Das Entscheidende sind, wie Sie gesagt ha-
ben, die liberalen Wurzeln. Wenn es etwas gibt, was zu
den Wurzeln des Liberalismus gehört, dann ist es mit Si-
cherheit das Prinzip der Gewaltenteilung und das Prinzip
der Unabhängigkeit der Justiz. Ob Frau Künast als Pri-
vatperson etwas unterschrieben hat oder nicht, ist ihre Sa-
che. Aber wenn sie jetzt als Ministerin Angehörige der
Exekutive ist und an die Justiz als unabhängige rechts-
staatliche Gewalt appelliert, Angeklagte freizulassen,
dann greift in der Tat die eine Gewalt in die Kompetenzen
der anderen Gewalt ein. Das kann nicht akzeptiert wer-
den.
Wir können über die Zweckmäßigkeit mancher Stellen
des § 129 a StGB ausführlich reden. Das können Sie auch
mit mir sehr gerne tun. Aber über eine Sache können wir
nicht reden: Liberal hat nichts mit Nachlässigkeit oder
Nachgiebigkeit gegenüber irgendwelchen terroristischen
Gewalttätern in Deutschland zu tun. So interpretieren Sie
vielleicht liberal, wir nicht!
Frau Kollegin
Göring-Eckardt, Sie haben das Wort zur Erwiderung.
mich gerne juristisch belehren. Das tun Sie, wie wir wis-
sen, bei jeder Debatte.
Erster Punkt. Ich habe deutlich gemacht, was gesche-
hen würde, wenn § 129 a nicht angewendet würde. Das
können Sie im Protokoll nachlesen.
Zweiter Punkt. Die jetzige Ministerin Künast hat da-
mals nicht in ihrer Eigenschaft als Ministerin, sondern als
Parteivorsitzende und Mitglied des Berliner Abgeordne-
tenhauses den von Ihnen kritisierten Appell unterschrie-
ben. Das können Sie in dem Aufruf nachlesen.
Dritter Punkt. Wir wissen jetzt, womit die liberalen
Wurzeln nichts zu tun haben. Ich glaube, wir werden von
Ihnen aber nicht erfahren, womit Liberalität wirklich zu
tun hat.
Nun hat das Wort die
Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach Fischer und
Trittin schießt sich jetzt nicht nur die F.D.P., sondern die
ganze Rechte in diesem Haus auf Renate Künast ein.
Damit haben Sie alle grünen Ministerinnen und Minister
durch und werden wohl langsam zur Sachpolitik zurück-
kehren müssen.
Ich verstehe ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der F.D.P., dass Sie in einem erbitterten Existenzkampf
mit den Bündnisgrünen stehen, die Ihnen den Platz als die
Liberalen streitig zu machen beginnen. Dieser Kampf ist
natürlich umso härter, je mehr die Grünen Sie auch bei
neoliberalen Politikkonzepten zu überholen beginnen.
Doch dies alles, liebe Kolleginnen und Kollegen,
rechtfertigt nicht, dass Sie in dieser Auseinandersetzung
zu illiberalen Mitteln greifen. Wenn Sie so weiterma-
chen, dann das prophezeie ich Ihnen sind Sie nicht
mehr die Liberalen in diesem Hause, sondern dann ste-
hen Sie in Gefahr, zur Gauck-Partei der Westlinken zu
werden.
Was ist der Hintergrund des F.D.P.-Vorstoßes? Heute
war der dritte Prozesstag gegen sechs Frauen und Männer,
die auf der Grundlage des seit langem umstrittenen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Katrin Göring-Eckardt
16027
§ 129 a StGB seit 15 Monaten in Haft sitzen. Die Verhaf-
teten sind um die 50, haben einen Beruf und Familie,
Fluchtgefahr besteht nicht. Nur die Vermutung der Zu-
gehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung reicht
aus, diese Menschen über Monate festzusetzen, unabhän-
gig davon, ob die Straftaten verjährt sind oder nicht.
Auf der Grundlage des § 129 a ist das möglich. Im Übri-
gen haben sich die hier in Rede stehenden Revolutionären
Zellen 1992 aufgelöst. Genau wegen solcher Vorgänge ist
der § 129 rechtsstaatlich höchst umstritten.
Bis in die Reihen der F.D.P. hinein wird die Forderung er-
hoben, ihn endlich abzuschaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., es
mag Ihnen ja entgangen sein, aber schon heute ist der
§ 129 a ein Sondergesetz gegen Linke, und zwar fast aus-
schließlich. Das will ich Ihnen belegen. In einer Antwort
auf eine Kleine Anfrage meiner Kollegin Ulla Jelpke ist
festgestellt worden, dass in den Jahren 1996 bis 2000 494 Er-
mittlungsverfahren durchgeführt wurden, fast alle gegen
Linke, nur drei gegen Rechte. Das ausdrücklich in Rich-
tung des Kollegen Geis: Eine solche Bilanz angesichts der
Zunahme rechtsextremistischen Terrors macht betroffen.
Wer das übersieht, ist nicht nur einäugig, sondern für eine
liberale Partei ist das politisch einfach blind.
Nun noch ein Wort zu Frau Künast. Ich finde es zu-
nehmend unerträglich, dass Regierungsmitglieder in
diesem Hause nicht nach ihren Regierungsleistungen,
sondern nach ihrer politischen Vergangenheit beurteilt
werden sollen.
Auch Regierungsmitglieder haben ein politisches Vorle-
ben, und es ist inakzeptabel, ihnen abzuverlangen, dass sie
sich von diesem distanzieren.
Schlimm genug, dass viele hier in diesem Hause schlicht-
weg ihre Geschichte entsorgen. Wir wollen nicht, dass je-
mand sein politisches Vorleben streichen muss als Ein-
trittskarte in ein Regierungsamt.
Frau Kollegin, kom-
men Sie bitte zum Schluss.
Deshalb lehnen wir
Ihr Ansinnen gegen Frau Künast ab. Sie war zum Zeit-
punkt der Unterschrift nicht Regierungsmitglied, und zu
guter Letzt hat auch Frau Künast wie alle Menschen in
diesem Land ein Recht auf freie Meinungsäußerung.
Das zu verteidigen ist liberal und demokratisch.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der F.D.P. mit dem Titel Distanzierung der
Bundesministerin Renate Künast von einem Aufruf zur
Freilassung als Mitglieder einer terroristischen Vereini-
gung verdächtigter Personen. Wer stimmt für diesen An-
trag auf Drucksache 14/5765? Wer stimmt dagegen?
Enthaltungen? Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
setzung der Gleichstellung von Frauen und
Drucksache 14/5679
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Vierter Bericht der Bundesregierung über die
Förderung der Frauen im Bundesdienst Be-
richtszeitraum 1995 bis 1998
Drucksache 14/5003
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin Dr. Christine Bergmann.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Heidi Knake-Werner
16028
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Durchsetzung
der Gleichstellung von Frauen und Männern macht die
Bundesregierung deutlich: Bei der Gleichstellung soll der
öffentliche Dienst des Bundes eine Vorreiterrolle einneh-
men.
Wir machen die Gleichstellung von Frauen und Män-
nern zu einem wesentlichen Element einer innovativen
Personalplanung und -entwicklung. Wir sorgen dafür,
dass Beschäftigte im Bundesdienst eine bessere Balance
zwischen Familie und Beruf finden können.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir ein
weiteres Vorhaben aus dem Aktionsprogramm Frau und
Beruf um. Dieser Gesetzentwurf ist aus folgendem
Grund notwendig: Das seit 1994 geltende Frauenförder-
gesetz hat leider nicht die erhoffte Wirkung erzielt, weil
es zu unverbindlich ausgestaltet war. Das wird ganz deut-
lich, wenn wir uns den Vierten Bericht der Bundes-
regierung über die Förderung der Frauen im Bundesdienst
für den Berichtszeitraum 1995 bis 1998 anschauen, den
wir im Dezember letzten Jahres vorgelegt haben.
Lassen Sie mich einige Ergebnisse des Vierten Frau-
enförderberichtes anführen. Frauen stellen rund 45 Pro-
zent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst des Bundes.
Wenn man sich die genaue Verteilung anschaut, dann er-
lebt man zwar keine Überraschung, aber man sieht doch
deutlich, wie es wirklich aussieht. Im höheren Dienst wa-
ren insgesamt nur 13,5 Prozent Frauen beschäftigt. Im Be-
richtsjahr 1998 lag der Frauenanteil an Referatsleitungen
bei 10,6 Prozent, an Unterabteilungsleitungen bei 8,2 Pro-
zent und an Abteilungsleitungen bei mageren 2,1 Prozent.
Im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen waren über-
proportional viele Frauen in geringer bezahlten Bereichen
beschäftigt, wozu auch Teilzeitarbeitsplätze gehören.
92,8 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten im Bundesdienst
waren Frauen. Sie teilten ihre Stellen fast ausschließlich
mit anderen Frauen.
Diese Ergebnisse zeigen doch sehr deutlich, dass auch
im öffentlichen Dienst des Bundes formale Gleichberech-
tigung und faktische Gleichstellung noch ein ganzes
Stück auseinander klaffen. So sind Frauen bei gleichwer-
tiger Qualifikation insbesondere im höheren Dienst und in
Leitungsfunktionen in der Bundesverwaltung bis heute
stark unterrepräsentiert. Diese Fakten machen den Hand-
lungsbedarf deutlich.
Nun möchte ich ein positives Beispiel anführen. In den
zurückliegenden beiden Jahren ist es uns durch gezieltes
politisches Handeln gelungen, eine Steigerung des Frau-
enanteils an Abteilungsleitungen von 2,1 Prozent auf
8,2 Prozent für einen Zeitraum von zwei Jahren ist das
ein ganz schönes Ergebnis und an Referatsleitungen von
10,6 Prozent auf 13,4 Prozent zu erreichen. Damit haben
wir unser Ziel zwar noch nicht erreicht; es ist aber erfreu-
lich und zeigt, dass man mit politischem Willen durchaus
einiges erreichen kann.
Wenn nur alle so dächten! Läge der Anteil bei 50 Pro-
zent, Frau Lenke, dann brauchten wir kein Gesetz mehr.
Darin stimme ich mit Ihnen überein.
Für mich ist klar, dass es sowohl ein ökonomisches Ge-
bot als auch eine Frage der Gleichstellung ist, künftig die
Qualifikationspotenziale von Frauen besser zu nutzen und
Frauen wie Männern eine bessere Balance zwischen Fa-
milie und Beruf zu ermöglichen. Ich denke, dass das auch
positive Auswirkungen auf die Arbeitszufriedenheit ins-
gesamt und die Motivation aller Beschäftigten haben
wird, was letztlich auch einem modernen Staat mit einer
modernen Verwaltung zugute kommt. Wir müssen uns
immer vor Augen halten, dass dieses Gesetz zur Moder-
nisierung der Verwaltung beiträgt. Dieser Ge-
setzentwurf entspricht europäischen Maßstäben. Natür-
lich ist das gleichstellungspolitische Instrument des
Gender Mainstreaming als durchgängiges Leitprinzip ent-
halten.
Lassen Sie mich einige Schwerpunkte des Gesetzes
nennen. Frau Lenke, Sie können dann klar erkennen, dass
man die Durchsetzung der Gleichstellung nicht sich selbst
überlassen darf, sondern dass man dazu Regelungen
braucht.
Erstens. Der Anwendungsbereich des Gesetzes wird
ausgedehnt. Nicht nur die öffentlich-rechtlich organisierte
Bundesverwaltung das heißt Behörden und Ämter und
die Gerichte des Bundes, sondern auch privatrechtlich
organisierte Einrichtungen der Bundesverwaltung fallen
in den Anwendungsbereich des neuen Gesetzes. Institu-
tionelle Leistungsempfänger des Bundes werden künftig
auf der Grundlage dieses Gesetzes vertraglich zur An-
wendung seiner Grundzüge verpflichtet. Ich denke, das ist
gut so. Das Gesetz verlangt darüber hinaus, dass die zu-
ständigen Dienststellen des Bundes bei Privatisierungen
vertraglich auf die entsprechende Anwendung der Geset-
zesregelungen hinwirken.
Zweitens. Frauen sind unter Berücksichtigung des Ein-
zelfalls in Bereichen, in denen sie unterrepräsentiert sind
es gibt entsprechende Urteile auf europäischer Ebene ,
bei gleicher Eignung, Befähigung und Leistung bevorzugt
zu berücksichtigen. Dies gilt für Ausbildung, Einstellung,
Anstellung und Beförderung.
Drittens. Bei Bewerbungsgesprächen und Auswahl-
verfahren sind auch unter dem Aspekt der mittelbaren
Diskriminierung Benachteiligungen verboten. Wir wis-
sen, dass hier häufig der Hase im Pfeffer liegt. Es passiert
nämlich sehr häufig, dass es eine mittelbare Diskriminie-
rung gibt. Ein Verbot bewirkt, dass zum Beispiel die Un-
terbrechung der Erwerbstätigkeit aufgrund von Familien-
pflichten und die Reduzierung der Arbeitszeit durch
Kinderbetreuung bei der vergleichenden Bewertung nicht
berücksichtigt werden dürfen.
Viertens. Alle gleichstellungsgesetzlichen Regelungen
gelten ausdrücklich auch für Ausbildungsplätze im öf-
fentlichen Dienst des Bundes.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
16029
Fünftens. Die bisherigen Regelungen zur Vereinbarkeit
von Familie und Erwerbstätigkeit für Frauen und Män-
ner werden verbessert. Wir wenden uns also nicht nur an
die Frauen; dieses Thema geht auch die Männer an.
Beschäftigte mit Familienpflichten haben einen Anspruch
auf Teilzeitbeschäftigung oder Beurlaubung, sofern dem
nicht zwingende dienstliche Belange entgegenstehen.
Im Rahmen der dienstlichen Möglichkeiten sind be-
sondere Arbeitszeitmodelle, wie zum Beispiel Sabbatjahr
oder Arbeitszeitkonten, anzubieten. Auch damit ermögli-
chen wir eine moderne Verwaltung. Ferner ist wichtig,
dass diese Regelungen auch für Leitungspositionen gel-
ten. Wir wollen damit erreichen, dass es den Frauen und
Männern erleichtert wird, ihre Familienpflichten mit dem
Beruf zu vereinbaren, um nicht a priori auf die berufliche
Karriere verzichten zu müssen, nur weil die Arbeitszeit re-
duziert wird.
Sechstens. Das Instrumentarium zur Gleichstellung
von Frauen und Männern wird verbessert. Die Gleich-
stellungspläne werden zu effektiven Instrumenten einer
modernen Personalplanung und -entwicklung ausgebaut,
und das nicht nur in Zeiten von Stellenzuwächsen. Wich-
tig ist, dass auch bei Stellenabbau gewährleistet sein
muss, dass der Frauenanteil mindestens gleich bleibt.
Siebtens. Die Rechte und Pflichten der Gleichstel-
lungsbeauftragten werden konkretisiert und gestärkt. Ihr
Aufgabenbereich wird erweitert und sie erhalten ein Ein-
spruchsrecht. Ich will an dieser Stelle betonen, wie not-
wendig es ist, dass wir diese Hüterinnen für die Einhal-
tung des Gesetzes haben. Wir müssen uns also auch darum
kümmern, dass sie entsprechende Kompetenzen erhalten.
Achtens. Als wichtiges Instrument zum Gleichstel-
lungscontrolling durch den Deutschen Bundestag wird es
weiterhin regelmäßige Berichte geben, die alle vier Jahre
erstellt werden. Darin sollen neben Statistiken vor allem
vorbildhafte Gleichstellungsmaßnahmen enthalten sein.
Diese positiven Beispiele sollen zeigen, wie die Gleich-
stellung wirksam umgesetzt werden kann.
Ein letzter Punkt. Alle Rechtsvorschriften des Bundes
sollen künftig in einer geschlechtergerechten Sprache
gefasst werden. Ich denke, diese Regelung ist längst über-
fällig.
Mit diesem Gesetzentwurf wird die Gleichstellung von
Frauen und Männern zu einem gewichtigen Teil unserer
Verwaltungskultur. Wir haben damit ein wirksames In-
strument in der Hand. Wir stellen unsere Personalplanung
und -entwicklung in den Dienst der Gleichstellung.
Ich möchte an dieser Stelle auch einen Dank ausspre-
chen, zunächst einmal allen Frauenbeauftragten in den
Behörden, die in ihrer täglichen Arbeit mit viel Engage-
ment, mit viel Cleverness und auch mit viel Herzblut für
die Gleichstellung streiten und deren Job nicht immer
ganz einfach ist. Ich hoffe, dass wir ihnen mit diesem Ge-
setz ihre Arbeit etwas erleichtern.
Ich möchte mich aber auch bei den Personalverant-
wortlichen bedanken, die die Aufgabe der Gleichstellung
positiv angenommen haben und sie im täglichen Perso-
nalgeschäft umsetzen.
Ich bedanke mich immer gerne bei vielen. Je mehr sich
um dieses Thema kümmern, umso lieber stehe ich hier
und spreche einen kräftigen Dank aus.
Ich bin jedenfalls sicher, dass wir mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf der Gleichstellung der Geschlechter im
öffentlichen Dienst des Bundes endlich zum Durchbruch
verhelfen. Ich bin davon überzeugt, dass auch Wirt-
schaftsvertreter bei den weiteren Gesprächen zur Förde-
rung der Gleichstellung in der Privatwirtschaft vor die-
sen positiven betriebswirtschaftlichen Aspekten die
Augen nicht verschließen können. Gute Beispiele sprin-
gen doch ins Auge.
Besten Dank.
Jetzt hat die Kollegin
Renate Diemers für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass bei
dieser Debatte auch einige Kollegen anwesend sind;
denn die wichtigen Themen unserer Zeit, nämlich die Fa-
milien- und die Frauenpolitik, finden außer in schönen,
medienwirksamen Reden und Interviews dabei denke
ich auch an das jüngste Interview des Kanzlers in der
Welt im praktischen Leben leider nicht die ihnen ei-
gentlich zustehende Aufmerksamkeit bzw. Anerkennung.
Der Bericht zur Förderung von Frauen im Bundesdienst
ist sicherlich trotz eines erhöhten Frauenanteils in einigen
Bereichen, darunter auch in Führungspositionen, kein
Erfolgsbericht. Aber, Frau Ministerin, ohne Schönrederei
sollten wir trotzdem die Verbesserung des Frauenanteils
aufgrund der noch in unserer Regierungszeit auf den Weg
gebrachten Initiativen nicht kleinreden.
Wenn die Frauenförderung insgesamt in unserem Land
auch vorangekommen ist, bleibt trotzdem festzuhalten,
dass dies gerade im öffentlichen Dienst, also unter Ver-
antwortung des Staates, zu langsam und in zu geringem
Ausmaß geschieht. Selbst mehr als eine Verdoppelung des
Anteils der Frauen, zum Beispiel bei den Unterabtei-
lungsleiterinnen im Bundesdienst von 3,6 auf 8,2 Pro-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
16030
zent, bleibt daher im Grunde ohne ausreichende Signal-
wirkung.
Sie haben bereits in Ihrer Koalitionsvereinbarung, also
vor zweieinhalb Jahren, ein Gleichstellungsgesetz an-
gekündigt. Heute haben wir einen Entwurf auf dem Tisch.
Was dabei herausgekommen ist, sieht auf den ersten Blick
gar nicht übel aus.
Es werden sowohl der Verfassungsauftrag nach Art. 3 des
Grundgesetzes als auch europäische Richtlinien und Ge-
richtsurteile berücksichtigt. Ich begrüße es, dass eine Be-
griffsänderung von Frauenbeauftragte zu Gleich-
stellungsbeauftragte geplant ist. Die Botschaft, die auch
die Frauenbeauftragte eigentlich symbolisieren sollte,
wird damit sehr viel deutlicher. Die Umbenennung wird
sich sicherlich positiv auch auf die männlichen Beschäf-
tigten auswirken und die Hemmschwelle, zum Beispiel
für ein betriebsinternes Gespräch über Elternzeit, wird
herabgesetzt.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es auch noch richtig,
weiterhin nur Frauen als Gleichstellungsbeauftragte
wählen zu lassen.
Es ist unbestritten, dass die Frauen die unterrepräsentierte
Gruppe darstellen und ihre speziellen Interessen auch
unserer Meinung nach besser durch eine Frau vertreten
werden,
die zudem nur von Frauen des Betriebes bestimmt wird.
In Ihrem Entwurf gibt es aber auch viele Punkte, die
noch verbesserungsbedürftig sind, und es bleiben viele
Fragen offen. Insbesondere § 20 macht deutlich, dass Sie
viele Antworten schuldig geblieben sind. Beispiel: Der
Gleichstellungsbeauftragten soll nach Ihrem Entwurf
richtigerweise Gelegenheit zur aktiven Teilnahme an
allen Entscheidungsprozessen zu personellen Angele-
genheiten gegeben werden. Heißt das, die Gleichstellungs-
beauftragte wird definitiv an allen Personalgesprächen
teilnehmen können? Hat die Gleichstellungsbeauftragte
lediglich ein Mitwirkungsrecht, das später zu den Akten
genommen wird, oder darf sie aktiv in Bewerbungs-
gespräche eingreifen? Darf sie nur Personalakten einsehen
oder auch die Bewerbungsunterlagen externer Bewerber
oder muss dazu zuvor eine Einwilligung eingeholt wer-
den, die, wie ich vermute, von vielen männlichen Bewer-
bern nicht erteilt werden wird?
Kann die Gleichstellungsbeauftragte, wenn sie aufgrund
ihres Initiativrechtes personelle Vorschläge macht, dann,
wie es zu erwarten wäre, bei der anschließenden Beratung
der zuständigen Leitungsebene anwesend sein? Warum
muss sie im Falle der Ablehnung ihres Vorschlages extra
um eine schriftliche Begründung bitten?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-
koalition, Sie haben sehr viele dirigistische Elemente in
Ihrem Entwurf und verpassen somit an unterschiedlichs-
ten Stellen, pragmatische Lösungen anzubieten.
Sie gehen mit offenen Augen an offensichtlichen Chan-
cen vorbei. Als Beispiel nenne ich die Teleheimarbeit.
Im bisher bestehenden Frauenfördergesetz wird nicht
explizit in einem eigenen Abschnitt auf die Chancen der
Telearbeit eingegangen, da zum damaligen Zeitpunkt
die enorme Entwicklung und Bedeutung der Arbeits-
platzform alternierende Telearbeit nicht vorhersehbar
war.
Sie gehen in Ihrem Entwurf zwar auf Telearbeit ein,
haben es aber versäumt wie es immer wieder geschieht ,
den Begriff zu erläutern bzw. mit Leben zu erfüllen. Ich
interpretiere, dass Sie in diesem Zusammenhang Tele-
heimarbeit meinen. Leider wird von vielen Menschen
angenommen, Teleheimarbeit ließe sich genauso wie
Teilzeitarbeit mit Führungspositionen nicht unbedingt
vereinbaren. Es wird nicht zur Kenntnis genommen,
dass in der heutigen Zeit alternierende Telearbeitsplätze
bei männlichen Führungskräften bereits Arbeitsalltag
sind; es ist für sie selbstverständlich, unterwegs oder zu
Hause mithilfe elektronischer Medien erreichbar bzw.
arbeitsfähig zu sein. Daher ist es wichtig, dass in einem
modernen Gleichstellungsgesetz auch diese Arbeits-
platzform für alle Positionen von Frauen, ob voll- oder
teilzeitbeschäftigt, mehr herausgestellt wird.
Es würde für eine moderne Arbeitsweise des Parla-
ments sprechen, wenn auch unsere eigene Bundestags-
verwaltung alternierende Telearbeitsplätze für Abgeord-
netenbüros ermöglichen würde.
Bisherige Vorstöße, auch von meiner Seite, blieben leider
erfolglos. Alternierende Telearbeitsplätze gibt es bei uns
nur aufgrund unserer Privatinitiativen. Eine offizielle
Handhabung dieser Form auch in unserem Hause hätte
Signalwirkung für die Privatwirtschaft. Wir können nicht
immer nur Forderungen stellen, wir müssen auch mit
gutem Beispiel vorangehen.
Wie sieht es mit der Präsenz von Frauen in der Re-
gierung aus?
Ihre Präsenz war zu Beginn der Regierungszeit sehr
schwach. Dass nun unter Einrechnung der Parlamentari-
schen Staatssekretäre ein Frauenanteil von 40 Prozent er-
reicht werden konnte, begrüßen wir. Aber diese Zahl
täuscht über die unterschiedliche Behandlung von Frauen
und Männern in dieser Regierung, insbesondere in Bezug
auf Entlassungen aus dem Amt, hinweg.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Renate Diemers
16031
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig,
dass im Rahmen der Frauenförderung und der tatsächli-
chen Gleichstellung noch manche Hürde genommen wer-
den muss.
Wir werden Ihren Gesetzentwurf in den Ausschüssen mit
Ihnen gemeinsam beraten und praxisorientierte Ver-bes-
serungen vorschlagen, zum Beispiel hinsichtlich der Fle-
xibilität und Akzeptanz zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie das be-
tone ich ausdrücklich unter den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern selbst.
Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Heute diskutieren wir zum einen den Vierten
Bericht der Bundesregierung über die Förderung von
Frauen im Bundesdienst, also in den Ministerien des Bun-
des, sowie das von der Bundesregierung vorgelegte
Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz für den öffentlichen
Dienst. Dazu gleich eine Anmerkung: Auch ich habe fest-
gestellt, dass dieses Gesetz in die Privatwirtschaft ein-
greift. Es wird darüber sehr interessante Diskussionen ge-
ben, weil das aus Sicht der F.D.P. nicht in Ordnung ist und
wir deshalb Änderungsanträge stellen werden.
Nichtsdestoweniger fordern die F.D.P.-Politiker die
tatsächliche Umsetzung des Art. 3 des Grundgesetzes.
Wir haben ja die Aufgabe bekommen, die tatsächliche
Durchsetzung der Gleichberechtigung zu fördern und
Vorschläge für die Beseitigung der Nachteile zu erarbei-
ten bzw. sie konkret zu beseitigen.
Deshalb hat die F.D.P. ja auch im Jahre 1994 Herr
Kinkel weiß das ein Frauenfördergesetz auf den Weg ge-
bracht.
Auf der Grundlage dieses Frauenfördergesetzes liegt uns
jetzt der Bericht der Bundesregierung und die Bewertung
dessen vor, was das Gesetz gebracht hat.
Meine Damen und Herren das muss man hier ganz
offen sagen , dieses Frauenfördergesetz hat wenig ge-
bracht. Im öffentlichen Dienst des Bundes sind 93 Prozent
der Teilzeitbeschäftigten Frauen, nur 7 Prozent Männer.
91 Prozent der Beurlaubungen, zum Beispiel für Kinder-
erziehung und Kinderbetreuung, wurden von Frauen ge-
wünscht, 9 Prozent von Männern. In der Privatwirtschaft
sind es etwas weniger.
Aber ich denke, gerade die Sicherheit des Arbeits-
platzes im öffentlichen Dienst hat letztendlich keine Ver-
änderung in den Köpfen von Männern und vielleicht das
muss man selbstkritisch sagen auch nicht in den Köpfen
von Frauen gebracht. Das gesellschaftliche Strickmuster
Frauen Beruf und Kinder, Männer Beruf und Kar-
riere hat sich, obwohl im öffentlichen Dienst die Sicher-
heit des Arbeitsplatzes besteht, wirklich nicht verändert.
Dieser Schutzraum hat also doch nicht geholfen, dass Vä-
ter Familienpflichten übernehmen. Ich finde das sehr er-
staunlich. Wir sollten im Ausschuss noch einmal darüber
nachdenken, woran das liegt.
Ich möchte auf einige Vorschläge aus dem Vierten Be-
richt der Bundesregierung eingehen. Einmal geht es um
die Verbesserung des Instruments Frauenförderplan. Es
ist sicher wichtig, dass wir darüber nachdenken und im
Ausschuss diskutieren. Dann finde ich es ganz wichtig
das haben wir schon an anderer Stelle gemerkt , dass
Fortbildungsveranstaltungen für den Frauenalltag oft-
mals zeitlich und örtlich falsch gesetzt sind. Hier muss es
wirklich Vorschriften geben, dass dies frauen- und famili-
enverträglich gestaltet wird. Wenn es dann Männer gibt,
die auf Kinder aufpassen, muss es auch männerverträglich
sein.
Meine Damen und Herren, allerdings wurde auch eine
abenteuerliche Forderung erhoben, die ich Ihnen hier
kundtun will. In diesem Bericht steht die Forderung: In
den Bereichen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind,
sollen diese Stellen, wenn keine Frauen gefunden werden,
notfalls nicht besetzt werden. Das war in dem ursprüngli-
chen Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalten. Aber
Gott sei Dank haben Sie es gestrichen. Das finde ich ver-
nünftig. Von daher denke ich, dass Sie doch manche
Dinge als überzogen angesehen haben, sodass sie nicht in
den Entwurf der Bundesregierung aufgenommen wurden.
Ich möchte jetzt zu dem Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung kommen und Sie, Frau Bergmann, ansprechen:
Ich habe ganz genau zugehört, was Sie gesagt haben. Sie
haben so getan, als würden Sie einen neuen Gesetzent-
wurf einbringen. Das stimmt einfach nicht.
Die meisten Teile dieses Gesetzentwurfes sind abge-
schrieben worden.
Manches haben Sie hinzugefügt. Aber der Eindruck, den
die Ministerin für Frauen und Familie hier erweckt hat, ist
nicht richtig.
Aufbauend auf unserem Frauenfördergesetz haben Sie
Änderungen vorgenommen. Zu diesen Änderungen
möchte ich jetzt kurz Stellung nehmen. Es gibt einige
Punkte, die wir, die F.D.P., kritisieren. Erstens das habe
ich schon gesagt geht es darum, dass auch diejenigen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Renate Diemers
16032
Unternehmen, die ausgesourct worden sind, mit Vor-
schriften wie im öffentlichen Dienst belegt werden sol-
len. Hier werden wir Änderungen vorschlagen. Zweitens
verstehe ich überhaupt nicht, warum die Frauenbeauf-
tragten nach diesem Gesetzentwurf nur weiblich sein sol-
len. Ich denke, hier unterschätzen wir die Männer.
Es gibt sehr viele Männer Herr Dzewas, Sie sind ei-
ner von ihnen , die auch als Frauenbeauftragte in einem
Unternehmen oder im öffentlichen Dienst gut zur Geltung
kämen. Von daher finde ich wirklich, wir sollten das än-
dern. Denn Männer helfen auch, dass Frauen im öffentli-
chen Dienst weiterkommen.
Ich muss Ihnen sagen: Mir fehlt in diesem Gesetzent-
wurf die Logik, da in ihm steht, dass, wenn keine Kandi-
datinnen für die Position der Gleichstellungsbeauftrag-
ten gefunden werden, eine Kandidatin zwangsweise
verpflichtet wird. Sie wollen also keine Männer. Wenn
aber keine Frauen zur Verfügung stehen, dann soll jemand
zwangsverpflichtet werden. Diese Logik verstehe ich
nicht.
Der zweite Kritikpunkt, den ich vorzutragen habe und
den ich nicht verstehe ich denke, andere auch nicht :
Wenn eine Gleichstellungsbeauftragte gewählt ist, kann
sie nicht für den Personalrat kandidieren. Ich kann das
überhaupt nicht verstehen. Beide, der Personalrat und die
Gleichstellungsbeauftragte, haben für die Durchsetzung
von mehr Gleichberechtigung zu sorgen. Ich verstehe
nicht, warum Sie diese Kombination nicht nutzen. Sie
schließen sie in diesem Gesetz aus. Dafür fehlt mir wirk-
lich die Begründung. Wir werden jedenfalls einen Ände-
rungsantrag stellen, wonach dies wieder möglich sein soll.
Schade, dass ich nur 5,5 Minuten Redezeit habe. Ich
hätte noch so schöne Dinge an Kritik einbringen können.
Aber wir haben ja Zeit in den Ausschussberatungen.
Ich möchte hier nur noch sagen, dass manches, was in
diesem Gesetz steht, der Quadratur des Kreises entspricht.
Bei den vielen Ausnahmen wird es nicht möglich sein, dass
die anderen Beschäftigten der Dienststelle keine dienstli-
chen Mehrbelastungen bekommen. Wir haben den Rechts-
anspruch auf Teilzeitarbeit, wir haben den Rechtsanspruch
auf Teilzeitarbeit während der Elternzeit, wir haben Vor-
schriften aus diesem Gesetz. Aber andererseits, meine Da-
men und Herren, haben wir, weil die Regeln so starr sind,
keine Chance, im öffentlichen Dienst überhaupt Möglich-
keiten zu finden, das alles unter einen Hut zu bringen. Auf
der einen Seite wollen wir viele Veränderungen, auf der an-
deren Seite ist das Dienstrecht sehr stringent. Das passt
nicht zusammen.
Dazu möchte ich gern von Ihnen wissen, welche Mög-
lichkeiten Sie sehen, das öffentliche Dienstrecht zu fle-
xibilisieren, damit all die guten Dinge, die wir alle ge-
meinsam für Frauenförderung wollen, auch verwirklicht
werden. Also, meine Damen und Herren: Frauenförde-
rung im öffentlichen Dienst ja, aber Frauenförderung in
Teilen des rot-grünen Gesetzentwurfes nein.
Wir werden auf alle Fälle Änderungsvorschläge ein-
bringen. Sie können uns ja in dem einen oder anderem
Kritikpunkt, den wir haben, auch überzeugen. Wir sind
hier im Parlament und wollen für Frauen etwas tun.
Also, Frau Kollegin,
jetzt war es ein langer Abgesang.
Wir müssen wohl miteinander ein bisschen auf die Rede-
zeit achten.
Nun hat das Wort die Kollegin Irmingard Schewe-
Gerigk für Bündnis 90/Die Grünen.
Kollegen! Verehrte Kollegin Lenke, dass Männer Frauen-
beauftragte werden sollen,
das haben wir ja in ähnlicher Form schon einmal von der
F.D.P. gesehen. Wir hatten in unserem Ausschuss einen
Herrn namens Lanfermann. Er war der frauenpolitische
Sprecher der F.D.P. Ich kann Ihnen sagen: In den vier
Jahren, in denen er im Ausschuss war, habe ich seinen
Einsatz für die Frauen nicht spüren können.
Da Sie vorhin erklärt haben, Sie hätten von der Minis-
terin gar nicht gehört, dass es schon ein Gesetz gebe, ob-
wohl sie es vorgetragen hat, möchte ich gern mit der
Würdigung dieses Gesetzes beginnen. Denn es war ja die
CDU-Frauenministerin und heutige Parteivorsitzende
Angela Merkel, die schon 1994 erkannt hat, dass Frauen
ohne gesetzliche Regelung noch nicht einmal im öffent-
lichen Dienst ihren Anspruch auf angemessene Beteili-
gung auf allen Hierarchieebenen durchsetzen können.
Erkannt hat sie es; allerdings folgte dieser Erkenntnis
nicht das konsequente Handeln. Es reicht eben nicht aus,
verehrte Kollegin, den Mund zu spitzen; man muss auch
pfeifen.
Ja, das mache ich.
Ein Gesetz mit unverbindlichen Vorschriften, bei des-
sen Nichteinhaltung keinerlei Sanktionen zu erwarten
sind, muss zwangsläufig ein Papiertiger bleiben. Das ha-
ben wir Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der CDU, 1994 bereits prophezeit.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Ina Lenke
16033
Der heute vorliegende Vierte Bericht über die Förde-
rung der Frauen im Bundesdienst ist eben auch ein trauri-
ger Beleg konservativer und liberaler Frauenpolitik. Frau-
enförderung blieb bei Ihnen reine Makulatur.
Durch Ihre Minimalpolitik haben Sie die männliche Haus-
macht gestärkt. Frauenförderung hing allein vom Wohl-
wollen der männlich dominierten Personalleitungen ab. Es
bestehen immer noch Sie haben es selbst erkannt eine
Menge Defizite in der Gleichstellung der Geschlechter.
Die Ministerin hat vorhin darauf hingewiesen: 45 Prozent
der Beschäftigten im öffentlichen Dienst des Bundes sind
zwar weiblich, die Leitungsebene aber ist nach wie vor
eine fast frauenfreie Zone.
Hinzu kommt, dass diese unbefriedigende Situation
auch dazu geführt hat, dass ganz oben eine dünne Luft
für Frauen entsteht: Nur 2 Prozent der Abteilungen wer-
den von Frauen geleitet. Mit dieser unbefriedigenden Si-
tuation machen wir jetzt mit Hilfe dieses Gesetzes
Schluss.
Wir verpassen diesem zahnlosen Tiger endlich ein Gebiss.
Ein wunderbares Gebiss, damit dieses Gesetz auch
wirkt.
Es muss doch endlich in der Arbeitswelt ankommen,
dass Frauen, die im Durchschnitt bessere Schul- und
Hochschulabschlüsse erlangen als Männer, nicht länger
als Bittstellerinnen auf dem Arbeitsmarkt auftreten, son-
dern endlich den ihnen zustehenden Platz einnehmen. Das
wollen wir mit diesem Gesetz erreichen. Hier macht Rot-
Grün einen wichtigen Reformschritt zur tatsächlichen
Gleichstellung der Geschlechter.
Mit dem vorgelegten Entwurf eines Gleichstellungs-
gesetzes werden wir die Repräsentanz von Frauen im
öffentlichen Dienst auch in den Führungspositionen ver-
bessern. Wir schaffen endlich Gerechtigkeit für die jün-
gere Generation. Wir quotieren nämlich die Ausbil-
dungsplätze. Außerdem werden die Rechte der
Gleichstellungsbeauftragten gestärkt und Gleichstel-
lungspläne verbindlich ausgestaltet.
Ich gehe auf einige Aspekte ein: Die wichtigste Neure-
gelung ist die qualifikationsbezogene Quote bei Einstel-
lungen, beim beruflichen Aufstieg und bei der Vergabe
von Ausbildungsplätzen. Dabei ist die Quotierung, wie
von manchen häufig behauptet, noch keine Frauenförde-
rung. Die Quote ist ein Instrument zum Abbau von Be-
nachteiligung und zur Herstellung von Gerechtigkeit zwi-
schen den Geschlechtern. Falls Sie, werte Kolleginnen
von der CDU/CSU und der F.D.P., nun wieder nach dem
Bundesverfassungsgericht rufen,
muss ich sagen: Wir bewegen uns hier auf einem sicheren
Terrain; denn der Europäische Gerichtshof hat dies schon
bestätigt. Der Amsterdamer Vertrag wurde von uns unter-
schrieben
und die schwedische Ratspräsidentschaft bereitet gerade
eine neue Antidiskriminierungsrichtlinie vor.
Ihre Quote hat nun wirklich nichts gebracht. Sie war
nicht verbindlich.
Zur Quotenregelung kommt im vorliegenden Entwurf
ein konkretes Benachteiligungsverbot bei mittelbarer
Diskriminierung hinzu. Die so genannten Hilfskriterien
bei der Personalauswahl wie zum Beispiel Dienstalter,
Lebensalter oder die letzte Beförderung dürfen bei glei-
cher Qualifikation nicht mehr als Zusatzkriterien heran-
gezogen werden. Das heißt im Klartext: Der verheiratete
45-jährige Vater darf bei gleicher Qualifikation nicht län-
ger vor einer unverheirateten jüngeren Frau bevorzugt
werden. Jetzt gelten nur noch Kriterien wie Eignung,
Leistung und Qualifikation. Das müsste Ihnen, Frau
Lenke, doch gefallen.
Wunderbar.
Auch die Rechte der Gleichstellungsbeauftragten
wurden deutlich gestärkt: Konkrete Freistellungsvorschrif-
ten, Weisungsungebundenheit, Akteneinsicht, und zwar
nicht nur Einsicht in Personalakten, sondern auch Einsicht
in andere, Einspruchsrecht, außergerichtliche Einigung und
auch gerichtliche Verfahren sind die Stichworte.
In diesem Instrumentenkasten der Frauenvertretung fin-
den sich passgenaue Werkzeuge zur tatsächlichen Durch-
setzung der Gleichstellung. Dass sich bei so viel Fort-
schritt schon einmal ein kleiner Schnitzer einschleicht
und die Gleichstellungsbeauftragte an einer bestimmten
Stelle den Dienstweg einzuhalten hat, den es ja für sie ei-
gentlich gar nicht gibt, sollten wir in den Ausschussbe-
ratungen ändern.
