Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Zukunft des Unternehmens Bahn angesichts der gegensätz-
lichen Auffassungen von Bahnvorstand und Bundesregie-
rung
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hansjürgen Doss,
Peter Rauen, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU: Chancen des Mittelstandes in der
globalisierten Wirtschaft stärken – Drucksache 14/5545 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz,
Dr. Christa Luft, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS: Kleinunternehmer-Hilfefonds
effektiv organisieren und gesetzliche Voraussetzungen für
eine Nachfolgeregelung schaffen – Drucksache 14/5559 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek,
Marie-Luise Dött, Cajus Caesar, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU: Prüfung der Umweltverträglichkeit
den Erfordernissen einer modernen Umweltpolitik anpas-
sen – Drucksache 14/5546 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
5. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Sofortmaß-
nahmen zur Verbesserung des Verbraucherschutzes und
zur Unterstützung der landwirtschaftlichen Betriebe erfor-
derlich – Drucksache 14/5544 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Konsequenzen aus
der Tatsache, dass die deutsche Wirtschaft ihren Beitrag
zur Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
noch nicht geleistet hat
7. Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Leis-
tungen in der Pflege
– Drucksache 14/5547 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Haupt,
Dr. Irmgard Schwaetzer, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.: Für ein aktives und mitbestimmen-
des Leben im Alter – Drucksache 14/5565 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer
Brüderle, Paul K. Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.: Einsetzung eines Ausschusses für Ver-
braucherfragen – Drucksache 14/5568 –
10. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Pläne
und Vorstellungen der Bundesregierung zu einer Reform
des Sozialgesetzbuches und damit zu einem neuen Verhält-
nis zwischen Sozialpflichten und Sozialrechten
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-
weit erforderlich – abgewichen werden.
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158. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Beginn: 9.00 Uhr
Weiterhin ist vereinbart worden, als erstes Kernzeit-
thema die vereinbarte Debatte zu den transatlantischen
Beziehungen aufzurufen.
Der Tagesordnungspunkt 4 mit Zusatzpunkt 5 zu den
Bundesfinanzen soll erst nach dem Waldzustandsbericht
beraten werden. Die Beratung der Tagesordnungspunkte 7
– Pflege-Qualitätssicherungsgesetz – und 9 – Heimgesetz –
soll verbunden werden. Des Weiteren sollen die Beratun-
gen der Beschlussempfehlungen unter den Tagesord-
nungspunkten 16 d und 18 abgesetzt und die abschlie-
ßende Beratung des DRG-Systemzuschlags-Gesetzes
nach Tagesordnungspunkt 17 aufgerufen werden.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 6:
Vereinbarte Debatte zu den transatlantischen
Beziehungen
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung
sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Volkmar Schultz von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Willy Brandthat im Jahre 1972 in einer Rede vor der Harvard-Univer-sität Folgendes gesagt: Amerika wartet darauf, dassEuropa zu einem ebenbürtigen Partner – er sagte „equalpartner“ – heranwächst, mit dem es gemeinsam Verant-wortung für „world affairs“ übernehmen kann.Er hat dann in groben Zügen die Weiterentwicklung derEuropäischen Gemeinschaft über den damals noch festenEisernen Vorhang hinaus skizziert.Ja, Herr Außenminister, es ist gut, wenn gelegentlichgute Reden vor einem Universitätspublikum gehaltenwerden. Ich empfehle allen, die sich mit transatlantischenBeziehungen befassen, diese Rede von Willy Brandtvom 5. Juni 1972 noch einmal nachzulesen.
Der jetzige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat vorkurzem seine Vorstellungen zu den transatlantischen Be-ziehungen geäußert und unter anderem gesagt – ich darfdas nach der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitieren:In Zukunft muss die Europäische Union in der Lagesein, einen Beitrag zu einer stabilen Weltordnung zuleisten, der ihrem wirtschaftlichen und politischenPotenzial entspricht.
Ich persönlich möchte hinzufügen: Die Union mussdazu nicht nur in der Lage sein, sie muss auch den politi-schen Willen dazu aufbringen.Zwischen diesen beiden Zitaten liegen fast 30 Jahreund in dieser Zeit ist kaum eine Woche vergangen,
in der nicht irgendein kluger Kommentator den Bruch dertransatlantischen Beziehungen, das AuseinanderdriftenEuropas und Amerikas, die fundamentale Andersartigkeitder USAoder gar den Abstieg Europas heraufbeschworenhätte.Die letzten 30 Jahre haben aber auch bewiesen, dassalle diesen klugen Leute Unrecht hatten und Unrecht ha-ben – übrigens auch diejenigen in der CDU, die seit ihremeigenen Machtverlust nur noch Unheil am transatlanti-schen Horizont heraufziehen sehen. Diese Kassandrarufewerden in der Regel mit Vorwürfen wegen angeblicherVersäumnisse der jetzigen Bundesregierung begründetund im Hintergrund hört man dann immer den KollegenRühe als Lautverstärker republikanischer Wahlkampf-parolen, von denen sich inzwischen die Republikanerselbst schon wieder verabschiedet haben.Ich habe gar nichts dagegen, wenn man sich auch inAmerika mit besonders guten Freunden der „old boysconnection“ ausführlich austauscht. Aber jedermann istim europäischen Interesse aufgerufen, sich das ganzebreite Meinungsspektrum in Amerika anzuhören.
Dabei gibt es zu bedenken, dass zum Beispiel zwischenPentagon und State Departement ein immanentes Span-nungsverhältnis herrscht, das sich immer dann zeigt,wenn wichtige außen- oder sicherheitspolitische Ent-scheidungen anstehen. Dann gilt es auch zu bedenken,dass es ein klassisches Spannungsverhältnis zwischen derRegierung und dem Kongress in den USA gibt und dassdem Kongress bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissennicht mit simplifizierten Antworten aus Europa begegnetwerden kann.So gibt es in der Frage von „missile defense“ nicht dieAlternativen Gefolgschaft oder Verweigerung. Im Gegen-teil, wir haben unsere eigenen europäischen Erfahrungenmit Gefährdungen und Bedrohungen, aber auch unsere ei-genen Interessen, die wir in den transatlantischen Dialogeinbringen wollen. Was ist beispielsweise mit der Gefähr-dung durch miniaturisierte Massenvernichtungsmittel?Was ist mit Bedrohungen, die nicht von Staaten, sondernvon internationalen Banden ausgehen? Was bedeutet eineDefensivtechnologie für das bisherige Abrüstungs-regime? Wie reagieren andere Akteure in der Weltpolitik?Auf all diese Fragen gibt es auch in Amerika noch keinefertigen Antworten. Im Gegenteil, dort wird genauso hef-tig gestritten und debattiert wie bei uns.Auch von der CDU-Bundestagsfraktion gibt es nichteinmal andeutungsweise Antworten auf solche Fragen.Aber von der Bundesregierung verlangt diese Fraktioneine frühe Festlegung. Da ist der amerikanische Verteidi-gungsminister selbst sehr viel offener, wenn er einräumt,dass es einen Konsultationsbedarf mit Freunden, Alliier-ten und anderen Partnern gibt. Wir Sozialdemokraten se-
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Präsident Wolfgang Thierse15364
hen dies genauso, weil wir uns Sicherheit in allen Berei-chen für alle wünschen.Aber es wäre fatal, wenn wir nicht auch politische Al-ternativen zum Umgang mit so genannten „states of con-cern“ in die Diskussion einbringen würden. Es wäre fatal,wollten wir – wie es zumindest bei Teilen der CDU-Op-position den Anschein hat – die transatlantische Bündnis-diskussion auf NMD oder „missile defense“ verengen.
Nein, die transatlantischen Beziehungen sind für Eu-ropa zu wichtig, als dass wir sie für kurzatmige innenpo-litische Hahnenkämpfe missbrauchen dürften. Wir redenhier vielmehr auf der Grundlage gemeinsamer Werte, ge-meinsam erlebter wechselvoller Geschichte, auf derGrundlage intensiver kultureller Beziehungen und starkerwirtschaftlicher Verflechtungen und nicht zuletzt auf derGrundlage von Freundschaft und loyaler Partnerschaft.Wir reden und wir leben miteinander im Bewusstsein dergemeinsamen Verantwortung der reichen und hoch ent-wickelten Länder für die friedliche Weiterentwicklungder gesamten Welt. Und dabei gilt: Diplomacy first!Der Stellenwert einer Partnerschaft zeigt sich unter denseit 1989 veränderten Bedingungen darin, dass unter-schiedliche Perspektiven, Erfahrungen und Interessen of-fen angesprochen und behutsam behandelt werden, ohnedass das Verhältnis Schaden nimmt. Rechthaberei undEuro-Chauvinismus sind dabei genauso wenig zuträglichwie hegemoniales Gehabe.
Reibungspunkte gibt es in jeder engen Beziehung. DieFrage ist immer nur, wie man damit umgeht. MilitärischeMacht allein darf nicht mit Führung verwechselt werden.Wer führen will, muss Antworten auf die Probleme der Ar-mut, des Ressourcenmangels, der Umweltbedrohungen,der Proliferation, der Kriminalität, des Terrorismus, der In-toleranz und der Überbevölkerung suchen. Auch Amerikaist zu klein, um all diese Probleme allein zu lösen.Endgültige Antworten wird auch die transatlantischeGemeinschaft allein nicht geben können. Wir leben in ei-ner Weltgemeinschaft; wir brauchen multilaterales Han-deln, wir brauchen die Akzeptanz der Vereinten Nationenund anderer internationaler Organisationen gerade auchbei der politischen Klasse in den Vereinigten Staaten.
Hier liegt eine besondere Verantwortung bei uns Parla-mentariern, nämlich den Kolleginnen und Kollegen imKongress immer wieder klar zu machen, dass etwa dieProbleme Afrikas oder Asiens nicht ohne eine starke Rolleder Vereinten Nationen gelöst werden können.
Regierungen und Parlamente der demokratischverfassten Partnerländer müssen weitreichende Entschei-dungen treffen. Grundlagen für solche Entscheidungenkönnen nur die Bereitschaft zu gemeinsamer Problem-analyse, zum Lernen voneinander und zur nüchternen Ab-wägung von Chancen und Risiken sein. Die Stärkungund die ständige Erneuerung der – so heißt es allgemein –„learning community“ ist die wirkliche Aufgabe dertransatlantischen Beziehungen.
Dies setzt jedoch den Willen und die Fähigkeit der Eu-ropäer voraus, tatsächlich als gleichberechtigte Partner inErscheinung zu treten. Insofern sind die Worte WillyBrandts noch immer aktuell.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Kolle-
gen Volker Rühe, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir vor der Reisedes Bundeskanzler nach Washington diese Debatte imDeutschen Bundestag führen.Die transatlantische Partnerschaft – ich denke, darinsind wir uns einig – ist das feste Fundament unsererAußenpolitik. Sie ist im Rückblick auf die letzten 50 Jahreeine beispiellose Erfolgsgeschichte. Sie hat uns nämlichFrieden, Freiheit, Wohlstand und schließlich die Wieder-vereinigung Deutschlands und Europas gebracht. Mehrnoch: Durch die Erweiterung von NATO und Europä-ischer Union wird es jetzt unter den europäischen Staatenzu einer Nähe, einer Gemeinsamkeit und einem Mitei-nander kommen, wie es sie niemals zuvor in der Ge-schichte dieses Kontinents gegeben hat. Die transatlan-tische Partnerschaft ist für all dies die Grundlage.
Am Beginn des neuen Jahrhunderts stehen wir aberauch vor neuen Herausforderungen. Wenn wir sicherstel-len wollen, dass die Amerikaner in Europa bleiben – in ih-rer Geschichte war es für sie ein völlig neuer Schritt, eineRevolution, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Eu-ropa geblieben sind –, dann müssen wir zu einem rele-vanteren und gleichwertigeren Partner werden. WillyBrandt sprach von „ebenbürtiger Partner“. Bis dahin ist esnoch ein verdammt weiter Weg. Aber die Frage ist, ob wirglaubwürdige Schritte in Richtung dieses Ziels unterneh-men.Was nicht passieren darf, ist, dass das atlantischeBündnis zu einem bloßen Sicherheitsnetz verkommt. Eskann nicht sein, dass jeder einzeln herumturnt und nur beieinem Absturz von diesem Sicherheitsnetz Gebrauchmacht. Es darf nicht die Zukunft des atlantischenBündnisses sein, dass jeder macht, was er will, und diesesNetz nur als letzte Sicherheit dient.
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Volkmar Schultz
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Schon gar nicht darf die europäische Integration dazuführen, dass wir ein nebulöses Niemandsland der interna-tionalen Politik betreten oder dass sich Europa als Ge-genmacht zu Amerika versteht. Es gibt in der deutschenPolitik – darüber will ich sprechen – neben tragendenPfeilern in den transatlantischen Beziehungen auch Irrita-tionen, Unklarheiten, Widersprüche und Brüche. Das be-trifft die deutsche Reaktion auf den Militäreinsatz imIrak, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspoli-tik und die Frage der Raketenabwehr.Im Irak standen unsere amerikanischen und britischenAlliierten angesichts der Bedrohung ihrer Flugeinsätzedurch neue irakische Radaranlagen vor der Wahl, entwe-der diese Radaranlagen zu zerstören oder die Flüge ein-zustellen und damit dem Irak freie Hand gegenüber denkurdischen und schiitischen Minderheiten sowie bei derAufrüstung zu geben oder aber das Leben ihrer Piloten zuriskieren. Es war im Interesse der Bewältigung dieser Pro-bleme eine klare Entscheidung, wie die Amerikaner undBriten reagiert haben.
Der Einsatz war notwendig und richtig und hat unsere Un-terstützung verdient.Der Bundeskanzler hat sich über vier Tage in Schwei-gen gehüllt. Das war übrigens im Dezember 1998, als Sieschon Bundeskanzler waren, anders. Seinerzeit haben Siesofort den britischen Premierminister persönlich angeru-fen und Ihre Solidarität auch öffentlich deutlich gemacht.Damals gab es viertägige Militäreinsätze.Es war richtig, dass sich Außenminister Fischer inWashington hinter die militärische Aktion der USA ge-stellt hat. Aber wir beobachten ja immer wieder eine er-staunliche Wandlungsfähigkeit unseres Außenministers.Auf dem Parteitag der Grünen hat die neue Vorsitzendegesagt, die Grünen lehnten die amerikanischen Bombar-dements klar ab. Von Herrn Fischer haben wir aber nichtdieselben klaren Worte gehört. Ich finde, der deutscheAußenminister sollte sich im Bundestag genauso klar wiein Washington hinter diesen Einsatz stellen.
Herr Fischer, Sie haben ja eine erstaunliche Wandlungs-fähigkeit, je nachdem, wo Sie sprechen. Manche Menschenbezeichnen Sie als politisches Chamäleon. Ich finde, dieseBezeichnung ist nicht zutreffend, denn ein Chamäleon hateine Farbkonstante. Wenn ich aber sehe, wie unterschied-lich Sie an verschiedenen Orten sprechen, muss ich sagen:Das tut der deutschen Außenpolitik nicht gut.
Im Übrigen fordern wir die Bundesregierung auf, eigeneInitiativen und Vorschläge für die Neugestaltung desSanktionsregimes gegenüber dem Irak und für seineDurchsetzung vorzulegen. Es muss vor allem um eineEinengung der Sanktionen auf der militärischen Ebenegehen; diese müssen dann aber auch strikter als bisherdurchgesetzt werden.Zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-politik – ein vielleicht ganz entscheidendes Thema dernächsten Jahre –: Die Stärkung Europas durch einen si-cherheitspolitischen Arm ist richtig, wenn es letztlich derStärkung des Bündnisses dient. Wir haben das mit derdeutsch-französischen Brigade, dem Eurokorps, demdeutsch-polnisch-dänischen Korps in Stettin und der Ge-meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik praktiziert.Worum es bei dieser europäischen Politik gehen muss,haben Präsident Bush und Premierminister Blair beiihrem Treffen am 23. Februar zum Ausdruck gebracht, in-dem sie gesagt haben, es gehe darum,Europa zu einem stärkeren und leistungsfähigerenPartner zu machen, der imstande ist, Krisen, die dieSicherheit der atlantischen Gemeinschaft betreffen,abzuwenden und zu bewältigen.Die europäische militärische Handlungsfähigkeit – ichhoffe, wir sind uns darin einig – darf kein Programm zurVertreibung Amerikas aus Europa sein. Im Gegenteil: Siemuss die Vereinigten Staaten in diesem Jahrhundert in Eu-ropa binden. Deswegen darf es weder Doppelstrukturennoch eine Ausgrenzung der Vereinigten Staaten geben.
Ich gehe jedenfalls davon aus, dass der Bundeskanzlerbei seinem Besuch in Washington die deutsche Position indieser Weise klar machen wird. Aber er hat ein Problem:Wie wirkt denn das Bemühen, Europa zu einem stärkerenund leistungsfähigeren Partner zu machen, wenn dieserEinsatz für ein stärkeres Europa mit einer drastischen Un-terfinanzierung der Bundeswehr verbunden ist? Wie passtes zusammen, innerhalb von vier Jahren 20MilliardenDMweniger für die deutschen Streitkräfte auszugeben undgleichzeitig von einer Stärkung Europas zu sprechen?
– Auch bei uns war das Geld knapp; aber Sie geben in-nerhalb von vier Jahren 20Milliarden DM weniger für dieStreitkräfte aus.
Nur noch 1,1 Prozent des Bruttosozialprodukts werdenfür den Verteidigungshaushalt angesetzt und dieser Anteilbleibt hinter dem vieler kleinerer Staaten – von dengroßen ganz zu schweigen – in Europa zurück. Wie solleine solche Abmeldung von der Einsatzverpflichtung imBündnis mit dem Anspruch zusammenpassen, ein stärke-res Europa zu schaffen? Herr Bundeskanzler, Sie werden inWashington in Erklärungsnot kommen. Wer die eingelei-teten Maßnahmen nicht korrigiert, gefährdet die Glaub-würdigkeit Deutschlands als berechenbarer Bündnispartner.Deshalb fordern wir die Rückkehr zu einer mittelfristigenFinanzplanung, so wie wir sie für die weitere Entwicklungder Bundeswehr vorgesehen hatten. Nur sie gibt der Bun-deswehr eine ausreichende Grundlage.
Im Übrigen muss klar sein, in welchen Szenarien es zueiner konkreten Lastenteilung kommt. Auch hier gibt es
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Volker Rühe15366
auf der amerikanischen Seite viele Fragezeichen. Ich binjedenfalls davon überzeugt: Die USA werden eineRelativierung ihrer Führungsrolle im Bündnis akzeptie-ren, wenn die Europäer eine Aussicht auf eine echte Ent-lastung bieten. Völlig unglaubwürdig ist es, wenn mancheKollegen aus dem Koalitionslager immer die Dominanzder Vereinigten Staaten von Amerika beklagen, abernichts dafür tun, dass Europa stärker wird, um damit dieFührungsrolle der Vereinigten Staaten zu relativieren. Ichbin sicher, dass eine solche Politik machbar und durch-setzbar wäre.
Zur Raketenabwehr – ich glaube, es ist wichtig, vorIhrem Besuch in Amerika die Positionen zu klären; natür-lich werden wir noch umfangreichere Debatten haben –:Mit dieser Raketenabwehr zeichnet sich die technologi-sche Möglichkeit ab, angesichts der Proliferation einenSchutz zu schaffen und Abschreckung durch Elemente derVerteidigung zu ergänzen.
Sie gibt auch die Chance zu erheblichen Abrüstungs-schritten. Präsident Bush verbindet die Pläne einer Rake-tenabwehr zum Beispiel mit der Bereitschaft zu einer ein-seitigen drastischen Reduzierung auf nur noch einigeHundert Systeme bei den nuklearen Offensivraketen.Worum geht es? – Es geht jetzt um die Frage, ob wiruns auf eine neue Sicherheitsstrategie einlassen. Es gehtjetzt nicht darum, dass wir etwas bestellen, oder um dieHardware. Es geht, wie gesagt, um eine neue Sicher-heitsstrategie, um einen neuen Mix aus Abschreckung undVerteidigung, das heißt um die Chance, durch Raketenab-wehr einen gewissen Schutz zu schaffen und zugleich dieZahl der Offensivwaffen deutlich zu reduzieren. DieCDU/CSU-Fraktion hält es jedenfalls für richtig, dieseChance im Grundsatz zu ergreifen. Das trennt uns vondem Durcheinander, das auf Ihrer Seite herrscht.
Wir wollen, dass der Dialog über die Raketenabwehrauf der Grundlage einer engen transatlantischen Zusam-menarbeit offen für die Einbeziehung von Nicht-NATO-Staaten ist. Aber dafür ist die Formulierung einer deut-schen und einer europäischen Position Voraussetzung.Wenn wir auf die Amerikaner Einfluss haben wollen, dannmüssen wir hinsichtlich der deutschen Position Klarheitschaffen. Aber innerhalb der Bundesregierung und der Re-gierungskoalition geht es völlig durcheinander, wie daswirklich unprofessionelle Stimmengewirr beweist. DerVerteidigungsminister kritisiert von Moskau aus die USA.Der Außenminister sieht die Möglichkeit, dass Berlin eineVermittlerrolle zwischen Washington und Moskau spielt,so, als stünde Deutschland in einer Äqui-Distanz.Deutschland ist kein Vermittler, kein unbeteiligter Beob-achter, sondern wesentlicher Mitbeteiligter. Schließlichgeht es auch um unseren Schutz im 21. Jahrhundert.
Deshalb muss die Reihenfolge stimmen. Wir müssen einedeutsche Position formulieren, Einigkeit im Bündnisschaffen und dann den Dialog mit Russland und anderenNicht-NATO-Staaten führen.Herr Erler, Sie durften heute noch nicht einmal dasWort ergreifen.
– Gut, wenn Sie das Wort ergreifen, sollten Sie einmal er-klären, was Sie gemeint haben, als Sie gesagt haben, esgehe um potenzielle Unverwundbarkeit und das Ganze seiein riesengroßer Quatsch. Das ist Ihre Position, Herr Erler.Die neue Vorsitzende der Grünen sieht die Gefahr, dassdie Raketenabwehr mehr Konfrontation und eine Kon-terkarierung der internationalen Abrüstungsbemühungenbedeuten könnte.
Wenn Herr Erler tatsächlich Recht hat, wie ich aus derSPD-Fraktion gerade höre, dann stellt sich die Frage, wieIhr Bundeskanzler vorschlagen kann, dass wir uns an ei-nem solchen Quatsch beteiligen. Können Sie mir das er-klären?
Der Bundeskanzler spricht zwar von eminenten wirt-schaftlichen Interessen und von der Teilhabe an der Tech-nologie der Raketenabwehr. Aber zu den grundlegendenstrategischen Fragen und Chancen sagt er nichts. Ichdenke, man wird der Sache nicht gerecht, wenn man nurauf die Chancen im Hinblick auf die wirtschaftliche Teil-habe schaut. So können wir unsere Interessen im Bündnisjedenfalls nicht sichern. Im Kern geht es um eine Debatteüber eine neue Sicherheitsstrategie im 21. Jahrhundert.Dazu muss – darum geht es – grundsätzlich Ja gesagt wer-den. Der Außenminister muss klarstellen, was er gesterndamit gemeint hat, als er gesagt hat, man dürfe die USAnicht so stark kritisieren. Das ist eine dieser typischenwindelweichen, taktischen Formulierungen. Wenn das,was die USAvorhaben, richtig ist, dann sollten wir es un-terstützen. Wenn es falsch ist, dann sollten wir es deutlichkritisieren.
Aber wenn man aus politischen Gründen sagt, man solledas nicht so stark kritisieren, weil die USA das ohnehinumsetzen würden, dann wird man der Aufgabe, die deut-schen Interessen wahrzunehmen, nicht gerecht, HerrAußenminister.
–Wenn das richtig ist, dann unterstützen Sie es doch! Das,was am Vorhaben der Vereinigten Staaten falsch ist, soll-ten Sie kritisieren, und zwar deutlich.
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben eine klare Posi-tion. Wir haben auch einen entsprechenden Antrag einge-bracht. Wir fordern die Bundesregierung auf, das Angebot
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der US-amerikanischen Regierung, ein umfassendesRaketenabwehrsystem unter Einbeziehung der Alliiertenzu schaffen, anzunehmen und dazu konkrete Vorstellun-gen zu entwickeln, damit Deutschland in dieser Frage einechter Partner der USAsein kann. Es ist höchste Zeit, dasswir uns mit eigenen Initiativen für eine europäischeSchutzkomponente im Rahmen einer Allied Missile De-fense in den Entscheidungsprozess einbringen.Herr Bundeskanzler, von Ihnen verlangen wir, dass Siein Washington nicht nur darauf hinweisen, dass sichDeutschland finanziell und wirtschaftlich beteiligenmöchte. Sie sollten auch ein klares, grundsätzliches Wortzu den Überlegungen hinsichtlich einer neuen Sicher-heitsstrategie im 21. Jahrhundert sagen, und zwar zu allenAspekten der Raketenabwehr.
Wir brauchen eine klare deutsche Stimme. Nur dannkann auch die europäische Position bestimmt werden. Ichglaube, dass die transatlantischen Beziehungen aufgrundihrer 50-jährigen Geschichte im Kern gesund sind unddass es nach dem Regierungswechsel – Gott sei Dank –auch Kontinuität gegeben hat, dass es aber in den The-men, die ich angesprochen habe, ein Potenzial an Irrita-tionen und Brüchen gibt und dass deswegen die deutschePosition geklärt werden muss. Deswegen haben wir, HerrBundeskanzler, diese Debatte im Deutschen Bundestaggesucht; denn wir würden uns alle schweren Schaden zu-fügen, wenn die deutsch-amerikanischen Beziehungenund die europäisch-amerikanischen Beziehungen unterUnklarheit und unter Brüchen leiden würden. Deswegen:Nutzen Sie den Besuch in Washington – ich bin sicher, Siewerden dort sehr freundschaftlich empfangen werden –,um mit einer klaren Stimme die deutschen Positionen sovorzutragen, wie wir sie hier formuliert haben!
Ich erteile das Wort
Kollegin Rita Grießhaber, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es kam janicht überraschend, dass sich die neue Regierung in denUSA für ein wie auch immer geartetes Raketenabwehr-system entschieden hat. Es hat auch wirklich niemandenüberrascht, dass sich Herr Rühe daran beteiligen will. DieFrage ist nur: an was eigentlich? Ist es wichtiger, dabei zusein, als zu wissen, bei was man dabei ist? Die Bush-Ad-ministration jedenfalls überprüft zunächst einmal: Was istüberhaupt machbar und was ist finanzierbar? Was aber ei-nige schon überrascht haben müsste, ist, dass die Bush-Regierung den alten Haushaltsansatz der Clinton-Re-gierung im Militärbereich übernommen und die Mittelnicht aufgestockt hat, weil nämlich Bush die Realisierungder versprochenen Steuersenkungen wesentlich wichtigerist als die Aufstockung des Militärhaushalts. Da, HerrRühe, hat er, glaube ich, die gleiche Kluft zwischen Wor-ten und Taten, wie Sie sie hatten.
Für uns zeigt sich daran, dass dieses Projekt so schnellnicht kommen wird und dass wir hier die Zeit zu einer of-fenen, breiten und gründlichen Debatte haben, wie dastransatlantische Verhältnis vor allem im Sicherheitsbe-reich in Zukunft aussehen soll.Der Besuch des Außenministers in Russland – er hatdort ausdrücklich nicht vermittelt, falls Ihnen das entgan-gen sein sollte – hat doch klar gezeigt, dass wir eines nichtwollen, nämlich dass ein Keil zwischen Europa und dieUSA getrieben wird. Allerdings wollen wir, dass es eineinvernehmliches Verständnis zwischen Russland undden USA gibt.Der Besuch in Washington hat ergeben, dass auch dieRegierung Bush die enge Konsultation im atlantischenBündnis will und dass es keinen Alleingang geben wird.Ich denke, das ist ein wichtiger Erfolg.
Für uns besteht die Notwendigkeit, vieles zu klären:Welche Art von Sicherheit gibt es denn durch eine Rake-tenabwehr? Welche Auswirkungen hat sie auf die interna-tionalen Abrüstungsbemühungen? Und vor allen Dingen:Wie greift sie in das Kräfteverhältnis der Staaten ein? Wasbedeutet denn dieser Strategiewechsel, Herr Rühe, wegvon der alten Abschreckungsstrategie hin zu einem um-fassenderen Abwehrschutz für die, die sich nicht daran be-teiligen können oder wollen?
Dafür brauchen wir einen sehr viel stärkeren Austauschüber die Bedrohungsanalysen hier und in den USA. Wirmüssen unseren amerikanischen Freunden stärker als bis-her vermitteln, dass diese Art der Sicherheitspolitik, dievon einem erweiterten Sicherheitsbegriff ausgeht, von ih-nen nicht unterschätzt werden sollte und für uns Vorranghat.
Es gilt auch, bei den amerikanischen Freunden dafür zuwerben, dass uns der Wegfall der Bedrohung durch dasEnde der Blockkonfrontation zwar ein Stück weit unab-hängiger von den USA gemacht hat, aber eben nicht imSinne einer Abkopplung, sondern in dem Sinne, dass wirselber mehr Verantwortung übernehmen müssen und wer-den. Unser gemeinsames Anliegen ist es doch, die USAnoch enger in die internationalen Regime von Abrüstungeinzubinden, damit wir vorankommen. Wir wollen, dasssich die USA in zentralen Punkten bewegen. Das betrifftnicht nur das Engagement in den Vereinten Nationen,sondern auch die Ratifizierung des Römischen Statutszum Internationalen Strafgerichtshof
und den CTBT.Wir brauchen die USA bei der Lösung von sehr vielenProblemen, insbesondere beim Klimaschutz.Mit großerSorge nehmen wir die Prognosen über die Auswirkungender globalen Erwärmung zur Kenntnis. Wir appellieren
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Volker Rühe15368
dringend an die neue Regierung, bei der Eindämmung vonCO2-Emissionen mitzumachen und uns weltweit zu un-terstützen.
Bei einigen Themen kommen auch Unterschiede inTradition und Kultur zutage, zum Beispiel bei derHandhabung der Gentechnik. Es ist wichtig, festzustellen,dass wir nicht den europäischen Markt abschotten wollen,sondern dass Verbraucherinnen und Verbraucher keinegentechnisch veränderten Lebensmittel haben wollen.Manchmal nehmen wir die USA auch sehr eindimen-sional wahr, und zwar dort, wo wir sie nicht verstehen,zum Beispiel bei der Todesstrafe. Tatsache ist: In vielenStaaten ist sie abgeschafft und in der amerikanischen Ge-sellschaft selber gibt es eine heftige Debatte. Sehr, sehrviele engagieren sich dort für die Abschaffung der Todes-strafe. Ihnen gilt unsere Unterstützung.
Trotz aller Unterschiede ist auffallend, welche Faszi-nation die Vereinigten Staaten auf viele Europäer aus-üben. Daher stellt sich die Frage: Was können wir von ih-nen lernen? Warum sind sie so attraktiv für viele jungeMenschen, für Wissenschaftler und Künstler? Dabei istnicht nur das Modell Green Card, sondern auch die Of-fenheit, die Vitalität der amerikanischen Gesellschaft ins-gesamt interessant. Ich meine ihre Bereitschaft, bei allenUnterschieden immer wieder das Element der Gleichheitwahr zu machen. Davon können wir uns ein Stück ab-schneiden, statt nach einer Leitkultur zu suchen.
Im transatlantischen Verhältnis können zwar viele Pro-bleme zu Missverständnissen und zu Spannungen führen;aber wir sollten diese Differenzen nicht überbewerten.Die Bindungen zwischen Europa und Nordamerika sindtiefer und fester, als sie oft wahrgenommen werden.
Sie sind kein Selbstläufer und bedürfen selbstverständlichständiger Anstrengungen. Wir tun gern das Unsere dazu.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Wolfgang Gerhardt, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! In diesen Tagen kommt dasAuswärtige Amt etwas in die Jahre; denn es wird, wennman die Nachkriegsgeschichte der BundesrepublikDeutschland zugrunde legt, 50 Jahre alt. Mit Geschickund großartiger außenpolitischer Arbeit hat es diese großeKonstante der Nachkriegspolitik der BundesrepublikDeutschland, die transatlantischen Beziehungen, beglei-tet. Dazu dem amtierenden Bundesaußenminister herzli-chen Glückwunsch, mit der Bitte, ihn an die Mitarbeiterweiterzugeben!
Was erreicht worden ist, ist ein Stück Erfolgsgeschichteder Arbeit.Die alte bipolare Welt existiert nicht mehr; aber dieKonstante, die ich eben erwähnt habe, ist geblieben. DiesePartnerschaft hat sich zunächst zwar aus der Auseinan-dersetzung mit einem anderen Weltbild entwickelt, istaber, was die Grundwerte, die Individualrechte, die Per-sönlichkeitsrechte, die Freiheitswerte, die Globalisierung,den freien Markt und all das, was unsere Wertegrundlageausmacht, angeht, eine so tiefe Wertegemeinschaft ge-worden, dass wir sie nicht nur weiterhin brauchen; viel-mehr ist sie für uns, für beide Seiten des Atlantiks, kultu-rell unentbehrlich.Für uns Deutsche war Amerika nicht nur das, was wirnach dem Kriegsende ökonomisch mit dem Marshallplan,mit der Luftbrücke oder – um optische Signale zu setzen –mit dem, was sich mit „lucky strike“ verband, identifizierthaben. Für uns war diese transatlantische Brücke zutiefstnotwendig, um, wie Theodor Heuss es so präzise undprägnant formuliert hat,
im letzten Jahrhundert die politischen Eliten in Deutsch-land mit den wirklichen Demokratien des Westens zu ver-söhnen. Das ist gelungen. Das geht weit über ökonomi-sche Bindungen und temporäre Handelskonflikte hinaus.Wir wissen, dass wir auf Partner angewiesen sind. Dasgilt auch für den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Wirmüssen dafür Sorge tragen, dass das auch von den beidenZivilgesellschaften so gesehen wird; denn Kontakte aufRegierungsebene alleine reichen nicht. Partnerschaftenauf kultureller Ebene sind notwendig. Das gilt auch fürdie einzig verbliebene Weltmacht, die Vereinigten Staatenvon Amerika. Wir wissen, dass ihr Einfluss in derSicherheitspolitik stärker ist als unserer, dass auf ihr Ur-teil mehr gehört wird und sie sich besser sichern können.Das ist aber nicht der zentrale Punkt. Wenn sie zu nach-haltigen Problemlösungen in der Welt einen Beitrag leis-ten wollen, müssen sie begreifen, dass Partnerschaften ge-radezu kulturell notwendig sind. Darauf müssen wirhinwirken.
Das verschafft uns ein ganz anderes Stimmengewicht;dieses ist dann nicht mehr abhängig von der Größenord-nung Europas oder dem Fortschritt der europäischen Inte-grationsbemühungen, obwohl diese – das fände auch ichbesser – weiter fortgeschritten sein könnten, als sie zurzeitsind.In diesem Zusammenhang möchte ich einen wichtigenPunkt, Herr Bundesaußenminister und Herr Bundeskanz-ler, ansprechen: Es macht mir Sorge, dass wir einen
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Rita Grießhaber15369
Nukleus für die Verbindung unserer Zivilgesellschaftenverlieren, der die Nachkriegszeit prägte. Damals trans-portierten die bei uns stationierten amerikanischen Solda-ten die Kenntnis europäischer Kultur bis tief in denMittleren Westen der Vereinigten Staaten von Amerika.
Es ist deshalb nicht beliebig, wie gut man die Haushalts-titel für Studenten-, Bürger- und Künstleraustausch aus-stattet. Diese Frage darf nicht unter den Zwängen mittel-fristiger Finanzplanung entschieden werden. Es istdringend notwendig, dass diese Bereiche im Haushaltstärkeres Gewicht erhalten. Wir sind nämlich auf dieseVerbindungen zwischen den Zivilgesellschaften ange-wiesen.
Auch die Bedeutung der wirtschaftlichen Beziehun-gen wächst. Wir als Deutsche erkennen das zum Beispielan den Firmenkooperationen zwischen Daimler undChrysler, Telekom und Voice-Stream sowie DeutscheBank und Bankers Trust. Diesen frisch Vermählten stehtaber kein sicherer transatlantischer Bezugsrahmen zurVerfügung, denn die halbjährlichen Gipfeltreffen undKonsultationen auf der Agenda reichen nicht aus, um ei-nen wirklich belastbaren Rahmen zu schaffen.Die Themenkomplexe Bananen, Hormonfleisch, gen-technisch modifizierte Pflanzen wie Mais, Soja und Raps,Boeing und Airbus sowie die Helms-Burton-Gesetze wer-fen natürlich Konflikte auf und provozieren unterschied-liche Sichtweisen. Das muss offen miteinander bespro-chen werden, unabhängig von den sicherheitspolitischenThemen, die noch hinzukommen. Hin und wieder meldensich Stimmen zu Wort, die die Belastungen für schier un-erträglich halten. Ich finde, dass das deutsch-amerikani-sche Verhältnis so gut ist, dass es auch einige Streitigkei-ten und Belastungen aushalten kann. Es ist in keinerWeise ernsthaft gefährdet. Man kann über unterschiedli-che Interessen ernsthaft reden.
Meine Damen und Herren, man muss sich aber auchbemühen, in diesen Bereichen zu Lösungen zu kommen.Wenn die Konsultationen und die halbjährlichen Gipfel-treffen nicht ausreichen und im Anschluss daran lediglichKommuniqués veröffentlicht werden, ohne die Sachewirklich weitergebracht oder erledigt zu haben, muss manversuchen, einen für beide Seiten verbindlichen undWTO-konformen Streitschlichtungsmechanismus zuetablieren. Hieran führt kein Weg vorbei. Dies haben wirbeantragt. Herr Bundeskanzler, wenn Sie den amerikani-schen Präsidenten besuchen, ist dies einer der zu be-sprechenden Punkte. Es reicht nicht aus, dass in einemKommuniqué all das, was uns bewegt, lediglich aufge-zählt wird. Es muss ein Regelungsmechanismus vorge-schlagen werden, wie die Probleme zu bewältigen sind.
Wir müssen dies nicht nur öffentlich erörtern, sondern dieProbleme auch lösen. Wir sehen die bisherigen Aktivitä-ten der Bundesregierung als nicht ausreichend an.Die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten und dereuropäische Einigungsprozess sind die beiden Konstantender deutschen Außenpolitik. Der europäische Eini-gungsprozess ist von uns zu gestalten. Die amerikanischeAdministration fragt häufig symbolhaft nach einer Tele-fonnummer, die man anrufen kann, wenn man mit Europasprechen möchte. Das zeigt, dass den Amerikanern die eu-ropäische Visitenkarte sozusagen noch nicht ausreichendlesbar erscheint. Wir sollten es uns zur Aufgabe machen,intensiv daran zu arbeiten, dass dies möglich ist.Ich verstehe schon manche Stimmen aus Amerika – ichselbst habe nämlich in diesem Punkt Schwierigkeiten –,die sich darüber beschweren, dass nicht klar erkennbar ist,ob die Ergebnisse der beiden großen europäischen Gip-feltreffen unter deutscher bzw. französischer Präsident-schaft in Berlin bzw. Nizza wirklich ausreichen, um deneuropäischen Integrationsprozess strategisch weiterzu-bringen. Die Amerikaner haben Mühe, die entsprechen-den Kommuniqués und die Erörterungen zu verstehen.Angesichts des Verhaltens der europäischen Regierungs-chefs auf dem Gipfel von Nizza – sie haben unter Aus-schluss der Fernsehkameras den Vertrag unterschrieben –müssen sie den Eindruck haben, dass es zum Abschlusskeinen großen Erfolg gab.Es gibt – mit einer Ausnahme – noch keine europä-ischen Entscheidungen, die für die Vereinigten Staatenvon Amerika wirklich wahrnehmbar wären.
Die einzige Entscheidung, die sie bewusst wahrgenom-men haben, war die Entscheidung über die Einführung desEuro. Das zeigt uns aber, dass kohärente Entscheidungen,die völlig klar sind und mit denen Symbole nach außentransportiert werden, die europäische Visitenkarte gestal-ten können. Solche Entscheidungen sind nämlich wahr-nehmbar. Man kann sich deshalb auf sie einstellen und mitihnen kalkulieren. Die anderen Entscheidungen zer-fließen sozusagen in Bezug auf ihre Außenwirkung. Siemachen nicht ausreichend deutlich, welches Gewicht,welche weiteren Integrationsbemühungen und welcheZielvorstellungen Europa wirklich hat.Unter Partnern muss ein Punkt klar sein: Partnerschaftfunktioniert nur, wenn die eigenen Positionen klar er-kennbar sind, wenn man weiß, worauf der andere hinauswill, und wenn Zielvorstellungen präzise beschriebenwerden.
– Ich danke Ihnen für diesen Zwischenruf; denn er gibtmir Gelegenheit, an die Adresse der SPD zu sagen: Glau-ben Sie nicht, dass die deutsche Stimme irgendein Ge-wicht in Bezug auf die Sicherheitspolitik hat! Warumsonst wurde der Bundesverteidigungsminister anlässlichseines Besuches in Amerika von seinem amerikanischenKollegen gefragt, welche Bedeutung seine Stimme ange-
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Dr. Wolfgang Gerhardt15370
sichts des derzeitigen Zustandes der Bundeswehr eigent-lich habe?
Die Haushaltsverschiebungen, die Sie für die Bundes-wehr vornehmen, setzen nicht das Zeichen, in der Sicher-heitspolitik mitreden zu können. Das ist wirklich nicht derFall.
Wenn Sie auf diesem Gebiet mitreden könnten, dannkönnten Sie sich auch die Freiheit nehmen, unseren ame-rikanischen Freunden zu sagen – ich tue dies von hieraus –: Es besteht ein Missverhältnis zwischen guten Ab-sichten und dem erzielten Ergebnis beim Vorgehen imIrak, auch wenn man respektiert, dass es eine mit demVereinigten Königreich abgestimmte Entscheidung zumSchutz der Piloten war.
Es gibt auch in den Vereinigten Staaten von Amerikagenügend Stimmen, die sich ähnlich äußern. Unter Freun-den muss man diesen Punkt ansprechen. Die politischeWirkung steht im umgekehrten Verhältnis zum Ziel desselbstlegitimierten Vorgehens.
Dieses Verhalten bringt uns nicht weiter. Die Amerika-ner verhalten sich oft sehr robust, sind nicht sehr mittei-lungsbedürftig und sehen manche Abstimmungsnot-wendigkeit nicht so wie die europäischen Partner;anscheinend wurde die Bundesregierung nicht rechtzeitiginformiert. Man sollte sich daher die Freiheit nehmen,Herr Bundesaußenminister, beim Besuch den amerikani-schen Kollegen zu sagen, dass man dieses Verhalten alskritikwürdig empfindet und dass sich das nicht wiederho-len sollte. Wenn ich Ihre früheren Worte als Oppositions-politiker in Erwägung ziehe, dann wundere ich mich, dassSie diese Kraft nicht aufgebracht haben. Das war für unssehr interessant.
Der deutsche Verteidigungsminister besucht seinenamerikanischen Kollegen und verkündet dabei seine si-cherheitspolitischen Vorstellungen. Er verspricht den Ver-einten Nationen Stand-by-Forces, der NATO Krisenreak-tionskräfte und der Europäischen Union Eingreiftruppen.Der Generalinspekteur sagt aber, die Bundeswehr sei auf-grund der Haushaltslage nur bedingt einsatzfähig. Sokann man doch nicht gegenüber den Vereinigten Staatenvon Amerika auftreten!
Ich wundere mich auch, dass auf die Ideen und strate-gischen Anstöße, die es im NMD-Bereich gibt, nurzurückhaltend reagiert wird. Der Bundeskanzler hat inMünchen kritisch reagiert, in der „Saarbrücker Zeitung“etwas offener. Er sprach von Technologie-Sharing. Das istzwar alles richtig. Dennoch muss ich sagen: Seien Sienicht so naiv, zu glauben, Sie könnten den Amerikanernabgewöhnen, eigene Entscheidungen zu treffen! Die ei-gentliche Aufgabe ist, sich mit den Europäern abzustim-men, ein europäisches Interesse zu definieren und dasVorhaben kritisch zu bewerten, wenn die Amerikanerkeine Rücksicht auf die europäischen Positionen nehmen.Dies muss man den Vereinigten Staaten von Amerika mit-teilen.Man muss aber auch einen konzeptionellen Beitrag lie-fern, wie man das NMD-Programm in Zukunft gestaltenkann, ohne die Sicherheitsinteressen Russlands zu beein-trächtigen und neue europäische Missverständnisse zuprovozieren. Das wäre die Aufgabe. Da war nur dieStimme vom Herrn Bundeskanzler zu vernehmen: Wenndie das unbedingt wollen, sollten wir Wert auf Tech-nologie-Sharing legen. Das reicht zur Vorbereitung IhresBesuchs nicht aus, Herr Bundeskanzler. Sie müssen dasmit den europäischen Partnern abstimmen; es muss But-ter bei die Fische getan werden, wenn Sie über dieses Pro-jekt reden.
– Ich bin nur dafür, dass man es dann auch ausführt, eu-ropäische Interessen einbringt und den Vereinigten Staa-ten unsere Interessen mitteilt.
Wenn Sie jetzt den amerikanischen Präsidenten be-suchen, dann treffen Sie ja auf einen Freund. In vielen Fa-milien gibt man Erfahrungen weiter.
Der Vater des jetzigen Präsidenten hat für die Interessender Bundesrepublik Deutschland emotional viel mehrVerständnis und Engagement aufgebracht als manche, diein Deutschland selbst Politik gemacht haben.
Ich bin davon überzeugt, dass vieles auf den Sohn über-tragen worden ist.
Ich hoffe, dass das so ist. Wir sind davon überzeugt, dasser uns ein verlässlicher Partner ist.Im Übrigen: Wenn Sie ihn sehen, grüßen Sie ihn sehrherzlich von der Freien Demokratischen Partei,
die hohen Respekt vor einer Entscheidung hat, die er demamerikanischen Kongress mitgeteilt hat, die die andere,die ökonomische Seite der Vereinigten Staaten betrifftund die Sie dazu veranlassen muss, noch gewaltig überIhre Hausaufgaben nachzudenken. Der Mann hat demKongress schlicht mitgeteilt, dass der amerikanische Staatden Bürgern bedauerlicherweise zu viel Geld ab-genommen habe, und erklärt, dass er im nächsten Jahr-zehnt beabsichtige, an die Bürger eine bestimmte Summezurückzugeben. Diese Summe ist 30-mal so hoch wie die
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Dr. Wolfgang Gerhardt15371
Summe, die der deutsche Finanzminister den Bürgernzurückzugeben erst 2005 bereit ist. Uns erfüllt das mitgroßer Freude. Eine solche Partnerschaft kann sehr vonErfolg gekrönt sein, Herr Bundeskanzler.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Jetzt ist natürlich das Alterna-tiv- und Kontrastprogramm angesagt. Ich will eingangssagen: Bei der Rede des Kollegen Volker Rühe habe ichwieder einmal verstanden, dass die Linke zu- und umler-nen muss. Wir haben früher immer gesagt: „Völker, hörtdie Signale!“ Jetzt kann man sagen: Volker hörte die Si-gnale der neuen Bush-Administration aus Washingtonund flugs war er hier wieder auf dem Zettel.
Ich finde, die deutsche Öffentlichkeit, der Bundestagund unsere europäischen Nachbarländer haben ein An-recht, zu erfahren, mit welchen Botschaften der Bundes-kanzler zum US-Präsidenten Bush fährt, ebenso wie dieamerikanische Öffentlichkeit ein Anrecht darauf hat, dif-ferenzierte Meinungen zur transatlantischen Partnerschaftzur Kenntnis zu nehmen. Viele Menschen in unseremLande haben, anders als der Außenminister, die Luft-angriffe gegen den Irak abgelehnt und kritisiert und sagendas sogar öffentlich.
Sie sind mit der neuen Raketenrüstung, die fälschlicher-weise auch noch den Zusatz „defense“ trägt, nicht einver-standen und haben überhaupt den Eindruck, dass in deramerikanischen Politik – wenn ich das etwas volkstüm-lich sagen darf – der Colt recht locker sitzt. Wir haben diesganz deutlich gesagt.