Ich komme zum Gleichstellungsplan. Bereits für die
Frauenförderpläne in Ihrem alten Gesetz mussten in ei-
nem zeitlichen Stufenplan entsprechende Maßnahmen
entwickelt werden, um den Frauenanteil zu erhöhen. Es
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Irmingard Schewe-Gerigk
16034
fehlten aber konkrete, verbindliche Kriterien bezüglich
der Zielvorgaben. Darum wurden sie nicht annähernd er-
reicht.
In den Gleichstellungsplänen ist künftig vorzusehen,
dass mindestens die Hälfte aller Personalstellen mit
Frauen zu besetzen ist.
Personalverantwortliche haben sich jetzt also ständig mit
den Zielvorgaben des Gleichstellungsplanes auseinander
zu setzen.
Falls dies nicht gelingt, muss eine schriftliche Begrün-
dung vorgelegt werden.
Ich erwarte von der Erstellung der Gleichstellungspläne
einen Bewusstseinswandel aller Beteiligten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorgelegte Ge-
setzentwurf wird dem Rechtsanspruch im Bereich des öf-
fentlichen Bundesdienstes gerecht. Wir dürfen jedoch
nicht vergessen, dass wir mit diesem Gesetz gerade ein-
mal 1 Prozent der weiblichen Erwerbsbevölkerung errei-
chen. Vorher waren es 2 Prozent; die Post und die Bahn
sind nicht mehr von diesem Gesetz betroffen, weil sie
privatisiert wurden. Der gesamte Bereich der Privatwirt-
schaft bleibt bisher unangetastet.
Eine der wichtigsten Unternehmungen der rot-grünen
Gleichstellungspolitik liegt in der Tat noch vor uns.
Noch immer liegen die vorhandenen Potenziale und die
Innovationskraft von Frauen in weiten Teilen der Wirt-
schaft brach. Ich bin überzeugt, dass sich die Wirtschaft
auch im Bereich Gleichstellung flexibel zeigen muss.
Der öffentliche Dienst macht jetzt einen ersten Schritt. Ich
finde, die Wirtschaft sollte folgen.
Recht herzlichen Dank.
Für die PDS-Fraktion
hat jetzt die Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Die PDS begrüßt ausdrücklich den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung zum Gleichstellungs-
durchsetzungsgesetz. Es ist gut, wenn der Bund selbst
konsequent und mit gutem Beispiel vorangeht und im
Übrigen nicht mehr, aber auch nicht weniger tut, als seine
international eingegangenen Verpflichtungen endlich Ge-
setzeswirklichkeit werden zu lassen. Ich verweise auf den
Amsterdamer Vertrag und die 4. Weltfrauenkonferenz in
Peking.
Der vorgelegte 4. Frauenförderbericht zeigt eindrück-
lich, dass trotz Fördergesetzes bei den Bundesbehörden der
Anteil der Frauen in Leitungsfunktionen klein geblieben
ist. Frau Ministerin Bergmann hat die Fakten genannt; dem
ist nichts hinzuzufügen. Sie zeigen: Die derzeitigen Rege-
lungen sind ganz offensichtlich unzureichend. Nur mit ver-
bindlichen Regelungen können wir mehr Gleichstellung
von Frauen und Männern erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die PDS begrüßt,
dass Gleichstellung jetzt integraler Bestandteil des Per-
sonalmanagements werden soll. Die PDS begrüßt wei-
terhin, dass weniger Dienstjahre nicht mehr als geringere
Qualifikation für Führungspositionen gewertet werden
dürfen und ebenso Erziehung und Pflege zukünftig als
Qualifikation Stichwort soziale Kompetenz gel-
ten.
Kritisch anzumerken bleibt, dass die institutionellen
Leistungsempfänger wie zum Beispiel Stiftungen nicht
gezwungen werden sollen, das Gesetz anzuwenden. Wir
schließen uns deshalb hier dem Vorschlag des DGB an,
diese Sollvorschrift in § 3 Abs. 3 in eine Mussvorschrift
umzuformulieren.
Ausdrücklich zu begrüßen ist, dass die Bundesregie-
rung nun Quoten im öffentlichen Dienst einführen will.
Was heißt denn Quote? Ich denke, es ist an der Zeit, die-
sem angeblichen Schreckgespenst diese Aura zu nehmen.
Wenn Frauen und Männer gleich qualifiziert sind, dann
und eben nur dann wird die Frau in den Bereichen, in
denen Frauen unterrepräsentiert sind, gegenüber dem
Mann vorgezogen. Jeder Einzelfall wird nach wie vor ab-
gewogen. Quote heißt ausdrücklich nicht, dass Frauen un-
abhängig von ihren Fähigkeiten und ihrer Eignung bevor-
zugt eingestellt oder befördert werden sollen.
Im Übrigen greift die Vorrangregel für Frauen nicht au-
tomatisch. Das bezieht sich auf schützenswerte Belange
eines männlichen Bewerbers und auf Härtefälle wie zum
Beispiel eine Behinderung, einen allein erziehenden Vater
oder lange Arbeitslosigkeit des Bewerbers.
Zum Vorwurf der so genannten Überregulierung nur
eines: Wenn es keine Diskriminierung von Frauen gäbe,
wäre jede gesetzliche Regelung überflüssig. Frau Mi-
nisterin Bergmann hat deutlich gemacht, dass wir vom
50-Prozent-Anteil noch meilenweit entfernt sind. Regu-
liert werden soll nur dort, wo Frauen tatsächlich benach-
teiligt werden. Das heißt: In Dienststellen und Behörden,
wo weibliche und männliche Beschäftigte gleiche Chan-
cen haben, ändert sich so gut wie gar nichts. Das würde
übrigens auch für die Privatwirtschaft gelten. Betriebe,
die Frauen und Männer gleich behandeln, müssen also ein
Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft gar nicht
fürchten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Gleichbehand-
lung von Frauen ist Verfassungsauftrag. Wenn Betriebe
und Institutionen hier nichts tun, muss der Staat sie zum
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Irmingard Schewe-Gerigk
16035
Handeln zwingen. Der Aufschrei des Arbeitgeberver-
bandes ist hier völlig unglaubwürdig. Arbeitgeberpräsi-
dent Hundt hat es kürzlich als natürliche Entwicklung
bezeichnet, dass in den nächsten Jahren auf immer mehr
Arbeitsplätzen Frauen zum Zuge kommen würden. Nur
eine so genannte freiwillige Lösung fördere diese natürli-
che Entwicklung.
Die Zahlen und Fakten sprechen eine andere Sprache.
Aber auch die Äußerungen des Bundeskanzlers in den
vergangenen Tagen stimmen bedenklich. Am 3. April hat
er vor dem Siemens-Forum vor Vertretern großer Unter-
nehmen verkündet, den Betrieben zunächst weitere drei
Jahre Zeit für freiwillige Gleichstellungsmaßnahmen zu
lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Gleichstellungs-
gesetz für die Privatwirtschaft ist und bleibt Bestandteil
der Koalitionsvereinbarung für diese Legislaturperiode.
Die PDS bleibt dabei: Wir brauchen auch für die Gleich-
stellung in der Privatwirtschaft klare gesetzliche Regelun-
gen. Für freiwillige Aktivitäten haben die Unternehmen
schon zu viele Jahre verstreichen lassen. Frau Ministerin,
lassen Sie diesem heute vorgelegten begrüßenswerten ers-
ten Schritt zur Durchsetzung der Gleichstellung im öffent-
lichen Dienst unverzüglich einen notwendigen zweiten
Schritt zur Durchsetzung der Gleichstellung in der Privat-
wirtschaft folgen. Unserer Unterstützung dafür können Sie
gewiss sein.
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Christel Humme, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
legen! Liebe Kolleginnen! Das noch geltende Frauenför-
dergesetz, von der alten Bundesregierung initiiert, ist in
der Tat ohne Biss; denn Chancengleichheit von Frauen
und Männern in der Bundesverwaltung wurde mit diesem
Gesetz bis heute nicht erreicht.
Wir haben es heute schon mehrfach gehört, aber man
kann es nicht oft genug wiederholen: Fast die Hälfte der
Beschäftigten in der Bundesverwaltung ist weiblich.
Die Beschäftigungsstruktur spricht jedoch eine eindeu-
tige Sprache. Nur 38 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten
sind Frauen. Dafür finden wir unter den Teilzeitbe-
schäftigten 93 Prozent Frauen und entsprechend wenig
Männer. Nach wie vor sind über 90 Prozent aller
Führungspositionen mit Männern besetzt. Frauen sind
also trotz ihrer hervorragenden Qualifikationen in den
Chefetagen der Bundesverwaltung noch nicht ange-
kommen. Der hohe Frauenanteil in Fortbildungen be-
weist aber, dass Frauen ein großes Interesse an einer be-
ruflichen Karriere haben.
Sie sehen, sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen von
der Opposition, Ihr Frauenfördergesetz hat nicht zu den
erwünschten Verbesserungen geführt. Ein wichtiger
Grund für dieses Scheitern war, dass die Verbindlichkeit
in Ihrem Gesetz fehlt. Schon der Name Frauenförder-
gesetz dokumentiert altes Denken. Frauen wollen weder
Förderung noch Sonderbehandlung.
Wir wollen einfach nur die gleichberechtigte Teilhabe
aufgrund unserer Fähigkeiten und Eignungen.
In der Bundesverwaltung geht es um dieselben Pro-
bleme wie an jedem anderen Arbeitsplatz auch: Frauen
und Männern den gleichberechtigten Zugang zu Ausbil-
dungs- und Arbeitsplätzen sowie Laufbahnen zu ver-
schaffen, Frauen und Männern die Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf zu ermöglichen und sexuelle Belästigung
am Arbeitsplatz auszuschließen. Unser Gleichstellungs-
durchsetzungsgesetz schafft hierfür die richtigen Lösun-
gen, und zwar durch gesetzliche Verpflichtungen. Ich
nenne Ihnen nur einige Verbesserungen, die das neue
Gesetz bringt; denn Frau Ministerin Bergmann hat das
Gesetz bereits ausführlich dargestellt.
Wir schreiben jetzt verbindlich fest das ist ent-
scheidend , dass nicht nur die unmittelbare Diskrimi-
nierung, sondern auch die mittelbare Diskriminierung
in Bewerbungsgesprächen und Auswahlverfahren ver-
boten wird. Hierzu ein Beispiel: Geht es um Beförde-
rung, darf eine Frau nicht deshalb benachteiligt werden,
weil sie allein aufgrund von Kindererziehung weniger
Dienstjahre als der männliche Bewerber aufzuweisen
hat.
Wir machen die Vorgesetzten zu Fachleuten in Sachen
Gleichstellung und verpflichten sie, an Fortbildungen teil-
zunehmen und sich über Maßnahmen zur Gleichstellung
und zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu infor-
mieren.
Wir verpflichten die Dienststellen, familiengerechte
Arbeitszeiten anzubieten.
Wir sorgen für mehr Gleichstellungsbeauftragte; denn
künftig wird schon ab einer Dienststellengröße von
100 Beschäftigten eine Gleichstellungsbeauftragte be-
stellt. Wir konkretisieren und erweitern die Aufgaben der
Gleichstellungsbeauftragten. Künftig wirken sie auch bei
Maßnahmen zum Schutz vor sexueller Belästigung mit.
Wir ersetzen das bisherige Beanstandungsrecht durch
ein effektives Einspruchsrecht.
Schließlich machen wir die Gleichstellungspläne zu ef-
fektiven Instrumenten einer modernen Personalplanung
und -entwicklung. Künftig hat jeder Vorgesetzte die Ver-
pflichtung, alle vier Jahre einen Gleichstellungsplan zu
erstellen, die Gleichstellungsbeauftragten früher zu betei-
ligen und den Plan alle zwei Jahre den neuen Gegeben-
heiten anzupassen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, allein diese wenigen
Aspekte verdeutlichen, dass das neue Gesetz endlich für
tatsächliche Chancengleichheit in der Bundesverwaltung
sorgen wird; denn auch wir wissen: Das Potenzial gut
ausgebildeter Frauen nicht zu nutzen ist eine unglaubliche
Verschwendung der einzigen Ressourcen, die Deutsch-
land hat: eine Verschwendung von Wissen, Bildung und
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Petra Bläss
16036
Erfahrung. Mit dieser Verschwendung machen wir
Schluss.
Wichtig ist auch: Mit diesem Gleichstellungsdurchset-
zungsgesetz gehen wir in Sachen Chancengleichheit mit
gutem Beispiel voran. Mit diesem Gesetz machen wir Mut
für verstärkte Anstrengungen zur Chancengleichheit auch
in privaten Unternehmen. Wir beweisen damit: In puncto
Gleichstellung setzen wir um, wozu uns das europäische
Recht verpflichtet.
Danke schön.
Ich erteile nun der
Kollegin Anke Eymer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsiden-
tin! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Ich freue
mich ganz besonders, dass viele Herren meiner Fraktion
anwesend sind. Stellvertretend begrüße ich insbesondere
Herrn Dr. Röttgen und Herrn Schemken.
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichbe-
rechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Diesen Artikel des Grundgesetzes kennen wir alle. Wir
wissen aber auch, dass wir von der tatsächlichen Durch-
setzung dieser grundgesetzlichen Verpflichtung weit ent-
fernt sind. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist wir
wissen es aus den Berichten der verschiedenen Bundesre-
gierungen in Teilbereichen beschämend.
Erinnern wir uns: 51 Prozent der Bevölkerung sind
Frauen, 54 Prozent der Abiturienten sind Frauen, 52 Pro-
zent aller Studienanfänger sind Frauen, 41 Prozent der
Hochschulabsolventen sind Frauen und 45 Prozent aller
Beschäftigten im öffentlichen Dienst des Bundes sind
Frauen. Diese Zahlen zeigen, dass nahezu die Hälfte der
Hochschulabsolventen und damit der hoch qualifizierten
Arbeitskräfte sowie fast die Hälfte der im öffentlichen
Dienst des Bundes Beschäftigten Frauen sind.
Im Gegensatz zu diesen erfreulichen Zahlen stellen
Frauen jedoch einen erheblich geringeren Anteil an Be-
schäftigten in leitenden und höheren Funktionen. Das er-
wähnten Sie, Frau Ministerin, bereits. Man kann das nur
wiederholen und noch einmal unterstreichen.
Nur 13,5 Prozent der vollzeitbeschäftigten Beamten im
höheren Dienst des Bundes sind Frauen. Nur 14,5 Prozent
der im höheren Dienst der Bundesbehörden Beschäftigten
sind Frauen. Nur 10,6 Prozent der in den Referatsleitun-
gen der obersten Bundesbehörden Beschäftigten sind
Frauen. Nur 8,2 Prozent der in den Unterabteilungsleitun-
gen Beschäftigen sind Frauen. Und sogar nur 2,1 Prozent
der in den Abteilungsleitungen Beschäftigten sind Frauen.
Frau Ministerin, Sie erwähnten eine fast hundertprozen-
tige Steigerung. Hierbei kommt es natürlich auf die abso-
luten Zahlen an. Darin sind wir uns einig.
Zusammengefasst stellen wir fest, dass uns alle diese
Zahlen durchaus nachdenklich stimmen sollten. Sie be-
legen nämlich, dass trotz gleicher Qualifikation Frauen
im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen noch immer
in geringer bewerteten und bezahlten Bereichen beschäf-
tigt sind, wozu auch Teilzeitarbeitsplätze gehören. Nur
39 Prozent der Vollzeitbeschäftigten, jedoch 93 Prozent
aller Teilzeitbeschäftigten im Bundesdienst sind Frauen.
Schließlich sind 91 Prozent aller im Bundesdienst Beur-
laubten und damit zeitweise ohne eigenes Erwerbsein-
kommen Frauen.
Im Hinblick auf diese ernüchternden Daten sollte uns
allen klar sein, dass die in Art. 3 Abs. 2 des Grundgeset-
zes verankerte Förderungspflicht des Staates noch bei
weitem nicht erfüllt ist.
Ich appelliere an uns alle, dem konkreten Handlungs-
bedarf gemeinsam nachzugehen und Frauen dieselben
Chancen und beruflichen Möglichkeiten wie ihren männ-
lichen Kollegen einzuräumen. Unter denselben Chan-
cen verstehe ich jedoch im Gegensatz zu meinen männ-
lichen Kollegen nicht die abstrakte Möglichkeit,
denselben Beruf wie die männlichen Mitbewerber ergrei-
fen zu können. Diese Möglichkeit ist bereits im Rahmen
des Gleichberechtigungsgebotes verfassungsrechtlich ab-
gesichert. Vielmehr verstehe ich unter denselben Chancen
die konkrete Möglichkeit, bei gleichwertiger Qualifika-
tion tatsächlich vorrangig berücksichtigt zu werden,
zumindest so lange, bis ein dem Bildungsniveau entspre-
chendes Gleichgewicht zwischen männlichen und weib-
lichen Beschäftigten hergestellt ist. Diese Einschätzung
entspricht auch der staatlichen Förderungspflicht zur
Durchsetzung der Gleichberechtigung im Sinne einer
tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern.
Dieselben Chancen bedeutet für mich hingegen
nicht, dass Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts be-
vorzugt behandelt werden sollten. Im Hinblick auf die be-
reits genannten Zahlen, die ein gleiches Ausbildungsni-
veau von Männern und Frauen belegen, kann hiervon
auch nicht die Rede sein. Ich möchte auch darauf hinwei-
sen, dass die längst überfällige Durchsetzung der Gleich-
berechtigung ein Anliegen nicht nur der Frauen, sondern
jedes Bürgers sein sollte, der sich demokratischen
Grundsätzen verpflichtet fühlt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Christel Humme
16037
Es handelt sich bei der ausgewogenen Beteiligung von
Männern und Frauen an Entscheidungsprozessen um ei-
nen demokratischen Grundsatz, der insbesondere im Be-
reich der öffentlichen Verwaltung Geltung beansprucht.
Allerdings, liebe Kollegen und Kolleginnen, gilt diese
Feststellung nicht nur für dieses Gesetz, sondern auch für
breite gesellschaftliche Bereiche. Ich denke hierbei nicht
zuletzt auch an meine eigene Partei, die noch einigen
Nachholbedarf hat.
Die fehlende Repräsentanz von Frauen in Führungspo-
sitionen stellt die Legitimität aller demokratischen Sys-
teme infrage. Fraglich ist jedoch, wie wir das mit dem
Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz der Bundesregierung
verbundene Ziel innerhalb kurzer Zeit bestmöglich errei-
chen können. Ich stimme inhaltlich insofern mit dem von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf überein, als
ich die Zielrichtung für begrüßenswert halte.
Spärlicher Beifall von der linken Seite des Hauses.
Die Kollegin Schewe-Gerigk sprach davon, dass dem
zahnlosen Tiger ein Gebiss verpasst werde. Ich kann ei-
gentlich nur hoffen, dass das Gebiss nicht wacklig und
klapprig ist.
Zudem bezweifle ich, dass die geplanten Änderungen
eine Verbesserung des Klimas zwischen Frauen und Män-
nern in der Bundesverwaltung bewirken werden. Aber da
müssen wir durch.
Darüber hinaus möchte ich darauf verweisen, dass die
im Gesetzentwurf vorgesehenen Gleichstellungsinstru-
mentarien in gleicher Form bereits Gegenstand des Berli-
ner Landesgleichstellungsgesetzes federführend war
Frau Dr. Bergmann waren. Es erscheint zumindest mir
fraglich, ob sich die auf die Landesebene zugeschnittenen
Instrumentarien ohne weiteres auf die Bundesverwaltung
übertragen lassen.
Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede noch beto-
nen, dass entgegen der Ansicht der Bundesregierung
in dem Berichtszeitraum 1995 bis 1998 auf der Grundlage
der bisherigen gesetzlichen Regelungen zur beruflichen
Förderung von Frauen durchaus einige Erfolge erzielt
worden sind. Vergleicht man die vorliegenden Daten mit
denen aus dem Berichtsjahr 1994, wird deutlich, dass ins-
besondere in den Bereichen Bewerbung, Einstellung, Ge-
samtbeschäftigung, Beurlaubung sowie Teilzeitbeschäfti-
gung erhebliche Verbesserungen zugunsten der Frauen zu
verzeichnen sind. Wir stimmen aber sicher alle dahin ge-
hend überein, dass dieser Fortschritt noch nicht ausrei-
chend ist und viel zu langsam geht. Zu einem ausreichen-
den Fortschritt kann es jedoch nur bei gegenseitiger
Kooperation kommen.
Erfolg versprechende strukturelle Umwandlungen
kann ich dem Gesetzentwurf der Bundesregierung aller-
dings nicht entnehmen. Dies gilt insbesondere im Hin-
blick auf fehlende Regelungen zur Beschleunigung bzw.
Effektivierung von Teilzeitbeschäftigung und Beurlau-
bung, welche gerade die von Ihnen so gepriesene Vereinba-
rung von Familie und Erwerbstätigkeit bezwecken sollen.
Nichtsdestotrotz möchte ich Sie alle dazu aufrufen, ge-
meinsam den Umschwung herbeizuführen. Ich hoffe, dass
wir eine gemeinsame Position finden werden und im
nächsten Berichtsjahr erfreuliche Zahlen verzeichnen
können.
Wir alle wissen: Ohne Frauen ist kein Staat zu machen.
Wir wissen aber auch, dass wir die Unterstützung der
Männer brauchen, um diese Verfassungsverpflichtung
umzusetzen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Als letzter Rednerin
in dieser Aussprache gebe ich das Wort der Kollegin
Margot von Renesse, SPD-Fraktion.
Verehrte Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Eymer,
bei Ihrer über weite Strecken so sympathischen Rede, vor
allem der Darstellung über das gleiche Bildungsniveau
von jungen Männern und Frauen fiel mir ein, wie mich
meine älteste Tochter sie war damals zwölf Jahre alt
nachdem sie ein Buch über die Situation über Frauen in
aller Welt in Indien, in Afrika, in Südamerika und in
Deutschland gelesen hatte, fragte: Sag mal, Mutti,
warum ist es so, dass es Frauen überall schlechter als
Männern geht? Wie kommt das?
Ich frage Sie: Welche Antwort würden Sie darauf ge-
ben? Ich habe eine Weile darüber nachgedacht. So er-
kennbar und eindeutig ist die Antwort nicht, gerade auch
nachdem, was über gleiche Bildungschancen gesagt
wurde, die, als wir sie alle wahrnehmen konnten, ja auch
zur Gleichheit geführt haben. Die Antwort, die mir einfiel,
war: Der Grund ist, dass Frauen Kinder bekommen kön-
nen, Männer nicht. Daran können auch Bundesrat und
Bundestag, selbst mit Zweidrittelmehrheit, nichts ändern.
Man arbeitet zwar daran, aber es scheint im Augenblick
nicht recht erfolgreich zu sein.
Dieser Unterschied macht es Frauen überall in der Welt
schwer. Das liegt nicht nur daran, dass Männer Kriege
führen, um Frauen und Kinder zu schützen. Das brauchen
sie in unserer Gesellschaft nicht mehr so oft zu tun. In Ge-
sellschaften, wo sie dies vor kurzem noch tun mussten,
sitzen sie heute mehr oder minder in Teestuben herum,
während die Frauen auf dem Acker arbeiten. Jedenfalls
hat dieser Unterschied dazu geführt, dass Frauen eine be-
stimmte Rolle zugewiesen wird, dass sie nicht als
Führungskräfte angesehen werden und dass sogar einmal
über sie ein Buch geschrieben wurde, über das wir heute
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Anke Eymer
16038
lachen: Über den physiologischen Schwachsinn des
Weibes. Ich weiß nicht, wer dieses Buch kennt, aber es
sagt viel über den physiologischen Schwachsinn des Au-
tors. Es ist jedenfalls ein Buch, dessen Inhalt früher ge-
glaubt wurde.
Ich will Folgendes sagen weil ich den Kollegen
Dr. Geißler sehe, tue ich das besonders gern : Die Gleich-
stellung der Frauen mit welchem Mittel auch immer
ist Familienpolitik. Sie ermöglicht es nämlich Frauen
und Männern, eine Familie zu haben und gleichzeitig alle
anderen Ziele verwirklichen zu können. Die Welt muss
nicht in einen männlichen und einen weiblichen Teil ge-
gliedert werden, in dem die eine Hälfte so verstümmelt ist
wie die andere. Frauen wollen heute alles haben.
Mädchen wollen heute das weiß ich von meinen Töch-
tern und ihren Freundinnen auf nichts mehr verzichten:
weder auf das eine noch auf das andere.
Auch wollen sie nicht in späteren Jahren ein Kind ha-
ben, um es aufs Vertiko zu stellen und damit ihre Biogra-
fie zu vervollständigen. Sie wollen vielmehr ein genauso
ausgefülltes Leben wie junge Männer leben, die so habe
ich sie kennen gelernt in zunehmendem Maße ihre
Menschlichkeit zu entwickeln wünschen, wenn sie ihre
Kinder im Arm haben und dabei erleben, dass sie nicht
eine Ersatzmutter, sondern ein guter Vater sind. Das ist
das, was wir alle uns für die Zukunft wünschen.
Wir wollen ein Gesetz mit Biss oder mit Gebiss dies
aber nicht mit der Brechstange durchsetzen. Dies scheint
auf diesem Gebiet nicht sehr erfolgversprechend zu sein.
Wenn wir das nächste Mal bei der Diskussion zu diesem
Bericht Verbesserungen feststellen, dann werden wir uns
alle freuen.
Ich habe nirgendwo in Ihren Reden gehört, dass die Zu-
sammenarbeit verweigert wird. Dies scheint ein Gesetz
der Frauen zu werden, gemeinsam mit der Ministerin und
der Parlamentarischen Staatssekretärin sowie den Mitar-
beitern und Mitarbeiterinnen des Familienministeriums.
Ich denke, das ist das Beste, was wir leisten können.
Seien wir als Frauen im Parlament für Mädchen, für
junge und ältere Frauen sowie für junge und ältere Män-
ner Beispiele dafür, dass Frauen in Führungsfunktionen
und verantwortlicher Stellung ganze Frauen und nicht ir-
gendetwas Verstümmeltes sind. Seien wir so, dass sich an-
dere Frauen sagen: So wie die will ich auch sein.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5679 und 14/5003 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Dazu gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Für eine Tschetschenien-Resolution der VN-
Menschenrechtskommission
Drucksache 14/3186
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
57. Tagung der Menschenrechtskommission
der Vereinten Nationen
Drucksache 14/5768
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe zu dem
Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann,
Hildebrecht Braun , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der F.D.P.
Stärkeres deutsches Engagement auf der
57. Sitzung der Menschenrechtskommission
der Vereinten Nationen
Drucksachen 14/5452, 14/5771
Berichterstattung:
Abgeordnete Rudolf Bindig
Hermann Gröhe
Christa Nickels
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
5. Bericht der Bundesregierung über ihre Men-
schenrechtspolitik in den auswärtigen Bezie-
hungen
Drucksachen 14/3739, 14/5795
Berichterstattung:
Abgeordnete Rudolf Bindig
Hermann Gröhe
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Zum Bericht der Bundesregierung über ihre Men-
schenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Margot von Renesse
16039
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Karin
Kortmann für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte, liebe Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor genau einem
Jahr hat die Menschenrechtskommission in Genf während
ihrer jährlichen Tagung eine Resolution zum ehemaligen
Jugoslawien verabschiedet. Sie drückte die große Be-
sorgnis über die damals unangetastete Machtstellung von
Milosevic trotz seiner Verantwortung für Kriegsver-
brechen und Verbrecher gegen die Menschlichkeit aus.
Mit großer Besorgnis nahm die Menschenrechtskommis-
sion zur Kenntnis, dass Slobodan Milosevic und andere
hoch gestellte Führungspersönlichkeiten der Bundesrepu-
blik Jugoslawien trotz der Tatsache, dass sie wegen
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlich-
keit unter Anklage stehen, weiterhin Machtstellungen
innehatten und dass die Bundesrepublik Jugoslawien die
Anordnungen des Internationalen Strafgerichtshofes für
das ehemalige Jugoslawien, die angeklagten Kriegsver-
brecher für ein Gerichtsverfahren nach Den Haag zu über-
führen, wiederholt missachtet hat und seit der Einsetzung
des Tribunals nicht einmal einen Angeklagten nach Den
Haag überführt hat.
Am Sonntag Morgen ging dann die lang erhoffte Mel-
dung durch die Medien: Slobodan Milosevic ist in Bel-
grad verhaftet worden. Wir sind der neuen, demokratisch
gewählten Regierung von Jugoslawien für ihr besonnenes
Vorgehen bei der Verhaftung dankbar. Wir sind ihr auch
dankbar, weil sie mit dieser Verhaftung belegt, dass sie
für Rechtsstaatlichkeit eintritt und Milosevic sich für
schwere Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen
verantworten muss.
Allerdings muss dieser Verhaftung und dem Wunsch
der jugoslawischen Regierung, zunächst ein Strafverfah-
ren nach innerstaatlichem Recht einzuleiten, unbedingt
folgen, dass Milosevic dem Internationalen Strafgerichts-
hof für Jugoslawien in Den Haag überstellt wird. Wir wis-
sen um die Besonderheiten, warum die internationalen
Strafgerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda einge-
richtet wurden. Unsere Politik muss aber darauf hinwir-
ken, auf internationale Strafgerichtshöfe für einzelne Län-
der zu verzichten, um stattdessen den Aufbau und Ausbau
des Internationalen Strafgerichtshofes voranzutreiben.
Wir werden bei der Menschenrechtsarbeit und der Ver-
folgung von Kriegsverbrecher einen Riesenschritt voran-
kommen, wenn der Internationale Strafgerichtshof an-
fängt zu arbeiten, wenn die Diktatoren, die Warlords und
autoritären Machthaber egal, aus welchen Ländern sie
stammen für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit
angeklagt und verurteilt werden. Denn nur das ist meine
feste Überzeugung mit einem effektiven Internationalen
Strafgerichtshof ist das endlich möglich.
Der Internationale Strafgerichtshof ist ein Meilenstein
für den weltweiten Menschenrechtsschutz, und zwar ins-
besondere deshalb, weil er unabhängig von dem Interesse
eines einzelnen Staates oder einer Staatengruppe arbeiten
kann und daher unsere besondere Unterstützung verdient.
Internationale Strafgerichtsbarkeit wird nur dann ef-
fektiv funktionieren, wenn drei Kriterien erfüllt sind:
wenn erstens die Verantwortlichen für Krieg, Vertreibung
und Völkermord nicht mehr unter dem Schutzschirm
staatlicher Souveränität straflos ausgehen können, zwei-
tens die Abschreckungs- und Präventionswirkung das
Kalkül potenzieller Täter mitbestimmen wird im
Grunde können sie sich nirgendwo auf der Welt mehr si-
cher fühlen und drittens, die Ausstrahlung auf nationale
Strafrechtssysteme und Rechtsüberzeugungen positiv
sein wird.
Allerdings das wissen wir auch alle müssen die ver-
traglichen Grundlagen für den Internationalen Strafge-
richtshof dringend noch von anderen Staaten ratifiziert
werden wie dies auch Außenminister Fischer vor ein
paar Tagen auf der Tagung der Menschenrechtskommis-
sion in Genf gefordert hat damit der Gerichtshof viel-
leicht schon im nächsten Jahr seine Arbeit aufnehmen
kann. Um dies zu erreichen, sollten wir alle Anstrengun-
gen unternehmen, sei es auf parlamentarischer Ebene oder
auf der Ebene der Bundesregierung.
Die Arbeit der Menschenrechtskommission belegt aber
auch, dass die Menschenrechtsarbeit einen langen Atem
braucht. Noch 1998 formulierte der damalige Außenminis-
ter der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Klaus Kinkel,
vor der Menschenrechtskommission:
Ich begrüße, dass China den Sozialpakt gezeichnet
und auch die Zeichnung des Paktes über bürgerliche
und politische Rechte angekündigt hat. Dies sind
hoffnungsvolle Zeichen, die weitere, dringend erfor-
derliche Fortschritte bei der Achtung der Menschen-
rechte in China erwarten lassen.
Aber der Optimismus das wissen wir auch alle war
vielleicht ein bisschen verfrüht. Heute müssen wir in An-
gelegenheiten der Menschenrechte bei den Verantwortli-
chen in der Volksrepublik China eher eine rückwärts ge-
wandte Politik feststellen.
Im vergangenen Jahr waren wir mit einer Delegation
des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe des Deutschen Bundestages exakt zu dem Zeitpunkt
im Plenum der Menschenrechtskommission, als die
China-Resolution zur Abstimmung anstand. Das traurige
Ergebnis: 22:18:12 für die chinesische Diktatur und gegen
die Beschäftigung mit den Opfern ihrer Unterdrückung.
2001 muss die Botschaft von Genf ausgehen: China-Re-
solution mehrheitlich angenommen, diesmal gegen die
chinesische Diktatur und für die Beschäftigung mit den
Opfern ihrer Unterdrückung.
Wir haben doch gelernt, dass die Welt nicht abseits ste-
hen darf, wenn Menschenrechtsverletzungen begangen
werden. Nichtregierungsorganisationen wie beispielhaft
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs
16040
Amnesty International weisen in ihren Berichten immer
wieder auf die gravierende Verschlechterung der Men-
schenrechtslage in der Volksrepublik China hin. Men-
schen werden dort nach wie vor willkürlich inhaftiert,
weil sie gewaltfrei von ihrem Recht auf freie Meinungs-
äußerung, Vereinigungs- oder Religionsfreiheit Gebrauch
machen. Folterungen und Misshandlungen sind weit ver-
breitet. Tausende von Menschen wurden zum Tode verur-
teilt und viele das wissen wir alle hingerichtet.
Wir fordern daher die Bundesregierung auf, sich ge-
meinsam mit den Partnern in der EU, den USA und ande-
ren Staaten nachdrücklich für die Verabschiedung einer
Resolution zur Menschenrechtssituation in China einzu-
setzen. Die chinesische Regierung muss aufgefordert
werden, den nunmehr ratifizierten VN-Pakt über wirt-
schaftliche, soziale und kulturelle Rechte vollständig
umzusetzen und den VN-Pakt über bürgerliche und poli-
tische Rechte zu ratifizieren.
Die Menschenrechte sind unteilbar und müssen weltweit
gelten, von den USA bis hin zu China.
Ein besonderer Dank gebührt in diesem Jahr auch der
UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Mary Robin-
son. Sie nutzt ihr Mandat, um alle bürgerlichen, kulturel-
len, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Menschen-
rechte effektiv zu schützen und zu fördern. Sie macht
damit deutlich das hat auch Außenminister Fischer in
Genf getan , dass es keine Aufteilung in bürgerlich-poli-
tische und in wirtschaftlich-soziale Menschenrechte ge-
ben darf.
Unvergessen ist auch der Einsatz von Mary Robinson
für die Menschenrechte in Tschetschenien und bei den
diesbezüglichen Beratungen und Entscheidungen auf der
letztjährigen Sitzung der Menschenrechtskommission.
Durch eine Länderinitiative der EU wurde die Russische
Föderation mit überraschend deutlicher Mehrheit von der
internationalen Staatengemeinschaft für Menschenrechts-
verletzungen der russischen Streitkräfte in Tschetschenien
verurteilt. Diese Resolution der Menschenrechtskommis-
sion belegt die weitgehende Geschlossenheit der interna-
tionalen Gemeinschaft, auch gegenüber einer atomaren
Großmacht. Unser Appell an die Menschenrechtskommis-
sion muss heißen: Dieses Jahr muss Russland von der
Menschenrechtskommission noch einmal aufgefordert
werden, die Kernanforderungen der Resolution zu erfül-
len.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt strei-
fen, der uns Sozialdemokraten für die weitere Menschen-
rechtsarbeit, die in den nächsten Tagen in Genf gestaltet
wird, wichtig ist. Die Ausweitung globaler ökonomischer
Strukturen schränkt den Handlungsspielraum der Staaten
teilweise ein und beschert den wirtschaftlichen Akteuren
wie den multinationalen Konzernen einen immensen
Machtzuwachs und auch Machteinfluss. Im nahezu unbe-
grenzten globalen Wettbewerb bilden sich weltweit unter-
schiedliche Arbeits- und Sozialstandards heraus. Darüber
hinaus werden auch spezielle Probleme globalisiert. Wir
wissen, die Regenwaldabholzung verändert auch das
Klima der nördlichen Erdhalbkugel. Wir wissen auch,
wenn wir hier Teppiche kaufen, die in Indien durch Kin-
derarbeit gefertigt wurden, dann sind wir Teil dieses Pro-
blems und schaffen dieses Problem mit.
Globale Probleme bedürfen eines globalen Handelns.
Aber ein weltweit aufeinander abgestimmtes Handeln be-
darf zunächst einer Übereinstimmung in den Regeln und
auch in den Wertvorstellungen. Die Menschenrechte als
internationales Normensystem müssen für eine solche in-
ternationale Steuerungspolitik die ethische Grundlage bil-
den. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang die Initia-
tive der Bundesregierung und die des Beauftragten für
Menschenrechte des Auswärtigen Amtes für einen
Arbeitskreis Menschenrechte und Wirtschaft, an dem
Vertreter und hoffentlich, entsprechend der vorherigen
Debatte auch Vertreterinnen von Politik, der Wirt-
schaftsverbände, der Gewerkschaften und der gesell-
schaftlichen Gruppen teilnehmen werden.
Gut, nicht wahr? Schön, dass Sie das unterstützen.
Es gilt nicht nur das Menschenrechtsbewusstsein der
Wirtschaft zu schärfen, sondern auch substanzielle Maß-
nahmen zugunsten der Menschenrechte zu initiieren. Des-
halb, liebe Bundesregierung,
treten Sie in Genf ganz in diesem Sinne auch dafür ein,
dass die Zusammenarbeit von Staaten und transnationa-
len Unternehmen zur Verbesserung der weltweiten
Rahmenbedingungen für den Menschenrechtsschutz von
der Menschenrechtskommission behandelt wird. Wir
können dazu mit relativ vielen Beispielen der good
practice von deutschen Unternehmen wertvolle
Beiträge leisten. Damit ein sozialdemokratisches Glück-
auf für die weitere Arbeit in der Menschenrechtskom-
mission!
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hermann Gröhe für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! In meinem heu-
tigen Debattenbeitrag möchte ich mich auf die Anträge
konzentrieren, die sich mit der deutschen Position auf der
57. Tagung der Menschenrechtskommission der Verein-
ten Nationen in Genf, die noch bis zum 27. April dauert,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Karin Kortmann
16041
befassen. Heiner Geißler wird später zum Menschen-
rechtsbericht, Christian Schmidt zum Thema Tschetsche-
nien sprechen.
Zunächst aber lassen Sie mich für die Unionsfraktion
feststellen: Die Entscheidung der UN-Hochkommissarin
für Menschenrechte Mary Robinson, noch mindestens
ein Jahr im Amt zu bleiben, ist eine gute Nachricht für die
Sache der Menschenrechte.
Mary Robinson hat das Ansehen dieses Amtes nachhaltig
gestärkt und ist zu einem Symbol der Hoffnung vor allem
für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen gewor-
den.
Meine Damen und Herren, auch im Jahr 2001 befasst
sich der Deutsche Bundestag mit der Politik der Bundes-
regierung während der Kommissionssitzung in Genf aus-
schließlich aufgrund eines Antrages aus den Reihen der
Opposition. Erst dieser Antrag der F.D.P. führte dazu, dass
vor ungefähr 48 Stunden die Koalitionsfraktionen eben-
falls einen Antrag vorlegten, der sich mit der laufenden
Sitzung in Genf beschäftigt.
Dies war auch im letzten Jahr so, als Anträge von
CDU/CSU und F.D.P. der rot-grünen Koalition die Gele-
genheit boten, im Rahmen einer mehrheitlich durchge-
setzten Beschlussempfehlung ihre eigene Position gleich-
sam in letzter Minute nachzureichen.
Der Verzicht der Koalition, im Hinblick auf die Arbeit
der Menschenrechtskommission in Genf eigene Akzente
im Parlament zu setzen, hat also Methode, obwohl die Ko-
alition in ihrem eigenen Antrag die Kommission die
weltweit zentrale politische Instanz für die Behandlung
von Menschenrechtsverletzungen nennt. Dies zeigt nicht
nur die generelle Unwilligkeit von Rot-Grün, das Parla-
ment mit der eigenen Politik zu befassen,
sondern auch den wahren, nämlich zu geringen Stellen-
wert des Themas Menschenrechte in der Koalition.
Wohlfeiler Rhetorik folgen eben keine Taten, oder wie
drückt es diplomatisch man darf das sicher mit Ihrem
Einverständnis zitieren am heutigen Tage die General-
sekretärin von Amnesty International, Barbara Loch-
bihler, in der Presse aus? Ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis:
Wir wünschen uns von der Bundesregierung eine Men-
schenrechtspolitik, die Schritt hält mit den eigenen
Absichtserklärungen.
Das haben Sie gut zi-
tiert. Sie brauchen aber nicht meine Genehmigung.
Bot die von Rot-Grün
im letzten Jahr durchgesetzte Beschlussempfehlung zu
den Anträgen aus der Opposition zur Menschenrechtssi-
tuation in China nur eine homöopathische Verdünnung
des von uns beantragten Klartextes, so bleibt nun ein ei-
gener Antrag von Rot-Grün weit hinter den klaren politi-
schen Konturen des Antrags der F.D.P. zurück. Deswegen
wird die CDU/CSU-Fraktion sowohl die ablehnende
Beschlussempfehlung zu diesem Antrag als auch den An-
trag der Koalitionsfraktionen ablehnen. Deshalb hat die
Unionsfraktion während der Ausschussberatungen den
F.D.P.-Antrag unterstützt.
In der Beschreibung der Sachverhalte liegen beide An-
träge ja durchaus nahe beieinander. Es geht um die The-
men und Länder, zu denen klar Stellung zu beziehen wir
immer wieder durch erschütternde Nachrichten wie auch
durch eindringliche Appelle vieler Menschenrechtsorga-
nisationen aufgefordert werden. Ich nenne die Themen
Folter und Todesstrafe, die anhaltenden massiven Men-
schenrechtsverletzungen in China, die Brutalität der an-
dauernden Auseinandersetzungen in Tschetschenien, die
schweren Misshandlungen, denen vielerorts gerade Kin-
der und Frauen ausgesetzt sind, die Situation in Kolum-
bien, Indonesien, Saudi-Arabien und Sierra Leone. An das
entsetzliche Leid, das in vielen Teilen der Welt gerade den
Schwächsten zugefügt wird, dürfen wir uns nicht gewöh-
nen.
Doch wenn es darum geht, aus der in beiden Anträgen
beschriebenen bedrückenden Realität Konsequenzen zu
ziehen, bleibt der Antrag von Rot-Grün ausgesprochen
zurückhaltend. So sucht man die Forderung nach Sonder-
berichterstattern der UN-Menschenrechtskommission für
Kolumbien, Sierra Leone, Saudi Arabien und Indonesien,
für die sich Nichtregierungsorganisationen in den letzten
Tagen wiederholt ausdrücklich ausgesprochen haben im
F.D.P.-Antrag ist diese Forderung enthalten , bei den Re-
gierungsfraktionen vergeblich.
Auch die Forderung nach internationalen Ad-hoc-
Strafgerichtshöfen für Osttimor und Sierra Leone wird
nicht aufgegriffen. Der Hinweis auf den zukünftigen In-
ternationalen Strafgerichtshof für schwere Menschen-
rechtsverletzungen reicht dabei als Begründung nicht; denn
jeder weiß, dass es noch lange dauern wird, bis dieser In-
ternationale Strafgerichtshof seine Arbeit aufnehmen kann.
So lange aber kann die justizielle Aufarbeitung der schreck-
lichen Menschenrechtsverletzungen in Sierra Leone und
auf Osttimor nicht warten. An dem Verzicht von Rot-Grün
auf solche klaren politischen Forderungen scheiterte auch
das Bemühen um einen interfraktionellen Antrag.
Erst gestern machten Vertreter von Watch Indonesia
mir gegenüber sehr deutlich, für wie wichtig sie einen in-
ternationalen Strafgerichtshof für Osttimor und einen
Sonderberichterstatter für Indonesien halten. Es bleibt ein
Geheimnis, wie locker mancher bei Rot-Grün mit solch
drängenden Appellen von jenen Organisationen und Ini-
tiativen umgeht, als deren politischer Sachwalter man sich
in grauer Vorzeit aufspielte. Nur nichts beschließen, was
anschließend als Messlatte für den diplomatischen Erfolg
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Hermann Gröhe
16042
der eigenen Regierung dienen könnte das scheint das
Motto zu sein. Dabei könnte es im Sinne einer Arbeitstei-
lung zwischen Regierung und Parlament die Position der
Regierung durchaus stärken, wenn wir uns in diesem Par-
lament gemeinsam ambitioniertere Ziele stecken würden.
Der rhetorischen Kraftmeierei in Zeiten rot-grüner Op-
position folgt nun der diplomatische Weichspüler. Der Sa-
che der Menschenrechte dient das nicht.
Das Wort hat die Kol-
legin Christa Nickels, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Ich freue mich sehr, dass ich in der heutigen Debatte
als grüne Obfrau ich bin in dieser Funktion Nachfolge-
rin von Claudia Roth sprechen kann. Ich bedanke mich
auch ausdrücklich für die kollegiale Aufnahme durch die
Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss.
Hermann Gröhe, heute bin ich ein bisschen enttäuscht
von Ihnen. Ich war 1983 zum ersten Mal Abgeordnete im
Deutschen Bundestag. Wenn ich jetzt etwas von rhetori-
scher Kraftmeierei und diplomatischer Weichspülerei
höre, dann muss ich daran erinnern, dass die Grünen seit
1983 damals war es die 10. Legislaturperiode, heute ist
es die 14. immer einen Vollausschuss für Menschen-
rechte gefordert haben, um hier angemessen über Men-
schenrechte zu diskutieren.
Nach Adam Riese liegen zwischen 1983 und 1998
15 Jahre; dies ist eine ziemlich lange Zeit.
Ich kann es nicht gut vertragen, wenn Sie, Herr Kollege
Gröhe die damalige Regierung hat unsere Forderung nie
unterstützt , jetzt, da Sie zweieinhalb Jahre in der Oppo-
sition sind, so große Worte sprechen. Was geschehen ist,
zeigt, dass die neue Koalition sofort das getan hat, was
man machen konnte und machen musste. Außerdem zeigt
es, dass die deutsche Menschenrechtspolitik auch im Par-
lament ein aufgewertetes, eigenständiges Forum erhält,
wo man über dieses Thema angemessen diskutieren kann
und muss.
Weitere wichtige Bausteine unserer Menschenrechtspoli-
tik sind die Einrichtung eines unabhängigen Menschen-
rechtsinstituts und die Etablierung eines Menschenrechts-
beauftragten im Auswärtigen Amt.
Menschenrechtspolitik ist keine Marginalie der Politik
und erst recht kein Sahnehäubchen der Realpolitik. Sie ist
eine Querschnittsaufgabe aller Politikbereiche. Die Wah-
rung der unveräußerlichen Menschenrechte ist eine
Grundvoraussetzung für die Stabilität einer Gesellschaft
sowie für Frieden und nachhaltige Entwicklung.
Der 5. Bericht der Bundesregierung über ihre Men-
schenrechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen
zeigt deutlich das ist eigentlich keine Heldentat; aber es
ist etwas, was früher immer anders war das gewachsene
Bewusstsein dieser Regierung dafür, dass Menschen-
rechtspolitik eine ressortübergreifende Querschnittsauf-
gabe ist. Er ist umfassender und systematischer als sämt-
liche Berichte der Vorgängerregierung. Er versucht vor
allem, die menschenrechtlich relevanten Bezüge zwi-
schen Außen- und Innenpolitik herzustellen.
Ich habe in der letzten Legislaturperiode als Vorsit-
zende des Petitionsausschusses arbeiten dürfen. Ich kann
Lieder mit zahlreichen Strophen endlos rauf und runter
singen, wie der damalige Innenminister und sein Staats-
sekretär Schelter zum Leidwesen vieler menschenrecht-
lich engagierter Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion im
Petitionsausschuss den Ermessensspielraum für die Be-
achtung der innenpolitischen Dimension nicht nur ansatz-
weise nicht genutzt haben, sondern auf Null schrumpfen
ließen.
Auf internationaler Ebene werden Menschenrechte zu-
nehmend zu einer Frage der Weltinnenpolitik. Auf na-
tionaler Ebene gibt es immer noch Widerstände dagegen,
aus der internationalen Menschenrechtslage innenpoliti-
sche Konsequenzen zu ziehen. Auch in unserem Land ha-
ben wir noch keinen absolut zufrieden stellenden Zustand
erreicht. Aber ich habe vorhin schon gesagt, Herr Kollege
Gröhe, dass Welten zwischen dem liegen, was die
Vorgängerregierung 16 Jahre lang unter Nichtbeachtung
der innenpolitischen Dimension getan hat, und dem, was
diese Regierung in Angriff genommen hat. Es ist aber
ganz klar, dass in diesem Bereich noch sehr viel zu tun ist.
Die Kohärenz der deutschen Menschenrechtspolitik
muss weiter ausgebaut werden. Ich bin daher froh, dass
der Innenminister Schily angeordnet hat, dass im Falle
von Menschenrechtsverletzungen bei Frauen, die ge-
schlechtsspezifischer Verfolgung ausgesetzt sind das ist
für die betroffenen Frauen ein großes Problem , bei den
Anhörungen psychologisch geschulte Dolmetscherinnen
eingesetzt werden, fremdsprachige Merkblätter aus-
gehändigt werden, die um den Punkt geschlechtsspezifi-
sche Verfolgung ergänzt wurden, und Entscheiderinnen
zur Verfügung stehen. Dafür haben wir sehr engagiert
über viele Legislaturperioden hinweg gekämpft. Das ist
keine Marginalie; dieser Punkt liegt den misshandelten
Frauen unendlich schwer auf der Seele.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Hermann Gröhe
16043
Es werden den Frauen, die über ihre Verfolgung nicht
sprechen können, Fragebögen ausgehändigt, damit sie
schriftliche Angaben machen können. Das ist wichtig, da-
mit sie in einer angemessenen Form ihre asylrelevanten
Gründe darlegen können. Das sind zwar nur kleine Ver-
besserungen. Aber dies war in den 16 Jahren Ihrer Regie-
rung noch nicht einmal ansatzweise möglich.
Selbstverständlich hat die Flüchtlingspolitik neben der
innenpolitischen eine herausragende menschenrechtliche
Dimension. Wir müssen hier an substanziellen Verbesse-
rungen intensiv weiterarbeiten. Der Menschenrechtsaus-
schuss hat eine vielbeachtete und sehr aufschlussreiche
Anhörung veranstaltet. Ich bin sehr froh über die aktuelle
Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte zu Klagen
afghanischer Flüchtlinge, die mich hoffen lässt, dass in
die Frage nichtstaatlicher Verfolgung endlich Bewegung
gekommen ist.
Deshalb spricht sich der Menschenrechtsausschuss in
seiner Beschlussempfehlung zum 5. Bericht der Bundes-
regierung einstimmig dafür aus, dass in Zukunft vor allen
Dingen die flüchtlingspolitischen Aspekte der Menschen-
rechtspolitik ausführlicher darzustellen und dabei Bezüge
zwischen dem länderspezifischen und dem innenpoliti-
schen Teil des Berichtes herzustellen sind. Das ist für un-
sere internationale Glaubwürdigkeit sehr wichtig, wenn
wir als Fürsprecher der Idee der Menschenrechte auftre-
ten. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass der
Außenminister, der für diesen Bericht verantwortlich ist,
dieses Anliegen aufnehmen wird.
Ich will noch etwas zu der Tatsache sagen, dass die
Koalitionsfraktionen kurzfristig einen Antrag eingebracht
haben. Herr Kollege Gröhe, der andere Antrag entstammt
ja nicht der Mann- und Frauenpower der CDU/CSU-Frak-
tion, sondern wurde im März von der F.D.P.-Fraktion ein-
gebracht.
Auch wenn unser Antrag kurzfristig eingebracht wurde,
was Sie beklagen, muss ich sagen, dass Sie Ihre eigenen
Hausaufgaben nicht gemacht haben.
Die Koalitionsfraktionen waren der Meinung, dass es
sinnvoll ist, eine Debatte zu führen, während die MRK
tagt. Es wäre auch sinnvoll gewesen, einen gemeinsamen
Antrag einzubringen, um die Bedeutung der MRK zu un-
terstreichen. Wir haben es leider nicht geschafft. Deshalb
haben wir einen eigenen Antrag eingebracht, was vor dem
Hintergrund, dass sich die MRK neuen Problemen stellen
muss, wichtig ist. Diese Probleme resultieren daraus, dass
die Menschenrechtspolitik international Erfolge zu ver-
zeichnen hat, dass nämlich Menschen wie Milosevic oder
Pinochet nicht mehr damit rechnen können, straffrei zu
bleiben. Das führt dazu, dass diejenigen, die früher in dem
Bewusstsein, sich nicht daran halten zu müssen, Konven-
tionen und Verträge mit leichter Hand unterschrieben ha-
ben, heute damit rechnen müssen, dass ihre Unterschrift
politisch relevant ist. Das macht das Geschäft schwieri-
ger.
Die Regierungen müssen alles dafür tun, dass es kei-
nen Rückschritt in Bezug auf die Beschlusslage der MRK
gibt. Sie muss das, was wir schon erreicht haben, vertei-
digen und Stück für Stück weiterentwickeln.
Danke schön.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich das Wort dem Kollegen Gröhe.
Frau Präsidentin! Ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Soweit die Kollegin
Christa Nickels die Schaffung eines Vollausschusses für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe als die entschei-
dende Neuerung dargestellt hat
als eine , stelle ich ergänzend fest, dass nicht allein der
Charakter eines Gremiums, sondern seine Ergebnisse ent-
scheidend sind. Da werden wir noch Bilanz ziehen müssen.
Was die Dimension des Themas im Parlament angeht,
so weise ich einmal darauf hin, dass es in der letzten Le-
gislaturperiode im Parlament eine Initiative gab, die bei-
spielsweise in der Tibet-Resolution geendet hat und deren
Erfolg sich in einem gemeinsamen Klartext zeigte, zu
dem sich die neue Mehrheit im Parlament bisher nicht
bereit gefunden hat.
Soweit es um andere Dinge aus den vergangenen
16 Jahren geht, stelle ich nur fest: Die Kollegin Kortmann
hat in überragender Weise die Bedeutung des Internatio-
nalen Strafgerichtshofs hervorgehoben. Sie hätte auch er-
wähnen können, dass das ein besonderer Erfolg der ver-
gangenen Bundesregierung und ihres Außenministers
Klaus Kinkel war.
Das wissen Sie besser.
Frau Nickels, möch-
ten Sie antworten? Bitte sehr.
Ich
will nicht auf alles eingehen; ich denke, dass der Außen-
minister das eine oder andere ansprechen wird, der ja in
der letzten Legislaturperiode aktiv daran beteiligt war, die
Menschenrechte maßgeblich voranzubringen, und das
auch heute tut.
Nur, Kollege Gröhe, ich habe ausdrücklich nicht ge-
sagt, dass die Ausgestaltung zu einem Vollausschuss das
Entscheidende sei. Aber wenn wir das Parlament ernst
nehmen, ist es wichtig, wie, wo und auch in welchem
Rahmen ein bestimmtes Thema gesettet ist. Wenn man
nicht will, dass Menschenrechtspolitik immer als An-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Christa Nickels
16044
hängsel, sozusagen als Wurmfortsatz der eigentlichen har-
ten Politik, angesehen wird was sich darin geäußert hat,
dass es dazu jahrelang nur einen Unterausschuss gab ,
dann ist es sehr wichtig, hier einen Vollausschuss zu ha-
ben, der gleichberechtigt in der Reihe der anderen steht,
um auch durch die Art des Gremiums zu dokumentieren,
welchen Rang im Rahmen der parlamentarischen Bera-
tungen die Menschenrechtspolitik hat. Das ist wichtig. Ich
nehme das Parlament auch in seinen Institutionen ernst.
Nun hat das Wort die
Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für die
F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin froh, dass heute dank der Anträge der
F.D.P.-Bundestagsfraktion diese Debatte zu aktuellen
Menschenrechtsfragen stattfinden kann. Denn es sind un-
sere Anträge der Antrag für eine Tschetschenien-Reso-
lution der Menschenrechtskommission der Vereinten Na-
tionen und der Antrag für ein stärkeres deutsches
Engagement auf der 57. Sitzung der Menschenrechts-
kommission der Vereinten Nationen , die diese Debatte
zum heutigen Zeitpunkt initiiert haben.
Aber der hätte nicht die heutige Debatte während der Ta-
gung der Menschenrechtskommission initiiert. Endlich
gelingt einmal, was in den vergangenen Jahren nicht ge-
lungen ist: dass sich der Bundestag während der Sitzung
der Menschenrechtskommission mit zahlreichen aktu-
ellen Menschenrechtsfragen befasst, die dort auf der Ta-
gesordnung stehen,
und die Bundesregierung zu stärkerem Engagement auf-
fordert, ermutigt und eine deutliche Profilierung für die
Durchsetzung der Menschenrechte einfordern kann. Eine
solche Debatte war Sinn und Zweck dieser Anträge.
Angesichts der dramatischen Situation mutet es aller-
dings schon bizarr an, dass unser Antrag für eine Tschet-
schenien-Resolution der UN-Menschenrechtskom-
mission ein Jahr alt ist; denn er bezog sich auf die
56. Sitzung der Menschenrechtskommission, wurde aber
damals nicht auf die Tagesordnung gesetzt. Er ist jedoch
heute so aktuell, dass wir überhaupt nichts ändern muss-
ten; denn es hat sich in diesem einen Jahr an der Situation
in Tschetschenien und an den Forderungen nichts geän-
dert. Die Menschenrechtssituation ist schlecht. Es finden
nach wie vor schwerste Menschenrechtsverletzungen
statt. Menschen verschwinden, und zwar in der Mehrzahl
nicht durch Entführung durch Banditen und Terroristen,
sondern durch Entführung durch die Ausführer der Anti-
terroristischen Operation. Menschen werden willkürlich
verhaftet, Flüchtlinge in Lagern in Inguschetien festge-
halten. Massengräber werden gefunden, wie jetzt vom
Menschenrechtszentrum Memorial in Moskau. Das
Land Tschetschenien ist zudem total zerstört und es zeich-
nen sich schwerste Umweltbelastungen ab.
Die Forderungen der Menschenrechtskommission der
Vereinten Nationen vom letzten Jahr verhallen ohne Wir-
kung. Die Tschetschenien-Resolution des letzten Jahres
hat zu keinerlei Veränderung des Verhaltens der russi-
schen Regierung und der Verantwortlichen im Militär
geführt. Es ist unstreitig, dass Russland seine Verpflich-
tungen, die in Konventionen und Zusatzprotokollen fest-
geschrieben sind, beim Umgang mit Opfern nationaler
Konflikte verletzt. Nur Appelle an Russland, sich doch an
die eingegangenen Verpflichtungen zu halten, reichen
nicht mehr aus.
Es muss jetzt mehr Druck ausgeübt werden. Das ist ganz
eindeutig.
Sie, Herr Fischer, fragen natürlich zu Recht, was ge-
macht werden soll. Da schaue ich ganz einfach in Ihre Re-
den nach dem ersten Tschetschenien-Krieg, die Sie hier
1995 im Plenum gehalten haben. Damals haben Sie ge-
fordert, dass die Bundesregierung ihre Russlandpolitik
grundsätzlich überdenken solle, weil sie nicht zur Verbes-
serung der Menschenrechtslage geführt habe. Sie haben
auch so haben Sie es jedenfalls genannt Beschrän-
kungen für den Export von Waren und Technologien von
strategischer Bedeutung nach Russland gefordert und
dem damaligen Außenminister Servilität vorgeworfen.
Ich fordere heute keine Exportbeschränkungen, aber ich
möchte, dass die Menschenrechtslage in Tschetschenien
endlich einmal so deutlich artikuliert wird, dass Russland
weiß: Wenn es nicht zu Änderungen kommt, wird dies
massive Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen
Deutschland und Russland haben.
Im Mittelpunkt der heutigen Debatte steht natürlich die
Tagung der Menschenrechtskommission. In sieben Minu-
ten kann man auf die wesentlichen Punkte nicht eingehen.
Allein unser Antrag zeigt ja schon, wie vielfältig die Si-
tuation der Menschenrechte ist und welche Formen der
Verletzung es an unterschiedlichen Orten gibt. Natürlich
spielt die Situation in der Volksrepublik China beson-
ders vor einem Hintergrund eine entscheidende Rolle: Es
ist schon gesagt worden, dass sich die Menschenrechts-
kommission im Moment in einer ganz schwierigen Situa-
tion befindet. In den vergangenen Jahren wurden Erfolge
erreicht, vieles wurde in Konventionen rechtlich gefasst
und der Internationale Strafgerichtshof wird demnächst
seine Arbeit aufnehmen.
Zugleich nimmt aber die Blockadehaltung von Staaten
zu und die Menschenrechtskommission kann immer we-
niger Beschlüsse mit Signalwirkung an die Adresse der
Staaten durchsetzen, in denen die Menschenrechte mit
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Christa Nickels
16045
Füßen getreten werden. Es besteht die Gefahr, dass die
Menschenrechtskommission gerade bei denjenigen an
Ansehen und Vertrauen verliert, die sich unermüdlich für
die Opfer von Menschenrechtsverletzungen einsetzen.
Dies ist bestimmt mit ein Grund dafür aber auch die
knappe finanzielle und personelle Ausstattung der Men-
schenrechtskommission , dass die Kommissarin Mary
Robinson vorübergehend amtsmüde geworden ist.
Vor diesem Hintergrund ist es ganz entscheidend, dass
die Debatte und die Beschlussfassung zur Verurteilung
der Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik
China anders abläuft als in der letzten Sitzung. Ich denke,
alle, die vom Menschenrechtsausschuss dort waren, wa-
ren erschüttert, zu sehen, mit welcher Zurückhaltung sich
gerade die europäischen Staaten dort geäußert haben. Die-
jenigen führten dort das Wort, die die Nichtbefassung
mit der Resolution der Vereinigten Staaten unterstützt ha-
ben. Es ist deshalb entscheidend, dass wir hier und heute
wie Sie das, Herr Fischer, 1996 eingefordert haben be-
schließen, Peking ständig, klar, deutlich und unmissver-
ständlich die Menschenrechts- und Demokratiedefizite
vor Augen zu führen.
Die verstehen keine andere Sprache. Deshalb muss im
Plenum der Tagung der Menschenrechtskommission, und
zwar von Deutschland an erster Stelle wir dürfen uns
nicht hinter anderen verstecken , die Resolution der Ver-
einigten Staaten unterstützt werden und somit gegen die
Nichtbefassung eindeutig Position bezogen werden.
Leider komme ich nicht mehr zu den anderen Punkten.
Ich möchte aber schon sagen, dass es nicht möglich war,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfrak-
tionen, unseren Antrag so zu entkleiden und zu entkernen,
dass wir Ihrem Entschließungsantrag hätten zustimmen
können. Dass das nicht geht, haben wir schon im Aus-
schuss gesagt. Alle unsere klaren Forderungen wurden
von Ihnen abgeschwächt. Deshalb werden wir Ihrem Ent-
schließungsantrag heute nicht zustimmen.
Ich bitte um Zustimmung für den Antrag der F.D.P.-
Fraktion.
Für die PDS-Fraktion
hat jetzt der Kollege Carsten Hübner das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Im Zentrum der heutigen Debatte
steht unbestritten die Sitzung der Menschenrechtskom-
mission in Genf und stehen die dazu vorgelegten Anträge
der F.D.P.-Fraktion und der Regierungskoalition. Gestat-
ten Sie mir deshalb, in der mir leider immer gebotenen
Kürze zu erläutern, warum wir den dazu vorliegenden An-
trägen nicht zustimmen, sondern uns als PDS-Fraktion
der Stimme enthalten werden.
Dreh- und Angelpunkt für diese Entscheidung sind die
Ausführungen zu China, aber nicht etwa, wie jetzt einige
vermuten werden, die vielfach durchaus sehr kritisch zu
bewertenden Menschenrechtsprobleme in China, die in
den Anträgen aufgegriffen wurden. Einen großen Teil der
Kritik teile ich durchaus. Ich habe dies, etwa in einem Ge-
spräch mit Vertretern von Amnesty International vor we-
nigen Wochen, auch so zum Ausdruck gebracht.
Dreh- und Angelpunkt unserer Entscheidung, uns zu
enthalten, ist vielmehr der Bezug, der in beiden Anträgen
de facto hergestellt wird, nämlich der Bezug auf die vor-
liegende US-Resolution zu China, um die es nämlich in
Genf gehen wird. Denn diese Resolution ist genau die
Form von interessengeleiteter Doppelzüngigkeit, die es
der Menschenrechtspolitik bis heute so schwer macht,
sich aus der Rolle des ideologischen Spielballs zu be-
freien.
Ich frage Sie ernsthaft: Wie kann diese Resolution de
facto der Bezugspunkt von zwei Anträgen im Bundestag
zur Sitzung der Menschenrechtskommission sein, wenn
darin nicht ein Wort zur Todesstrafe enthalten ist und
das, nachdem der Bundestag erst kürzlich mit den Stim-
men aller Fraktionen ein eindrucksvolles Votum gegen die
Todesstrafe in allen Teilen der Welt abgegeben hat?
Dabei ist richtig, dass in den beiden Anträgen durchaus
Äußerungen zur Todesstrafe enthalten sind. Aber das
Instrument, auf das Sie bei der MRK rekurrieren, ist nun
einmal die US-Resolution, in der mit Blick auf die eigene
Todesstrafenpraxis die Todesstrafenpraxis in China mit
keinem Wort erwähnt ist.
Ein zweiter Punkt, der unser Unbehagen in dieser
Frage steigert: Unstrittig hat China noch einen weiten
Weg vor sich, um die wirtschaftlichen, sozialen und kul-
turellen Rechte im Sinne des UN-Paktes auch in die Tat
umzusetzen. Es wird ein widerspruchsvoller Weg werden.
Da braucht sich niemand etwas vorzumachen. Aber im-
merhin hat China den WSK-Pakt kürzlich ratifiziert, was
man von den USA jedenfalls bis heute nicht behaup-
ten kann. Auch das wird aus unserer Sicht in den Anträ-
gen, immer auch mit Blick auf den Akteur der Chinareso-
lution in Genf, nicht kritisch genug reflektiert.
Um es mit einem Satz zu sagen: Wenn sich Liechten-
stein dazu entschlossen hätte, in dieser Frage aktiv zu wer-
den, wäre dies eine andere Sache.
Die USA aber, die selbst eine große Zahl von Men-
schenrechtsverletzungen in ihrem eigenen Land und noch
viel mehr in anderen Teilen der Welt zu verantworten ha-
ben, unkritisch zum legitimen Akteur und Ankläger auf
der MRK zu küren, ist jedenfalls mit der PDS-Fraktion
nicht zu machen, zumal die F.D.P.-Fraktion in der Chi-
nafrage als weiteren internationalen Unterstützer offenbar
allein den Westen im Blick hat, was aus meiner Sicht ein
längst überholt geglaubtes Lagerdenken zu bedienen
scheint. Oder es resultiert schlicht aus mangelnder Re-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
16046
flexion darüber, welche Verantwortung der Westen für
Menschenrechtsverletzungen überall auf der Welt trägt.
Ich nenne nur Guatemala, El Salvador, Indonesien, Chile,
Kolumbien oder einen großen Teil der Konflikte in
Afrika. Wir, der Westen, sind längst nicht die Gralshüter
der Menschenrechte, für die wir uns gern halten und als
die wir gerne auftreten,
zumal, wenn es um Menschenrechte in anderen Teilen der
Welt, weit weg von unserem Leben und den Kameras des
Fernsehens, geht.
Na ja, Sie müssen es ja wissen, Herr Minister.
Ein gutes Beispiel dafür, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, ist die Klage von rund 40 internationalen Pharma-
konzernen gegen Südafrika, die gegenwärtig in Pretoria
vor Gericht verhandelt wird. Da will ein Land, das
schwerstens von HIV bzw. Aids betroffen ist, eine gesetz-
liche Regelung schaffen, um die infizierte bzw. erkrankte
Bevölkerung mit finanzierbaren Medikamenten zu ver-
sorgen, und das auch noch konform mit den Ausnahmere-
gelungen des internationalen Patentrechts der WTO. Den
westlichen Pharmaunternehmen, darunter acht deut-
sche Firmen, fällt nichts Besseres ein, als dieses Gesetz
mit einer Klage zu blockieren, weil sie ihr Profitinteresse
gefährdet sehen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sagt viel mehr über die oftmals vorherrschende Moral in
einflussreichen Teilen der westlichen Gesellschaft aus
als die Debatten, die wir im Menschenrechtsausschuss
oder hier im Plenum führen. Darüber täuschen auch nicht
die Versäumnisse und Menschenrechtsverletzungen hin-
weg, die in den Ländern des Südens selbstverständlich
auch zu konstatieren und zu kritisieren sind.
Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag zuzustimmen
und damit NGOs wie Ärzte ohne Grenzen oder dem
BUKO, die sich in der Bundesrepublik, in Südafrika und
international für bezahlbare AIDS-Medikamente und die
Rücknahme der Klage der Konzerne gegen Südafrika
stark machen, den Rücken zu stärken.
Denn ihre Kampagne reflektiert einen Bereich der deut-
schen Außenpolitik, der nicht im Menschenrechtsbericht
der Bundesregierung vorkommt. Es ist die Außenpolitik
der Konzerne, die bisher kaum demokratischer Kontrolle
unterworfen sind. Es ist an der Zeit, ihnen Grenzen zu
setzen.
Danke.
Das Wort hat jetzt der
Abgeordnete Rolf Stöckel.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren!
Menschenrechtspolitik bewegt sich in widersprüch-
lichen Kräftefeldern: Wer es sich zu leicht macht, hat
schon verloren; wer sie für seine eigenen Zwecke
einsetzt, missbraucht die Opfer der Willkür. Deshalb:
Die Berufung auf Menschenrechte darf nie einem
taktischen Spiel dienen, sondern sie muss mit-
menschliche Verpflichtung bedeuten heute und
weit über den Tag hinaus.
Diese Mahnung hat uns Willy Brandt ins Stammbuch ge-
schrieben. Ich bin mir sicher, er wäre stolz, könnte er noch
erleben, wie eine von Sozialdemokraten geführte rot-grüne
Regierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts als erste daran-
geht, die Menschenrechtspolitik Schritt für Schritt als
Kern- und Querschnittsaufgabe, ja, als Grundorientierung
ihrer Gesamtpolitik nach innen und außen zu verankern.
Weil die Kollegin Nickels dies gerade angesprochen
hat und es damals die grüne Partei noch nicht gab, möchte
ich Folgendes anmerken:. Es ist ja kein Zufall, dass 1969,
im Jahr der Regierungsübernahme durch eine soziallibe-
rale Koalition, ein Unterausschuss für humanitäre Hilfe
eingerichtet wurde und dass 1989, zurückgehend auf eine
Große Anfrage der SPD-Fraktion im Jahre 1985, die Auf-
gabe der Menschenrechte dazukam.
Bei aller Kritik und dazu möchte ich jetzt reden am
5. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschen-
rechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen, der
schließlich mit mehr als sechsmonatiger Verspätung vor-
gelegt wurde und deswegen in Teilen nicht mehr aktuell
sein kann, der nur den Zeitraum von Oktober 1997 bis De-
zember 1999 behandelt, ist er meines Erachtens doch ein
lesenswertes Dokument für alle, die sich einen Überblick
über die deutsche Menschenrechtspolitik verschaffen
wollen. Erstmals werden in diesem Bericht auch men-
schenrechtsrelevante Fragen der Asyl- und Flüchtlingspo-
litik behandelt, soweit sie einen Auslandsbezug haben. Es
muss anerkannt werden das geht auch aus den Stellung-
nahmen von Nichtregierungsorganisationen hervor ,
dass bei allem, was naturgemäß immer noch verbessert
werden kann, der Weg richtig ist, die Richtung erkennbar
ist und wichtige Pflöcke nunmehr eingeschlagen sind.
Es kann wohl nicht bestritten werden, dass die neue
Bundesregierung ihren Anspruch aus der Koalitionsver-
einbarung ernst nimmt, nämlich die Achtung und Ver-
wirklichung der universellen Menschenrechte zur Leitli-
nie für die gesamte internationale Politik der Regierung
zu machen und sich mit Nachdruck um international ab-
gestimmte Strategien zur Bekämpfung von Menschen-
rechtsverletzungen und ihrer Ursachen sowie ihrer Vor-
beugung zu bemühen. Ich will einige ganz konkrete
Schritte nennen: die Schaffung eines Beauftragten für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Auswärtigen
Amt, die erst vor kurzem erfolgte Gründung des unab-
hängigen Menschenrechtsinstituts, das Engagement der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Carsten Hübner
16047
Bundesregierung für die Einrichtung eines Internationa-
len Strafgerichtshofes und gegen die Todesstrafe, die kon-
sequente Berücksichtigung von Menschenrechtsaspekten
in der Entwicklungspolitik, vor allen Dingen mit dem
Schwerpunkt der Krisenprävention, aber auch die erfolg-
reichen Initiativen zu einem EU-Menschenrechtsbericht,
der im Dezember 1999 erstmals erschienen ist, und zur
Europäischen Grundrechte-Charta, die maßgebliche Un-
terstützung der Bundesregierung für die Schaffung des
ständigen Europäischen Gerichtshofes für Menschen-
rechte und das neue Amt des Menschenrechtskommissars
des Europarates. Ich will zuletzt auch noch den intensiven
Dialog mit den Nichtregierungsorganisationen hervorhe-
ben, sowohl was Ad-hoc-Abstimmungen, wie zum Bei-
spiel während der Osttimorkrise, als auch spezifische
Konsultationen, zum Beispiel mit dem Forum Menschen-
rechte zur Vorbereitung der VN-Menschenrechtskom-
mission, angeht.
Wie gesagt, es gibt kaum etwas, was man nicht noch
verbessern könnte; das wissen wir alle. Deshalb enthält
die Beschlussempfehlung des Ausschusses einige Vor-
schläge, die wir zur Annahme empfehlen.
Halten wir fest, dass sich die Federführung beim Aus-
wärtigen Amt bewährt hat. Wir alle erhoffen natürlich
vom nächsten Bericht, dass er weitere Ressorts übergrei-
fend einbezieht; dies sollte auch im Titel des Berichts
kenntlich werden. Er sollte vor allen Dingen dem Aspekt
Menschenrechte und Wirtschaft Kollegin Kortmann ist
bereits darauf eingegangen breiteren Raum einräumen.
Mit zunehmender Globalisierung der Wirtschaft müssen
sich auch die Unternehmen das ist klar ihrer interna-
tionalen Verantwortung für die Einhaltung der Menschen-
rechte stellen.
Lassen Sie uns gemeinsam, meine Damen und Herren von
der Wirtschaft, daran arbeiten, nachhaltige Leitbilder zur
Verwirklichung der Menschenrechte zu entwickeln.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle, auf den sehr kurz-
fristig eingereichten Entschließungsantrag der PDS
einzugehen. Es wäre gut, wenn die Klagen deutscher Un-
ternehmen vor dem südafrikanischen Gerichtshof zurück-
gezogen würden. Bekanntlich haben Bundeskanzler
Gerhard Schröder und die Ministerin für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung an die entsprechenden
Pharmafirmen appelliert. Es geht um eine konzertierte
Aktion von Unternehmen und Regierungen und nicht um
die Aushebelung des Patentrechts; dies ist der falsche He-
bel. Wir müssen mit allen Beteiligten kooperieren und
kommunizieren, wenn wir unser Ziel erreichen wollen,
die Menschenrechtspolitik als Querschnittsaufgabe zu
verankern.
Wir alle wollen, dass aus dem Folgebericht deutlicher
hervorgeht, welche Auswirkungen zum Beispiel die an
Menschenrechtskriterien geknüpfte neue Rüstungskon-
trollpolitik, die Vergabe von Hermesbürgschaften, aber
auch die Länderberichte auf die Entscheidungen in der
Asyl- und Flüchtlingspolitik haben.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir heute, am
5. April 2001, am Jahrestag der Ratifizierung der Kin-
derrechtskonvention der Vereinten Nationen durch die
Bundesrepublik, also vor genau neun Jahren, sozusagen
als ceterum censeo darauf hinzuweisen, dass sich der
Weltkindergipfel der Vereinten Nationen, der im Septem-
ber dieses Jahres stattfindet, vor allen Dingen mit der Si-
tuation der Flüchtlingskinder beschäftigen wird. Ich freue
mich, dass die Vizepräsidentin des Bundestages Anke
Fuchs zur Sonderbotschafterin ernannt worden ist. An
diesem wichtigen Jahrestag möchte ich mich ausdrück-
lich auch im Namen der Kinderbeauftragten anderer
Fraktionen beim Außenminister und der gesamten Bun-
desregierung bedanken, dass sie sich auf internationaler
Ebene für die Verbesserung der Lage der Kinder einge-
setzt haben.
Das gilt nicht nur für die internationalen Probleme der
Kinderarbeit und der Kindersoldaten hier ist eine Al-
tersgrenze von 18 Jahren festgelegt worden , sondern
auch für die Unterstützung von Projekten gegen
Genitalverstümmelungen von Mädchen und jungen
Frauen.
Ich nutze diese Gelegenheit auch dafür, darauf hinzu-
weisen, dass der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit
die Rücknahme der Vorbehalteerklärung im Rahmen der
Ratifikation der Kinderrechtskonvention gefordert hat.
Deswegen appelliere ich an die Länder- und an den Bun-
desinnenminister: Geben Sie sich einen Ruck und sorgen
Sie dafür, dass wir zum zehnten Jahrestag der Ratifizie-
rung, also in einem Jahr, feststellen können, dass die
völkerrechtlichen Normen für Flüchtlingskinder unter
18 Jahren auch in Deutschland in vollem Umfang gelten!
In der letzten Woche haben wir in diesem Hohen Hause
eine Nationalstolzdebatte erlebt, eine Debatte, die vom
Niveau her nicht immer sehr hochstehend war. Ich will Ih-
nen daher zum Schluss sagen, worauf ich stolz bin, näm-
lich darauf, dass ich als deutscher Demokrat gemeinsam
mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus allen
Fraktionen dieses Hauses dazu beitragen kann, den uni-
versellen Menschenrechten weltweit mehr Geltung zu
verschaffen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat der Ab-
geordnete Heiner Geißler das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Menschen-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Rolf Stöckel
16048
rechtsbericht der Bundesregierung werden eine ganze
Reihe von Entwicklungen und Verbesserungen darge-
stellt. Wir haben in der gemeinsamen Resolution einige
Kritik angebracht, aber darauf will ich jetzt gar nicht ab-
stellen. Ich will zu zwei Punkten etwas sagen.
Im Menschenrechtsbericht wird zum Kosovo Stellung
genommen; das ist der erste Punkt, auf den ich eingehen
will. Ich will daran erinnern, dass über Jahre hinweg Eu-
ropa hat erleben müssen, dass die Barbarei durch Dikta-
toren, Massenmörder und auch Rassisten dies ist in Eu-
ropa trotz Stalin und Hitler wieder möglich sozusagen
zum Normalfall geworden war. Friedliche Völker konn-
ten beobachten, dass Völkermörder geschont, Aggresso-
ren mit Gebieten belohnt wurden, die sie rechtswidrig er-
obert hatten, und Menschenrechtsverletzer und Folterer
durch Geschäfte und Besuche höchster Staatsmänner ge-
ehrt wurden. Die NATO hat dem, zumindest in den wich-
tigsten Fragen, ein Ende gesetzt.
Ich betrachte dies im Nachhinein als Bestätigung der
Politik, die meine Partei immer vertreten hat, dass es näm-
lich einziges Ziel von Bundeswehr und NATO ist, die
Demokratie, die Freiheit und die Menschenrechte zu ver-
teidigen und zu schützen, jetzt in einem erweiterten Um-
fang, mit einer größeren Verantwortung. Insofern hat das,
was die Bundesregierung und wir alle miteinander beige-
tragen haben, damit das, was uns über Jahre hinweg be-
lastet hat, ein Ende fand, zu Recht Eingang in diesen Men-
schenrechtsbericht gefunden. Ohne den Einsatz der
NATO wäre Milosevic heute nicht hinter Gittern. So viel
zu diesem Punkt.
Ich möchte zweitens die Kritik von Amnesty Interna-
tional aufnehmen, der Menschenrechtsbericht verdeutli-
che eine gewisse selektive Politik. Das ist ja schon zum
Ausdruck gebracht worden. In der Tat wird China etwas
schonender behandelt, Russland erst recht. Etwas deutli-
cher sind die Ausführungen zu anderen Staaten.
Ich will ein Beispiel herausnehmen, angesichts dessen
ich etwas für die Zukunft zu bedenken geben möchte.