Wenn US-Politiker Gütesiegel für Staaten der Welt ver-teilen und Länder als besorgniserregend einstufen – früherhatte man sogar den Begriff Schurkenstaaten –, fällt mirimmer auch für die USA selbst der Begriff besorgniserre-gend ein. Der Bombenangriff auf Bagdad als Auftaktder Präsidentschaft von Bush junior erfüllt zumindestmich und meine Fraktion mit außerordentlich großerSorge. Die USA sind für mich besorgniserregend.
Es wäre die Verpflichtung des deutschen Außenminis-ters gewesen, die Sorgen, die es in unserem Lande gibt,den USA entgegenzuhalten.
Zu allem Ja und Amen zu sagen hat nichts mit transatlan-tischer Partnerschaft zu tun. Wer nicht kritisiert, ist nichttatsächlich solidarisch. Er ist unterwürfig und das ist dasGegenteil von Solidarität.
Es ist für einen Linken schon bedrückend, dass er,wenn er nach positiven Stimmen sucht, darauf angewie-sen ist, den ehemaligen Außenminister Klaus Kinkel zuzitieren, der, anders als Fischer, zu dem Schluss kam, dassman unter guten Freunden auch einmal ein kritisches Wortsagen darf, ja manchmal sogar sagen muss. Ich hätte dasgerne gehört, als er noch Außenminister war. Aber späteErkenntnis ist immerhin auch eine Erkenntnis. Das unter-scheidet ihn von dem jetzigen Außenminister.
Vielleicht gibt es den Salto, wenn der jetzige Außenminis-ter nicht mehr Außenminister ist.Wir wollen vom deutschen Bundeskanzler Auskunftdarüber, welche Spielräume seiner Meinung nach fürDeutschland und Europa gegenüber den USA bestehen.Deutsche und amerikanische Interessen sind nicht per sedeckungsgleich. Das deutsche Interesse an internationa-len Organisationen wie der UNO ist größer als das derUSA. Deutschland als europäischer Staat muss anders mitRussland umgehen, als es die USA tun. Deutschland hat– auch unter der jetzigen Regierung, obwohl das schonetwas heißen will – eine andere außenpolitische Linie ge-genüber Ländern wie dem Iran oder Nordkorea. Be-grüßenswerterweise hat sich Deutschland aus der Embar-gopolitik gegenüber Kuba gelöst.Die USA setzen rascher auf ihre militärische Überle-genheit. Ihre Bereitschaft, sich von anderen etwas sagenzu lassen, ist auf ein Minimum gesunken. Die UNO wirdständig brüskiert und unterhöhlt. Selbst die NATO wirdnicht mehr konsultiert, ehe Bomben fallen. Die USA bre-chen immer häufiger Völkerrecht. Der Zustand der Men-schenrechte, von denen gegenüber anderen Staaten sohäufig gesprochen wird, ist in den USA höchst bedenk-lich, besorgniserregend.
Schließlich wächst die wirtschaftliche Konkurrenz zwi-schen der Europäischen Union und den USA, nicht nurauf den europäischen Märkten, auch in Asien und La-teinamerika.Die unterschiedlichen Interessen von Deutschland undEuropa einerseits und den USA andererseits fokussierensich in den US-Plänen eines neuen Raketensystems. Un-abhängig davon, ob dieses System technisch überhauptmachbar ist, streben die USA – das muss hier verstandenwerden – nach eigener Unverwundbarkeit – ob das gehtoder nicht – bei gleichzeitiger Fähigkeit, weltweit zu in-tervenieren. Diesen Zusammenhang muss man sehen.Deswegen ist es kein Abwehrsystem, sondern Teil eineraggressiven Politik.
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Dr. Wolfgang Gerhardt15372
Man kann das auch mit anderen Worten beschreiben: DieUSA streben nach Weltherrschaft. Das muss abgelehntund zurückgewiesen werden.
Das National Missile Defense – ob mit „National“ oderohne – zerstört die bestehenden Rüstungskontrollverträgeund verschärft Differenzen zu Russland und vor allem zuChina. Es ist doch Unsinn, dass dieses System gegen denIrak oder Nordkorea gerichtet sein soll. Es richtet sich vorallen Dingen gegen China und Russland. Das wird inChina und in Russland auch so verstanden.
Es provoziert neues Wettrüsten, schafft Zonen unter-schiedlicher Sicherheit und ist völlig ungeeignet, das zuleisten, was als Ziel vorgegeben wird: Abwehr vor Terro-rismus.Statt die gemeinsamen europäischen Interessen zurVerhinderung der US-Pläne zu stärken, entdeckt derKanzler plötzlich, es sei eine Sache des technischen Fort-schritts, daran teilzuhaben, und es könne dadurch eineneue Abrüstungsdebatte in Gang gesetzt werden. DieUSA suchen nicht technische Teilhabe, sondern finanzi-elle und politische Abstützung. Der Gedanke, mit Aufrüs-tung neue Abrüstungsbereitschaft zu fördern, ist wohleher ein Märchen als überzeugend.
Ein neues Wettrüsten mag für die US-Wirtschaft, geradeim Sinkflug begriffen, gut sein. Für Deutschland und Eu-ropa allerdings ist ein neues Wettrüsten schädlich und ge-fährlich. Deswegen wird es von uns abgelehnt.
Die Bundesregierung gefährdet, wenn sie Ja oder Jein zuden neuen US-Raketenplänen sagt, europäische und deut-sche Sicherheit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehe selbstver-ständlich davon aus, dass der Kanzler der BundesrepublikDeutschland in den USAdie Interessen unseres Landes zuvertreten hat und nicht in Deutschland die Interessen derUSA. Das muss hier deutlich gemacht werden. Das trans-atlantische Verhältnis muss reformiert und erneuert wer-den. Partnerschaft und demokratisches Selbstbewusstseinbrauchen wir anstelle von US-Weltherrschaft und deut-scher Unterwürfigkeit.
Das liegt sowohl im Interesse unseres Landes als auch imInteresse Europas und, wie ich meine, im wohlverstande-nen Interesse der USA.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Dies wardas Kontrastprogramm.
Ich erteile dem
Außenminister, Joseph Fischer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zumThema spreche, lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen,hier etwas anzusprechen, was uns in den letzten Tagensehr beschäftigt hat.Wie Sie wissen, wurden vier Landsleute von uns inÄgypten entführt. Diese Entführung ist jetzt Gott sei Dankdurch die Freilassung der Entführten glücklich zu Endegegangen.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, allen Beteiligten zudanken, vor allem den ägyptischen Behörden für ihrumsichtiges Vorgehen. Besonders danke ich PräsidentMubarak und Außenminister Amre Mussa für ihren Ein-satz, aufgrund dessen unsere Landsleute gesund undwohlbehalten zu ihren Familien zurückkehren können.
Meine Damen und Herren, es wurde zu Recht daraufhingewiesen, dass die transatlantischen Beziehungennicht nur unverrückbares Fundament der Entwicklung derdeutschen Demokratie bis hin zur Wiedervereinigung wa-ren und sind, sondern dass sie selbstverständlich auch fürden europäischen Einigungsprozess von überragenderBedeutung sind. Die Tatsache, dass die USAnach 1945 inWesteuropa vertreten waren, hat diesen ganz anderen,sehr erfolgreichen Verlauf der Geschichte der zweitenHälfte des 20. Jahrhunderts und damit auch den europä-ischen Einigungsprozess möglich gemacht. Dies sind diebeiden Konstanten deutscher Außenpolitik. Auf dieserGrundlage stehen wir, auf dieser Grundlage wird auch dassich vereinigende Europa stehen.
Lebendige Beziehungen wie die transatlantischen Be-ziehungen unterliegen selbstverständlich Veränderungen.Die Welt ändert sich und damit werden diese Beziehungenvor neue Herausforderungen gestellt und müssen entspre-chend angepasst werden. Dies führte immer zu Diskussio-nen, zu unterschiedlichen Positionen, aber letztendlich hatdas Bündnis seine Kohäsion gewahrt. Es gab gemeinsameEntscheidungen; dies wird auch in Zukunft so sein.Da der Transatlantismus und Europa die beidenwichtigsten Interessen sind, die in der Außenpolitik desvereinigten Deutschlands zu verfolgen sind, werden wirangesichts der Bedeutung des europäischen Einigungs-prozesses das Verhältnis von Europa und Transatlantis-mus allerdings immer wieder neu zu justieren haben.Die Rede des Kollegen Rühe heute atmete doch sehrviel Vergangenheit. Man konnte unschwer die Bruchli-nien erkennen. Ohne dass ich das jetzt im Verhältnis 1:1aus der Vergangenheit der späten 60er-Jahre übernehme:Der Widerspruch zwischen Europäern und Transatlanti-kern in der Union ist in Ihrer Rede wieder offensichtlichgeworden.
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Wolfgang Gehrcke15373
– Aber selbstverständlich. – Wenn ich Ihre Rede mit demvergleiche, was der überaus geschätzte Kollege Lamerszu demselben Thema formuliert hat – Sie haben ja auchdie Rede des Kollegen Lamers auf der Sicherheitskonfe-renz gehört –, dann muss ich feststellen, dass es in denReihen der Union noch einen gewaltigen Harmonisie-rungsbedarf gibt.
Herr Rühe, ich frage mich natürlich, wo Sie in den letz-ten Monaten gewesen sind,
als wir im Auswärtigen Ausschuss über dieses Thema dis-kutiert haben.
Wenn Sie der Bundesregierung vorwerfen, dass wir indiesem Punkt keine Position hätten, dann kann ich demnur entnehmen, dass Sie – weil Sie damals nicht im Aus-schuss waren – ganz offensichtlich nicht mitbekommenhaben, dass es die Bundesregierung war, die die Diskus-sion darüber recht früh im Ausschuss begonnen hat, dasses die Bundesregierung war, die im Bündnis, im NATO-Rat, Konsultationen durchgesetzt hat.
Die Konsultationen über die Frage einer National MissileDefense haben schon unter der Präsidentschaft vonClinton aufgrund deutscher Initiative im Bündnis statt-gefunden. Wir freuen uns darüber, dass sie fortgeführtwerden.
– Ich werde Ihnen unsere Position gleich erläutern. Ichhabe Sie Ihnen hier aber schon mehrmals dargelegt.
– Herr Rühe, was ist denn daran Unsinn? Unsinnig ist es,wenn Sie sich zum Beispiel hier hinstellen und sagen, ichhätte in Moskau behauptet, wir würden eine Vermittler-position einnehmen. Das Gegenteil habe ich getan.
Ich habe der russischen Seite sehr klar gesagt, dass esnicht gelingen wird, an dieser Stelle einen Spaltpilz in dasBündnis zu tragen.
Ich will Ihnen gern hier nochmals die Position der Bun-desregierung erläutern. Eines aber tun wir nicht – weil dasnicht im deutschen Interesse ist –: wie Sie, meine Damenund Herren von der CDU/CSU, für alles bereit zu sein,ohne zu wissen, wie die amerikanische Position tatsäch-lich ist.
Sie wissen bis heute nicht, ob das mit der National Mis-sile Defense funktioniert. Theoretisch ist ja alles zwischeneiner Tactical Missile Defense und einer Global MissileDefense, also zwischen einer taktischen Raketenabwehrund einer globalen Raketenabwehr, möglich. Sie stellennicht klar, ob sich Ihr Ja auf die clintonschen Vorschlägedes Dreistufenmodells mit einer Obergrenze von etwa100 Nuklearwaffen, die in der letzten Stufe abgewehrtwerden können, oder auf die weiter gehenden Vorstellun-gen, die jetzt in der Überprüfung entwickelt werden sol-len und die selbst die Bush-Administration noch nichtkennt – Volker Rühe aber ahnt –, bezieht.
Deswegen kann ich Ihnen, Herr Rühe, sagen: Wennman das ernst nimmt, was Sie heute gesagt haben, mussman erkennen, dass Sie noch nicht wissen, ob es tech-nologisch machbar ist, ob es finanzierbar ist und gegenwelche Sicherheitsbedrohung es sich tatsächlich richtet– denn bis zur Stunde wissen wir weder die Größenord-nung noch die Dislozierung noch die technischen Kom-ponenten noch die Komponenten der Finanzierung –, aberSie sind bereits dafür.
Es heißt also nicht „Volker hört die Signale“, sondern;„Volker ahnt die Signale“. Wir befinden uns hier also nochin einer Vorstufe.
Zur Position der Bundesregierung. Diese Position derBundesregierung ist unverändert und sie ist im deutschenInteresse.
– Ich habe sie gestern im Ausschuss vorgetragen; ich habesie bereits fünfmal vorgetragen.
Sie sagen jetzt sozusagen im Tremolo des Enttäuschten:Tragen Sie sie mal vor! – Ich beginne damit.Unsere Position ist schlicht und einfach:
Die Entscheidung über die Raketenabwehr wird in denUSAgetroffen; darüber wird im Bündnis konsultiert wer-
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Bundesminister Joseph Fischer15374
den. Wir als Nichtnuklearmacht haben dabei bestimmteInteressen zu beachten.Die Vorstellung, die USAwürden nach Weltherrschaftstreben, so wie sie die PDS vertritt, ist eine groteske Ver-zerrung.
Ich will Ihnen sagen: Am gefährlichsten wäre es, wennsich die USA in vielen Teilen der Welt zurückzögen.
Wenn es insofern neue Überlegungen gibt, hinsichtlichder Frage, wie sie ihre globale Ordnungsrolle aufrecht er-halten können, dann – das sage ich Ihnen – hat das nichtsmit Weltherrschaft zu tun, sondern das ist ein wichtigerFaktor für Frieden und Stabilität im 21. Jahrhundert.Deswegen haben wir als Nichtnuklearmacht folgendeInteressen zu wahren – das ist die Position der Bundesre-gierung –:
Wir haben als Erstes bei dieser Entscheidung die Stär-kung des internationalen Rüstungskontrollregimes zubeachten. Eine Entscheidung für eine Raketenabwehr,egal wie sie aussehen wird – bis zur Stunde wissen wir dasnicht, weder Rühe noch sonst jemand; nicht einmal dieje-nigen, die in den USA diese Entscheidung vorbereiten,wissen das zur Stunde –, darf auf keinen Fall zurSchwächung des internationalen Rüstungskontrollregi-mes führen, sondern muss im Gegenteil zur Stärkung die-ses Regimes führen.
Deswegen, Kollege Rühe, haben wir Interesse nicht anVermittlung, sondern daran, dass es ein kooperativesKlima gibt zwischen den beiden Großen, die nach wie vordie Hauptlast für die globale nukleare Stabilität zu tragenhaben, nämlich zwischen den USA und Russland. Des-wegen dürfen wir den ABM-Vertrag nicht einfach ab-schreiben oder den Teststoppvertrag vergessen. Vielmehrwird es ganz entscheidend sein, dass dann, wenn es zu ei-ner entsprechenden Entscheidung kommt – die wir bis zurStunde noch nicht kennen –, dieses in einem kooperativenKlima der Großen geschieht. Genau dazu haben wir bei-getragen.
Zweitens. Wir müssen verhindern – dies ist eine unse-rer Hauptsorgen –, dass eine solche Entscheidung zu ei-nem Rüstungswettlauf führt.
Einige von Ihnen – Rühe, Lamers und andere – waren ja inMünchen dabei. Wir haben dort doch die Erklärung des Si-cherheitsberaters des indischen Ministerpräsidentengehört, der ganz offen gesagt hat: Wenn die VolksrepublikChina durch Aufrüstung reagiert – sie liegen heute in etwabei 20 Nuklearsystemen –, werden wir mitziehen. Wenndie Entscheidung für eine National Missile Defense ent-lang der Linie, wie sie Clinton sich vorgestellt hat, kommt– das ist das einzige konkrete Muster, das wir gegenwärtigkennen –, dann wird es so sein, dass Russland von seinemOffensivpotenzial so viel disloziert, dass die Abwehr-fähigkeit durch diese große Zahl aufgehoben wird und da-mit die politischen Konsequenzen der Erstschlagfähigkeitgegeben sind. Indien hat gleichzeitig bereits erklärt: WennChina anfängt hochzurüsten, werden wir mitziehen.Damit haben wir das Problem eines drohenden Rüs-tungswettlaufs. Darüber sollten wir mit den USA und imBündnis sehr intensiv diskutieren. Daher sage ich Ihnen:Es wird darauf ankommen, dass es bei einer solchenEntscheidung – das liegt ebenfalls im Interesse Deutsch-lands als Nichtnuklearmacht – nicht zu einem neuen Rüs-tungswettlauf kommt, und zwar weder zu einem globalenRüstungswettlauf zwischen den Großen noch zu regiona-len Rüstungswettläufen, vor allem in Asien. Denn daswürde mehr Instabilität und mehr Unsicherheit produzie-ren und nicht mehr Sicherheit kreieren.
Drittens. Es geht darum, dass wir eine verstärkte Anti-proliferationspolitik betreiben. Deswegen wäre es völligfalsch, wenn es zu einer Schwächung des Rüstungskon-trollregimes käme. Das ist das Fatale an der nicht stattge-fundenen Ratifizierung des Teststoppvertrages. Das ist einfalsches Signal an kleinere Länder, Schwellenmächte, dieum jeden Preis versuchen, in den Besitz von Nuklear-waffen zu kommen. Insofern läge eine verstärkte Anti-proliferationspolitik, angeführt von den großen Nuklear-mächten – denn eine solche Antiproliferationspolitik wirdentscheidend von den Signalen der Großen abhängen –,ebenfalls in unserem Interesse.Der vierte Punkt ist die Frage einer möglichen techno-logischen Kooperation. Wir wissen noch nicht, wie einesolche Entscheidung, wenn sie denn kommt, aussehenwird. Aber es ist absehbar, dass ein Technologiewettbe-werb ausgelöst wird. Auch das war von Anfang an die Po-sition der Bundesregierung und zu Recht hat der Bundes-kanzler exakt das angesprochen.Der fünfte Punkt ist die Bündniskohäsion.Wir habenin Moskau zweifelsfrei klargemacht, dass es hier keineSpaltung geben wird. Gleichzeitig haben wir gegenüberden USA durchgesetzt, dass es im Bündnis eine intensiveKonsultation gibt. Dass die Regierung Bush uns dies er-neut bestätigt hat, halten wir für sehr wichtig.Der sechste Punkt betrifft die Abstimmung in Eu-ropa, vor allen Dingen mit Großbritannien und Frank-reich. Ein Punkt, den Volker Rühe überhaupt nicht er-wähnt, ist, wie die „Ahnungen des Volker“ in Paristatsächlich ankommen. Wenn wir seine Position vertretenwürden, bräuchten wir uns mit Frankreich gar nicht mehrabzustimmen. Das ist doch der entscheidende Punkt. Wirhaben das Gegenteil getan.
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Bundesminister Joseph Fischer15375
Schließlich zum letzten Punkt.Wir freuen uns darüber,dass die chinesische Seite – wie Russland; ich habe esschon angesprochen – jetzt ebenfalls die Bereitschaft zuGesprächen mit den USA signalisiert hat. Ich denke, dasist unter dem Gesichtspunkt der Abwehr eines drohendenRüstungswettlaufs von entscheidender Bedeutung.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sindsehr still geworden. Das Geschilderte war und ist seit vie-len Monaten die Position der Bundesregierung. Auf die-ser Grundlage werden wir die Gespräche mit unserenamerikanischen Partnern weiterführen.Nun lassen Sie mich in dieser Debatte noch einenPunkt im Zusammenhang mit der ESVP ansprechen: Ichteile nicht die Ängste in Washington, die Ängste der Ver-einigten Staaten, obwohl ich sie verstehe. Die Europä-ische Sicherheits- und Verteidigungspolitik richtet sichnicht gegen die NATO. Natürlich bleibt die NATO für diestrategische Sicherheit und für die Verteidigungsfähigkeitunseres Kontinents und damit unseres Landes von zentra-ler, überragender Bedeutung. Deswegen hat die Bundes-regierung seit Beginn der ESVP alles getan, Mechanis-men zu entwickeln, damit es keine Doppelstrukturen,sondern eine Vertrauensbildung in Form einer gemeinsa-men engen Kooperation und Zusammenarbeit gibt. DieEuropäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist aufdie Petersberger Aufgaben, auf Krisenmanagement undKonfliktbewältigung, fokussiert und eben nicht auf diestrategische Verteidigung. Das sind meines Erachtenswichtige Gesichtspunkte.Fast alle, die hier gesprochen haben, haben sich füreine stärkere Rolle Europas ausgesprochen. Herr Rühe,dazu muss ich Ihnen sagen: Man muss das Gedächtnisschon völlig ausschalten, um nicht zu sehen, welchenVerteidigungshaushalt und welchen Zustand bei den öf-fentlichen Finanzen wir vorgefunden haben. Wenn wir indiesem Zusammenhang die Umkehr nicht schaffen, son-dern das weiterführen würden, was wir von Ihnen vorge-funden haben, wenn es nicht gelingt – es wird uns durchdie Sparpolitik, aber auch durch die Steuerreform und an-deres gelingen; das ist die Priorität dieser Regierung –,dass in diesem Land wieder mehr investiert wird – es wirdja bereits wieder investiert – und dass sich die Arbeitslo-senzahlen reduzieren und demnach auch die Steuerein-nahmen verändern, dann brauchen wir über die nötigenAufwüchse der Mittel für die Außen- und Sicherheitspo-litik, die wir bejahen, überhaupt nicht zu sprechen.
Herr Minister, ich darf
Sie an die überschrittene Redezeit erinnern.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Ame-
rika sind für die Bundesrepublik Deutschland auch unter
einem letzten Gesichtspunkt von zentraler Bedeutung:
Wenn sich die Vereinigten Staaten von Amerika zurück-
ziehen oder wenn sie ihre Präsenz in Europa verringern
würden, würde dies Deutschland in eine Rolle drängen,
die wir uns weder wünschen noch die wir anstreben soll-
ten. Auch unter dem Gesichtspunkt der inneren Balance,
des inneren Gleichgewichts – nicht nur der äußeren Si-
cherheit – sind die Vereinigten Staaten von Amerika für
uns von überragender Bedeutung. Insofern werden wir an
der Erneuerung der transatlantischen Beziehungen inten-
siv arbeiten.
Ich erteile dem Kolle-
gen Michael Glos von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Auf der Konferenz fürSicherheitspolitik in München ist sehr deutlich geworden,dass es im deutsch-amerikanischen Verhältnis zu Irritatio-nen kommt. Dort hat Rumsfield ganz klar erläutert, dasses sich kein amerikanischer Präsident erlauben kann,technische Möglichkeiten zum Schutz seiner Bevölke-rung, die vorhanden sind, nicht anzuwenden. Er hat deut-lich gesagt: Die USA werden diese Raketenabwehr-initiative in die Tat umsetzen.Nun steht am Anfang, bevor man konkrete Pläne hat,immer eine Vision. Ich meine, die Vision, bestmöglicheSicherheit zu bieten, darf nicht nur für die Bürgerinnenund Bürger der Vereinigten Staaten gelten, sondern siemuss auch für die Deutschen gelten.
Deswegen brauchen wir ein sehr vertrauensvolles Ver-hältnis zu den USA.Ich bin schon ein bisschen erschrocken, Herr Bundes-außenminister, dass wir wohl bereits bei der Konzipierungzu wenig ins Vertrauen gezogen worden sind. Das kanndoch nur heißen: Man hält diese Bundesregierung nichtmehr für einen voll vertrauenswürdigen Partner, mit demman alles diskutiert, wie es in der Vergangenheit gewesenist. Daran müssen wir wieder arbeiten!
Ich bin der Meinung, dass wir die deutsch-amerikani-schen Beziehungen nicht gleichwertig neben viele anderewichtige Beziehungen, die unser Land zu pflegen hat,stellen dürfen. Bevor wir darüber nachdenken, wie sichdas Verhältnis zu Indien oder China entwickelt, muss esuns erst einmal sehr viel näher sein, die deutsch-amerika-nische Achse zu pflegen.
Wir können uns nicht überheben und die Sicherheit derganzen Welt konzipieren wollen.
Kein Partner hat für Deutschland so viel getan wie dieVereinigten Staaten: Die USA waren Geburtshelfer der
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Bundesminister Joseph Fischer15376
zweiten deutschen Demokratie. Sie haben den freien TeilDeutschlands mit dem Marshallplan wieder auf dieBeine gebracht. Die USA haben mit ihrer Solidarität denGrundstein für das spätere deutsche Wirtschaftswundergelegt. Die USA standen an der Seite des freien TeilsDeutschlands während des Kalten Krieges und habendurch die Truppenpräsenz in Deutschland und Europa denFrieden und die Freiheit für unser Land bewahren helfenund letztendlich für ganz Deutschland gebracht.
Die USA haben selbst in schwierigen Tagen stets zuuns gehalten. Ich erinnere an die Luftbrücke, die dieseStadt am Leben erhalten hat, und ich erinnere an die im-mer wieder gegebene Schutzmachtgarantie für die Frei-heit Westberlins. Ich erinnere daran, dass die Markt-wirtschaft, die wir zur sozialen Marktwirtschaft weiter-entwickelt haben, aus den USA gekommen ist, währendandere an den Sieg der sozialistisch-kommunistischenPlanwirtschaft geglaubt haben.
Ich erinnere ferner daran, dass wir die Amerikaner auchals Helfer beim Aufbau unserer Demokratie in Deutsch-land hatten und dass die Entwicklung unter den Bundes-kanzlern Adenauer und Erhard, um nur zwei zu nennen,so verlaufen ist, dass Willy Brandt – er ist ja heute vomKollegen Schultz ins Gespräch gebracht worden – 1972mit dem Slogan in den Wahlkampf ziehen konnte: „Deut-sche, wir können wieder stolz sein auf unser Land.“
Um auch eine Debatte der letzten Tage aufzugreifen,die noch nicht ausgestanden ist: Ich lasse mir nicht ver-bieten, dankbar und stolz zu sein, als Deutscher inDeutschland leben zu dürfen.
Dass vieles so möglich geworden ist, verdanken wirden Amerikanern. Ich erinnere an John F. Kennedy, dernach dem Bau der Mauer in dieser Stadt gesagt hat: „Ichbin ein Berliner!“ Ich erinnere an den ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, der, ebenfalls hier in Berlin,ausrief: „Mr. Gorbatshov, tear down this wall!“ – „ReißenSie die Mauer ab!“Ich erinnere an den Vater des heutigen US-Präsidentenund dessen klares und unmissverständliches Ja zur deut-schen Einheit. Ohne George Bush senior hätten wir dieChance der Wiedervereinigung unseres Vaterlandesnicht so rasch und kraftvoll in die Hand nehmen können.
Lieber Herr Gerhardt, ich freue mich, dass ich auchHerrn Westerwelle auf der Convention der Republikanerin Philadelphia gesehen habe. Wir waren mit einer hoch-rangigen Delegation vertreten. Ich erinnere mich abernicht, dort einen Genossen gesehen zu haben. Auch inso-fern haben wir keinen Nachholbedarf in der Entwicklungvon Beziehungen zu dieser Administration, die jetzt denPräsidenten stellt.
– Sie? – Euch hätten’s gar nicht reingelassen!
In den USA ist man, was das Verhältnis zu Kommunistenanbelangt hat, immer ein ganzes Stück vorsichtiger gewe-sen.Angesichts dieser Rolle der USA sind die früheren an-tiamerikanischen Äußerungen der politischen Linken inDeutschland – sie sind mir immer noch im Ohr – eine Be-lastung für das deutsch-amerikanische Verhältnis, die bisheute nachwirken.
Es war nicht nur die SED, die immer antiamerikanischwar, sondern das war auch auf der Seite derer stark ver-breitet, die heute die Bundesregierung stellen.
In den USA ist es sicherlich nicht vergessen, dassJoschka Fischer im Jahr 1983 den damaligen amerikani-schen Präsidenten Ronald Reagan als „schießwütigenZelluloid-Cowboy“ beschimpft hat.
Herr Fischer, Sie haben gefragt, wo der Volker Rühe beieiner bestimmten Ausschusssitzung war. Ich würde mir anIhrer Stelle vielmehr Gedanken machen, einmal meine ei-gene Biografie zu erforschen,
und die Wahrheit auf den Tisch legen, bevor da vieles soscheibchenweise wieder ans Tageslicht kommt.
Aber das ist jetzt nicht das Thema.Sie, Herr Fischer, werden selbstverständlich als deut-scher Außenminister in den USA empfangen und Sie re-präsentieren unser Land. Wir wünschen Ihnen bei derFortentwicklung des deutsch-amerikanischen Verhältnis-ses im Interesse unseres Landes einen guten Erfolg undeine glückliche Hand. Aber ob Sie in den USA tatsächlichrespektiert werden, das wird sich noch zeigen.Auch Schröder hat Nachholbedarf.
Die Amerikaner haben sicherlich gute Archive. Da gibt esjede Menge Äußerungen von ihm, in denen es zum
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Michael Glos15377
Beispiel heißt: „Die Politik der Sowjetunion ist eindeutigdefensiv. Wir müssen uns von den USA kein aggressivesSicherheitskonzept aufschwätzen lassen“ – und so weiterund so fort.
Das hat Gerhard Schröder gesagt; es ist nachweisbar.Was er zum NATO-Doppelbeschluss gesagt hat, kannich auch zitieren, wenn es Sie interessiert.
– Da Sie so dumme Zwischenrufe machen: Ich war immerdankbar all denen, die Gutes für mich getan haben, auchmeiner Mutter. Wissen Sie, die Amerikaner sind auch einStück Mutter unserer Demokratie.
Deswegen: Hören Sie mit Ihren törichten, saudummenZwischenrufen auf!
Ich will gar nicht zitieren, was Jürgen Trittin noch ge-sagt hat, als die Amerikaner den Aggressor Irak aus Ku-wait hinausgeworfen haben. Aber es kommt noch schlim-mer – damit komme ich jetzt ein bisschen näher an dasheran, was in allerletzter Zeit gewesen ist –: In den USAdürfte es sauer aufgestoßen sein, dass Verteidigungsmi-nister Scharping seine Kritik an den amerikanischenRaketenabwehrplänen ausgerechnet in Moskau formu-liert hat. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik darfnie als wankelmütig dastehen. Es muss immer ganz klarsein, an wessen Seite wir stehen. Wir müssen immer festan der Seite der freien Welt und unserer Freunde in denVereinigten Staaten stehen.
Es ist auch von Volker Rühe schon gesagt worden: Es hatviel zu lange gedauert, bis etwas zu Irak gesagt worden ist.Wir haben diese Debatte beantragt und sind dankbar,dass sie stattfindet, auch wenn der Bundeskanzler jetztnach Paris musste. Ich habe Verständnis dafür; denn es istauch wichtig, dass die deutsch-französischen Beziehun-gen gepflegt werden. Wir müssen natürlich auch die Fran-zosen und die Europäer allgemein auf diesem Weg zueiner gemeinsamen Raketenabwehr mitnehmen. Wir wol-len genau wissen – vielleicht kann dies Herr Erler klar-stellen, der bislang hinsichtlich der NMD-Initiative nichtsals Bedenken geäußert hat –, ob sich der Bundeskanzlerentschieden hat, für wen er spricht, ob für alle Parteienund die Mehrheit dieser Koalition, von der er zum Bun-deskanzler gewählt worden ist. Diese Frage wird ihm inden USAgestellt werden. Ich kann nur hoffen, dass er eineeindeutige Antwort geben kann.
Ich sage noch einmal: Wir wollen nicht, dass es in dentransatlantischen Beziehungen Zonen unterschiedlicherSicherheit gibt. Unsere Bürger haben genauso wie dieUS-Bürger einen Anspruch auf den bestmöglichen Schutzgegen jedwede Bedrohung. Wir wollen, dass wir in derChampions League der Sicherheitspolitik mitspielenkönnen.
Dazu gehört, dass wir ein ernst zu nehmender Partnerbleiben. Deswegen müssen auch unseren Streitkräften dienötigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Wir müssenmodernisieren können und der Bundeskanzler muss inden USA zeigen können, dass er in der Lage ist, die nöti-gen Mittel aufzubringen, um solch ein anspruchsvolles,technologisch hochwertiges Programm wie NMD inDeutschland mitzuentwickeln. Das muss unser Ziel sein.Wir wünschen uns, dass sich der Bundeskanzler hiermit dem, was er zu wollen vorgibt, klar durchsetzt. Wirwerden ihn allerdings nicht an seinen Worten, sondern anseinen Taten messen.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Gernot Erler, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Wer heute über transatlantische Bezie-hungen spricht, der muss zunächst einmal über große Ver-änderungen auf beiden Seiten des Ozeans reden. In denVereinigten Staaten erleben wir den Anfang einer neuenAdministration – eigentlich ein faszinierender Prozess:Dort werden nicht nur eine Hand voll Minister neu er-nannt, sondern Tausende von neuen Leuten, von neuenSpezialisten. Daraus entsteht allmählich ein Puzzle undein Kanon neuer, veränderter Prioritätensetzungen wirdsichtbar.Es gab Voraussagen über diese neue amerikanischeRegierung, basierend auf Erfahrungen aus dem Wahl-kampf und auf Analysen. Was wurde uns nicht alles an-gekündigt! Es wurde gesagt, wahrscheinlich würden dieamerikanisch-europäischen Missionen in Südosteuropabeendet, es werde eine Abkehr vom Multilateralismus, ei-nen härteren Umgang mit Russland und China, eine Ab-lehnung des europäischen Wegs zu einer GemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik, vielleicht sogar eine Ab-kehr von Europa geben, und dieses Raketenabwehrpro-gramm werde sofort umgesetzt.Wenige Wochen nach dem Start kann man sagen:Nichts ist so gekommen, wie es vorausgesagt worden ist.Stattdessen gibt es mehr Kontinuität als erwartet, eine ver-längerte Formationsphase, eine längere Vorbereitung vongrundlegenden Entscheidungen, ein intensives Interesseam Meinungsaustausch mit den Europäern,
aber auch mit Moskau, mit Peking und anderen Plätzenauf der Welt sowie eine bemerkenswerte Flexibilität, dieauch Chancen für unsere Position, wenn wir sie vortragen,
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bedeutet. Ich finde, wir haben allen Grund, das zu be-grüßen und uns darüber zu freuen, dass es anders gekom-men ist als vorausgesagt.
Aber es gibt auch sehr große Veränderungen in Europa.Wir befinden uns mitten in einem Veränderungsprozess:parallel eine Erweiterung und Vertiefung. Besonders vieleVeränderungen hat es – man kann das nur immer wiederdeutlich machen – durch den Schock des Kosovo-Krie-ges gegeben. Wir haben gemerkt, dass wir vier blutigeKriege in Europa nicht verhindern konnten, dass langfris-tige Prävention und eine bis zur letzten Minute dauerndeFriedensdiplomatie gescheitert sind. Während der Inter-vention kam zudem die Erkenntnis einer fast vollständi-gen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten auf nahezuallen Gebieten.Danach hat es eine bemerkenswerte Beschleunigungbeim Aufbau einer Gemeinsamen Europäischen Außen-und Sicherheitspolitik gegeben. Die Stationen, die mitdem D-Zug durchrast wurden, waren die europäischenGipfel in Köln, Helsinki, Feira und Nizza. Heute kannman sagen: Das, was wir GASPoder ESVPnennen, ist aufdem Weg zu seiner Realisierung. Typisch für diesen euro-päischen Weg ist, dass es eine Parallele zwischen demAufbau von militärischen Fähigkeiten und dem Aufbauvon zivilen Kapazitäten gibt. Das ist gut so.
Typisch für diese neue Politik der EU, gerade in Süd-osteuropa, sind das umfassende Integrationsangebot, daswir als Friedenspolitik verstehen, und der Stabilitätspaktals Lern- und Aufbauprogramm für eine bessere Zukunftohne gewaltsame Konflikte. Vieles von dem, was hier ent-steht, haben wir selber noch gar nicht richtig realisiert.Deswegen brauchen wir uns nicht zu wundern, dass jen-seits des Atlantiks noch Gewöhnungsbedarf für diese ge-waltigen Veränderungen in Europa besteht.Unter diesen extremen Umständen des doppelt Neuenkann sich eine erste Zwischenbilanz der transatlantischenBeziehungen sehen lassen. Wir müssen einfach erkennen,dass diese Skepsis gegenüber der ESVP allmählich derEinsicht weicht, dass sie dann im amerikanischen Inte-resse ist, wenn sie sich zu den Aufgaben der NATO ver-nünftig verhält.
Nach den ersten persönlichen Begegnungen hat sichein Vertrauensverhältnis entwickelt. Das gilt ganz beson-ders für die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Hiergab es vier Etappen: die Münchner Konferenz, den Be-such des Außenministers, den Besuch des Verteidigungs-ministers und – dies schließt sich daran an – den Besuchdes Bundeskanzlers. Wir müssen feststellen: JoschkaFischer und Rudolf Scharping haben erkannt, welche kon-stitutive Bedeutung erste Begegnungen haben. Sie sinderfolgreich gewesen, sind mit der Erfahrung von Kame-radschaft und sogar Freundschaft zurückgekommen. Dasist gut so. Davon können wir eine ganz lange Zeit zehren.Wir hoffen, dass der Bundeskanzler diese Erfolgsge-schichte bei seinem Besuch in Washington fortsetzenwird.
Natürlich war uns schon vor den Wahlen in den Verei-nigten Staaten der Stellenwert des Raketenabwehrsys-tems der neuen Regierung bekannt. Wir wussten, dass eshierin Unterschiede zwischen Amerikanern und Europä-ern gibt. Aber auch hier erleben wir eine positive Überra-schung. Es gibt keine dogmatische Umsetzung eines star-ren Konzepts, vielmehr eine erstaunliche Wandlungs- undAnpassungsfähigkeit.
Herr Kollege, es gibt keinen Zweifel an dem Ob. Das las-sen die Amerikaner nicht zu. Aber bei dem Wie der Um-setzung scheint dieses Wie ein Wort mit 25 Buchstaben zusein – so flexibel ist das heute.Die Administration nimmt sich mehr Zeit. Sie hört auf-merksam auf die Einwände und Argumente der Verbün-deten. Auch in Amerika selbst wird eine sachliche undkontroverse Debatte geführt. Das müssen wir nutzen. Wirdürfen nicht in Hektik verfallen. Wir können doch nicht,wie Sie das machen, zum jetzigen Zeitpunkt den Popanzeiner Ja/Nein-Entscheidung aufbauen. Das ist dochlächerlich.
NMD ist, militärisch gesehen, bestenfalls eine Antwortauf eine sehr begrenzte Auswahl von Bedrohungen undHerausforderungen von Übermorgen. Aber es kann in derUmsetzung bereits erhebliche politische Folgen haben.Deshalb ist es unser Ansatz, die Diskussion um NMD zueinem umfassenden transatlantischen Dialog über Sicher-heitsfragen zu erweitern, der über die Raketenabwehrweit hinausgeht.Herr Rühe, es tut mir Leid, aber wenn Sie zum wieder-holten Male Ihre tibetanische Gebetsmühle anwerfen,weil Sie die Verringerung der Mittel des Verteidigungs-haushaltes anwerfen und dies als einziges Problem sehen,dann haben Sie die Notwendigkeit der Verbreiterung die-ses Dialogs nicht verstanden.Sie reduzieren alles auf quantitative Fragen, anstatt aufnotwendige qualitative Fragen einzugehen.Wir wollen in diesem Dialog eine breite Palette vonThemen ansprechen. Es geht darum, zu klären, welchepräventiven Fähigkeiten wir in Zukunft brauchen, umKonflikte zu vermeiden. Wir wollen wissen, ob es eine Al-ternative zu der Selbstabrüstung der Atommächte und derFortsetzung des Abrüstungsprozesses, der sich auf Ver-träge beruft, gibt. Wir sehen dazu keine Alternative. Dasalles steht im Zusammenhang mit NMD.Wir wollen gemeinsam wirksame Strategien gegen deninternationalen Terrorismus beraten und brauchen einenumfassenden politischen Ansatz, wie wir mit den Risi-kostaaten – drei dieser Staaten, nämlich Iran, Irak und
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Nordkorea, haben Raketenprogramme – umgehen sollen.Wir wollen, dass das Sunshine-Programm der beidenKims in Nordkorea ein Erfolg wird. Wir finden, es ist gut,dass der Bundestagspräsident in den Iran gefahren ist, umdort die Reformer zu unterstützen. Das ist der politischeAnsatz, den wir wollen.
Herr Rühe, ich finde, es ist wirklich nicht überzeugend,uns nachträglich aufzufordern, Beifall zu den amerika-nisch-englischen Aktivitäten in Bezug auf den Irak einzu-fordern. Nein, lassen Sie uns gemeinsam die Chance zueiner Änderung ergreifen, wie Colin Powell angeregt hat,als er nach den negativen politischen Folgen der militäri-schen Intervention gefordert hat: Wir brauchen eine neueSanktionspolitik und eine neue Irakpolitik. In diesemPunkt ist Beifall angebracht.
Natürlich gehört zu diesem Dialog auch die Frage, obim Falle des Fortbestehens des Restrisikos, wenn die po-litischen Konzepte nicht greifen, eine militärische Ant-wort auf eine Raketenbedrohung aus diesen Ländern er-folgen soll. Diese Frage muss dann natürlich – derAußenminister hat das sehr detailliert dargestellt – so be-antwortet werden, dass die anderen Ziele nicht beein-trächtigt werden.Herr Rühe, Sie haben beklagt, wir hätten in der SacheNMD unterschiedliche Positionen. Es gibt in der Tat un-terschiedliche Akzentsetzungen, aber die Unterschiedebei uns sind nicht so groß wie in Ihren Reihen. Wir habenalle die Rede des wirklich sehr geschätzten KollegenLamers in München gehört, wir haben auch sein Interviewim „Tagesspiegel“ mit der Überschrift „Wir müssen auchAmerikas Widerpart sein“ gelesen. Das passt nicht zu demVater-Sohn-Verhalten, das Herr Glos eingefordert hat.
In dem Interview wird vor einer Kapitulation im Voraussowie vor den Hegemonialinteressen der USA gewarntund das ganze NMD-Programm als unseriös bezeichnet.Ich habe den Eindruck, dass das, was bei Ihnen auseinan-der klafft, viel schwieriger zusammenzuführen ist als das,was bei uns an unterschiedlichen Akzentsetzungen vor-handen ist. Es ist ganz normal, dass in der jetzigen Phaseder Diskussion unterschiedliche Auffassungen bestehen.Das ist auch in den anderen europäischen Staaten undübrigens auch in den Vereinigten Staaten so. Das Pro-gramm ist eben noch nicht entscheidungsreif.
Im Übrigen: Wenn uns als Regierungskoalition ein Teilder Opposition empfiehlt, zu diesem Programm sofort Jazu sagen, und der andere Teil der Opposition fordert, einbisschen mehr Kritik zu üben, scheint es so zu sein, dasswir mit unserer Dialogstrategie gar nicht so schlecht lie-gen. Ich fühle mich in der Mitte dieser beiden Extrempo-sitionen ganz wohl.
Abschließend möchte ich festhalten: Wir brauchen undwir wollen einen solchen umfassenden Dialog. Die Glo-balisierung macht nicht vor der internationalen Sicher-heitspolitik Halt. Wir kommen nur zusammen mit denVereinigten Staaten zu gemeinsamen transatlantischenStrategien. Wenn wir in Zukunft Konfliktverhütung bes-ser bewältigen wollen, wenn wir Abrüstung und Rüs-tungskontrolle und vor allem die Nichtverbreitung vonWaffen verbessern wollen, wenn wir die Bekämpfung desTerrorismus, der organisierten Kriminalität, des Drogen-handels und des Waffenhandels verbessern wollen undwenn wir Konzepte mit dem Ziel eines Wandels durchEinbindung für die Risikostaaten erreichen wollen, dannwerden wir das entweder transatlantisch gemeinsam odergar nicht schaffen.Das gilt auch für die Raketenabwehr. Wenn wir mehrSicherheit für die Amerikaner und für uns haben wollen,darf dieses Konzept nicht mit der Brechstange durchge-setzt werden. Es geht nur, wenn man ein sehr breites Ein-vernehmen erzielt. Es gibt erfreuliche Anzeichen ausWashington, dass sich die Administration dieser Einsichtnicht verschließt.Der von uns gewünschte und angestrebte umfassendetransatlantische Dialog über Sicherheitsfragen brauchtZeit und hat Zeit. Wer ihn jetzt mit Hektik oder mit einerkünstlichen Dramatik belastet und die Alternative, entwe-der Gefolgschaft oder Verweigerung, fälschlicherweise inden Raum stellt, der hat die tiefen Veränderungen auf bei-den Seiten des Ozeans überhaupt nicht verstanden undbringt uns bei diesem notwendigen transatlantischen Dia-log keinen Schritt weiter. In diesem Sinne hoffe ich aufeine Zusammenarbeit.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Kol-
lege Karl Lamers, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Es wird vielen in diesem Saalso wie mir gegangen sein, der angesichts der Erleichte-rung, mit der Sie hier die Politik der neuen US-amerikani-schen Administration mehrfach begrüßt haben, ein gewis-ses schmunzelndes Erstaunen nicht verbergen konnte.War es nicht so, dass die Warnungen vor der Cowboy-Mentalität der neuen amerikanischen Administration ge-rade von Ihrer Seite gekommen sind?
Sie sind zwar jetzt erleichtert. Das verstehe ich sehr gut.Aber Sie haben sich ein weiteres Mal in der Beurteilungder amerikanischen Administration und der amerikani-schen Politik getäuscht. Das ist der Punkt, der in diesemZusammenhang von Bedeutung ist.
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Gernot Erler15380
Herr Minister, wir haben Ihnen nie vorgeworfen, sichnicht mit dem Thema, über das wir heute diskutieren, be-schäftigt zu haben, schon gar nicht, dafür gesorgt zu ha-ben, dass es keine Konsultationen zu diesem Themainnerhalb der NATO gegeben hat. Wie sollten wir? Aberes kommt auf Ihre Intention an, weshalb Sie sich mit die-sem Thema beschäftigen. Der Zweck Ihres Unterfangenswar, das Vorhaben einer Raketenabwehr zu verhindern,und nicht, es im Rahmen eines Dialogs mitzugestalten. Indiesem Punkt gibt es eine Differenz zu uns. Meine Frak-tion hat bereits im Mai des vergangenen Jahres in einemAntrag von Ihnen gefordert, sich konstruktiv in den Dia-log einzuschalten. Das ist nicht geschehen. Das ist derPunkt, den wir kritisieren.Herr Kollege Erler, solche Spielchen kennt man. SchonKonrad Adenauer hat gesagt, es gebe auch anständige So-zialdemokraten. So verfahren Sie jetzt mit mir.
Sie haben mich aber nicht richtig zitiert. Ich habe nicht ge-sagt, das ganze Projekt sei unseriös, sondern die Begrün-dung. Ich habe mich dabei auf das bezogen, was HenryKissinger auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagthat.