Über Saudi-Arabien, das hinsichtlich der Frauenverfol-
gung und der Verfolgung anderer Religionen fast nur mit
Afghanistan verglichen werden kann das ist in dem
Sinne eine totale Diktatur wird im Menschenrechtsbe-
richt geschrieben:
Die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien ist da-
durch geprägt, dass das Land sich als streng islami-
scher, nichtsäkularer Staat versteht, dessen oberstes
Gesetz der Koran und die Traditionen des Propheten
Mohammad sind.
Das ist falsch, das können Sie so nicht schreiben. Es han-
delt sich hier, wie im Übrigen im Iran und in anderen Län-
dern, um eine exzessiv ausgelegte Interpretation des Islam,
also um nichts anderes als um den Missbrauch von Reli-
gion und den Missbrauch des Namens Gottes zur Stabili-
sierung der eigenen Herrschaft und in Saudi-Arabien zur
Zementierung des arabischen autoritären Regimes der
Wahhabiten.
Ich empfehle, mit der Benennung der Religion als Ur-
sache der Menschenrechtsverletzungen außerordentlich
vorsichtig zu sein. Natürlich gab es auch in Europa im Na-
men des Christentums schwerste Menschenrechtsverlet-
zungen; das will ich gar nicht bestreiten. Aber wir sollten
weder beschönigen noch diffamieren, vor allem weil dies
Auswirkungen auf unsere eigene Bevölkerung hat. Ein
großer Teil der Bevölkerung in Deutschland bekennt sich
zum Islam, auf der anderen Seite haben wir die so ge-
nannten Einheimischen.
Wie soll ich das denn sonst bezeichnen? Die 7,5 Milli-
onen Menschen, die hier leben, aber deren Eltern anderer
Herkunft sind, sind Einheimische, nur in der Regel noch
ohne deutschen Pass. Das ist der ganze Unterschied.
Nein, es hat keinen Wert, Schreckensbilder einer Reli-
gion regierungsamtlich darzustellen.
Was die Interpretation auch der Menschenrechte anbe-
langt, sind wir gar nicht so weit vom Islam entfernt, der
im Grunde genommen eine friedliche, sogar fast eine de-
mokratische Religion ist. Wir unterscheiden uns von ihm
allenfalls dadurch, dass er alles in Beziehung zu Gott, der
gesamten Schöpfung Gottes und den Mitgeschöpfen des
Menschen setzt, denn nach islamischer Überzeugung
steht nicht der Mensch im Mittelpunkt, sondern Gott ist
das Maß aller Dinge.
Wichtig ist daher, dass wir uns auf den Dialog konzen-
trieren. Wenn man die Menschenrechte schützen will,
dann muss der Dialog verbessert werden. Das gilt vor al-
lem für die islamischen Länder.
Beispielsweise fordere ich die Bundesregierung auf, den
Dialog zwischen den Universitäten zu fördern, wie dies
übrigens im Mittelalter auch schon geschehen ist. Die ge-
samte europäische Philosophie ist ohne die arabische Phi-
losophie nicht denkbar. Das aufzugreifen scheint mir
wirklich wichtig zu sein.
Herr Fischer, wir schreiben arabische und nicht griechi-
sche oder lateinische Zahlen. Wir haben im Mittelalter
und davor eine wechselseitige Befruchtung in der Philo-
sophie und den Naturwissenschaften gehabt. Den Dialog
zwischen den Universitäten und Bildungseinrichtungen
müssen wir aufgreifen.
Statt auf das Aufeinanderprallen der Zivilisationen und
Kulturen zu starren, sollte man sich das in Erinnerung ru-
fen, was Hans Küng an Gemeinsamkeiten der Weltreli-
gionen herausgearbeitet hat, und dies befördern.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Heiner Geißler
16049
Natürlich muss man klar und eindeutig sagen, dass wir
an unseren Menschenrechtsansprüchen keine Abstriche
machen dürfen. Wir müssen den Vorwurf eines europä-
ischen Imperialismus zurückweisen, wie es eine Men-
schenrechtsorganisation in Asien neulich völlig zu Recht
gesagt hat. Wir setzen uns zwar für kulturelle Vielfalt ein,
doch sind Sitten und Bräuche, die die allgemein aner-
kannten Menschenrechte verletzen, nicht annehmbar. Wir
weisen die Logik zurück, dass eine Person in Asien ein ge-
ringeres Recht auf Schutz vor Folter haben soll, nur weil
sie in Asien gefoltert wird. Das können wir selbstver-
ständlich nicht akzeptieren.
Wir können auch nicht akzeptieren, dass die Menschen-
rechtsverletzungen durch den Missbrauch der Religion le-
gitimiert werden. Wenn die Auseinandersetzung über die
Menschenrechtsfrage geführt wird, dann muss man klar
erkennen, dass Ineffizienz, Brutalität und Korruption,
verschlimmert durch Tribalismus und Fundamentalismus,
nicht kulturell bedingt sind das ist eben eine Lüge ,
sondern nacktem Machtstreben, Fanatismus und der Lust
an der Unterdrückung Andersdenkender, Andersartiger
und von Minderheiten entspringen. Das ist der eigentliche
Grund, nicht die Religionen selbst. Das möchte ich auch
einmal in Regierungsdokumenten geschrieben sehen.
Das Wort hat
jetzt Herr Außenminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts
der Situation der Menschenrechte in unserer Zeit und in
dieser Welt wird es für eine Regierung immer schwer sein,
eine positive Bilanz vorzulegen. Insofern ist alles, was wir
hier sagen, zu Recht immer auch im Kreuzfeuer der Kri-
tik; das muss so sein.
Auf der anderen Seite bedürfen Menschenrechte über-
all dort, wo man zu praktischen Verbesserungen kommen
kann, des ständigen Bemühens, den eigenen Ansprüchen
gerecht zu werden, zumal wir wissen, dass wir es in der
globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts nicht mehr nur
mit einer moralischen Frage, sondern mit einer eminent
politischen Frage, mit einer Frage auch von Stabilität,
Frieden und wirtschaftlicher Entwicklung zu tun haben.
Spätestens die Asienkrise hat klargemacht, dass die Welt-
wirtschaft des 21. Jahrhunderts keine Entgegensetzung
von Freiheit und wirtschaftlicher Entwicklung zulässt,
sondern dass Rechtsstaat und Verfassungsstaat schlicht
und einfach Voraussetzungen für eine nachhaltige Ent-
wicklung, auch für eine nachhaltige wirtschaftliche Ent-
wicklung sind.
Diese Verbindung von moralischer Frage und wirt-
schaftlicher Entwicklung, auch die Verbindung der klassi-
schen Menschenrechte mit den sozialen Rechten ist das
große Verdienst von Mary Robinson, der Menschen-
rechtskommissarin der Vereinten Nationen. Ich kann mich
nur allen anschließen: Auch ich freue mich darüber, dass
sie sich dazu entschlossen hat, für ein weiteres Jahr ich
hoffe, noch darüber hinaus ihre Aufgabe wahrzunehmen,
und danke ihr im Namen der Bundesregierung für das von
ihr Geleistete nachdrücklich.
Amnesty International hat uns heute anlässlich dieser
Debatte kritisiert. Ich glaube, das muss so sein. Es wäre
schlimm, wenn Amnesty International das nicht mehr ma-
chen würde, auch wenn ich nicht finde, dass in der Sache
die Kritik gerechtfertigt ist. Die Vorsitzende von Amnesty
International, Frau Lochbihler, sagt, dass in den hochran-
gigen Gesprächen mit China und Russland das Thema
Menschenrechte gegenüber den anderen Themen sehr
schnell zurückfiel. Ich kann nur sagen: Wenn sie dabei ge-
wesen wäre, hätte sie dies nicht so gesehen. Dann müsste
sie eine andere Kritik formulieren.
Bei allen Gesprächen, die ich mit der chinesischen
Seite geführt habe, insbesondere bei den letzten Ge-
sprächen, haben die Menschenrechte eine wirklich große
Rolle gespielt, insbesondere was die hochrangigen und
höchstrangigen Gespräche angeht. Beispielsweise wurde
nicht nur die Lage der Falun Gong, sondern vor allem in
den letzten zwei Gesprächen auch die Lage der Christen
in der Volksrepublik China angesprochen. Tibet und die
kulturelle Autonomie haben ebenfalls eine große Rolle
gespielt. Man muss aber ehrlicherweise sagen: Die chine-
sische Seite war schon einmal optimistischer, was die
konstruktive Entwicklung eines Kompromisses bezüglich
Tibets betrifft. Neuerdings hört man sehr deutlich, dass
man doch nicht glaubt, dass die tibetische Seite von einer
sezessionistischen Position Abstand genommen hat. Das
sind politische Erwägungen. Dies kann aber nicht die Un-
terdrückung der Menschenrechte oder des Verlangens
nach kultureller und religiöser Autonomie rechtfertigen.
Wir werden nicht müde, das zu sagen.
Gerade am Vorabend des Treffens im Rahmen der deutsch-
russischen Konsultationen ist es geboten, auf Tschetsche-
nien zu sprechen zu kommen. Ich habe in meiner Rede vor
der UNO-Menschenrechtskommission in Genf dies habe
ich vorher auch immer in Russland gesagt klargemacht
diese Rede wurde von der Opposition weder gelobt noch
kritisiert; ich begreife das sozusagen als ein stillschweigen-
des Lob , dass wir Menschenrechtsverletzungen aufs
schärfste verurteilen und kritisieren, von wem auch immer
sie begangen werden, und dass es keine Form von Terro-
rismusbekämpfung ist, unverhältnismäßig Gewalt einzu-
setzen oder gar Krieg gegen ein ganzes Volk zu führen und
damit das Land zu zerstören und eine humanitäre Kata-
strophe herbeizuführen. Außerdem habe ich ausgeführt,
dass es nicht akzeptabel ist und von uns niemals akzeptiert
wird, dass die dafür Verantwortlichen straffrei ausgehen
sollen. Wir wollen, dass eine politische Lösung unter Ein-
schluss der verantwortlichen Kräfte der tschetschenischen
Seite herbeigeführt wird. Kollege Geißler hat den Balkan
angeführt. Man kann an der Kaukasusregion nachvollzie-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Heiner Geißler
16050
hen, welche Entwicklungen es auf dem Balkan gegeben
hätte, nämlich eine Entwicklung der sich selbsterfüllenden
Prophezeiung, wenn wir dort nicht eingegriffen
und eine zivile Stabilisierung erreicht hätten. Das ist der
entscheidende Unterschied.
Meine Damen und Herren, ich habe Sie vorhin nach
Ihren Vorschlägen gefragt. Wenn Sie ernsthaft etwas än-
dern wollten, dann müssten Sie eine strategische Isolie-
rung Russlands vorschlagen. Mit einer strategischen Iso-
lierung Russlands würden wir aber das Gegenteil von dem
erreichen, wofür wir nicht nur aus menschenrechtlichen,
sondern auch aus friedenspolitischen Gründen stehen.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ich habe
der damaligen Bundesregierung zu diesem Punkt immer
nur vorgehalten, dass sie nicht Klartext redet. Wenn Sie
mir vorwerfen, dass ich nicht Klartext rede, dann sage ich
Ihnen: Das ist nicht richtig.
Ich habe keinen Schüttelfrost bekommen, als der Dalai
Lama vor mir stand und ein Geschenk überreichen wollte.
Das möchte ich einmal klar festhalten. Es gibt von
Bundeskanzler Gerhard Schröder bei seinem Chinabe-
such keine Verneigung vor der Volksarmee. Dieses Bild
werden Sie nicht gesehen haben.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir haben uns, ohne dass ich
darüber hinwegreden möchte, welche schweren Men-
schenrechtsverletzungen es auch heute noch gibt, für die
Einhaltung der Menschenrechte sehr engagiert eingesetzt
und werden uns auch weiterhin engagiert dafür einsetzen.
Die Lage in Genf ist alles andere als einfacher gewor-
den, meine Damen und Herren, und zwar deswegen, weil
es auch eine Veränderung des Kreises jener Staaten, die
jetzt der Menschenrechtskommission angehören, gibt. Ich
habe in meiner Rede in Genf darauf hingewiesen, dass wir
alle Versuche zurückweisen werden, zum Beispiel die
NGOs in ihrer Rolle herunterzustufen oder der Men-
schenrechtskommission neue Barrieren aufzubauen, und
zwar durch Staaten, die kein Interesse daran haben, dass
es dort zu einer wirksamen Menschenrechtspolitik
kommt.
Dass der F.D.P.-Antrag vom letzten Jahr nicht schon
vorher behandelt wurde, bedaure ich. Aber auch ohne ent-
sprechenden Beschluss des Bundestages haben wir auf
europäische Initiative hin eine entsprechende Tschetsche-
nien-Resolution verabschiedet.
Ich möchte auf einen weiteren Gesichtspunkt hinwei-
sen: Es wird immer wichtiger, dass wir als Europäer han-
deln.
Die Zeit eigener nationalstaatlicher Initiativen geht durch
die Annahme des Amsterdamer Vertrages, der von der
Vorgängerregierung ausgehandelt wurde, mit der Imple-
mentierung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspo-
litik zu Ende. Es wird immer wichtiger, dass Europa als
Ganzes handelt. Insofern freue ich mich, dass sich die Eu-
ropäische Union in diesem Jahr im Gegensatz zum letz-
ten Jahr, da war die Kritik berechtigt, allerdings nicht an
der Haltung der Bundesregierung, denn wir hätten uns
wesentlich mehr gewünscht aktiv für den amerikani-
schen Antrag zu China einsetzen will.
Herr Hübner, ich muss Ihnen ehrlich sagen: Auch bei
Ihnen im Kopf sollte der Kalte Krieg langsam aufhören.
Ich habe schon manche Rede von Ihnen gehört, die ich
wesentlich besser fand. Heute haben Sie eine klare La-
gerrede gehalten, als ob der Kalte Krieg noch nicht auf-
gehört hätte.
Entschuldigung, Herr Hübner, ich bin gern bereit, ernst-
haft in die Diskussion einzusteigen.
Auch wir hätten uns mehr gewünscht, aber das ist mit
den USA nicht zu machen, weil sie hierzu eine grundsätz-
lich andere Position vertreten. Ich hätte mir die Aufnahme
eines Absatzes über die Verurteilung der Todesstrafe und
ihres exzessiven Einsatzes in China gewünscht. Aber das
kann kein Grund dafür sein zu sagen: Weil dies nicht ge-
schehen ist, wollen wir keine entsprechende Resolution
der USA unterstützen, die ansonsten richtige Dinge hin-
sichtlich der Menschenrechtssituation in China beinhaltet.
Das ist doch nicht logisch, zumal die Europäische Union
eine eigene Todesstrafenresolution einbringen wird. Es ist
ja nicht so, dass wir hier untätig bleiben.
Ich möchte Ihnen noch etwas sagen: Diese Bundesre-
gierung klagt gegen einen wichtigen Bündnispartner das
dürfen wir auch nicht vergessen ,
nämlich gegen die USA, weil zwei unserer Staatsbürger,
die schwerster Verbrechen für schuldig befunden, verur-
teilt und hingerichtet wurden, in ihren Rechten beschnit-
ten wurden. Das wollen wir grundsätzlich geklärt haben.
Deswegen klagen wir vor dem Internationalen Gerichts-
hof.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Bundesminister Joseph Fischer
16051
Es gibt noch viele Punkte, die ich gern ansprechen
würde: nicht nur Tschetschenien, nicht nur Russland, nicht
nur die Todesstrafe oder die dramatische Menschenrechts-
situation heute konnte ich sie mit dem kongolesischen
Staatspräsidenten besprechen in Sierra Leone. Dazu
gehören auch die dramatischen Situationen an den Großen
Seen und im Süden des Sudan, um den sich die Kollegen
Geißler und Blüm intensiv bemüht haben. Dies alles be-
darf unserer verstärkten Aufmerksamkeit. Dazu gehört
nicht zuletzt auch Afghanistan, wo gerade die Unter-
drückung von Frauen und Mädchen und auch die kultu-
relle Barbarei eine furchtbare Dimension erreicht haben.
Ich möchte an diesem Punkt die Position der Bundes-
regierung nochmals zusammenfassend darstellen: Wir
werden uns mit aller Kraft für die Beachtung der Men-
schenrechte einsetzen. Ich wiederhole es: Menschen-
rechtspolitik ist im 21. Jahrhundert Friedenspolitik. Stabi-
lität und eine nachhaltige Entwicklung jenseits der
Menschenrechte gründend auf der Unterdrückung von
Menschen wird es nicht geben. Das ist unsere Position.
Das werden wir auch in Zukunft zu einem zentralen Eck-
pfeiler unserer Außen- und Menschenrechtspolitik ma-
chen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.
Frau Präsi-
dentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Menschen-
rechte sind unteilbar! Dies ist ein Satz, den wir jeder auf
seine Art und Weise, Hermann Gröhe, wir im RCDS
lange plakatiert haben und der nach wie vor gilt. Men-
schenrechte sind auch nicht kompromissfähig. Men-
schenrechte sind letztendlich der Rigorosität des morali-
schen Anspruchs unterworfen. Die Politik muss den
Kompromiss suchen.
Aus diesem Dilemma heraus entsteht eine Diskussion,
die bei der Rede des Bundesaußenministers eine Minute
lang ich glaube, es war in der dritten oder vierten Mi-
nute anklang. Da hat er das gemacht, was er schon ein-
mal gemacht hat, nämlich als er noch auf dem Sitz des Op-
positionsführers seiner Fraktion saß,
indem er sagte, dass die Einforderung von Menschen-
rechten in der Realität der politischen Verantwortung die
Schwierigkeit ist. Dass Sie sich dieser Schwierigkeit un-
terziehen und am Anfang in einer lassen Sie es mich so
formulieren bemerkenswert kleinlauten Art und Weise
Ihren eigenen Bericht angesprochen haben, zeigt, dass Sie
in der harten und bitteren Wirklichkeit angekommen sind.
Ich empfehle, dass Sie deswegen nicht den Versuch
fortführen, sich aus ehemaligem Oppositionsdenken he-
raus zu rigorosen Anforderungen aufzuschwingen. Wenn
ich mich an all das, was Sie zu Tschetschenien gefordert
haben, erinnere ich muss es wiederholen; es ist in den
Protokollen des Deutschen Bundestages aus den Jah-
ren 1995 und 1996 nachlesbar , dann muss ich feststel-
len: Es waren dies nicht nur lautere Ziele, sondern das
ging sogar bis zum Boykott. Heute hört man nichts mehr
davon.
Ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf.
Das müssen sich diejenigen schon anhören, die dies wie
eine Monstranz vor sich hertragen und die so tun, als ob
nun mit dem Regierungsantritt der rot-grünen Koalition
eine neue Ära der Menschenrechte begonnen hätte, wie es
der Kollege aus der SPD dargestellt hat.
Aber ich stelle fest, dass das nicht mit der Realität über-
einstimmt.
In Ihrem Bericht steht kleinlaut der Satz er ist zwar
gut, aber er muss mit Leben erfüllt werden , dass in den
Grundüberzeugungen eine breite Übereinstimmung mit
der politischen Opposition Sie meinen vermutlich die
Opposition im Bundestag und den gesellschaftlichen
Gruppen besteht, die einen sinnvollen, fruchtbaren und
auch kritischen Dialog ermöglichen.
Lassen Sie mich noch hinzufügen: Ich freue mich sehr,
dass der Kollege Poppe hier ist. Ich sage deswegen Kol-
lege, weil wir ihn aus seiner Arbeit im Auswärtigen Aus-
schuss zu einer Zeit kennen, als es noch keinen Menschen-
rechtsausschuss gab und sich der Auswärtige Ausschuss
vielleicht mehr, als das heute der Fall ist mit diesen
Themen beschäftigt hat. Für einen Vollausschuss ist es ein
Problem, sich mit einer solchen Querschnittsaufgabe wie
den Menschenrechten zu beschäftigen. Ich will ihm nicht
seine Legitimation absprechen, aber es besteht die Gefahr,
dass diese Querschnittsaufgabe in die politische Hinter-
kammer geschoben wird.
Ich freue mich, dass Gerd Poppe eine gewisse Verbin-
dung zu Menschenrechten und Außenpolitik verkörpert.
Durch seine Herkunft ist er legitimiert und geradezu prä-
destiniert, über diese Fragen zu reden. Der Blick auf die
Personalausstattung, über die ich auf Seite 113 Ihres Be-
richts etwas lese, verrät mir, dass es einen persönlichen
Referenten gibt. Ich bin versucht zu sagen: Armer Gerd
Poppe. Aber zu einem persönlichen Referenten kann ich
nur sagen: Chapeau.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Bundesminister Joseph Fischer
16052
Dazu gibt es einen Arbeitsstab für Menschenrechte,
der sich angeblich so sehr verändert hat. Die Veränderung
besteht darin, dass im Bundesministerium für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und Entwicklung der Sachbearbei-
terposten von einer halben auf eine ganze Stelle erhöht
worden ist. Ansonsten hat sich nichts geändert.
Dies geschah möglicherweise aus der Einsicht heraus,
dass eine Wirkung auch mit diesem Mitarbeiterstab zu er-
reichen ist. Sie sollten dann aber nicht den Eindruck er-
wecken, Sie hätten eine Revolution für die Menschen-
rechte ausgelöst.
Ich will noch zwei Punkte ansprechen.
Hören Sie zu. Das ist besser, als dazwischenzurufen. Le-
sen Sie Ihren eigenen Bericht. Gehen Sie dann in den
Haushaltsausschuss und fordern für den Kollegen mehr
Geld für die Menschenrechte. Er braucht zwar auch für
andere Aufgaben Geld, aber tun Sie wenigstens in diesem
Bereich etwas für ihn.
Natürlich kann man bei den Menschenrechten auch ohne
Planstellen etwas bewirken.
Zum Thema Tschetschenien das muss ich Ihnen
schon sagen, Kollege Bindig : Der Europarat hat hier
seine Arbeit getan. Den Kolleginnen und Kollegen aller
Fraktionen, die sich in der Parlamentarischen Versamm-
lung des Europarats mit dem Problem Tschetschenien und
Russland auseinander gesetzt haben, sollten wir alle un-
seren herzlichen Dank aussprechen.
Was ist neu? Ich will zwei Punkte nennen, weil ich
nicht mehr Zeit habe. Der eine Punkt ist die Verfolgung
von Religionen, von christlichen Religionsgemein-
schaften. Wir haben eine Große Anfrage eingebracht,
Hermann Gröhe hat sich sehr intensiv um dieses Thema
gekümmert. Die Türkei beispielsweise ist trotz ihrer Bei-
trittspartnerschaft zur EU nach wie vor ein sehr proble-
matisches Land; das Problem der Christenverfolgung in
der Türkei und in anderen Ländern müsste und sollte für
uns ein Schwerpunkt sein. Das vermisse ich hier und ich
bitte darum, dieses Thema in Zukunft mit aufzunehmen.
Bei diesem Thema muss mit Überzeugungskraft ver-
sucht werden vor dem Hintergrund dessen, was Heiner
Geißler über den Islam gesagt hat , den Dialog der Reli-
gionen auf dieser Ebene fortzusetzen.
Ein zweiter Punkt: Was ist neu außer der Tatsache, dass
es immer noch viele Menschenrechtsverletzungen gibt,
von denen man ab und zu Gott sei Dank einige mildern
kann? Neu ist, was auf den Seiten 114 und 115 des Be-
richts steht. An dieser Stelle ist nicht sehr viel Informati-
ves enthalten, aber es sind sehr viele Internetadressen auf-
geführt. Die Freiheit der Information und der Zugang zu
Informationsmöglichkeiten können vielleicht mehr für
die Durchsetzung der Menschenrechte bewirken als man-
che Appelle und Resolutionen. Wenn das Internet in
China stärker verbreitet wäre und die Zugangsmöglich-
keiten besser wären, wären dort die Möglichkeiten für die
Bewusstseinsbildung und für den Vergleich anhand der
Maßstäbe der Allgemeinen Erklärung der Menschen-
rechte besser.
Deswegen sollten wir bei Gesprächen mit unseren
amerikanischen Partnern für technologische Fragen
sind sie ja immer ansprechbar überlegen, ob nicht ge-
rade in der Verbesserung des Zugangs zur Informations-
technologie ein Schwerpunkt unserer praktischen Men-
schenrechtsarbeit liegen sollte. Vielleicht kann dann Ihr
Bericht beim nächsten Mal etwas umfangreicher und ge-
haltvoller ausfallen, Herr Außenminister.
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zu den Überweisungen und Abstimmun-
gen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3186 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Antrag der Fraktion der SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen zur 57. Tagung der Menschenrechtskommission der
Vereinten Nationen. Wer stimmt für diesen Antrag auf
Drucksache 14/5768? Wer stimmt dagegen? Enthal-
tungen? Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P.
bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschen-
rechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion
der F.D.P. für ein stärkeres deutsches Engagement auf der
57. Sitzung der Menschenrechtskommission der Verein-
ten Nationen. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/5452 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? Enthaltun-
gen? Die Beschlussempfehlung ist wiederum mit den
Stimmen der Koalitionsfraktion gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenom-
men worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschen-
rechte und humanitäre Hilfe zu dem 5. Bericht der Bun-
desregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den aus-
wärtigen Beziehungen. Der Ausschuss empfiehlt, in
Kenntnis des Berichts der Bundesregierung auf Drucksa-
che 14/3739 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? Gibt
es Gegenstimmen? Gibt es Enthaltungen? Die Be-
schlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/5801. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Christian Schmidt
16053
Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen von
CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen der PDS abge-
lehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie den Zusatz-
punkt 9 auf:
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Karl-Josef Laumann, Gunnar
Uldall, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Für mehr Wettbewerb und Subsidiarität in den
sozialen Sicherungssystemen durch Neuorga-
nisation der aktiven Arbeitsmarktpolitik die
Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland senken
Drucksache 14/5552
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus
Grehn, Pia Maier, Dr. Heidi Knake-Werner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Zusätzliche Arbeitsplätze fördern soziale Si-
cherungssysteme festigen
Drucksache 14/5794
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeord-
nete Birgit Schnieber-Jastram. Sie steht auch bereits am
Rednerpult.
Frau Prä-
sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Brandner von der SPD, Sie haben mir in einer Debatte
letzte Woche vorgeworfen, dass ich die Bilanz der jet-
zigen Regierung beim Abbau der Arbeitslosigkeit völlig
ignorierte. Diesen Vorwurf möchte ich mir heute nicht
wieder einhandeln. Deshalb möchte ich gleich zu Beginn
meiner Rede auf die Arbeitsmarktzahlen des letzten
Monats eingehen.
Die saisonbereinigte Zahl der Erwerbslosen ist um
12 000 gestiegen. Der Arbeitsmarkt verzeichnet den ge-
ringsten Rückgang bei der Arbeitslosigkeit in einem März
seit der Wiedervereinigung, also seit März 1991, und auch
die Langzeitarbeitslosigkeit in den neuen Ländern hat
ihren Höchststand erreicht.
Trotz der bislang boomenden Weltkonjunktur ist es Ihnen
nicht gelungen, die Erwerbslosenzahl real zu senken. Sie
versagen beim Abbau der Arbeitslosigkeit auf der ganzen
Linie und verharren in Ihrer Mischung aus Arroganz und
Ignoranz.
Die Arbeitsmarktbilanz von Rot-Grün, Herr von
Larcher, ist miserabel
und diese Erkenntnis hat sich inzwischen allgemein
durchgesetzt. Ich lese Ihnen gerne einige Zitate zu Ihrer
Arbeitsmarktpolitik vor. Klaus Zwickel erklärte letzten
Sonntag gegenüber der Berliner Zeitung:
Gemessen an den hervorragenden Rahmenbedingun-
gen ist die Beschäftigungsbilanz vollkommen unbe-
friedigend ausgefallen.
Das erklärt immerhin der Chef der IG Metall. Der Präsident
des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Dieter
Philipp, erklärte, bei der Beschäftigungsentwicklung werde
es bestenfalls eine rote bis schwarze Null geben. Der Präsi-
dent des Bundesverbandes der Deutschen Industrie,
Michael Rogowski, hat gestern erklärt:
Das Ziel des Bundeskanzlers, 3,5 Millionen Arbeits-
lose bis 2002, ist nicht sehr herausfordernd. Aber
selbst dieser vorsichtige Ansatz ist nicht gesichert.
Die Regierung Schröder dafür tragen Sie von den
Grünen die Verantwortung mit wollte beim Abbau der
Arbeitslosigkeit wie ein Rennpferd starten. Aber sie ist
schnell in den Trott eines alten Brauereigauls verfallen
und ist inzwischen beim Rhythmus eines Schaukelpferdes
angekommen: ein bisschen vor, ein bisschen zurück. Aber
in Wirklichkeit bewegt sich nichts auf dem Arbeitsmarkt.
Nachdem ich Ihrem Wunsch, Herr Brandner, nachge-
kommen bin und die Bilanz der Bundesregierung bei der
Arbeitsmarktpolitik gebührend gewürdigt habe,
möchte ich jetzt auf unseren vorliegenden Antrag einge-
hen, der sich mit der Verwendung von sage und schreibe
rund 45 Milliarden DM beschäftigt, die von der Bundes-
regierung und von der Bundesanstalt für Arbeit im letzten
Jahr weitgehend ohne Effizienzkontrolle für die aktive
Arbeitsmarktpolitik ausgegeben worden sind.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
16054
Auch das ist übrigens ein entscheidender Faktor dafür,
dass die Langzeitarbeitslosigkeit entgegen Ihren Verspre-
chungen nicht abnimmt und die Beiträge zur Arbeitslo-
senversicherung eben nicht gesenkt werden können.
Zwei renommierte Wirtschaftsinstitute haben Gutach-
ten zur Wirksamkeit und Effizienz der durchgeführten ar-
beitsmarktpolitischen Maßnahmen vorgelegt. Der Auftrag
zur Prüfung dieser Maßnahmen kam erstaunlicherweise
nicht aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozial-
ordnung, sondern aus dem Bundesfinanzministerium. Es
hat den Anschein, als ob der Bundesfinanzminister ernst-
haft Sorge hat, was denn sein Kollege Riester mit den rund
45 Milliarden DM Steuergeldern und den Versicherungs-
beiträgen, die alle einzahlen, so treibt. Sähe er nämlich
keinen Anlass zur Sorge in diesem Bereich, hätte er wohl
kaum Nachforschungen bezüglich dieser Mittel angestellt.
Das Ergebnis der Studien lieber Herr Brandner, neh-
men Sie das zur Kenntnis ist verheerend und besagt zu-
sammengefasst Folgendes: Die Bundesregierung und die
Bundesanstalt für Arbeit wissen so gut wie gar nichts über
den Erfolg von rund 45 Milliarden DM Steuergeldern und
Arbeitslosenversicherungsbeiträgen, die jährlich nach
dem Gießkannenprinzip verteilt werden.
Einigen Maßnahmen wird sogar bescheinigt, dass durch
sie die Chancen der Erwerbslosen auf dem Arbeitsmarkt
nicht verbessert, sondern eher verschlechtert werden.
Das ist in den Antworten auf eine Anfrage unserer Frak-
tion im Januar 2000 und im März dieses Jahres bestätigt
worden. Da sich die Bundesregierung offensichtlich nicht
zum Handeln aufraffen kann Frau Dr. Dückert, ich sage
es noch einmal: Die Grünen tragen diese Untätigkeit samt
und sonders mit , hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
den vorliegenden Antrag eingebracht.
Ich möchte Ihnen ein anschauliches Beispiel für die
fehlende Kontrolle der Bundesregierung geben, wobei zu
berücksichtigen ist,
dass der Bundesarbeitsminister nicht nur in der Selbstver-
waltung der Bundesanstalt für Arbeit eine entscheidende
Rolle spielt, sondern auch den Haushalt der Bundesanstalt
genehmigt. Das angeblich so erfolgreiche Sofortpro-
gramm
zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, das so genannte
JUMP-Programm, kostet seit 1999 jedes Jahr 2 Milli-
arden DM.
Der einzige bisher festzustellende Erfolg ist ein Rückgang
der Jugendarbeitslosigkeit in den letzten zwei Jahren um
20 000 Jugendliche. Nach Adam Riese hat also jeder er-
werbslose Jugendliche weniger rund 200 000 DM gekostet.
Ich freue mich wirklich über jeden Jugendlichen, der in
Lohn und Brot kommt, aber 200 000 DM pro vermittelten
Jugendlichen ist schon eine enorme Summe. Das werden
Sie doch noch zugeben können.
Es ist wirklich dringend nötig, an dieser Stelle einmal
nachzuforschen: Wie kommen solche immensen Ausga-
ben eigentlich zustande? Eine aussagekräftige Eva-
luierung des JUMP-Programms soll laut Aussage der
Bundesregierung aber erst 2004 vorliegen. Mit anderen
Worten: 10 bis 12 Milliarden DM an Beiträgen werden
erst einmal in dieses Programm gesteckt, bis sein Erfolg,
sein Nutzen und seine Effizienz dann endgültig einge-
schätzt werden können.
Ich sage Ihnen, da müssten eigentlich alle Alarmglocken
bei Ihnen läuten. Sogar die Zeitschrift der IG Metall,
die sich nun wahrlich nicht für den Abbau von Arbeits-
marktprogrammen einsetzt, schreibt:
Tausende Jugendliche werden in wenig sinnvollen
Trainingsmaßnahmen, Praktika oder Berufsbil-
dungsjahren geparkt. Damit sind sie zwar aus der
Arbeitslosenstatistik verschwunden, aber nicht mit
regulären Ausbildungsplätzen versorgt.
Das ist der Punkt.
Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, es ist wirklich schwer, wenn man un-
unterbrochen gegen Zwischenrufe anreden muss.
Bei so wenigen Abgeordneten im Plenum ist das trotz-
dem schwer, glaube ich.
Die Bun-
desregierung und die Bundesanstalt für Arbeit verhalten
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Birgit Schnieber-Jastram
16055
sich wie jemand, der ein Auto kauft und nach fünf Jahren
zum allerersten Mal fragt, wie hoch der Spritverbrauch
ist. Das derzeitige Controlling arbeitsmarktpolitischer
Maßnahmen ist ungenügend. Bei keiner Maßnahme wird
geprüft, ob denn der Teilnehmer auch in eine Beschäfti-
gung des ersten Arbeitsmarkts vermittelt wird. Es wird
einzig und allein festgehalten, ob der Teilnehmer sich ein
halbes Jahr nach der Beendigung des Programms wieder
arbeitslos gemeldet hat. Das sagt ja nun so gut wie gar
nichts über den Erfolg im Hinblick auf die eigentliche
Zielsetzung aus, nämlich den Erwerbslosen wieder einen
regulären Job zu vermitteln.
Der entscheidende Schwachpunkt bei der heutigen
Praxis der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist doch eindeutig,
nämlich dass die Bewertung nach Teilnehmerzahlen er-
folgt und nicht nach Vermittlungszahlen. Hohe Teilneh-
merzahlen werden hochgejubelt. Was nach der Maß-
nahme mit den Menschen passiert, wird weder überprüft
noch wahrgenommen.
Es ist ein Unding, dass sich diese Bundesregierung fei-
ern lässt, weil immer mehr Milliarden in Programme ge-
steckt werden, und gleichzeitig das Einmaleins der kauf-
männischen Buchführung nicht sichergestellt ist.
Jeder Mittelständler, der nicht wüsste, was mit seinem
Geld geschieht, stünde ganz schnell vor dem Konkurs,
nicht aber dieser Bundesarbeitsminister,
denn dessen Milliarden werden ja täglich von Beitrags-
und Steuerzahlern neu aufgebracht. Deswegen tun Sie de-
nen, die ohne Arbeit sind, den Gefallen: Machen Sie sich
Gedanken darüber, wie man diese Mittel wirklich effi-
zienter einsetzen kann.
Liebe Frau Kollegin, ich muss an dieser Stelle sagen: Sie
sind nun eine gute Zeit im Amt und Sie müssen sich heute
und hier an Ihren Aussagen messen lassen
und können nicht dauernd darauf verweisen, was wir
falsch gemacht haben.
Wir sind damals nicht erneut gewählt worden. Wir treten
jetzt an und versuchen, vieles besser zu machen. Aber Sie
werden an dem gemessen, was Sie damals versprochen
haben, und dieses Versprechen haben Sie nicht gehalten.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Andrea Nahles.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Frau Schnieber-
Jastram, stellen Sie Ihren Rückspiegel bitte noch einmal
ein. Im Jahr 1997, dem Jahr, in dem das letzte Ihrer
grundlegenden Reformgesetze zur Arbeitsförderung in
Kraft getreten ist, ist die Arbeitslosigkeit im Jahresdurch-
schnitt um 419 000 Personen auf 4,3 Millionen Personen
gestiegen. Sie stellen sich in einem Akt der Selbstverges-
senheit, der mich schon nachdenklich macht, hier hin und
prangern an, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit
nicht ganz so hoch ist, wie Sie und wie wir es uns viel-
leicht gewünscht hätten.
Da kann ich nur sagen: Vielleicht ist das ein bisschen wie
das Pfeifen im Walde. Während Sie die Trendwende auf
dem Arbeitsmarkt immer proklamiert haben jedes neue
Gesetz sollte dazu beitragen ,
haben wir in den letzten zwei Jahren die Trendwende auf
dem Arbeitsmarkt geschafft, Frau Schnieber-Jastram.
Die Arbeitslosigkeit ist im Jahre 2000 auf weniger als
3,9 Millionen gesunken. Sie liegt damit zum ersten Mal
seit 1996 im Jahresdurchschnitt unter 4 Millionen.
Auch die Arbeitslosenzahl im März 2001 liegt unter
4 Millionen.
Das bedeutet, dass immerhin 141 000 Menschen weniger
als im letzten Jahr arbeitslos sind.
Viel positiver ist, dass die Zahl der Erwerbstätigen
zunimmt. Die Anzahl der Erwerbstätigen ist in den letzten
beiden Jahren sogar um 1 Million angestiegen.
Ich gebe gerne zu: Auch wir hätten uns einen deutli-
cheren Frühjahrsaufschwung gewünscht.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Birgit Schnieber-Jastram
16056
Aber wir reden immer noch über den niedrigsten Ar-
beitslosenstand seit März 1995.
Deswegen besteht kein Grund zur Panikmache. Es besteht
schon gar kein Grund, ein Fünfpunkteprogramm wie die
F.D.P. es will zur Beseitigung einer Konjunkturflaute
aufzulegen.
Sehr geehrter Herr Niebel, kümmern Sie sich doch lie-
ber um die Konjunkturflaute Ihrer Partei und überlassen
Sie die Förderung des Wirtschaftswachstums besser uns!
Als Rheinland-Pfälzerin erlaube ich mir diesen Hinweis.
Meine Damen und Herren der Opposition, seit zwei
Jahren hat Ihre Platte einen Sprung. Irgendwie schaffen
Sie es nicht, die Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Es geht
um das, was wir für den Arbeitsmarkt, für die Ankur-
belung des Wirtschaftswachstums gemacht haben. Des-
wegen muss ich Sie in diesem Zusammenhang leider auf
einige wesentliche Punkte aufmerksam machen. Sie igno-
rieren beharrlich, dass wir eine Steuerreform durchge-
führt haben, die vor allem kleinere und mittlere Firmen
entlastet.
Die Nettoentlastung von 29,8 Milliarden DM ist ein wich-
tiger Beitrag für Investitionen in neue Arbeitsplätze. Da-
rüber hinaus haben wir die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer um 65 Milliarden DM entlastet.
Das kurbelt die Binnenkonjunktur an.
Unser Wahlkampfversprechen, auf dem Arbeitsmarkt
endlich einmal Ordnung zu schaffen, haben wir ebenfalls
umgesetzt: 630-Mark-Gesetz, Arbeitnehmer-Entsendege-
setz, Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit, Teilzeit-
und Befristungsgesetz und Bekämpfung der illegalen Be-
schäftigung. Unsere Bilanz kann sich sehen lassen. Wir
haben die Verkrustungen der Kohl-Ära aufgebrochen und
auch auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik den Re-
formstau beendet.
Selbstverständlich geben wir uns mit dieser Entwick-
lung nicht zufrieden. Wir lassen uns das Erreichen unse-
rer Ziele etwas kosten. Wir werden in den nächsten Jah-
ren die Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik auf hohem
Niveau fortführen. Ich darf sagen: Wir müssen das auch
tun, weil es nun einmal zynisch ist, die jungen Leute oder
auch die älteren Arbeitslosen in einigen Regionen ich
spreche insbesondere über die neuen Bundesländer ein-
fach zu mehr Eigeninitiative aufzufordern,
obwohl ihnen reale Perspektiven auf dem ersten Arbeits-
markt fehlen. Deswegen brauchen wir dort eine aktive Ar-
beitsmarktpolitik auf hohem Niveau. Die wird diese Re-
gierung betreiben.