– Ja, in der Tat, das finde ich auch.Wenn wir das alles einmal beiseite lassen, müssten wiruns ernsthaft fragen, was mit dem Projekt NMD eigent-lich intendiert ist. Es geht doch um den Versuch einerNeugestaltung der sicherheitspolitischen Architekturim 21. Jahrhundert, und zwar weltweit. Es geht insofernauch um unser Verhältnis, also nicht nur um das Verhält-nis der Vereinigten Staaten, sondern auch um das Verhält-nis des Westens, zur übrigen Welt. Es geht um die Frage:Können wir die schreckliche Alternative „Wer zuerstschießt, stirbt als Zweiter“ überwinden? Gibt es in Zu-kunft die Möglichkeit, defensive Elemente in die Strate-gie einzubeziehen, nachdem die offensiven über vieleJahrzehnte die Strategie bestimmt haben, oder müssen wirmit dem Gefühl der wechselseitigen Verwundbarkeit alseinziger Hoffnung auf Einsicht in die Notwendigkeit le-ben, auf Gewaltanwendung zu verzichten? – Es ist nurallzu verständlich, wenn es Zweifel an der Übertragbar-keit des Systems der Abschreckung, das im Ost-West-Konflikt ohne Zweifel den Frieden erhalten hat, auf dieübrige Welt gibt. Aber im Golfkrieg hat die Abschreckungim Hinblick auf den Irak funktioniert.All diese und viele andere fundamentale Fragen müssenwir ernsthaft erörtern. Damit, meine ich, gäbe es wirklicheine große Chance für eine etwas sicherere, bessere Welt.Ich sehe in diesem amerikanischen Projekt noch eineweitere Chance, vor allen Dingen für uns Deutsche, näm-lich dass wir über den europäischen Tellerrand hinausse-hen. Wir sind zu sehr auf Europa zentriert und haben allzulange übersehen, dass doch die eigentlichen Sicherheits-probleme unseres Landes und ganz Europas außerhalbEuropas liegen und nicht in Europa. Gerade wir Deut-schen könnten das lernen. Eine der großen Krisenregio-nen ist der Nahe Osten, der ja nicht Naher Osten heißt,weil er nahe an Amerika liegt, sondern weil er nahe an Eu-ropa liegt.Damit komme ich zu einem weiteren Punkt, von demich meine, dass er eine Chance böte, nämlich die Chance,dass die Europäer in dieser Frage wirklich eine gemein-same Position einnehmen, weil sie sie gemeinsam ein-nehmen müssen. Zu glauben, wir könnten jeweils auf dernationalen oder bilateralen Ebene einen großen Einflussauf die Gestaltung der amerikanischen globalen Sicher-heitsstrategie ausüben, ist angesichts der Zahlenverhält-nisse nicht gerade sehr realistisch. Ich darf einmal daraufhinweisen, dass der deutsche Verteidigungshaushalt, ge-messen am amerikanischen, gerade 8 Prozent beträgt.Wenn Sie so weitermachen, landet er demnächst bei5 Prozent. Das ist doch eine Zahlenrelation, die uns zudenken geben muss und die uns unbedingt dazu führenmuss, alle Anstrengungen zu unternehmen, dass Europain dieser Frage mit einer Stimme spricht.Übrigens: Wenn dann auch und gerade für Europadurch die Entwicklung der Raketentechnologie und durchderen Verbreitung eine Bedrohung von außerhalb Europasausgeht und wenn wir uns möglicherweise an einem sol-chen Projekt beteiligen, dann wirft das unweigerlich dieFrage nach der Reichweite der Allianz auf. Auch dieseFrage müssen wir beantworten. Das ist eine sehr ernsteFrage, die bislang nicht ausreichend, wie ich finde, gese-hen wird.Übrigens, Herr Minister: Ich finde es nicht fair, demKollegen Rühe vorzuwerfen, er habe hier eine bedin-gungslose Beteiligung gefordert. Das hat er nicht getan.Das kann er gar nicht getan haben, denn er hat auch da-rauf hingewiesen, dass die Diskussion in Amerika neu an-gefangen hat und wir alle nicht genau wissen, was dabeiherauskommt. Was er gesagt hat, war ein grundsätzlichesJa zu dem Versuch des Strategiewechsels und dazu, dasswir uns an der Debatte darüber beteiligen. Mehr kann manin diesem Augenblick natürlich nicht tun.
Es geht hier nicht um eine bedingungslose Gefolgschaft,sondern es geht um den partnerschaftlichen Dialog mitden Amerikanern.
Wenn man aber nicht sagt, dass man grundsätzlich bereitist, und auch nicht die Bedingungen formuliert, unter de-nen man bereit ist, kann man diesen Dialog nicht Erfolgversprechend führen.
Ich sehe schließlich, auch wenn es natürlich unzwei-felhaft ist, dass dieses Projekt eine Reihe von schwerwie-genden Fragen aufwirft, eine große Chance für eine Ver-tiefung der transatlantischen Beziehungen, wenn wirdiesen Dialog so führen, wie wir es Ihnen vorschlagen. Esist nicht wirklich erstaunlich, dass die neue amerikanischeAdministration nicht nur versprochen hat zu informieren,sondern auch zu konsultieren. Sie will, dass Europa mit-macht. Mitmachen heißt das Konzept mitgestalten. Es
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Karl Lamers15381
heißt auch Mitwirkung bei der Technologie und insofernTechnologietransfer. Allerdings darf das nicht im Mittel-punkt des Interesses stehen. Da ist der BundeskanzlerGott sei Dank vom Kollegen Erler korrigiert worden. Dasheißt allerdings auch nötigenfalls Mitfinanzierung. Inso-fern ist das nicht eine ständige Platte, die wir da auflegen,Kollege Erler. Es ist eine Tatsache, dass ohne einen größe-ren finanziellen Beitrag unseres Landes zu den mi-litärischen Anstrengungen des Bündnisses unsere Chan-cen zur Mitgestaltung gegen null tendieren. Wenn Sie soweitermachen, wird das leider so sein.
Ich erteile dem Kolle-
gen Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lamers, mankonnte durch den Vergleich mit der Rede des KollegenRühe sehr gut feststellen, worin der Unterschied besteht.Ich knüpfe an eine Debatte an, die einige Jahre zurück-liegt. Ich kann verstehen, dass es der Union sehr schwerfällt, über das Thema der transatlantischen Beziehungenneu zu diskutieren. Denken Sie noch einmal daran, wieWerner Weidenfeld als Reaktion auf den Golfkrieg seineKritik formuliert hat. Er hat nämlich geschrieben – manmuss das häufig in Erinnerung rufen –, es gebe einen Kul-turbruch mit Amerika. Er hat davon gesprochen, dass dietransatlantische Selbstverständlichkeit erloschen sei. Wiebekommen Sie es auf die Reihe, das miteinander zu ver-einbaren?Herr Lamers, ich sage Ihnen ganz klar: Der transatlan-tische Dialog muss fortgesetzt und intensiviert werden.Sie können sich darauf verlassen: Diese Bundesregierungwird dabei von den Regierungsfraktionen ganz eindeutigunterstützt werden. Wir wünschen dem Bundeskanzler,dass er im Gespräch mit der US-Administration genau dieFragen aufwirft, die in dieser Debatte eine Rolle spielen.Wir werden in einen Prozess, in einen Dialog eintretenund wir werden Antworten finden. Aber wir werden dieseAntworten nicht finden, indem wir uns unterwerfen, son-dern nur, indem wir die gemeinsamen Interessen mitei-nander vertreten.
Die USA haben eine zentrale Rolle in Europa und siewerden sie auch künftig spielen. Die demokratischenRevolutionen vor zehn Jahren wären nicht möglich ge-wesen, wenn sich die USA nicht auch als europäischeMacht verstanden hätten. Deutschland war häufig undallzu lange Zeit eine Quelle der Angst für seine Nachbarn.Das Bewusstsein vom deutschen Sonderweg konnte diewestdeutsche Gesellschaft nicht allein deshalb überwin-den, weil sie sich in den europäischen Integrationsprozesseingebettet hatte, sondern schließlich auch, weil die USAin den 50er-, in den 60er- und in den 70er-Jahren so zukooperieren versucht haben, dass sich, wie es JürgenHabermas beschrieben hat, auch die innere Entwicklungder Bundesrepublik Deutschland „amerikanisiert“ hat.Die fundamentale Liberalisierung der BundesrepublikDeutschland wäre nicht möglich gewesen, wenn die USAdabei keine starke Rolle in Europa gespielt hätten. Auchdieser Punkt gehört zum transatlantischen Verhältnis. Derdeutsche Westen konnte eigentlich nur liberal werden,weil er den Kräften des Marktes Raum ließ und zugleichversuchte, sie sozial zu binden. Dieser Ansatz hat uns inden europäischen Kontext gestellt. Aber diese Liberalitätvoranzutreiben war mit dem Versuch verbunden, wie FritzStern es genannt hat, die Bundesrepublik Deutschland inein neues Koordinatensystem zu bringen, geradezu zuschieben, weg vom Obrigkeitsstaat, hin zur gesellschaft-lichen Selbstverantwortung. Das war der entscheidendeAspekt der „Westernisierung“ der BundesrepublikDeutschland.Wenn wir über das transatlantische Verhältnis spre-chen, dann sollten wir genau darüber reden und danachfragen, was eigentlich die Herausforderungen in Eu-ropa und in Amerika sind, vor welchen Problemen un-sere Gesellschaften in Europa und die Gesellschaft in denVereinigten Staaten stehen. Die Herausforderungen – zumBeispiel der Modernisierung und der Globalisierung –sind doch die gleichen. Aber die Amerikaner haben dazueinen anderen Ansatz als wir in Europa gefunden. Wir ha-ben aufgrund unserer europäischen Denktradition sehrstark auf den Staat gesetzt. Wir lernen von den USA, dassman den Staat als wichtige Qualität durchaus erhalten undreformieren muss. Zur unsichtbaren Hand des Marktes– so hat es Adam Smith genannt – und zur sichtbarenHand des Staates kommt allerdings ein drittes Element,die Hand der Zivilgesellschaft, hinzu. Das ist etwas, waswir von den USA lernen können. Ich finde, dass wir vondiesem Dialog in den USA über die Einflüsse, die Mög-lichkeiten und das bewusste Handeln der Menschen, diesich miteinander vernetzen und versuchen, zivilgesell-schaftliche Strukturen von unten zu entwickeln, etwas ler-nen können.
Denken Sie etwa an John Rawls, den großen liberalen De-mokratietheoretiker, der uns diese Denkmodelle plastischdarstellt. Er hilft uns, auch bei anderen innergesellschaft-lichen Konflikten neue Lösungen zu finden.Die Modernisierung der Gesellschaften in den USAwie in Europa braucht den gemeinsamen transatlanti-schen Dialog, um die Herausforderungen richtig zu ver-stehen sowie vernünftige und moderne Antworten aufdiese Herausforderungen zu finden.
Es gibt hierfür eine Reihe von überzeugenden Hinweisen,nehmen Sie zum Beispiel Michael Walzer, den ame-rikanischen Sozialphilosophen, Nancy Fraser oder andereamerikanische Wissenschaftler, die versuchen, ihr Landzu europäisieren. Betrachten Sie, wie die Wissenschaft inEuropa im Dialog versucht, diesen Ball aufzunehmen undunser eigenes Bewusstsein zu verändern. Das ist etwas,wie ich finde, so Neues, das nicht in den alten Kategoriender „Amerikanisierung“ oder „Europäisierung“ gedachtwerden kann. Wir brauchen einen solchen transatlanti-
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schen Dialog. In all den Debatten, die wir hier über „mis-sile defense“, gemeinsame Sicherheit und militärischeKooperation führen, können wir nur vorankommen, wenndieser innere Dialog zwischen Europa und Amerika neudefiniert wird.Lieber Kollege Lamers, ich bin davon überzeugt, dassdas, was Sie denken, eher nicht der Meinung WernerWeidenfelds entspricht, sondern wahrscheinlich sehr vielnäher bei dem liegt, was der Bundeskanzler mit GeorgeBush und seiner Administration in den nächsten Tagen de-battieren wird. Wir wünschen dem Bundeskanzler allesGute und sind sicher, dass er mit einem vernünftigen Er-gebnis, das auch die Fortsetzung dieses Dialogs beinhal-tet, zu uns zurückkehren wird.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Frak-
tion der F.D.P. auf Drucksache 14/5570. Die Fraktion der
F.D.P. hat beantragt, den Entschließungsantrag zur feder-
führenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss sowie
zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuss und an
den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zu überweisen. Die Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen verlangen hingegen sofortige
Abstimmung. Nach ständiger Übung geht die Abstim-
mung über den Überweisungsvorschlag vor.
Ich bitte diejenigen, die dem Überweisungsvorschlag
der F.D.P. zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs-
vorschlag ist damit mit den Stimmen von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen abgelehnt.
Damit stimmen wir jetzt in der Sache ab. Wer stimmt
für den Entschließungsantrag der F.D.P. auf Drucksache
14/5570? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
3. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Ditmar Staffelt, Jelena Hoffmann ,
Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner
Schulz , Michaele Hustedt, Andrea
Fischer , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neue Mittelstandspolitik – Motor für Beschäf-
tigung und Innovation
– Drucksache 14/5485 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Hansjürgen Doss, Peter Rauen, Ernst Hinsken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Chancen des Mittelstandes in der globalisierten
Wirtschaft
– Drucksachen 14/3870, 14/4603 –
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hansjürgen
Doss, Peter Rauen, Ernst Hinsken, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Chancen des Mittelstandes in der globalisierten
Wirtschaft stärken
– Drucksache 14/5545 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Kleinunternehmer-Hilfefonds effektiv organi-
sieren und gesetzliche Voraussetzungen für eine
Nachfolgeregelung schaffen
– Drucksache 14/5559 –
Überweisungsvorschlag
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Zur Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU zu
den „Chancen des Mittelstandes in der globalisierten
Wirtschaft“ liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hansjürgen Doss von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kollegen! Mittel-standspolitik ist keine Klientelpolitik. In der Mittelstands-politik entscheidet sich, wie viele Arbeitsplätze und wie
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Gert Weisskirchen
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viele Ausbildungsplätze wir haben und wie sich das Brut-tosozialprodukt entwickelt. Mittelstandspolitik ist also füruns alle ganz wichtig. Wir haben deshalb eine große An-frage „Chancen des Mittelstandes in der globalisiertenWirtschaft“ an die Bundesregierung gestellt. Sie ist abernur oberflächlich und schlampig beantwortet worden.Dies ist einfach typisch für den Stellenwert des Mittel-standes in Ihrer Politik.
Keine Parole ist zu platt, keine Phrase zu hohl und keinAllgemeinplatz zu abgedroschen, um nicht in der Antwortder Bundesregierung Aufnahme zu finden. Ich muss sa-gen, dass uns das sehr betroffen gemacht hat. Worthülsenund Sprechblasen sind keine Antworten auf Kapital-schwäche, Kostenlast, Bürokratie, Wettbewerbsverzer-rung und Fremdbestimmung. Das Aktionsprogramm„Mittelstand“ der Bundesregierung ist sozusagen eineWerbebroschüre, die mit der Realität wenig zu tun hat.
Realität ist, dass der Anteil der Selbstständigen an der Ge-samtzahl der Erwerbstätigen – zu Ludwig Erhards Zeitenwaren es 14 Prozent bei Vollbeschäftigung – in der Zwi-schenzeit auf 9,4 Prozent gesunken ist. Der EU-Durch-schnitt liegt bei 13 Prozent.Mehrfach ist in der Antwort der Bundesregierung vonder Verbesserung der Rahmenbedingungen, von Förde-rung, von Dynamisierung, von Stärkung, von Entlastungund von Unterstützung die Rede. Das ist die Sprache derWerbetexter, PR statt Fakten für den Mittelstand.
Die Realität sieht nämlich anders aus: Das 630-Mark-Gesetz wurde zum Schwarzarbeiterförderungsgesetz. Da-mit wurden die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisseals flexibles Beschäftigungsinstrument praktisch un-brauchbar gemacht. Das Gesetz gegen Scheinselbststän-digkeit ist ein Existenzgründerverhinderungsgesetz. Eshat eine bewährte Einstiegsmöglichkeit in die Selbststän-digkeit verbaut. Die Reformansätze bei Kündigungs-schutz und Lohnfortzahlung wurden zurückgenommenund damit der Arbeitsmarkt wieder stärker reglementiert.Mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeit wurde die Personal-planung in mittelständischen Unternehmen zum teurenLotteriespiel gemacht.Mit der Ökosteuer wird der Mittelstand voll belastet.Die Industrie bekommt großzügige Befreiungsoptionen.Die Steuerreform entlastet die großen Kapitalgesell-schaften. Mittelständische Personenunternehmen werdendagegen benachteiligt. Die zum Jahresbeginn wirksamgewordene Verschlechterung der Abschreibungsbedin-gungen ist für den Mittelstand eine verdeckte Steuererhö-hung.
Mit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzeshilft die Regierung den Gewerkschaftsfunktionären, da-mit sie ihre bröckelnden Bastionen in den Betrieben zu-sammenhalten kann. Dies ist ein DGB-Mitglieder-Förde-rungsgesetz.
Der Mittelstand, von Gerhard Schröder noch 1998 starkund nicht ohne Erfolg umworben, wurde nicht, was er er-wartet hat, gefördert, gestärkt und gestützt. Er wurdevielmehr getäuscht, gemolken und abgezockt. Das ist dieRealität.
Hiervon lenkt die Bundesregierung in ihrer Antwort mitblumiger Schönrederei und mit unterhaltsamen Brot-und-Spiele-Inszenierungen ab.Zum Beispiel auch das so genannte Bündnis für Arbeitist eine große Alibishow. Hier wurde nur eine weitereBühne für die Selbstdarstellungsmöglichkeiten des Me-dienpreisträgers aufgebaut. Ergebnisse sind weder er-wünscht noch geplant; Ergebnisse würden diese Persona-lityshow beenden. Der Präsident des Instituts fürWirtschaftsforschung in Halle, Rüdiger Pohl, bezeichnetdie Runde als schlichtweg überflüssig. Recht hat er.
Auf die oscarreife Inszenierung mit dem angeblichenRingen um die Reform des Betriebsverfassungsgesetzesist die gesamte deutsche Öffentlichkeit hereingefallen.Dabei haben Herr Riester und Herr Müller nur ihre Rol-len gespielt, um die Gefälligkeit für den DGB als Kom-promiss erscheinen zu lassen: Riester, der unerschrockeneHeld der Arbeit, und Müller, der Mann der bösen Wirt-schaft. Hinzu kommt Schröder, der salomonischeSchlichter.Der Arbeitsminister, der seit zweieinhalb Jahren imRentendschungel umherirrt, braucht ein Erfolgserlebnis.Der Wirtschaftsminister darf, weil er den undankbarenPart des Bösewichts gespielt hat, nächstes Jahr das unge-liebte Kabinett verlassen. Der Bundeskanzler, der Meisterder öffentlichen Politikdarbietung, hat einmal mehr Chef-sachenmythos gepflegt. Die Stärkung der Funktio-närsmacht in den Betrieben war der Preis für die 10 Mil-lionen DM Wahlkampfhilfe des DGB von 1998 und fürdas Wohlverhalten der Gewerkschaften in der Rentende-batte.
Diese Bundesregierung kennt nur Arbeit und Kapital,nur Beschäftigung im überholten Sinne der Arbeiterklasseund bei selektiver Betrachtung Unternehmen nur alsGroßkonzern.
Entsprechend fehlt bei dieser Bundesregierung eineglaubwürdige Mittelstandspolitik. Das ist im Übrigenkein Zufall, keine Unterlassung aus Vergesslichkeit. Dashat vielmehr Methode. Mit der fortgesetzten Benachteili-gung des Mittelstandes soll nach und nach die wirtschaft-
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Hansjürgen Doss15384
liche und gesellschaftliche Struktur in der BundesrepublikDeutschland verändert werden.
Der Fall Holzmann steht exemplarisch für eine solchePolitik, die anonyme, mitbestimmte Großbetriebe unterstaatlichen Schutz stellt und den Mittelstand an den Randund aus dem Markt drängt. Das Verdrängen des Mittel-standes ist dabei Teil einer groß angelegten gesellschafts-politischen Strukturveränderung, für die mit der undiffe-renzierten Kampagne gegen rechts gegenwärtig derbundesweite Boden bereitet wird.Die Bundesregierung spaltet die Gesellschaft, indemsie alle, die nicht ihren Kurs segeln, als „konservativ“ und„rechts“ brandmarkt, mit Extremisten in eine Ecke stelltund zum „Objekt des Aufstands der Anständigen“ macht.Auf Augenhöhe mit dem Bundeskanzler sind nicht dieMittelständler, sondern nur die Konzernmanager aus der-selben Zigarrenklasse. Der Mittelstand ist nur Zielgruppeim Wahlkampf.
Doch die schonungslose Realität der volkswirtschaftli-chen Entwicklung lässt sich von dieser rot-grünen Politiknicht beeinflussen. Konzerne schaffen keine Arbeits-plätze. Bei schlechten Rahmenbedingungen gehen sie insAusland. Der Mittelstand hingegen hat „lebenslangDeutschland“.Trotz einer für den Arbeitsmarkt günstigen demo-graphischen Entwicklung ist die Lage auf dem Arbeits-markt noch immer bedrückend. Über 4 Millionen Men-schen waren im letzten Monat offiziell arbeitslosgemeldet. Inklusive der verdeckt Arbeitslosen, von denenseit Herbst 1998 interessanterweise kein Mensch mehr re-det, sind es 5,7 Millionen. Der Kanzler jongliert derweilunbekümmert mit Prognosen, wobei es ihm auf eine halbeMillion mehr oder weniger nicht ankommt.Was uns besorgt machen muss: Der exportgetragenenKonjunktur geht langsam die Luft aus. Stabile Wachs-tumsraten verzeichnet alleine die Schwarzarbeit mit658 Milliarden DM Umsatz im vergangenen Jahr.
Die Schattenwirtschaft wächst unter dieser Bundesregie-rung im Vergleich zum tatsächlichen Anstieg des Brut-toinlandsproduktes derzeit dreimal so schnell. Für dieseBundesregierung aber kein Thema! Schwarzarbeit trifft janicht die Konzerne, Schwarzarbeit trifft in erster Linieden Mittelstand.
Vergessen wird dabei, dass bei der Schwarzarbeit keineSteuern und keine Sozialbeiträge gezahlt werden.Schwarzarbeit ist deshalb nicht nur mittelstandsfeindlich,sondern auch in einem hohen Maße unsozial, ebenso un-sozial wie diese Politik, die fleißige Menschen durchüberzogene Besteuerung und eine Beschäftigungsverhin-derungsbürokratie regelrecht in die Schwarzarbeit drängt.Was die Bundesregierung tut, ist Verleitung zur Schwarz-arbeit und deswegen genauso verwerflich wie dieSchwarzarbeit selbst.
Mittelstandsförderung ist Arbeitsplatzförderung. Je-der Existenzgründer schafft im Schnitt kurzfristig dreiArbeitsplätze. In bestehenden mittelständischen Unter-nehmen gibt es im Schnitt acht Arbeitsplätze. Mittel-standsförderung, die Förderung von Existenzgründungen,regionale Wirtschaftsförderung und die Förderung vonBetriebsnachfolgen sind höchst effiziente arbeitsmarkt-politische Maßnahmen. Die Bundesregierung setzt mitihren arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen aber nicht beiden Ursachen an, sondern nur bei den Symptomen.Meine Damen, meine Herren, Riester hat nun entdeckt,dass es Arbeitslose gibt, die arbeiten können, aber nichtwollen. Wenn wir früher auf diesen Sachverhalt aufmerk-sam gemacht haben, ist schlagartig die soziale Kälte aus-gebrochen. Wie sich das alles ändert! Das Sein verändertdas Bewusstsein.
– Ich sehe, die Kollegen lernen dazu. Das ist erfreulich.Zur Vollständigkeit der Betrachtung gehört aber auch,dass es Betriebe gibt, die wollen, aber nicht können, dieArbeit genug haben, aber daraus keine Beschäftigung ma-chen können, weil ein zusätzlicher Arbeitsplatz zu teuerist oder weil die arbeitsrechtlichen Hürden, die heutzutagejeden Arbeitsplatz umgeben, zu hoch sind. Es sind Hür-den mit sozialen Begründungen, die Beschäftigung ver-hindern. Tatsächlich ist aber nur das sozial, was Beschäf-tigung schafft. Oder um es genauer zu sagen: Sozial ist,wer Beschäftigung schafft.
Politik ist unsozial, wenn sie neue Hürden aufstellt, wieverschärften Kündigungsschutz, Rechtsanspruch auf Teil-zeit, Einschränkungen für befristete Beschäftigung, Aus-weitung der Mitbestimmung. Politik ist sozial, wenn siedie Hürden für Beschäftigung niedriger macht oder ab-räumt. Sozial ist, Verkrustungen aufzubrechen, die ver-hindern, dass aus Arbeit, die in Deutschland ausreichendvorhanden ist, Beschäftigung wird. Sozial sind wenigerReglementierung und mehr Flexibilität.
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, für denMittelstand ist diese Legislaturperiode ein Langzeithärte-test. Die Tüchtigsten werden überleben. Die Mittelständ-ler erkennen zunehmend, dass sie für Schröder bei derWahl 1998 Stimmvieh waren.
– So ist das. – Bei der Bundestagswahl im nächsten Jahrwird es heißen: Das war’s für die rot-grünen Genossen.Der Kanzler wird dann sagen: Basta!
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Einen letzten Satz zu Ihrem Antrag. Er ist eigentlichüberflüssig. Er ist eine Variation, eine Interpretation desAktionsprogrammes der Bundesregierung, das genausoinhaltsleer ist.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile
für die SPD-Fraktion dem Kollegen Dr. Ditmar Staffelt
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Nachdem die Fraktion derCDU/CSU bereits im Dezember letzten Jahres die Ant-wort der Bundesregierung auf ihre Große Anfrage erhal-ten hatte, hat sie sich offensichtlich in gar keiner Weisebemüßigt gefühlt, daraus Schlüsse zu ziehen, eigene Ini-tiativen zu ergreifen oder gegebenenfalls ihre Überlegun-gen in Form eines Antrages dem Plenum vorzulegen.
Nein, dies hat die Regierungskoalition heute getan. Das,was Sie, Herr Doss, hier eben vorgetragen haben, ist wirk-lich nichts anderes als der Versuch, einzelne Punkte zu-sammenhanglos herauszupicken und zu sagen: Dies störtuns; an dieser Stelle gehen wir nicht in die gleiche Rich-tung wie Sie. – Das ist wenig, wenn man sich auf Regie-rungsarbeit vorbereiten will, meine Damen und Herrenvon der Opposition. Das ist zu wenig.
Wir als Sozialdemokraten wollen sehr bewusst kleineund mittlere Unternehmen in unserem Lande fördern.Sie stehen im Mittelpunkt unserer Wirtschaftspolitik. Wirwollen eine Wirtschaftspolitik gestalten, die darauf ge-richtet ist, dass kleine und mittlere Unternehmen mit Ei-geninitiative, mit Risikobereitschaft, mit Leistungsfähig-keit gezielt die Wirtschaft in unserem Lande anregen, sieanstoßen, Arbeitsplätze schaffen und damit insgesamtzum Wohlstand in unserer Gesellschaft beitragen.
Wir wollen dafür Sorge tragen, dass diesen Unternehmender Marktzutritt erleichtert wird und dass es auch neueBetätigungsfelder für diese Unternehmen gibt.Ich glaube, dass wir schon jetzt eine eindrucksvolleLeistungsbilanz vorlegen können
und in der Lage sind, diese Leistungsbilanz hier heute sehroffensiv zu vertreten.Herr Doss, ich selbst hatte Gelegenheit, in Rheinland-Pfalz in einigen Städten mit Mittelständlern, mit der IHKund mit der Handwerkskammer zu debattieren.
Glücklicherweise sind diejenigen, die vor Ort Wirtschaftgestalten, sehr viel sachlicher; sie stehen sehr viel stärkerauf dem Boden der Tatsachen, als das Ihrem Vortrag zuentnehmen war.
Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungder Bundesrepublik Deutschland ist sicherlich eine Er-folgsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft. Ich willganz ausdrücklich sagen: Wir bekennen uns zu dem, wasvon Ludwig Erhard über Karl Schiller an Ausgestaltungder sozialen Marktwirtschaft in unserem Lande realisiertworden ist. Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit in unse-rem Lande stärken. Wir wollen natürlich auch, um das So-ziale in der Marktwirtschaft herauszuarbeiten, einen ver-nünftigen Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern undArbeitnehmern in unserem Lande organisieren.Dieser Dialog und diese Konsensfähigkeit von Arbeit-gebern und Arbeitnehmern hat sich über all die Jahre be-währt und ist ein zentraler Baustein der Entwicklung un-serer Wirtschaft, ein zentraler Baustein auch des Erfolgesunserer Wirtschaft. Daran wollen wir festhalten.Ich glaube darüber hinaus, dass gerade der sozialeFriede ein Wettbewerbsvorteil in den internationalen Di-mensionen ist und im Übrigen auch dafür Sorge getragenhat, dass wir in unserem Lande, was Streiks und im Übri-gen auch Behinderungen der betrieblichen Abläufe be-trifft, im Vergleich zu anderen Ländern eine ausgespro-chen positive Bilanz aufweisen können.
Lassen Sie uns an diesem partnerschaftlichen Verhältnistrotz aller Interessengegensätze, die es naturgemäß gebenmuss, festhalten.Meine Damen und Herren, in den letzten 16 Jahren derRegierung von CDU/CSU und F.D.P. geriet Deutschlandin immer stärkerem Maße in eine nachteilige Wettbe-werbssituation
und auch in eine soziale Schieflage. Dieser Reformstau,für den Sie verantwortlich zeichnen, hat insbesondereauch den Mittelstand belastet.
Wir sind 1998 angetreten, um genau diesen Stau aufzulö-sen.
Ich denke, wir können mit der Bilanz, die wir vorzulegenin der Lage sind, genau dieses Ergebnis hier heute darlegen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Hansjürgen Doss15386
Unser Konzept ist eine moderne Wirtschafts- und Fi-nanzpolitik, die das Prinzip der sozialen Marktwirtschaftmit dem der Nachhaltigkeit verbindet. Dies bedeutet, dassWirtschaftspolitik nur auf Dauer erfolgreich sein kann,wenn sie ökonomische Effizienz, soziale Sicherheit undökologische Verantwortung miteinander in Einklang bringt.Wir bekennen uns im Übrigen sehr dazu, dass Unter-nehmerpersönlichkeiten und gut qualifizierte Arbeitneh-mer, die sich mit ihrem Unternehmen identifizieren, mehrund mehr der gemeinsame Schlüssel für den Erfolg einesUnternehmens sind. Ich sage Ihnen, meine Damen undHerren: So, wie Sie im Zusammenhang mit der Moderni-sierung der Mitbestimmung auf das, was sich bisher be-währt hat, eingeschlagen haben, haben Sie sich offen-sichtlich aus der Reihe derer, die diesen Akzent sozialerMarktwirtschaft für eine Vorbedingung für Wohlstand inunserem Lande halten, verabschiedet.
Vor dem Hintergrund dieser Grundüberzeugung habenwir und hat der Bundeskanzler das Bündnis für Arbeitins Leben gerufen. Ich kann nur sagen: Die Ergebnissekönnen sich doch wohl sehen lassen. Es wurde eine ver-lässlich vereinbarte Lohnpolitik erreicht; moderate Tarif-abschlüsse, die Flexibilisierung von Arbeitszeiten, dieFörderung von Teilzeitarbeit wurden vereinbart, ebensodie Förderung von Qualifikationen, die Stärkung der Ver-mittlung von Arbeit – wichtige Akzente zur Verbesserungder Rahmenbedingungen für unsere Wirtschaft.Ich glaube, dass wir seit 1998 wieder auf Erfolgskurssind. Die Zahlen belegen das. Die Arbeitslosigkeit istdeutlich zurückgegangen,
von 11,6 auf 9,3 Prozent. Die Staatsverschuldung ist abge-baut worden und wird bis 2005 weiter abgebaut werden.
Die Preise bleiben stabil, auf niedrigem Niveau – trotz dernegativen Entwicklungen auf den Weltmärkten. Die Er-höhung privater Kaufkraft ist Realität. Allein im Ja-nuar 2001 sind die Einzelhandelsumsätze um 4,1 Prozentgestiegen. Das kommt doch nicht von ungefähr; das istdas Ergebnis konsequenter, guter, neuer, moderner Rah-menbedingungen, die wir geschaffen haben.
Herr Kol-
lege Staffelt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Schauerte?
Nein.
Der Redner
lehnt ab.
Die Bundesregierung hat
Stillstand und Modernisierungsstau, den Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition, hinterlassen haben, aufge-
löst. Ordnungspolitisch und gestalterisch haben wir neue
Rahmenbedingungen gesetzt. Ich will einige dieser Rah-
menbedingungen nennen, die im Übrigen im europäischen
und weltweiten Maßstab absolut unbestritten sind und An-
erkennung finden. – Sie haben das ja vorhin in humoristi-
scher Art und Weise begleitet. Offensichtlich wird der Fa-
sching in Rheinland-Pfalz bis zum Wahltag fortgesetzt.
– So ist es; nur bei den Schwarzen.
Wir haben allein mit der Reform des 630-Mark-Geset-
zes dem Missbrauch im Bereich der geringfügigen Be-
schäftigungsverhältnisse einen Riegel vorgeschoben.
Die Neuregelung erbrachte allein im ersten Jahr Beitrags-
einnahmen für die gesetzliche Rentenversicherung in
Höhe von zusätzlich 1,85 Milliarden DM und für das Jahr
2000 von 2,8 Milliarden DM. Nehmen Sie das doch ein-
mal zur Kenntnis.
Wir haben den Missbrauch im Bereich der Schein-
selbstständigkeit erfolgreich bekämpft. Jetzt werden
nicht mehr diejenigen, die Beschäftigungsverhältnisse
schaffen und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, be-
nachteiligt. Jetzt haben wir auch im Bereich der Selbst-
ständigkeit wieder einen vernünftigen Wettbewerb. Ich
füge, was die Beschäftigung betrifft, hinzu: Allein der
Bundesverband der Freien Berufe hat vor wenigen Tagen
erklärt: Es gibt zusätzlich 27 000 Selbstständige mit mehr
als 100 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen und einer stattli-
chen Zahl zusätzlicher Ausbildungsplätze.
Meine Damen und Herren, diese ordnungspolitischen
Maßnahmen haben sich ausgezahlt. Nehmen Sie das doch
einmal anhand der Fakten zur Kenntnis.
Herr Kol-
lege Staffelt, die Kollegin Kopp möchte eine Zwi-
schenfrage stellen.
Nein, ich lasse im Momentkeine Zwischenfragen zu.
– Passen Sie einmal auf: Ich erlebe ja Ihre hochintelligen-ten Einwürfe im Ausschuss. Ich möchte einmal in derLage sein, zusammenhängend die Dinge zu erläutern,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Dr. Ditmar Staffelt15387
die uns im Bereich der Mittelstandspolitik tatsächlich be-wegen – Punkt.
Viele haben sich, so denke ich, im Zusammenhang mitder Reform des Betriebsverfassungsgesetzes in eineDiskussion hinein begeben, die, bitte schön, auf die realeund rationale Substanz zurückgeführt werden muss. Ichstelle eines fest: Viele kleine und mittlere Unternehmennutzen die Mitbestimmung, um mehr Arbeitnehmer anihren Betrieb zu binden. Das sind viel mehr Arbeitgeber,als es die CDU/CSU-Fraktion hier wahrhaben will. Dasist doch glatte Propaganda, was Sie hier betreiben. Das hatmit den Realitäten des Betriebsfriedens nichts, aber auchgar nichts zu tun hat.
Im Übrigen darf ich Sie darauf verweisen, dass derKompromiss, der gefunden worden ist und der jetzt Ge-genstand von Erörterungen hier im Hause ist, sicherlichein guter und tragfähiger Kompromiss ist, bei dem auchdie kleinen und mittleren Unternehmen in keiner Weiseübermäßig strapaziert werden.
Meine Damen und Herren, ich möchte des Weiterendarauf verweisen, dass mit der Steuerreform, also mit derReform des Einkommensteuergesetzes und des Unterneh-mensteuerrechtes, weltweit anerkannt ein ganz wesentli-cher Reformschritt getätigt worden ist. Ich darf Sie auf dieReduzierung der Lohnnebenkosten hinweisen. Auchdies ist ein Thema, das insbesondere den beschäftigungs-intensiven Unternehmen hilft.
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass auch die Renten-reform ein wichtiger Baustein für das ist, was die Wett-bewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft ausmacht.
Dies alles sollten Sie endlich einmal zur Kenntnis neh-men, wenn Sie auf den Boden der Realitäten der Debattein unserem Lande zurückkehren wollen.
Das Gleiche gilt für das Thema der Haushaltskonsoli-dierung. Auch hier gilt doch auf Ihrer Seite das Motto:Wir fordern und fordern mehr und mehr und auf der an-deren Seite kritisieren wir, dass die Koalition endlichdafür Sorge trägt – im Übrigen auch für den Mittel-stand –, dass der Haushalt in den nächsten Jahren wiederaktionsfähig ist.
Denn weniger Verschuldung bedeutet eine geringereZinsbelastung, und mehr Spielräume im Haushalt bedeu-ten einen höheren Investivhaushalt und damit mehr Auf-träge bei den kleinen und mittleren Unternehmen. Neh-men Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis!
Ich glaube, dass wir uns auch an anderer Stelle sehenlassen können, allein wenn ich mir überlege, wie vieleNeugründungen es in diesem Lande gegeben hat. Wenndie Rahmenbedingungen tatsächlich so katastrophal sind,wie Sie das beschrieben haben, frage ich mich: Warumsind wir eigentlich Weltmeister bei den Existenzgründun-gen im Bereich der New Economy?
– Aber sicherlich sind wir das. Nirgendwo anders hat esso viele Börsennotierungen kleiner und mittlerer Unter-nehmen gegeben wie in Deutschland.Wir haben eines erreicht – auch das muss Gründe ha-ben –: Wir sind heute nicht mehr auf staatliches VentureCapital angewiesen, weil Private offensichtlich in ausrei-chender Weise Risikokapital zur Verfügung stellen. Dasmuss doch Gründe haben! Die Investoren glauben an die-ses Land und an diesen Investitionsstandort. Sie sind nichtder Meinung, wir würden ihr Geld zum Fenster hinaus-werfen. Auch das ist die blanke Realität.
Ich füge des Weiteren hinzu: Für das Handwerk, für dieQualifizierung, für Ausbildungsberufe, also für alle zen-tralen Bereiche,
haben wir weitere Mittel zur Verfügung gestellt. Wir re-formieren das Meister-BAföG.Wir ermöglichen, dass derKreis der Geförderten erweitert wird und dass, wennBAföG gewährt wird, mehr erlassen wird, als das in derVergangenheit der Fall war. Ich sage Ihnen noch einmal:Hören Sie mit Ihrer Miesmacherei auf und setzen Sie sichmit den tatsächlichen Fakten dieser Regierung auseinan-der!
Ich erinnere darüber hinaus an die Reform der Ausbil-dungsberufe, an die zusätzlichen Mittel für die Berufs-schulen, deren Bereitstellung im Rahmen der UMTS-Mil-liarden möglich war, an das, was wir im Zusammenhangmit der Green Card veranlasst haben, an die Einrichtungvon runden Tischen, an die Bereitstellung von Eigenkapi-talhilfe und an die Schaffung von Existenzgründer-lehrstühlen an den Universitäten. Ich könnte die Aufzäh-lung der von uns getroffenen Maßnahmen unendlichweiterführen. Wir haben einen bunten Strauß wichtigerMaßnahmen zusammengestellt, damit kleine und mittlereUnternehmen in unserer Volkswirtschaft einen vernünfti-gen Rahmen erhalten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Dr. Ditmar Staffelt15388
Ich will zum Schluss sagen, meine Damen und Herren:Wir allesamt in diesem Lande haben die Aufgabe, diesenStandort nicht unnötig schlecht zu reden.
Wir wollen Investoren aus dem Ausland in unser Landziehen. Wir wollen dafür Sorge tragen, dass sich unsereUnternehmen mit den Möglichkeiten der Informations-und Kommunikationstechnologie am europäischen Wett-bewerb beteiligen können.
Wir wollen dafür Sorge tragen, dass wir, auch was die EU-Osterweiterung betrifft, frühzeitig mit unseren kleinenund mittleren Unternehmen auf den Märkten präsent sind.Meine Damen und Herren, helfen Sie mit guten Vor-schlägen und lassen Sie die Miesmacherei! Wir glauben,wir sind auf einem guten Weg. Die Fakten sprechen füruns.
Wir jedenfalls haben in vielen, vielen Diskussionen mitSelbstständigen, mit kleinen und mittleren Unternehmendie Erfahrung gemacht, dass die Hoffnung auf ein weite-res gutes konjunkturelles Umfeld, gestützt durch die Po-litik dieser Bundesregierung, gegeben ist. Deshalbschauen wir mit großem Optimismus in die Zukunft.Schönen Dank.
Das Wort zu
einer Kurzintervention erhält der Kollege Hartmut
Schauerte.
Herr Kollege
Staffelt, leider haben Sie meine Zwischenfrage nicht zu-
gelassen, sodass ich das jetzt in einer Kurzintervention
vortragen möchte.
Erstens zur Zahl der Erwerbstätigen: Selten hat es eine
so drastische und offenkundige Manipulation bei den
Statistiken gegeben.
Es steht eindeutig fest: Nachdem Sie die 630-Mark-Jobs
gesetzlich neu geregelt haben, sind diese jetzt in der Sta-
tistik für die Erwerbstätigen ausgewiesen. Vor der Rege-
lung waren es etwa 5 Millionen 630-Mark-Jobs. Davon
sind 2 Millionen jetzt neu als Erwerbstätige in der Statis-
tik ausgewiesen. Sie haben nach wie vor weniger als
630 DM, waren vorher beschäftigt, sind jetzt beschäftigt,
erscheinen aber in der Statistik als eine Verbesserung. Das
ist gemogelt, das ist nicht seriös!
Man muss in diesem Zusammenhang sogar noch dazu-
sagen, dass die anderen 3 Millionen 630-Mark-Beschäf-
tigten jetzt endgültig in der Schwarzarbeit gelandet sind,
völlig rechtlos sind und außerhalb der Zahlungspflichten
liegen – eine schlechte Entwicklung!
Eine zweite Bemerkung: Wenn es denn Besserung in
Deutschland gibt, dann findet sie insbesondere in zwei
Bundesländern statt, in denen die CSU bzw. die CDU sehr
erfolgreich regieren, nämlich in Bayern und in Baden-
Württemberg.
Wir haben in diesen beiden Ländern eine halb so hohe Ar-
beitslosigkeit wie in Nordrhein-Westfalen und in Nieder-
sachsen, wo Sie regieren, deutlich höhere Anteile der
Selbstständigkeit, und, was erstaunlich ist, auf dem nied-
rigen Arbeitslosigkeitsniveau in Baden-Württemberg
nimmt die Arbeitslosigkeit doppelt so schnell ab wie auf
dem hohen Arbeitslosensockel in Nordrhein-Westfalen.
Wenn es also etwas zu loben gibt, wenn es intelligente
Wirtschafts-, Regional- und Strukturpolitik gibt, dann fin-
det sie in diesen Ländern zuallererst statt. Wenn Sie An-
sätze von Besserung feststellen, dann holen Sie sich bitte
dort die Zahlen, und bedanken Sie sich bei den tüchtigen
Landesregierungen – wie zum Beispiel in Baden-Würt-
temberg bei Erwin Teufel –, die das mustergültig auf die
Beine gestellt haben.
Ich denke, das reicht. Gehen Sie in Ihre Länder und se-
hen Sie dort nach! Bekommen Sie rote Ohren, wie
schlecht Ihre Zahlen sind und wie gut die Zahlen in Ba-
den-Württemberg und Bayern sind. Gott sei Dank, dass
wir diese beiden Länder haben.
Zur Erwi-
derung gebe ich dem Kollegen Dr. Ditmar Staffelt das
Wort.
Uns ist ja seit längerem be-kannt, dass Sie der Bereichsleiter Agitprop bei derCDU/CSU-Fraktion sind.
Man hört das eher selten, weil das Sauerland groß ist unddie Vegetation dort sehr viel von dem wegnimmt. Das istgut so für das Land, würde ich sagen.
Ich bin erstaunt darüber, was Sie hier sagen. Ich habemit großem Interesse verfolgt, was die Bundesanstalt für
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Dr. Ditmar Staffelt15389
Arbeit – unabhängig von der jeweiligen Bundesregierung –an redlicher Arbeit geleistet hat.Das ist unter anderem einVerdienst von Herrn Jagoda.
Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass Sie hier den Ein-druck erwecken, als würde die Bundesanstalt für Arbeit,die die Zahlen zum Thema Arbeitslosigkeit veröffentlicht,
die Menschen in diesem Lande in einer unglaublichen Artund Weise belügen. Ich finde das scheußlich, HerrSchauerte! Schämen Sie sich dafür!
Zum Zweiten möchte ich Ihnen eines sagen: Eine or-dentliche Mittelstandspolitik – wo immer sie in der Praxisgemacht wird – sollte uns alle bereichern. Ich habe daüberhaupt kein Problem. Ich klebe da nicht an der Frage,ob ein Senat von Berlin etwas Gutes gemacht hat, eineLandesregierung in Nordrhein-Westfalen oder eineStaatsregierung in Bayern. Wenn es eine gute Initiativeist, warum sollen wir davon nicht gemeinsam lernen?Nur eines bin ich nicht bereit hinzunehmen: Sie redenvom Ländervergleich. Schauen Sie sich doch einmal an,in welcher Größenordnung der Bund in den letzten Jahrenseine Aktivitäten auf diesem Felde verbessert und moder-nisiert hat, und setzen Sie das in Vergleich zu dem, wasSie bis 1998 auf die Beine gestellt haben. Dann kommenSie zu einem Vergleich, über den wir hier debattierenkönnen, und dann, Herr Schauerte, nehme ich Sie auchwieder in den Kreis der Redlichen auf.Danke.
Nun spricht
für die F.D.P.-Fraktion der Kollege Rainer Brüderle.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Grün-rote Gesundbeter ziehen durchsLand,
aber es hilft nichts. Die Konjunktur geht in den Keller,
die Börse kracht, es gibt eine neue Messeinheit für denVerfall ökonomischer Prognosen: den Eichel.
Es hält gerade fünf Tage. Fünf Tage später haben praktischalle Institute ihre Wachstumsprognosen nach unten kor-rigiert: um die 2 Prozent. An die 2,75 Prozent von Eichelglaubt er selbst bestimmt auch nicht mehr. Ich halte ihndazu für zu intelligent.Wir haben die höchste Teuerungsrate seit 1994 inDeutschland – Ergebnis insbesondere grüner Energiepoli-tik.
Eine der wichtigen Ursachen dafür ist die verfehlteMittelstandspolitik. Ich frage mich, meine Damen undHerren: Was hat der deutsche Mittelstand eigentlichGrün-Rot getan, dass Grün-Rot den deutschen Mittel-stand so quält und so schlecht behandelt?
Das ist eine lange Latte: Verschärfung des Kündi-gungsschutzes, Verschärfung bei der Lohnfortzahlung,Abschaffung der 630-DM-Verträge, Verschärfung derMitbestimmung in den Kleinbetrieben – dort ist Teamar-beit, nicht Funktionärsfremdbestimmung gefragt –, Öko-steuer.
Frau Scheel hatte noch die tolle Weisheit, zu erklären, dieAbschaffung der Ökosteuer wäre wirtschaftspolitischerWahnsinn.
Das ist grüne Realpolitik: Mittelstandspreis annehmenund anschließend den Mittelstand abstrafen, in die Pfannehauen. So machen Sie Mittelstandspolitik!
Abschreibungsverschlechterungen und Zwangspfandwerden viele kleine Einzelhändler in existenzkritische Si-tuationen bringen.
Weiter: Steuerbevorzugungen der Kapitalgesellschaften,Unklarheiten bei der Rente, Zwangsteilzeit und ein sechs-jähriges Moratorium von Herrn Eichel für weitere Steuer-senkungen. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die Amerikanerankündigen, 3,2 BillionenMark weitere Steuersenkungenvorzunehmen, erklärt der deutsche Finanzminister: In dennächsten sechs Jahren gibt es nichts mehr. – Die Schief-lage zulasten des Mittelstandes bleibt. Dann darf sichauch keiner wundern, wenn wir Probleme am Arbeits-markt haben.
Dann haben wir einen Bundeswirtschaftsminister, derzum Monopolminister mutiert ist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Dr. Ditmar Staffelt15390
Er hat sein ganzes Leben immer nur in Großkonzernen ge-wirkt; der weiß gar nicht, wie der Mittelstand atmet, wiees hinter der Ladentheke aussieht. Er hält den „blauenAnton“ nicht für eine Arbeitskleidung, sondern für eineComedy-Figur. Mit einer solchen Einstellung kann mankeine Mittelstandspolitik machen.
Monopolminister Müller interessiert sich für die Post:Verlängerung des Briefmonopols.
Monopolminister Müller will Sonderregelungen fürdie Telekom. Monopolminister Müller engagiert sich fürEon, aber nicht für das, was für den Mittelstand notwen-dig ist. Er hat sich nirgends durchgesetzt, weder in derFrage der betrieblichen Mitbestimmung, bei deren Ver-schärfung zulasten des Mittelstandes,
noch hat er seine Grundsatzabteilung zurückbekommen.Er hat immer noch ein amputiertes Ministerium. Wederhat er die Besteuerung von Aktienoptionen verbessernkönnen noch hat er eine Besteuerung der „business an-gels“ verhindern können. Nichts! Überall nur Niederla-gen! So ist es halt, wenn man Monopolminister ist undden Mittelstand nicht kennt.
Jetzt hat er nach zweieinhalb Jahren die neue Wunder-waffe entdeckt und sagt, er brauche eine Mittelstandsbe-auftragte.
Das ist Frau Wolf, die auch sicherlich schon manchesLehrbuch über den Mittelstand gelesen hat. Sie hat vorzwei Tagen mit Leidenschaft gefordert, dass die Steuer-reform korrigiert werden muss, weil sie den Mittelstanddiskriminiert und schlecht behandelt. Dies wird natürlichnull Effekt haben. Da zieht sich Frau Wolf vor den Land-tagswahlen einen Schafspelz über, damit man nicht ent-deckt, wie mittelstandsfeindlich grün-rote Politik ist. MitMittelstandspolitik hat dies absolut nichts zu tun.
Mit dieser Politik macht der Monopolminister Müllerden Mittelstand in Deutschland heimatlos,
macht die Mittelständler quasi zu wirtschaftspolitischenZwangsvertriebenen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik,denn Sie denken nur an Großkonzerne und in großen Ge-werkschaftseinheiten.
Der Bundeskanzler kommt auch nur bei Holzmann undMannesmann vorbei, aber nicht beim Mittelständler.
– Gut, er hat ja so glänzende Monopolvertreter, dass derGenosse der Bosse nicht zwingend dabei sein muss, wennes um Mittelstandspolitik geht. Ich habe noch ein gewis-ses Verständnis dafür, dass er sich damit nicht beschäfti-gen will.Was braucht der Mittelstand, worauf kommt es an? DerMittelstand will keine Almosen, will keine Sonderrege-lungen. Er will eine faire Chance. Dafür brauchen wir eineklare Ordnungspolitik, eine Renaissance der sozialenMarktwirtschaft, in der der Staat ordnet, aber nichtlenkt, in der er faire Chancen gibt und berechenbare Da-ten setzt, nach denen man als Mittelständler seine Investi-tionen ausrichten kann, und in der man nicht ständigdurch punktuelle Eingriffe irritiert wird, die dann, wennman sich an ihnen orientiert, dazu führen, dass die Inves-titionsberechnungen falsch sind. Das ist zutiefst mittel-standsfeindlich. Der Mittelstand kann sich keine Abtei-lung von Winkeladvokaten erlauben, die noch die letzteNische im Steuerrecht finden. Er braucht einen klarenKurs, eine Vereinfachung des Steuerrechts. Aber von Ver-einfachung redet in diesem Hause überhaupt keiner vonder Regierung.
Ich will Ihnen vier Dinge sagen, die Sie sofort machenmüssten, um dem Abgleiten der Konjunktur – hier tun Siegar nichts – entgegenzuwirken:Erstens. Sie müssen eine Steuerreform II sofort auf denWeg bringen, die insbesondere die Schieflage zulastendes Mittelstandes beseitigt. Wir brauchen ein klares, ein-faches Steuerrecht. Unser Vorschlag mit 15, 25 und35 Prozent ist genau richtig. Herr Struck durfte diesemVorschlag einmal zustimmen, aber nach 48 Stundenwurde er dazu verdonnert, sich zurückzuziehen. Die vor-geschlagene Regelung ist richtig, klar und einfach, weilsie gerecht ist. Ein kompliziertes Steuerrecht ist immermittelstandsfeindlich.
Zweitens. Senken Sie sofort die Beiträge zurArbeits-losenversicherung um einen Prozentpunkt. Die Einnah-mesituation gibt das her. Dies wäre gerade für die kleinenBetriebe eine Entlastung.Drittens. Sie müssen unbedingt an eine Reform desArbeitsmarktes herangehen. Es ist völlig unstreitig – obBundesbank, alle deutschen Wirtschaftsforschungsinsti-tute oder die OECD, wenn Sie den deutschen Prognosennicht trauen –: Kernursache der unerträglich hohen Ar-beitslosigkeit in Deutschland ist die Inflexibilität am Ar-beitsmarkt. Sie müssen hier reformieren. Herr Schultefängt ja an zu denken und sagt, man könne dies zeitlichanders machen. Liebe Gewerkschaften, willkommen inder Realität! Wacht endlich auf!
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Rainer Brüderle15391
Wenn ihr euch schon früher bewegt hättet, hätten wirschon viele Langzeitarbeitslose von der Straße holen kön-nen. Die kleinen tüchtigen Leute zahlen für diese ideolo-gische Politik, die falsch strukturiert ist.
Deshalb müssen Sie an eine Reform des Flächentarif-vertrages gehen. Sie geben denen, die draußen stehen,keine Chance. Sie machen mit Ihren Funktionären einen„closed shop“. Geben Sie denen, die arbeitslos sind, unddenen, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben, auch eineChance! Sie brauchen Hoffnung und Perspektive.
Nein, Sie vertreiben sie aus dem Tarifvertrag. Keine Ar-beit zu haben verletzt die innere Empfindung eines Men-schen. Deshalb ist das, was Sie machen, unsozial.
Viertens: Bauen Sie endlich die überzogene Bürokra-tie in Deutschland ab. Ich habe schon in meiner Zeit alsMinister durch ein Gutachten der Universität Mainz er-mitteln lassen, was Sie dem deutschen Mittelstand anbürokratischen Handschellen zumuten. Im Jahr kommenauf den Mittelstand durch überdrehte Regelungen Belas-tungen in einer Größenordnung von 60Milliarden DM zu.
Beginnen Sie mit der Umsatzsteuer. Gehen Sie weg vonder monatlichen Steuererklärung zur Jahresumsatzsteuer-erklärung. Das trifft Sie zu Recht, weil Sie hierbei falschliegen, Herr Poß. Sie sind viel zu intelligent, um zu glau-ben, was Sie dazwischenrufen.
– Ich habe ein bisschen Zeit. Lassen Sie ihn ruhig fragen.
Der Redner
gestattet eine Zwischenfrage. Bitte schön, Herr Poß.
Lieber Herr Kollege, können Sie
sagen, wann Sie Wirtschaftsminister in Mainz waren und
wer zu dem Zeitpunkt die Bundesregierung gestellt hat?
War Ihre Partei zufällig an der Bundesregierung beteiligt?
Herr Poß, das war vor gutdrei Jahren. Das ist richtig. Wir hatten mit unseren Koali-tionspartnern Probleme, solche Dinge abzubauen.
Wir als liberale Reformpartei haben den Mut, die Tabus indieser Gesellschaft anzugehen. Einer muss doch dafürsorgen, dass es vorangeht. Wir wollen nicht weiter mit denItalienern – das ist immer noch die Antwort auf IhreFrage – unter dem europäischen Durchschnitt liegen. Wirliegen hinten. Wir sind nicht mehr die Lokomotive in Eu-ropa. Es sieht eher so aus, als seien wir der Schlafwagen,weil der Reformstau in Deutschland wie in Italien undin Frankreich, also in drei großen Ländern, nicht aufge-löst wird.
Der Reformstau ist die Ursache dafür, dass wir unter demDurchschnitt liegen und dass der Euro fällt, weil man keinVertrauen in unsere Reformfähigkeit und Anpassungs-fähigkeit hat.
Deshalb ist es notwendig, unsere Strukturen zu verändern.Herr Kollege Poß, deshalb war Ihre Zwischenfrage sehrwichtig. Um es noch einmal deutlich zu machen: Wernicht den Mut hat, Veränderungen vorzunehmen, fällteben zurück.Sie werden die Arbeitslosen nicht von der Straße be-kommen, wenn Sie keine Strukturen aufbrechen. ImOsten Deutschlands sind zwei Drittel aller Arbeitsplätzeaußerhalb des geltenden Tarifvertragsrechts. Hieran wagtsich zu Recht keiner, weil es in den neuen Bundesländernsonst noch schlimmer würde. Aber was ist denn das füreine Realität, die nur deshalb einigermaßen funktioniert,weil man sich nicht an bestehende Gesetze hält? Das istder Beleg dafür, dass die Gesetze falsch sind. 80 Prozentder Arbeitgeber – ich will Ihre Frage richtig beantworten –sind aus den Verbänden ausgetreten, weil das alte Tarif-kartell nicht mehr funktioniert. Deshalb ist es so wichtig,Herr Poß, dass man eine klare Antwort auf Ihre Frage gibt.
Ich könnte Ihnen noch eine ganze Reihe von Vorschlä-gen – leider gibt dies die Zeit nicht her – zur Verbesserungder Mittelstandspolitik vortragen.
Sie können diese gern im Aktionsplan der F.D.P.-Bundes-tagsfraktion abrufen. Es kommt darauf an, dass wir nichtsonntags gelegentlich über den Mittelstand reden, son-dern wir müssen in der Woche konkret mit Herz und Ver-stand an diese Sachen herangehen. Deutschland brauchtweniger grün, aber mehr gelb, damit der Mittelstand dastun kann, was er will: arbeiten, Arbeitsplätze schaffen und
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Rainer Brüderle15392
Geld verdienen, damit es vorangeht. Hindern Sie ihndurch Ihre falsche Politik nicht länger daran!
Nun gebe
ich der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesmi-
nisterium für Wirtschaft und Technologie, der Mittel-
standsbeauftragten der Bundesregierung und Kollegin
von Bündnis 90/Die Grünen das Wort, der Kollegin
Margareta Wolf.
M
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Brüderle, an Ihrer Stelle würde ich mich einmal fragen,
warum Sie bis heute noch nie den „Orden wider den tieri-
schen Ernst“ in Aachen bekommen haben.
Ich kann Ihnen sagen, warum Sie ihn nicht bekommen ha-
ben: weil Sie sich wiederholen und immer wieder die glei-
chen Sprüche ablassen.
Sie machen keinen einzigen konkreten Vorschlag. Herr
Westerwelle hat den Orden in diesem Jahr bekommen.
Das kann ich gut verstehen. Er ist nicht so sturzlangwei-
lig wie Sie. Man sollte Harald Schmidt empfehlen, Herrn
Ohoven aus dem Trailer seiner Sendung herauszunehmen
und Sie dafür hineinzusetzen. Dann wäre das Volk richtig
belustigt.
Zwei Punkte will ich zu Ihrer Rede anmerken: Sie for-
dern die sofortige Umsetzung der Steuerreform II. Sie
wissen, dass die Unternehmen mit dem Finanzminister
diskutieren und auf einem guten Wege sind. Verehrter
Kollege, vielleicht haben Sie es schon vergessen: Sie ha-
ben damals der Steuerreform zugestimmt und benehmen
sich heute wie ein Vater, der seine Alimente nicht bezah-
len will.
Frau Kolle-
gin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Brüderle?
M
Nein, ichmöchte zunächst mit meinen Ausführungen fortfahren.Sie stellen sich hin und lärmen in Ihrer komischen Artherum. Wenn Sie fordern, die Lohnnebenkosten zu sen-ken, weil das Geld vorhanden sei, dann sagen Sie doch,wie Sie es machen wollen. Wollen Sie es durch eine Er-höhung der Ökosteuer oder der Mehrwertsteuer errei-chen? Wir wissen, dass Sie überhaupt kein Verständnis fürnachhaltige Haushaltspolitik haben, weil wir heute mitden Bürgerinnen und Bürgern einen Haushalt sanierenmüssen, den Sie fast in den Bankrott getrieben haben.
Herr Brüderle, wir wissen, dass eine Ihrer Kernforde-rungen lautet, Bürokratie abzubauen. Sie stellen sich hinwie ein Leuchtstoffengel und fordern einen Abbau derBürokratie. In Ihrem Antrag fordern Sie, ebenso wie dieCDU/CSU, wir sollten ein Gutachten einholen. Vielleichtist Ihnen entgangen, dass die Bundesregierung bereits seitzwei Jahren am Bürokratieabbau arbeitet und dass wir dieVerbände aufgefordert haben, uns konkrete Vorschläge zumachen. Ich weiß, dass Sie, Herr Kolb, das entdeckt ha-ben. Von Ihnen habe ich aber noch keinen einzigen Vor-schlag gehört. Wir werden demnächst ermöglichen, on-line Handelsregistereintragungen vorzunehmen, Lohn-und Einkommensteuererklärungen abzugeben und Ge-werbeeintragungen vorzunehmen. Herr Kollege Brüderle,so sieht die Realität aus.Ich möchte Ihnen noch etwas sagen: Der Mittelstand inDeutschland hat allen Grund, selbstbewusst zu sein. Wirals Politiker haben allen Grund, den Mittelstand inDeutschland zu loben. Der Mittelstand – ich möchte nichtbewerten, wie man Vertriebene einschätzt – ist inDeutschland kein Volksvertriebener. Der Mittelstand hatin diesem Land im letzten Jahr 340 000 Stellen geschaf-fen und wird in diesem Jahr weitere 650 000 Stellen schaf-fen. Das sagt „Forsa“ und das schreibt „Impulse“. Sie da-gegen, sehr geehrter Herr Brüderle, tun so, als sei derMittelstand ein kleines, vom Aussterben bedrohtesPflänzchen, das man ständig mit dem Gießkännchengießen müsse.
– Ja genau, die Schaumweinsteuer.Ich finde es erstaunlich, wie sowohl Sie als auch KollegeDoss das Bündnis für Arbeit bewerten und in diesem Zu-sammenhang über die Betriebsverfassung reden. Ich warimmer der Meinung, dass sich die Wirtschaftspolitik diesesLandes nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aufLudwig Erhard gründet. Ein wesentliches und konstitutivesElement des rheinischen Kapitalismus, begründet vonLudwig Erhard, ist die Mitbestimmung, die es in diesemLand übrigens seit 1921 gibt. Sie müssen sich einmal ent-scheiden: Wollen Sie die soziale Marktwirtschaft oder wol-len Sie einen Manchester-Kapitalismus? Worauf beziehenSie sich in Ihrer Argumentation? Sie müssen sich doch inIhrer Argumentation etwas auf die Historie beziehen.Zum Bündnis für Arbeit: Ist es in der Vergangenheitschon einmal gelungen, Tarifverträge so zu gestalten, dasssie sich an der Produktivität und vor allen Dingen amBeschäftigungswachstum orientieren? Man muss klar sa-gen: Nein, unter Ihrer Regierung nicht. Dagegen ist es
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Rainer Brüderle15393
jetzt im Bündnis für Arbeit gelungen und damit sind wireuropaweit vorne. Man kümmert sich nun konzertiert da-rum, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer früh-zeitig weiterzubilden, um der demographischen Entwick-lung gerecht zu werden und nicht den Fehler anderereuropäischer Länder zu wiederholen, ältere Arbeitslose indie Langzeitarbeitslosigkeit abzudrängen. Sehr geehrterHerr Brüderle, ich finde Ihre „Hauruck-, Hau-weg-den-Scheiß“-Reden, die Sie hier ständig halten, langweiligund verantwortungslos, weil unser Mittelstand das nichtverdient hat.
Der Mittelstand ist ein Beschäftigungsmotor. Er läuft end-lich wieder rund und gewinnt zunehmend an Fahrt. Siesollten einmal mit mittelständischen Unternehmern vorOrt über dieses Thema reden.
Gestatten
Sie nun eine Zwischenfrage des Kollegen Brüderle?
M
Ja.
Ich habe von der Mittel-
standspolitik gesprochen und Sie werfen mir nun vor, ich
hätte eine Mittelstandsbeschimpfung vorgenommen, nur
weil das in Ihr Klischee passt.
Meine Frage ist: Haben Sie zur Kenntnis genommen,
dass letztlich die F.D.P. in Rheinland-Pfalz die Steuerre-
form I möglich gemacht hat, nachdem sie um 7 Milliar-
den DM pro Jahr verbessert wurde, die Pläne zur Ab-
schaffung des halben Steuersatzes im Falle der
Betriebsaufgabe aus Altersgründen oder wegen Erwerbs-
unfähigkeit – sie waren eine schreiende Ungerechtigkeit
gegenüber dem deutschen Mittelstand – aufgegeben wur-
den und zusätzliche Steuersenkungen für alle erreicht
wurden? Vonseiten Ihrer Regierung uns kritisch vorzu-
werfen – ich grüße Sie in Sachen Rente –, wir hätten be-
wirkt, dass Deutschland, da gar nichts geht, in der Welt zu
einer internationalen Lachnummer wird, weil wir bei Ih-
nen nur eine Veränderung im Umfang von 7 Milliar-
den DM erreichen konnten, zeigt, dass Sie die Realität
nicht kennen, nur Ihren Text ablesen und nicht wissen,
was Sie sagen.
– Die Frage ist, ob sie bereit ist, zur Kenntnis zu nehmen,
wie es ist! Sie hören nicht zu!
M
Verehrter HerrKollege, da sehen Sie einmal, wie Sie Fragen formulie-ren! Kein Mensch versteht sie!
– Jetzt werden Sie auch noch unverschämt! Das reichtjetzt langsam!
Wenn Sie der Steuerreform zugestimmt haben, danndarf man in einer Demokratie von Ihnen erwarten, dassSie diese Steuerreform auch vertreten und nicht immer sotun, als würde der Mittelstand durch diese Steuerreformüberproportional belastet. Sie können sich zur Unter-mauerung Ihrer Position auf keine Studie beziehen. Siebehaupten das immer einfach so und schaden damit demMittelstand wie im Übrigen auch der Investitionstätigkeitin Deutschland. So viel zu Ihrer wirtschaftspolitischenKompetenz, verehrter Herr Kollege!
Die Steuerreform stärkt die Innenfinanzierungskraftdes Mittelstandes und eröffnet dem Mittelstand Freiräumefür mehr Investitionen und mehr Arbeitsplätze inDeutschland. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung derUnternehmensteuerreform, das beim BMF in sehr gutenHänden ist, wird es weitergehen.Der Mittelstand ist heute der Innovationsmotor in die-sem Land. Verehrter Herr Kollege Brüderle, verehrterHerr Kollege Doss, mich verwundert es immer wieder,dass Sie keines der Probleme, die mit der Wettbewerbs-fähigkeit des deutschen Mittelstandes vor dem Hinter-grund zunehmender Globalisierung zusammenhängen, inden Vordergrund Ihrer Debattenbeiträge stellen. Die Lö-sung dieser Probleme spielt aber eine zentrale Rolle in un-serem Aktionsprogramm „Mittelstandspolitik“.Sie wissen – diesem Punkt kommt vor dem Hintergrunddes Strukturwandels, der Globalisierung und eines massi-ven Innovationsdrucks eine erhebliche Bedeutung zu –,die Eigenkapitalausstattung unserer mittelständischenUnternehmen ist im internationalen Vergleich noch immerrelativ niedrig. Sie liegt bei etwa 16 Prozent. Daher glau-ben wir, glaubt die Bundesregierung und glauben die siestellenden Fraktionen, dass das Zurverfügungstellen vonausreichenden finanziellen Ressourcen, egal ob in Formvon öffentlichen Förderprogrammen, Bankdarlehen oderRisikokapital, eine Aufgabe höchster Priorität darstellt.
– Ja, aber wir machen weit mehr, als Sie damals gemachthaben.Wir haben das BTU-Programm aufgestellt – hören Siegut zu, Herr Kolb –, das quasi ein Venture-Capital-Pro-gramm ist und das ein Volumen von 2,3 Milliarden DMhat. Mit diesem Programm versteht sich die Bundesregie-rung quasi als stiller Teilhaber an den technologieorien-tierten mittelständischen Unternehmen. Sehr viele Start-ups haben auf dieses Programm zurückgegriffen, weil sienoch kein Venture Capital gefunden haben. Das wissenSie sehr genau. Dieses Programm ist absolut erfolgreichund weist nach vorne. Die KfW und die DtA haben alleinim letzten Jahr Kredite in Höhe von 17Milliarden DM zurVerfügung gestellt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf15394
Ein weiterer Punkt, der mir gerade vor dem Hinter-grund der Globalisierung sehr wichtig erscheint, ist, dasswir nunmehr durch die Zusammenarbeit von KfW undDtA alle wichtigen Mittelstandsprogramme in die Handeiner zentralen Beraterbank legen, die zugleich An-sprechpartner für den Mittelstand ist, wenn es um Förde-rung durch den Bund geht. Das ist eine Dienstleistung fürden Mittelstand, auf die wir stolz sind.Sie wissen, dass sich die Bundesregierung – ich wun-dere mich, dass Sie auch dazu nichts sagen – intensivdafür eingesetzt hat, dass bei der Neuregelung der so ge-nannten Basler Eigenkapitalunterlegungsvorschriften fürKreditinstitute die Belange des deutschen Mittelstandesberücksichtigt wurden. Es ist nunmehr so, dass das interneRating als gleichwertig akzeptiert wird. Damit ist einerseit langem erhobenen Forderung des MittelstandesRechnung getragen.Sie beklagen ja immer, dass die privaten Banken nichtsfür die Verbesserung der Kreditausstattung des Mittel-standes tun würden. Ich darf Sie darauf hinweisen, dassdie Bundesregierung eine Vereinbarung zur Finanzierungdes Mittelstandes mit allen beteiligten Banken, also denprivaten, den öffentlich-rechtlichen, den Raiffeisenban-ken sowie mit DtAund KfW, abgeschlossen hat. Wir wer-den diese Vereinbarung kritisch begleiten und beobach-ten, ob sie dazu beiträgt, dass sich alle Banken an derFinanzierung des Mittelstandes beteiligen. Wir werden sienoch in diesem Jahr evaluieren und werden dann im Zwei-fel noch eine Anschlussvereinbarung abschließen müs-sen.
Frau Kolle-
gin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Gudrun Kopp?
M
Ja.
Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, können
Sie nachvollziehen, dass viele mittelständische Unterneh-
men es bedauern, dass es diesen Zusammenschluss von
DtA und KfW geben wird, in Zukunft vertraglich festge-
legt, weil sie um die absolut bewährten Beratungsstruktu-
ren der DtA fürchten, nämlich der Mittelstandsbank,
die mit runden Tischen, mit wirklich fein ausgeklügelten
Beratungssystemen für den deutschen Mittelstand zur
Verfügung steht? Diese Betriebe haben Sorge um den
Fortbestand unter dem Dach einer Konzernstruktur, die
die KfW nun einmal ist. Können Sie auch verstehen, dass
sie fürchten, dass durch weitere Belastungen des Mittel-
standsprogramms – das BTU-Programm ist gerade ge-
nannt worden – die Mittelstandsförderung zumindest in
Kürze zurückgefahren wird?
M
Frau Kollegin
Kopp, mir ist bekannt, dass am Anfang der Debatte über
die Zusammenarbeit von DtA und KfW verschiedene
Mittelständler befürchtet haben, dadurch würde die Mit-
telstandsfinanzierung eher auseinander gezogen. Jetzt ist
es, glaube ich, sehr wichtig, darüber zu kommunizieren,
was tatsächlich beabsichtigt ist. Wenn man das tut, kommt
es auch beim Mittelständler an. Wir überführen sämtliche
Mittelstandsprogramme der KfW in die DtA. Die DtA
wird keinesfalls unter dem Dach der KfW arbeiten,
sondern es handelt sich um gleichberechtigte Partner.
One-Stop-Shopping können Sie demnächst bei der DtA
machen, und die Beratungsinstitution für den Mittelstand
ist die DtA, sodass man sagen kann: Wir nutzen Synergien
und gestalten die DtA um in eine reine Mittelstandsbank.
Ich bin der KfW ausgesprochen dankbar, dass sie dies
auch tatsächlich mitgemacht hat, sodass wir alle Pro-
gramme jetzt bei der DtA haben.
Meine Damen und Herren, wir prüfen – um noch ein-
mal auf die Kapitalsituation zu kommen – –
Frau Kolle-
gin, eine weitere Zwischenfrage wird gewünscht. Es liegt
in Ihrer Entscheidung, ob Sie sie zulassen. – Bitte schön.
Frau Kollegin Wolf,
Sie sprachen die Anschlussregelung Basel I zu Basel II an.
Ist es vielleicht Ihrer selektiven Wahrnehmung zuzu-
schreiben, dass Sie nicht wahrgenommen haben, dass es
eine parlamentarische Initiative war, die erst die Regie-
rung veranlasst hat, hier tätig zu werden?
M
Verehrter HerrKollege, das stimmt nicht. Wir haben in Basel verhandelt.Dann ist ein Zwischenbericht für die Ausschüsse gemachtworden. Das Ergebnis ist zurückzuführen auf eine ge-meinsame Initiative der die Regierung tragenden Fraktio-nen und der Bundesregierung.Aber ich will Ihnen einmal eines sagen: Was in dieserDebatte total nervt, ist, dass jeder immer versucht, sichvon dem Kuchen ein Stückchen zu nehmen, als ob es sub-stanziell im Ergebnis darauf ankäme.
Der Kollege Staffelt hat das schon gesagt. Wir diskutierenin der Sache, dachte ich, wobei es darum geht, dem Be-schäftigungsmotor in diesem Land bessere Rahmenbe-dingungen zu geben. Hier läuft es immer so: „Das habeich aber gesagt, das habe ich aber gemacht.“ Das ist völ-lig irrelevant für eine Verbesserung der Rahmenbedin-gungen für unseren Mittelstand.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf15395
Gestatten
Sie eine weitere Zwischenfrage?
M
Ja.
Frau Kollegin, wären
Sie zumindest bereit, mit Ihrer Kollegin und Vorsitzenden
des Finanzausschusses, Frau Scheel, einmal Rücksprache
darüber zu nehmen, wie die Sache wirklich gelaufen ist?
M
Was soll denn
das? Wenn Sie sich setzen, dann brauche ich die Frage
nicht zu beantworten.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich freue
mich, dass die Venture-Capital-Kultur in Deutschland im
ersten Halbjahr 2000 auf insgesamt 3,2 Milliarden DM
gewachsen ist. Ich glaube, dass sich der Prozess weiter
fortsetzt.
Mit dem angesprochenen Seed-Capital, das durch das
BTU-Programm zur Verfügung gestellt wird, waren wir in
der Lage – so kann man, glaube ich, nach allem, was an
Auswertung vorliegt, sagen –, die so genannte Seed-
Phase mitzufinanzieren. Nichtsdestotrotz will ich aber
noch einmal auf die Situation am Neuen Markt hinwei-
sen. Ich glaube, dass die Eröffnung des Neuen Markts am
10. März 1997 eine große Chance gerade auch für die in-
novativen neuen Betriebe in Deutschland darstellte. Er
war auf die innovativen, jungen Wachstumsunternehmen
zugeschnitten.
– Verstehen Sie etwas vom Neuen Markt?
– Nein, die Luft ist überhaupt nicht raus.
Aufgrund von falschen Beratungen und Überbewer-
tungen hat es am NeuenMarkt so etwas wie einen Crash
gegeben. Ich würde mit Ihnen gerne darüber reden, was
man machen kann, um den Neuen Markt nicht weiter zu
diskreditieren, und was für Rahmenbedingungen man
schaffen muss, um das Regelwerk, das dem Neuen Markt
zugrunde liegt, tatsächlich zu verbessern. Das Bundes-
wirtschaftsministerium denkt zusammen mit Vertretern
des Kapitalmarkts Frankfurt über ein freiwilliges Qua-
litätssiegel nach.
– Moment, ich möchte den Gedanken noch zu Ende brin-
gen. – Wir haben einen Auftrag an renommierte Fachleute
für den Kapitalmarkt erteilt. Wir wünschen uns, dass die-
ses Qualitätssiegel bei der Börsensachverständigenkom-
mission angesiedelt und dann vom BAW kontrolliert
wird. Wir legen allerdings auf Freiwilligkeit Wert. Der
Zuspruch, den wir vom Kapitalmarkt bekommen, ist so
beeindruckend, dass wir davon ausgehen, dass das Image
des Neuen Marktes durch einen entsprechenden Analys-
tenkodex tatsächlich gesteigert werden könnte.
Lassen Sie
eine weitere Zwischenfrage zu?
M
Ja, das muss ich
wohl.
Bitte schön.
Frau Kollegin Wolf,
teilen Sie die Auffassung des Herrn Wirtschaftsministers
Müller, der auf die Frage, ob er sich am Neuen Markt en-
gagieren würde, antwortete, dann könne man ja gleich in
die Spielbank gehen?
M
Was soll denndas? Dieser Satz ist aus dem Kontext gerissen. Was beab-sichtigen Sie mit dieser Frage?
Wir wissen – es ist erstaunlich, dass das in der GroßenAnfrage der CDU/CSU keine Rolle gespielt hat –, dassder Bildungspolitik vor dem Hintergrund des Struktur-wandels des Standortes Deutschlands eine ganz beson-dere Bedeutung zukommt. Wir müssen Potenziale mobi-lisieren, indem wir junge Menschen schon an den Schulenund an den Hochschulen an unternehmerische Fragen he-ranführen. Zu diesem Zweck haben wir das Projekt Juniorgestartet, das in zwölf Bundesländern ausgesprochen er-folgreich läuft.Gleichzeitig müssen wir die Kultur der Selbstständig-keit stärker in den Schulen verankern. Dabei liegen wir imVergleich zu anderen Ländern etwas im Hintertreffen.Man kann nicht sämtliche Rückstände in zwei Jahren auf-holen. Eine Umfrage unter 1 000 Jugendlichen im Altervon 15 bis 25 Jahren hat ergeben, dass sich zwei Drittelvon ihnen vorstellen können, später einmal ein eigenesUnternehmen zu gründen. Das bedeutet nachhaltige Wirt-schaftspolitik. Das wird zu mehr Selbstständigkeit undauch zu mehr Arbeitsplätzen in diesem Lande führen.Weitere Fragen, die ich in diesem Zusammenhang ganzwichtig finde, lauten: Wie schaffen wir mehr Selbststän-digkeit? Wie können wir dafür sorgen, dass der For-schungs- und Wissenstransfer zwischen Wirtschaft und
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 200115396
Wissenschaft Eingang in die Hochschulen findet? Ich ver-weise auf die Tatsache, dass wir 18 Lehrstühle für Exis-tenzgründungen geschaffen haben. Dort werden Studie-rende auf den Schritt in die Selbstständigkeit ganz gezieltvorbereitet. Wir werden diesen Ansatz weiter ausbauen,sodass wir bald ein ganzes Netz von Lehrstühlen für Exis-tenzgründungen in Deutschland vorweisen können.Darüber hinaus ist es ganz wichtig – der KollegeStaffelt hat darauf hingewiesen –, dass wir uns um die Be-rufsschulen kümmern. Sie alle wissen aus Ihren Wahl-kreisen, dass die Berufsschulen in der Vergangenheit vonder Wirtschafts- und der Bildungspolitik vernachlässigtwurden. Man trifft dort in aller Regel – das ist kein Vor-wurf – auf einen völlig frustrierten Lehrkörper. Die Inves-titionen in den Baubestand waren sichtbar schlecht. Inder Vergangenheit wurden die Berufsschulen – das siehtman – wie ein Stiefkind behandelt.Wir haben aus den UMTS-Erlösen über 255 Milli-onen DM zur Verfügung gestellt, um vorhandene Miss-stände abzubauen. Wir wollen den Berufsschulen deutlichmachen, dass sie – gerade für Schülerinnen und Schüler,die auf dem Arbeitsmarkt Schwierigkeiten haben – einwichtiger Faktor sind. Wir nehmen die Schülerinnen undSchüler, die in den Berufsschulen ausgebildet werden undhinterher in den Mittelstand, zum Beispiel in Handwerks-betriebe, gehen, ernst. Wir müssen auch den Ländern klar-machen, dass diese Angelegenheit für uns wichtig ist.Deshalb trifft sich der Bundeswirtschaftsminister auchmit Frau Schavan.
– Bitte? Stellen Sie eine Frage, dann geht das nicht zulas-ten meiner Redezeit.
Ich möchte wirklich an Sie appellieren, das im Auge zubehalten und in den Wahlkreisen auf ein verstärktes En-gagement der Kommunen und Länder hinzuwirken.Ein weiterer wichtiger Punkt für die Zukunftsfähigkeitdes Standortes Deutschland ist, dass wir die Ausbildungs-berufe und die Weiterbildung viel schneller modernisie-ren müssen. Die Zeit rennt immer schneller und die An-forderungen an die Sozialpartner und die Politik wachsenimmer schneller. Wir haben bis jetzt bereits 36 neue Be-rufsbilder im Zusammenhang mit schon bestehenden Be-rufen geschaffen und sieben neue Berufsbilder im IT-Be-reich formuliert. Auch freut es mich, dass im Rahmen desBündnisses für Arbeit 60 000 neue Arbeitsplätze gerade inder IT-Branche zugesichert wurden. Ich denke, wir befin-den uns auf einem guten Wege, wenngleich die Anforde-rungen an die Sozialpartner stetig steigen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchtejetzt noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, der mirsehr am Herzen liegt. Es handelt sich um die Osterweite-rung der EU. Ich glaube, dass auf uns alle – auf unsParlamentarier, aber auch auf die Vertreterinnen und Ver-treter der Arbeitnehmerschaft – eine große Verantwortungin Bezug auf die Gestaltung dieses Prozesses zukommt.Sie alle wissen, dass Polen, Tschechien und Ungarn imJahre 2004 erstmals an den Wahlen zum EuropäischenParlament teilnehmen und die Beitritte vermutlich relativrasch vonstatten gehen werden. Auf der InternationalenTourismus-Börse konnte man sehen, wie sich gerade dieTschechen, Polen und Ungarn – diese drei – auf den Bei-tritt vorbereiten und freuen. Mit dem Beitritt verbinden sieeine Potenzierung von Freiheit und Wohlstand. Man be-reitet sich ganz emsig darauf vor.Ich beobachte mit großer Sorge, dass in unseren Grenz-regionen – das hat mir Herr Pohl vom Institut für Wirt-schaftsforschung in Halle auch noch einmal bestätigt –mit dem Beitritt insbesondere von Polen assoziiert wird,dass vermehrt „geklaut“ wird. Dieser Eindruck wurde lei-der bei manchen Büttenreden während des Karnevalsnoch verstärkt. Hier war es immer der Pole, der klaut. Die-sem Eindruck bei den Menschen in den Grenzregionenmüssen wir zunächst einmal entgegenwirken. Außerdemmüssen wir die dort herrschende Angst vor Lohndumpingabbauen. Schließlich glaube ich, dass es sich auch um einementale Blockierung handelt, da es den Menschen dortwirtschaftlich ja nicht so gut geht. Gut funktionierende,grenzüberschreitende Kooperationen werden heute unterder Decke gehalten, über sie wird in diesen Gebieten nichtgesprochen, weil man lieber die Risiken als die Chancensehen will.Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen; vielleicht wirdIhnen dann deutlich, warum ich glaube, dass die Ost-erweiterung gerade für die fünf neuen Bundesländer,aber auch für uns im Westen mehr Chancen als Risikenbirgt.
– Bitte? Erzählen Sie es doch laut. Ich möchte jetzt mei-nen Gedanken zu Ende entwickeln.Ich war in der letzten Woche bei einem kleinenSchreinerbetrieb in einer der Grenzregionen, in dem sehrhochwertige Sachen hergestellt werden. Dieser Schrein-erbetrieb, der nicht mit Holzfurnieren, sondern mitMassivhölzern arbeitet, hat schon mehrere Aufträge vonJuwelieren in Polen zur Ausstattung ihrer Läden bekom-men. Das zeigt – es gibt zahllose solcher Beispiele –, dassdie Polen bei uns sukzessive auch Qualität nachfragenwerden.Ein weiterer Punkt ist – deshalb ist die Vereinbarungvon Nizza nicht nur gut für den Westen, sondern auch gutfür die Polen, Tschechen und Ungarn –, dass die Polen ge-rade bei den Ingenieuren und den IT-Spezialisten hochqualifiziertes Personal haben. Wenn es in Polen nicht in-nerhalb der vorgesehenen maximal sieben Jahre zu einerLohnangleichung kommt, werden die Fachkräfte von dortabwandern. Wenn sie vorher schon weggehen, werden wirArbeitskräfte aus diesem Land bekommen. Ich will damitsagen: Für den deutschen Mittelstand eröffnet sich in Po-len, Tschechien und Ungarn ein riesiger Markt für Inves-titionen; es gibt dort nämlich ausgebildete Arbeitskräfte.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf15397
Wir tragen die Verantwortung gegenüber den Grenzre-gionen und der Bevölkerung hier, die Chancen und die Ri-siken, zuvörderst aber die Chancen dieser Osterweite-rung, zu thematisieren. Wenn in diesem Prozess Ängsteaufkommen, weil wir nicht alle an einem Strang ziehen,dann spricht das nicht für unsere Europapolitik. HerrFischer ist da mit unserer Unterstützung auf einem sehrguten Wege.Ich möchte, dass wir diese Debatte in einem positivenGeist führen und dass wir ein bisschen von der Euphorieübernehmen, die bei den Polen, den Ungarn und den Tsche-chen vorhanden ist. Ich rate Ihnen dringend, in dieser An-gelegenheit einmal den ungarischen Wirtschaftsminister zusprechen. Dann würden Ihnen die Tränen kommen.Reden Sie mit den Menschen! Fahren Sie in diese Re-gionen – wir tun das – und werben Sie für die Osterwei-terung! Das sind wir unserer Geschichte und auch unse-rem Mittelstand schuldig.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Zu einer
Kurzintervention erhält der Kollege Hans Michelbach das
Wort.
Frau Staatssekretä-
rin, ich habe gedacht, Sie würden in Ihrer Rede die Steu-
erreform kritisieren, so wie Sie es kürzlich im „Handels-
blatt“ getan haben. Aber heute haben Sie anscheinend den
Mut verloren; denn Sie beten die steuerliche Ungleichbe-
handlung des Mittelstandes sozusagen gesund.
Wo sind denn die Steuergerechtigkeit, die Steuerver-
einfachung und die Entlastung für den Mittelstand geblie-
ben? Tatsache ist doch, Frau Staatssekretärin, dass wir
eine mittelstandsfeindliche Steuerpolitik haben.
Tatsache ist, dass die Steuerquote auf 22,95 Prozent – das
ist der Höchststand – angewachsen ist. Tatsache ist auch,
dass die Zahl der Insolvenzen gestiegen ist und dass es in
der Steuerpolitik Wettbewerbsverzerrungen auf breiter
Front zulasten des Mittelstandes gibt.
Das Gesetz zur Senkung der Unternehmensteuer
bedingt Wettbewerbsverzerrungen bezüglich der Tarif-
spreizung und des Steuersatzes sowie Wettbewerbs-
verzerrungen durch eine Überforderung aufgrund einer
verschärften Gegenfinanzierung.
Damit finanziert der Mittelstand die Steuergeschenke ins-
besondere an die Großbanken hinsichtlich der Steuerfrei-
heit der Veräußerungsgewinne.
Zur Tarifspreizung: In meinem mittelständischen Be-
trieb zahle ich in den Veranlagungszeiträumen 2001 und
2002 33 Prozent mehr als der Konkurrent mit einer Kapi-
talgesellschaft.
Ist das gerecht? Im Jahre 2005 zahlt eine Personengesell-
schaft immer noch 18,2 Prozent mehr als eine Kapitalge-
sellschaft. Wenn ich einen Betrieb neu gründe und dann
Kapital in diesen neu gegründeten Betrieb verlagere, dann
muss dieses Kapital voll versteuert werden. Der Konkur-
rent mit seiner Kapitalgesellschaft wird bei einer entspre-
chenden Umstrukturierung völlig steuerfrei gestellt. Das
sind die Ungerechtigkeiten, die den Mittelstand treffen.
Es gibt das gleiche Problem bei der Gegenfinanzie-
rung. Sie verschärfen die Abschreibungsbedingungen und
schaffen so neue Belastungen, die Investitionen erschwe-
ren. Das, sehr geehrte Frau Staatssekretärin, ist eine mit-
telstandsfeindliche Politik.
Wer investiert, wird durch Ihre Politik bestraft. Das ist
die Tatsache, die wir feststellen müssen.
Ich gebenunmehr dem stellvertretenden Ministerpräsidenten undMinister für Arbeit und Bau des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Helmut Holter, das Wort.
Meine Damen und Herren! Wenn ein ostdeutscher Ar-beitsminister in einer parlamentarischen Mittelstandsde-batte das Wort ergreift, dann könnte er es eigentlich kurzmachen. Wenn er sich auf einen ostdeutschen Kommentarzu den vorliegenden Anträgen der Regierungsfraktionenund der Union beschränkt, dann ginge es eigentlich nochkürzer. Die neuen Bundesländer kommen nämlich in die-sen Papieren so gut wie gar nicht vor. Schon aus diesemkühlen Grunde kann ich mir nicht vorstellen, dass Vertre-ter ostdeutscher Interessen, wie die Mitglieder der PDS-Fraktion, den Vorlagen zustimmen werden.Mich ärgert besonders, dass die Bundesregierung in Sa-chen Mittelstand Ost so etwas demonstriert wie – freund-lich formuliert – hochdynamisches Abwarten.
Sie behandelt die „Chefsache Ost“ als Nebensache West.Sie übersieht, dass der Aufbau Ost ein Verfassungsauftragist. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Osten Deutsch-lands überhaupt nur eine Perspektive als Standort kleinerund mittlerer Unternehmen, als eine Gründerregion hat.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf15398
Ich weiß, wovon ich rede; denn in Mecklenburg-Vor-pommern fehlen im Vergleich zu Schleswig-Holstein18 000 Unternehmen. Ich weiß, wie endlos der Weg zusein scheint. Ich weiß indes auch, welche Potenziale zwi-schen Ostsee und Erzgebirge brachliegen.
Die andere Seite der Medaille ist: In Mecklenburg-Vor-pommern finden, bezogen auf die Einwohnerzahl, diemeisten Firmengründungen statt. Ich habe im vergange-nen Jahr eine Veranstaltungsreihe über Existenzgründerinitiiert. Mit „Idee sucht Kapital – Kapital sucht Idee“ sinddiese Begegnungen überschrieben. Eingeladen wurdenBanker, Bildungsexperten, gründungswillige Menschen.Ich habe Zuspruch erhalten. Ich habe nicht damit gerech-net, dass Hunderte von Interessenten, die sich selbststän-dig machen wollen, zu diesen Veranstaltungen drängen.Sie ließen sich beraten und erörterten Finanzierungen.Allein aus der Arbeitslosigkeit heraus und von meinemMinisterium gefördert haben sich in den vergangenen bei-den Jahren 4 000 Menschen selbstständig gemacht.
Das ist eine Zahl, die, glaube ich, auch für den Willen inMecklenburg-Vorpommern steht, den Weg in die Selbst-ständigkeit zu unterstützen.Im Osten sprießt ein Gründergeist, der im Westenanscheinend unterschätzt wird. Ich kann Sie nur einladen:Schauen Sie bei der nächsten Veranstaltung einmalvorbei!
Man lernt dort über die neuen Länder und ihre Problememehr als bei so manchen polittouristischen Sommer-touren.
Es gibt eine ziemliche Einhelligkeit in dem Urteil, dassdie Mittelstandsförderung stärker den ostdeutschen Gege-benheiten angepasst werden muss. Wir brauchen alleKraft für eine neue Gründerwelle. Ostdeutsche sind fähigund bereit, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen.
Wir brauchen für diese Kultur des Aufbruchs und der Un-ternehmungen aber die handfeste Unterstützung der Poli-tik und übrigens auch die der Banken; denn es ist ander Zeit, in die Idee, in das Konzept zu investieren, anstattdas Bankrisiko durch mehrfache Absicherungen zu mini-mieren.
Vieles an Initiative, an Beschäftigung, an Existenzengeht durch wirtschaftskriminelles Handeln verloren. Esist notwendig, dieses Handeln konsequent zu unterbindenund den Betroffenen unbürokratisch zu helfen, wie es derAntrag der PDS vorschlägt.
Im Osten gehen die Uhren etwas anders als im Westen.Es gibt viele junge Unternehmen, die derzeit noch nichtaus eigener Kraft überleben können. Eine sich selbst tra-gende Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft wird nurdurch mehr Forschung und Entwicklung in den Unter-nehmen möglich sein. Gerade hier sehe ich keine Kon-zepte der Bundesregierung.
Ich plädiere deshalb erstens für ein Innovationskon-zept der Bundesregierung, das diesen Namen verdientund auf das der ostdeutsche Mittelstand dringend wartet.Innovationspolitik muss ebenso über die Förderung vonForschung und Entwicklung hinausgehen wie über Res-sortgrenzen.
Der ostdeutsche Mittelstand wartet nicht auf Konzepteeinzelner Ministerien, sondern auf ein schlüssiges Ge-samtkonzept der Bundesregierung.Lassen Sie uns Kompetenzzentren schaffen. Wir habendie Chance, in den neuen Ländern europäische Kompe-tenzzentren zu schaffen. Die Bedingungen in den neuenLändern sind so ideal wie zu den Gründerzeiten. Ideen,Liegenschaften und vor allem begeisterungsfähige Men-schen warten darauf, sich einbringen zu können.
– Das ist die Frage, ob da die falsche Regierung ist. Wirhaben in Mecklenburg-Vorpommern Erfahrungen, diesich sehen lassen können. Ich habe darüber gesprochen,wie in Mecklenburg-Vorpommern Existenzgründungenrealisiert werden.
Ich schlage zweitens ein Aktionsbündnis Ost für Ar-beit, Aufträge und Ansiedlungen von Unternehmen vor.
Der Hallenser Wirtschaftssenator Rüdiger Pohl hat Recht:Ostdeutschland braucht keine weitere Kleinstaaterei, son-dern gemeinsames Handeln. So unterschiedlich Sachsenund Brandenburger sein mögen, so ähnlich sind doch dieProbleme auf dem Arbeitsmarkt im Vergleich zu Bayern.Das Bündnis könnte ostdeutsche Interessen bündeln. Ichstelle mir, wohlgemerkt, eine konzertierte Aktion der ost-deutschen Länder vor, kein Kaffeekränzchen.
Dieses Aktionsbündnis könnte sich auf die Förderungvon regionalen Wertschöpfungsketten verständigen, denAufbau regionaler Netzwerke für die regionale Versor-gung organisieren, auf Markterschließungsstrategien fürdie mittel- und osteuropäischen Staaten eingehen und da-bei gemeinsame Kontaktbüros der neuen Bundesländer inden mittel- und osteuropäischen Staaten organisieren.Und warum sollen Hermesbürgschaften nicht auch fürMittelständler und kleine Unternehmen in den neuen Län-dern vergeben werden?
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Minister Helmut Holter
15399
Drittens erlaube ich mir einen Vorschlag vor dem Hin-tergrund, dass der Arbeitsmarkt in Ost und West dra-matisch auseinander driftet. Wenn jetzt nicht die Weichenanders gestellt werden, dann droht ein Abriss Ost. Werkann, zieht schon jetzt der Arbeit hinterher, in den Westenoder in den Süden. Im Nordosten ist jeder Fünfte ohneJob. Wir brauchen eine Verschränkung, eine Verzahnungvon Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, meinetwegenvon Struktur-, Mittelstands- und Beschäftigungspolitik.
Wir brauchen auf die Probleme des Ostens zugeschnit-tene arbeitsmarktpolitische Instrumentarien. Dazu gehörtauch der Übergang von der Personen- zur Projekt-förderung.
Dazu gehören die Vereinfachung und die Überschaubar-keit der Instrumente. Dazu gehört das Ende der Förderungmit der Gießkanne ebenso wie das Ende der Kürzung vonArbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit der Heckenschere.