Frau Schnieber-Jastram, Sie haben eben vom Gießkan-
nenprinzip gesprochen. Ich habe wohl nicht richtig auf-
gepasst: Es war doch die alte Koalition, die es in den
letzten Jahren versäumt hat, eine konsequente Ziel-
gruppenorientierung bei der Arbeitsmarktpolitik einzu-
führen. Das haben doch erst wir und nicht Sie gemacht.
Natürlich. Ich nenne beispielsweise das JUMP-Pro-
gramm, mit dem wir 276 000 jungen Menschen eine Per-
spektive gegeben haben.
Die Jugendarbeitslosigkeit wurde um 7,6 Prozent ge-
senkt, Frau Schnieber-Jastram. Sie müssen sich einmal
die Zahlen vergegenwärtigen. Ich nenne ferner die
50 000 neuen Jobs für Schwerbehinderte. Wer hat das
auf den Weg gebracht? Das war doch diese Bundes-
regierung.
Man darf in diesem Zusammenhang insbesondere die
Integration der älteren Arbeitnehmer nicht vergessen,
auf die ich etwas ausführlicher eingehen möchte.
Wir haben die Förderungsmöglichkeiten für Arbeitslose,
die das 55. Lebensjahr vollendet haben, verbessert, indem
diese Menschen fünf Jahre in speziell für sie eingerich-
tete Strukturanpassungsmaßnahmen eingegliedert wer-
den und dort eine Beschäftigung finden können.
Der Effekt war, dass die Arbeitslosigkeit bei Älteren im
Westen um 14,8 Prozent und das finde ich sehr erfreu-
lich im Osten um 13,8 Prozent gesunken ist. Wir kön-
nen nicht für alle Gruppen auf dem Arbeitsmarkt, wie das
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Andrea Nahles
16057
für die Gruppe der älteren Arbeitnehmer der Fall ist, sa-
gen, dass es eine Angleichung beim Rückgang der Ar-
beitslosigkeit zwischen Ost und West gibt. Es waren un-
sere Strukturanpassungsmaßnahmen, die sich hier positiv
ausgewirkt haben.
Es ist auch zu begrüßen, dass die Bundesanstalt für Ar-
beit die aktive Vermittlungsaktion 50 Plus die können
es gestartet hat und diese auch weiter unterstützen wird.
Wir bleiben weiter an diesen wichtigen Punkten dran. Wir
wollen die Langzeitarbeitslosigkeit bekämpfen, bevor sie
entsteht.
Am 4. März hat das Bündnis für Arbeit einen wichti-
gen Beitrag geleistet.
Nehmen Sie das einmal zur Kenntnis. Gemeinsam ha-
ben Arbeitgeber und Arbeitnehmer beschlossen, dass
Langzeitarbeitslosigkeit schon dann bekämpft werden
muss, wenn sie sich abzeichnet. Deswegen wollen wir im
Rahmen unserer SGB-III-Reform dafür sorgen, dass man
nicht erst nach sechs Monaten, nachdem die Arbeitslosig-
keit eingetreten ist, feststellt wie es jetzt der Fall ist , es
könne Langzeitarbeitslosigkeit drohen. Es soll vielmehr
sofort beim Eintritt der Arbeitslosigkeit das Risiko fest-
gestellt und dann mit geeigneten Qualifizierungs- und Be-
schäftigungsmaßnahmen versucht werden, zu verhindern,
dass Langzeitarbeitslosigkeit überhaupt entsteht. Das ist
ein ganz entscheidender Punkt, den wir im Rahmen der
SGB-III-Reform anstreben.
Ich will zu einem anderen wichtigen Punkt überleiten.
Wir wollen mit unserer SGB-III-Reform die arbeitslosen
Menschen dort abholen, wo sie stehen. Schwächen und
Stärken müssen frühzeitiger erkannt werden, als es heute
der Fall ist. Genauso individuell müssen aber auch Maß-
nahmen der Qualifizierung und der Vermittlung der Ar-
beitsämter auf den Einzelnen eingehen. Das Instrument,
das für eine zügige Wiedereingliederung notwendig ist, ist
der individuelle Eingliederungsplan. Ich würde sogar
von der individuellen Eingliederungsvereinbarung spre-
chen.
Wir wollen eine neue Philosophie in die Arbeitsmarkt-
politik einbringen.
Diese Philosophie beinhaltet, dass wir Arbeitslose nicht
mehr an den Pranger stellen, sondern dass wir sie dazu
einladen, sich gemeinsam mit den Arbeitsvermittlern an
einen Tisch zu setzen, um konkrete Vereinbarungen zu
treffen. Nach unseren Vorstellungen sollen sich Arbeits-
vermittler und Arbeitslose auf gleicher Augenhöhe be-
gegnen.
Wir wollen konkrete Perspektiven im Rahmen des
Eingliederungsplanes anbieten. Auf der anderen Seite
muss es aber auch die aktive Mitarbeit der Betroffenen ge-
ben. Deswegen setzt die rot-grüne Bundesregierung auf
eine Kultur des verpflichtenden Miteinanders und nicht
auf eine Kultur des Anprangerns von Menschen, denen
wir keine realistischen Chancen eingeräumt haben.
In diesem Sinne hoffe ich, dass wir neben dem Ein-
gliederungsplan noch etwas im Bewusstsein etablieren
können sowohl der Arbeitgeber und Arbeitnehmer als
auch derer, die Arbeit vermitteln sollen , was in der Ver-
gangenheit noch nicht ausreichend gewürdigt worden ist:
die Qualifizierung. Wir haben mit dem Instrument der
Jobrotation hier einen ersten wichtigen Vorschlag ge-
macht;
denn das schafft auf der einen Seite eine Chance für Ar-
beitslose, wieder in den Beruf integriert zu werden, und
verhindert auf der anderen Seite einen Qualifika-
tionsabfall. Ich glaube, sagen zu können, dass Jobrotation
gut für dauerhafte Beschäftigung in diesem Land ist, auch
für ältere Arbeitnehmer und Langzeitarbeitslose; denn oft
entsteht Arbeitslosigkeit, weil das Qualifikationsniveau
zurückgegangen ist. Das können wir damit vermeiden.
Diese SGB-III-Reform wird also zwei Schwerpunkte
setzen: Sie wird den Schwerpunkt auf Vermittlung setzen
und dabei faire Bedingungen im Sinne des Forderns und
Förderns schaffen und sie wird eine neue Mentalität, ein
neues Bewusstsein für die Bedeutung von Qualifizierung
und Weiterbildung etablieren. Deswegen glaube ich, dass
wir hier auf einem guten Weg sind, dass unsere positive
Arbeitsmarktbilanz fortgesetzt werden kann, auch wenn
die Konjunktur schwächelt. Ich sage Ihnen: Eine Wolke
macht noch keinen Regen, eine Schwalbe macht noch kei-
nen Sommer.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Nahles, Sie
waren kurz davor, etwas zu schaffen, was bisher noch
nicht viele Leute geschafft haben, obwohl sie es probiert
haben: Ich war nahe am Rande der Sprachlosigkeit.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Andrea Nahles
16058
Sie sind Literaturwissenschaftlerin, aber ich muss Sie
darauf hinweisen: Dies hier ist der Deutsche Bundestag,
wir reden über Langzeitarbeitslosigkeit und das ist kein
Seminar für Politlyrik. Ich verstehe gar nicht, was Sie er-
zählt haben, was die Regierung bisher gemacht hat.
Es geht hier darum, die größte Freiheitsberaubung, die
man Menschen in einer Gesellschaft wie der unsrigen zu-
fügen kann, nämlich die Arbeitslosigkeit, so schnell wie
möglich zu beenden.
In dieser Gesellschaft definiert man sich im Wesentlichen
über Erwerbsarbeit. Erwerbsarbeit ist der Schlüssel zur
Teilhabe an dieser Gesellschaft und Sie erzählen hier ir-
gendetwas aus einem Exkurs der Jungsozialisten, was mit
der Realität überhaupt nichts zu tun hat.
Das war wirklich unerträglich.
Sie müssen, wenn Sie Langzeitarbeitslosigkeit
bekämpfen wollen, bei der Notwendigkeit ansetzen, mehr
Arbeitsplätze zu schaffen. Das A und O bei der Bekämp-
fung von Arbeitslosigkeit ist nun einmal, dass Arbeits-
plätze geschaffen werden, und Arbeitsplätze schaffen Sie
nicht mit einer stockenden Konjunktur. Warum stockt
denn die Konjunktur? Lassen Sie uns doch einmal die Ar-
beitsmarktpolitik dieser Regierung durchdeklinieren.
Das ging unmittelbar nach der Bundestagswahl mit der
Absenkung des Schwellenwertes beim Kündigungsschutz
auf fünf Arbeitnehmer los. Die alte Regierung hat den
Schwellenwert bei zehn Arbeitnehmern eingeführt, Sie
haben ihn auf fünf heruntergeschraubt. Was war das Er-
gebnis? Ergebnis war nicht nur, dass der sechste Arbeit-
nehmer nicht mehr eingestellt worden ist, sondern auch,
dass der siebte, der achte und der neunte nicht mehr ein-
gestellt worden sind.
Der nächste Schritt war die Neuregelung der so ge-
nannten 630-Mark-Beschäftigungsverhältnisse. Sie ver-
kaufen diese als den großen Wurf und erzählen von Zu-
wachs bei der Beschäftigung. Jetzt schauen Sie doch
einmal, wer dort alles gestrichelt wird: Das sind die Schü-
lerinnen und Schüler, die Studentinnen und Studenten, die
Hausfrauen und die Rentner, die diese Tätigkeiten über-
nommen haben, weil es sich für die, die nebenher gear-
beitet haben, nicht mehr rentiert hat. Diejenigen aber, die
sich jetzt in diesen Beschäftigungsverhältnissen befinden,
waren in der Statistik der Beschäftigten zuvor gar nicht er-
fasst. Das ist Ihr Beschäftigungszuwachs.
Sie schaffen es noch nicht einmal, beim Abbau der Ar-
beitslosigkeit die demographische Entwicklung zu be-
rücksichtigen. Pro Jahr verlassen aufgrund des Alters
250 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr den
Arbeitsmarkt, als neue hinzukommen, und Sie verkaufen
uns als Erfolg einen Rückgang der Arbeitslosenzahl um
140 000. Da hätten Sie unterm Stein sitzen und gar nicht
regieren können und mehr erreicht.
Dann kam das Gesetz über die so genannte Schein-
selbstständigkeit, eine Katastrophe für kleine Betriebe,
Unsicherheit in allen Branchen im gesamten wirt-
schaftlichen Bereich Ihre Politik!
Der nächste Schritt ist jetzt das Teilzeitpflichtgesetz. Das
wird klasse. Die meisten Betriebe haben noch gar nicht
realisiert, was da auf sie zukommt. Damit werden Sie
noch eine Menge Freude haben. Im Endeffekt wird es nur
dazu führen, dass so viele Betriebe wie nur irgend mög-
lich versuchen, unter dem neuen Schwellenwert von
15 Mitarbeitern zu bleiben.
Heute Morgen haben wir über die Reform des
Betriebsverfassungsgesetzes debattiert. Sie sehen in
dem Entwurf die zwangsweise Bildung von Betriebsräten
in Betrieben mit mehr als fünf Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeitern sowie Freistellungen für den Betriebsrat diese
Leute kosten ja auch Geld in Betrieben mit mehr als
200 Beschäftigten vor. Auch die Einflussnahme auf die
unternehmerische Freiheit führt natürlich nicht dazu, dass
die Konjunktur anspringt und es Unternehmern Spaß
macht, in diesem Land wirtschaftlich tätig zu werden und
neue Arbeitsplätze zu schaffen. Sie haben den falschen
Weg gewählt. Die Steuerreform hat psychologisch etwas
bewirkt; deshalb hat ihr Rheinland-Pfalz im Bundesrat
auch zugestimmt. Die psychologische Wirkung wurde
aber durch Ihre gesetzgeberischen Aktivitäten völlig wett-
gemacht. Deswegen läuft die Wirtschaft einfach nicht
mehr.
Angesichts der Tatsache, dass die Wirkung der ar-
beitsmarktpolitischen Instrumente, für die 43,4 Milli-
arden DM aufgewendet werden, überhaupt nicht evaluiert
wird, müssen Sie sich zu Recht die Frage gefallen lassen:
Warum gibt denn die Bundesanstalt für Arbeit die Daten
nicht an externe Forschungsinstitute weiter? Da könnte
einmal überprüft werden, wie sinnvoll das Ganze ist. Das
Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mann-
heim hat festgestellt, dass die Teilnahme an Arbeitsbe-
schaffungsmaßnahmen oftmals nicht zur Integration in
den Arbeitsmarkt führt, sondern negative Auswirkungen
für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hat, weil bei die-
sen zum einen, während sie an der AB-Maßnahme teil-
nehmen, die Intensität der Arbeitsuche abnimmt und sie
zum anderen danach oftmals stigmatisiert sind, weil man
sich denkt, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, und man sie
deshalb vielleicht nicht einstellt.
Sie müssen andere Wege gehen: Sie müssen den ersten
Arbeitsmarkt aktivieren und die Kompetenz der Ar-
beitsämter vor Ort stärken.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dirk Niebel
16059
Ich möchte hier einmal meine ehemaligen Kolleginnen
und Kollegen in der Arbeitsvermittlung in Schutz neh-
men: Sie haben niemals auf ungleicher Augenhöhe mit
ihren Kundinnen und Kunden agiert, sondern sich immer
redlich bemüht, ihnen Arbeit zu vermitteln. Sie müssen
die Kompetenz der Arbeitsämter vor Ort nutzen, denn die
Situation auf dem Arbeitsmarkt in Görlitz stellt sich nun
einmal anders dar als die in Eckernförde oder Karlsruhe.
Deshalb: Sehen Sie für die Arbeitsämter einen Global-
haushalt vor. Sorgen Sie dafür, dass zumindest in Modell-
regionen Arbeitsamtsbezirke geschaffen werden, in denen
die Mittel nicht nach den Vorschriften des öffentlichen
Dienstrechts, sondern nach dem Effektivitätsgrundsatz
eingesetzt werden können.
Der Direktor vor Ort kann dann entscheiden, ob es sinn-
voller ist, für 150 000 DM eine Arbeitsbeschaffungsmaß-
nahme einzurichten oder einen zusätzlichen Vermittler
einzustellen, der zielgruppenorientiert vermittelt, kon-
krete Bewerberprofile erstellt, die Menschen coacht und
begleitet und nach der Vermittlung weiter betreut, damit
sie sich nicht gleich anschließend wieder arbeitslos mel-
den. Hierfür ist es allerdings notwendig, neue Wege zu
gehen und alte Besitzstände aufzugeben. Damit sind wir
bei einem der Kernpunkte.
Die aktive Arbeitsmarktpolitik da können Sie auch
einmal bei Herrn Miegel nachfragen dient natürlich un-
ter anderem auch dazu, dass jede Menge Geld im System
bleibt. Dieses Geld hilft Betrieben, die sich auf Qualifi-
zierung und die Durchführung von Maßnahmen speziali-
siert haben, weiterhin am Markt aktiv bleiben zu können.
Viele dieser Betriebe gehören den Gewerkschaften, an-
dere den Kommunen. Natürlich besteht kein großes Inte-
resse daran, das Problem der Arbeitslosigkeit einmal
wirklich aufzudröseln, weil sonst die Gelder nicht mehr
fließen.
In der Statistik tauchen Arbeitslose auf, die dort nicht
hineingehören: manche, die nur noch im Liegen freihän-
dig arbeiten dürfen, weil sie es gesundheitlich nicht mehr
anders können, aber nicht erwerbsunfähig sind; Jugend-
liche, die sich arbeitslos melden, damit der Kindergeldan-
spruch der Eltern erhalten bleibt; Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die schon einen festen Arbeitsplatz haben,
sich aber arbeitslos melden, um die Leistungen in der
Zwischenzeit in Anspruch zu nehmen. All diese Men-
schen blähen die Statistik auf; Sie werden dadurch ange-
regt, noch mehr Geld in die aktive Arbeitsmarktpolitik zu
pumpen. So werden Sie die Probleme nicht bewältigen.
Sie müssen die regionalen Kompetenzen mehr nutzen und
mehr in den ersten Arbeitsmarkt investieren. Dann wird
vielleicht ein Schuh daraus.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jedes Mal, wenn
wir über die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt oder
über Arbeitsmarktpolitik allgemein diskutieren, nehme
ich mir vor, in der Debatte die Gelegenheit zu nutzen, um
über die Zukunft zu reden.
Das fällt mir aber schon sehr schwer, nachdem ich hören
musste, was Frau Schnieber-Jastram und Herr Niebel jetzt
gerade gesagt haben. Sie verhalten sich so wie die
berühmten vier Affen: Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich
weiß nichts und ich erinnere mich auch an nichts.
Hier von Ihnen, Herr Niebel, hören zu müssen, was das
A und O der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist, nachdem wir
vor knapp zweieinhalb Jahren von Ihnen einen Arbeits-
markt mit der gigantisch hohen Arbeitslosenzahl von
4,8 Millionen
und einer Zahl von Langzeitarbeitslosen, die ihresglei-
chen sucht, übernommen haben, ist unglaublich. Das war
für uns der Ausgangspunkt, denn diese Situation haben
Sie uns nach Ihrer Regierungstätigkeit überlassen. Jetzt
stellen Sie sich hier hin und meinen, Sie müssten gute Rat-
schläge geben.
Was hier angesprochen wurde, ist selbstverständlich
richtig: Die unterschiedlichen arbeitsmarktpolitischen
Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik entfalten
eine sehr unterschiedliche Wirksamkeit. Das war übrigens
schon zu Ihrer Regierungszeit so. Der Unterschied ist nur,
dass wir diese unterschiedliche Wirksamkeit wahrnehmen
und auch berücksichtigen.
Die Benchmarking-Gruppe im Bündnis für Arbeit hat
bereits im letzten Jahr darauf hingewiesen, dass es so et-
was wie eine Hierarchie der Wirksamkeit der arbeits-
marktpolitischen Instrumente gibt. Das wirksamste
Instrument ist die Vermittlung. Wir haben in den letzten
Wochen unter der Überschrift Fordern und Fördern eine
Debatte geführt sie ist auch von Ihnen eingeklagt wor-
den , in der wir darauf hingewiesen haben, dass wir in
Bezug auf die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpoli-
tik umsteuern wollen. Wir werden das Instrument der
Vermittlung stärker in den Vordergrund stellen. Dazu wol-
len wir etwas, was andere Länder schon tun und auch
wir schon längst hätten tun können für die Arbeitslosen,
sobald sie arbeitslos geworden sind, einen Eingliede-
rungsplan erstellen und sie in eine aktive Vermittlung
bringen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dirk Niebel
16060
Damit nehmen wir das ernst, was Sie hier mit großen Sta-
tistiken zu belegen versuchen,
dass nämlich Instrumente unterschiedlich wirken.
Das zweitwirksamste Instrument ist die Qualifizie-
rung, ein Instrument, das gerade bei Langzeitarbeitslosen
sehr wichtig ist.
Wir haben in der letzten Woche einen entsprechenden
Entschließungsantrag beschlossen, der dazu dient, die
Qualifizierung von Arbeitslosen voranzutreiben.
Wir haben darüber hinaus beispielsweise beschlossen, das
Instrument der Jobrotation eines der vielen Instru-
mente zur Qualifikation voranzubringen.
Frau Schnieber-Jastram: acht Jahre zu spät. Dieses
Instrument wird schon seit langem und mit Erfolg in an-
deren Ländern angewandt. Nun setzen es auch wir um.
Weitere Maßnahmen, die am Arbeitsmarkt gut wirken,
sind Lohnsubventionierungen und Eingliederungshilfen.
Nur, wir haben von Ihnen ein Sammelsurium von Maß-
nahmen hinterlassen bekommen, die sich zum Teil über-
schneiden.
Das, was wir im Rahmen der SGB-III-Reform
als Erstes tun werden, ist, diese Maßnahmen übersichtlich
und einfach zu gestalten.
Zudem werden wir, Herr Niebel Sie haben das gerade
eingeklagt , eine größere regionale Entscheidungsfrei-
heit für die Anwendung dieser Maßnahmen zulassen.
Denn eines ist schon seit über zehn Jahren klar: dass die
regionalen Akteure diejenigen sind, die sich am besten um
die Arbeitsmarktpolitik in den Regionen kümmern kön-
nen. Deswegen müssen wir ihnen diese Freiräume auch
einräumen.
Ich versichere Ihnen, Herr Niebel, dass wir das auch tun
werden.
Sie können dann ja unserem Antrag zustimmen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vaaz?
Ja,
gerne.
Frau Kollegin Dückert,
Sie haben ausgeführt, Sie hätten von der Vorgängerregie-
rung die Zahl von 4,8 Millionen Arbeitslosen übernom-
men. Darf ich Sie einmal fragen, auf welche statistische
Aussage Sie sich stützen?
Frau Kollegin Schnieber-Jastram, jetzt fangen Sie schon
wieder diese kleinkarierte Diskussion an,
wie wir sie heute Morgen geführt haben.
Wir haben die Zahlen ja soeben gehört: In den letzten
zwei Jahren ist die Arbeitslosigkeit, die seinerzeit mehr
als 4 Millionen Arbeitslose betragen hat, gesunken,
und zwar um etwa 500 000. Das ist ein Erfolg. Ich sage an
dieser Stelle immer wieder: Das reicht uns nicht. Das ist
der Grund, warum wir aus diesen Daten am Arbeitsmarkt
eine andere Schlussfolgerung ziehen als Sie.
Was Sie uns empfohlen haben, und zwar bei jeder
Haushaltsplanung, ist, auf Basis der Konjunkturdaten die
Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik zu senken. Was
wir tun wollen, ist, die Mittel für die aktive Arbeitsmarkt-
politik auf einem hohen Niveau fortzuführen und sinnvoll
umzustrukturieren, und zwar stärker in die Eingliederung,
stärker in die Prävention hinein.
Meine Damen und Herren, auch zehn Nachfragen wer-
den die reale Arbeitsmarktentwicklung nicht verändern.
Die Statistiken weisen deutlich aus, dass wir seit
Herbst 1999 eine kontinuierliche Abnahme der Arbeitslo-
sigkeit und übrigens auch eine steigende Zahl von Er-
werbstätigen haben. Trotz alledem sollten wir die Augen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Thea Dückert
16061
nicht vor einer Situation verschließen, die auch Sie ange-
sprochen haben, nämlich dass die Konjunkturzahlen jetzt
von den Prognose-Instituten korrigiert werden.
Was Sie aber von uns unterscheidet, ist, dass wir uns nicht
darüber freuen, sondern dass wir uns damit auseinander
setzen. Auch dies, Frau Schnieber-Jastram, ist für uns ein
Grund, noch vor der Sommerpause einen Umstieg in der
Arbeitsmarktpolitik vorzubereiten. Ich hoffe, dass dieser
Erfolg bringen wird. Denn es ist absolut notwendig be-
sonders auch für die neuen Länder , die Langzeitarbeits-
losigkeit nachhaltig zu reduzieren.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Grehn.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Frau Kollegin Nahles, ich habe
viel Verständnis für Ihren jugendlichen Überschwang.
Der Berliner würde sagen: Kann es nicht für einen Gro-
schen weniger sein?
Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist sehr ernst. Versu-
chen Sie nicht, sie schönzureden.
Ja, ja! Sie hat Ihre Lobgesänge fortgeführt.
Es ist meines Erachtens gut für dieses Haus, wenn sich
verschiedene Seiten Gedanken über die Verbesserung der
Situation auf dem Arbeitsmarkt machen.
Das hat die CDU/CSU mit ihrem Antrag versucht. Das ha-
ben auch wir mit unserem Antrag versucht. Dies allein
wäre es wert gewesen, dass sich die Regierungsparteien
mit diesen Anträgen inhaltlich auseinander setzen. Ich
will versuchen, dies in der mir zur Verfügung stehenden
kurzen Zeit zu tun.
Leider, so scheint es, geht es der CDU/CSU in ihrem
vorliegenden Antrag weniger um die Betroffenen selbst
als vielmehr um die Effektivität des Geldeinsatzes.
So etwas muss nicht verwerflich sein ich will das gar
nicht kritisieren , wenn man dabei auch tatsächlich an die
Langzeitarbeitslosen denkt. Sie aus ihrer Lage zu be-
freien und sie in den Arbeitsmarkt einzugliedern ist der
oberste Gradmesser jeder Effektivitätsbemessung.
Diesbezüglich aber bleibt der Antrag wenig substanziell
und propagiert Prinzipien, die wir so nicht teilen können.
Ich denke an das Prinzip Wettbewerb, an das Prinzip öf-
fentliche Ausschreibung das es jetzt übrigens auch
schon gibt , an das Prinzip, den Mitteleinsatz von den er-
reichten Vermittlungen in Arbeit abhängig machen zu
wollen. Was wir wollen, ist, dass die Prinzipien ausge-
weitet werden; denn manches hat sich in der Vergangen-
heit nicht übermäßig bewährt. Da unterscheiden wir uns
von der CDU/CSU: Wir wollen das Problem der Lang-
zeitarbeitslosigkeit komplexer angehen, als Fördermaß-
nahmen allein von der Quote der Vermittlungen auf dem
ersten Arbeitsmarkt abhängig zu machen.
Die Ausgangslage, die wir sehen, ist: Die Langzeit-
arbeitslosigkeit steigt weiter, Reformen in der Arbeits-
förderungsgesetzgebung sind dringend notwendig und die
sozialen Sicherungssysteme müssen neu gestaltet werden.
Es ist die unvermindert hohe Arbeitslosigkeit mit einem
Sockel von 1,3 Millionen Langzeitarbeitslosen, die dies
erfordert.
Wir haben in unserem Antrag das Angebot unterbreitet
wir werden hoffentlich noch darüber sprechen , ver-
schiedene Politikfelder miteinander zu verzahnen und
auch die Mittel, die in diesem Zusammenhang in ver-
schiedenen Bereichen zur Verfügung gestellt werden, und
die Arbeitsmarktpolitik so zu verstetigen, dass für Lang-
zeitarbeitslose ein Übergang in den ersten Arbeitsmarkt
möglich wird.
Wir meinen, dass es notwendig ist, neue Quellen der
Arbeit zu erschließen. Dazu muss gesellschaftlich not-
wendige, aber bisher unentgeltliche Arbeit in Erwerbsar-
beit mit existenzsichernder Entlohnung umgewandelt
werden. Ein so beschaffener Beschäftigungssektor sollte
öffentliche Mittel der Bundesanstalt für Arbeit, der Län-
der und der Kommunen mit einbeziehen. Das entspricht
dem von der Regierungskoalition so oft zitierten und
bemühten Ziel, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzie-
ren.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, diesen Ansatz
weiterzuverfolgen. Er führt in die richtige Richtung.
Wenn Sie dies im Interesse der Verbesserung der Situation
der Arbeitslosen angehen und dabei nicht auf altem
Gedankengut verharren, dann wissen Sie uns an Ihrer
Seite. Wir sagen dies insbesondere aus den Erfahrungen
heraus, die wir mit der Entwicklung auf dem zweiten Ar-
beitsmarkt und dessen Effektivität bzw. mit dessen un-
genügender Effektivität in den neuen Bundesländern ge-
macht haben. Ich wünsche uns dabei für die Zukunft viel
Erfolg.
Ich darf abschließend feststellen, dass die Diskussion
gezeigt hat: Arbeitslosigkeit bleibt das Problem Nummer
eins in diesem Land. Daran ändert auch Schönrederei
nichts.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Thea Dückert
16062
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Heinz Schemken.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Frau Nahles, es reizt einen
fast, Rückspiegelpolitik zu betreiben. Nur, ich halte mehr
davon, dass man nach vorne schaut. Hauptsache ist, dass
die Richtung der Politik stimmt.
Aber wenn wir schon in den Rückspiegel schauen, muss
ich feststellen: Wir hatten im September 1998
3 965 000 Arbeitslose die Zahl stimmt; das habe ich
heute Mittag schon einmal gesagt und im März 2001
ebenfalls knapp unter 4 Millionen Arbeitslose.
Jetzt kann man darüber sprechen, dass es sich dabei ei-
nerseits um Herbstdaten und andererseits um Frühjahrs-
daten handelt. Aber Sie können nicht sagen, wir hätten Ih-
nen eine Arbeitslosigkeit von 4,8 Millionen überlassen.
Das ist schlichtweg falsch. Wenn man es sogar bewusst
wiederholt, ist es fast schon die Unwahrheit.
Herr Kollege
Schemken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Brandner?
Bitte schön, Herr
Brandner.
Ich habe eine Frage an den
Arbeitsmarktexperten der CDU/CSU, an Herrn
Schemken: Können Sie bestätigen, dass die Arbeitslosig-
keit 1997 im Durchschnitt 4 384 000, im Jahre 1999
4 099 000 und im Jahre 2000 3 888 000 betragen hat und
dass dies ein deutliches Zeichen dafür ist, dass die Ar-
beitslosigkeit in diesem Lande erheblich zurückgegangen
ist?
Man müsste Ihre
Zahlen, was den Jahresdurchschnitt angeht, mit der Zahl
der Rentenabgänger derzeit in Höhe von 200 000 pro
Jahr , mit der Zahl der geringfügigen Beschäftigungs-
verhältnisse und mit den Wirkungen des Gesetzes zur
Scheinselbstständigkeit unterfüttern bzw. gegenrechnen.
Ich muss das deshalb feststellen, weil Sie soeben erklärt
haben, dass wir Ihnen diese Last, nämlich 4,8 Millionen
Arbeitslose, überlassen haben. Das ist schlichtweg falsch.
Denn zum Zeitpunkt der Regierungsübergabe waren es
3,9 Millionen. Da beißt keine Maus den Faden ab.
Im Übrigen hat Herr Schröder, der jetzige Bundes-
kanzler, schon im damaligen Wahlkampf erklärt, dass der
Rückgang der Arbeitslosigkeit auf seinen Antritt als Bun-
deskanzlerkandidat zurückzuführen sei. Ich habe noch in
guter Erinnerung, dass er das damals gesagt hat.
In einem hatte er Recht: Es ging wirklich aufwärts mit
dem Arbeitsmarkt auch schon vor seiner Kanzlerschaft.
Dass dies so bleibt, daran wollen wir gemeinsam weiter
arbeiten. Wir sind uns einig, dass wir in den nächsten Mo-
naten viel zu tun haben.
Die Situation ist brisant. Wenn Sie, Frau Nahles, es mir
nicht glauben wollen, dann zitiere ich die stellvertretende
Vorsitzende in der Bundesanstalt für Arbeit, Frau
Dr. Engelen-Kefer,
die gestern sagte: Eine nachhaltige Frühjahrsbelebung
ist dies noch nicht.
Die wird Ihnen natürlich nicht in den Arm fallen. Sie hat
das vornehm ausgedrückt, aber für Frau Engelen-Kefer ist
das schon eine herbe Rüge in Bezug auf das, was hier zur
Beurteilung ansteht, nämlich der Arbeitsmarkt.
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat darüber
hinaus festgestellt, dass die Arbeitslosenzahl saisonberei-
nigt schon im dritten Monat in Folge nicht etwa nur kon-
stant geblieben, sondern sogar gestiegen ist. Frau
Schnieber-Jastram hat die Zahlen eben schon genannt.
Nun zu dem, was uns wirklich bedrückt, nämlich die
arbeitslosen Menschen.
Sie tun das Problem in der Rückblende immer damit ab,
dass Sie sich um Zahlen streiten. Dabei geht es darum
doch gar nicht in erster Linie. Die Fakten sind: Mehr als
ein Drittel der arbeitslosen Menschen in Deutschland
zählt zu den Langzeitarbeitslosen. Mehr als 1,4 Milli-
onen sind länger als ein Jahr arbeitslos. In den alten Bun-
desländern sind 60 Prozent aller Langzeitarbeitslosen äl-
ter als 45 Jahre dabei ist eines völlig richtig: lieber
Qualifizierung mit 50 als Rente vor 60 ; in den neuen
Bundesländern liegt dieser Anteil mit 48 Prozent etwas
niedriger. Das hängt damit zusammen, dass 77 Prozent
der Langzeitarbeitslosen im Osten Frauen sind. Das ist ein
Schicksal, das uns nicht ruhen lässt. Deshalb sind die Fra-
gen, die wir hier behandeln, von so immenser Bedeutung.
Das Traurige, ja, Erschütternde ist: Bei denjenigen, für
die das Fabriktor zu ist, handelt es sich oftmals um quali-
fizierte Kräfte. Jeder Zweite hat eine abgeschlossene
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001 16063
Ausbildung, jeder Zwanzigste ist sogar Hochschulabsol-
vent und jeder Fünfte war vorher in gehobener Position
tätig. Natürlich trifft dies nicht für alle zu; selbstverständ-
lich gibt es auch Arbeitslose mit gesundheitlichen Ein-
schränkungen. Wir müssen uns Frau Schnieber-Jastram
hat schon darauf hingewiesen jetzt ganz gezielt um die
Kreise kümmern, um die es uns gehen muss.
Da sich die Hoffnungen oftmals auf die Konjunktur
stützen, muss man sagen: Wir wissen sehr wohl, dass der
konjunkturelle Aufschwung, der sich auch auf dem Ar-
beitsmarkt bemerkbar gemacht hat, empfindlich gestört
ist. Dies stellen sämtliche Kommentare der Zeitungen von
heute fest: ob es die Süddeutsche Zeitung ist nun
wahrlich kein Kolpingblatt , ob es die Rheinische Post,
das Handelsblatt oder Die Welt ist. Lesen Sie Kom-
mentare von heute! Die Leute, die zu diesem Urteil kom-
men, beobachten die Politik nicht erst seit heute.
Der Reformbedarf steht also außer Frage, er ist drin-
gend. Die Welt hat sich grundlegend geändert. Wir kön-
nen die anstehenden Fragen nicht mehr mit den Feststel-
lungen des Jahres 1975 beantworten.
Deshalb: Wir müssen die Herausforderungen dieser Zeit
annehmen, müssen nach vorne schauen und nicht in den
Rückspiegel.
Die eingesetzten 46 Milliarden DM müssen da bin
ich mit Frau Schnieber-Jastram einig effizienter ver-
wendet werden. Wir müssen zielgruppenorientierter an
die Kreise herangehen, um die es uns geht, unter stärkerer
Einbeziehung der besonders Benachteiligten. In der Ziel-
richtung sind wir uns doch einig. Warum regen wir uns
auf, statt an die Arbeit zu gehen?
Es geht um die Arbeitslosen ohne Berufs- und Schul-
abschluss. Nehmen wir doch die Statistik, Frau Nahles.
Nach wie vor sind 451 000 Menschen unter 25 Jahren ar-
beitslos. Das ist für unser Land eine schiere Katastrophe;
denn uns wird es nie mehr gelingen, sie in den Arbeits-
markt zu integrieren, wenn wir ihnen keine Qualifizie-
rungsmaßnahmen anbieten. Das sind die Langzeitarbeits-
losen von morgen, die überhaupt keine Chance mehr
haben.
An die Menschen mit gravierenden sozialen und ge-
sundheitlichen Problemen müssen wir ebenfalls denken.
Ich sage das, damit Sie wissen, dass es uns nicht nur um
Statistiken und Haushaltsmittel geht.
Herr Brandner, ich weiß, dass Sie sich nicht vorstellen
können, dass solche Gedanken auch bei uns diskutiert
werden.
Denken Sie doch nur an die vielen Maßnahmen, die wir in
Gang gesetzt haben. Sie aber sind immer nur nebenher ge-
laufen. Ich sage Ihnen dagegen zu: Wir helfen bei Ihnen
mit.
Nehmen wir eine Statistik aus der heutigen Zeitung:
Von 1997 bis heute hatten wir bei den Existenzgründun-
gen einen Rückgang um 50 000. Wissen Sie, was das
heißt? Das Programm, das wir eingerichtet haben und das
von Ihnen belächelt wurde, sah eine Förderung vor, wenn
ein Existenzgründer einen Arbeitslosen einstellt. Hätten
wir also keinen Rückgang um 50 000, hätten wir insge-
samt 100 000 Arbeitslose weniger. Das ist ein ganz kon-
kretes Beispiel.
Ja, ich habe das schon korrigiert. Heute Nachmittag
habe ich gesagt, bei 100 000 Existenzgründern sind es
200 000 Arbeitslose. Ich korrigiere mich und bleibe bei
den 50 000.
Nein, meine nächste Rede brauchen Sie überhaupt nicht
abzuwarten. Ich habe noch Redezeit und werde noch ei-
niges sagen, ob es Ihnen gefällt oder nicht.
So ganz viel Zeit
haben Sie leider nicht mehr, Herr Schemken.
Wir warten auf die
Fortschreibung des Arbeitsförderungsgesetzes. Wir war-
ten auch darauf, dass Sie auf unsere positiven Elemente
eingehen, die ja bisher wirklich etwas gebracht haben. Al-
lein durch unsere Einarbeitungszuschüsse haben wir
300 000 Menschen in Arbeit gebracht. Wir erwarten Ihre
Vorschläge und bringen unsere mit ein. Wir hoffen aber,
dass Sie nicht aus purer Taktik darauf bestehen, dass nur
Ihre Vorschläge gut sind, sondern dass Sie bereit sind, mit
uns gemeinsam an die Aufgabe heranzugehen; denn jetzt
zeigt sich, dass Sie es auch nicht alleine schaffen.
Schönen Dank und viel Erfolg bei der weiteren Bera-
tung.
Ich danke Ihnen
auch und schließe die Aussprache.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Heinz Schemken
16064
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5552 und 14/5794 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie den Zu-
satzpunkt 10 auf:
11. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der UVP-Änderungsrichtlinie, der
IVU-Richtlinie und weiterer EG-Richtlinien
zum Umweltschutz
Drucksache 14/4599
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der UVP-Änderungsrichtlinie,
der IVU-Richtlinie und weiterer EG-
Richtlinien zum Umweltschutz
Drucksache 14/5204
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
Drucksache 14/5750
Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Marie-Luise Dött, Cajus Caesar,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Prüfung der Umweltverträglichkeit den
Erfordernissen einer modernen Umweltpo-
litik anpassen
zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Homburger, Ulrike Flach, Horst Friedrich
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Umsetzung der IVU-Richtlinie Umwelt-
gesetzbuch auf den Weg bringen
Drucksachen 14/5546, 14/3397, 14/5750
Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung von
EG-Richtlinien zum Umweltschutz liegen je ein Entschlie-
ßungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen, der Fraktion der F.D.P. und der Fraktion der PDS
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Ulrike Mehl.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Ich beginne zunächst mit einer For-
malie: Durch die Änderungsanträge 22 bzw. 106 wurden
in Art. 1 Nr. 26 in der Anlage 1 die Nrn. 7.1 ff., Schwel-
len- und Prüfwerte für Intensivtierhaltungsanlagen, neu
gefasst. Der Umweltausschuss hat diese Anträge mit
Mehrheit verabschiedet. Auf Seite 26 der Beschlussemp-
fehlung hat sich ein redaktioneller Übertragungsfehler
eingeschlichen: Nr. 7.12, Anlagen zum Halten oder zur
Aufzucht von Nutztieren mit Plätzen für 50 Großviehein-
heiten oder mehr, erhält laut beschlossenen Änderungsan-
trägen in Spalte 2 rechts ein A.
Dies muss nachgetragen werden.
Die redaktionellen Änderungen sind mit den Bericht-
erstatterinnen und Berichterstattern der anderen Fraktio-
nen abgestimmt.
Ich freue mich, dass nun dieser höchst komplizierte
Gesetzentwurf im Bundestag ein erfolgreiches Ende fin-
det.
Jetzt rede ich und anschließend höre ich Ihnen zu.
Ich freue mich, dass trotz dieser Kompliziertheit nur
eine Korrektur anzumerken ist, und möchte die Gelegen-
heit nutzen, dem Sekretariat des Umweltausschusses, den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im BMU, den Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern in den Fraktionen und den
MdB-Mitarbeitern, die alle damit befasst waren ich
glaube, dort knallen heute die Sektkorken, weil wir diesen
Gesetzentwurf unter Dach und Fach haben , zu danken.
Wir können zwar die heute anstehende Verabschie-
dung des Artikelgesetzes nicht mit der Leistung des tap-
feren Schneiderleins vergleichen, das immerhin sieben
Fliegen auf einen Streich schlug, aber immerhin werden
wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir werden
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
16065
nämlich erstens, jedenfalls was unsere Arbeit hier betrifft,
dem von der Europäischen Kommission beantragten
Zwangsgeld in Höhe von täglich 237 600 Euro entgehen.