Ich bin der Überzeugung, dass sich Förderpolitikzukünftig daran messen lassen muss, ob und wie sie sicham regionalen Bedarf ausrichtet. Hier meine ich nicht diegroßen Regionen, sondern die kleinen Regionen. Denn esgibt in Sachsen Unterschiede zwischen dem Raum Dres-den und der Lausitz und es gibt in meinem Land Unter-schiede zwischen Westmecklenburg und Vorpommern.Was sagen Sie einer 50-jährigen Mecklenburger Bäue-rin, die sicherlich nicht mehr so bildungsfähig ist, dass siein einem biotechnologischen Hightechunternehmen un-terkommen könnte. Sie wird sich auch nicht zur Soft-wareentwicklerin umschulen lassen können. Aber eineswill sie und kann sie: Sie kann und sie will arbeiten. ImNordosten waren im vergangenen Monat 184 000 Men-schen arbeitslos gemeldet. Aber es gab eben nur 7 400 of-fene Stellen. Ich meine, es bedarf einer Strategie, um ge-ring Qualifizierte wieder in Lohn und Brot zu bringen,anstatt ihnen mit Leistungsentzug zu drohen.
Es geht mir nicht um Beschäftigungstherapie; es gehtum Wertschöpfung. Es geht darum, Arbeit zu finanzierenund nicht Arbeitslosigkeit.
Es geht vielen ostdeutschen Frauen und Männern darum,sich durch Sinn stiftende Arbeit bestätigt zu fühlen. Esgeht ihnen darum, ihren Beitrag zur Einheit zu leisten.Meine Damen und Herren, ich will es bei diesen Vor-schlägen im Kontext der Mittelstandspolitik Ost bewen-den lassen. Die PDS, namentlich die Vorsitzende GabiZimmer und auch der Vorsitzende der Fraktion hier imBundestag, Roland Claus, hat weitere Vorschläge auf denTisch gelegt. Beschränkt habe ich mich auf jene Vor-schläge, die gegenüber anderen einen deutlichen Vorzughaben. Es geht um die Bündelung der Kräfte. Nach mei-ner Einschätzung wird die Modernisierung der Wirt-schaftsförderung in der Bundesrepublik ihre General-probe im Osten haben.
Nun noch ein Wort zur Schaffung von Arbeitsplätzen,dem A und O. Ich habe mir das dänische Jobwunder vorOrt angeschaut. Es beruht auf dem Bündnis von Politi-kern, Unternehmern und Gewerkschaftern. Bricht eineder drei Säulen weg, geht also der Konsens verloren, istdas Unternehmen am Ende. Auch daher mein Plädoyer fürBündnisse.Zum Schluss sei mir noch ein kleiner Fingerzeig ge-stattet. Ich habe jetzt fast zehn Minuten gesprochen, aberkeine einzige Sekunde über mehr Geld für Ostdeutsch-land. Dafür bitte ich Sie um Nachsicht.Herzlichen Dank.
Ich erteiledas Wort dem Bundesminister für Wirtschaft und Techno-logie, Werner Müller.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Lassen Sie mich zunächst einmal zu dem einen oderanderen Debattenbeitrag sagen: Lautstärke ersetzt keineArgumente.
Wenn man, Herr Brüderle, Ihre Rede bemerkenswert fin-den soll, dann insbesondere unter dem Aspekt, dass dieMikrofone dieses Saales auch solches bewältigen.
Nun zur Sache. Wenn man in diesem Land Mittelstands-politik betreiben will – und wir wollen das aktiv machen,seitdem wir die Regierung übernommen haben –,
dann muss man wissen, dass die Mittelstandspolitik in dieGrundzüge der Wirtschafts- und Finanzpolitik eingebettetist. Was die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieses Lan-des anbelangt, waren Ende 1998 grundsätzliche Korrek-turen in vielen Bereichen notwendig.
Diese Korrekturen zu machen ist Voraussetzung dafür,wieder Mittelstandspolitik betreiben zu können. Ich willIhnen die Korrekturen in den Grundzügen nennen, damitSie sehen, in was die Mittelstandpolitik eingebettet ist.Zunächst einmal war es dringend notwendig, die Men-talität, dass wir zunehmend von dem Geld unserer Kinderleben können, zu beseitigen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Minister Helmut Holter
15400
Mit anderen Worten: Es musste wieder eine vernünftigeHaushaltspolitik gemacht werden mit dem Ziel, in einemüberschaubaren Zeitraum zu einem ausgeglichenen Haus-halt zu kommen.
Zweitens. Wir müssen die Staatsquote senken. Es kannnicht angehen, dass 50 Prozent der Wirtschaftsleistungeinmal durch die Hand des Staates gedreht werden. Dasist feindlich gegen jede Wirtschaftspolitik. Deswegenmuss die Staatsquote systematisch gesenkt werden.
Wir werden die Staatsquote bis 2005 auf 44 Prozent ge-senkt haben. Danach ist eine weitere Senkung möglich.Eine Reform der Sozialsysteme war unter verschiede-nen Überschriften dringend notwendig.
In Ihrer Regierungszeit hat sich eine systematische Fluchtaus den Sozialsystemen eingebürgert.
Vor diesem Hintergrund waren beispielsweise die 630-Mark-Arbeitsverhältnisse oder die so genannte Schein-selbstständigkeit zu regeln. Es war eine Rentenreformnotwendig.Ich will auch einmal daran erinnern: Hätten wir denRechtszustand, den Sie hinterlassen haben, nicht geän-dert, hätten ab 1. Januar dieses Jahres die Betriebe nichtmehr unbegründet befristet einstellen können. Insofernist an dem, was Sie im Sozialbereich hinterlassen haben,rundum eine Reform notwendig gewesen.
Es war eine Steuerreform notwendig; denn die Steuer-sätze, die wir bei Amtsantritt vorgefunden haben, warenfür unternehmerische Tätigkeit schlicht prohibitiv gewor-den.
Wir werden vor diesem Hintergrund den Eingangsteuer-satz und den Spitzensteuersatz jeweils um 11 Prozent-punkte in Schritten senken.
Wir werden – wenn ich das vielleicht freundlicher-weise noch erwähnen darf – darauf achten, dass die Steu-erreform nicht, wie Sie immer behaupten, insbesonderemittelstandsfeindlich ist,
wobei ich, Herr Michelbach, darum bitte, freundlicher-weise die 33 Prozent Differenz, die Sie erwähnten, näherzu begründen,
und zwar unter Würdigung der Tatsache, dass Kapitalge-sellschaften eine Gewerbesteuer zahlen. Dann wird esschon weniger.
Schließlich ist eine weitere Reform notwendig, die zuden allgemeinen Reformen gehört: Wir müssen unsereWirtschaft auf das digitale Zeitalter vorbereiten. Die Vor-bereitung auf das digitale Zeitalter ist eine Conditio sinequa non, weil das zur Zukunftsfähigkeit unserer Volks-wirtschaft schlechthin gehört.Das ist der allgemeine Rahmen der Wirtschafts- undFinanzpolitik, den wir begonnen haben, konsequent um-zusetzen, und in den dann die Mittelstandspolitik einge-bettet wird.Die Mittelstandspolitik besteht aus zwei Bereichen. Ichkann sagen, einerseits mache ich indirekte Mittelstands-politik und andererseits direkte Mittelstandspolitik. Ichwill Ihnen Elemente der indirekten Mittelstandspolitiknennen.Wenn wir uns auch um die Großindustrie in diesemLande kümmern – beispielsweise indem wir die Luftfahrt-industrie fördern, uns um die deutschen Werften oderauch um den Bergbau kümmern –, dann bedeutet das im-mer gleichzeitig, dass wir einer breiten Palette von mit-telständischen Zulieferern die Zukunft sichern. Infolge-dessen kann man nicht – wie das vorhin so anklang –sagen, ihr macht nur Politik für die großen Bosse, sonderndie Politik für die industriellen Komplexe ist immer aucheine indirekte Mittelstandspolitik.
Man kann es leider an der Entwicklung der Wirtschaftin Ostdeutschland verfolgen. In Ostdeutschland fehlennoch einige industrielle Komplexe,
die dort in die Landschaft hineingesetzt werden müssen undum die sich dann ein aktiver Mittelstand gruppieren kann.Eine andere Form indirekter Mittelstandspolitik sindbeispielsweise viele Aspekte der Energiepolitik dieserBundesregierung. Allein über das Energieeinspeisegesetzim Allgemeinen
und insbesondere beispielsweise über die Förderung derNutzung der Sonnenenergie ist eine ganze Palette neuerTätigkeiten im Handwerk geschaffen worden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Bundesminister Dr. Werner Müller15401
Das Handwerk weiß, welche zusätzlichen Beschäfti-gungsverhältnisse und Arbeitsplätze es beispielsweisedurch die neue Energieeinsparverordnung schaffen kann.Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Washeißt eigentlich heute direkte Mittelstandspolitik? Di-rekte Mittelstandspolitik umfasst folgende Schwer-punkte: Sicherung der Finanzierung, Technologietransfer,Exportorientierung. Hinzu kommen einzelne Sonder-punkte. Ich will die drei wichtigsten Dinge nennen.
Die Sicherung der Finanzierung des Mittelstandes isteine der zentralen Herausforderungen insbesondere unterdem Aspekt, dass der Bankensektor in sich ja auch nachmarktwirtschaftlichen Kriterien arbeitet. Es darf nicht sokommen, dass der Mittelstand, insbesondere der kleineMittelstand, nicht mehr in der Lage ist, einen Kredit über100 000 DM zu annehmbaren Zinskosten zu bekommen.Wir haben Vorsorge getroffen. Ich darf heute dem Mittel-stand, insbesondere dem kleinen Mittelstand, versichern,dass seine Finanzierung zu vernünftigen Bedingungenauch in Zukunft gesichert ist.
Der nächste Punkt. Wir müssen aufpassen, dass derMittelstand nicht durch die technologische Entwicklungins Hintertreffen kommt. Das heißt, wir müssen Pro-gramme entwickeln, um dem Mittelstand den technischenFortschritt nahe zu bringen; wir müssen den Technologie-transfer zwischen den Forschungseinrichtungen und demMittelstand bewerkstelligen.
Um solche Technologietransfers zu ermöglichen, habenwir Programme aufgelegt. Dafür geben wir immerhin fast1 Milliarde DM pro Jahr aus. Dass das nicht ohne Erfolgist, sieht man daran, dass das Beteiligungsprogramm fürtechnologieorientierte Unternehmen – das hat Herr Kolbvorhin zu Recht in einem Zwischenruf bemerkt –, das es1998 schon gab,
im Jahre 2000 das vierfache Volumen des Jahres 1998hatte.
Das zeigt deutlich, dass der Technologietransfer in denMittelstand hinein funktioniert. Wir werden weiter daranarbeiten. Gerade gestern haben Frau Bulmahn und ich einentsprechendes weiteres Programm vorgelegt.Ich komme zu dem nächsten wichtigen Punkt. Wir le-ben in einer sich immer mehr globalisierenden Welt.Diese Entwicklung darf am Mittelstand nicht vorbei ge-hen. Mit anderen Worten: Der Mittelstand selber mussexportorientierter werden. Deswegen müssen wir bei-spielsweise das Instrumentarium der Hermes-Bürg-schaften so gestalten, dass es der Mittelstand für sich nut-zen kann. Da gibt es Nachholbedarf. Ferner müssen wirbei der Messeförderung darauf hinwirken, dass mittel-ständische Betriebe die Möglichkeit der Messeförderungzunehmend in Anspruch nehmen und sich auf den Aus-landsmärkten präsentieren können.Neben diesen drei wichtigen Punkten will ich Ihnen imHinblick auf die Zukunftsfähigkeit des Mittelstandes ei-nige Sonderpunkte nennen, die nicht unwichtig sind, bei-spielsweise die Frage: Wie sieht es mit der Zukunft derHandwerksordnung aus? Da darf ich Ihnen sagen: Wirhaben in voller Übereinstimmung mit dem Handwerk er-reichen können, dass die Handwerksordnung an sich nichtgeändert wird, dass aber ein vereinheitlichter Vollzug inunserem Lande möglich ist. Wir haben mit dem Hand-werk die inhaltliche Festschreibung einer flexiblen undgroßzügigen Praxis bei der Anwendung der Handwerks-ordnung erreicht.Ein anderer Sonderpunkt betrifft die Tourismusförde-rung. Ich bin sicher – ich habe ja die Zahlen gesehen, diein die Haushaltsplanung eingestellt wurden –, dass dieserWirtschaftszweig zu Ihrer Regierungszeit völlig unter-schätzt wurde. Er setzt in unserem Lande immerhin280 Milliarden DM um und hat annähernd 3 MillionenArbeitsplätze. Deswegen werden wir dort einen Schwer-punkt setzen. Auch hier sind die Erfolgszahlen durchausansehnlich: 1999 und 2000 haben die Übernachtungszah-len bei der deutschen Tourismuswirtschaft um annäherndjeweils 10 Prozent zugenommen.
Insbesondere ist die Zahl der Übernachtungen ausländi-scher Touristen in unserem Land bemerkenswert.Zum Schluss möchte ich auf die Arbeitsmarktbilanz zusprechen kommen. Ich darf darauf hinweisen, dass ich ei-nen gewissen Widerspruch in Ihren Aussagen sehe. Aufder einen Seite sagen Sie, diese Bundesregierung wärelängst in der Lage, die Beiträge zur Arbeitslosenversiche-rung zu senken,
und auf der anderen Seite sagen Sie: Die Arbeitslosigkeithat nicht abgenommen. – Beides passt nun tatsächlichnicht zusammen.
Deswegen will ich Ihnen noch einmal die Zahlen nen-nen. Im Februar 1998 hatte dieses Land leider 4,83 Milli-onen Arbeitslose und im Februar 2001 waren es 4,1 Mil-lionen; das sind 700 000 Arbeitslose weniger.
Wenn ich heute Verbände des Mittelstandes besuche– ich bin sehr häufig bei den Verbänden und noch öfter vorOrt, bei den Kammern –, dann kriege ich natürlich dieeine oder andere Kritik zu hören. Man muss für Ver-
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Bundesminister Dr. Werner Müller15402
ständnis werben. Denn wenn man so einen Bereich wiedie 630-Mark-Arbeitsverhältnisse neu regelt, ist daszunächst für diejenigen, die sich an die bequeme Fluchtaus den Steuer- und Sozialsystemen gewöhnt haben, einBeschwernis. Zum Schluss wird es eingesehen und ganzzum Schluss muss man nur die simple Frage stellen: Wolltihr die Zustände vom Herbst 1998 oder ist es heute bes-ser? – Diese Frage wird eindeutig beantwortet. Eswünscht sich niemand im deutschen Mittelstand die Zu-stände von Ende 1998 zurück.Vielen Dank.
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht nun der Kollege Gunnar
Uldall.
Herr Präsident! MeineDamen! Meine Herren! Ach, Herr Minister, wenn die Mit-telstandswelt doch so schön wäre, wie Sie sie soeben ge-zeichnet haben! Die Frau Staatssekretärin und Sie nennenProgramme, Statistiken und Pläne; aber die realen Aus-wirkungen Ihrer Politik auf den Mittelstand sehen ganzanders aus.
Ich will drei Punkte nennen:Das Wichtigste ist sicherlich die Steuerreform mitihren Vorteilen für die Großunternehmen und ihrer Be-nachteiligung der kleinen Unternehmen. Das ist prakti-sche Politik gegen den Mittelstand!
Als zweiten Punkt möchte ich das Betriebsverfas-sungsgesetz mit seinen zusätzlichen Kosten für mittel-große Unternehmen nennen. Das ist praktische Politik ge-gen den Mittelstand, Herr Minister!
Als Drittes möchte ich das Teilzeitarbeitsgesetz nen-nen, das durch seine Behinderung des Personaleinsatzesvor allen Dingen mittelständische Betriebe trifft. Das istpraktische Politik gegen den Mittelstand, Herr Minister!
Insofern kann ich nur sagen: Es wäre schön, wenn dieWelt so heil wäre, wie Sie sie beschrieben haben. Aber lei-der ist sie nicht so.Ich will auf eine der Ursachen hinweisen: auf das Feh-len einer ordnungspolitischen Ausrichtung der Bundesre-gierung. Allein in den letzten drei Jahren – frühere Jahremöchte ich jetzt gar nicht berücksichtigen – hat Schröderseine wirtschaftspolitische Orientierungslinie viermalgeändert. Vor der Wahl warb er mit marktwirtschaftlichenThesen um die so genannte Neue Mitte. Nach der Wahlwurde statt mehr Markt mehr Regulierung realisiert. Ichnenne nur die Stichworte 630-Mark-Gesetz und Schein-selbstständigengesetz.Dann erfolgte eine dritte Wendung: Nachdem Lafontainezurückgetreten war, wurde Neues in Bezug auf dieMarktwirtschaft versucht. Ich erinnere nur an dasSchröder/Blair-Papier. Im letzten halben Jahr kam es zueiner vierten Wendung in der Wirtschaftspolitik der Re-gierung Schröder. Sie ist nun gegen den Markt ausgerich-tet. Ich nenne ein paar Stichwörter: Betriebsverfassungs-gesetz, Verlängerung des Postmonopols, Einschränkungbefristeter Beschäftigungsverhältnisse sowie Anspruchdes Arbeitnehmers, seine persönliche Arbeitszeit selberfestzulegen; das wird dann Teilzeitarbeitsgesetz genannt.
Das alles zeigt, dass in der Wirtschaftspolitik der Regie-rung keine klare ordnungspolitische Linie zu erkennen ist.Das wirkt sich negativ auf die Marktentwicklung aus.
Wenn ein Unternehmen investieren will, dann brauchtes eine verlässliche und dauerhafte Wirtschaftspolitik.Wenn es keine Verlässlichkeit gibt, dann wird es keine In-vestitionen eines mittelständischen Unternehmers geben,der persönlich mit seinem Vermögen haftet. Bei einergroßen Aktiengesellschaft mag es so sein, dass die Inves-titionssummen höher sind als die in einem mittelständi-schen Betrieb. Aber da ist es meist nicht so, dass derje-nige, der die Entscheidung trifft, auch mit seinempersönlichen Vermögen haftet. Das ist das Besondere desmittelständischen Betriebes.Deswegen ist es gerade für den Mittelstand, der derMotor für die Schaffung neuer Beschäftigung ist, wichtig,dass in der Wirtschaftspolitik ein dauerhafter und zuver-lässiger ordnungspolitischer Rahmen besteht. Den ha-ben wir nicht, Herr Minister. Wir müssen uns daher nichtwundern, dass jetzt die Konjunktur anfängt zu kränkeln.
Wir haben feststellen müssen, dass sich in Deutschlandzuerst das Geschäftsklima verschlechterte. Dann ver-schlechterte sich die Prognose und jetzt verschlechternsich die tatsächlichen Wachstumsraten, Herr Minister.Diese Situation ist nun da und zeichnet sich nicht mehr ir-gendwo am Horizont ab.Was sind denn die Ursachen dafür? Die erste Ursacheist die große Enttäuschung über das richtige Wirken derSteuerreform, die sich jetzt in den Betriebsleitungen, aberauch bei den Mitarbeitern in den Betrieben immer mehrausbreitet. Die Menschen sind enttäuscht über das, wasihnen als die größte Steuerreform aller Zeiten verkauftworden ist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Bundesminister Dr. Werner Müller15403
Es bleibt deswegen in Deutschland auch der Konsum-schub aus, den wir dringend brauchen.
Die zweite Ursache sind die politisch gewollte Ver-teuerung des Spritpreises durch die Ökosteuer und die ho-hen Nachzahlungen der privaten Haushalte für die Hei-zung.
Herr Uldall,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Vielleicht darf ich eben
noch diesen Satz zu Ende bringen, Herr Präsident.
Die Modellrechnungen, die wir angestellt haben, zei-
gen, dass im Durchschnitt pro Quadratmeter 1 DM mehr
an Heizkosten zu zahlen ist. Wenn man also eine 60 oder
70 qm große Wohnung unterstellt, sind es 700 bis
800 DM, die auf den Durchschnittshaushalt in Deutsch-
land zukommen. Da frage ich nur: Wer soll das denn ei-
gentlich bezahlen, meine Damen und Herren?
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Oswald Metzger?
Gerne.
Kollege Uldall, Sie sind anscheinend nicht in der Realität
angekommen, obwohl Sie das eben dem Wirtschaftsmi-
nister und seiner Staatssekretärin unterstellt haben.
Ich stelle die Frage. Warum schreibt denn bitte heute
das „Handelsblatt“ auf Seite 1: „Einzelhandel erwartet
Impulse durch die Steuerentlastungen.“ Es bezieht sich
auf eine Prognose vom Januar, wo die Wachstumsraten im
Einzelhandel das erste Mal wieder real über 2 Prozent ge-
stiegen sind.
Die zweite Frage: Blenden Sie das weltwirtschaftliche
Umfeld aus? Sie haben doch als wirtschaftspolitischer
Sprecher Ihrer Fraktion in Ihrer Regierungszeit selber er-
lebt, dass Deutschland, obwohl die USA fast acht oder
neun Jahre lang Konjunkturlokomotive auch in Ihrer Re-
gierungszeit waren, am unteren Ende der europäischen
Wirtschaftsentwicklung platziert war, während unsere
Regierung im letzten Jahr das größte Wachstum innerhalb
der letzten zehn Jahre zu verzeichnen hatte und heute die
Prognosen auch der internationalen Agenturen eher dahin
gehen, dass sich Europa mit Deutschland als größter
Volkswirtschaft von der Entwicklung in Japan und den
USA zwar nicht komplett abkoppelt, aber das weltwirt-
schaftliche Wachstum eher anhebt als drückt.
Herr Metzger, ich
schätze Sie sehr. Deswegen darf ich mich für diese beiden
Fragen herzlich bedanken.
Die erste Frage war: Wie kommt es, dass die Umsätze
im Einzelhandel steigen? – In die Umsätze des Einzel-
handels werden natürlich auch die Umsätze an den Tank-
stellen eingerechnet. Wenn Sie die Ökosteuer oben drauf-
setzen, dann gibt es natürlich höhere Umsätze.
Deswegen müssen Sie einfach erkennen, dass ein großer
Teil dieser Umsatzzuwächse leider aufgeblasen ist.
Dem füge ich noch folgende Zahl hinzu, Herr Metzger:
Wir haben aktuell eine Preissteigerung von 2,6 Prozent.
Der private Haushalt muss also heute 2,6 Prozent mehr für
seinen Lebensunterhalt aufwenden als vor einem Jahr.
Das zeigt eben, dass es zu einer Aufblähung des Preisni-
veaus gekommen ist. Dann muss der Umsatz in den Ein-
zelhandelsbetrieben um diese 2,6 Prozent gestiegen sein.
– Sie dürfen gleich noch eine Zwischenfrage stellen. Ich
möchte nur erst Ihre zweite Frage nach Deutschland im
internationalen Vergleich beantworten.
Herr Kollege Metzger, sehen wir uns einmal die Ent-
wicklung an. Früher war Deutschland, wie Sie es ja auch
in Ihrer Frage richtig sagten, im europäischen Kontext im-
mer eines der Länder mit den höchsten Wachstumsraten.
Wir lagen immer vorn.
Jetzt schauen Sie einmal, wie wir nun im Vergleich zu den
anderen EU-Staaten liegen. Da liegen wir ganz unten,
Herr Kollege! Dazu sage ich: Dies alles ist darauf zurück-
zuführen, dass Sie eine Wirtschaftspolitik der Beliebig-
keit betreiben, aber keine klare ordnungspolitische Aus-
richtung haben.
Herr Kol-
lege Metzger.
Herr Kollege Uldall, auch ich schätze normalerweise IhreArgumentation;
aber jetzt sind Sie ausgewichen.Ich frage Sie: Nehmen Sie nicht zur Kenntnis, dass derArtikel heute im „Handelsblatt“ über den Einzelhandel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Gunnar Uldall15404
von realen Preissteigerungen spricht, also von solchennach Abzug der Inflationsrate, sodass der Einzelhandelvon realen Umsatzsteigerungen von über 2 Prozent aus-geht, und dass die Umsatzanstiege im letzten Jahr ohneTankstellen, ohne Kfzs, ohne Mineralölsteuer gerechnetwaren? Insofern ist Ihre Antwort nicht richtig.Zum Zweiten: Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dasssich in der Regierungszeit von Rot-Grün in Berlin und amAnfang in Bonn die Wachstumsraten in der Bundesrepu-blik Deutschland – mit Italien gemeinsam – innerhalb derEU vom unteren Ende in das obere Mittelfeld bewegt ha-ben und dass wir im letzten Jahr mit 3 Prozent im Rankinginnerhalb der EU deutlich höher lagen als zu Ihrer Regie-rungszeit.
Herr Kollege Metzger,
vielleicht können wir uns einmal auf Folgendes einigen:
Es ist richtig, dass der Einzelhandel die Erwartung, die
– ich sage – Hoffnung hat, dass es zu einer Nachfra-
gesteigerung kommt.
Setzen wir uns dann einmal am Jahresende zusammen,
Herr Kollege, und dann werden wir beide sehr schnell
feststellen, wie die realen Zahlen geworden sind. Ich hoffe
ja sehr, dass wir einen ordentlichen Zuwachs haben wer-
den, und gerade weil ich das hoffe, engagiere ich mich ja
jetzt auch hier, um der Regierung nahe zu legen, zu einer
besseren Wirtschaftspolitik zu kommen, Herr Metzger.
Meine Damen und Herren, wir haben die Rede
eines Landesministers aus Mecklenburg-Vorpommern
gehört.
Dies ist ja eine Debatte, in der der Mittelstand motiviert
werden soll. Deswegen, so meine ich, wäre es eigentlich
besser gewesen, hier nicht einen Minister aus einem Land
sprechen zu lassen, in dem die Entwicklung stagniert,
sondern einen Minister aus einem Land zu nehmen, in
dem die Wachstumsraten kräftig nach oben gehen.
Nun möchte ich nur sagen – Herr Holter hat ja, wenn
ich es richtig sehe, hier das zweite Mal gesprochen –: Herr
Holter, vor Ihrer Regierung – ich formuliere es einmal po-
sitiv – liegt noch eine große Aufgabe. Ihr Land ist zwar
nicht das letzte in der Statistik der Wachstumsraten der
deutschen Länder; das ist Sachsen-Anhalt und da brau-
chen wir gar nicht zu fragen, wer da regiert.
Aber Mecklenburg-Vorpommern hat nur 0,9 und Sach-
sen-Anhalt lediglich 0,8 Prozent Wachstum.
Nun greife ich einmal ein anderes Land heraus: Baden-
Württemberg.
Das hat ein Wachstum von 4,2 Prozent!
Damit liegt das Wachstum in Baden-Württemberg um ein
Drittel höher als das durchschnittliche Wachstum in allen
deutschen Ländern, und es ist rund fünfmal so hoch wie
das Wachstum in Mecklenburg-Vorpommern. Aber das
wollen wir jetzt gar nicht vergleichen.
Dann gibt es in Bezug auf Baden-Württemberg noch
ein anderes interessantes Thema:
Baden-Württemberg ist das Land mit der niedrigsten Ar-
beitslosenquote.
Gerhard Schröder hatte kürzlich gesagt, 3 Millionen Ar-
beitslose seien sein Ziel; das wolle er jetzt bald erreicht
haben. Dann musste er sich sehr schnell mit seinen Ver-
sprechungen korrigieren, weil er diese nicht halten kann.
Gerhard Schröder braucht aber nur nach Baden-Württem-
berg zu gucken. Wenn ich die Zahlen Baden-Württem-
bergs auf das ganze Bundesgebiet hochrechne, dann ist
dieses Ziel, das Gerhard Schröder inzwischen als nicht er-
reichbar bezeichnet hat, in Baden-Württemberg längst er-
reicht worden, es ist sogar weit übertroffen worden.
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Gern.
Herr Kollege Uldall, Sie habeneben zu Recht festgestellt, dass Baden-Württemberg diebeste Arbeitsmarktsituation in der Bundesrepublik hat; sieist noch besser als in Bayern. Stimmen Sie mir zu, dass inBaden-Württemberg Dr. Walter Döring der Wirtschafts-minister ist, den die F.D.P. stellt?
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Oswald Metzger15405
Herr Niebel, das ist rich-
tig; das lässt sich ja gar nicht bestreiten. Aber es ist der Zu-
sammenhang zu sehen zwischen Ministerpräsident
Teufel, der das hervorragend macht, dem Finanzminister
Stratthaus und der ganzen Stimmung in Baden-Württem-
berg. Die ist optimistisch ausgerichtet und deshalb bin ich
auch absolut sicher, dass diese Koalition am übernächsten
Sonntag bestätigt werden wird, Herr Niebel.
Nun möchte ich aber noch eines sagen: Es gibt auch ei-
nen Statistikfaktor, bei dem Baden-Württemberg ganz am
Ende liegt. Wir wollen hier ja ehrlich miteinander reden.
Es gibt also auch Punkte, bei denen Baden-Württemberg
den letzten Platz einnimmt. Das ist die Insolvenzrate. Ich
bin sicher, dass es dabei in Baden-Württemberg auch blei-
ben wird.
Wenn Baden-Württemberg ein eigenes Land innerhalb
der EU wäre,
dann wäre es im wirtschaftlichen Ranking der europä-
ischen Länder ganz oben, in der Top-Gruppe, angesiedelt.
Sowohl beim Wachstum wie auch auf dem Arbeits-
markt ist das Ländle eben Spitze. Die Gründe dafür sind
schnell herauszufinden. Es wird eine verlässliche, lang-
fristig angelegte Wirtschaftspolitik betrieben und der Mit-
telstand spielt in dieser Wirtschaftspolitik eine größere
Rolle als anderswo. Das beides sind die Schlüssel zum Er-
folg in der Wirtschaftspolitik.
Ich lege der Regierung Schröder, ich lege Ihnen, Herr
Minister, nahe, sich am Vorbild des Landes Baden-Würt-
temberg zu orientieren. Dann wird es auch in Gesamt-
deutschland nach oben gehen.
Vielen Dank.
Für die Frak-
tion der F.D.P. spricht der Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich wende mich zunächst anden Bundeswirtschaftsminister, Herrn Müller. HerrMüller, Sie haben die Lautstärke kritisiert, mit der meinKollege Rainer Brüderle hier vorgetragen hat.
Ich kann nur sagen: Lautstärke zeugt von Leidenschaft.Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über.
Im Gegensatz dazu war Ihre – ich kann es nicht andersausdrücken – absolut leidenschaftslose Vorlesung überWirtschaftspolitik ein weiterer Beweis für Ihre ebenso lei-denschaftslose Parteinahme für den Mittelstand in wich-tigen Fragen der Wirtschaftspolitik.
Ich habe mich natürlich auch gefragt, welche Botschaftdie Mittelstandsbeauftragte der Bundesregierungheute an den Mittelstand aussenden wollte.
Diese sollte wohl lauten: alles im grünen Bereich. Aberdas kann allenfalls parteipolitisch gemeint gewesen sein.Tatsächlich, Frau Wolf, verschlechtert sich die Stimmungim Mittelstand nach zwei Jahren Rot-Grün dramatisch.Dafür gibt es auch Gründe: Nicht nur, dass die Bau-wirtschaft völlig daniederliegt – auch der Eigenheimbaubricht jetzt ein –, nicht nur, dass die halbherzige Steuerre-form, die Sie auf den Weg gebracht haben, nicht auf denKonsum durchschlägt.Nein, Sie haben mit Ihrer Verände-rung der AfA-Tabellen auch noch die Investitionsnei-gung verschlechtert. Auch der Export wird schwieriger.Es ist nur eine Frage der Zeit, liebe Kolleginnen und Kol-legen von Rot-Grün, bis Ihnen das alles um die Ohrenfliegt.
Es ist sehr deutlich: Der Mittelstand in Deutschland hatvon diesem Bundesminister für Wirtschaft und dieserMittelstandsbeauftragten nichts zu erwarten. Er hat auchaus dem Bundeskanzleramt nichts zu erwarten. Dort gibtes eine Chefsache Holzmann; aber eine Chefsache Mit-telstand gibt es ebenso wenig, wie es eine Chefsache Auf-bau Ost gibt. Das halte ich für den eigentlichen Skandal.
Ich bekomme Zuschriften, in denen steht: „Das Maß istvoll“, und das, Herr Minister, auch von MitgliedernIhres Mittelstandsbeirates. Das heißt, es genügt nicht, dieBedeutung des Mittelstandes zu beschreiben und zubeschwören. Es kommt darauf an, welche Politik manmacht.Ich will Ihnen dazu zwei Beispiele nennen. Das ersteBeispiel betrifft den Bürokratieabbau. Von den 60 Milli-arden DM, die Rainer Brüderle genannt hat, entfallen10 Prozent auf Aufwendungen für Statistikpflichten.Diese Bundesregierung hat eine Dienstleistungsstatistikneu eingeführt, die wir in der letzten Legislaturperiode
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noch erfolgreich verhindert haben. So sieht Ihr Beitragzum Bürokratieabbau aus.
35 Prozent der Bürokratiekosten entfallen auf Aufwen-dungen, die die Unternehmen für den Vollzug der Sozial-systeme erbringen müssen. Sie haben mit Ihrem 630-Mark-Gesetz in Deutschland Bürokratie pur eingeführt.Wer das System der Freistellungen, die jährlich erneuertwerden müssen, kennt, wer weiß, dass dies permanentverfolgt werden muss, wenn man die Grenzen nicht über-schreiten will, der hat eine Ahnung davon, welcher Büro-kratieaufwand hierdurch tatsächlich auf die Unternehmenzukommt.
Das zweite Beispiel: Frau Kollegin Wolf, Sie haben aufdie Frage nach der Spielbank, die der KollegeDautzenberg gestellt hat, überhaupt nicht geantwortet.Anscheinend haben Sie die Frage nicht ernst genommen.Ich nehme die Frage sehr ernst, weil sie die Risikokulturund die Risikobereitschaft in unserem Lande betrifft. HerrMüller, einer Ihrer Vorgänger im Amt des Wirtschaftsmi-nisters hat gesagt: 50 Prozent der Wirtschaft sind Psycho-logie. Da frage ich: Wer soll nach dieser Äußerung desBundeswirtschaftsministers noch bereit sein, am NeuenMarkt zu investieren? Er müsste ja verrückt sein, wennIhre Aussage richtig wäre.
Herr Minister Müller, die richtige Antwort wäre gewe-sen: Okay, der Neue Markt birgt Risiken, aber auch hoheChancen. Setzen Sie nicht 100 Prozent Ihres Kapitals imneuen Markt ein, sondern nur 5 Prozent, und versuchenSie, diese Chancen auszuschöpfen. Das wäre ein Beitragzur Verbesserung der Risikokapitalkultur in Deutschlandgewesen. Nur über Eigenkapitalschwäche zu redengenügt nicht. Man muss auch wirklich bereit sein, hierentsprechende Unterstützungsarbeit zu leisten.
Im Gegensatz zur Mittelstandsbeauftragten der Bun-desregierung habe ich nicht 20, sondern nur 4 MinutenRedezeit. Ich möchte aber noch etwas zum Betriebsver-fassungsgesetz sagen,
und zwar auch deswegen, Herr Müller, weil das derzeitdie Frage ist, die die Unternehmen in Deutschland ammeisten bewegt.
Sie – das sage ich insbesondere an die Adresse der ro-ten Fraktion in diesem Hause – haben immer noch dasBild vom Unternehmen mit dem Gewerkschaftsbüro ne-ben der Betriebsratskantine vor Augen. Aber 99 Prozentder Unternehmen in Deutschland gehören zum Mittel-stand und 95 Prozent davon haben weniger als 20 Be-schäftigte. Diese Unternehmen, in denen es auch ohne Be-triebsrat gute Systeme praktizierter Mitbestimmung gibt,mit brachialer Gewalt in die Mitbestimmung zu zwingen,weil man eine Dankesschuld an den DGB erfüllen will,halte ich für fatal. Das werden wir in diesem Haus auch inZukunft noch diskutieren.Seien Sie sicher: Der Mittelstand hat eine Lobby in die-sem Lande. Das ist aber nicht Rot-Grün, sondern dieF.D.P. Ich meine die F.D.P.-Fraktion in diesem Hause.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe der
Kollegin Jelena Hoffmann für die Fraktion der SPD das
Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir im Bundestagin bestimmten Abständen über die Rolle des Mittelstandesin Deutschland diskutieren, unterstreicht die Bedeutungkleiner und mittlerer Unternehmen und des Handwerks.Es sind auch heute wieder viele Zahlen über den Mit-telstand genannt worden. Man kann nicht oft genug wie-derholen, dass fast drei Viertel aller Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer im Mittelstand tätig sind. In kleinenund mittelständischen Unternehmen werden die meistenJugendlichen ausgebildet: fast 80 Prozent.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,in der Frage der Bedeutung des Mittelstandes sind wir unseinig; darüber brauchen wir nicht zu streiten. Streiten wer-den wir uns aber darüber, wie man die Mittelstandspolitikam besten gestaltet. Es ist mir klar, dass die Erwartungendes Mittelstandes an unsere Politik sehr hoch sind. Dochman kann nicht alles, was sich in mehreren Jahren ange-staut hat, in zwei Jahren auflösen.
– Sie haben dies in 16 Jahren nicht lösen können.
Wir nehmen uns dieser Probleme an, Herr Kollege. Wirsind auf gutem Wege, sie zu lösen.Das zentrale Problem des Mittelstandes, das ich des-halb an erster Stelle ansprechen möchte, ist sicherlich dieFrage der Finanzierung. Dazu gehört auch die Förderungvon kleinen und mittleren Unternehmen und vonExistenzgründern. Hier ist es wichtig, das weiterzuführen,was sich schon bewährt hat, zum Beispiel das ERP-Ei-genkapitalhilfeprogramm und das ERP-Existenzgrün-dungsprogramm.Es ist aber auch wichtig, neue Akzente zu setzen.Als ein Beispiel dafür kann ich das 1999 eingerichteteDtA-Startgeldprogramm nennen, das speziell für kleineExistenzgründer aufgelegt worden ist. Bereits 1999wurden 46 Millionen DM aus diesem Programm aus-gezahlt. Mit dem FUTOUR-Programm und Geldern aus
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Dr. Heinrich L. Kolb15407
der Forschungsmilliarde werden technologieorientierteUnternehmensgründungen – das ist wichtig – speziell inden neuen Ländern gefördert und unterstützt. Gerade inOstdeutschland ist die Förderung von Existenzgründernbesonders notwendig, um Arbeitsplätze zu schaffen.Hauptförderinstrument der Bundesanstalt für Arbeit istdas Überbrückungsgeld. Bis Anfang des Jahres sind imOsten 200 000 Existenzgründer mit 2,2 Milliarden DMgefördert worden. Noch eine wichtige Aufgabe für dieBundesregierung ist es, dafür Sorge zu tragen, dass dieKreditversorgung für kleine und mittlere Unternehmen fi-nanzierbar bleibt. Auch unter Beachtung der Baseler Ent-scheidungen sollen Handwerker und Mittelständler Kre-dite zu angemessenen Konditionen erhalten.
Sehr wichtig in unserer Politik ist die Unterstützungund Förderung der Innovationsfähigkeit der Unterneh-men. Forschung und Innovation werden durch Zuschüsse,Kredite und Beteiligungskapital gefördert. Im Haus-halt 2001 haben wir die Mittel für Forschung und Ent-wicklung gegenüber 2000 um rund 80 Millionen DM auf930Millionen DM erhöht. Mit den Programmen Pro-Innound Inno-Net werden neue Möglichkeiten für For-schungskooperationen und Vernetzungen geschaffen.Wichtig für die neuen Länder ist in diesem Zusammen-hang die Initiative Inno-Regio. Damit wird die Zusam-menarbeit von Bildungs- und Forschungseinrichtungensowie der Wirtschaft gestärkt.
Das Sonderprogramm zur Förderung von Forschung,Entwicklung und Innovation in den neuen Bundesländernwird bis zum Jahre 2004 auf hohem Niveau fortgeführt.Ich könnte diese Liste mit Export- und Messeförde-rung, Förderung von New Economy, Tourismusförderungund vielem mehr fortführen. Das sind wichtige Teile derMittelstandspolitik unserer rot-grünen Koalition. DieRegierung betreibt eine Mittelstandspolitik, die der Be-deutung des Mittelstandes angemessen ist.Das zweite Problem, das ich neben der Finanzierungansprechen möchte, hängt mit der EU-Osterweiterungzusammen: Alle Forschungsinstitute kommen zu dem Er-gebnis, dass Deutschland einer der größten Gewinner desErweiterungsprozesses sein wird.
Wir sind uns aber darin einig, dass es Anpassungsschwie-rigkeiten und Unsicherheiten geben wird. Deshalb ist eineUnterstützung von staatlicher Seite notwendig; dies findetauch statt.Wir müssen aber auch die Sorgen von ostdeutschenUnternehmen und Handwerkern, die sie natürlich haben,wenn Sie an die Osterweiterung denken, ernst nehmen
und sie durch Aufklärung, direkte Unterstützung, aberauch durch Sonderregelungen entkräften.Das dritte Problem, das uns Unternehmer immer wie-der vortragen, ist die bürokratische Regulierung unse-rer Wirtschaft. Dieses Problems nehmen wir uns an.
– Ja, ich wollte gerade darauf eingehen, Herr Kollege. –Ich muss dazu sagen, dass die Bürokratie in unseremLande nicht in sieben Tagen und auch nicht in den letztenzwei Jahren aufgebaut wurde. Außerdem müssen wir un-terscheiden, über welche Bürokratie wir reden und welchewir abschaffen wollen. Wir müssen in erster Linie einGleichgewicht zwischen sozialstaatlicher Notwendigkeitund unternehmerischer Freiheit erreichen. Die Bundes-regierung ist in diesem Punkt auf einem guten Weg.Es gibt bestimmt noch viele Punkte, die in einer Mit-telstandsdebatte angesprochen werden müssen. Dazugehören unter anderem die Themen Zahlungsmoral, Steu-erreform, Lohnkostenentlastung sowie Aus- und Weiter-bildung. Auch wenn wir noch nicht alle Erwartungen desMittelstandes erfüllt haben, haben wir schon eine Mengegeschafft und angestoßen. Ich bin davon überzeugt, dasswir auf dem richtigen Weg sind. Wir müssen diesen Weggemeinsam mit den kleinen und mittleren Unternehmensowie dem Handwerk konsequent weiterverfolgen.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich will es gerne zu-geben: Da ich seit 35 Jahren selbstständig bin, war ichheute Morgen sehr gespannt auf die erste Rede der neuenMittelstandsbeauftragten der Bundesregierung. FrauWolf, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede gesagt, Sie seiender Meinung, der deutsche Mittelstand habe etwas ande-res verdient als die Rede von Rainer Brüderle. Nach dem,was ich von Ihnen gehört habe, bin ich der Meinung, derdeutsche Mittelstand hat eine andere Beauftragte als Sieverdient.
Sie haben zu Beginn Ihrer Rede die in „Impulse“ ver-öffentlichte Studie erwähnt, nach der im letzten Jahr inkleinen und mittleren Betrieben 339 000 neue Arbeits-plätze geschaffen wurden und in diesem Jahr etwa 660 000neue Arbeitsplätze erwartet werden, während gleichzeitigin den 100 größten Betrieben etwa 50 000 Arbeitsplätzeabgebaut wurden. Das war in Deutschland immer so: Inden 80er-Jahren wurden in den alten Bundesländern 3Mil-lionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, und zwar aus-schließlich im Mittelstand. Auch damals ging in den gro-ßen Betrieben die Zahl der Beschäftigten zurück. DieseEntwicklung setzte sich nach der Wiedervereinigung fort.Selbst in der Rezession der Jahre 1993/94 wurden in Be-trieben mit weniger als zehn Beschäftigten 700 000 neue
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Jelena Hoffmann
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Arbeitsplätze geschaffen, während in der Großindustrie1,4 Millionen Arbeitsplätze abgebaut worden sind. Dasheißt im Klartext: Wer in der Arbeitsmarktpolitik inDeutschland Erfolg haben will, muss eine Politik für undnicht gegen den Mittelstand machen.
Ich will hier nicht mit Prognosen oder Kaffeesatzlese-rei argumentieren, sondern mich an Fakten halten. DerArbeitsmarkt in Deutschland ist aus den Fugen geraten:Wir haben 5,9 Millionen Menschen, die offen oder ver-deckt arbeitslos sind. Es ist festzustellen, dass das Ar-beitsvolumen 1999/2000, gerechnet in Erwerbsstunden,nach einem Aufschwung 1997/98 zum Stillstand gekom-men ist. Herr Müller – leider ist er nicht mehr anwesend –,in den Jahren 1999 und 2000 ist die Zahl der arbeitslosenMenschen zwar – Gott sei Dank – um 391 000 zurück-gegangen. Aber im gleichen Zeitraum ist das Erwerbsper-sonenpotenzial um 436 000 Menschen zurückgegangen.Das heißt, die Erfolge auf dem Arbeitsmarkt sind aus-schließlich darauf zurückzuführen, dass mehr Arbeitneh-mer in Rente gegangen sind, als junge Menschen in dasErwerbsleben eingetreten sind.
Wer die Situation des Mittelstandes wirklich kennt, derweiß, dass überall, von Hamburg bis nach München, vonTrier bis nach Leipzig, Facharbeitskräfte benötigt werden.Trotzdem gibt es 1,5 Millionen offene Stellen. Zwar sindoffiziell nur 510 000 gemeldet. Aber um die wirklicheZahl der offenen Stellen zu ermitteln, rechnet man immerdas Dreifache. Des Weiteren stieg die Zahl der Überstun-den im letzten Jahr auf den Rekordwert von 1,9 Milliar-den. Der Umfang der Schwarzarbeit ist im letzten Jahr,und zwar nicht nach meinen, sondern nach den Berech-nungen des Statistischen Bundesamtes, um 9 Prozent ge-wachsen. Das ist dreimal mehr als das offizielle Wirt-schaftswachstum. Das Volumen des Umsatzes durchSchwarzarbeit – Hansjürgen Doss hat die Zahl schon ge-nannt – lag bei geschätzten 658 Milliarden DM.Ich möchte eines ganz klar sagen: Die Zählweise beider Arbeitslosen- und Beschäftigungsstatistik ist in denletzten zwei Jahren umgestellt worden: Die im Rahmenvon 630-Mark-Arbeitsverhältnissen Beschäftigten unddie Kurzteilzeitbeschäftigten werden jetzt zu den Be-schäftigten hinzugerechnet und die über 58-jährigen Ar-beitslosen werden nicht mehr zu den Arbeitslosen hinzu-gezählt. Aufgrund dieser Umstellung konnten Sie zweiJahre im Trüben fischen und die Arbeitsmarktzahlenschönreden.
Die jetzt vorliegenden amtlichen Zahlen zeigen ganz klar:Ihre gegen den Mittelstand gerichtete Steuer- und Ar-beitsmarktpolitik ist gescheitert.
Ich möchte jetzt eine Feststellung aus dem Gutachtender Sachverständigen zitieren, die von Ihrer Regierungbeauftragt worden sind:Ein innovativer Schritt nach vorne wird nicht getan,hier wird rück-reguliert.Weiter heißt es:Die desolate Lage des Arbeitsmarktes verlangt einoffensiveres Vorgehen und eine konsistente Konzep-tion.Davon kann keine Rede sein, im Gegenteil: Sie habennichts ausgelassen, was den Arbeitsmarkt neu reguliertund den Mittelstand quält. Die Neuregelung der 630-Mark-Jobs – darauf wurde heute schon vielfach hinge-wiesen – ist bis heute ein Riesenproblem für den Mittel-stand, weil dem Arbeitsmarkt dadurch ein StückFlexibilität abhanden gekommen ist. Aber die Neurege-lung ist auch ein Problem für die Arbeitnehmer. Diejeni-gen, die früher einen Zweitjob hatten, weil sie sich etwasBesonderes anschaffen wollten, müssen heute die630 DM zum Lohn, den sie in ihrem Hauptberuf bekom-men, hinzurechnen. Während früher 630 DM brutto fürnetto waren, bleiben heute nur noch 350 DM übrig. Viele,die die 630 DM als Zusatzeinnahme eingeplant hatten, ha-ben heute Probleme, ihren Neubau oder ihren Wohnungs-kauf zu finanzieren, weil ihnen das Geld aus dem 630-Mark-Arbeitsverhältnis nicht mehr zur Verfügung steht.
Sie haben die Reform, die wir zum Zwecke der De-regulierung durchgeführt haben, zurückgenommen. Ichnehme nur die Verschärfung des Kündigungsschutz-rechtes als Beispiel. Davon sind 680 000 Betriebe inDeutschland betroffen, die zwischen fünf und zehn Be-schäftigte haben. Wenn man vom Mittelstand nicht wieein Blinder von der Farbe reden möchte, dann muss manwissen, wie es in diesen Betrieben aussieht. Ich be-schreibe Ihnen das einmal kurz: Wenn ein Handwerks-meister sechs Leute beschäftigt und einen siebten Be-schäftigten einstellen möchte, weil er genug Aufträge hat,dann möchte er den für lange Zeit einstellen. Wenn er aberdie Sorge hat, dass er den Mann in einem halben Jahr nichtmehr vollbeschäftigen kann, dann lässt er die Finger da-von, weil er befürchten muss, dass er unter Umständendessen Abfindung nicht zahlen kann, wenn er ihn entlas-sen muss. Das hat verheerende Konsequenzen: Es werdenÜberstunden geleistet, weil sonst keine Ausweichmög-lichkeiten bestehen, und keine Neueinstellungen vorge-nommen.Von der Wiedereinführung der Lohnfortzahlung imKrankheitsfalle waren die großen Betriebe weniger be-troffen; denn sie haben Tarifverträge vereinbart, an die siesich ohnehin nicht gehalten haben. Aber diese Wiederein-führung hat gerade im Mittelstand die Lohnzusatzkostenenorm gesteigert, weil mehr Nichtarbeit bezahlt werdenmuss.
Das hat die Lohnzusatzkosten mehr in die Höhe getrieben,als die Sozialversicherungsbeiträge durch die Ökosteuer– das behaupten Sie zwar immer – gesenkt worden sind.
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Peter Rauen15409
Meine Damen und Herren, statt den viel zu starren Ar-beitsmarkt zu deregulieren, machen Sie nicht nur das Ge-genteil von dem, was die von Ihnen beauftragten Sach-verständigen und wir sagen, sondern auch das Gegenteilvon dem, was Ihnen die OECD, der InternationaleWährungsfonds und die EG-Kommission sagen. Ich bininformiert, dass die OECD zurzeit wieder einen gehar-nischten Bericht über den verkrusteten Arbeitsmarkt inDeutschland erstellt, und höre, dass Regierungsmitgliederversuchen, einen etwas harmloseren Bericht zu bekom-men, als er von der OECD geplant ist.Stattdessen geht Ihre – das sage ich bewusst – sozialis-tische Regulierungswut weiter:
Die Altersteilzeit wird neu geregelt. Die befristeten Ar-beitsverträge werden nicht mehr so fortgeführt, wie mansie hätte fortführen können. Es gibt einen vorausset-zungslosen Anspruch auf Teilzeitarbeit. – All das ist imMittelstand nicht so einfach durchführbar.Mit dem Betriebsverfassungsgesetz setzen Sie demGanzen die Krone auf. Als Mittelständler will ich einenPunkt herausstellen: Ihnen geht es nicht um Mitbestim-mung, sondern nur um die Stärkung von Gewerkschafts-macht.
Was ich Ihnen verüble, ist, dass Sie den Gewerkschaftenund den Funktionären über das Wahlrecht und über dieWahlabläufe die Keule in die Hand geben wollen, dass siegegen den Willen der Mehrheit einer Belegschaft Be-triebsräte in mittelständischen Unternehmen installierenkönnen.
Das ist Gift für den Arbeitsmarkt und die freie Ent-faltungsmöglichkeit von Unternehmen.Die Steuerreform ist und bleibt eine Reform zuguns-ten der Kapitalgesellschaften und zulasten der GmbHs.Wer, wie unter Lafontaine begonnen und unter Eichelvollendet, Unternehmen, nicht aber Unternehmer entlas-tet, wer sich anmaßt, zwischen guten und schlechten Ge-winnen unterscheiden zu wollen, wer den entnommenenGewinn verteufelt, der will mit dieser Philosophie einerSteuergesetzgebung entweder den deutschen Mittelstandkaputtmachen oder der hat keine Ahnung vom deutschenMittelstand.
– Sie schütteln mit dem Kopf.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja. – Der mittelständische
Unternehmer ist geprägt durch den Eigentümerunterneh-
mer, der mit allem, was er hat, für sich, für seine Familie
und für seine Mitarbeiter haftet. Unternehmer und
Unternehmen sind nicht zu trennen. Wer versucht, über
das Steuerrecht oder andere ordnungspolitische Maßnah-
men diese Einheit von Unternehmer und Unternehmen
trennen zu wollen, der bricht der deutschen Volkswirt-
schaft das Rückgrat.
Ich habe den Eindruck, dass diese gesellschaftspolitische
Veränderung von Ihnen gewollt ist; denn es war dieser Ei-
gentümerunternehmer, der Deutschland nach dem Krieg
zum Wirtschaftswunder geführt hat.
Wenn dieser heute über die Steuergesetzgebung von sei-
nem Betrieb getrennt wird, dann ist das ein Anschlag auf
unsere Gesellschaftsordnung in Deutschland.
Ich bedanke mich recht herzlich.
– Das ist kein dummes Zeug.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Lange, SPD-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freuemich darüber, dass wir eine Bundesregierung haben, dieMittelstandspolitik als Querschnittsaufgabe unserer Poli-tik versteht,
und zwar trotz schwieriger Rahmenbedingungen, trotzHaushaltskonsolidierung – raus aus der Schuldenfalle! –,trotz unseres steuerlich immerhin sehr teuren Programmsder Steuersenkung. Es ist deshalb kein Wunder – das willich Ihnen, Herr Kollege Rauen, auch einmal sagen –, dasses in Deutschland keinen Mittelständler mehr gibt, der be-reit wäre, sich nach dem Steuertarif Ihrer Regierung ausdem Jahr 1998 besteuern zu lassen.
Das ist ein Erfolg dieser Bundesregierung, denn erstmalsgehen die Steuern in Deutschland herunter.
Ich kann mich auch nur wundern, Herr Rauen, dass Siehier wieder einmal das Betriebsverfassungsgesetz ange-führt haben, weil noch am 11. September 2000, wieder-holt am 14. September 2000, knapp ein Drittel Ihrer Frak-tion, nämlich die Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU, einPositionspapier beschlossen hat – ich habe es hier beimir –, in dem auf Seite 8 steht: „Wir treten für ein verein-
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Peter Rauen15410
fachtes Wahlverfahren in kleinen und mittleren Unterneh-men bis zu 100 Beschäftigten ein“.
Hiernach soll die Wahl eines Betriebsrats in einer Wahl-versammlung erfolgen können, wobei diese selbstver-ständlich geheim zu erfolgen hat. Ich sage Ihnen: Das warder Originalentwurf des Kollegen Riester. Er ist aufgrundvon Initiativen, die darauf abzielten, auf kleine und mitt-lere Unternehmen Rücksicht zu nehmen, geändert wor-den. Ich frage mich, wo das Drittel Ihrer Fraktion ist, daseine andere Meinung vertritt.
Stattdessen wird hier Politik nach dem Motto „Polemikvor allem“ betrieben.Nehmen Sie vor allen Dingen zur Kenntnis, dass dergrößte Arbeitgeber des Mittelstandes, nämlich das Hand-werk, von diesen Änderungen zu 99 Prozent gar nicht be-troffen ist! Warum nicht? Weil diese Änderungen nur fürBetriebe mit mindestens 100 Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern gelten. 99 Prozent der Handwerksbetriebehaben weniger als 100 Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer. Auch daran können Sie erkennen, wie wir imHinblick auf die Verhältnisse in kleinen und mittleren Un-ternehmen die Reform des Betriebsverfassungsgesetzesjustiert haben.Unternehmergeist, Eigenverantwortung, soziale Verant-wortung und hohe Ausbildungsleistungen haben ganz be-sonders im Handwerk Tradition. Deshalb entfallen rund80 Prozent der Gewerbefördermittel, das sind 209 Milli-onen DM, auf das Handwerk. Das Handwerk ist der größteArbeitgeber und auch der größte Ausbilder. Aus diesemGrunde freut es mich, dass von den UMTS-Milliarden im-merhin eine viertel Milliarde DM an die Berufsschulenfließt, um sie fit zu machen und ihnen zu ermöglichen, denAnschluss an moderne Technologien zu halten.
Dabei investiert der Bund – auch das will ich einmal sa-gen, weil es vorhin mehrmals erwähnt wurde – in Baden-Württemberg im Jahr 2001 23,94 Millionen DM und imJahr 2002 10,94 Millionen DM. Wie Sie sehen, profitiertBaden-Württemberg von dieser Bundesregierung.
Für den Aufbau einer eigenen Existenz benötigt manneben dem notwendigen Startkapital auch die Unterstüt-zung durch sachkompetente Berater.
Um den Unternehmen den Zugang zu den oft lebenswich-tigen Informationen zu erleichtern, werden von uns Bera-tungs-, Informations- und Schulungsangebote schwer-punktmäßig gefördert. Allein für das Handwerk sind imBundeshaushalt rund 35 Millionen DM vorgesehen. DieseFörderung wird auch in Zukunft auf hohem Niveau fort-gesetzt.Wir haben – der Minister hat es bereits erwähnt – fürden wichtigen und größten Arbeitgeber, das Handwerk,die Handwerksordnung europafest gemacht. Es ist dankder Initiative des Bundeskanzlers in der Regierungskon-ferenz 2000 zu den institutionellen Reformen gelungen,zunächst die Einstimmigkeit im Bereich der Berufsord-nungen zu bewahren. Das war die Voraussetzung dafür,um den nächsten Schritt zu vollziehen, nämlich die so ge-nannten Guidelines zwischen Handwerk und Bundesre-gierung zu vereinbaren, die sicherstellen, dass wir auch inZukunft das Handwerk in Deutschland auf hohem Qua-litätsniveau erhalten können. Das ist ein weiterer Erfolgdieser Bundesregierung. Diese Politik wird dazu führen,dass wieder mehr Gesellen bereit sind, den Meister zu ma-chen und im Anschluss den Schritt in die Selbstständig-keit zu wagen.Es freut mich ganz besonders, dass wir im Hinblick aufdie Reform des Meister-BAföGs Ende dieses Monats zueiner Einigung kommen werden. Die Förderung wurdebereits in diesem Jahr um 10 Millionen DM auf 80 Milli-onen DM erhöht. Wir werden weitere große Schritte vo-rangehen. Darüber haben wir eine Einigung getroffen, diefür die folgenden Jahre gilt. Mit der Novellierung werdender Kreis der Geförderten und der Anwendungsbereichder Förderung erweitert, die Leistungen werden verbes-sert, die Familien- und Existenzgründerkomponente wirdverstärkt und es wird auf eine vermehrte Teilhabe von aus-ländischen Fachkräften hingewirkt. Außerdem wird dasVerwaltungsverfahren vereinfacht. Zum Beispiel werdenzukünftig die Kosten des Meisterstücks ein Teil des Darle-hens sein und ebenfalls bis maximal 3 000 DM in die För-derung einbezogen.Wir werden darüber hinaus eine entsprechende Exis-tenzgründungskomponente einbauen, gerade weil wirder Tatsache Rechnung tragen wollen, dass in den nächs-ten fünf Jahren 500 000 Betriebe in Deutschland zurÜbernahme anstehen. Wir wollen alles dafür tun, dass die-jenigen, die den Mut zu einer solchen Übernahme haben,eine entsprechende finanzielle Unterstützung bekommen.
Deswegen werden wir den Darlehenserlass auf 75 Prozenterhöhen. Dadurch stellen wir sicher, dass die Mutigen espacken und sagen können: Jawohl, ich wage es; inDeutschland lohnt es sich, Handwerker und Handwerks-meister zu werden.
Ich bin guter Hoffnung, dass wir auf dem Weg, die Mit-telstandspolitik als Querschnittsaufgabe zum Wohle vonHandwerk und Mittelstand voranzubringen, weitergehenkönnen.Ich danke Ihnen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Christian Lange
15411
Jetzt hat der Kollege
Ernst Hinsken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Verehrte Frau Präsiden-tin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die heutigeDebatte ist längst überfällig. Nicht ein einziges Mal in die-ser Wahlperiode wurde das Thema Mittelstand im Rah-men einer Debatte auf die Tagesordnung gesetzt.
Die letzte Mittelstandsdebatte, die wir hier führten, liegtetwa fünf bis sechs Jahre zurück.
Ich bedauere es sehr, dass bei dieser Mittelstandsde-batte der Bundeswirtschaftsminister Müller nicht zugegenist. Welche Bedeutung misst er dem Mittelstand bei,
wenn er sich nicht einmal drei Stunden Zeit nimmt, umdabei zu sein, wenn hier einiges zurechtgerückt wird, waser an Falschem von sich gegeben hat?
Seine Rede, meine Kolleginnen und Kollegen, hat sichnämlich im Wesentlichen auf Zulieferbetriebe beschränkt.Zum Mittelstand selbst hat er relativ wenig gesagt. Es warenttäuschend.
Meine Damen und Herren, Sie haben den Wahlkampfmit dem Slogan geführt, dass Sie etwas für die Neue Mittetun wollten, und damit auch die Wahlen gewonnen.
Sie lösen Ihr Versprechen durch moderne Folterinstru-mente ein:
Erstens. Das 630-DM-Gesetz hat sich als reiner Kos-tentreiber, als Bürokratiemonster, als Arbeitsplatzver-nichter und Konjunkturprogramm für Schwarzarbeit ent-puppt.
Zweitens. Seit der Rücknahme der Kürzungen bei derLohnfortzahlung im Krankheitsfalle ist die Kranken-quote wieder im Steigen begriffen.Drittens. Durch die Schaffung des Gesetzes gegen dieso genannte Scheinselbstständigkeit wurde eine ganzeGeneration von Existenzgründern abgestraft und es wur-den Menschen ohne Not in die Arbeitslosigkeit getriebenbzw. vertrieben.
– Herr Kollege Staffelt, wir waren früher einmal stolz da-rauf, Fachleute in alle Welt zu schicken; heute müssen wirsie aus aller Welt holen, weil Sie eine so fehlerhafte Poli-tik machen.
Vierter Problembereich, meine verehrten Kolleginnenund Kollegen: Auch durch die Einschränkung befriste-ter Arbeitsverhältnisse wurde der Mittelstand belastet.Die Unternehmer können nicht mehr so flexibel wie bis-her auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Situationin ihren Betrieben reagieren.
Fünftens. Die mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeit-arbeit in Zusammenhang stehende Einführung eines„Teilzeitzwangs“ ist verheerend. In den Betrieben istkeine vernünftige langfristige Personalplanung mehrmöglich.
– Hören Sie zu, damit Sie aus dem Gehörten etwas lernenund daraus die notwendigen Schlüsse ziehen können.Wenn Sie Anmerkungen haben, melden Sie sich bitte zueiner Zwischenfrage. Ich bin gerne bereit, sie zuzulassen.
Sechster Problembereich: die Steuerreform.Von mei-nen Vorrednern Gunnar Uldall, Hansjürgen Doss undPeter Rauen wurde bereits darauf verwiesen: Es führt ein-fach zu einer Benachteiligung des klassischen mittelstän-dischen Personenunternehmers, wenn er anders besteuertwird als ein Kapitalunternehmen.
Hier haben Sie sich auch wieder gegen den Mittelstandentschieden und nichts Gutes für ihn gemacht.
Siebtens. Das Gleiche gilt für die Verschlechterung beiden Abschreibungen. Die massive Verlängerung der Ab-schreibungsfristen, zum Teil um fast 30 Prozent, machtpraktisch die durch die Steuerreform erreichten Entlas-tungen eines mittelständischen Betriebes wieder zunichte.
Achtens: die Ökosteuer. Ich nenne ein Beispiel ausdem Hotellerie- und Gastronomiebereich. Bei einem Be-trieb mit bis zu 40 Betten schlägt sich die Ökosteuer inForm einer Zusatzbelastung in Höhe von fast 10 000 DMpro Jahr nieder. Diese muss umgelegt werden. Das Geldfällt doch nicht wie Manna vom Himmel; es muss ir-gendwo herkommen. In diesem Bereich geht das nur, in-dem es auf die Preise draufgeschlagen wird. Dadurch wirdUrlaub in Deutschland nicht billiger, sondern zu guter
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Letzt teurer. Dies steht im Gegensatz zum Jahr des Tou-rismus in Deutschland, das so vollmundig vom Bundes-wirtschaftsminister verkündet wurde.Neuntens: die Novellierung des Betriebsverfassungs-gesetzes. Ich erspare es mir, hier weitere Einzelheiten an-zusprechen, weil die Probleme hier schon umfangreichdargestellt wurden. Eines aber möchte ich Ihnen, verehrteF
Sagen Sie Ihren Ministern, sie sollten einmal ein Prakti-kum in einem kleinen Betrieb machen. Dann haben sie einbesseres Feeling und mehr Verständnis für die Problemedes Mittelstandes. Sie können dann auch feststellen, dassArbeitgeber und Arbeitnehmer in einem Boot sitzen, ge-meinsam an einem Strang ziehen und nicht unbedingt aufein neues Betriebsverfassungsgesetz warten.
Es gibt hier – das möchte ich feststellen – Verschlech-terungen am laufenden Band. Die jetzige Opposition hatGroßartiges für den Mittelstand geleistet.
Die Regierungsparteien dagegen haben sich wahrlich als„Meister gegen den Mittelstand“ entpuppt.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Bedeu-tung, die Sie dem Mittelstand tatsächlich beimessen, nichtder Wirtschaftsleistung der mittelständischen Betriebe inunserem Land entspricht. Im Gegenteil: In der Praxisschwanken Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen vonRot-Grün, zwischen einer glasklaren Gewerkschaftspoli-tik und Ihrer unverkennbaren Sympathie für Großbe-triebe. Wer bleibt bei diesem konzeptionslosen Hin undHer auf der Strecke? – Das ist doch niemand anderer alsder Mittelstand.
Es ist doch nicht wegzudiskutieren: Seit dem Regierungs-antritt unternimmt die Schröder-Regierung alles nur Er-denkliche, um dem Mittelstand das Leben schwer zu ma-chen.
Ist das der Dank an die Neue Mitte?Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Bun-desregierung eine Mittelstandsbeauftragte berufen hat.Wenn Sie, verehrte Frau Wolf, Ihre zentrale Aufgabe zuBeginn Ihrer Tätigkeit so umschreiben – ich zitiere –: „Esmuss chic werden, selbstständig zu sein“, dann klingt daszwar sehr populär. Aber mit der Realität hat das bislangwenig zu tun.
Wissen Sie, warum? Ich will Ihnen die entsprechendenZahlen nennen – Sie, verehrter Herr Kollege Staffelt, ha-ben vorhin falsche Zahlen genannt –: Im ersten Halbjahr2000 ist die Zahl der Unternehmensgründungen inDeutschland um über 8 Prozent zurückgegangen. Dassind 30 000 Existenzgründungen weniger als im gleichenZeitraum des Vorjahres.
Wir brauchen ein besseres Klima für die Selbststän-digen.
In Amerika werden junge, erfolgreiche Menschen mitBeifall überhäuft. Bei uns werden sie mit Neid und Miss-gunst überschüttet. Wir müssen zusammenarbeiten, umdies zu ändern. Leistung muss sich wieder lohnen.
Im Übrigen: Ein Volk, das aufhört, seine Leistung zu ver-bessern, muss anfangen, sich an eine schlechtere Lebens-qualität zu gewöhnen. Auch diese Tatsache muss man indas Gedächtnis eines jeden Einzelnen rufen.
Zudem belegt eine aktuelle Studie, dass die 100 größ-ten Konzerne in diesem und im letzten Jahr über 50 000Arbeitsplätze abgebaut haben, Herr Kollege Staffelt. Diemittelständischen und kleinen Betriebe haben im gleichenZeitraum fast 1 Million neue Arbeitsplätze geschaffen.
– Einen Moment, bitte. – Deshalb weise ich besonders da-rauf hin, dass wir dem Mittelstand noch mehr Bedeutungbeimessen müssen, als dies bislang der Fall ist.
Ich gebe denjenigen Recht, die zum Beispiel jüngst inverschiedenen Zeitungen, so in der „Welt“ vom 21. Fe-bruar 2001, hinsichtlich der Mittelstandspolitik geschrie-ben haben: „Das Fass ist voll!“
Es gilt daher, Maßnahmen zu ergreifen, um die Flexibi-lität und die Kreativität jedes Einzelnen besonders zu för-dern. Kollege Rauen hat dies eben in seiner Rede ausgie-big getan. Ich möchte das noch einmal nachdrücklichunterstreichen.
In der heutigen Zeit ist es dringend erforderlich, dasswir die New und Old Economy verschmelzen und alseine Einheit sehen. Der Fleischermeister um die Ecke hatgenau die gleichen Probleme wie der modernste High-techbetrieb.
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Ernst Hinsken15413
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
Jawohl, Frau Präsiden-
tin, das mache ich gerne.
Ich möchte zum Schluss noch darauf hinweisen, dass
vor allen Dingen für den Mittelstand der Leistungsge-
danke ein wesentliches Element ist.
Soziale Gerechtigkeit heißt, den Leistungswilligen nicht
zu bestrafen, sondern zu bevorzugen. Das heißt für mich,
die Faulen und Bequemen nicht zu unterstützen, sondern
den wirklich Schwarzen
– den Schwachen! – zu helfen. Wer fleißig ist und etwas
bringt, hat es langsam satt, dass andere es sich auf seine
Kosten gut gehen lassen.
Ich meine, dass gerade Sie von den momentanen Re-
gierungsparteien endlich umsteuern und eine Mittelstands-
politik auflegen müssen, die von den Mittelständlern als
positiv anerkannt wird, damit diese wieder atmen können,
damit sie sich weiter entfalten können, damit sie die He-
rausforderungen der Gegenwart und der Zukunft anzu-
nehmen in der Lage sind, was zurzeit nicht der Fall ist,
weil Sie dem Mittelstand in den letzten zweieinhalb Jah-
ren so viel Negatives angetan haben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als Letztem in dieser
Runde erteile ich dem Kollegen Reinhard Schultz, SPD-
Fraktion, das Wort.
Sehr geehrteFrau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Denwirklich Schwarzen helfen – das finde ich eine tolle Ta-gesparole. Herr Hinsken, darum geht es Ihnen natürlich.Sie haben ein großes Problem damit, dass die Wahrneh-mung Ihrer Zielgruppe, nämlich des Mittelstandes, vonder Wirklichkeit in Deutschland eine völlig andere ist, alsSie sie hier beschreiben. Sie bekommen das auch nichtmehr zusammen. Sie malen im Grunde genommen nurschwarz, obwohl Ihre eigenen Leute natürlich zur Kennt-nis nehmen, dass über Steuerreform, über Meister-BAföG, über viele andere Wege tatsächlich etwas für diesehr vielen mittelständischen Existenzen und für die Ein-zelkaufleute im Lande getan worden ist.
Da hilft es auch überhaupt nichts, wenn Sie sich hierhinstellen und – mit zum Teil sehr bösartigen persönlichenAngriffen – versuchen, sich gegenüber der neuen Mittel-standsbeauftragten ins Bild zu setzen. So toll finde ichdas nicht, Herr Brüderle. Ich halte Sie eigentlich für einenganz netten Kerl. Aber wenn Sie zum Beispiel MinisterMüller vorwerfen, er sei ein Monopolminister, weil er ineinem großen Unternehmen unternehmerische Verant-wortung getragen hat,
dann könnte man vielleicht darüber lächeln, wenn Ihre ei-gene Vita eine große unternehmerische Heldengestalt aus-weisen würde. Aber Sie waren sehr erfolgreich im öffent-lichen Dienst, vom Anfang bis zum Ende.
Auf welcher Seite der Ladentheke Sie – außer beim Bröt-chenholen – gestanden haben, bleibt mir aufgrund IhrerVita verborgen.
Das darf man doch wohl einmal sagen. Ich finde, mansollte Kritik nur dann anbringen, wenn man selbst etwasBesseres zu bieten hat.Ich bedanke mich ausdrücklich bei Frau Wolf, derneuen Mittelstandsbeauftragten, für ihren Einstieg vordem Parlament, den ich für gelungen halte und der einegute Basis ist, unsere Mittelstandspolitik weiterzuent-wickeln.
Es ist völlig schäbig, das abzuqualifizieren. In dieser Redewaren eine Menge guter neuer Gedanken enthalten, diewir auch im Parlament weiter verfolgen werden.
Im Mittelpunkt fast aller Oppositionsredner stand wie-der das Märchen, die Steuerreform habe dem Mittelstandund den Personengesellschaften geschadet und nützelediglich den großen Kapitalgesellschaften. Dieses Mär-chen ist völliger Blödsinn; es ist reiner Quatsch. Die meis-ten Unternehmen sind Personengesellschaften, die ein-kommensteuerpflichtig sind. Vor allem sie profitierenvom abgesenkten Tarif und vom flacheren Tarifverlauf.Wir senken den Eingangssteuersatz von 25,9 Prozent auf15 Prozent im Jahr 2005, den Spitzensteuersatz von53 Prozent auf 42 Prozent
und wir erhöhen den Grundfreibetrag von 12 300 DM auf15 000 DM. Das verändert die Kulisse für diejenigen, dieeinkommensteuerpflichtig und zugleich unternehmerischtätig sind, ganz gewaltig. Darüber hinaus – das ist für vieleganz entscheidend und schafft die Parität zu den Kapital-gesellschaften – haben wir die Möglichkeit geschaffen,die Gewerbesteuer faktisch vollständig mit der Einkom-mensteuerschuld zu verrechnen. Dadurch stehen diePersonengesellschaften auch rechnerisch deutlich günsti-ger da als die Kapitalgesellschaften.
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50 Prozent aller Personenunternehmen verdienen we-niger als 50 000 DM; das darf man dabei nicht vergessen.75 Prozent verdienen weniger als 100 000DM, 95 Prozentweniger als 250 000 DM. Kapitalgesellschaften werdendurch Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und Solida-ritätszuschlag mit etwa 38 Prozent belastet. Ein verheira-teter Personenunternehmer müsste am Ende eines Jahres480 000 DM übrig haben, um eine solche steuerliche Be-lastung zu erreichen. Da aber 95 Prozent unter250 000 DM liegen, kann man hier doch nicht ernsthaftdavon sprechen, dass Personengesellschaften benachtei-ligt seien. Das Gegenteil ist der Fall.
Lieber Herr Rauen, wenn Sie jetzt wieder das alte Mär-chen von den guten und schlechten Gewinnen herauskra-men und einer Situation hinterher trauern, in der be-stimmte gut verdienende Gestalten der Zeitgeschichte ihrepersönliche Steuerschuld selbst festsetzen konnten, indemsie Abschreibungsmodelle und Verlustverrechnungenin willkürlicher Größenordnung in Anspruch nehmenkonnten, dann herzlichen Glückwunsch! Ich bin genausowie die meisten ehrlichen Handwerker und Einzelunter-nehmer sehr dankbar dafür, dass dieser Missbrauch imSteuerdschungel endlich beendet ist und die Steuern jetztentsprechend der Leistungsfähigkeit gezahlt werden.
Im Übrigen werden Verlustabschreibungen nicht un-möglich gemacht; wir begrenzen lediglich die Verlust-übertragung von einer Einkunftsart auf die andere der Höhenach für ein Jahr. Insgesamt werden die Verluste im Laufeder Jahre natürlich – wie in der Vergangenheit auch – ge-gen die positiven Einkünfte verrechnet werden können. Wirhaben allerdings den Missbrauch abgestellt. Das war einganz wesentlicher Beitrag dazu, dass wir überhaupt in derLage waren, die Tarife so zu senken, wie wir es jetzt getanhaben, was sowohl für die abhängig Beschäftigten als auchden vielen Einzelunternehmen und Personengesellschaftenzugute kommt.Diese steuerliche Kulisse – gerade die Heraufsetzungder Grundfreibeträge – ist eine gute Grundlage für jungeselbstständige Existenzen. Ich bin fest davon überzeugt,dass wir einen riesigen Nachholbedarf haben – Frau Wolfhat es dargestellt; in dem Entschließungsantrag der Ko-alition steht es auch –, was die Frage der Selbstständigenin Deutschland angeht. Hier gibt es noch eine große Lastaus früheren Jahren. Bei uns beträgt der Anteil derSelbstständigen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigennur 10 Prozent. Der europäische Schnitt liegt bei 15 Pro-zent; andere Länder im Mittelmeerraum liegen aufgrundihrer Strukturen bei 25 Prozent, teilweise bei 32 Prozent.Wir sollten uns zum Ziel setzen, den europäischen Durch-schnitt von 15 Prozent tatsächlich zu erreichen. Dieswürde nicht nur eine Menge Kreativität freisetzen undeine Menge Wertschöpfung ermöglichen, sondern es wäreauch gerade in strukturschwächeren Gebieten ein ganzentscheidender Beitrag zur Arbeitsmarktpolitik.
Denn die Selbstständigen sowie diejenigen, die sie be-schäftigen, schaffen den Ersatz dafür, dass andere Struk-turen allmählich wegbrechen. Das gilt für Ostdeutsch-land, aber auch für Kohlereviere an Rhein und Ruhr. Ichkann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen – in meinemWahlkreis wurde vor einem halben Jahr ein Steinkohlen-bergwerk geschlossen –, dass die herkömmlichen Instru-mente der Arbeitsmarktpolitik nicht helfen. Wir könnenfür diejenigen, die im System sind, alles sozialverträglichregeln; den jungen Leuten, die in den Arbeitsmarkt drän-gen, müssen wir etwas anderes anbieten. Das wird neuerMittelstand, neue Selbstständigkeit sein. In diese Rich-tung wird unsere Regierungspolitik sowohl in dieser alsauch in der nächsten Wahlperiode fortgesetzt werden.Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-sprache. Wir kommen zu den Abstimmungen und Über-weisungen.Tagesordnungspunkt 3 a: Interfraktionell wird vorge-schlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/5485 zur feder-führenden Beratung an den Ausschuss für Wirtschaft undTechnologie sowie zur Mitberatung an den Rechtsaus-schuss, den Finanzausschuss, den Ausschuss für Arbeitund Sozialordnung, den Ausschuss für Familie, Senioren,Frauen und Jugend, den Ausschuss für Angelegenheitender neuen Länder, den Ausschuss für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung, den Ausschuss für Tou-rismus, den Ausschuss für die Angelegenheiten der Euro-päischen Union und den Haushaltsausschuss zu überwei-sen. – Dazu gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksa-che 14/5572. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerEntschließungsantrag ist abgelehnt.Zusatzpunkte 2 und 3: Interfraktionell wird Überwei-sung der Vorlagen auf Drucksachen 14/5545 und 14/5559an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-geschlagen. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 d sowieZusatzpunkt 4 auf:23a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstel-lung soldatenversorgungsrechtlicher und anderer
– Drucksache 14/5436 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Innenausschuss
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Reinhard Schultz
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b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 22. September 2000 zwischen derBundesrepublik Deutschland und dem Groß-herzogtum Luxemburg über Zusammenarbeitim Bereich der Insolvenzsicherung betriebli-cher Altersversorgung– Drucksache 14/5439 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstel-lung auf Euro-Beträge im Lastenausgleich und zur
– Drucksache 14/5440 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Finanzausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. MargritWetzel, Reinhard Weis , Hans-GünterBruckmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten KerstinMüller , Rezzo Schlauch und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENILO-Übereinkommen über die soziale Betreu-ung der Seeleute ratifizieren– Drucksache 14/5247 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenZP 4
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. PeterPaziorek, Marie-Luise Dött, Cajus Caesar, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUPrüfung der Umweltverträglichkeit den Erfor-dernissen einer modernen Umweltpolitik an-passen– Drucksache 14/5546 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. – Damit sind Sie einverstanden. Damit sinddie Überweisungen so beschlossen.Wir kommen nun zur Beschlussfassung über eineReihe von Punkten, zu denen keine Aussprache vorgese-hen ist.Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 a auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Vertrag vom 2. Februar 2000 zwischen derBundesrepublik Deutschland und derTschechi-schen Republik über die Ergänzung des Euro-päischen Übereinkommens über die Rechts-hilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 und dieErleichterung seiner Anwendung– Drucksache 14/5011 –
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Vertrag vom 2. Februar 2000 zwischen derBundesrepublik Deutschland und derTschechi-schen Republik über die Ergänzung des Euro-päischen Auslieferungsübereinkommens vom13. Dezember 1957 und die Erleichterung sei-ner Anwendung– Drucksache 14/5012 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/5563 –Berichterstattung:Abgeordnete Hedi WegenerNorbert GeisDer Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/5563 dieAnnahme des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/5011.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Stimm-enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthal-tung der PDS angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genprobe! – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit in dritter Beratung gegen die Stimmen derCDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommen.Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/5563 dieAnnahme des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/5012.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Stimm-enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genprobe! – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit in dritter Beratung einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 24 b der Tagesordnung auf:
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Vizepräsidentin Anke Fuchs15416
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umstellung von Vorschriften im land- und
– Drucksache 14/4555 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
– Drucksache 14/5460 –Berichterstattung:Abgeordneter Meinolf MichelsIch bitte diejenigen, die dem Gesetz in der Ausschuss-fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ge-genprobe! – Stimmenthaltungen? – Dieser Gesetzentwurfist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Es folgt diedritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Esgibt keine Gegenstimmen und keine Stimmenthaltungen.Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.Ich rufe Punkt 24 c der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Hartmut Büttner
, Dr. Paul Krüger, Günter Nooke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUEinsatz von Bildauswertungssystemen bei derRekonstruktion vorvernichteter Stasi-Unterla-gen– Drucksachen 14/3770, 14/5430 –Berichterstattung:Abgeordnete Gisela SchröterHartmut Büttner
Grietje BettinDr. Edzard Schmidt-JortzigUlla JelpkeDer Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache14/3770 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Stimmenthaltun-gen? – Der Beschluss ist einstimmig für erledigt erklärtworden.Ich rufe Punkt 24 d der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses
Übersicht 7 über die dem Deutschen Bundestagzugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesver-fassungsgericht– Drucksache 14/5348 –Der Ausschuss empfiehlt, zu den in der Übersicht 7 aufDrucksache 14/5348 aufgeführten Streitsachen vor demBundesverfassungsgericht von einer Äußerung oder ei-nem Verfahrensbeitritt abzusehen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Stimmenthal-tungen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist einstim-mig angenommen.Ich rufe Punkt 24 e der Tagesordnung auf.Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 248 zu Petitionen– Drucksache 14/5468 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich der Stimme? – Bei Enthaltung der PDS ist dieBeschlussempfehlung zur Sammelübersicht 248 ange-nommen.Ich rufe Punkt 24 f der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 249 zu Petitionen– Drucksache 14/5469 –Wer stimmt dafür? – Alle stimmen dafür. Damit ist die Be-schlussempfehlung zur Sammelübersicht 249 angenom-men.Ich rufe Punkt 24 g der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 250 zu Petitionen– Drucksache 14/5470 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich der Stimme? – Bei einigen Enthaltungen und ei-nigen Gegenstimmen ist die Beschlussempfehlung zurSammelübersicht 250 angenommen.Ich rufe Punkt 24 h der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 251 zu Petitionen– Drucksache 14/5471 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung zurSammelübersicht 251 ist angenommen.Ich rufe Punkt 24 i der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 252 zu Petitionen– Drucksache 14/5472 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung zurSammelübersicht 252 ist angenommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs15417
Ich rufe Punkt 24 j der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 253 zu Petitionen– Drucksache 14/5473 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich der Stimme? – Auch die Beschlussempfehlungzur Sammelübersicht 253 ist angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und b auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Forsten
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungWaldzustandsbericht der Bundesregierung1999 – Ergebnis des forstlichen Umweltmo-nitoring –– zu dem Entschließungsantrag der Fraktionder CDU/CSU zu der Unterrichtung durch dieBundesregierungWaldzustandsbericht der Bundesregierung1999 – Ergebnis des forstlichen Umweltmo-nitoring –– Drucksachen 14/3090, 14/3095, 14/4235 –Berichterstattung:Abgeordnete Heidi Wrightb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungWaldzustandsbericht der Bundesregierung2000 – Ergebnis des forstlichen Umweltmo-nitoring –– Drucksache 14/4967 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für TourismusZum Waldzustandsbericht liegt ein Entschließungsan-trag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/DieGrünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung istfür die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. –Dagegen höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen.Wir kommen also jetzt zum Waldzustandsbericht. Werhier bleiben möchte, möge sich hinsetzen; wer bedauerli-cherweise den Raum verlassen will, möge sich dabei be-eilen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die KolleginHeidi Wright für die SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer glaubt,jetzt, bei der Debatte zum Waldzustandsbericht, etwas ent-spannt wegnicken zu können, den muss ich enttäuschen.Dem Wald geht es nicht gut. Es geht ihm seit Jahren, seitJahrzehnten schlecht. Nach einer gewissen Stagnation undErholung nach der deutschen Wiedervereinigung ist jetzterneut ein leichter Anstieg der Schäden zu verzeichnen.
Die neuartigen Waldschäden kommen in die Jahre; wirhaben sie keinesfalls besiegt. Nationalen Anstrengungenund Erfolgen bei den Luftreinhaltemaßnahmen folgen in-ternationale Rückschläge und Misserfolge. Die Bun-desregierung hat Ende letzten Jahres ein Klimaschutz-programm aufgelegt und somit den Schutz des Klimasund den Schutz des Waldes zu einer Kernaufgabe rot-grü-ner Regierungspolitik gemacht.
Die Führungsrolle der Bundesregierung und das Vo-rangehen mit den nationalen Programmen sind von be-sonderer Bedeutung. Denn die 6. Weltklimakonferenz imNovember in Den Haag zeigte die ernüchternde Lethargieder internationalen Weltgemeinschaft. Es nutzt uns nichts,auf die anderen zu warten; wir müssen selbst handeln.Dem Klimaschutzprogramm vom Oktober 2000 mitdem Ziel der weiteren verstärkten CO2-Minderung gingdas gesamte Paket zur Förderung erneuerbarer Energienund das EEG voraus. Es folgten das Förderprogramm zurCO2-Minderung im Gebäudebestand, das Altbausanie-rungsprogramm und die Energieeinsparverordnung. Dasist alles in allem ein starkes Paket mit einer klaren politi-schen Zielrichtung.
Die neue Energiepolitik setzt auf Energieeinsparung, aufEnergieeffizienz und somit auf Luftreinhaltung und Kli-maschutz.
Ferner setzt die neue Energiepolitik auf den Einsatz er-neuerbarer Energien.Alles dies kommt dem Wald und der Forstwirtschaftmittelbar oder unmittelbar zugute,
zum einen durch Reduzierung der Umweltbelastungen,zum anderen durch verbesserten Absatz des nachwach-senden Rohstoffs Nummer eins, des Holzes.
Mit großer Begeisterung, sehr verehrte Kolleginnenund Kollegen, kann ich Ihnen von der Kampagne der Bay-ern-SPD berichten. Unter dem Motto „Schalt´ die Zukunft
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs15418
ein“ ziehen wir mit der neuen Energiepolitik, mit Sonne,Biomasse, Windkraft und mit guter Stimmung durchsLand. Wir erreichen nicht nur innovative Häuslebauer undHäuslesanierer; wir erreichen die Handwerker, dieAgenda-21-Gruppen und insbesondere die Waldbesitzer,
die Forstbetriebsgemeinschaften und den Holz- undBrennstoffhandel. Holzhackschnitzel und Holzpellets fei-ern fröhliche Urständ und die Nachfrage boomt.
Dies ist zum einen Folge der Preisentwicklung auf demMineralölmarkt, aber insbesondere auch Folge der zielge-richteten Förderpolitik der Bundesregierung. Bei einemPreisäquivalent zum Liter Heizöl von rund 30 Pfennig beiHolzhackschnitzeln und rund 60 Pfennig bei Holzpelletsrechnen sich die Neuanschaffung und Umrüstung aufHolz für zukunftsorientierte Energieverbraucher allemal.Ich hatte letzte Woche eine tolle Veranstaltung mit denUnterglasgärtnern. Die befinden sich in besondererDrangsal. Wir tun viel für sie.
Aber auch die tun etwas: Sie setzen unsere innovativenRegierungsvorlagen in der praktischen Anwendung um.Sie werden auf Holzhackschnitzel umsteigen.
Die Krux ist natürlich, dass der deutsche Angebots-markt für Technik und für Holzpellets wegen der Ver-säumnisse in der Vergangenheit und der sträflichen Ver-nachlässigung des Energieträgers Holz arg zurückliegt.Aber die Aufbruchstimmung greift: Die Branche etabliertsich auch in Deutschland. Das zeigt sich an Angebot undNachfrage, zum Beispiel auch an der Holz-Energie 2001,einer Fachmesse, die in Deutschland erstmalig als Leit-messe zum Thema Holzenergie stattfinden wird.
Doch ich will noch einmal auf den Waldzustandsbe-richt 2000 und die unabdingbare Notwendigkeit weitererMaßnahmen zur Luftreinhaltung und zur Verbesserungder Waldpolitik zurückkommen. Ich will vier Punkte nen-nen:Erstens. Im Verkehrsbereich, der nach wie vor mit ei-ner der Hauptverursacher von Emissionen ist, machen wirFortschritte. Die verkehrsbedingten Schadstoffbelas-tungen gehen zwar trotz der Reduzierung des Flotten-verbrauchs und verbesserter Abgasminderungstechnikennicht zurück. Die frohe Botschaft aber lautet: Die Öko-steuer greift.
Klar betont werden muss jedoch: Gerade im Verkehrsbe-reich sind weitere Reduzierungsmaßnahmen dringendnotwendig.Zweitens. Auch die aus der Landwirtschaft emittiertenAmmoniakfrachten sind zu verringern. Wenn nicht jetzt,wann dann wollen und müssen wir die Landwirtschafts-politik stärker auf den Prüfstand der Umweltverträglich-keit, der Schadstoffminderung und somit des Klima-schutzes stellen?Drittens. Mit der Auflage eines Nationalen Forstpro-grammes ist der gesellschaftliche Dialog zur Förderungnachhaltiger Waldpolitik verbreitert worden. Dieser Dia-log ist konkret fortzuentwickeln. Deutschland als rele-vantes Waldland in Europa kann und muss im internatio-nalen Dialog mit dem Nationalen ForstprogrammZeichen für eine verbesserte Waldpolitik setzen.Viertens und letztens. Was wäre die Walddebatte in derheutigen Zeit, am heutigen Tag, ohne Blick auf die Ver-braucher und ohne die Mithineinnahme der Bevölkerungund der Gesellschaft in den Schutz des Ökosystems?Dafür muss der Verbraucher jedoch mehr sehen als denschweigenden Wald, den er in Buche, Eiche und Fichteunterscheidet und dessen Schutz und naturnahe Bewirt-schaftung ihm ein Anliegen ist.
Eine Forstzertifizierung ist ein modernes Instrumentzur Imageverbesserung durch die Darstellung naturnaherWaldwirtschaft.
Die moderne Verbraucherin weiß inzwischen, dass Ver-trauen gut, Kontrolle aber besser ist. Deshalb werden auchan Forstzertifizierungsverfahren hohe Ansprüche im Hin-blick auf Transparenz und Glaubwürdigkeit gestellt. DieZertifizierung soll die Forstwirtschaft zu einer stetigenVerbesserung ihrer Bewirtschaftungspraktiken anregen.Seitens der jetzigen Regierungsfraktionen wurde dieNotwendigkeit eines anspruchsvollen Zertifizierungssys-tems bereits vor Jahren erkannt. Diesen Prozess werdenwir auch in Zukunft begleiten.Ich danke Ihnen.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Peter Bleser, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Der Wald ist ein Bioindikator.Kranke Bäume zeigen an, in welchem Zustand sich unsereUmwelt und speziell unsere Atmosphäre befinden.
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Heidemarie Wright15419
Die Menschen atmen die gleiche Luft wie die Bäume imWald. Insofern ist der Schutz des Waldes auch ein Schutzdes Menschen. Dies war immer Grundlage einer CDU-Um-weltpolitik in der Vergangenheit und wird es auch in Zu-kunft sein.
Aus dem diesjährigen Waldzustandsbericht wird deut-lich, dass der Anteil der erhebliche Schäden aufweisendenBäume in den 90er-Jahren von 30 Prozent in 1991 auf21 Prozent in 1998 zurückgegangen ist.
Seit 1998 haben wir wieder einen Anstieg auf nunmehr23 Prozent zu verzeichnen. Ich will Ihnen diesen Anstieggar nicht anlasten; das tue ich nicht. Aber es ist nicht zuverkennen, dass wir eine Fortsetzung des positiven Trendsnicht mehr verzeichnen können – und das wiederum lasteich dieser rot-grünen Regierung an.
Auffällig ist, dass die Schäden in den Fichten- und Kie-fernwäldern deutlich zurückgegangen sind, und zwar un-ter das Niveau von 1984. Dagegen haben wir in den Laub-wäldern Steigerungen bis auf 40 Prozent, was sehr zubeklagen ist.Wir können also eine allgemeine Tendenz zur Verbes-serung des Waldzustandes feststellen; aber von Entwar-nung – darin sind wir uns wohl alle einig – können wir beiweitem nicht sprechen.
Die Tatsache aber, dass wir den heutigen Zustand erreichthaben, verdanken wir der größten, konsequentesten underfolgreichsten Umweltpartei Deutschlands, nämlich derCDU/CSU.
Es waren unsere umweltpolitischen Leistungen inden 80er- und 90er-Jahren, die zu einer Reduzierung derSchäden geführt haben. Ich nenne unser Aktions-programm „Rettet den Wald!“ von 1983. Ich erinnere andas Bundes-Immissionsschutzgesetz, an die Großfeu-erungsanlagen-Verordnung, die TA Luft von 1986, dieKleinfeuerungsanlagen-Verordnung, die wir 1996 nocheinmal verschärft haben. Ich erinnere an den Katalysator.Ich erinnere an die Einführung des schadstoffarmen Die-sel und ich erinnere an das Ozongesetz von 1995. Ich er-innere auch an die sehr erfolgreiche Einführung derschadstoffbezogenen Kfz-Steuer von 1997, die einRiesenerfolg war und zu einem großen Boom von Autosmit geringem Benzinverbrauch geführt hat.
Darüber hinaus haben wir auf zahlreichen internatio-nalen Konferenzen – insbesondere mit unseren Umwelt-ministern Töpfer und Merkel – weltweit Standardsgesetzt. Lassen Sie mich hier einmal innehalten. Wenn Siesich die Namen Töpfer und Merkel noch einmal zu Gehörbringen, dann bitte ich zu bedenken, welchen Klang dieseNamen im Verhältnis zu dem aktuellen Umweltministerhaben:
Während die einen weltweit Standards gesetzt haben, fälltder aktuelle Umweltminister – ich betone besonders: deraktuelle – dadurch auf, dass er durch flegelhaftes Verhal-ten in die Medien kommt.
Auch wegen unserer umweltpolitischen Leistungen binich stolz, Deutscher zu sein – um das an dieser Stelle deut-lich zu sagen!
Noch einmal zurück zu den internationalen Konfe-renzen. Ich erinnere an das Helsinki-Protokoll, das dieeuropäischen Staaten dazu verpflichtete, die Schwefel-dioxidemissionen bis 1993 um 30 Prozent gegenüber demStandard von 1980 zu verringern. Wir haben diesen Wertmit einer Reduzierung um 60 Prozent weit übertroffen.Ich erinnere an das Sofia-Protokoll, das seit 1991 in Kraftist. Damals hatten wir uns verpflichtet, die Stickstoff-emissionen bis 1994 auf den Stand von 1987 zurückzu-führen. Auch diese Verpflichtung haben wir mit einemRückgang von 30 Prozent übererfüllt. Wir haben uns aufder Weltklimakonferenz in Kioto verpflichtet,
die CO2-Emissionen bis 2005 um 25 Prozent zurück-zuführen.
Während unserer Zeit – bis 1998 – haben wir von diesemZiel 60 Prozent geschafft.
Seitdem gibt es eine Stagnation und das haben Sie zu ver-antworten.