Als kleine Anmerkung sage ich: Diese Zwangsgeldandro-
hung beruhte nicht auf fehlerhaftem Verhalten dieser
Bundesregierung, sondern darauf, dass die UVP-Richtli-
nie von 1985 nicht bzw. nur unzureichend umgesetzt
wurde. Damit hatten wir jetzt zu kämpfen.
Zweitens. Wir setzen die UVP-Änderungsrichtlinie
und die IVU-Richtlinie europarechtskonform in das
deutsche Recht um, korrigieren die vom Europäischen
Gerichtshof 1998 bestätigten Verstöße gegen das Europa-
recht im geltenden UVP-Gesetz, schaffen Rechtssicher-
heit für Planung, Bau und Betrieb von Anlagen und Pro-
jekten, erweitern den Katalog der UVP-pflichtigen
Projekte und schaffen einen medienübergreifenden inte-
grierten Ansatz bei der Bewertung der Umweltbelastun-
gen. Wenngleich dieses Gesetz in der Tat nicht zu Emo-
tionsausbrüchen auffordert, freuen wir uns doch, dass wir
es unter Dach und Fach haben,
insbesondere deshalb, weil das Gesamturteil für den Ent-
wurf das konnte man bei der Anhörung feststellen von
den Experten positiv bewertet worden ist.
Ich werde mich jetzt nicht mit einzelnen Bestimmun-
gen dieses Gesetzentwurfes befassen das wird unter an-
derem meine Kollegin Bierwirth tun und auch nicht auf
das sehr bemerkenswerte Vorgehen des Bundesrates ein-
gehen, der in den Ausschüssen immerhin rund 350 Än-
derungsempfehlungen zur Beratung hatte und diese
freundlicherweise an den Bundestag weitergeleitet hat,
ohne sich auf wesentliche Punkte einigen zu können. Ich
will vielmehr die Gelegenheit nutzen, einige Punkte des
Werdeganges dieses Gesetzentwurfes anzusprechen;
denn selten zuvor sind uns die Möglichkeiten bzw. die
Grenzen der Umweltpolitik von Bund und Länder so
deutlich gemacht worden wie in diesem Verfahren. Das
macht nicht nur unzufrieden, sondern das sollte auch
nachdenklich machen.
Sie alle wissen, dass wir ursprünglich die Idee verfolgt
haben, diese beiden Richtlinien in dem ersten Teil des
Umweltgesetzbuches auf den Weg zu bringen. Leider ist
aber zu spät deutlich geworden, dass der damals vorge-
legte Gesetzentwurf unüberwindliche verfassungsrechtli-
che Probleme aufwarf. Es ist nicht so, wie es in einem An-
trag zu lesen ist, dass Minister Trittin nichts anderes zu tun
hatte, als dieses Gesetz zu stoppen, sondern es wurde
deutlich, dass in den zehn Jahren zuvor, in denen bereits
die Grundlagen erarbeitet wurden, auf Regierungsebene
offensichtlich nie überprüft worden ist, ob das Gesetz
verfassungskonform ist. Von daher kam dieses Problem
zu spät zutage. Deswegen mussten wir jetzt diese beiden
Richtlinien unter dem Druck des Zwangsgeldes in einem
Artikelgesetz beschließen.
Durch die Umsetzung des EG-Rechts in dem Artikel-
gesetz bleibt es aber bei der Zulassung umweltbedeutsa-
mer Vorhaben systematisch bei zunächst altem Recht, also
bei dem Zustand, den wir bisher gehabt haben. Obwohl
mit diesem Artikelgesetz nach bereits erwähnten Fort-
schritten bei der UVP-Pflicht, dem medienübergreifenden
Prüfauftrag und der Fortschritte bei der Umweltverträg-
lichkeit der Zulassungsprüfung weitere Fortschritte er-
reicht werden, werden wir damit die von allen Seiten des
Hauses schon mehrfach beklagte Rechtzersplitterung im
Umweltbereich nicht auflösen. Das ist sehr bedauerlich.
Wir müssen deshalb nach Beschluss dieses Artikelge-
setzes weiter daran arbeiten, die Hindernisse auf dem Weg
zu einem einheitlichen, vereinfachten Umweltrecht zu be-
seitigen. Dabei sind nicht allein wir im Deutschen Bun-
destag gefragt. Wenn wir es ernst nehmen davon bin ich
nach all dem, was wir bisher dazu diskutiert haben, über-
zeugt , werden wir an einer Änderung des Grund-
gesetzes nicht vorbeikommen.
Für Luft, Abfall und Lärm hat der Bund zwar die
konkurrierende Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74
Grundgesetz, für Naturschutz, Boden und Wasser jedoch
nur Rahmengesetzgebungskompetenz, was dazu führt,
dass in wesentlichen Bereichen keine bundeseinheitliche
Gesetzgebung greifen kann. Das Umweltrecht des Bun-
des und der Länder wird auf diese Weise weiter zersplit-
tert. Nicht nur die umsetzenden Behörden, sondern auch
die Antragsteller beklagen letztendlich, dass aufgrund der
Vielzahl und Kompliziertheit der Gesetze deren Umset-
zung und vor allen Dingen die Kontrolle immer schwieri-
ger wird. Deswegen wäre ein Umweltgesetzbuch ein pu-
rer Akt der Vernunft.
Wie gesagt, es liegt nicht unbedingt an unserem Wil-
len. Unter Umweltpolitikern besteht in dieser Frage,
denke ich, ohnehin grundsätzlich Einigkeit. Aber es spie-
len noch andere Faktoren eine Rolle, unter anderem die
Erreichung der entsprechenden Mehrheiten im Bundesrat.
Für die Änderung eines Grundgesetzesartikels ist eine
Zweidrittelmehrheit nötig.
Fortschrittliches Umweltrecht bedeutet auch, Verfahren
zu erleichtern und Verantwortung zu fördern. Ich begrüße
deshalb als einen Teil dieses Artikelgesetzes die erwei-
terte Öffentlichkeitsbeteiligung und den verbesserten
Zugang zu Informationen. Es wird zwar immer wieder der
Vorwurf erhoben, die erweiterte Öffentlichkeitsarbeit
führe dazu, dass Verfahren aufgebläht werden. Die Erfah-
rung zeigt jedoch, dass das Gegenteil der Fall ist, dass
Verfahren sogar schneller zum Abschluss gebracht wer-
den können, wenn eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteili-
gung erfolgt. Dann nämlich können entsprechende Vor-
stellungen und Argumente frühzeitig einbezogen und
auch Verfahrensfehler frühzeitig entdeckt werden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Ulrike Mehl
16066
Wir haben des Weiteren eine Verordnungsermächti-
gung in dieses Gesetz aufgenommen, die das Ökoaudit
betrifft. Das heißt, es sollen Erleichterungen bei der
behördlichen Überwachung geschaffen werden. Ich halte
dies grundsätzlich für den richtigen Ansatz. Allerdings
muss man sich beim Thema Ökoaudit und EMAS II noch
eingehend mit der Frage auseinander setzen, wer Nutz-
nießer sein soll; denn grundsätzlich ist auch an dieser
Stelle Missbrauch möglich. Ich glaube, dass es auch im
Interesse der Betriebe, die ernsthaft und verantwortungs-
bewusst einen Umweltcheck durchführen, der schließlich
Geld kostet, liegen müsste, dass sich niemand zertifizie-
ren lässt, der solche Fälle gibt es leider geltendes Um-
weltrecht nicht einhält. Dieses Problem kann man mit die-
sem Artikelgesetz natürlich nicht lösen. Deswegen haben
wir gesagt, wir nehmen diese Verordnungsermächtigung
darin auf, werden uns aber im Rahmen von EMAS II noch
einmal eingehend mit dem Thema befassen.
Zum Schluss noch einmal die deutliche Mahnung
nicht nur an uns, sondern auch an die Länder gerichtet :
Wir brauchen dringend ein Umweltgesetzbuch, das sich
natürlich inhaltlich auf dem Niveau des heute geltenden
Umweltrechts befindet, also bisher geltende Normen
nicht abschwächt. Wir benötigen dafür die Unterstützung
der Bundesländer und eine entsprechende Grundgesetz-
änderung.
Wer Umweltschutz nicht nur auf dem Papier haben,
sondern in der Praxis umsetzen will, wer Vollzugserleich-
terungen anstrebt, wer möchte, dass die Verfahren nicht
länger dauern als nötig, der setze sich bitte dafür ein, dass
wir in absehbarer Zeit zu einem neuen, umfassenden und
modernen Gesetzeswerk kommen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Marie-Luise Dött.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem Herr
Trittin die Umsetzung der Richtlinien zu der integrierten
Vermeidung und Verminderung von Umweltverschmut-
zung, IVU, und der Umweltverträglichkeitsprüfung, UVP,
als Teil des Umweltgesetzbuches nicht auf den Weg ge-
bracht hat, werden die beiden Richtlinien nunmehr end-
lich als Artikelgesetz ins parlamentarische Verfahren ein-
gebracht.
Im Schnellverfahren muss jetzt die Bundesregierung die
europäische Änderungsrichtlinie zur Umweltverträglich-
keitsprüfung und die Richtlinie zur integrierten Vermei-
dung und Verminderung von Umweltverschmutzung, Herr
Kubatschka, in deutsches Recht umsetzen, weil Umwelt-
minister Jürgen Trittin mit der Umsetzung in Verzug ist.
Dadurch droht dem Steuerzahler aufgrund einer Klage der
Europäischen Kommission eine Geldbuße von täglich
über 470 000 DM. Das sind 237 000 Euro.
Das von Ihnen initiierte Artikelgesetz, Herr Trittin,
kommt nicht nur zu spät, sondern schießt ein weiteres Mal
weit über das Ziel europarechtlicher Umweltanforderun-
gen hinaus.
Das Ergebnis wird sein: erstens eine schlechtere Aus-
gangslage im internationalen Wettbewerb für deutsche
Unternehmen,
zweitens ein Mehr an bürokratischem Aufwand und drit-
tens keine eins zu eins übereinstimmende Gesetzgebung
mit der Europäischen Union.
Wir müssen uns darüber einig sein, dass die Umset-
zung europäischer Richtlinien so nicht erfolgen soll.
Das von Ihnen, Herr Trittin, vorgelegte Artikelgesetz setzt
bundesdeutsches Recht stärker einschränkend um, als es
die europäischen Richtlinien vorsehen.
Damit beschreiten Sie ein weiteres Mal einen deutschen
Sonderweg.
Das Anliegen der Europäischen Union, das europäische
Umweltrecht zu vereinheitlichen und europaweit die glei-
chen technischen Standards zu schaffen, ist grundsätzlich
zu begrüßen. Dazu ist jedoch eine Transformation der eu-
ropäischen Richtlinien in deutsches Recht eins zu eins
notwendig. Durch eine restriktivere Umsetzung, wie sie
der Regierungsentwurf zum Artikelgesetz vorsieht, entste-
hen Wettbewerbsverzerrungen auf dem europäischen und
internationalen Markt.
Auch der vor 1998 gesetzte positive Trend zur De-
regulierung und Eigenverantwortlichkeit, der einer mo-
dernen Umweltpolitik entspricht, wird umgekehrt.
Statt einer Vereinfachung des geltenden Rechts, Herr
Brinkmann, fördert der Regierungsentwurf dirigistische
und bürokratische Eingriffe des Staates. Damit wird der
Trend zur Selbstverpflichtung und Eigenverantwortung
abgewürgt und die moderne Ökoaudit-Regelung zu Grabe
getragen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Ulrike Mehl
16067
Im Übrigen wird der Weg der Kooperation aller Betroffe-
nen verlassen. Das neue Gesetz ist damit nur ein weiterer
Ausdruck des offensichtlichen Desinteresses der rot-grü-
nen Bundesregierung an einer guten Umweltpolitik.
Aus diesem Grund werden wir von der Fraktion der
CDU/CSU diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Bei der Umsetzung der IVU-Richtlinie werden die er-
höhten Anforderungen insbesondere am Beispiel der Be-
treiberpflichten deutlich. Ich mache Ihnen dies einmal
klar.
Erstens. Der uneingeschränkte Vorrang der Abfallver-
meidung kann zu wirtschaftlich und ökologisch unsinni-
gen Folgen führen. Zur Veranschaulichung möchte ich
das Gießereiwesen anführen. Hier kann nämlich die Ver-
wertung von Altsand in einem benachbarten Zementwerk
mitunter sinnvoller als die Vermeidungsmaßnahme sein.
Sie haben es ja bis jetzt noch nicht kapiert.
Die Vermeidung erfordert die langwierige und kostenin-
tensive Errichtung einer Formsandregenerierungsanlage.
Die Bemühungen der Unternehmen, die in den letzten
Jahren aufwendig und mühsam Verwertungsmöglichkei-
ten aufgebaut und dabei viel investiert haben, um Depo-
nieraum zu schonen, was Ihre und unsere Zielsetzung
war, werden einfach übergangen. Das ist auch das Ende
der Planungssicherheit.
Durch die Neuregelung der Abfallvermeidungspflicht
wird festgelegt, dass nur nicht vermeidbare Abfälle ver-
wertet werden dürfen. Damit wird den Anlagenbetreibern
die Beweis- und Darlegungspflicht für die wirtschaftliche
und technische Unzumutbarkeit einer Verwertung aufge-
bürdet. Das führt zu Investitionszwängen für Unterneh-
men, deren ökologischer Folgenutzen fragwürdig ist.
Ein weiterer kritischer Punkt ist die Pflicht zur sparsa-
men Energieverwendung die Betonung liegt auf spar-
sam. Der Begriff sparsam ist europarechtlich nicht ge-
fordert und ordnungsrechtlich nicht nachprüfbar. Ich
befürchte, dass durch diesen Begriff den Überwachungs-
behörden die Möglichkeit gegeben werden soll, Einfluss
auf die Produktion zu nehmen und den Energieeinsatz der
Unternehmen zu steuern. Ein solcher Eingriff in die
Eigenverantwortung der Unternehmen ist schlichtweg
nicht hinnehmbar.
Ganz im Gegensatz dazu sollte die Eigenverantwor-
tung der Unternehmen im Umweltbereich gestärkt und
nicht geschwächt werden. Insbesondere müssten Be-
trieben, die an Umweltmanagementsystemen teilnehmen,
Erleichterungen im Anzeige-, vor allen Dingen aber im
Genehmigungsverfahren gewährt werden. Gerade im Ge-
nehmigungsrecht sollten Ökoaudit- und ISO-14001-zerti-
fizierten Betrieben ordnungsrechtliche Erleichterungen
ermöglicht werden, die über eine bloße Substitution der
Antragsunterlagen hinausgehen. Dies ist auch im Hin-
blick auf die abnehmende Resonanz der Betriebe auf
EMAS von großer Wichtigkeit.
Bei den Unternehmen sollten Anreize für die Teil-
nahme an diesen Instrumenten geschaffen werden; Er-
leichterungen bei der Anlagenüberwachung und bei den
Anzeigepflichten sind nicht ausreichend. Solche Privi-
legierungen wurden schon auf Länderebene gewährt,
ohne Frau Mehl sprach das Problem ebenfalls an zu
einer Zunahme der Bereitschaft, am EMAS-System
teilzunehmen, zu führen. Aufgrund der funktional äqui-
valenten Einbeziehung und Verantwortungsübertragung
auf die Betriebe muss eine Deregulierung und Substitu-
tion auch im Anlagengenehmigungsrecht gewährt wer-
den. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, endlich
die Privilegierungsverordnung auf den Weg zu brin-
gen, was bei der Vorlage des Artikelgesetzes leider ver-
säumt wurde.
Auch sonst leistet das Artikelgesetz keinen Beitrag zur
Deregulierung. Der im Gesetzentwurf enthaltene Begriff
Stand der Technik erleichtert das Genehmigungsver-
fahren nicht. Ich muss Ihnen, Herr Trittin, in diesem Zu-
sammenhang die Frage stellen, warum Sie sich gegen die
Übernahme des europäischen Begriff der besten verfüg-
baren Technik sträuben und damit das Risiko einer Aus-
einandersetzung mit der Europäischen Kommission ein-
gehen.
Dieser Weg ist aus europäischer Sicht nicht zu verstehen.
Zur Umweltverträglichkeitsprüfung UVP stelle
ich fest, dass gerade der Mittelstand, also die kleinen Be-
triebe und Handwerker, von der Herabsetzung der Schwel-
lenwerte zur UVP-Pflicht besonders hart betroffen ist. Als
Beispiel: Von den rund 3 000 Galvanikbetrieben in
Deutschland werden durch die Herabsetzung der Schwel-
lenwerte circa 60 Prozent einem förmlichen Verfahren un-
terworfen. Das bedeutet, dass bei 1 800 Betrieben jährlich
etwa 900 bis 1 500 zusätzliche Verfahren nach der 4. Bun-
des-Immissionsschutzverordnung anfallen werden. Für ei-
nen kleinen Handwerksbetrieb mit zehn bis 25 Beschäf-
tigten entstehen dadurch Kosten in Höhe von etwa
100 000 DM jährlich.
Welchen Mehrumsatz ein Unternehmen erwirtschaften
muss, um diese Kosten zu tragen, muss ich Ihnen wohl
nicht erklären.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Marie-Luise Dött
16068
Solche Summen können für kleine und mittlere Unter-
nehmen existenzbedrohend sein. Das sage ich als Mittel-
ständler, Herr Kubatschka.
In seiner jetzigen Form reiht sich der Entwurf der Bun-
desregierung nahtlos in die Reihe wirtschaftsfeindlicher
Reglementierungen ich erinnere an die Regelung zu
den 630-Mark-Jobs und die Änderungen beim Betriebs-
verfassungsgesetz ein.
Kleine und mittlere Unternehmen können sich bei künfti-
gen Investitionsentscheidungen mit unverhältnismäßig
hohen Belastungen durch Gutachterkosten und einem in-
ternen Bearbeitungsaufwand konfrontiert sehen, da sie
nicht über die Infrastruktur und den Personalbestand
größerer Firmen verfügen und darüber hinaus keine Rou-
tine im Hinblick auf die Formalien der Antragstellung ent-
wickeln können. Ihnen steht eben nicht ein Stab von Gut-
achtern zur Verfügung, auf deren Dienste sie mal eben
zurückgreifen können.
Betriebe aller Größenordnungen sind von der Verlän-
gerung der Genehmigungsverfahren durch Verzögerun-
gen auf der Unternehmerseite sowie auf der behördlichen
Seite betroffen. Eine verspätete Produkteinführung führt
nicht nur zu Imageverlusten, sondern auch zu finanziellen
Nachteilen durch entgangene Renditen. Möchten Sie un-
ter diesen Voraussetzungen riskieren, dass die deutsche
Produktion immer einen Schritt langsamer ist als die der
europäischen Mitbewerber?
Herr Trittin, das vorliegende Artikelgesetz belastet
nicht nur die Unternehmen, sondern auch den Staat.
Durch die Herabsetzung der Schwellenwerte wird die
Umweltverträglichkeitsprüfung zu einem Massenverfah-
ren. Ich frage Sie, Herr Trittin: Wie wollen Sie der Ver-
fahrensflut, die auf die Genehmigungsbehörden zu-
kommt, bewältigen?
Tatsächlich wird es wieder an den Kommunen hängen
bleiben, die schon jetzt mit erheblichen Vollzugsdefiziten
im Umweltbereich zu kämpfen haben. All das führt zu ei-
ner weiteren Verzögerung der Genehmigungsverfahren.
Das Artikelgesetz darf nicht dazu benutzt werden, um
national quasi durch das Hintertürchen umweltpoliti-
sche Verschärfungen einzuführen, die eine Gefährdung
mittelständischer Unternehmen bedeuten und welche die
Wettbewerbssituation der deutschen Unternehmen im
Vergleich zu der ihrer europäischen Mitbewerber ver-
schlechtern. Dies würde letztlich dazu führen, dass Inves-
toren abwandern und Investitionen in das Ausland verla-
gert werden. Ich frage mich, wie der daraus resultierende
Abbau von Arbeitsplätzen mit einer vernünftigen Wirt-
schaftspolitik zur Sicherung des Standortes Deutschland
zu vereinbaren ist. Ich fordere Sie deshalb auf, gegen das
Artikelgesetz in dieser Form zu stimmen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Hermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Wir debattieren heute in zweiter und dritter Lesung
über einen außerordentlich komplexen und komplizierten
Gesetzentwurf, und zwar bisher von der Öffentlichkeit
weitgehend unbeachtet, obwohl die Regelungen wirklich
weitreichend sind. Natürlich hat das Gründe. Es ist klar,
dass ein Artikelgesetz außerordentlich schwer zu verste-
hen ist. Ich gebe den Zwischenrufern wie Herrn Paziorek
gerne Recht, wenn sie sagen: Das Artikelgesetz ist außer-
ordentlich schwer zu lesen. Das ist nun einmal der Cha-
rakter von Artikelgesetzen.
Aber, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
wenn Sie sozusagen Ökoprosa oder vielleicht die höhere
Ökolyrik gewollt hätten, dann hätten Sie gemeinsam mit
uns und gemeinsam mit Ihren Ländervertretern ein klares
und einfaches Umweltgesetzbuch vorlegen können,
mit einer einheitlichen Sprache und gemäß dem modernen
europäischen Recht, wie wir alle das hier immer be-
schwören. Aber das das möchte ich Ihnen deutlich sagen
hat diese Regierung nicht allein zu verantworten. Ich
möchte Ihnen ins Gedächtnis rufen, dass sich Ihre beiden
Umweltminister in den 90er-Jahren an einem Umweltge-
setzbuch versucht haben und daran gescheitert sind.
Doch, so ist es gewesen. Wir haben Ihre Vorlagen so-
gar aufgenommen, haben ebenfalls einen Anlauf genom-
men und sind auch gescheitert. Woran? Wir sind an
Ihren Landesfürsten gescheitert, weil diese gesagt haben:
Wir stimmen einer Verfassungsänderung nicht zu! Wir ge-
ben keine Kompetenzen ab!
Damit war das schöne Projekt eines Umweltgesetzbu-
ches, das wir alle vertreten, gescheitert, aber nicht, weil
wir es nicht gewollt hätten, sondern an der mangelnden
Bereitschaft der Länder, Kompetenzen abzugeben.
Wenn Frau Dött jetzt sagt, wir kämen zu spät, und auf
unsere Versäumnisse hinweist, dann muss ich ihr antwor-
ten: Das ist geradezu eine märchenhafte Verdrehung der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Marie-Luise Dött
16069
Geschichte. Die Umweltverträglichkeitsprüfungsricht-
linie stammt Kollegin Mehl hat schon darauf hingewie-
sen aus dem Jahre 1985. Sie haben es geschlagene
13 Jahre nicht geschafft, diese Richtlinie EU-rechts-
konform in Deutschland umzusetzen.
Sie haben die Richtlinie eben nicht EU-rechtlich kom-
patibel umgesetzt. Das war Ihr Fehler. Auch als Sie auf
diesen hingewiesen wurden, haben Sie ihn nicht korri-
giert. Sie haben auch die Umweltinformationsrichtlinie
von 1990 nicht EU-rechtskonform umgesetzt. Auch das
war schlecht und Ihre Schuld.
Sie haben uns die IVU- und die UVP-Änderungsricht-
linie überlassen, weil Sie sie selber in der Endphase Ihrer
Regierung nicht mehr auf die Reihe bekommen haben. Es
tut mir Leid, so war es.
Wir hatten zunächst einmal eine ganze Portion Altlasten
zu bearbeiten, die Sie uns jetzt auch noch vorwerfen. Das
ist ja das Allerschönste.
Wir haben nun ein Artikelgesetz vorgelegt, von dem
wir sagen: Von der Form her ist es natürlich die zweitbes-
te Lösung; ein UGB wäre besser gewesen. Aber wir ha-
ben es trotzdem gemacht, weil wir keinen anderen Weg
gesehen haben.
Wir haben uns von dem Ziel leiten lassen, möglichst rasch
europäisches Recht in deutsches Recht umzusetzen. Wir
haben uns übrigens, Frau Dött, als Leitprinzip tatsächlich
vorgenommen, vor allem EU-Recht im Verhältnis 1:1
umzusetzen und nur an wenigen Stellen mehr zu machen,
wo wir glauben, dass aus ökologischer Verantwortung aus
heutiger Sicht in Deutschland mehr zu tun ist.
Wir haben dort korrigiert, wo deutsche Standards heute
bereits höher sind, weil wir schon länger eine rechtliche
Regelung haben.
Jetzt muss ich Ihnen einmal etwas sagen, Frau Dött. Ich
darf Sie doch bitten, dass Sie jetzt zuhören. Frau Dött, Sie
haben hier im Namen der CDU über das deutsche Um-
weltrecht als Ausbund der Bürokratie vom Leder gezo-
gen: die Bürokratie als große Gefahr für die Wirtschaft.
Das hat sich für mich angehört, als wären die deutsche
Umweltgesetzgebung und die deutsche Umweltbürokra-
tie geradezu Staatsfeind Nummer eins. Ihre Argumenta-
tion ist pervers, denn all dies stammt aus Ihrer Zeit.
Das ist doch das Verrückte! Da äußern Sie doch Miss-
trauen gegenüber Verwaltung und Bürokratie. Das ist un-
geheuer.
Was wird sich durch dieses Artikelgesetz ändern? Es
gibt eine ganze Menge Positives.
Erstens. Wir werden die Umweltverträglichkeitsprü-
fung, wie das die EU wünscht, deutlich aufwerten und
ausweiten. Beispielsweise werden jetzt ungefähr
60 Branchen neu erfasst. Früher waren es nur 25. Das war
ein Grund, warum die Umweltverträglichkeitsprüfung
nicht EU-rechtskonform war. Wir werden zum Beispiel
beim Straßenbau künftig eine Umweltverträglichkeit-
sprüfung haben, wenn die Bundesfernstraße länger als
fünf Kilometer ist. Sie haben früher die Bundesfern-
straßen ohne UVP gebaut. Deswegen ist ja die EU darauf
aufmerksam geworden, dass hier etwas nicht stimmt. Wir
werden künftig verhindern, dass Kleinflughäfen so ne-
benbei zu Mittelstreckenflughäfen werden. Deswegen
UVP ab 1,5 Kilometer.
Im Bereich der Intensivtierhaltung da haben wir
draufgesattelt, das gebe ich gern zu
haben wir angesichts der BSE-Krise gesagt: Es kann nicht
sein, dass wir weiterhin die großen Legehennenbatterien
genehmigen, sondern wir brauchen endlich ein neues, zu-
sätzliches Kriterium.
Das ist der Flächenbezug: zwei Großvieheinheiten pro
Hektar. Das ist unser ganz wichtiges zusätzliches Krite-
rium.
Wir haben andere, für uns auch schwierige Bereiche
geregelt wie Windfarmen, Leitungsanlagen von Gasen in
der Chemieindustrie, und wir haben das Kumulations-
prinzip eingeführt: dass verschiedene Verfahren zusam-
mengezählt werden müssen, wenn sie sich gleichermaßen
auf die Umwelt auswirken. Alles in allem, glaube ich, ist
es eine gute Sache, wie wir die Umweltverträglich-
keitsprüfung jetzt aufgewertet und ausgeweitet haben.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Winfried Hermann
16070
Zweiter wichtiger Bereich der Verbesserung: Seit zehn
Jahren sagen alle, wir müssen die Bürger mehr beteiligen
und wir müssen die Teilhabe stärken. Hier haben wir er-
hebliche Verbesserungen vorgenommen. Zukünftig kön-
nen Bürger sehr leicht an Verwaltungsinformationen
kommen. Es gibt keine Entschuldigung mehr. Verwaltun-
gen müssen für die Bürger da sein. Sie dürfen nicht ir-
gendwelche Expertisen oder Studien zurückhalten. Das
gilt für alle Verwaltungen. Das stärkt die Bürgerbeteili-
gung und das stärkt letztlich auch die Umwelt.
Wir haben eine Fristverkürzung, damit das Ganze
nicht so lange dauert. Die Behörden müssen schnell und
rasch Auskunft geben und sie dürfen nur in wenigen Aus-
nahmefällen Informationen zurückhalten.
Die Erörterungsverfahren nach dem Bundes-
Immissionsschutzgesetz sind nach unseren Vorstellungen
künftig generell öffentlich. Das, meinen wir, ist ein Mehr
an Demokratie und auch dies ist ein deutlicher Fortschritt.
Wir haben den europäisch geforderten modernen inte-
grativen Ansatz, der querschnittorientiert ist, umgesetzt.
Wir haben ein einheitliches Anlagengenehmigungsver-
fahren, sicherlich nicht so perfekt, wie wenn man es über
ein UGB gemacht hätte, aber das war eben nur begrenzt
möglich. Aber es gibt eine federführende und koordinie-
rende Behörde. Das ist übrigens die erste Erleichterung
für die Wirtschaft. Das haben Sie in all den Jahren nie hin-
bekommen.
Das ist natürlich eine Erleichterung.
Sie sagen, die UVP würde die Behörde überlasten.
Wenn Sie sich die Angelegenheit genau anschauen, dann
werden Sie feststellen, dass es verschiedene Verfahren
gibt. Wir haben zum Beispiel klargemacht: Es gibt eine
standortspezifische Vorprüfung und danach wird über ein
modernes Screeningverfahren entschieden, ob es über-
haupt zu einer Umweltverträglichkeitsprüfung kommt.
Die Planspiele der Kommunen sie haben das zusam-
men mit der hiesigen Universität für uns einmal durchge-
spielt haben deutlich gezeigt: Es gibt Bereiche, in denen
nach Anwendung des neuen Verfahrens die UVP wegfal-
len wird, und es gibt andere Bereiche, in denen die UVP
kommen wird. Es ist tatsächlich eine Erleichterung. Alle
egal, ob es Bürgermeister von der CDU, von der F.D.P.
oder von den Grünen waren
haben das begrüßt und gesagt: Das ist so in Ordnung; das
ist gut so.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Ich möchte noch etwas zum Verfahren sagen. Es war
außerordentlich schwierig. Der Bundesrat hat es uns
nicht ganz leicht gemacht. Er selbst hat nichts entschie-
den. Er hat uns 350 Anträge gewissermaßen vor die Füße
gekippt. Wir mussten aussortieren. In vielen unserer Än-
derungsanträge sind Anregungen des Bundesrates aufge-
nommen; deswegen gibt es so viele Änderungen.
Alles in allem können wir sehr zufrieden sein,
dass wir dieses wirklich hochkomplizierte Verfahren, an
dem Sie immer gescheitert sind, zustande gebracht haben.
Wir haben uns tatsächlich bemüht, alle Seiten und nicht
nur wie die CDU die Interessen der Wirtschaft zu
berücksichtigen. Für uns war es wichtig, die Aspekte Bür-
gerbeteiligungsrechte, ökologischer Schutz und Umwelt-
verträglichkeitsprüfung auszubalancieren.
Jetzt ist
wirklich Schluss, Herr Kollege.
In diesem Sinne bedanke ich mich für das Zuhören.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Birgit Homburger von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Ich freue mich immer,
Herr Kubatschka, dass Sie sich solche Sorgen um mich
machen. Das ist wirklich bemerkenswert.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden heute über die Umsetzung diverser europäischer
Richtlinien in deutsches Recht über ein Artikelgesetz. Ich
muss sagen: Ich habe selten ein Gesetzgebungsverfahren
erlebt, das mit solch kopfloser Hektik durch die Gremien
gepeitscht wurde.
Ich prophezeie Ihnen: Es wird heute Abend wirklich nur
zu einem vorläufigen Abschluss geführt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Winfried Hermann
16071
Die F.D.P. begrüßt das Anliegen der Europäischen
Union, das Umweltrecht der Gemeinschaft einheitlich
und ökologisch anspruchsvoll zu gestalten. Wenn die
bisherige Rechtslage und die Praxis verbessert werden
können Herr Hermann, da sind wir mit Ihnen einer
Meinung , dann müssen dem auch die Umweltgesetze
in Deutschland folgen. Mit dem Artikelgesetz sollen
jetzt mehr als 20 deutsche Umweltgesetze auf einen
Streich geändert werden. Damit handelt es sich in die-
sem Fall um das wichtigste Gesetzgebungsvorhaben der
Umweltpolitik in dieser Legislaturperiode. Von daher
hätte es seitens des Gesetzgebers der besonderen Sorg-
falt bedurft.
Die Zuschauer der heutigen Debatte es sind nur noch
wenige werden sich vielleicht darüber wundern, dass ein
so wichtiges Gesetz vom Deutschen Bundestag buchstäb-
lich bei Nacht und Nebel debattiert wird. Es ist doch be-
zeichnend, dass wir heute Abend um 21 Uhr über dieses
Gesetz debattieren.
Das zeigt doch, dass Sie allen Grund haben, sich damit
von der Öffentlichkeit zu verstecken.
In einer öffentlichen Anhörung des Umweltausschus-
ses haben wir erst vor wenigen Wochen Sachverständige
zu dem Gesetzentwurf gehört. Deren Stellungnahmen und
auch die Kommentare der betroffenen Unternehmen fül-
len Aktenordner. Leider hat sich die Koalition nicht die
Mühe gemacht, die Kommentare und die Hinweise der
Experten angemessen zu würdigen.
Für die abschließende Ausschussberatung haben Sie
von Rot-Grün weit mehr als 100 Änderungsanträge zum
eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, die zum Teil erst am
Vorabend der Beratungen übergeben wurden.
Der Umweltausschuss wurde also mit einer Flut von An-
trägen überschwemmt.
Ich will Ihnen sehr deutlich sagen es handelt sich um ein
wichtiges Verfahren : Die Bundesregierung und die Ko-
alitionsfraktionen versuchen mit diesem skandalösen Ver-
fahren ökologisch wirkungslose
und europarechtlich in diesem Umfang nicht geforderte
Verschärfungen des deutschen Umweltrechts bei Nacht
und Nebel durchzusetzen.
Nicht ohne Grund hatte der Bundesrat davor gewarnt,
dass das Verfahren die
Das Wort
hat Frau Kollegin Homburger.
Vielleicht sollten Sie zwi-
schendurch einmal Luft holen, Herr Kollege Kubatschka.
Der Bundesrat hat nicht ohne Grund davor gewarnt,
dass das Verfahren eine sach- und regelgerechte Gesetz-
gebung beeinträchtige. Er hat mehr als 350 Empfehlungen
seiner Ausschüsse dem Deutschen Bundestag für das wei-
tere Gesetzgebungsverfahren übergeben.
Das zeigt, dass Ihr Gesetzentwurf an allen Ecken und En-
den Probleme bereitet.
Zuletzt hat der Vorsitzende des Rechtsausschusses erst
vor wenigen Tagen noch mitgeteilt, dass sich der Rechts-
ausschuss nicht in der Lage sehe, den Gesetzentwurf ord-
nungsgemäß zu beraten.
Das spricht Bände. Man musste eine Sondersitzung
durchführen, damit Sie heute das Gesetzgebungsverfah-
ren abschließen können.
Die gravierenden Verschärfungen bei der Anlagenzu-
lassung und die erhebliche Ausweitung von Vorhaben,
die nunmehr zwingend einer Umweltverträglichkeitsprü-
fung unterzogen werden sollen, bedeuten für die betroffe-
nen Unternehmen einen enormen Nachteil im europä-
ischen Standortwettbewerb und können gerade für kleine
und mittelständische Unternehmen die Frau Kollegin
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Birgit Homburger
16072
Dött hat dies gerade schon angesprochen im Einzelfall
existenzbedrohend sein.
Herr Herrmann, es ist doch so, wie es die Frau Kolle-
gin Dött eindeutig gesagt hat, dass nämlich eine rot-grüne
Ökobürokratie entsteht, ohne dass hierdurch für die Um-
welt etwas erreicht würde.
Der Begriff UVP erhält demnach eine ganze neue Bedeu-
tung: unheimlich viel Papier.
wie rückständig ihr seid!)
Die F.D.P. kritisiert an diesem Gesetzgebungsvorha-
ben vor allem, dass die geplanten Verschärfungen erheb-
lich über das europarechtlich geforderte Maß hinausge-
hen. Andere Länder in Europa haben für dieselben
Richtlinienvorgaben sachgerechtere, einfachere, weniger
bürokratische und weniger kostspielige Lösungen gefun-
den.
Wir haben deswegen einen Entschließungsantrag vor-
gelegt, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird,
diesen unverantwortlichen Gesetzentwurf zurückzuzie-
hen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, stattdessen ein
Konzept vorzulegen, mit dem die Umsetzung europä-
ischer Richtlinien zum Umweltschutz ökologisch zweck-
dienlich und ökonomisch verantwortlich erfolgt.
Das, was Sie zum Thema Erleichterungen für ökoaudi-
tierte Betriebe gesagt haben, entspricht bei weitem nicht
dem, was wir erwartet haben.
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass die F.D.P.-
Bundestagsfraktion schon zu Beginn dieser Legislaturpe-
riode einen Antrag mit detaillierten Forderungen vorge-
legt hat, den Sie abgelehnt haben. Jetzt haben Sie zwar
daraus einige Forderungen übernommen. Dennoch muss
ich sagen, dass das, was Sie vorhaben, nicht ausreicht, um
das Ökoaudit zu retten.
Frau Mehl, ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen
soll.
Ihr Entschließungsantrag, den Sie uns vorlegen, ist gera-
dezu zynisch Herr Hermann hat dies ebenfalls themati-
siert : Es wird dort allen Ernstes die Zusammenführung
und Vereinfachung des Umweltrechts in einem Umwelt-
gesetzbuch gefordert und die Bundesregierung gebeten,
die Kodifikation des deutschen Umweltrechts in einem
Umweltgesetzbuch zügig voranzubringen. Ich muss schon
sagen: Das schlägt dem Fass den Boden aus.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat vor einem Jahr die
Bundesregierung aufgefordert, genau dieses zu tun, nach-
dem Sie ein solches UGB vorbereitet in der Schublade
vorgefunden haben.
Anschließend haben Sie den Karren an die Wand gefahren.
Vor einer Woche haben Sie im Umweltausschuss des Bun-
destages den Antrag der F.D.P.-Fraktion, ein Umweltge-
setzbuch auf den Weg zu bringen, mit Ihren Stimmen
abgelehnt. Jetzt wollen Sie genau das tun. Seien Sie daher
bitte schön so konsequent, Ihren Antrag beiseite zu legen
und unserem Antrag zuzustimmen!
Ich will abschließend noch eine kurze Bemerkung zum
Zwangsgeld machen, das in einer Höhe von rund einer
halben Million DM pro Tag aus Brüssel droht. Damit lässt
sich die Überrumpelung der Gesetzgebungsorgane nicht
begründen. Das will ich sehr deutlich sagen. Die Belas-
tungen, die das Artikelgesetz bei den Ländern und bei den
betroffenen Unternehmen verursacht, sind nämlich weit-
aus höher als das Zwangsgeld.
Aus diesem Grunde sagen wir:
Ziehen Sie das Gesetz zurück! Sie sind damit gescheitert.
Wir werden weiterhin alles daran setzen, diesen Unsinn
zu verhindern. Jetzt ist der Bundesrat gefordert, diese
Nacht-und-Nebel-Aktion von Trittin zu stoppen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Birgit Homburger
16073
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Was wäre, wenn es die EU-
Kommission nicht gäbe? Das fragen sich Umweltschützer
immer öfter. Anscheinend reagieren Bund und Länder bei
der Umsetzung von EU-Recht nur unter Androhung von
Strafzahlungen oder Streichung von Fördermitteln. Das
betrifft die Ausweisung von FFH-Gebieten genauso wie
die UVP- und IVU-Richtlinie.
In ein paar Jahren wird man zurückblicken und sich
staunend fragen, was da eigentlich ablief. Anstatt endlich
das Umweltrecht zu straffen, zu bündeln, bürgerfreundli-
cher und vollziehbarer zu gestalten, liegt nun wieder ein
Artikelgesetz vor. Mehr als 20 umweltrelevante Gesetze
sollen damit geändert werden. Im Umkehrschluss ist klar,
dass die Quellen des Umweltrechts im deutschen Recht
verstreut sind wie des Gärtners Samen jetzt im Frühling.
Der Befreiungsschlag dieser absurden Situation ein ein-
heitliches Umweltgesetzbuch hat hierzulande gegen
den Widerstand in Ministerien und vor allem der Wirt-
schaft die hat noch niemand genannt anscheinend
keine Chance.