Nach wie vor gibt es seitens der SPD und der Grünenkein Konzept, diese internationalen Verpflichtungenwirklich einzuhalten. Anstatt durch Anreize, wie wir dasmachen würden, die Kreativität der Menschen zu fördern,den Energieverbrauch zu senken, die Emissionen zu ver-ringern, neue Energieträger zu erschließen sowie die Nut-zung regenerativer Energien stärker zu fordern und zu för-
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Peter Bleser15420
dern, setzt diese Bundesregierung auf ein ganz plumpesInstrument, nämlich eine Strafsteuer.Dabei verfehlt die Ökosteuer eine Lenkungsfunktionschon deswegen, weil Sie die energieintensiven Bereicheausschließen. Noch gravierender ist die Verwendung derEinnahmen aus der Ökosteuer. Anstatt umweltverträgli-che Energien zu fördern, stopfen Sie damit schlicht undeinfach Haushaltslöcher. Das ist die Wahrheit. Daran lässtsich auch nichts ändern.
Diese Strafsteuer schädigt – das sage ich noch einmalganz deutlich – die Bürger auf dem flachen Lande. Des-halb sind wir nach wie vor für eine Abschaffung der Öko-steuer.
Darüber hinaus hat uns die Bundesregierung mit ihremso genannten Energiekonsens den Ausstieg aus derKernenergie beschert. Sie sind bis heute der Bevölke-rung eine Erklärung dafür schuldig geblieben, wie Siediese CO2-neutrale Energieerzeugung durch eine umwelt-freundliche Energie ersetzen wollen. Das haben Sie bis-her nicht geschafft. Darauf warten wir auch in den nächs-ten Monaten.
Als Alternative die Fortschreibung unserer Ansätze imStromeinspeisungsgesetz durch ein – wie heißt es? – Er-neuerbare-Energien-Gesetz
aufzuzeigen, wie es Frau Wright getan hat, ist, mit Ver-laub, mehr als lächerlich.Meine Damen und Herren, der Waldzustandsberichtweist höhere Stickstoffeinträge auf, wovon ein nicht un-beachtlicher Teil aus der Landwirtschaft kommt. Ich willdas hier nicht näher beleuchten, weil mein Kollege Deßdas noch vertiefen wird. Aber wir haben mit der Dünge-verordnung Maßstäbe gesetzt. Mit einer Düngebilanz,die die Betriebe erstellen, ist in den letzten Jahren schonviel erreicht worden. Wenn Sie die Fördermöglichkeiten,die die CDU-geführten Länder bieten, in ganz Deutsch-land einführen würden, kämen wir hier noch weiter.Ich fasse zusammen: Der Waldzustandsbericht belegtzumindest bis 1998 eine allmähliche Verbesserung desZustands unseres Waldes. Die Verbesserungen sind dasErgebnis einer langjährigen, konsequenten Umweltpolitikeiner CDU/CSU-geführten Bundesregierung. Dem hatdie heutige Bundesregierung nichts Vergleichbares entge-genzusetzen.
Ich fordere Sie deshalb auf, die Forschung über die Ur-sachen der Waldschäden weiter zu intensivieren, alles zutun, damit unsere Zusagen in Kioto im Bereich der CO2-Reduzierung eingehalten und fortgeschrieben werden,den verstärkten Einsatz des heimischen Holzes zu fördernund die regionale energetische Nutzung von Holz und an-deren nachwachsenden Rohstoffen weiter zu verbessern.Darüber hinaus sollten wir die Waldbesitzer nicht ver-gessen. Helfen wir ihnen, die Umweltschäden zu beseiti-gen, insbesondere die Sturmschäden! Helfen wir ihnen,die Kalamitätsfälle durch steuerliche Erleichterungen zubewältigen!Stimmen Sie von der Koalition also unserem Ent-schließungsantrag zu! Dann haben Sie wenigstens einenBeitrag zur Besserung des Waldzustands geleistet.
Das Wort hat nun die
Kollegin Steffi Lemke für Bündnis 90/Die Grünen.
WerteFrau Präsidentin! Werte Kollegen und Kolleginnen!Peter Bleser, ich finde es bedauerlich, dass die CDU derMeinung ist, Parolen, die in Deutschland zurzeit von Neo-faschisten und von Neonazis benutzt werden, um Propa-ganda zu betreiben, im Plenum des Deutschen Bundesta-ges wiederholen zu müssen. Ich fordere Sie auf, dies zuunterlassen.
Wir befinden uns in der Debatte über den Waldzustands-bericht und nicht in der Debatte darüber, wie die CDUsich zu Rechtsextremismus in diesem Land und zudeutschtümelnden Parolen verhalten zu müssen meint.
Ich möchte auf dieses Thema der Debatte gerne zurück-kommen.Der Zustand unserer Wälder ist nach wie vor einschlechter.
Das belegen die Zahlen der letzten Jahre immer wieder. Ichdenke, dass in diesem Hause Einigkeit darüber herrschenmüsste, dass auch das derzeit vorhandene Schadensni-veau zu hoch ist und dass es nach wie vor gemeinsamerAnstrengungen bedarf, um eine Verbesserung zu errei-chen. Dies sagen die Berichte über die Jahre eindeutig aus.Deshalb ist es unsere Aufgabe, den Eintrag von Schad-stoffen in den Wald zu reduzieren und Anstrengungen imRahmen des Klimaschutzprogramms sowie zur Schad-stoffreduktion im Verkehr zu unternehmen. Ich finde esinzwischen müßig, darüber zu diskutieren, ob es in denletzten zwei Jahren eine leichte Verbesserung bei einerBaumart in einer Region gegeben hat, während in einer
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anderen Region ein Anstieg der Schäden zu verzeichnenwar. Wir bewegen uns dort überall im Promillebereich.Dies ist viel zu gering, um dieses Problem wirklich zu-kunftsfähig meistern zu können.Ich möchte meine Redezeit nicht dazu verwenden, umdarüber zu debattieren, ob es unter der CDU-Regierungeventuell eine leichte Verbesserung gegeben hat
oder ob jetzt unter der Regierung von SPD und Grüneneine leichte Verbesserung absehbar ist. – Herr Hornung,ich bitte Sie, eine Zwischenfrage zu stellen, wenn Sie ei-nen neuen Debattenbeitrag einbringen wollen, und an-sonsten etwas leiser dazwischenzurufen.
Ich glaube, dass bei der Debatte über eine Reduktionder Schadstoffe um 5 oder 10 Prozent ein wenig der Blickdarauf verloren gegangen ist, worum es überhaupt geht.Manches kann man natürlich auf die Zeitschiene schiebenund hoffen, dass irgendwann Verbesserungen in Form ei-ner Reduktion bestimmter Schadstoffe durch die eingelei-teten Maßnahmen eintreten. Aber Konsens müsste da-rüber bestehen, dass die bisher ergriffenen Maßnahmennicht ausreichen.Ich glaube deshalb, dass die Maßnahmen, die die rot-grüne Bundesregierung im Rahmen der internationalenKlimaschutzdebatte bereits ergriffen hat – Förderung dererneuerbaren Energien, Verbesserung von Klimaschutzim Gebäudebereich –, Wirkung zeigen werden. Dazugehört für mich auch die Ökosteuer. Ich glaube, dass wiruns in diesem Punkt von der Vorgängerregierung unter-scheiden.
Wir sind bereit, für ein so wichtiges Ziel wie den Schutzunserer Wälder, den Schutz der Lebensgrundlagen unse-rer Kinder, auch unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen.Die Ökosteuer ist – wie jede andere Steuer auch – bei denBürgern nicht beliebt.
Aber wir sind zu dieser Maßnahme bereit, weil wir eineBesteuerung des Energieverbrauchs, des Naturverbrauchsfür notwendig halten. Deshalb sind wir bereit, diese De-batte auch jetzt, wo wir die Regierungsverantwortung tra-gen, zu führen.
Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass dievon Ihnen immer wieder dementierte Lenkungswirkungder Ökosteuer in diesem Bereich inzwischen zumindest inzarten Ansätzen zu erkennen ist.
Durch das Statistische Bundesamt – das ist nun weiß Gottnicht die grüne Parteizentrale – und durch den VerbandDeutscher Verkehrsunternehmen wird belegt, dass es ei-nen Anstieg bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittelgibt,
dass es bereits nach dem ersten Schritt der Ökosteuer eineReduktion des Mineralölverbrauchs gibt, insbesondere imBereich des Individualverkehrs, und dass die Lenkungs-wirkung tatsächlich eintritt. Dies ist durch Fakten belegtund Sie können das auch hier im Parlament nicht abstrei-ten.
Die Debatte darüber, wie wir in Zukunft den Ressour-cenverbrauch besteuern können, um ihn zu reduzieren,sollte das gesamte Parlament führen. Wenn die CDU indiesem Zusammenhang an Frau Merkel und Herrn Töpfererinnert, die sich in der Vergangenheit für eine Ökosteuereingesetzt haben, finde ich dies gut. Dann müssen Sie aberauch so ehrlich sein und diese Forderung, die Frau Merkelund Herr Töpfer aufgestellt haben, aufgreifen und in dieparlamentarische Debatte einführen, statt sich aus Angstdavor, dass es darüber in der Bevölkerung eine kontro-verse Diskussion gibt, zu ducken, dieser Debatte feigeauszuweichen, weil Ihnen dies momentan besser in denKram passt.Vielen Dank.
Jetzt hat die Kollegin
Marita Sehn für die F.D.P.-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Schwefeldioxid minus 76 Prozent,Stickoxide minus 34 Prozent und Ammoniak minus18 Prozent – das sind die Errungenschaften der christlich-liberalen Koalition.
Sie können es schwarz auf weiß im Entschließungsantragder Regierungskoalition nachlesen. Dies haben Sie selbstaufgeschrieben.Es hat zwar lange gedauert, aber schließlich hat sichauch bei den Regierungsparteien die Erkenntnis durch-gesetzt, dass die Maßnahmen der alten Bundesregie-rung zum Schutz des Waldes ausgesprochen erfolg-reich waren. Nur zur Erinnerung: Aktionsprogramm„Rettet den Wald“, Novellierung der Großfeuerungsan-lagenverordnung, Novellierung der TA Luft und derKleinfeuerungsanlagenverordnung, Novelle des Bun-des-Immissionsschutzgesetzes, Ozongesetz, emissions-
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bezogene Kfz-Steuer. Das alles sind Maßnahmen, die we-sentlich zur Verringerung der Luftschadstoffe beigetragenhaben.
Nachdem Sie, liebe Frau Wright, unsere Politik in Wa-denbeißermanier – „zu spät“ und „zu halbherzig“ – überJahre bekämpft haben, freut es mich, dass Sie nun endlichdie Erfolge der alten Bundesregierung anerkennen. Bes-ser eine späte Einsicht als keine.
Leider haben Sie dieses Niveau in Ihrem Antrag nichtdurchgehalten. Wenn Sie von „möglichen Auswirkungender globalen Klimaveränderung“ schreiben, so ist dies inhöchstem Maße unseriös. Sie zitieren Einzelmeinungenund ignorieren den Stand der wissenschaftlichen For-schung. Nach wie vor ist selbst eine Klimaänderung wis-senschaftlich nicht gesichert, geschweige denn Auswir-kungen irgendeiner Art. Auf eine solche Art Politik zubetreiben ist sehr gefährlich. Das ist Populismus pur. Wirbrauchen eine Politik mit Köpfchen und keine aus demBauch heraus.Auch bei Ihrem Statement zum Raubbau an unserenWäldern fragt man sich, woher die Koalition ihre Infor-mationen bezieht. Die Waldfläche hat in Deutschland zu-genommen. Anscheinend ist dies die erste Form vonRaubbau, die zu einem Mehr an Wald führt. Man sollte Sievielleicht einmal daran erinnern, dass der Begriff „Nach-haltigkeit“ von der Forstwissenschaft geprägt worden ist,und zwar lange bevor es eine grüne Partei gab.
– Ja, Herr Hornung, so ist es.Es ist interessant, Ihre Reden und Anträge zu Opposi-tionszeiten zu lesen. Ich habe mir das wirklich angetan.Wie vollmundig waren Ihre Forderungen, wie hehr IhreAbsichten! Und nun? Nun sitzen Sie auf der Regierungs-bank und auf einmal ist es sehr, sehr still geworden.
Immer wieder haben Sie in der Vergangenheit Entschädi-gungszahlungen für die von Waldschäden betroffenenWaldbesitzer gefordert. Warum ergreifen Sie jetzt nichtdie Gelegenheit beim Schopf und setzen Ihre Forderun-gen endlich um?
Die Forstbesitzer wären für jede Form der Unterstüt-zung dankbar. Aber dass es mit der Liebe dieser Bundes-regierung, Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, zu den Waldbesit-zern nicht weit her ist, das hat Ihr Engagement für dieGeschädigten des Orkans „Lothar“ im vergangenen Jahrgezeigt. Sie erwiesen sich als ausgesprochen sparsam;wenn auch nicht mit Worten, so doch mit finanzieller Un-terstützung.
In dem aktuellen Waldzustandsbericht ist Ihnen dasSchicksal dieser Betriebe nur noch eine Randnotiz wert.
Die jetzigen Regierungsfraktionen haben früher immerbemängelt, dass bei der alten Bundesregierung die Frage– ich zitiere –, „wie eine Stärkung der Leistungsfähigkeitder Forstbetriebe erreicht werden kann“, im Vordergrundstand. Folgerichtig räumt Rot-Grün dieser Frage kaumeinen Platz ein. Dies zeigt eindeutig die Prioritäten dieserKoalition: Ihr sind die Menschen, die ihr Einkommen mitdem Wald erwirtschaften, schlichtweg egal.
Die Sorgen und Nöte der Waldbesitzer interessieren dieseBundesregierung nicht.
Dazu passt hervorragend die Novelle des Bundes-naturschutzgesetzes. Die Anliegen der Land- und Forst-wirtschaft werden ignoriert, während die des Natur-schutzes einseitig in den Vordergrund gerückt werden.Man möchte Rot-Grün manchmal daran erinnern, dass inden ländlichen Räumen Menschen leben, die ebenfallsBedürfnisse haben, die Arbeitsplätze benötigen und dieam gesellschaftlichen Wohlstand beteiligt werden wollen.
– So ist es. – Sie sprechen den Menschen in den ländli-chen Räumen jegliches Recht auf wirtschaftliche Ent-wicklung ab.
Diese Politik ist ein Tanz um den goldenen Öko. Rot-grüne Umweltpolitik ist eine Auflagenpolitik. Sie setztauf Konfrontation statt auf Information und Kooperation,insbesondere dann, wenn es um kleinere gesellschaftlicheGruppen wie Waldbesitzer und Landwirte geht. Dannpraktizieren Sie nur allzu gerne ihre Knüppel-aus-dem-Sack-Politik. Rot-grüne Umweltpolitik wird immer dannaktiv, wenn sie Auflagen erteilen kann und andere dieZeche zahlen müssen.
Die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes trägt ge-nau diese Handschrift. Bewährte Maßnahmen wie der
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Vertragsnaturschutz werden vernachlässigt, während Auf-lagen verschärft werden. Diese Novelle ist ein eindeutiggegen die deutsche Land- und Forstwirtschaft gerichtetesMisstrauensvotum. Unsere Land- und Forstwirte habendieses Misstrauen nicht verdient. Ihnen gebührt vielmehrunser Dank für den Erhalt und die Pflege unserer Kultur-landschaft. Wir alle haben einen Nutzen von dieser Arbeit.Wir alle nutzen die Natur für Erholung, Sport und Freizeit.
Innovative Umweltpolitik braucht mehr als nur Aufla-gen. Auflagen sind die End-of-Pipe-Technologie der Um-weltpolitik. Wir Liberalen setzen auf Forschung und In-novation und nicht auf Schikanen. Wir unterstützen dieForschung in neue Technologien, wie zum Beispiel in dieBrennstoffzelle oder die Wasserstofftechnologien. DieseTechnologien können dazu beitragen, dass auch die durchden Verkehr verursachten Umweltprobleme gelöst wer-den und damit ein erheblicher Beitrag zu einer nachhalti-gen Verbesserung des Waldzustandes geleistet werdenkann.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie sichdazu durchringen, Zukunftstechnologien zu fördern an-statt jede Neuentwicklung zu verteufeln, können Sie viel-leicht eine ähnliche beeindruckende Erfolgsbilanz vor-weisen, wie Sie sie der alten Bundesregierung in IhremEntschließungsantrag bescheinigt haben.
Das Wort hat nun die
Kollegin Eva Bulling-Schröter für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als „bizarre Bewusst-
seinsspaltung bezüglich ihrer Verantwortung“ kritisierte
der BUND das Agieren aller bisherigen deutschen Minis-
ter für Landwirtschaft und Forsten, denn von ihnen wür-
den immer wieder gebetsmühlenartig die massiven Nitrat-
einträge beklagt, die den Wald extrem schädigen. Doch
Konsequenzen würden daraus leider nicht gezogen. Den
Vorwurf der Bewusstseinsspaltung kann man getrost auf
das Bundeskabinett erweitern, und zwar in Bezug auf die
Ressorts Umweltschutz auf der einen Seite und Verkehr
und Wirtschaft auf der anderen Seite. Frau Künast als Res-
sortverantwortliche bemüht sich redlich, der Agrarindus-
trie diesbezüglich Beine zu machen. Aber auch sie ist den
unterschiedlichen Interessen ausgesetzt und wir werden
sehen, wer letztlich am längeren Hebel sitzt.
Wir haben – das ist das Fazit des Berichts – einen zu-
nehmenden Stickstoffüberschuss bei gleichzeitiger Ver-
sauerung der Böden. Die Hauptquellen dafür sind – auch
das steht im Bericht – Industrieanlagen, Kraftwerke, Ver-
kehr, Kleinverbraucher und Landwirtschaft. Das Fazit,
das die Bundesregierung zieht, ist zunächst einmal zu be-
grüßen. Alle Politikbereiche – unter anderem Umwelt-,
Verkehrs-, Finanz-, Wirtschafts- und Landwirtschaftspo-
litik – müssen gemeinsam versuchen, die Luftschadstoffe
zu reduzieren. Solche Ausführungen aber finden sich in
jedem Bericht.
Die Anzahl kranker Bäume hat den Ankündigungen
zum Trotz allerdings nicht abgenommen, sondern um
2 Prozent zugenommen. Immer noch sind 80 Prozent der
Flächen übersauert. Die Belastung durch Ozon infolge
des Verkehrswachstums steigt weiter. Die Konzentration
dieses Gases liegt bei 95 Prozent der Fläche über der
Grenze der Belastbarkeit von Wald und Mensch.
Auch der Stickstoffüberschuss wird nicht eingedämmt.
Da der Wald hauptsächlich über den Luftpfad belastet
wird, lassen sich bezüglich des Nitrats die zwei Haupt-
verursacher genauer festmachen: 95 Prozent der Emissio-
nen resultieren aus dem Verkehr und den Großfeuerungs-
anlagen. Vielleicht liegt hierin eine Ursache dafür, dass
sich der Trend zu immer mehr Waldschäden ungebremst
fortsetzt, denn die Strategien der Bundesregierung zum
Aufhalten der Blechlawinen sind wenig überzeugend.
In dem Bericht werden der Dreiwegekatalysator, die
Verschärfung der Abgasgrenzwerte, die Förderung ver-
brauchsarmer PKW und die Einführung umwelt-
verträglicher Kraftstoffe angeführt. Es ist ganz klar: Das
ist nicht schlecht. Aber alle diese Maßnahmen werden an-
scheinend durch das Verkehrswachstum überkompen-
siert. Im Osten lässt sich dieses Problem auf einer ver-
gleichbaren Ebene aufzeigen: Von 1992 bis 1996 gingen
dort die Waldschäden zurück. Wir können uns – ebenso
wie bei den Veränderungen im Klimaschutz – denken,
warum: durch den Zusammenbruch der dortigen Indus-
trie. Hinzu kamen natürlich schärfere Emissionskontrol-
len und moderne Abgassysteme in den Großfeuerungs-
anlagen.
Doch wie ging es weiter? Statt Arbeitsplätzen kamen
Autos. Statt Gütertransport auf der Schiene – sein Anteil
betrug damals 80 Prozent – kamen LKW-Karawanen. Als
Folge davon geht das Waldsterben im Osten wie im Wes-
ten munter weiter. Was für Deutschland gilt, gilt auch
– ein Schwerpunkt liegt dabei auf Italien – für Europa.
Es gilt also, national und europaweit für eine deutliche
Reduzierung der Verkehrsemissionen zu kämpfen.
In diesem Zusammenhang kann ich nur auf Parallelen
zum Klimaschutz verweisen: Es geht nicht nur um sau-
bere, sondern vor allem um weniger gefahrene Kilometer.
Es geht um regionale Wirtschaftskreisläufe. Ich denke,
auf diesem Feld ist Wesentliches zu tun. Wenn über Nach-
haltigkeit gesprochen wird, erwarte ich mir für die Zu-
kunft mehr, zumal die Bundesregierung nun endlich einen
Nachhaltigkeitsrat eingesetzt hat. Wir erwarten gute Er-
gebnisse.
Das Wort hat nun dieKollegin Christel Deichmann, SPD-Fraktion.
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Marita Sehn15424
Frau Präsidentin! Sehrgeehrte Damen und Herren! Herr Bleser, jetzt habe ichwieder etwas gelernt, nämlich dass der Wald sehr schnellauf den Regierungswechsel reagiert hat.
Die Bundestagswahl war doch erst im Herbst 1998. Dasist wirklich eine neue Erkenntnis, die wir heute gewonnenhaben. Aber das muss wissenschaftlich erst noch bewie-sen werden. Vielleicht könnten Sie das nachholen.
Frau Sehn, wenn Sie behaupten, uns sei der ländlicheRaum nichts wert,
dann möchte ich Sie unter anderem auf unseren Antrag„Ländliche Räume“ verweisen. Ich denke, Sie sollten sichein bisschen mehr Mühe geben und aufpassen, damit Siemitbekommen, was tatsächlich passiert. Es ist schon ei-genartig, wie Sie unsere Politik wahrnehmen.
Es darf nicht sein, was nicht sein darf. Sie müssen trotz-dem zur Kenntnis nehmen: Die Menschen und die Ergeb-nisse bestätigen, dass unsere Politik erfolgreich ist, auchim Hinblick auf den Wald.
Die Schutz-, Nutz- und Erholungsfunktion, die Spei-cher- und Filterfunktion für Wasser und Luft und auch dieumweltfreundliche Produktion des nachwachsendenRohstoffes Holz kennzeichnen die wirtschaftlichen, öko-logischen und sozialen Elemente des Ökosystems Waldmit seinen vielfältigen Ausgleichsfunktionen. Die drittepaneuropäische Ministerkonferenz in Lissabon hat diezukünftige Bedeutung des Waldes wie folgt definiert:Im 21. Jahrhundert wird der europäische Forstsektorunter Berücksichtigung der sozialen, wirtschaftli-chen, umweltbezogenen und kulturellen Funktionseinen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der Ge-sellschaft optimieren; insbesondere zur Entwicklungder ländlichen Gebiete, der Bereitstellung von er-neuerbaren Ressourcen und dem Schutz der globalenund lokalen Umwelt.Diese Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ha-ben sich dieser Aufgabe gestellt, unter anderem mit derVerabschiedung des Klimaschutzprogramms, auf dasschon die Kollegin Heidi Wright hingewiesen hat.Ich möchte ebenfalls auf einen nicht weniger wichtigenAspekt verweisen. Der Wald bietet auch Lebensraum fürdie ganz überwiegende Anzahl der wild lebenden Pflan-zen und Tiere. Von den 45 000 in Deutschland bekanntenTierarten kommen zum Beispiel alleine in den Buchen-wäldern 6 800 Arten vor. Nicht ohne Grund zählt der Waldzu unseren besten Bioindikatoren. In optimaler Weisemacht er die Einflüsse von Hunderten von Umweltfakto-ren für uns sichtbar. Liegen zum Beispiel Wälder nebenIndustrieanlagen oder großen Mastanlagen, dann werdendie Auswirkungen der Luftverschmutzung für uns allesehr deutlich und in drastischer Weise sichtbar.Die Ergebnisse der bundesweiten Bodenzustands-erhebung im Wald und der Untersuchungen der Dauer-beobachtungsflächen, der so genannten Level-II-Flächen,zeigen deutlich: Die Wälder können ihre Filter- undPufferfunktion zunehmend schlechter erfüllen. Die Er-gebnisse dokumentieren die fortschreitende Bodenver-sauerung sowie die zunehmende Stickstoff- und Ozonbe-lastung. So liegen zum Beispiel in sensitiven Bereichendie aktuellen Säurefrachten bis zum 15-fachen über denBelastungsgrenzen. Die Versauerung der deutschen Wald-böden schreitet zwar heute langsamer voran als vor20 Jahren. Aber nach vorliegenden Erkenntnissen findetsie auf 80 Prozent der Flächen weiterhin statt.Ich möchte einige weitere Zahlen nennen: Auf den Le-vel-II-Dauerbeobachtungsflächen wurden Stickstoffein-träge bis zu 46 Kilo pro Jahr und Hektar nachgewiesen.Erträglich für den Wald sind, je nach Standort, 5 bis 15 Kilopro Jahr und Hektar. Ich denke, diese Zahlen machendeutlich, wie dramatisch und kritisch die Situation ist. DieBelastung durch bodennahes Ozon steigt ebenfalls weiteran. Der von Menschen bedingte Treibhauseffekt schädigtden Wald im Besonderen und beschleunigt seinen Verfall.Auf über 90 Prozent der Level-II-Flächen sind lang-fristig stickstoffbedingte Veränderungen zu befürchten.Auf etwa 30 Prozent dieser Dauerbeobachtungsflächenmuss schon heute mit einer Stickstoffsättigung bzw.-übersättigung der Waldökosysteme gerechnet werden.Die Folge ist: Die Filterkraft des Waldes ist erschöpft. DerWaldboden kann vielerorts die Schadstoffe bereits nichtmehr absorbieren. Örtlich sind Quell- und Grundwasserdurch die Mobilisierung von Eisen und anderen Schwer-metallen sowie durch Aluminium gefährdet. Im Klartextheißt das: Die zukünftige Sicherung der Trinkwasserver-sorgung ist durch die erhöhte Konzentration von Schwer-metallen und Stickstoff enorm gefährdet.Um den Säureschub nun aufzuhalten, werden seit Jah-ren Millionenbeträge für die Bodenschutzkalkung imWald ausgegeben. Das hilft nur sehr kurzfristig. Das istnur eine Kaschierung des Problems und keine Beseiti-gung. Die Politik der Bundesregierung setzt darum ver-stärkt bei der Ursachenbekämpfung an. Ich sage es nocheinmal: Die Ökosteuer ist dabei zum Beispiel ein hilfrei-ches Instrument.
Bei der Diskussion um die Fortführung der Ökosteuermöchte ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Op-position, gleich den Wind aus den Segeln nehmen. DerBundeskanzler hat nicht gesagt, dass die Ökosteuer abge-schafft wird, sondern er will – das wollen wir auch –, dassim Jahr 2003 die Zukunft der Ökosteuer im Lichte der
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Konjunktur und der Sozialverträglichkeit zu überprüfenist.
Mit der Einführung schwefelarmer Kraftstoffe, dem100 000-Dächer-Programm, den erweiterten Förderpro-grammen für erneuerbare Energien – das alles nehmen Sienicht wahr – sowie der Novelle des Stromeinspeisungs-gesetzes hat die Koalition weitere Maßnahmen eingelei-tet, die letzten Endes dem Wald und uns allen zugutekommen.
Diese Maßnahmen zeigen schon Wirkung. Man muss esnur wahrhaben wollen.Die von der Bundesregierung eingeschlagene Trend-wende in derAgrarwirtschaft zeigt auch für einen lang-fristigen Waldschutz schon die Richtung auf. Ich unter-stütze die Forderung nach einer flächengebundenenTierhaltung. Ein geeignetes Instrument für die Umsetzungderartiger Forderungen ist aus meiner Sicht unter ande-rem die verbindliche Definition der „guten fachlichenPraxis“ im Bundesnaturschutzgesetz. Auch das werdenwir machen.Um Naturschutzaspekte noch stärker in die forstlicheNutzung einzubinden, ist es erforderlich, die Naturnäheder Wirtschaftswälder weiter auszubauen. Ich möchte andieser Stelle noch einmal betonen, wie wichtig und un-verzichtbar es ist, eine partnerschaftliche Zusammenar-beit zwischen den Forstwirten und dem Naturschutz fürden dauerhaften Schutz der Wälder zu befördern.
Naturnah bewirtschaftete Wälder weisen eine erhöhte Wi-derstandskraft gegenüber neuartigen Waldschäden aufund bieten weitaus mehr Pflanzen- und Tierarten Lebens-raum, als dies Monokulturen leisten können. In naturnahbewirtschafteten Wäldern – das bestätigen uns die Forst-fachleute – schreibt man ganz gesichert schwarze Zahlenin der betrieblichen Bilanz. Das heißt, Ökologie und Öko-nomie sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich her-vorragend.Ich begrüße – auch das wurde bereits genannt –, dassdie Bundesregierung den Prozess der Zertifizierung vonForstbetrieben mit anerkannten ökologischen Gütesiegelnunterstützt und begleitet.Lassen Sie mich abschließend festhalten: Wir könnennicht länger ignorieren, dass Umweltschutz heute unbe-dingt erforderlich ist. Er kostet einerseits Geld, er schafftandererseits aber auch Arbeitsplätze. Versäumter Umwelt-schutz, meine Damen und Herren, wird morgen unbezahl-bar und kann übermorgen sogar lebensbedrohlich sein,weil er unsere Lebensgrundlagen zerstört. Der Zustand desWaldes zeigt uns sehr deutlich, wie die Situation ist.Vielen Dank.
Nun hat Herr Kollege
Albert Deß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Welche Bedeutung der Wald beider rot-grünen Bundesregierung hat, sieht man auch da-ran, dass zum ersten Mal, seit es demokratische Regie-rungen in Deutschland gibt, im zuständigen Ministeriumder Zusatz „Forsten“ gestrichen worden ist.
Durch die Debatte über den jährlichen Waldzustandsberichterhalten wir die Möglichkeit, auf die nationale und interna-tionale Bedeutung eines gesunden Waldes hinzuweisen.Fast ein Drittel unseres Landes ist mit Wald bewachsen.Durch die Aufforstung weiterer Flächen nimmt – im Ge-gensatz zu anderen Ländern, wo riesige Waldflächen gero-det werden – in Deutschland die Waldfläche zu.
– Eben. – Allein in Bayern und Baden-Württemberg wur-den in den vergangenen zehn Jahren über 15 000 Hektarneue Waldflächen, vor allem im Privatwald, geschaffen.Der Aufwuchs von einem Festmeter Holz entzieht der At-mosphäre 1 Tonne Kohlendioxid. Wird Holz nach seinemAufwuchs zum Beispiel beim Bau verwendet, bleibt die-ses CO2 für lange Zeit gebunden. Der vermehrte Einsatzvon Holz in den verschiedensten Bereichen, verbundenmit einer sinnvollen Waldwirtschaft, gibt uns die Mög-lichkeit, eine bessere CO2-Bilanz zu erreichen.
Wir sind gut beraten, das Thema Waldzustand sachlichzu diskutieren. Das war in der Vergangenheit nicht immerder Fall.
Im Waldzustandsbericht der rot-grünen Bundesregierungheißt es:Das Anfang der 80er-Jahre angesichts der totenWaldbestände im Erzgebirge insbesondere von denMedien und einigen Wissenschaftlern prognosti-zierte großflächige „Waldsterben“ ist nicht eingetre-ten.
Es waren jedoch nicht nur bestimmte Medien und Wis-senschaftler, die Anfang der 80er-Jahre das Waldsterbenangekündigt haben. Es gab fast keine Veranstaltung derGrünen, in der nicht über das Thema Waldsterben gespro-chen wurde. Gott sei Dank hat sich die Situation andersentwickelt. Ich bin froh, dass sich die Waldbesitzer vondieser Panikmache nicht haben entmutigen lassen und diePflege ihrer angeblich hoffnungslos erkrankten Wäldernicht aufgegeben haben.
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Christel Deichmann15426
Sie haben trotz der grünen Panikmache weiter in die Wäl-der investiert. Damit haben sie einen großen Beitrag dazugeleistet, dass die Situation unseres Waldes trotz negati-ver Umwelteinflüsse nicht wesentlich schlechter gewor-den ist.Unser Dank gilt deshalb den Waldbauern und denForstbesitzern, die unseren Wald und unsere Umweltdurch unermüdliche Arbeit erhalten und somit in unsereZukunft investiert haben. Es sind die Waldarbeiter und dieFörster, die die schwere Waldarbeit ausführen und unse-ren Wald hegen und pflegen.
Dafür müssen wir uns im Deutschen Bundestag einmalbei ihnen bedanken.
Um die Schadstoffbelastung für unsere Wälder weiterzu reduzieren, müssen aus dem diesjährigen Waldzu-standsbericht die richtigen Konsequenzen gezogen werden.Die bisher erfolgreichen Maßnahmen müssen fortgesetztund geeignete neue eingeführt werden. Eine interessanteAussage aus dem Waldzustandsbericht der rot-grünen Bun-desregierung – Peter Bleser hat es erwähnt – nehme ich zumAnlass, um auf die Leistungen der früheren CDU/CSU-F.D.P.-Koalition hinzuweisen. Dort heißt es:Die beobachteten Waldschäden führten zu raschempolitischem Handeln auf nationaler und internatio-naler Ebene: ...Rot-Grün sagt der ehemaligen Bundesregierung damitvielen Dank!
Mit den von der früheren Bundesregierung getroffenenEntscheidungen wurde eine ausschlaggebende Weichen-stellung zur Senkung des Schadstoffausstoßes und damitzu verbessertem Umweltschutz vorgenommen. DieseMaßnahmen kommen heute in ihrer Langzeitwirkung un-seren Wäldern und damit uns allen zugute. Rot-Grün hatzur Verbesserung des Waldzustandes bisher keinen ver-gleichbaren Beitrag geleistet,
nicht im Bund, wo Sie erst seit gut zwei Jahren regieren,und auch nicht in den Ländern, in denen Sie seit langemRegierungsverantwortung tragen.Das Einzige, was Rot-Grün beherrscht, sind großeSprüche, schrille Töne, medienwirksame Schlagworteund Belastungen für unsere Bürger wie die so genannteÖkosteuer, die mit Ökologie nichts zu tun hat.
Diese Aussage hat eine grüne Kollegin aus dem Bayeri-schen Landtag erst vor kurzem öffentlich bestätigt.Die neue Verbraucherschutzministerin und der Bun-deskanzler sind sich einig: Eine leistungsbezogene Land-wirtschaft wird an den Pranger gestellt. Der Bundes-kanzler spricht von Agrarfabriken, wobei er bis heutenicht definiert hat, was er darunter versteht. Anscheinendweiß er es selbst nicht. Es ist wohl das erklärte Ziel vonRot-Grün, dass die jetzige Landwirtschaft auf die Ankla-gebank gesetzt wird.Die rot-grüne Gleichung „Hohe Leistung ist umwelt-schädlich, niedrige Leistung ist umweltfreundlich“ wirdim eigenen Waldzustandsbericht widerlegt. Zum ThemaLandwirtschaft und Umweltbelastung heißt es – ich zi-tiere aus dem Waldzustandsbericht –:Vor allem aus ökonomischen Gründen auf eine Leis-tungssteigerung gerichtete Fütterung und Manage-ment haben auch positive ökologische Effekte. Sokonnte die Milchleistung von 1990 bis 1999 um20 Prozent erhöht werden, gleichzeitig wurde jedochdie N-Ausscheidung je Kilogramm Milch um12 Prozent gesenkt.Dies ist eine interessante Aussage. Sie bedeutet, dassdie jetzige Landwirtschaft zum Beispiel durch die Leis-tungssteigerungen in der Milchviehhaltung umwelt-freundlicher als früher produziert. Da die Stickstoffbelas-tung ein wichtiger Faktor bei der Schädigung unsererWälder ist, brauchen wir eine Landwirtschaft, die weni-ger Stickstoffbelastung produziert. Es handelt sich umeinen aktiven Beitrag zum Schutz unserer Wälder, bei ei-ner um 12 Prozent höheren Milchleistung eine geringereStickstoffbelastung zu erreichen.
Was will die neue Ministerin eigentlich? Will sie eineLandwirtschaft, die Umweltbelastungen durch Leistungs-steigerungen senkt, oder eine Landwirtschaft, die wiederzu höheren Umweltbelastungen führt? Frau Künast sollteeinmal die Berichte ihrer eigenen Regierung lesen, bevorsie so massenhaft Unsinn erzählt.
Im Unterschied zur rot-grünen Sprücheklopfereiwurde in Bayern ein Stickstoffprogramm zur Absenkungder Stickoxidemissionen aufgelegt. Von 1996 bis heutewurden Fördermittel in Höhe von mehr als 100 Millio-nen DM und über 15 Millionen DM an zinsverbilligtenDarlehen für die Anschaffung moderner Ausbringungs-technik für landwirtschaftliche Wirtschaftsdünger ausge-geben. Dadurch werden Ammoniakemissionen in Höhevon jährlich 40 000 Tonnen vermieden. Welches rot bzw.rot-grün geführte Bundesland kann ein solches Förder-programm vorweisen, das nicht nur der Umwelt und demWald, sondern auch jedem Einzelnen von uns zugutekommt? Fehlanzeige im rot-grünen Bereich.
Die meisten Kraftwerke in Bayern und Baden-Würt-temberg wurden schon in den 70er-Jahren mit moderner
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Albert Deß15427
Umwelttechnik ausgestattet. Zu dieser Zeit gab es diegrüne Partei noch gar nicht. Heute tut man so, als obUmweltschutz erst von der grünen Bewegung entdecktwurde.
Das Märchen wird immer wieder erzählt.
In keinem rot-grün regierten Bundesland wurde derSchadstoffausstoß so stark zurückgefahren wie in densüddeutschen Bundesländern, in denen die Union in derRegierungsverantwortung steht. In diesem Sinne mussUmweltpolitik betrieben werden.
Für eine solche Umweltpolitik, die mit den und nicht ge-gen die Bauern durchgeführt wird, tritt die CDU/CSU-Fraktion ein. Wir werden nicht zulassen, dass die neueAgrar- und Verbraucherschutzministerin die Land- undForstwirtschaft auf die Anklagebank setzt. Unsere Bauernund Bäuerinnen und unsere Forstwirte praktizierentatsächlich Umweltpolitik.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nun erteile ich dem
Parlamentarischen Staatssekretär Matthias Berninger das
Wort.
Ma
Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Es ist in der Tat richtig, dass das neue Ministe-rium den Namen Ministerium für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft trägt. „Forsten“ ist in die-sem Namen weggefallen. Ich kann Ihnen aber versichern,dass uns der Wald nach wie vor sehr am Herzen liegt. Wirbrauchen ihn nicht im Namen eines Ministeriums, um da-ran erinnert zu werden. Das möchte ich Ihnen ganz deut-lich sagen.
Ein Drittel der Fläche Deutschlands ist bewaldet. Ichkönnte mir vorstellen, dass es noch mehr wird. Ich binfroh, dass die Holzmenge im Wald insgesamt nicht zurück-geht, sondern eher zunimmt. Das Problem des Waldster-bens – das ist hier von allen Rednern gesagt worden – ha-ben wir aber noch nicht in den Griff bekommen.In der letzten Stunde habe ich hier eine etwas absurdeDebatte mitbekommen. Sie ist insofern absurd, wenn manbedenkt, dass es in den 80er-Jahren eines massiven öf-fentlichen Drucks bedurfte, um die von Helmut Kohl ge-führte Bundesregierung zum Handeln zu veranlassen.
Es ist nicht so, dass Sie auf die Idee gekommen sind, Um-weltpolitik zu betreiben. Ich kann mich gut daran erin-nern, da es die Zeit war, in der ich anfing, mich für Poli-tik zu interessieren:
Menschen, die auf Waldsterben und ähnliche Problemehingewiesen haben, wurden diffamiert. Sie wurden vonder Bundesregierung, die Sie mitgetragen haben, in eineEcke gestellt. Sie hätten Ihre Reden über eine vernünftigeUmweltpolitik, die Sie heute gehalten haben, nicht haltenkönnen, wenn Ihnen die Öffentlichkeit nicht massiv Feuerunterm Hintern gemacht hätte.
Wir haben Erfolge – unter anderem dank des techni-schen Umweltschutzes – erzielen können, auf die wir allestolz sein können. Der Schwefel ist heute nicht mehr ein sogroßes Problem wie in den 80er-Jahren. Hätte es die deut-sche Einheit nicht gegeben, wäre der Wald in Deutschlandin einem erheblich schlechteren Zustand. Wir sollten frohdarüber sein, dass es die deutsche Einheit gab
und dass wir insgesamt eine Verbesserung der Luftqualitäterreicht haben.
Diese Entwicklung beruht nicht einseitig auf einererfolgreichen Politik. Sie wissen auch, dass für unsere Er-folge beim Klimaschutz und beim Rückgang der Emis-sionen ein hoher Preis in den neuen Ländern gezahltwurde: Die Anlagen wurden einfach abgestellt, dieSchornsteine rauchten nicht weiter und die Menschenwaren arbeitslos. Diese Tatsache muss man fairerweiseerwähnen. Nachhaltige Politik bedeutet eben auch, diesnicht zu vergessen. Die neue Entwicklung war nicht nureinseitig ein Erfolg Ihrer Politik, sondern sie hing auchmit den Veränderungen nach der Wende auf dem Gebietder ehemaligen DDR zusammen.Das Landwirtschaftsministerium hat sich in der Ver-gangenheit, vor allem während Ihrer Regierungszeit, mitdem Problem des Stickstoffes, das heute unser Hauptpro-blem ist, nicht in dem Maße beschäftigt, wie es nötig ge-wesen wäre.
Die Agrarwende wird einen entscheidenden Beitrag dazuleisten,
dass wir zusätzliche Strategien gegen das Waldsterbenentwickeln.
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Albert Deß15428
Warum? Herr Kollege Deß, das Problem, das wir in derLandwirtschaft haben, ist, dass ein Großteil unsererTierproduktion darauf beruht, dass wir Tierfutter – bei-spielsweise Soja – importieren.
Ein Teil des so importierten Stickstoffs gelangt insFleisch und wird hier emittiert. Das ist ein großes Pro-blem. Die Agrarwende wird zeigen, ob wir auch in Zu-kunft noch auf Eiweißimporte angewiesen sind – womög-lich auf gentechnisch verändertes Soja – oder ob wir in derLage sind, Grünland wieder zu dem zu machen, was eseinmal war, nämlich zu einem Eiweißlieferanten für dieLandwirtschaft in Europa.
Dafür setzt sich meine Ministerin ein. Sie sollten sie darinunterstützen, statt hier herumzumäkeln.
Herr Kollege Deß, es geht nicht um die Frage großeoder kleine Betriebe.
Es geht vielmehr um die Frage, wie landwirtschaftlicheProduktion auf einem qualitativ hohen Standard erfolgenkann.
Diese neue Politik der Bundesregierung ist in der Regie-rungserklärung sehr klar dargestellt worden.Ich will Ihnen ein Beispiel für eine gelungene Agrar-wende schildern.
Dieses Beispiel finden Sie im Weser-Ems-Gebiet. Derniedersächsische Landwirtschaftsminister, Uwe Bartels,besitzt jetzt den Mut, zu sagen – das ist die Agrarwende –,dass die Massentierhaltung, die eine Gülleproduktion undeine Stickstoffemission in nicht erträglichem Ausmaß zurFolge hat, der Vergangenheit angehört und dass in Zu-kunft in Gebieten wie dem Weser-Ems-Gebiet eine neueLandwirtschaftspolitik gemacht wird. Diese konstruktivePolitik wurde gestern von einem Politiker aus Nieder-sachsen angekündigt.
Dagegen wirft Herr Stoiber in seiner ganzen Hilflosigkeitmeiner Ministerin vor, sie mache Reichsnährstandspo-litik.
Herr Kollege, akzep-
tieren Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Deß?
Mat
Selbstverständlich. Ich akzeptiere sie
gerne.
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Herr Staatssekretär
Berninger, ich sehe überhaupt keinen Dissens in diesem
Punkt. Auch wir treten dafür ein, dass mehr Eiweiß-
pflanzen in Europa angebaut werden, damit hier mehr Ei-
weiß produziert wird. Meine Frage lautet daher: Sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass unter der Verant-
wortung der rot-grünen Bundesregierung eine
Agenda 2000 beschlossen wurde, die zur Folge hat, dass
die Prämien für den Anbau von Eiweißpflanzen gesenkt
wurden, was wiederum dazu führt, dass seitdem weniger
Eiweißpflanzen angebaut werden?
Ma
Herr Kollege Deß spricht die Agenda 2000 an.Ich bin selbstverständlich bereit, das zur Kenntnis zu neh-men. Sie wissen aber, dass im Rahmen der Agenda-Ver-handlungen unter der deutschen Präsidentschaft Kompro-misse mit verschiedenen Ländern geschlossen
und an verschiedenen Stellen, zum Beispiel bei der Milch-quote, Zugeständnisse an andere Länder gemacht werdenmussten.Diese Verhandlungen fanden 1999 statt. Ich will Ihnenaber sagen, was im Jahr 2001 passiert; denn das interes-siert die Menschen. Renate Künast setzt sich in Europadafür ein, dass der Eiweißpflanzenanbau auf denStilllegungsflächen – egal, ob es sich um ökologischeoder um konventionelle Produktion handelt – zugelassenwird. Das ist eine konkrete Politik für die Grünfläche.Diese Einsicht haben wir seit der BSE-Krise. Die von Ih-nen geführte Diskussion darüber, was vorher war, halteich für relativ albern, weil Sie für eine über Jahre hinwegverfehlte Umweltpolitik die Verantwortung tragen. Siesollten bereit sein, das endlich zuzugeben.
Ein weiterer Punkt hat mich stutzig gemacht. Die Kol-legin Sehn hat gesagt, keiner könne nachweisen, ob essich tatsächlich um eine Klimakatastrophe handelt.
Ich empfehle allen, die das behaupten, einmal in denSchwarzwald zu gehen und sich anzuschauen, was dasOrkantief „Lothar“ dort angerichtet hat.
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Parl. Staatssekretär Matthias Berninger15429
Dort ist ein Schaden in ungeheurem Ausmaß entstanden.Die Forstwirte und auch die Wissenschaftler sagen sehrklar, dass das mit den globalen Klimaveränderungen zu-sammenhängt.Deswegen wird sich die Waldpolitik der Bundesregie-rung gerade im nächsten Jahr, wenn wir zehn Jahre Riofeiern, daran orientieren, eine moderne Klimaschutzpoli-tik zu machen.
Diese moderne Klimaschutzpolitik ist eine der Grundvo-raussetzungen dafür, dass wir die Situation des Waldes inDeutschland, aber auch der Wälder weltweit verbessern.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ma
Selbstverständlich.
Bitte sehr, Herr Kol-
lege Hornung.
Herr Staatssekretär,
Sie haben gerade zu Recht auf die riesigen Schäden durch
den Sturm „Lothar“ im Schwarzwald und in anderen
Regionen hingewiesen. Können Sie dem Plenum sagen,
wie viel Unterstützung die Bundesregierung den dortigen
Waldbauern gegeben hat, und können Sie dem Plenum
auch sagen, in welcher Größenordnung eine Firma, die
sich ähnlich nennt, nämlich Holzmann, fast gleichzeitig
Geld bekommen hat?
Nachdem ich heute der Presse entnommen haben, dass
diese Firma wieder 100Millionen DM Schulden hat, kön-
nen Sie mir vielleicht sagen, welchen Stellenwert Sie dem
im Zusammenhang mit dem, was Sie hier erzählen, ein-
räumen.
Ma
Herr Kollege, ich kann Ihnen selbstver-
ständlich sagen, was die Bundesregierung im letzten Jahr
gemacht hat: Sie hat sich, weil die Situation in Baden-
Württemberg so schwierig war, weil die Kahlschläge so
massiv waren, weil das Holz im Wald lag, weil die Gefahr
durch Borkenkäfer und Ähnliches groß war, entschlossen,
über den Plan hinaus Mittel zur Verfügung zu stellen.
– Soll ich die Frage jetzt beantworten oder nicht?
Ich weiß, dass wir dafür zusätzlich 30 Millionen DM be-
reitgestellt haben;
denn ich habe im Haushaltsausschuss gesessen und das
durchgesetzt, lieber Herr Kollege.