Was soll man nun von einem Artikelgesetz halten, von
dem selbst die Sachverständigen in der Bundestagsan-
hörung alle Experten des Umweltrechts freimütig ein-
gestehen, es nicht in Gänze überblicken, geschweige denn
verstehen zu können? Was bringt uns dieses Artikelgesetz
dem Inhalt nach?
Der Koalitionsentwurf hat den Anspruch, Beteiligungs-
und Informationsrechte der Bevölkerung auf ein höhe-
res Niveau zu heben. Diese Ziele umzusetzen ist der Re-
gierung im Wesentlichen nicht gelungen.
Künftig werden mehr Verfahren einer Umweltverträg-
lichkeitsprüfung unterzogen. Das ist ohne Zweifel ein
Fortschritt, auch wenn die von Rot-Grün für den Osten
verlängerten undemokratischen Beschleunigungsgesetze
beim Verkehrswegebau damit nicht zurückgenommen
werden.
Die Effizienz der Öffentlichkeitsbeteiligung, eines der
besten Kontrollinstrumente zur Verringerung des Vollzugs-
defizits in der Praxis, wird jedoch nicht gestärkt. In einigen
Punkten wird sie nicht einmal formal korrekt umgesetzt. So
fehlen beispielsweise die in der UVP-Änderungsrichtlinie
explizit genannten Begriffe für die Auslegung der Unterla-
gen im Anhörungsverfahren wie Ausstellung mit Plänen,
Tafeln, Modellen, also etwas sehr Anschauliches.
In Deutschland werden Bürgerinnen und Bürger wei-
terhin einsam mit vielen Leitzordnern in Büroräumen sit-
zen, um sich über ein Projekt zu informieren. Niemand
muss sich wundern, wenn sie darauf wenig Lust ver-
spüren. Dabei ist mit der Aarhus-Konvention erkennbar,
dass die Öffentlichkeitsbeteiligung nicht nur in Zulas-
sungsverfahren gestärkt werden soll.
Die anerkannten Naturschutzverbände werden an
den Zulassungsverfahren nicht frühzeitiger beteiligt. Der
Gesetzentwurf hätte regeln sollen, dass der gesamte Ge-
nehmigungsantrag in die öffentliche Auslegung kommen
muss,
nicht nur bestimmte Teile, wie dies derzeit nach deut-
schem Recht gehandhabt wird und wie es im Widerspruch
zur IVU-Richtlinie steht.
Auf dem Gebiet des Drittschutzes, der ebenfalls in
den 90er-Jahren zum Teil massiv erschwert wurde ich
erinnere an die Aufhebung der aufschiebenden Wirkung
von Widersprüchen , sind durch den vorliegenden Ge-
setzentwurf keine Verbesserungen zu erkennen.
Die im Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen zum
Umweltinformationsgesetz sind nicht an die weitgehend
fertiggestellte EU-Änderungsrichtlinie zu Umweltinfor-
mationen angepasst worden. Damit werden wiederum
wertvolle Zeit und gesetzgeberische Ressourcen ver-
schenkt.
Im Vergleich zur ursprünglichen Gesetzesvorlage
wurde im Ausschuss einiges nachgebessert,
unserer Meinung nach halbherzig.
Bei der Gebührenregelung wurde als Untergrenze
0 DM angegeben, die Obergrenze von 500 DM wird aber
beibehalten. Man hätte hier konsequent die NRW-Rege-
lung mit vollständiger Kostenbefreiung übernehmen sol-
len.
Für das UVP-Gesetz und in der Bundes-Immissions-
schutzverordnung wurden in Bezug auf die Tierhaltung
zwar die Schwellenwerte für die UVP auf die alten Werte
des UVP-Gesetzes abgesenkt, mehr aber auch nicht, sieht
man von der Einbeziehung von Rindermastanlagen und
Truthahnmastanlagen einmal ab.
Mit einem Änderungsantrag wurden zwar die von uns
kritisierten hohen Schwellenwerte im Verkehrsbereich
verändert. Die UVP-Pflicht nach Spalte-1-Verfahren ist
nun beim Bau einer vier- oder mehrspurigen Bundes-
straße schon ab 5 statt ab 10 Kilometer vorgesehen. Aller-
dings bleibt es bei allen anderen Bundesstraßen bei 10 Ki-
lometern und es ist dann auch nur eine Vorprüfung
vorgesehen, ob eine UVP durchgeführt werden muss.
Beim Bau von Flughäfen wurde der Schwellenwert
für die Start- und Landebahngrundlänge im Ausschuss
von weniger als 2 100 Metern auf 1 500 Meter gesenkt.
Wir wagen aber trotzdem zu bezweifeln, dass dadurch der
Bau vor allem kleinerer Flughäfen gebremst werden kann.
Zum Schluss möchte ich noch etwas zur Privilegierung
des Ökoaudits sagen: Deren Beibehaltung wurde von Ih-
nen und auch von uns kritisiert. Wir meinen nämlich, dass
es so nicht geht. Auch der DGB war der Meinung viel-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 200116074
leicht erinnern Sie sich noch daran , dass dieses über-
dacht werden müsse. Wir stimmen mit ihm überein, dass
die Ökoauditprivilegierung nicht sinnvoll ist.
Für die
Bundesregierung hat jetzt der Bundesminister Jürgen
Trittin das Wort.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Liebe Frau Bulling-Schröter, vielleicht
sollten Sie sich bezüglich der notwendige Länge von
Landebahnen bei Ihrem ehemaligen Fraktionsvorsitzen-
den erkundigen. Ich glaube, er ist auf diesem Gebiet Ex-
perte.
Ehemaliger habe ich gesagt, gnädige Frau. Sie se-
hen dann vielleicht ein, dass wir die Änderung der Um-
weltverträglichkeitsprüfung mit Augenmaß vorgenom-
men haben.
Sie von der PDS können es mir nicht vorwerfen, wenn
wir Gregor Gysi einmal zum Maßstab nehmen. Hier soll-
ten Sie sich zurückhalten.
Auch zu Ihren Ausführungen, Frau Dött, möchte ich
eine Anmerkung machen: Ich verstehe ja, dass Sie darauf
drängen, die Frage der wirtschaftlichen Vertretbarkeit von
Maßnahmen in besonderer Weise zu berücksichtigen. Ihre
Kritik an der Herabsetzung der Schwellenwerte bei Gal-
vanikbetrieben war etwas übertrieben. Hier geht es nur
um eine Vorprüfung. Erst dann, wenn es erhebliche Um-
weltauswirkungen gibt wir sind uns darin einig, dass
auch ein Kleinbetrieb erhebliche Umweltauswirkungen
haben kann , ist eine UVP nötig. Wenn Sie dieses als so
besonders problematisch ansehen, warum haben Sie sich
dann die Chance entgehen lassen, die Umweltverträglich-
keitsprüfung in den 13 Jahren, die Sie ab 1985 zur Verfü-
gung hatten, so zu gestalten, wie Sie das hier eben be-
schrieben haben?
Warum haben Sie die UI-Richtlinie von 1990 nicht in der
Form umgesetzt, dass sie nicht vom Gericht beanstandet
werden konnte?
Glauben Sie im Ernst, dass es im Sinne der bundesdeut-
schen Wirtschaft ist, wenn wir versuchen, die Konkur-
renzfähigkeit dadurch zu verbessern, dass wir bindendes
europäisches Recht einfach nicht umsetzen, und in
Rechtsstreitigkeiten verwickelt werden?
Herr Paziorek, das war aber die Situation. Sie haben
durch eine unzureichende, rechtswidrige sprechen wir
das Wort an dieser Stelle ruhig und gelassen aus , mit
dem Europarecht nicht konforme Umsetzung der Richtli-
nie den deutschen Wirtschaftsstandort nicht gesichert,
sondern gefährdet, weil in diesem Lande niemand wusste,
was er tun sollte.
Diese Rechtssicherheit ist nun gegeben.
Ich will eines hinzufügen: Wir haben uns zwar an die
Vorgabe gehalten, die Richtlinie eins zu eins umzusetzen;
haben aber weiter gehendes deutsches Recht bestehen las-
sen. Ich glaube, dass Sie das auch nicht kritisieren wollen.
Für dieses weiter gehende Recht soll ja die CDU/CSU, als
sie noch die Regierung stellte, zumindest gelegentlich
mitverantwortlich gewesen sein.
Ich bitte doch zu überlegen, ob Sie wirklich kritisieren
wollen, dass wir das von Ihnen geschaffene, über das Eu-
roparecht hinausgehende Recht nicht zurücknehmen. Ich
glaube, dass wir hier einen vernünftigen Weg gegangen
sind.
Dass die Umsetzung früherer Richtlinien gescheitert
ist, lag daran, dass Ihnen die Bürgerbeteiligung zu weit
ging: zu viel Teilhabe bei Planverfahren, zu viel Ak-
teneinsichtsrechte und zu viel Öffentlichkeit.
Das haben wir dann in der Tat korrigiert, und zwar auch
ganz im Sinne der Vorstellungen, die Frau Bulling-
Schröter hier mit der Aarhus-Konvention genannt hat:
mehr Bürgerrechte, mehr Beteiligung. Ich sage Ihnen
auch: Dies führt nicht zur Verlängerung von Verfahren,
sondern eine frühzeitige Beteiligung von Bürgerinnen
und Bürgern, eine Umweltverträglichkeitsprüfung und
mehr Öffentlichkeit führen in der Regel dazu, frühzeitig
Konflikte zu erkennen, sie frühzeitig zu moderieren und
dann zu schnelleren Entscheidungen zu kommen.
Letzte Bemerkung ein Appell und eine Bitte : Die über
viele Jahre nicht erfolgte Umsetzung von europäischem
Recht hat die Bundesrepublik Deutschland in eine sehr
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Eva Bulling-Schröter
16075
prekäre Position gebracht. Im laufenden Zwangsgeldver-
fahren drohen Deutschland 237 600 Euro Zwangsgeld
pro Tag.
An den Bundesrat kann ich an dieser Stelle nur mit
allem Nachdruck appellieren, bei der Beratung dieses Ge-
setzentwurfes die gleiche Zügigkeit und die gleiche Sach-
orientierung an den Tag zu legen, die dieser Gesetzent-
wurf hier im Deutschen Bundestag erfahren hat.
Dafür will ich mich ausdrücklich bedanken. Dies ist ein
Beispiel für schnelles Handeln.
Frau Kollegin Homburger, wir haben fast so schnell Ge-
setzgebung betrieben, wie Sie zu reden pflegen.
Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Dietmar Kansy von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen Umweltpolitiker aller Fraktio-
nen, keine Angst: Sie ändern im Rahmen Ihrer Gesetzge-
bung nicht nur rund 20 Gesetze im Umweltbereich, son-
dern bedauerlicherweise auch das Baugesetzbuch, das
Sie gerade mit Mühe und großen Anstrengungen auf Vor-
dermann gebracht haben.
Deswegen meldet sich der Dietmar Kansy heute Abend
noch zu Wort.
Ich habe bemerkt, dass sehr viele Fans auf der Tribüne
anwesend sind. Ich habe mir sagen lassen, dass all die jun-
gen Damen aus Straubing stammen. Sie sind wahr-
scheinlich nicht wegen Dietmar Kansy hergekommen,
sondern wegen Ernst Hinsken, der dort unten sitzt. Herz-
lich willkommen!
Die Umweltverträglichkeitsprüfungs-Änderungsrichtlinie
ist nun wirklich ein Thema, das das Herz junger Damen
schneller schlagen lässt.
Herr Kollege Hermann, noch ein Wort Sie hatten dies
schon einmal, als Sie Gast in unserem Ausschuss waren,
gesagt : Die kommunalen Spitzenverbände haben bei der
Anhörung wohl geltend gemacht, dass sie Riesenschwie-
rigkeiten sehen, dieses Gesetz zu exekutieren. Wenn die
Kollegin Dött die Bürokratie beklagt, dann ist dies nicht
aus der Luft gegriffen, sondern Ergebnis der Bundestags-
anhörung zu diesem Thema.
Meine Damen und Herren, die Beratung der Fachaus-
schüsse, insbesondere auch die Beratung des Bundesra-
tes, haben ja gezeigt, dass es in vielen Bereichen erhebli-
che Zweifel gibt. Herr Minister Trittin, die Frage, ob eins
zu eins, eins plus/minus oder brutto/netto umgesetzt wird,
ist egal. In einigen Bereichen dieser Gesetzgebung gehen
wir trotz der beiden Urteile aus den Jahren 1998 und
1999, die heute schon genannt wurden, über das hinaus,
was wir unter europäischen Gesichtspunkten tun müssen.
Somit ist die Aussage in Bezug auf die 15 Jahre sowieso
ein bisschen fragwürdig.
Das Baugesetzbuch, nach langer Beratung zum 1. Ja-
nuar 1998 in Kraft getreten, hatte eine ganz zentrale Auf-
gabe bzw. genauer gesagt die Gesetzgebung hatte ein
ganz zentrales Ziel: Die Berücksichtigung der Umwelt
war ein wesentliches Merkmal der Novelle des Bauge-
setzbuches. Herr Minister Trittin, wie Sie wissen, war es
Herr Töpfer, der einmal auf einem Stuhl gesessen hat, der
auch Ihnen zumindest derzeit noch nicht ganz unbe-
kannt ist.
Schon damals hatten wir ganz entschieden zum Bei-
spiel die nachhaltige städtebauliche Entwicklung als
Planungsleitlinie verankert. Wir haben die umweltschüt-
zenden Belange, Herr Kollege Hermann, in eine eigene
Vorschrift gebracht. Ich meine den berühmten § 1 a Bau-
gesetzbuch. Das ist im Bauplanungsrecht Stand der Ge-
setzgebung. Bereits damals haben wir die naturschutz-
rechtliche Eingriffsregelung in das Baugesetzbuch
integriert und fortentwickelt.
Wir haben viele neue Entwicklungen in Gang gesetzt:
eine neue Funktion der Flächennutzungsplanung, Kom-
pensationsmaßnahmen, neue Finanzierungsmöglichkei-
ten, die Verbesserung der Bodenschutzklausel, die Inte-
gration der Umweltfachpläne in das Bauplanungsrecht,
die Vogelschutzrichtlinie und die Aufnahme der Fauna-
Flora-Habitat-Richtlinie in das Bauplanungsrecht. Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsko-
alition, halten Sie es denn wirklich für verwunderlich,
wenn weit über die Kreise der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion hinaus jetzt viele Fachleute aus dem Bau- und
Planungsbereich fragen, ob es überhaupt erforderlich ist,
so kurze Zeit nach der Implementierung des neuen Pla-
nungsrechtes an einer Gesetzesmaterie schon wieder Än-
derungen vorzunehmen, die, wie jeder kommunaler Prak-
tiker weiß, Jahre brauchen, um in die Verwaltungspraxis
so weit eingeführt zu werden, dass sie dort tatsächlich un-
streitig gehandhabt werden?
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Bundesminister Jürgen Trittin
16076
Auch wir hatten auf Anregung des Ministers für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen unser eigenes Planspiel.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen hat
das sehr intensiv begleitet. Die Planspieler denen ich
übrigens, weil man sie sonst immer vergisst, bei dieser
Gelegenheit auch einmal ein Dankeschön sagen möchte
bekamen allerdings von der Bundesregierung vorgege-
ben, dass die mit dem Gesetzentwurf vorgesehenen Neu-
regelungen der Umsetzung zwingender europarechtlicher
Anforderungen entsprechen. Dies wird auch von mir im
Bereich des Bauplanungsrechtes zumindest in dem vor-
gesehenen Umfang entschieden bezweifelt.
Ob die europarechtliche Erweiterung des UVP-Kata-
logs bzw. der UVP-pflichtigen Vorhaben und die dort ge-
regelten bauverfahrensrechtlichen Anforderungen, die
nun mit dem Gesetzentwurf in das deutsche Recht über-
nommen werden, aus bauplanungsrechtlicher Sicht zu ei-
ner Verbesserung führen oder das Verfahren unnötig be-
lasten, wurde in diesem Planspiel von einem erheblichen
Teil der Planspieler und zwar wiederum unabhängig von
dem berühmten Bürgermeister, der eben schon genannt
wurde sehr uneinheitlich eingeschätzt, infrage gestellt.
Ausschließlich die Vorgabe, dass angeblich der deutsche
Gesetzgeber keinen Gestaltungsspielraum habe das
können Sie im Bericht über das Planspiel nachlesen , hat
die Planspielgemeinde nach ihren eigenen Aussagen dazu
gebracht, auf eine weitere Vertiefung der Argumente in
dem Verfahren zu verzichten.
Meine Damen und Herren, die Kommunen gingen in
diesem baurechtlichen Planspiel davon aus, dass nach
dem bereits bestehenden Abwägungsgebot auf gut
Deutsch also: nach geltendem Recht eine umfassende
Berücksichtigung aller relevanten Umweltbelange erfor-
derlich ist. Das bedeutet im Umkehrschluss: Sie kamen
übereinstimmend zur Auffassung, dass die bisherige Pra-
xis der Berücksichtigung der umweltrelevanten Belange
in der Bebauungsplanung grundsätzlich schon den inhalt-
lichen Anforderungen der UVP genügt.
Das ist einfach so.
Damit stoßen wir in Deutschland in einem Rechtsbe-
reich, mit dem sich Tausende von Kommunen und Zehn-
tausende von betroffenen Bürgern und Unternehmen täg-
lich unmittelbar auseinander setzen, zumindest in diesem
Umfang völlig unnötigerweise eine neue Diskussion an.
Deswegen sind wir eben der Meinung, dass wir auch
im Bauplanungsrecht die Sache wenn überhaupt etwas
schlanker hätten machen können. Unabhängig davon
Sie haben die Aussage der Planspielgemeinde und auch
der Fachleute zur Kenntnis genommen, Herr Staatssekre-
tär Großmann wird die Grundsatzentscheidung, die Um-
weltverträglichkeitsprüfung vollständig in das Recht zu
integrieren, begrüßt. Dennoch bleibt die Frage, die ich
eben schon thematisiert habe, unbeantwortet. Wenn es
nämlich richtig ist, dass zum Beispiel beim Abwägungs-
gebot die Anwendung des geltenden Rechts völlig ausrei-
chend ist die eindeutige und einstimmige Aussage der
Fachleute in diesem Planspiel , was hätte dann anders auf
der Hand gelegen, diesem Anliegen gerecht zu werden,
als einfach einmal durchzuchecken, wo es noch Hinder-
nisse gibt, die bewirken, dass sich nicht alle nach gelten-
dem Recht richten, und nicht schon wieder an den Schrau-
ben des Bauplanungsrechts drehen?
Die 1997 beschlossene und 1998 in Kraft getretene No-
velle des Bau- und Raumordnungsgesetzes hatte übrigens
auch noch ein anderes Ziel. Dieses Ziel hieß Vereinfa-
chung zugunsten der Bürger, zugunsten der Bauherren,
zugunsten von Investoren, aber auch zugunsten von Ver-
waltungen. Wir haben damals bewusst auf eine ganze
Reihe von hoheitlichen Instrumenten verzichtet. Aber was
nutzt uns jetzt nach der ganzen Kritik und nachdem sol-
che Dinge neuerdings zu Chefsachen erklärt werden im
Bauplanungsrecht zum Beispiel die Verkürzung von Fris-
ten wir haben damals um Wochen gerungen ,
wenn bei allem Respekt davor allein durch die Ein-
führung einer Flora-Fauna-Untersuchung, die ein Jahr
dauert,
das ganze Ringen um die Verkürzung um wenige Wochen
wieder zunichte gemacht wird.
Gut wird diese Untersuchung auf jeden Fall für
Landschaftsplanungsbüros sein;
so gut kennen wir uns in diesem Bereich aus. Ob sie aber
für die Bürger, für die Schaffung neuer Arbeitsplätze, zum
Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Stimulierung der
Wirtschaft gut ist, wage ich zu bezweifeln. Im Bereich der
Umweltpolitik ist dies letztendlich relativ irrelevant, weil
ich wiederhole mich deren Integration ins Baupla-
nungsrecht vor drei Jahren im Rahmen der Novelle zum
Baugesetzbuch in keinem europäischen Land so vorbild-
lich und so rechtzeitig erfolgt war wie in Deutschland.
Herr
Kansy, kommen Sie bitte zum Schluss.
Obwohl die
Änderung des Baugesetzbuches nicht unser zentraler Kri-
tikpunkt ist, sind wir damit nicht einverstanden. Es ist ein
Mosaikstein in einem Gesetz, das weit über die Erforder-
nisse hinausgeht. Es findet deswegen bedauerlicherweise
nicht die Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion.
Danke schön.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Bundesminister Jürgen Trittin
16077
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort die
Kollegin Petra Bierwirth von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Liebe Umweltkolleginnen und Umweltkolle-
gen von der Opposition, ich finde es reichlich unverfro-
ren, wie Sie an dieser Stelle auf schaumschlagende Art
und Weise gegen den vorliegenden Entwurf eines Artikel-
gesetzes zu Felde ziehen. Es ist heute schon mehrmals an-
gesprochen worden: Sie sind doch die Ursache dafür ge-
wesen, warum wir unter einem solchen Zeitdruck stehen,
dieses Artikelgesetz zu verabschieden. Sie haben es in-
nerhalb von zehn Jahren nicht geschafft, ein UGB auf den
Weg zu bringen. Ihr UGB, das in den Schubladen liegt, die
Sie heute nicht mehr haben, in allen Ehren: Wir legen
Wert auf Qualität.
Bemerkenswert finde ich auch, dass Sie sich als Um-
weltpolitiker, die Sie ja sein wollen, in den letzten Mona-
ten in die Reihe der Panikmacher eingereiht haben.
Ein kurzer Rückblick: Die Telefone klingelten Sturm, die
Faxe liefen heiß, eine E-Mail jagte die andere, Verbände
gaben sich in den Büros die Klinke in die Hand. Man hat
sich gefragt: Was ist los? Ist irgendwo ein Unglück pas-
siert oder steht der zweite Untergang der Titanic bevor?
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundestag
verabschiedet ein Umweltgesetz, ein Artikelgesetz zur
Umsetzung von EU-Richtlinien und zur Beseitigung von
Defiziten im Bereich der Umsetzung der Umweltinfor-
mations- und der UVP-Richtlinien.
Natürlich sind alle grundsätzlich dafür, diese Richtli-
nien umzusetzen. Natürlich muss auch etwas für die Um-
welt getan werden. Aber diese oder jene Ziffer solle doch
bitte, bitte gestrichen bzw. ein Grenzwert verändert
werden, und zwar nach oben. Alles sei eine furchtbare
Überregulierung und natürlich extrem standortfeindlich.
Anstatt auf das hohe Schutzniveau der Umwelt stolz zu
sein meine Damen und Herren von der Opposition, hier
hätten Sie einmal etwas, worauf Sie wirklich stolz sein
könnten und konsequent an der Verbesserung der Stan-
dards hin zu einer Nachhaltigkeitspolitik mitzuwirken,
sollen Grenzwerte angehoben werden; denn der Standort
Deutschland ist wieder einmal in Gefahr. Was sollen wir
nicht alles deregulieren, damit der Wirtschaftsstandort
Deutschland in den Augen der Wirtschaft wettbewerbs-
fähig wird!
Natürlich ist der Umweltbereich sowieso völlig überregu-
liert. Und wie liest es sich in einem Schreiben eines Ver-
bandes? Umweltpolitik ist auch Wirtschaftspolitik.
Das ist unzweifelhaft zutreffend. Aber das bedeutet bei
einer rot-grünen Regierung nicht, dass das Primat ökono-
mischer Interessen über das Schutzniveau unserer Um-
welt bestimmt.
Es kann wohl schwerlich beispielgebend sein, was uns die
USA derzeit mit ihrem Ausstieg aus dem Kioto-Protokoll
vormachen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Umweltrecht
ist kein Standortnachteil, sondern ein Standortvorteil.
Wer Modernisierung als schrankenlose Deregulierung be-
greift, wird die Gesellschaft in das Chaos stoßen und die
Umwelt ihrer weiteren Ausbeutung preisgeben.
Leider das ist auch schon mehrmals angeklungen
geschieht die Umsetzung des EU-Rechts unter einem
enormen Zeitdruck. Die Gründe dafür sind uns allen be-
kannt, schwebt doch die Vollstreckung eines Zwangsgel-
des zurzeit wie ein Damoklesschwert über uns. Die gebo-
tene Sachdiskussion war dennoch gesichert. Ich habe die
Stunden nicht gezählt meine Kolleginnen und Kollegen
auch nicht , die wir in den letzten Monaten an diesem
Gesetz gearbeitet haben.
Erinnert sei an dieser Stelle auch an die im Januar ver-
anstaltete Anhörung von Sachverständigen. Überwiegend
waren sich alle einig, dass das Artikelgesetz eine gelun-
gene Eins-zu-eins-Umsetzung des EU-Rechtes darstellt.
Natürlich ist das Artikelgesetz nicht das von uns nach wie
vor angestrebte Umweltgesetzbuch. Es ist auch das wird
von vielen Experten bestätigt ein gelungener Kompro-
miss widerstreitender Belange. Es ist eine vollständige
und rechtssichere nicht ganz einfache; das gebe ich zu
Umsetzung der EU-Richtlinien. Vor allem macht es keine
Abstriche an den bei uns geltenden materiellen und ver-
fahrensrechtlichen Umweltanforderungen.
Ich gehe kurz auf zwei wichtige neue Aspekte ein. Ers-
tens: die UVP-Änderungsrichtlinie und das UVP-Ge-
setz. 70 statt bisher 27 Projekttypen müssen im Rahmen
ihrer Genehmigung künftig einem Umweltcheck unterzo-
gen werden. Neu für das Verfahren der UVP ist auch die
Einführung des Scooping. Behörden und Vorhabenträger
stimmen sich in Zukunft über die Art und den Umfang der
vom Vorhabenträger vorzulegenden Unterlagen und An-
gaben ab. Diese Verfahrensweise trägt zur Beschleuni-
gung von Genehmigungen bei, da für den Antragsteller
eine Zurückweisung seiner Unterlagen wegen Unvoll-
ständigkeit nun weitestgehend ausgeschlossen werden
kann.
Zum anderen wird es jetzt neben der grenzüberschrei-
tenden Behördenbeteiligung bei Vorhaben auch eine
grenzüberschreitende Öffentlichkeitsbeteiligung geben.
Hier werden auch die Nicht-EU-Mitglieder einbezogen;
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 200116078
eine Regelung, die gerade für die Beitrittsländer von
großer Bedeutung ist.
Zweitens: die IVU-Richtlinie. Das EU-Recht ist bis
heute durch medienspezifische Regelungen geprägt.
Auch im deutschen Umweltrecht wird bis auf wenige
Ausnahmen, zum Beispiel im Wasserrecht, jedes Medium
für sich betrachtet und behandelt. Im Fünften Aktionspro-
gramm der Gemeinschaft für Umweltschutz ist vorgese-
hen, dass für die Industrie Genehmigungen gelten sollen,
die auf eine integrierte Verhütung von Umweltverschmut-
zungen und deren Überwachung zielen. In der jetzt um-
zusetzenden IVU-Richtlinie ist dieses Prinzip verankert
worden. Die Luft, das Wasser und der Boden werden
zukünftig nicht mehr für sich allein betrachtet, sondern
die Belastung der Umwelt in ihrer Gesamtheit rückt in das
Blickfeld.
Das stellt natürlich unzweifelhaft auch die Genehmi-
gungsbehörden vor neue Herausforderungen. Heißt es
doch in Zukunft, sich noch enger miteinander abzustim-
men und gegebenenfalls bei Zuständigkeit von mehreren
Behörden die Verfahren zu koordinieren. Für den Antrag-
steller ist das in meinen Augen eine Vereinfachung. Er
sucht jetzt nicht mehr die für sein Medium zuständige Ab-
teilung in der Genehmigungsbehörde, sondern gibt seine
Unterlagen so stelle ich mir den Idealfall vor an der
Pforte ab und von dort werden sie entsprechend weiterge-
leitet und bearbeitet.
Neu in der IVU-Richtlinie und in nationales Recht um-
zusetzen sind die Grundpflichten zur Vermeidung, Ver-
wertung und Beseitigung von Abfällen. Vielfach war
hier zu hören auch von Ihnen, meine Damen und Her-
ren , dieser Punkt der Richtlinie sei eine politische Wil-
lensbildung und müsse daher überhaupt nicht umgesetzt
werden. Dem ist nicht so. Es ist nicht möglich, ähnlich
wie bei einem Wühltisch im Kaufhaus beim Schlussver-
kauf, Regelungen herauszunehmen, die uns gerade ge-
nehm sind und die wir dann umsetzen, während wir die
anderen einfach liegen lassen, weil sie vielleicht ja ein an-
derer nimmt.
Die bisher im Bundes-Immissionsschutzgesetz getrof-
fene Regelung erfüllt die neuen Anforderungen nicht, so-
dass auch hier ein zwingender Handlungsbedarf vorliegt.
Das heißt natürlich nicht, eine ausufernde und grenzenlos
unbezahlbare Vermeidung zu fahren. Hier gilt nach wie
vor der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Betriebs- und
Produktionsaufwand einerseits und Nutzen für die Um-
welt andererseits sind abzuwägen.
Gleiches gilt für den Grundsatz der sparsamen und
effizienten Energieverwendung. Neben der effizienten
Verwendung der eingesetzten Energie verlangt die IVU-
Richtlinie auch einen sparsamen Umgang mit Energie.
Wie ein Unternehmen dieses Ziel erreicht, bleibt ihm
selbst überlassen. Jedes Unternehmen hat ja ein ureigenes
Interesse daran, sparsam mit Energie umzugehen. Mit die-
ser neuen Grundpflicht wird aber keiner Behörde die Er-
laubnis erteilt, sich in Produktionsprozesse einzumischen.
Den Bundesrat das ist heute schon mehrfach ange-
sprochen worden hat der Gesetzentwurf mit 350 Ände-
rungsanträgen verlassen. Der Bundesrat hat selbst nicht
abgestimmt und uns diese Anträge zur freundlichen Bera-
tung übersandt. Rund 130 Änderungsanträge sind von uns
im Verfahren intensiv beraten und beschlossen worden.
Dabei ist eine Anzahl von Anträgen des Bundesrats über-
nommen, aber von uns sind auch eigene Akzente gesetzt
worden.
Zwei Beispiele dafür: Im vorliegenden Gesetzentwurf
ist nicht klar erkennbar, ob bei Änderungen oder Erweite-
rungen eines Vorhabens nur die Erweiterung oder Ände-
rung oder auch das neu entstandene Vorhaben insgesamt
auf eine UVP-Pflicht zu untersuchen ist. Erhebliche Um-
weltauswirkungen können aber gerade auch aus dem Zu-
sammenwirken des bestehenden Vorhabens mit der Än-
derung oder Erweiterung entstehen. Dem wird hier
entgegengewirkt. Zum anderen wird der Tatsache Rech-
nung getragen, dass der Stärkung der Beteiligungsrechte
der Öffentlichkeit auf EU-Ebene eine immer größere Be-
deutung beigemessen wird. Auch wir sind der Auffassung,
dass dies im nationalen Recht zu verankern sei, und er-
möglichen es der interessierten Öffentlichkeit, an Erörte-
rungsterminen teilzunehmen.
Ein weiterer wichtiger Punkt, die Pflicht zur Getrennt-
haltung von Abfällen zur Verwertung und von Abfällen
zur Beseitigung am Ort des Entstehens im Kreislaufwirt-
schafts- und Abfallgesetz klar zu regeln, konnte leider
nicht in das laufende Gesetzgebungsverfahren aufgenom-
men werden. Wir werden aber dieses für die Kommunen
wichtige Problem weiter verfolgen und behandeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich betone zum
Schluss noch einmal: Auch wenn die Umsetzung der EU-
Richtlinien nicht im Rahmen eines Umweltgesetzbuches
gelungen ist, werden wir daran weiterhin intensiv arbei-
ten. Das Ziel der Koalitionsfraktionen bleibt die Schaf-
fung eines Umweltgesetzbuches als Teil der ökologischen
Modernisierung unseres Landes.
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie
über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetz-
entwurf zur Umsetzung der UVP-Änderungsrichtlinie,
der IVU-Richtlinie und weiterer EG-Richtlinien zum
Umweltschutz, Drucksachen 14/4599, 14/5204 und
14/5750. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme der zusammengeführten Ge-
setzentwürfe in der Ausschussfassung. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung mit
der vorhin vorgetragenen Berichtigung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. Gegenstimmen? Enthaltun-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Petra Bierwirth
16079
gen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf
ist damit mit gleicher Mehrheit angenommen.
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen, zunächst
zum Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/5772.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer
stimmt dagegen? Wer enthält sich? Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthal-
tung der PDS angenommen.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
der F.D.P. auf Drucksache 14/5783. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS-Frak-
tion bei Enthaltung der Fraktion der CDU/CSU und bei
Zustimmung der F.D.P.-Fraktion.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
der PDS auf Drucksache 14/5803. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei
Zustimmung der PDS-Fraktion und gegen die Stimmen
aller anderen Fraktionen.
Wir kommen zurück zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in
der Drucksache 14/5750. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung die Annahme einer Ent-
schließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen und der PDS-Fraktion gegen die Stimmen
der Fraktion der CDU/CSU und der F.D.P.-Fraktion.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit die Ablehnung des Antrages der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel Prüfung der Umweltverträg-
lichkeit den Erfordernissen einer modernen Umweltpoli-
tik anpassen, Drucksache 14/5546.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt
dagegen? Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung
ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen und der PDS-Fraktion gegen die Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Umwelt, Na-
turschutz und Reaktorsicherheit unter Nr. 4 seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der F.D.P. mit dem Titel Umsetzung der
IVU-Richtlinie Umweltgesetzbuch auf den Weg brin-
gen in der Drucksache 14/3397. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? Wer ent-
hält sich? Damit ist die Beschlussempfehlung ange-
nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der PDS-Fraktion sowie gegen die Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion.
Ich rufe die Zusatzpunkte 11 und 12 auf:
ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der F.D.P.
Ausreichende Rechtssicherheit für deutsche
Unternehmen und Bereitstellung der Mittel zur
Gewährung von Leistungen an ehemalige
Zwangsarbeiter und von anderem Unrecht aus
der Zeit des Nationalsozialismus Betroffene
nach dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung
Erinnerung, Verantwortung und Zukunft
Drucksache 14/5787
ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Sofortige Auszahlung an die Opfer der NS-
Zwangsarbeit
Drucksache 14/5788
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Dieter Wiefelspütz von der SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zu sehr später Stunde behan-
deln wir zum wiederholten Male ein Thema, das uns alle
auf ganz besondere Weise bewegt und bei dem wir Ver-
anlassung haben, uns erneut zu verständigen, wie es wei-
tergehen soll.
Wir verdanken es einer Initiative des Bundeskanzlers
Gerhard Schröder,
dass wir, das deutsche Volk, einer moralischen Pflicht
nachkommen wenigstens in Gestalt einer materiellen
Geste; viel mehr kann es nicht sein denjenigen zu hel-
fen, die vor vielen Jahren als Zwangsarbeiter unter dem
Regime der Nazis gelitten haben. Wir haben das Projekt
der Stiftung vor zweieinhalb Jahren begonnen. Ich sage
freimütig: Es ist außerordentlich schmerzhaft auch und
gerade für diejenigen, die mit sehr viel Herzblut bei der
Sache waren, um dieses Projekt zum Erfolg zu führen
dass wir so viel Zeit brauchten, um dort zu stehen, wo wir
heute stehen leider immer noch nicht am Ziel.
Es ist sicherlich ein außerordentlich schwieriges Ver-
fahren wir haben hier mehrfach darüber gesprochen ,
ein sehr kompliziertes Gesetzgebungsverfahren, ein inter-
nationales Vertragswerk mit sehr vielen Beteiligten.
Gleichwohl, wir wollen nicht über Schwierigkeiten spre-
chen, sondern Ergebnisse erzielen. Nach zweieinhalb Jah-
ren können wir die 10 Milliarden DM, zu deren Aufbrin-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
16080
gung wir uns verpflichtet haben, leider immer noch nicht
auszahlen.
Ich will freimütig und selbstkritisch einräumen, dass
ein Gutteil der Zeit, die ins Land gegangen ist, vielleicht
auf andere Weise hätte verwendet werden können. Es hat
nicht unbedingt so lange dauern müssen. Es gab auch auf
der deutschen Seite Versäumnisse. Wäre die Zusicherung
der Wirtschaft, 5 Milliarden DM bereitzustellen, früher
eingelöst worden, hätten wir vielleicht manchen Monat
gespart, hätten die nötigen Erklärungen längst abgegeben
werden können.
Ich will den Blick aber nicht so sehr in die Vergangen-
heit richten; denn wir haben eine Gestaltungsaufgabe. Wir
haben uns überlegt, was die deutsche Seite heute zusätz-
lich tun kann, um das von uns angestrebte Ziel endlich zu
erreichen, die 10 Milliarden DM nach Maßgabe der Er-
klärung des Stiftungsgesetzes freizugeben, weil vom
Deutschen Bundestag ausreichende Rechtssicherheit fest-
gestellt werden kann.
Wir die Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. schlagen Ih-
nen sicherlich mit sehr unterschiedlichem Zustim-
mungsgrad vor, einen Antragstext zu beschließen, des-
sen Zielsetzung ein Appell an die Verantwortlichen in
den Vereinigten Staaten von Amerika ist, jetzt dort al-
les Notwendige zu tun, damit Rechtssicherheit geschaffen
werden kann. Wir respektieren den Einsatz der amerika-
nischen Administration. Wir respektieren selbstverständ-
lich die Unabhängigkeit der amerikanischen Justiz, die
durchaus ihren Beitrag dazu geleistet hat, dass sehr spät,
aber immerhin das Geld der Wirtschaft beigebracht wor-
den ist. Wir respektieren all dies, bitten aber die amerika-
nischen Freunde, wo immer es sie angeht und erreicht,
von dieser Stelle aus, ihren entscheidenden Beitrag dazu
zu leisten, dass wir feststellen können, dass Rechtssicher-
heit gegeben ist und wir das Gesetz mit gutem Gewissen
ausführen können. Wir sind der festen Überzeugung, dass
es jetzt Sache der Amerikaner ist, ihren Teil dazu beizu-
tragen.
Wir haben heute Morgen gemeinsam ein Gespräch mit
dem Sonderbotschafter Bindenagel geführt. Ich bin ganz
sicher, dass man sich in den Vereinigten Staaten von Ame-
rika der Verantwortung bewusst ist. Jeder, der hier ans Mi-
krofon tritt, wird keine Garantien abgeben und keine Zu-
kunftsprognosen wagen wollen. Ich muss freimütig
sagen, dass ich im Laufe der letzten zweieinhalb Jahre
vielfach Situationen erlebt habe, die sehr schwierig wa-
ren, wo wir nicht weiterwussten und trotzdem zuversicht-
lich waren, die Schwierigkeiten zu meistern.
Ich bin mir heute sicher, dass niemand weder auf
deutscher Seite noch bei unseren Freunden in den Verei-
nigten Staaten von Amerika verantworten kann oder
will, dass dieses Projekt scheitert. Dieser moralischen
Verantwortung wird niemand ausweichen können und
wollen. Daher hoffe ich, dass wir schon in wenigen Wo-
chen endlich mit gutem Gewissen sagen können: Jawohl,
Rechtssicherheit ist gegeben. Wir stellen dies als Bundes-
tag fest. Alle sind bereit, ihre Arbeit hier in Deutschland
zu machen.
Ich hoffe sehr auf das Verständnis der amerikanischen
Administration, noch mehr auf das Verständnis der ame-
rikanischen Justiz und auch der Anwälte, für deren Kla-
gen ich durchaus Verständnis habe. Aber jeder muss wis-
sen, dass wir ganz dicht am Ziel sind und dass jetzt die
amerikanische Seite ihren Beitrag leisten muss, damit wir
dieses Gesetz endlich in Kraft setzen können.
Hinsichtlich des Inhalts dieses Gesetzes bin ich sehr
hoffnungsvoll und wünsche uns, dass dieser Antrag einen
Beitrag dazu leistet, dass wir durch das Handeln der ame-
rikanischen Freunde endlich Rechtssicherheit erreichen
können. Ich hoffe sehr, dass wir eine breite Zustimmung
bekommen und dass die Öffentlichkeit in Deutschland
und auch international versteht, dass wir nichts anderes
wollen, als das Geld so rasch wie möglich auszuzahlen. Es
ist nicht mehr als eine Geste des deutschen Volkes in der
moralischen Verantwortung für schwerste Leiden, die
Menschen im deutschen Namen zugefügt worden sind.
Herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft zuzuhören.
Als
nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Bosbach von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich persönlich damit
bin ich wahrscheinlich nicht alleine bedauere es, dass
wir heute Abend in der Debatte aufgrund unterschiedli-
cher Anträge in dieser Frage zum ersten Mal nicht ge-
schlossen agieren und abstimmen. Ich hätte mich gefreut,
wenn wir als Fraktionen mit einer Stimme gesprochen
hätten, da wir das Projekt in den letzten Jahren gemein-
sam begleitet haben und das Gesetz mit sehr großer Mehr-
heit im Deutschen Bundestag beschließen konnten. Es ist
ein wichtiges und sensibles Thema. Ich bin der festen
Überzeugung, dass es der Sache gut tun würde, wenn wir
auch in Zukunft als Fraktionen des Deutschen Bundesta-
ges bei diesem Anliegen gemeinsam auftreten könnten.
Für das Anliegen der PDS habe ich Verständnis; denn
es gibt niemanden im Deutschen Bundestag, der es sich
nicht wünscht, so schnell wie möglich Rechtssicherheit
mit der dann logischen Folge festzustellen, dass möglichst
rasch mit der Auszahlung begonnen werden könnte.
Für den Antragstext und seine Begründung habe ich al-
lerdings kein Verständnis. Deswegen werden wir den An-
trag ablehnen. Ich darf auf eine Passage beispielhaft hin-
weisen. In dem Antrag der PDS heißt es unter anderem
wörtlich:
Stattdessen werden von der Wirtschaft immer neue
Forderungen erhoben, was alles zur Herstellung der
im Gesetz geforderten Rechtssicherheit für deutsche
Unternehmen zu geschehen habe Forderungen, die
weit über die im Gesetz und in dem internationalen
Abkommen vereinbarten Regelungen hinausgehen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dieter Wiefelspütz
16081
Diese sind mir überhaupt nicht bekannt. Aus diesem An-
trag geht auch nicht einmal andeutungsweise hervor, um
welche Forderungen es sich hier handeln soll.
Wir haben die deutsche Wirtschaft von dieser Stelle
aus und wie ich meine, nicht zu Unrecht dafür geta-
delt, dass sie sich so unendlich schwer getan hat, den zu-
gesagten Betrag von 5 Milliarden DM aufzubringen.
Richtigerweise hätte man diese Kritik nur an diejenigen
Unternehmen richten müssen, die nicht gezahlt haben,
und nicht an diejenigen, die sehr früh in der Stiftungs-
initiative Deutscher Unternehmen für sich und andere
Verantwortung übernommen haben. Wir können aber jetzt
nicht die deutsche Wirtschaft dafür kritisieren, dass sie auf
Vertragstreue besteht und nun die andere Seite ebenfalls
die gegebenen Zusagen einhalten soll.
Zum Zeitpunkt der Vereinbarung waren 36 Klagen an-
hängig.
Erlauben
Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Jelpke?
Ja.
Bitte
schön.
Herr Kollege Bosbach, ist Ihnen
bekannt, dass der Sprecher der Stiftungsinitiative, Herr
Gibowski, mehrfach öffentlich gefordert hat, dass alle
Klagen eingestellt sein müssen, bevor vom Bundestag die
erforderliche Rechtssicherheit festgestellt werden kann?
Was halten Sie von dieser Forderung? Sind Sie der Mei-
nung, dass diese Forderung vorher in irgendwelchen Pa-
pieren festgelegt wurde? Was ist Ihrer Kenntnis nach bei
den ersten Verhandlungen festgelegt worden?
Die Forderung ist
mir bekannt. Richtig ist, dass die deutsche Wirtschaft
nach den Buchstaben der Vereinbarung erst dann ver-
pflichtet ist, ihren Betrag zur Verfügung zu stellen, wenn
die vereinbarte Gegenleistung erbracht worden ist, näm-
lich die Klagen abgewiesen, konsolidiert oder zurückge-
nommen worden sind. Das ist die eine Seite.
Eine andere Frage ist, ob der Deutsche Bundestag auch
dann ausreichende Rechtssicherheit feststellen könnte,
falls noch Klagen anhängig wären. Zusammen mit Herrn
Gibowski und anderen Vertretern der Stiftungsinitiative
teile ich nicht die Auffassung, es müsste einen Moment
geben, an dem überhaupt keine Klage mehr anhängig ist,
weil wir auf diesen Moment keinen Einfluss haben. Wir
haben immer gewusst: Vor dem Abschluss der Verein-
barung und auch danach wird es Betroffene geben, die,
aus welchen Motiven und Rechtsgründen auch immer,
möglicherweise Klagen einreichen werden. Das haben
wir gewusst und weil wir das gewusst haben, haben wir
die amerikanische Regierung darum gebeten, in diesen
Fällen das so genannte Statement of Interest abzugeben.
Wir können nun erfreulicherweise feststellen, dass eine
Reihe der damals noch bei Gericht anhängigen Klagen ab-
gewiesen oder zurückgenommen wurde; allerdings sind
gegenwärtig noch 23 Klagen anhängig.
In dem Antrag der PDS heißt es weiter:
Im Vordergrund aller Überlegungen darf nicht der
Streit um Rechtssicherheit stehen. Im Vordergrund
muss die Entschädigung an die Opfer stehen.
Das ist ebenso richtig wie falsch. Natürlich ist es nicht
der Stiftungszweck, 10 Milliarden DM aufzubringen.
Stiftungszweck ist, diese 10 Milliarden DM für die im Ge-
setz näher definierten Zwecke auszugeben. Wer will das
bestreiten? Deshalb heißt es ja auch: Zweck der Stiftung
ist es, über Partnerorganisationen Finanzmittel zur Ge-
währung von Leistungen an ehemalige Zwangsarbeiter
und andere aus der Zeit des Nationalsozialismus Betrof-
fene bereitzustellen.
Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Gesetzestext. Ein
Blick in das Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Das gilt
auch in diesem Fall; in der Präambel heißt es: Der Deut-
sche Bundestag geht davon aus, dass durch dieses Gesetz
das deutsch-amerikanische Regierungsabkommen sowie
die Begleiterklärungen der US-Regierung und die ge-
meinsame Erklärung aller an den Verhandlungen betei-
ligten Parteien ein ausreichendes Maß an Rechtssicher-
heit deutscher Unternehmen und der Bundesrepublik
Deutschland, insbesondere in den Vereinigten Staaten von
Amerika, bewirkt wird. Das ist der entscheidende Punkt.
Natürlich sind wir als Gesetzgeber frei, im deutschen
Parlament die Gesetze nach unseren Vorstellungen zu for-
mulieren, zu beraten und zu verabschieden. Bei diesem
Gesetz liegt der Fall etwas anders. Wir sind nicht als freie
Künstler tätig, sondern haben in dem Gesetz das nach-
vollzogen, was zunächst im Zuge langwieriger interna-
tionaler Verhandlungen von den Vertragsbeteiligten ak-
zeptiert worden ist. Wir haben zum Teil wortwörtlich in
das Gesetz geschrieben, was in internationalen Verhand-
lungen beraten und beschlossen wurde. Dazu gehört auch
hier gibt es einen untrennbaren Sachzusammenhang
der Punkt der ausreichenden Rechtssicherheit. Die
Summe von 5 Milliarden DM ist auch deswegen gezahlt
worden.
Sie ist von den Unternehmen an die Stiftungsinitiative
gezahlt worden. Liebe Frau Jelpke, Sie können hier eine
Zwischenfrage stellen das ist Ihr gutes Recht , aber
nicht permanent Geschichten erzählen, vor allen Dingen
keine Geschichten, die nicht stimmen. Die 6 000 Unter-
nehmen, die sich gegenüber der Stiftungsinitiative Deut-
scher Unternehmen zur Zahlung verpflichtet haben, ha-
ben gezahlt. Das kann nicht ernsthaft bestritten werden.
Richtig ist auch, dass das Geld noch nicht der Bundes-
stiftung zugeführt wurde. Aber das Geld ist aus dem Ver-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Wolfgang Bosbach
16082
mögen der Unternehmen, die gezahlt haben, abgeflossen.
Darüber kann man nun wirklich nicht unterschiedlicher
Auffassung sein.
Deswegen haben wir als Gesetzgeber gegenüber die-
sen Unternehmen und der deutschen Wirtschaft insgesamt
eine Verantwortung, von der wir uns nicht lösen können.
So, wie man uns als Gesetzgeber vonseiten der Partneror-
ganisationen hinsichtlich einer zügigen Errichtung der
Bundesstiftung und einer zügigen Bereitstellung der Mit-
tel vertraut hat, so haben auch die Beteiligten Anspruch
auf Vertrauensschutz vonseiten des deutschen Parla-
ments; sie müssen darauf vertrauen können, dass wir nicht
leichtfertig eine ausreichende Rechtssicherheit feststel-
len, obwohl diese tatsächlich noch nicht gegeben ist.
Uns wurde gesagt, dass am 1. Mai eine wichtige Ent-
scheidung fallen könnte, nämlich die Berufungsent-
scheidung über die von der Richterin Kram getroffene
Entscheidung. Uns wurde auch gesagt, es bestünde Hoff-
nung, dass die Entscheidung der Richterin Kram korri-
giert würde. Wäre dies der Fall, würden sich in der Folge
andere Klagen im Sinne der deutschen Wirtschaft und der
beklagten Unternehmen erledigen. Es entstünde dann eine
neue Lage. Uns ist zugesagt worden, dass Anfang Mai
Bundesregierung, Bundeskanzler und die deutsche Wirt-
schaft erneut darüber beraten werden, welches Maß an
Rechtssicherheit dann erreicht ist.
Wir müssen dann die Frage klären das scheint mir die
in diesem Moment wichtigste Frage zu sein , ob alle Kla-
gen, die dann noch anhängig sind, unter juristischen oder
wirtschaftlichen Gesichtspunkten die gleiche Relevanz
haben. Viele Kollegen vertreten die Auffassung, dass es
Klagen mit unterschiedlicher Bedeutung und unterschied-
licher rechtlicher Relevanz gibt. Das hätte zur Folge, dass
man die ich nenne sie einmal wichtigen Klagen, die
Präjudizklagen, also Berufungsklagen oder Sammelkla-
gen, tatsächlich rechtskräftig verglichen, abgewiesen oder
zurückgewiesen haben muss. Man muss sich dann die
Frage stellen, ob es nicht auch möglich ist, dass der Deut-
sche Bundestag Rechtssicherheit in einem Moment fest-
stellt, in dem noch die eine oder andere Klage anhängig
ist, wir aber mit an Sicherheit grenzender Wahrschein-
lichkeit davon ausgehen können, dass die dann noch an-
hängigen Klagen weder aus juristischen noch aus wirt-
schaftlichen Gründen für die betroffenen beklagten
Unternehmen und damit die deutsche Wirtschaft insge-
samt eine unzumutbare Belastung darstellen.
Unsere Hoffnung ist, dass wir diese Entscheidung noch
vor der parlamentarischen Sommerpause treffen können;
denn die parlamentarische Sommerpause würde eine Zä-
sur von mehreren Wochen in der parlamentarischen Ar-
beit bedeuten. Wir alle haben gemeinsam die Hoffnung,
dass wir noch vor der parlamentarischen Sommerpause
ausreichende Rechtssicherheit feststellen können. Das ist
die Hoffnung, die wir haben.
Wir müssen aber auch klar sagen, dass wir das nicht
versprechen können, sondern lediglich auf dieses Ziel
hinarbeiten können, und dass die Verabschiedung des ge-
meinsamen Antrages von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/
Die Grünen und F.D.P. dazu dienen soll, dieses Ziel zu er-
reichen. Deswegen sollte man heute im Interesse der Part-
nerorganisationen, der Hauptherkunftsländer der Opfer
und insbesondere der Opfer selber keine Hoffnungen
wecken, die wir unter Umständen nicht erfüllen können.
So ist dieser Antrag Ausdruck des Bemühens, erstens
die Einheit des Deutschen Bundestages, zweitens nicht
nur die Gemeinsamkeit zwischen allen Fraktionen, son-
dern auch zwischen der Bundesregierung, dem Parlament
und der deutschen Wirtschaft in dieser Frage zu zeigen
und drittens gegenüber der US-amerikanischen Justiz, die
nunmehr den Schlüssel für die Lösung in der Hand hält,
zum Ausdruck zu bringen, dass es jetzt auf sie ankommt,
dass sie möglichst schnell die Klagen zurückweist bzw.
die Verfahren mit einem Vergleich beendet oder dafür
sorgt, dass die Kläger ihre Klagen zurücknehmen, damit
der Deutsche Bundestag die Möglichkeit hat, ausrei-
chende Rechtssicherheit festzustellen, in der Hoffnung,
dass die Opfer möglichst rasch entschädigt werden kön-
nen.
Danke für das Zuhören.
Als
nächster Redner hat der Kollege Volker Beck vom Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Bosbach, bei Ihrer Rede fiel mir ein Satz aus der Bi-
bel ein: Glaube, Liebe, Hoffnung, aber die Liebe ist die
Größte unter ihnen. Ich denke, Glaube und Hoffnung im
Zusammenhang mit der Rechtssicherheit sind eine Sache.
Bloß sollten wir uns und vor allen Dingen der Öffentlich-
keit, so sie von dieser Debatte erfährt, die Welt nicht schön
malen, weil alles viel ernster ist, als es in Ihrer Rede zum
Ausdruck kam.
Zum zweiten Mal innerhalb sehr kurzer Zeit beschäf-
tigt sich der Deutsche Bundestag mit der Rechtssicher-
heit für die deutschen Unternehmen in den Vereinigten
Staaten und der Auszahlung der Entschädigungen an die
Zwangsarbeiter. Das ist Ausdruck der Eilbedürftigkeit
und auch der ernsten Sorge, die sich das Hohe Haus da-
rum macht, dass die Opfer endlich ihre verdienten Ent-
schädigungsleistungen bekommen. Gegenwärtig ist die
Hürde auf dem Weg zu diesem Ziel die fehlende Rechts-
sicherheit für deutsche Unternehmen in den Vereinigten
Staaten. Wir betonen deshalb für die US-amerikanischen
Gerichte noch einmal, dass die deutsche Seite alle Vo-
raussetzungen aus dem Regierungsabkommen und dem
Joint Statement erfüllt hat: Das Stiftungsgesetz ist verab-
schiedet. Die Stiftung ist errichtet. Die Finanzierung ist
gewährleistet und die Auszahlungen werden mit den Part-
nerorganisationen verwaltungstechnisch bereits vorberei-
tet.
Wir warten nur noch auf die Erfüllung der Vorausset-
zungen vonseiten der amerikanischen Gerichte, die
gemeinsam von allen Seiten, von den Klägeranwälten,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Wolfgang Bosbach
16083
den osteuropäischen Staaten, von Israel und von der US-
amerikanischen Regierung, akzeptiert wurden, damit
Rechtssicherheit geschaffen werden kann. Deshalb appel-
lieren wir noch einmal von hier aus an die Klägeranwälte,
die US-amerikanischen Gerichte und auch an die US-
amerikanische Bundesregierung, alles in ihrer Macht Ste-
hende zu tun, damit der vereinbarte Weg zur Auszahlung
der Entschädigungen an die Zwangsarbeiter schnell be-
schritten werden kann. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir
das noch einmal und auch gemeinsam tun.
Die Hoffnung richtet sich gegenwärtig auf die Ent-
scheidung über das gegen die Entscheidung von Richterin
Kram eingelegte Rechtsmittel. Gestern hat uns Professor
Neubourne, der auf dieser Seite die Klägeranwälte ver-
tritt, im Stiftungskuratorium berichtet, dass man hofft,
dass Anfang oder spätestens Mitte Mai über diese Rechts-
mittel entschieden wird und dass wir dann genauer wis-
sen, ob wir tatsächlich eine Chance haben, auf dem vor-
gezeichneten Weg des Stiftungsgesetzes zu baldiger
Rechtssicherheit und damit auch zur baldigen Auszahlung
der Entschädigungen zu kommen.
Aber, meine Damen und Herren, bei aller Hoffnung
müssen wir feststellen, dass diese Perspektive bei weitem
nicht sicher ist. Es handelt sich um Rechtsmittel, die im
amerikanischen Rechtssystem außerordentlich unbeliebt
sind, und es kann geschehen, dass sich die Berufungsge-
richte nicht in die erstinstanzliche Entscheidung über das
Zulassen der Klagen einmischen werden, bevor die erst-
instanzliche Richterin zu einem Urteil gekommen ist.
Wenn wir allerdings das erstinstanzliche Urteil abwarten
müssen, müssen wir uns auf einen Zeitraum von mehre-
ren Monaten, wenn nicht gar Jahren, einstellen.
Herr Bosbach, das muss ich Ihnen auch sagen: Wir ha-
ben als Deutscher Bundestag die Verantwortung einer-
seits gegenüber den deutschen Unternehmen. Da ist es
wichtig, dass wir von der amerikanischen Seite mehr ver-
langen als ausreichende Rechtssicherheit. Sie hat uns in
den Verhandlungen Rechtsfrieden versprochen. Nur wir
haben im Stiftungsgesetz von ausreichender Rechtssi-
cherheit gesprochen, weil wir nicht jede Einzelfrage auf
dem Rücken der Opfer austragen wollen.
Aber wir haben andererseits vor allem eine moralische
Verantwortung gegenüber den Opfern. Viele Opfer haben
zugestimmt, ihre Klage zurückzunehmen, weil sie ge-
dacht haben: Jetzt bekomme ich bald meine verdiente
Entschädigung. Wir haben eine Verantwortung gegenüber
den Opfern, die alt und krank sind, die im Sterben liegen
und materielle Not leiden. Ich meine, diese können nicht
dafür büßen, dass eine amerikanische Richterin nicht ein-
sichtsfähig ist, dass sie wegen Ansprüchen, die es gar
nicht gibt, eine Klageabweisung verhindert. Sie können
auch nichts dafür, dass andere Klägeranwälte Klagen ein-
gereicht und uns hier zusätzliche Rechtsprobleme ge-
schaffen haben, die aber jetzt im IBM-Fall wieder wei-
testgehend vom Tisch sind.
Deshalb finde ich, dass der Antrag der PDS bei allen
Mängeln in der Begründung in der Zielrichtung auf ein
Problem hinweist, mit dem wir uns alle spätestens Mitte
Mai noch einmal beschäftigen müssen, weil wir dann wis-
sen, ob wir auf dem Weg, den wir uns gemeinsam vorge-
nommen haben, tatsächlich zum Ziel kommen, oder ob
wir um der Verantwortung für die Opfer willen auch da-
rüber nachdenken müssen, ob wir einen anderen Weg ge-
hen müssen und diesen womöglich durch eine Änderung
des Stiftungsgesetzes frei machen müssen.
Ich sehe, dass die deutsche Wirtschaft wie der Brief
von Herrn Gentz an den Bundeskanzler unter Punkt 6
klarstellt bereit ist, diesen Weg mit uns zu gehen. Ich
sehe auch die Aufforderung des Stiftungskuratoriums von
gestern an den Deutschen Bundestag, bis zur Sommer-
pause die rechtliche Voraussetzung zu schaffen, damit die
Auszahlungen für die Zwangsarbeiter endlich beginnen
können. Ich muss sagen, ich nehme diesen Appell des
Stiftungskuratoriums deshalb so ernst, weil mich die Lage
der Opfer wirklich dauert. Sie haben über 50 Jahre auf
ihre Entschädigung warten müssen. Wir können sie nicht
noch ein oder zwei Jahr warten lassen. Die meisten wer-
den es nicht erleben. Deshalb brauchen wir bei dieser
Frage vor der Sommerpause einen Durchbruch. Wir, nur
wir hier im Deutschen Bundestag, haben dafür die Ver-
antwortung, dass es auch dann zu einer Lösung kommt,
wenn wir auf dem bisherigen Weg nicht zum Ziel gelan-
gen.
Das Wort
hat der Kollege Dr. Max Stadler von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Die F.D.P.-Fraktion stimmt
der Resolution der vier Fraktionen zu, weil in dieser Re-
solution im Wesentlichen das noch einmal zusammenge-
fasst worden ist, was auch von uns und anderen in der De-
batte am 15. März in diesem Haus schon gesagt worden
ist.
Ich verhehle aber nicht, dass wir im Vorfeld Bedenken
gehabt haben, ob es klug ist, diese Resolution heute hier
zur Abstimmung zu stellen, und zwar aus folgendem
Grund: In der Öffentlichkeit werden uns sehr kritische
Fragen zur gegenwärtigen Situation gestellt. Die Geduld
der Opfer ist erschöpft.
Wir sind am heutigen Abend im Deutschen Bundestag
nicht in der Lage, gegenüber der Debatte vom 15. März
wirklich neue Antworten zu geben. In der jetzigen Situa-
tion legen uns die gesetzlichen Regelungen Verpflichtun-
gen auf, die wir nicht übergehen können. In dieser Situa-
tion kann man auch nicht ohne weiteres eine
Gesetzesänderung vornehmen, weil dieses Gesetz be-
stimmte Geschäftsgrundlagen und Voraussetzungen hatte,
die zu ändern sehr kompliziert sind.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Volker Beck
16084
Was soll also eine Debatte, in der man nicht in der Lage
ist, auf die drängenden Fragen der Öffentlichkeit wirklich
substanzielle Antworten zu geben? Immerhin hat sich aus
der gestrigen Sitzung des Kuratoriums eine Neuigkeit er-
geben, die wesentlich sein könnte. Professor Neubourne,
der als Anwalt in den USA an den Verfahren unmittelbar
beteiligt ist, hat mitgeteilt, dass in dem Rechtsbehelfver-
fahren über die letzte Sammelklage, die in erster Instanz
bei Richterin Kram anhängig war, die Stellungnahmen bis
zum 18.April einzureichen sind. Es bestehe die Hoffnung,
dass bis zum 1. Mai entschieden werde. Das ist eine Neu-
igkeit, die man in der heutigen Debatte mitteilen kann.
Dieser 1. Mai wird der Dreh- und Angelpunkt für das wei-
tere Vorgehen sein.
Die Rechtssicherheit, die nach dem Stiftungsgesetz
Voraussetzung für die Auszahlung ist, entwickelt sich
schritt- bzw. stufenweise. Sonderbotschafter Bindenagel
hat darauf aufmerksam gemacht, dass schon 53 Klagen
abgewiesen sind. Das heißt, es ist gegenüber dem An-
fangsstadium schon jetzt ein weitaus größeres Maß an
Rechtssicherheit erreicht. Wenn die Sammelklage gegen
die Banken, die bei Richterin Kram anhängig ist, am
1. Mai und damit mehrere Berufungsverfahren in New
Jersey dort sind noch vier anhängig erledigt sein soll-
ten, würde sich das Maß an Rechtssicherheit so sehr stei-
gern, dass ich mit Professor Neubourne übereinstimme:
Dann wird im Mai im Deutschen Bundestag ernsthaft und
mit der Tendenz, eine Entscheidung zu treffen, über § 17,
über die Frage der Rechtssicherheit, zu reden sein. Bis da-
hin muss man die Opfer noch ein letztes Mal um Geduld
bitten.
Deswegen werden wir dem Antrag der PDS weder zu-
stimmen noch ihn ablehnen. Wir werden uns aus folgen-
dem Grund enthalten ich habe nicht genügend Zeit, um
mich mit den in der Präambel enthaltenen Details ausei-
nander zu setzen; dazu hat Kollege Bosbach schon Rich-
tiges ausgeführt : Das Hauptanliegen in dem PDS-An-
trag lautet, die Bundesregierung solle einen Vorschlag
unterbreiten, wie mit der Auszahlung an die überlebenden
Opfer noch vor der Sommerpause begonnen werden kann.
Dieses Anliegen kann im Mai aktuell werden; denn Pro-
fessor Neubourne hat auch ausgeführt, dass in dem von
ihm nicht erhofften Fall einer erfolglosen Berufung in
dem Sammelklageverfahren Kram ich zitiere wörtlich,
was er in der gestrigen Sitzung gesagt hat vieles neu
überdacht werden wird und überdacht werden muss.
Deswegen kann uns das im Antrag der PDS zum Aus-
druck gebrachte Anliegen im Mai sehr wohl beschäftigen,
sodass wir diesen Antrag heute nicht ablehnen wollen.
Wir enthalten uns der Stimme, weil heute noch nicht der
richtige Zeitpunkt für eine Entscheidung über diese An-
gelegenheit ist.
Abschließend möchte ich sagen: Ich hoffe, dass wir bei
der nächsten Debatte, die uns unweigerlich ins Haus steht,
endlich vom Reden zum Handeln kommen.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Liebe Kollegen, die bisher gemeinsam daran ge-
arbeitet haben, dass es zu einer Entschädigung der
Zwangsarbeiter kommt! Die PDS hat sich in dieser Si-
tuation gezwungen gesehen, hier einen Antrag zur Dis-
kussion zu stellen, der thematisiert, wie es möglichst so-
fort zu einer Entschädigung der Zwangsarbeiter kommen
kann.
Herr Bosbach, ich möchte Ihnen hier eindeutig wider-
sprechen: In meinen Augen haben die Zwangsarbeiter
ihren Anteil dazu beigetragen; sie haben ihre Klagen
zurückgezogen. Eine einseitige Debatte über die Rechts-
sicherheit sollte es zu diesem Zeitpunkt, wo wir an diesem
Projekt zweieinhalb Jahre gearbeitet haben die Zwangs-
arbeiterinnen und Zwangsarbeiter haben bis heute keinen
Pfennig gesehen , nicht geben.
Ich möchte Sie daran erinnern, dass die jüngsten Zwangs-
arbeiter fast 80 Jahre alt sind. Ich fürchte, dass viele von
ihnen wenn das Verfahren so weitergeht von diesen
Auszahlungen nichts mehr haben werden, weil sie gestor-
ben sind.
Der Kollege Stadler hat vorhin schon gesagt, dass es
uns in diesem Antrag darum geht, dass wir anfangen, da-
rüber nachzudenken, welche Modelle es gibt, wenn im
Mai das Vorhaben, Rechtssicherheit herzustellen, mögli-
cherweise gescheitert ist. Wir fordern daher die Bundes-
regierung und den Bundestag auf, sich schon jetzt und
nicht in ein paar Wochen diesbezüglich Gedanken zu ma-
chen. Nach der Osterpause könnte es nämlich schon zu
spät sein, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, um bis
zur Sommerpause eine erste Rate auszahlen zu können.
Was den heute vorliegenden Antrag der anderen Frak-
tionen betrifft, so möchte ich unsere Zweifel darüber zum
Ausdruck bringen, ob er das bewirkt, was sie wollen. Im
Grunde genommen richtet er sich hauptsächlich an die
amerikanischen Richter und Anwälte. Ich bezweifle aber,
ob eine Entscheidung, die in Deutschland getroffen wird,
auf ihr Handeln Einfluss hat; denn es werden damit aus-
gerechnet diejenigen angesprochen, die den Vertrag nicht
mit unterzeichnet haben. Wir wissen doch alle, dass die
Justiz unabhängig ist. Das ändert aber nichts daran, dass
auch wir alles dafür tun wollen, dass es Rechtssicherheit
gibt, so wie es in dem hier von uns mit verabschiedeten
Stiftungsgesetz steht. Dafür setzen wir uns ein. Aber dies
soll nicht einseitig geschehen.
Ich möchte außerdem hervorheben, was mich an die-
sem Antrag stört. Sie nehmen inzwischen die Wirtschaft
mit ins Boot. Ich muss aber in aller Deutlichkeit sagen:
Die Wirtschaft hat nicht nur ewig lange gebraucht, bis sie
die Summe von 5 Milliarden DM zusammengebracht hat.
Der entscheidende Punkt ist, Herr Bosbach, dass dieses
Geld bisher noch nicht in die Bundesstiftung eingezahlt
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Dr. Max Stadler
16085
wurde. Die Stiftung selber hat erklärt, dass sie diese
Summe zwar garantiert, dass aber das Geld bisher noch
nicht vorliegt. Ich fordere von dieser Stelle die Wirtschaft
nachdrücklich auf, das Geld endlich einzuzahlen, damit
gesichert ist, dass die Zwangsarbeiter ihre Entschädigung
erhalten, so wie es geplant ist.
Die Wirtschaft zahlt das Geld deswegen nicht ein, um das
Parlament unter Druck zu setzen, nicht ohne ihre Zustim-
mung Rechtssicherheit festzustellen.
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, ich komme gleich zum Schluss.
Man muss der Wirtschaft Herr Bosbach hat es schon
angesprochen einen weiteren Punkt ankreiden: Bei der
Rechtssicherheit wurde draufgesattelt. Es kommen immer
mehr Forderungen hinzu.
Das habe ich schon in meiner Zwischenfrage gesagt.
Was die Frage der Rechtssicherheit angeht, wird es immer
komplizierter.
Ich sehe die Situation sehr viel schwärzer, als Sie sie dar-
gestellt haben.
Zum Schluss möchte ich deutlich sagen: Die Forde-
rung, die wir heute zur Diskussion stellen, nämlich mög-
lichst schnell zur Auszahlung der ersten Rate an die
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu kommen,
wird vom DGB, von den Opferverbänden und auch von
einer breiten Öffentlichkeit mitgetragen. Ich bitte Sie im
Namen der Opfer, dass wir uns Gedanken über Modelle
machen, wie wir unter Umständen das Gesetz ändern
müssen, damit es zu einer Lösung vor der Sommerpause
kommt.
Ich danke.
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kol-
lege Ludwig Stiegler von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Es ist wirklich bedauerlich, dass sich die
PDS aus der gemeinsamen Initiative verabschiedet und
sich damit einen schlanken Fuß gemacht hat.
Es ist doch nicht so, dass nicht alle ich nenne beispiels-
weise die Kollegen Stadler, Bosbach, Wiefelspütz, Reuter
und Beck leidenschaftlich auf den Tag warten, an dem
ausgezahlt wird. Sie tun aber so, als hätten Sie in Bezug
auf diese Forderung ein Monopol. Sie fragen aber nicht,
wie es zur jetzigen Situation gekommen ist.
Wir haben ein Vertragswerk, das wir gemeinsam auf
den Weg gebracht haben. Wer aber dieses Vertragswerk
nicht in allen Teilen vollständig anwendet und strikt ein-
hält, der gefährdet am Ende die Auszahlung und damit das
ganze Projekt. Deshalb ist es in meinen Augen verwerf-
lich, dass Sie sich hier so davonstehlen und meinen, Sie
könnten sich in Öffentlichkeitsarbeit oder sonst wie einen
Vorteil erarbeiten. Das ist eine Profilierung auf Kosten de-
rer, die die Kärrnerarbeit leisten müssen.
Wir haben gemeinsam vereinbart, um Rechtssicher-
heit zu kämpfen. Der einzige Weg, diese zu erreichen, ist,
dass die amerikanische Seite jetzt ihre Leistungen er-
bringt. Wenn Sie sich nun hier hinstellen und sagen, es sei
unerhört, an Richter zu appellieren, frage ich mich, ob Sie
das ganze Vertragswerk überhaupt verstanden haben,
Frau Jelpke. Man kann nicht immer das Statement of In-
terest einfordern und damit die vertragliche Verpflichtung
der Vereinigten Staaten, bei ihren Gerichten zu interve-
nieren, und auf der anderen Seite sagen, es sei unerhört,
dass man sich an die Gerichte wendet. Dort gibt es ein an-
deres Rechtssystem, ein anderes Verfahrenssystem, bei
dem solche Einflussnahmen möglich sind.
Dies hat die gesamte Stiftungslösung erst möglich ge-
macht; ohne dieses System wäre es gar nicht möglich ge-
wesen. Wir haben bei uns nicht die Möglichkeit der
Sammelklagen und wir haben auch nicht die anderen In-
strumente. Nun kommt es wirklich darauf an, dass wir
uns, wie wir es verabredet haben, zusammen mit der Wirt-
schaft um ausreichende Rechtssicherheit kümmern und
den Amerikanern, auch durch den Deutschen Bundestag,
deutlich sagen: Die Mittel sind jetzt vorhanden. Was soll
der Zweifel, ob die Mittel vorhanden sind? Die Entschlie-
ßung hatte auch den Zweck, deutlich zu machen: Der
Deutsche Bundestag glaubt daran, dass die deutsche Wirt-
schaft ihre Zusagen einhält. Daran zu zweifeln ist kontra-
produktiv.
Das bringt uns in dem jetzigen Stadium unserem Ziel kein
Stückchen näher.
Deshalb ist es jetzt wirklich wichtig, dass über die di-
plomatischen Vertretungen, über den Brief des Bundes-
tagspräsidenten an seinen Partner in den Vereinigten Staa-
ten notifiziert wird: Wir haben alles getan und wir
erwarten, dass auch auf Ihrer Seite das Notwendige getan
wird.
Wenn wir zusammen etwas in Richtung Rechtssicher-
heit erreicht haben, dann kann man vor einem guten Hin-
tergrund mit der Wirtschaft darüber reden, wann das aus-
reichend ist. Dann kann man sagen: Wir haben uns nicht
einfach über die gemeinsamen Verträge hinweggesetzt,
sondern wir haben gekämpft, haben das Ziel gemeinsam
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Ulla Jelpke
16086
verfolgt, waren selber vertragstreu. Nun erwarten wir von
euch, dass ihr uns bei der Beurteilung, bei der Anwendung
des Wortes ausreichend entgegenkommt. Das ist
meine Vorstellung und das ist der nächste Zeithorizont,
den wir anzustreben haben.
Es ist wichtig, dass wir diesen Appell nach Amerika
senden. Es ist wichtig für die Opfer, Frau Jelpke. Was Sie
machen, bringt den Opfern keinen Pfennig. Es ist nur Re-
klame; Sie reden das Ganze schön. Es ist aber die harte
Arbeit, die wir hier machen, die den Opfern die Mittel
näher bringt. Man kann sich nicht einfach, weil man nicht
die Geduld hat, eine schwierige Phase durchzuhalten und
durchzuarbeiten, in letzter Minute davonmachen, wenn
man gemeinsam an dem Ziel arbeiten will.
Herr Kol-
lege Stiegler, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Jelpke?
Ja, wenn es sein muss.
Bitte
schön, Frau Kollegin Jelpke.
Herr Kollege Stiegler, ich möchte
nicht kommentieren, was Sie hier darüber sagen, wer sich
eingesetzt hat.
Sie sollen
auch nicht kommentieren, Sie sollen eine Zwischenfrage
stellen.
Ich werde eine Frage stellen; das
ist völlig klar.
Herr Kollege Stiegler, wann, meinen Sie, ist der Zeit-
punkt gekommen, dass wir die Diskussion führen müssen,
dass die Opfer wirklich zu ihrem Geld kommen? Sie ha-
ben wahrscheinlich wahrgenommen, dass gestern bei der
Kuratoriumssitzung zwar erneut der 1. Mai als Hoffnungs-
datum in die Diskussion gekommen ist, dass aber die
Möglichkeit besteht, dass wir, wie Herr Stadler eben
schon sagte, zu diesem Zeitpunkt eine sehr diffuse Situa-
tion haben könnten. Was ist Ihrer Meinung nach zu tun,
damit die Opfer wirklich zu einer ersten Rate kommen?
Nach meiner Meinung ist es
nicht gut, jetzt über Zeitpunkte zu spekulieren.
Es muss jetzt vielmehr alles getan werden, um die ameri-
kanischen Richter und die Anwälte dazu zu bringen, die
notwendigen Entscheidungen zu treffen. Mit bloßen Spe-
kulationen kommen wir nicht weiter.
Es ist auch unsere Aufgabe, Frau Jelpke, deutlich zu ma-
chen, dass Opfer nur über die Stiftung zu ihrem Recht
kommen, weil viele Unternehmen nämlich schon unter-
gegangen sind und manche Ansprüche im Detail nicht
mehr geprüft werden können. Nur auf dem Weg eines ge-
meinsamen Projektes kommen wir zum Ziel. Lasst uns
das Projekt nicht zerreden, sondern vollenden wir es mit-
einander im Interesse der Opfer, auch wenn wir ihnen jetzt
sagen müssen, dass wir noch eine schwierige Wegstrecke
zu gehen haben. Wir kämpfen aber miteinander dafür,
dass wir es Dieter Wiefelspütz hat hier auf die Zäsur der
Sommerpause hingewiesen endlich voranbringen. Hier-
bei hilft nichts anderes als kämpfen. Wir müssen im Inte-
resse der Beteiligten unsere Aufgaben erfüllen. Ich hoffe,
dass die Bundesregierung jetzt unverzüglich über alle di-
plomatischen Vertretungen dem Präsidenten und den Ge-
richten die Erwartung des Deutschen Bundestages nahe
bringt.
Ich bedanke mich bei allen Fraktionen, die bei der
Stange geblieben sind, dafür, dass sie gemeinsam mit uns
an diesem Projekt arbeiten. Die PDS rufe ich auf, sich
wieder an der gemeinsamen Sache zu beteiligen.
Vielen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grü-
nen und F.D.P. mit dem Titel Ausreichende Rechtssi-
cherheit für deutsche Unternehmen und Bereitstellung
der Mittel zur Gewährung von Leistungen an ehemalige
Zwangsarbeiter und von anderem Unrecht aus der Zeit
des Nationalsozialismus Betroffene nach dem Gesetz
zur Errichtung einer Stiftung Erinnerung, Verantwor-
tung und Zukunft. Wer stimmt für den Antrag auf Druck-
sache 14/5787? Wer stimmt dagegen? Wer enthält
sich? Der Antrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen
mit Ausnahme der PDS, die sich enthalten hat, ange-
nommen.
Wir kommen zur Abstimmung über Zusatzpunkt 12,
den Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel Sofortige
Auszahlung an die Opfer der NS-Zwangsarbeit, Druck-
sache 14/5788.
Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
haben beantragt, den Antrag zur federführenden Beratung
an den Innenausschuss und zur Mitberatung an den
Rechtsausschuss zu überweisen. Die Fraktion der PDS
verlangt hingegen sofortige Abstimmung. Nach ständiger
Übung geht die Abstimmung über den Überweisungsvor-
schlag vor. Ich bitte diejenigen, die dem Überweisungs-
vorschlag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer
stimmt dagegen? Wer enthält sich? Der Überwei-
sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der PDS und bei Enthal-
tung von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Damit
stimmen wir heute nicht in der Sache ab.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 164. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. April 2001
Ludwig Stiegler
16087
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung der Insolvenzordnung und anderer Ge-
setze
Drucksache 14/5680
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Die Reden zu diesem Gesetzentwurf sollen zu Proto-
koll genommen werden. Sind Sie damit einverstanden?
Das ist der Fall. Es handelt sich um die Reden des Parla-
mentarischen Staatssekretärs Dr. Eckhart Pick, der Abge-
ordneten Alfred Hartenbach, SPD-Fraktion, Dr. Wolfgang
Freiherr von Stetten, CDU/CSU-Fraktion, Volker Beck,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, Rainer Funke,
F.D.P.-Fraktion, und Dr. Evelyn Kenzler, PDS-Fraktion.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/5680 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-
weitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf:
12 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Christian Ruck, Hartmut Schauerte, Gunnar
Uldall, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Kraft-Wärme-Kopplung im Wettbewerb stär-
ken
Drucksache 14/4753
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Walter
Hirche, Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Kraft-Wärme-Kopplung auf dem Prüfstand
Drucksache 14/4614
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Walter
Hirche, Birgit Homburger, Ulrike Flach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Marktwirtschaftliche Förderung des Einsatzes
erneuerbarer Energieträger
Drucksache 14/5328
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen
zu Protokoll genommen werden. Ich sehe, dass Sie da-
mit einverstanden sind. Es handelt sich um die Reden von
Volker Jung und Christoph Matschie, SPD-Fraktion, von
Dr. Christian Ruck und Hartmut Schauerte, CDU/CSU-
Fraktion, von Michaele Hustedt, Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen, von Birgit Homburger, F.D.P.-Frak-
tion, und von Rolf Kutzmutz, PDS-Fraktion.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4753, 14/4614 und 14/5328 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Da-
mit sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Angela
Marquardt, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der PDS
Situation und Perspektiven der beruflichen
Ausbildung und des Systems der Weiterbildung
als Stufen eines lebenslangen Lernens
Drucksachen 14/2813, 14/5060
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen
zu Protokoll genommen werden. Sind Sie damit einver-
standen? Das ist der Fall. Es handelt sich um die Reden
von Ernst Küchler und Dr. Ernst Dieter Rossmann, SPD-
Fraktion, Werner Lensing, CDU/CSU-Fraktion, Christian
Simmert, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen,
Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion und Heinrich Fink, PDS-
Fraktion.3)
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 6. April 2001, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.