Ich will aber ausführen, dass die Bundesregierung
hierzu bereit war, obwohl Baden-Württemberg die Last
eigentlich hätte alleine tragen müssen. Wir haben gesagt:
Die Krise ist so groß, dass wir trotzdem helfen. Sie soll-
ten froh sein, dass diese Hilfe zustande gekommen ist und
wir nicht Vergleiche zum Beispiel mit Holzmann
oder anderen gezogen haben, die nun wirklich hinken und
jeder Beschreibung spotten. Das ist der entscheidende
Punkt.
Schließlich stand beispielsweise der von mir nicht
sehr geliebte hessische Ministerpräsident Koch in der ers-
ten Reihe, als die Forderung gestellt wurde, man müsse
Holzmann dringend helfen. Das bitte ich hier einmal zur
Kenntnis zu nehmen. Sonst mögen Sie doch den Koch im-
mer so gerne, also sollten Sie auch das zur Kenntnis neh-
men.
Die Biomasseverordnung ist angesprochen worden.
Sie wird dem Wald helfen, weil wir aus dem Wald zu-
sätzlich Energie gewinnen können, und sie wird uns
ebenso hinsichtlich der nachwachsenden Rohstoffe und
der Verringerung der Ammoniakemission helfen.
Das sind die konkreten Maßnahmen, die wir durchge-
setzt haben und zu denen Sie nie in der Lage waren. Un-
ser Ministerium wird den Wald sowohl in wirtschaftlicher
als auch in ökologischer Hinsicht sehr ernst nehmen. Sie
können sicher sein: Diese Bundesregierung wird, egal ob
wir über die Verkehrswende oder über die Ökosteuer re-
den, nichts unversucht lassen, Politik zu machen, die am
Ende des Tages dem Wald nutzt. Denn – das ist eine alte
Weisheit – was dem Wald nutzt, das nutzt auch uns Men-
schen. Das leitet uns.
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Druck-sache 14/4235. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
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Parl. Staatssekretär Matthias Berninger15430
Beschlussempfehlung die Kenntnisnahme des Waldzu-standsberichts 1999 auf Drucksache 14/3090. Wer stimmtfür die Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Wirhaben das also alle zur Kenntnis genommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss die Ablehnung des Entschließungsantrages derFraktion der CDU/CSU zum Waldzustandsbericht 1999,Drucksache 14/3095. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/4967 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschlie-ßungsantrag auf Drucksache 14/5560 soll zur federfüh-renden Beratung an den Ausschuss für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung an denAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit überwiesen werden. – Damit sind Sie einverstanden.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt5 auf:4. Beratung des Antrags der Abgeordneten DietrichAustermann, Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, PaulBreuer, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUNachtragshaushalt zurKorrektur derEntwick-lung der Bundesfinanzen vorlegen– Drucksache 14/5449 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenVerteidigungsausschussZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSUSofortmaßnahmen zur Verbesserung desVerbraucherschutzes und zur Unterstützungder landwirtschaftlichen Betriebe erforderlich– Drucksache 14/5544 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für GesundheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenDietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Es ist ein ziemliches Un-ding, dass das Parlament über sein Königsrecht, das Haus-haltsrecht, diskutiert und der Finanzminister nichtanwesend ist. Ich halte das für empörend.
Es wäre durchaus angebracht, darüber zu entscheiden, obman den Minister hierher zitiert. In den letzten acht Wo-chen haben sich nämlich Entscheidungen ergeben, die beiden Bürgern und Betrieben Klarheit darüber erfordern,wie es mit der Finanz- und Haushaltspolitik weitergeht.Ich nehme an, Minister Eichel ist wieder einmal mitder Flugbereitschaft unterwegs, wahrscheinlich im hessi-schen Wahlkampf.
– Es mag auch sein, mit dem BGS.
– Bei dieser Gelegenheit, Herr Kollege Diller, möchte ichdaran erinnern, dass ich vor 14 Tagen danach gefragthabe, wann er die angekündigten Listen für die angebli-chen Dienstflüge dem Rechnungshof vorlegen wird.Meine Damen und Herren, in der Haushaltsdebatte am28. November letzten Jahres habe ich für die Union ge-sagt, Sie „haben durch falsche wirtschaftspolitische Wei-chenstellungen die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen verschlechtert“. Weiter:Infolgedessen trüben sich die Wachstumsaussichtenfür das kommende Jahr ein. ... Bei dem vorgelegtenHaushalt stimmt doch alles hinten und vorne nicht ...Um die Ausgaben 2001 künstlich herunterzurechnen,hat man versucht, ein paar Ausgabepositionen einfachwegzulassen. Dies ist eine Missachtung des Parlaments,eine Missachtung der Entscheidungshoheit, die wir in die-ser Frage haben, und dies zeigt, dass nicht Klarheit undWahrheit herrschen. Man muss hierzu deutlich sagen: DerBundesfinanzminister ist aufgefordert, jetzt einen Nach-tragshaushalt vorzulegen, in dem Einnahmen und Aus-gaben gegenübergestellt werden.
Alle Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass in die-sem Jahr gewaltige Löcher im Bundeshaushalt klaffen.Das ist auch nicht zu bestreiten. Herr Kollege Metzger hatselbst von mindestens 6 Milliarden DM gesprochen. Nunsagt der Kollege Metzger gelegentlich Zutreffendes,manchmal sogar ein bisschen Konservatives; aber wennes dann darum geht, dass entschieden wird, ist er meistensin den Büschen.
Hier wäre er jetzt gefordert, mit uns zusammen dafür zusorgen, dass wir Ordnung in die Bundesfinanzen bringen.
Dass der Bundesfinanzminister das Parlament nichtachtet, ist schon bei den UMTS-Lizenzen deutlich ge-worden. Hier ist immerhin ein Betrag von 100 Milliar-den DM am Parlament vorbeigeführt worden. Heute mussman sagen, dass das Ganze ein Flop war; das ist jedenfallsdie vorherrschende Meinung der Unternehmen, die Li-zenzen gekauft haben, und die vorherrschende Meinungin der Wirtschaft. Man muss sich einmal fragen, wie die250 Milliarden DM – 100 Milliarden DM für Lizenzaus-gaben und 150 Milliarden DM für Investitionen – so
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs15431
erbracht werden können, dass sich das Ganze hinterherauch rechnet.Der Finanzminister ist im letzten Jahr beim Telekom-Verkauf an der Frankfurter Börse stolz wie ein Gockelherumspaziert. Heute schaut er als der nach wie vor größteTelekom-Aktionär wie auch Millionen Kleinaktionäre aufden dramatisch gesunkenen Kurs der Aktie. Ketzerischkönnte man sagen, Eichel habe die Bundesschulden mitden Vermögensverlusten der Kleinanleger finanziert.
Meine Damen und Herren, am Parlament vorbei laufenauch manche anderen Privatisierungseinnahmen.Wahr-scheinlich weiß noch nicht einmal jeder Abgeordnete derKoalition, wie viel Geld aus den Verkäufen von Post undTelekom „gebunkert“ wird. Die genaue Zahl der Erlöseaus der Privatisierung der Bundesdruckerei ist nicht be-kannt. Eine genaue Auskunft über die Einnahmen aus demmittelstandsfeindlichen Verkauf der Ausgleichsbank undaus dem Verkauf der DEG wird uns verweigert. All diesbestätigt, dass der Finanzminister in einer Situation, dieauf der einen Seite dramatisch ist und auf der anderenSeite durch ein erhebliches Maß an Einnahmen gekenn-zeichnet ist, die er der Vorgängerregierung verdankt, inbeträchtlichem Umfange über Geld verfügt.Der Bundesfinanzminister trickst ferner bilanztech-nisch herum. Ein paar Ausgaben, die bereits bei den Haus-haltsberatungen absehbar waren, sind nicht in den Haus-haltsplan aufgenommen worden.Ich rede jetzt gar nicht über die tatsächliche Situationbei den Steuereinnahmen. Inzwischen weiß jeder Bür-ger, dass die „größte Steuerreform aller Zeiten“ sich beiihm im Portemonnaie kaum bemerkbar gemacht hat.
Sie wurde als eine Jahrhundertreform verkauft. Sie war esübrigens nicht. Es gab eine bessere. Die Reform vonGerhard Stoltenberg war wesentlich besser.
Sie wurde als die Jahrhundertreform verkauft, aber sieist zurzeit in den Portemonnaies der Bürger nicht zuspüren, obwohl – was man sich auf der Zunge zergehenlassen muss – der Finanzminister im letzten Jahr 47 Mil-liarden DM mehr an Steuern eingenommen hat als imJahre 1998. Er wird auch in diesem Jahr trotz der angeb-lich größten Steuerreform mindestens 40 Milliarden DMmehr Steuern einnehmen als zu unserer Zeit. Das ist eintrauriger Rekord, denn das bedeutet auf der anderen SeiteBelastung von Bürgern und Betrieben in einem unerhör-ten Ausmaß.Meine Damen und Herren, die Bürger sind verunsi-chert über die Haushalts- und Finanzpolitik,
durch die Wackelpuddingpolitik des Bundeskanzlers undseines Finanzministers.
– Nein, das ist keine Panikmache. Das drückt sich zumBeispiel konkret in den Wachstumserwartungen aus, HerrKollege Wagner, die deutlich nach unten korrigiert wer-den müssen,
was wir Ihnen vorhergesagt haben.Eine Politik, die auf der einen Seite die Wirtschaft, dieBürger und die Betriebe durch Ökosteuer, durch Energie-steuer und durch andere hohe Ausgaben zusätzlich belas-tet und auf der anderen Seite in geringerem Maße bei denSteuern entlastet, kann doch nicht wachstumsförderlichsein. Ich glaube, das ist ziemlich klar.
Sie reden in Ihrer Koalition durcheinander. Der einesagt, die Kindergelderhöhung kommt. Der andere redetvom höheren Betreuungsbetrag. Dann stellt man die Kin-dergelderhöhung wieder einmal infrage. Dann wird ge-sagt: Die Ökosteuer ist zu labil, deswegen müssen wir dieMehrwertsteuer um zwei Punkte erhöhen. – Das war übri-gens 1998 ein interessantes Wahlkampfthema. – Dannspekuliert man in anderen Bereichen. Die Bürger wollenKlarheit haben. Hören Sie mit der Verunsicherung derMenschen auf.Um das gleich aufzunehmen: Wenn die Behauptungkommt, Sie hätten mit der Förderung der Familien ersteinmal angefangen, dann halte ich entgegen: Sie werdendas nicht einholen. Zu Ihrer Zeit wurden Kinderfreibe-träge abgeschafft. Wir haben das korrigiert und das Kin-dergeld für das erste Kind immerhin in einem Riesen-schritt von 50 auf 220 DM pro Monat erhöht.
Meine Damen und Herren, das Parlament wird von die-ser Regierung und von der Koalitionsmehrheit nicht ernstgenommen, wie sie gleichzeitig die Aufgabe, die sie imParlament hat, nicht ernst nimmt. Das drückt sich darinaus, dass die Mehrheit abgelehnt hat, den FinanzministerEichel und Herrn Scharping im Haushaltsausschuss zuhören, sie einzubestellen, um sie zur Finanzsituation zubefragen und insbesondere Auskunft zu den Bundeswehr-finanzen zu erhalten. Gestern im Verteidigungsausschussergab sich genau das gleiche Bild. Die Regierung meidetdas Parlament und das ist unparlamentarisch.
Dabei wird die Realität ignoriert. Sie können das an ei-nem Beispiel sehen. Ich will gar nicht zitieren, was derVorsitzende des Bundeswehr-Verbandes über den Vertei-digungsminister sagt.
– Gut, Herr Kollege Roth, dann will ich das tun: derschwächste Verteidigungsminister aller Zeiten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Dietrich Austermann15432
Daran hat der Finanzminister einen erheblichen Anteil,der dem Verteidigungsminister in diesem Jahr 2 Milliar-den DM an notwendigen Mitteln verweigert, sodass manheute feststellen muss: Die Bundeswehr ist pleite. Wich-tige Ausgaben der Instandhaltung können nicht geleistetwerden.Meine Damen und Herren, wir sagen: Wir brauchen ei-nen Nachtragshaushalt, um Ausgaben und Einnahmenwieder in die Buchhaltung des Bundes aufzunehmen.Dafür gibt es klare Gründe:Erstens. Das wirtschaftliche Wachstum fällt niedrigeraus. Das hat Auswirkungen auf die Steuereinnahmen.Wenn man wie der Bundeskanzler von einem Wachstumvon 2,8 Prozent Wirtschaftswachstum ausgeht, was völligutopisch ist, aber eher mit einem Wachstum von nur2 Prozent rechnen muss, dann ist klar, dass gehandelt wer-den muss.Es ist ja auch interessant, welche Argumente bei die-sem Thema hier vertreten werden. Wenn das Wachstumgut läuft wie im letzten Jahr, dann lag es an der Bundes-regierung; wenn es – wie in diesem Jahr ersichtlich –schlecht läuft, dann waren es die Amerikaner oder wersonst auch immer; vielleicht waren es auch die Institute.
Nein, es ist die Regierung, die durch Energieverteue-rung, unter anderem durch die Ökosteuer, der Volkswirt-schaft Lasten von 65 Milliarden DM auferlegt.
Dann braucht man sich nicht zu wundern, dass die Steu-erreformentlastung nicht greift. Wenn Sie sich heute dieSpritpreise ansehen, dann stellen Sie fest, dass von demMotto „Freie Fahrt für freie Bürger“ schon lange keineRede mehr ist, sondern eher von dem Slogan „Freie Fahrtfür reiche Bürger“.Sie errichten ständig neue Hürden für Investitionen,bei der Mitbestimmung, bei der Teilzeitarbeit, bei denAfA-Tabellen, bei der Energiebesteuerung, bei befristetenArbeitsverhältnissen und bei vielen anderen Dingen inden Betrieben und beim Mittelstand und bewirken damiteine zusätzliche Kostenbelastung.Ich habe gesagt: Wir müssen auflisten, was an Haus-haltsdefiziten zurzeit da ist, was nicht verzeichnet ist. Ichhabe das Wachstum und damit die Steuereinnahmen an-gesprochen. Ich nenne die fehlenden 2 Milliarden DM beider Bundeswehr. Ich verweise darüber hinaus darauf, dassbei der Telekom 400Millionen zu zahlen sind, und auf dasEXPO-Defizit. Die entsprechenden Mittel wurden HerrnGabriel schon im letzten September zugesagt. Dann kanndoch kein Mensch davon ausgehen, dass das Ganze un-vorhergesehen und deshalb über Haushaltssperren zu be-wältigen ist. Nein, alles das, was jetzt auf dem Tisch liegt,was an zusätzlichen Ausgaben da ist, war vor Abschlussdes Haushalts bekannt.Der Kollege Hollerith wird zum Thema BSE Stellungnehmen. Wir haben hier am 27. November den Antrag ge-stellt, ein Sofortprogramm für die Landwirtschaft zu ini-tiieren. Das ist von Ihnen abgelehnt worden.
Das heißt, bei den Haushaltsberatungen war bekannt: Hierkommt eine Belastung auf den Bund zu.
Das hat man damals ignoriert. Das kann man jetzt nichtmit überplanmäßigen Ausgaben bewältigen; es muss einNachtragshaushalt her.Ich weiß natürlich, warum Sie das scheuen,
nämlich weil es im Ergebnis dazu führt, dass zugegebenwerden muss, Herr Kollege Poß, dass in diesem Jahr, wieim letzten Jahr und im Jahre 1999, die Ausgaben gestie-gen sind. Ein Finanzminister, der die Ausgaben nicht imGriff hat, ist aber kein guter Finanzminister. Wenn also dieAusgaben nur deshalb nach unten gerechnet werden, da-mit die Steigerung bei den Ausgaben nicht erkennbar ist,dann ist das Trickserei und hat mit Haushaltswahrheit undHaushaltsklarheit nichts zu tun.
Es gibt weitere Belastungen, die bisher im Haushaltnicht aufgeführt worden sind.
– Ich kann Sie leider nicht verstehen, Frau Kollegin Weg-ner, aber ich nehme an, Sie wollten mir zustimmen.Ich nenne die Belastung aus der Rentenreform, diesich in den nächsten Jahren fortsetzen wird. Ich meine dieGrundsicherung, die die Kommunen trifft. Ich nenne auchnoch das Kindergeld und die Privatvorsorge bei derRente. Auch hier werden zusätzliche Mittel gebraucht.Ich nenne den Transrapid. Auch hier war erkennbar,dass es zusätzliche Belastungen geben würde, und zwar inHöhe von 400 Millionen DM. Bisher sind sie nicht ver-bucht.
Ein ganz wichtiger Punkt ist die Arbeitslosenhilfe. Sieist im Bundeshaushalt in den letzten zwei Jahren mit3,5 Milliarden DM unterfinanziert gewesen. Auch in die-sem Jahr ist erkennbar, dass die dafür vorgesehenen Mit-tel nicht ausreichen. Frau Kollegin Wegner, Sie wissenganz genau, dass wir im letzten Jahr 3,5 Milliarden DMzusätzlich bereitstellen mussten, weil Sie die Arbeitslo-sigkeit geschönt und zu niedrige Beträge angesetzt haben.Das findet in diesem Jahr wieder statt und darauf weisenwir die Bürger hin. Wir sagen: Der Hans Eichel ist in die-ser Frage kein guter Verwalter der Bundesfinanzen. Erschwimmt auf der einen Seite durch Privatisierungserlöseund Steuereinnahmen im Geld, auf der anderen Seitescheut er vor der Wahrheit durch ein klares Bekenntnis zurtatsächlichen Situation bei den Ausgaben zurück.
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Dietrich Austermann15433
Meine Damen und Herren, wir fordern den Finanzmi-nister auf, schnellstmöglich einen Nachtragshaushalt vor-zulegen, um Klarheit und Wahrheit bei den Bundesfinan-zen wieder herzustellen, der Wahrheit zum Durchbruch zuverhelfen. Wir lassen nicht zu, dass den Bürgern vor denWahlen im Süden ein Trugbild über die tatsächliche Si-tuation der Staatsfinanzen und der Wirtschaft vorgegau-kelt wird. Deswegen fordern wir Sie auf, wenn Sie daswichtigste Parlamentsrecht, das Budgetrecht, ernst neh-men: Stimmen Sie mit uns dafür, dass ein Nachtragshaus-halt vorgelegt wird.Herzlichen Dank.
Für die
Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatsse-
kretär Karl Diller das Wort.
K
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Haushaltspolitiker soll eines auszeich-nen, nämlich Seriosität gegenüber Zahlen und Fakten,insbesondere Seriosität gegenüber den Mitmenschen. Alldas lässt Herr Austermann vermissen. Seine Rede warvom ersten bis zum letzten Satz eine Aneinanderreihungvon widerlichen Unterstellungen.
Das begann mit seinem ersten Satz, nämlich seinerKlage über den abwesenden Finanzminister. Wenn er dieWahrheit gesagt hätte, hätte er zugeben müssen, dass aufWunsch der CDU/CSU der Deutsche Bundestag heuteseine Tagesordnung völlig umgestellt hat,
dass man dieses Thema vom Vormittagstermin, der mitHans Eichel möglich gewesen wäre, auf den Nachmittagverlegt hat, und zwar auf Antrag der Fraktion derCDU/CSU. Wir haben das akzeptiert. Sich darüber jetztaufzuregen und sich zu beschweren, das ist nun wirklichdas Letzte.
Dass Herr Austermann mit Unterstellungen arbeitet,sieht man im Übrigen auch bei einem Thema, das seinLieblingsthema ist. Dazu sage ich zu Ihrer Unterrichtung:Das Bundesverteidigungsministerium hat dem Bundes-rechnungshof längst alle notwendigen Listen vorgelegt.
– Zu Ihrer weiteren Unterrichtung: Hans Eichel ist der-zeit auf dem Wege zu einem Landesfinanzminister, umsich mit ihm über das Thema Bund-Länder-Finanzaus-gleich zu unterhalten.
Der vorliegende Antrag der CDU/CSU setzt etwas fort,was wir bereits vor einem Jahr ertragen mussten. Sameprocedure as last year, könnte man also sagen. Denn auchdamals hat die Opposition einen Nachtragshaushalt ge-fordert, weil der Haushalt 2000 angeblich aus dem Ruderlaufe.Im Haushaltsvollzug hat Herr Austermann dann dasThema gewechselt. Plötzlich war nichts mehr davon zuhören, dass alles aus dem Ruder laufe. Vielmehr kam derVorwurf auf, Hans Eichel schwimme im Geld. Anfang Ja-nuar dieses Jahres hat der gleiche Herr Austermann ge-genüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ eine Pro-phetie in die Vergangenheit – nicht in die Zukunft –gewagt, indem er gesagt hat, im abgelaufenen Haushalts-jahr 2000 würden die Ausgaben nach seiner Schätzungum 3 Milliarden DM höher liegen als veranschlagt.Tatsächlich lag der Abschluss des Haushalts 2000 um3 Milliarden DM unter der veranschlagten Neuverschul-dung. Statt 3 Milliarden DM Mehrausgaben, wie vonHerrn Austermann noch Anfang Januar – rückwirkend –prophezeit, hatten wir 800 Millionen DM Minderausga-ben. Das zeigt die Qualität dieses Propheten in Bezug aufden Haushalt.
Herr Fraktionsvorsitzender, Sie sollten sich für diesesThema einen neuen Propheten suchen.Im Übrigen möchte ich auf Folgendes hinweisen: Un-ter Mitwirkung von Herrn Austermann haben CDU/CSUund F.D.P. dem deutschen Volk eine Verschuldung desBundes von 1,5 Billionen DM hinterlassen.
Für diese gigantische Verschuldung, für Ihre Schulden,müssen wir in den laufenden Haushaltsjahren fast80 000 Millionen DM nur an Zinsen zahlen.
Sie haben die Verantwortung dafür zu tragen – die tragenSie heute noch –, dass der Bundeshaushalt finanziell prak-tisch manövrierunfähig war.
Es bedurfte unseres Kraftaktes im Rahmen des Kon-solidierungsprogrammes 2000, aus dieser Haushaltsnot-
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Dietrich Austermann15434
lage herauszukommen. Das schaffen wir nur, indem wirim letzten Jahr wie in diesem Jahr eine strikte Ausgaben-disziplin einhalten
und die Neuverschuldung – so auch in diesem Jahr – he-runterfahren. Dazu gehört auch die Bewirtschaftung derHaushaltsmittel. Nicht jede Mark, die veranschlagt ist,muss auch ausgegeben werden. Darauf werden wir wei-terhin genau achten.Wir haben im laufenden Haushalt unvorhergeseheneund unabweisbare Zusatzbelastungen; das ist richtig.Diese Belastungen sind aber beherrschbar, weil wir an un-serem Konsolidierungsprogramm festhalten.Eines ist klar: Die Grenze der im laufenden Haushalts-jahr auffangbaren Zusatzbelastungen ist nun fast erreicht.Der Bund wird daher keinesfalls über seine Finanzie-rungsverantwortung hinaus weitere Mittel, die im Rah-men der BSE-Krise erforderlich werden, übernehmenkönnen. Als Folgekosten aus der BSE-Krise haben Bundund Länder gemeinsam 2 Milliarden DM kalkuliert. Vondiesem Betrag entfällt nach den bestehenden Finan-zierungsverantwortlichkeiten rund 1 Milliarde DM aufden Bund. Wir sind bereit, diese zu tragen.So leisten wir beispielsweise auf EU-Ebene unserenAnteil. Denn die EU hat vor wenigen Wochen beschlos-sen, einen Nachtragshaushalt in der Größenordnung von1 Milliarde Euro vorzulegen, wofür sie bei uns auf derEinnahmenseite 500 Millionen DM abbuchen wird, umihren Haushalt zu finanzieren. Dies war absolut unvor-hersehbar und unabweisbar. Wir werden diese Min-dereinnahmen im Rahmen der im Einzelplan 60 veran-schlagten Ansätze für die EU-Abführungen auffangen.Außerdem haben wir außerplanmäßige Ausgaben in Höhevon 300 Millionen DM für die BSE-Krise bewilligt.Bei der Unterrichtung des Haushaltsausschusses desDeutschen Bundestages am 7. Februar 2001 über dieseaußerplanmäßigen Ausgaben wurde die BMF-Vorlage imÜbrigen ohne Einschränkung zur Kenntnis genommen.
Deswegen können die jetzt nachträglich erhobenenRechtsbedenken überhaupt nicht nachvollzogen werden.Über die Finanzierung der Restmittel werden zurzeitweitere Gespräche geführt.
Herr Kol-
lege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
K
Bitte sehr.
Bitte
schön, Herr Koppelin.
Herr Staatssekretär, kön-
nen Sie uns noch einmal darstellen, wie Sie nun die fi-
nanzielle Abwicklung der BSE-Krise gestalten wollen?
Sie haben zwar Zahlen genannt und Sie haben gesagt, was
der Bund tragen will. Nun lese ich aber, dass die andere
Finanzexpertin Ihrer Partei, Frau Heide Simonis, sagt,
von den Ländern gebe es keinen Pfennig; denn durch die
Politik des Bundes seien die Kassen der Länder bereits so
gerupft worden, dass sie kein Geld mehr habe. Wie kön-
nen Sie also erwarten, dass die Länder zuzahlen? Wenn
Sie zu einer Einigung kommen, darf ich dann bitte gleich-
zeitig von Ihnen wissen, wann Sie mit dieser Einigung
rechnen?
K
Herr Kollege Koppelin, ich bin gerade da-
bei, das aufzufächern. – Wir haben also 500Millionen DM
dadurch zu leisten, dass die EU einen Nachtragshaushalt
zur Bewältigung der BSE-Krise aufstellt. Da ist – das ist
der erste Punkt – unser Anteil, 500 Millionen DM Steuer-
einnahmen an die EU abzuführen.
Zweiter Punkt: Ich habe Ihnen gerade dargelegt, dass
wir 300 Millionen DM außerplanmäßig bereitstellen, die
den Gesamthaushalt betreffen, und weitere Millionen wer-
den aus dem Bereich des Einzelplans 10 erwirtschaftet.
Im Übrigen möchte ich auf eines hinweisen: Wir gehen
in der Finanzierungsfrage exakt entlang der Verantwort-
lichkeit. Wir tragen das, wofür der Bund verantwortlich
ist. Wir fordern alle anderen auf, im Rahmen ihrer
Verantwortlichkeiten auch die Finanzierungsverantwor-
tung zu übernehmen.
Denn wir haben rasch und entschlossen – –
Herr Kol-
lege Diller, entschuldigen Sie: eine Zusatzfrage des Kol-
legen Koppelin!
K
Okay.
Bitte
schön, Herr Koppelin.
Herr Staatssekretär, ich
habe mich bemüht, Sie sehr sachlich zu fragen, wann Sie
denn mit einer Einigung mit den Ländern rechnen. Ich
habe das Beispiel angesprochen, dass Frau Simonis sagt:
Wir haben kein Geld in der Kasse, wir werden nicht zah-
len. Jetzt möchte ich von Ihnen hören: Wann erwartet die
Bundesregierung, dass sie sich mit den Ländern einigt?
Darf ich auch fragen, wie weit die Finanzierung der
BSE-Krise auch mit der EU abgesprochen ist und was von
da noch kommen wird?
K
Herr Koppelin, Sie wissen aus der Diskus-
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Parl. Staatssekretär Karl Diller15435
sion in dieser Woche im Haushaltsausschuss, dass das vonLand zu Land höchst unterschiedlich gehandhabt wird. Esgibt beispielsweise sogar zwei Länder, nämlich Rhein-land-Pfalz und Baden-Württemberg, die weit mehr zah-len, als in ihrer eigenen Finanzverantwortung steht, diesogar Dinge übernehmen, die eigentlich die Betroffenenin der Wirtschaft tragen müssten.
Von daher denke ich, dass sich die beteiligten Länderauch irgendwann einmal schlüssig werden müssen, aufunser Angebot einzugehen und das zu akzeptieren, waswir bereit sind, überplanmäßig bereitzustellen. Was nichterfolgen darf, Herr Koppelin – darin stimmen Sie mir si-cherlich zu –, ist, dass noch endlos weiter auf dem Rückender Betroffenen geschachert wird. Wir haben unser Ange-bot präzise vorgelegt,
und jetzt sollten alle Beteiligten dem zustimmen.
Auch der Einzelplan des Bundesverteidigungs-ministeriums, Herr Austermann, gibt keinen Anlass, ei-nen Nachtragshaushalt für das Jahr 2001 vorzulegen.
Denn der Herr Bundesverteidigungsminister hat mehr-fach im Haushaltsausschuss und im Verteidigungsaus-schuss des Deutschen Bundestages festgestellt, dass ermit seinem Geld auskommt.
Haushaltsplan und Finanzplan bis 2004 sind im Übri-gen einvernehmlich im Kabinett festgelegt worden. DemBMVg sind zur finanziellen Entlastung eine Reihe vonSondervergünstigungen gewährt worden. Ich erinnere da-ran, dass die eigentlich bei uns etatisierten Sondermittelfür den Osteuropaeinsatz in Höhe von 2 Milliarden DMnun in den Verteidigungshaushalt überführt worden sindund dort im Wesentlichen auch für Investitionen genutztwerden können.
Ich erinnere auch daran, dass die Mehreinnahmen aus derVeräußerung beweglichen und unbeweglichen Vermö-gens bis zu einer Obergrenze von 1 000 Millionen DM indiesem Jahr und in der Größenordnung von 1 200 Milli-onen DM im nächsten Jahr ebenfalls dem Einzelplan Ver-teidigung zur Verfügung gestellt werden, damit Verteidi-gungsinvestitionen weitergeführt werden können – eineungewöhnliche Methode übrigens, die eigentlich wideralle Prinzipien ist, weil sie natürlich irgendwann zu einerVersäulung des Haushalts führen könnte.Das zeigt also, wie großzügig wir in diesem Bereichsind. Im Übrigen kann der Verteidigungsminister die Aus-gaben im Rahmen seiner Bewirtschaftungsmöglichkeitenauffangen.Ich will noch eines aufgreifen, was Herr Austermannangesprochen hat: das Beispiel der EXPO. Auch da kannman sehen, wie unsinnig seine Formulierungen sind. HerrAustermann hat in der Öffentlichkeit prophezeit, es gäbefür den Bund eine zusätzliche Belastung von mehr als1 Milliarde DM. Das ist überhaupt nicht nachvollziehbar;denn bei einem zu erwartenden EXPO-Defizit – HerrAustermann, wenn Sie sich einmal sachkundig machenwürden – von 2,4 Milliarden DM ergeben sich für denBund noch zu finanzierende Mehrkosten von 400 Milli-onen DM. Sie kennen Ihren eigenen Haushalt nicht.
Also, Herr Fraktionsvorsitzender, überlegen Sie sich eineneue Besetzung dieses Postens.
Deswegen bleibt eines richtig: Wir wollen erst einmalabwarten, bis die – ja, was ist es? – GmbH in Liquidationihre endgültigen Zahlen vorgelegt hat, bis die geprüftsind.
Dann erst wird ja das endgültige Ergebnis feststehenkönnen und dann werden wir diese Geschichte auchschultern, und zwar so, dass sie im Jahre 2002 geschultertwird.Die Steuereinnahmen, meine Damen und Herren,sind in 2000 zwar um 6 Milliarden DM hinter dem Er-gebnis der Steuerschätzexperten des Bundes und allerLänder geblieben. Die haben im November getagt und unsfür Ende Dezember 6 Milliarden DM Mehreinnahmenprognostiziert; das ist leider Gottes nicht eingetroffen.Gleichwohl waren die eingegangenen Steuereinnahmenum 1,3 Milliarden DM höher, als es den veranschlagtenSollzahlen entsprach. Das bedeutet, dass sich ein Teil derprognostizierten Steuermehreinnahmen, die dann nichteingetreten sind, weil wir den Haushaltsplan 2001 auf-grund dieser Prognose für 2001, wie das seit Jahrzehntenüblich ist, aufgestellt haben – mit Ihrer Zustimmung übri-gens –, nun als Steuermindereinnahmen als Basiseffektfür dieses Jahr und die kommenden Jahre in der Finanz-planung durchwälzen wird.Darüber haben wir den Haushaltsausschuss bereits beider Vorlage des endgültigen Haushaltsabschlusses für dasJahr 2000 unterrichtet. Ich kann Ihnen sagen, dass Tatsa-che ist, dass es einen erfreulichen Steuereinnahmenzu-wachs beim Bund sowohl im Januar wie im Februar ge-geben hat; im Februar hat er sich schon deutlich korrigiert,weil der Januarmonat besonders starke Einmaleffektehatte.Insgesamt, meine Damen und Herren, ist das, was HerrAustermann zum Schluss sagte, wahr. Zum Schluss hat ernämlich gesagt, dass er das alles wegen der anstehendenWahlen macht.
Deswegen ordnen wir das ordentlich ein, kehren zurückzur Sachpolitik; und die Sachpolitik sagt, für einen Nach-
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Parl. Staatssekretär Karl Diller15436
tragshaushaltsplan für dieses Jahr besteht überhaupt keinAnlass.Ich bedanke mich.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Birgit
Schnieber-Jastram von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehr-
ter Herr Staatssekretär Diller, ich möchte eine kleine Ein-
lassung von Ihnen korrigieren. Sie haben eben gesagt, auf
unseren Wunsch finde diese Debatte erst zu diesem Zeit-
punkt statt. Offensichtlich haben Sie den Kontakt und den
Informationsfluss zur eigenen Fraktion verloren; denn ich
darf Ihnen sagen, dass die eigentlich für diesen Nachmit-
tag geplante Debatte zum Thema der transatlantischen Be-
ziehungen auf Ihren Wunsch hin auf den Vormittag verlegt
worden ist, und dementsprechend kam alles andere ins
Rutschen. Herr Minister Eichel scheint mir übrigens heute
den ganzen Tag über doch eher nicht im Hause zu sein.
Meine Anregung also: Informieren Sie sich das nächste
Mal bei Ihren eigenen Geschäftsführern der Fraktion da-
rüber, was wirklich Sache ist.
Herr
Staatssekretär, zur Beantwortung, bitte.
K
Frau Kollegin, ich habe mich hierbei auf
folgende Unterrichtung gestützt.
Der Leiter der Fraktionsverwaltung der SPD hat festge-
halten: Dass zu diesem Tagesordnungspunkt am Nach-
mittag und nicht wie ursprünglich von der CDU beab-
sichtigt am Vormittag debattiert wird,
liegt einzig und allein daran, dass man dem Wunsch nach-
gekommen ist, die Debatte über die transatlantischen Be-
ziehungen in Anwesenheit des Außenministers in der
Kernzeit zu führen.
Ich erteile
jetzt dem Kollegen Günther Rexrodt von der F.D.P.-Frak-
tion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Bisher wurde sie als Markenzeichender rot-grünen Koalition geführt, die Finanzpolitik vonHans Eichel. Der Kanzler hatte ihn machen lassen.Wer sich nur eineinhalb Jahre zurück erinnert, weiß,dass es der Konsolidierungskurs der Bundesregierungwar, der den Bürgern erstmals nach dem desaströsenJahr 1999 wieder ein Stück Zutrauen gab – und zugleichHoffnung auf mehr Geld.Nach den – übrigens bis heute unkorrigierten – Ent-scheidungen zur Scheinselbstständigkeit, zu den 630-Mark-Jobs und zum Kündigungsschutz kam nun der spar-same Hans und verkündete: Die Nettoneuverschuldung sollmittelfristig auf null gebracht werden. Steuerentlastungenstehen an. Dann kam die Sache mit der Ökosteuer. Nun, diehat man nicht geliebt, aber die Rentenbeiträge sollten janicht erhöht werden. Der unerwartete Geldsegen aus derUMTS-Versteigerung wurde entgegen der sozialdemokra-tischen Tradition nicht den Wünschen der Ressorts geop-fert. Ja, das erschien akzeptabel und seriös. Die sind docheigentlich gar nicht so schlimm, dachten die Bürger.Wer sich aber mit der Finanzpolitik und speziell mitden Haushaltsansätzen 2000 und 2001 befasst hatte,merkte bald, um was es ging: einerseits Verringerung derStaatsschuld aufgrund außergewöhnlich guter Einnah-men – gut so! – und andererseits keine wirklichen Verän-derungen auf der Ausgabenseite. Im Gegenteil: Seit derRegierungsübernahme – das muss man sich auf der Zungezergehen lassen – sind die Ausgaben um 22 Milliar-den DM gewachsen. In den Jahren 2000 und 2001 bliebenbzw. bleiben sie auf hohem Niveau konstant. Ab 2002steigen sie wieder bis auf eine halbe Billion DM –500 Milliarden DM! Das ist noch nie da gewesen.
Die für eine Verbesserung auf der Ausgabenseite not-wendigen Hausaufgaben sind von Hans Eichel nicht ge-macht worden.
Hans Eichel war aufgrund der Entwicklung auf derEinnahmenseite der Hans im Glück. Nun hat ihn – des-halb stehen wir hier – das Leben eingeholt: Wer keine Vor-sorge trifft, den erwischt es auf falschem Fuße. So ist dasmit ungedeckten Ausgaben. Wenn dann noch etwas mitder Konjunktur passiert, befindet sich das Schiff Finanz-politik in ganz schwerem Fahrwasser.
Mit dem Leichtwasserfahrzeug, das Sie mit Ihrem Haus-halt 2001 gebaut haben, werden Sie da nicht durchkom-men, meine Damen und Herren von der Koalition.Das erste Risiko liegt bei der Bundeswehr. Der Um-bau ist nicht durchfinanziert. Die Krise ist hausgemacht.Hier fehlt schon lange ein Konzept.
Das ist auch kein Wunder, denn große Teile der Grünenund nicht ganz unerhebliche Teile der Sozialdemokraten
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Parl. Staatssekretär Karl Diller15437
tun sich mit der Bundeswehr schwer, und Herr Eichel warmit seinem politischen Hintergrund nie ein Fels in derBrandung.
Da hält man die Soldaten erst einmal kurz. OffeneRechnungen aus dem Jahre 2000 in Höhe von 800 Milli-onen DM wurden in das Jahr 2001 geschleppt. Dies ist einUnding an sich.
– Das ist nicht richtig, Herr Wagner. Den Beweis dafürkönnen Sie nicht antreten.
Wir haben auch dann, als die Einnahmensituation sehrviel schlechter war, zur Bundeswehr gestanden und habendas für die Bundeswehr getan, was wir leisten konnten.Das weiß die Truppe.
Sie haben es nicht gemacht, und deshalb ist die Truppe de-motiviert. Gehen Sie doch einmal zu den Standorten. Ichwar jetzt während des Wahlkampfes an einigen Standor-ten in Hessen. Sehen Sie sich diese einmal an und spre-chen Sie mit den Soldaten darüber, wie die über Sie undIhre Koalition denken. Die fühlen sich im Stich gelassen.Das ist eine Tatsache.
Herr Wagner, es sind russische Verhältnisse eingetre-ten. Fahrzeuge werden ausgeschlachtet, damit anderenoch fahren können. Das ist ein Faktum und das ErgebnisIhrer Politik. Das muss laut gesagt werden.
Dann gibt es noch das Defizit bei der EXPO. Das gibtes schon, Herr Staatssekretär Diller.
Sie haben viel zu wenig in den Haushalt eingestellt. So-lange kein endgültiger Abschluss der EXPO vorliegt – sowird gesagt –, solle man die Finanzierung offen lassen.Ob nun zwischen dem Bund und dem Land Niedersach-sen im Verhältnis 50:50 oder im Verhältnis zwei Drittel zueinem Drittel geteilt wird: In jedem Fall ist für HunderteMillionen, wenn nicht für Milliarden, Herr Diller, keineVorsorge getroffen. Das ist keine solide Haushaltspolitik.
Dann gibt es noch die zusätzlichen Verpflichtungenaufgrund der BSE-Krise. Hoffen wir, dass nicht noch an-deres hinzukommt, aber auszuschließen ist es nicht. Dassdiese Krise und zusätzliche Aufwendungen auf unszukommen, kann man der Bundesregierung, wenn manfair ist, nicht vorwerfen. Aber man kann ihr sehr wohl dieArt vorwerfen, mit diesen Dingen umzugehen.
Die Bauern wissen nicht, wo es langgeht. Sie habenden Eindruck, die Krise ginge allein zu ihren Lasten. DieVerunsicherung wächst jeden Tag. Auch nenne ich hierdas Gezerre zwischen dem Bund und den Ländern, wernun was bezahlt.
Die Bauern haben den Eindruck – das sage ich auch auspersönlicher Erfahrung aus Gesprächen auf den Höfenmit den Bauern –: Sie sind die Leidtragenden.
Zusätzlich gibt es noch das Gezerre zwischen Brüssel undBerlin. Die Geprellten – so wird es aufgenommen und soist es auch – sind die Bauern.Gleichzeitig – der Herr Staatssekretär ist nun nichtmehr da – wird großspurig von der Agrarwende inDeutschland gesprochen. Wie soll denn das passieren,wenn die Komplementärmittel für Brüsseler Beiträge feh-len, die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küsten-schutz heruntergefahren werden soll und die Reduzierungdes Steuersatzes beim Agrardiesel, die als Einkommens-ausgleich gepriesen wurde, wieder abgeschafft werdensoll? „Die Bauern wählen uns sowieso nicht“, das istkeine Politik, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Sokann man nicht vorgehen.
Es gibt noch andere Risiken im Haushalt, Herr Diller.Ich will das nicht im Einzelnen ausführen, sondern nur dieStichworte Transrapid und Rückerstattung an die Tele-kom nennen.
Zwei Dinge möchte ich aber noch kurz ansprechen. Daseine ist der Arbeitsmarkt. Am Arbeitsmarkt ist der er-hoffte Durchbruch nicht gelungen. Zwar sind die Ar-beitslosenzahlen moderat gefallen. Aber wir wissen alle,dass dies viel mit der Demographie und auch etwas mitder besseren Konjunktur zu tun hat. Deswegen jedoch derBundesanstalt die Zuschüsse um 6,5 Milliarden DM zukürzen, das war nicht berechtigt. Ich sage Ihnen: Sie wer-den da noch Ihr blaues Wunder erleben.Wenn Sie nicht das verkrustete Arbeitsrecht aufbre-chen und statt Flexibilität und Teilhabe jetzt auch noch mitder Ausweitung der Mitbestimmung lieber den Dino-Vor-stellungen von Herrn Zwickel Folge leisten – mit anderenWorten: mehr Macht den Gewerkschaften –, werden Siedie Probleme des Arbeitsmarktes nicht in den Griff be-kommen. Das kostet das Geld der Wirtschaft, das Gelddes Finanzministers und damit unser aller Geld.
Der zweite Punkt: Ich gehöre bei der Konjunkturnicht zu den Skeptikern, eher im Gegenteil. Aber ich er-innere mich noch sehr wohl, meine Damen und Herren
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Dr. Günter Rexrodt15438
von der Koalition: Als damals 1998 die konjunkturelleWende und der Umschwung kamen, haben Sie – dasTheater in Bonn sehe ich noch vor mir – gerufen: Das istnur auf den Export zurückzuführen. Wo würden Sie dennkonjunkturell stehen, wenn es den Export nicht gäbe?Das ist das Dilemma, in dem Sie sich befinden.
Wer wird denn in Abrede stellen können, dass die Ent-wicklung in den USA auf uns Auswirkungen haben wird?Die japanische Wirtschaft ist über alle Maßen schwach.Die anderen asiatischen Staaten schwächeln noch. WollenSie weiter in Abrede stellen, dass die Kapitalvernichtungvon 315Milliarden DM allein am Neuen Markt ohne Aus-wirkungen auf die Finanzierungsmöglichkeiten der deut-schen Wirtschaft ist? Nichts da! Mit dieser Konjunkturbewegen wir uns wie bei einer Gratwanderung. Das wirdsehr schwierig werden.
Die Institute haben Recht, wenn sie jetzt den Ansatzdes Wachstums von 2,7 oder 2,8 Prozent auf 2,1 oder2,2 Prozent reduzieren wollen. Herr Poß, Sie wissen ge-nau: Jedes Prozent kostet 9 Milliarden DM. Das kostetden Bund also mindestens 3 Milliarden DM.Das sind enorme zusätzliche Risiken im Haushalt. Wirwollen wissen, was Sache ist. Kein Lavieren und keinHinhalten mehr! Wir als Parlamentarier und die Bevölke-rung haben das Recht, von Ihnen befriedigende Auskünfteund konkrete Zahlen zu verlangen. Die Bürger könnendies einfordern. Es ist das erste Recht des Parlaments,dass wir darauf drängen.
Wenn Sie das nicht ausführlich und dezidiert machen,wenn Sie beschönigen und lavieren, dann werden wir er-neut mit der Forderung nach einem Nachtragshaushaltkommen. Jetzt haben Sie die Chance: Legen Sie die Zah-len vor, so wie es sich gehört, und reden Sie die Situationnicht schön! Sie haben uns über Jahre vorgeworfen, wirhätten die wirtschaftliche Situation schöngeredet und unsgesundgerechnet. Das Gegenteil ist der Fall. Sie tun dasund wir haben einen Anspruch darauf, zu wissen, waswirklich Sache ist. Sie müssen eine überzeugende Haus-haltspolitik machen. Wenn Sie das nicht tun, wird das demMarkenzeichen von Hans Eichel, das zugegebenermaßenals solches in der Öffentlichkeit zu verkaufen war, nichtgerecht.
– Herr Poß, Sie lassen sich zu scharfen, überzogenen und– nicht in diesem Fall – persönlichen Äußerungen hin-reißen. Machen Sie Ihre Arbeit! Dann haben Sie vielzu tun.
Als nächs-
ter Redner hat das Wort der Kollege Oswald Metzger vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An die
Adresse der Kollegen Rexrodt, Austermann und Co aus
der Union: Die Finanzpolitik bleibt das Markenzeichen
dieser Koalition. Hans Eichel muss doch eine solche
Diskussion nicht meiden. Der könnte Ihnen angesichts der
unberechtigten Forderungen nach einem Nachtragshaus-
halt die Leviten lesen.
Deshalb ist es absurd, hier den Eindruck zu erwecken, der
Finanzminister würde den Kontakt mit dem Parlament
und die öffentliche Debatte über dieses Thema scheuen.
Ich möchte Ihnen in Erinnerung rufen: 1996 – Ihre
Fraktionen hatten die Verantwortung – betrug die Netto-
kreditaufnahme 78 Milliarden DM, was zum Vollzug ei-
nes verfassungswidrigen Haushalts führte. 1997 belief
sich die Nettokreditaufnahme auf 63 Milliarden DM.
1998 – in dem Jahr, in dem wir die Regierung übernom-
men haben – belief sie sich auf 56 Milliarden DM.
Im Jahr 1999 betrug die Nettokreditaufnahme 46,5 Milli-
arden DM und in diesem Jahr werden wir mit einer Net-
tokreditaufnahme von 43,7 Milliarden DM auskommen.
Das bedeutet, innerhalb des von mir aufgezeigten Zeit-
raumes – zwei Jahre entfallen auf Ihre Koalitionsregierung
und drei Jahre auf unsere Koalition – ist die Nettoneuver-
schuldung auf Bundesebene um rund 25 Milliarden DM
reduziert worden. Das ist eine Leistung, auf die diese Ko-
alition stolz sein kann.
Ohne diese Leistung könnten wir auch nicht zugunsten
der Bürgerinnen und Bürger die Steuern senken, was wir
in diesem Jahr tun.
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rauen?
Bitte, Herr Kollege Rauen. Ich werde meinen Faden nicht
verlieren.
Können Sie bestätigen,dass in den Jahren 1995, 1996 und 1997 die Steuerein-nahmen aller Gebietskörperschaften zurückgegangensind und dass wir seit 1998 einen Steuerzuwachs von über100 Milliarden DM gehabt haben?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Dr. Günter Rexrodt15439
Herr Rauen, ich bin froh über diese Frage, weil man daransehen kann, dass die kalte Progression, die Sie auch heutefrüh in der Mittelstandsdebatte beklagt haben, immer einprobates Mittel war, die Einnahmen der öffentlichenHaushalte zu steigern, um den Anstieg der Ausgaben,– Personal- und Sachkosten steigen natürlich auch –ausgleichen zu können. Nur 1997 sind die tatsächlichenSteuereinnahmen aller staatlichen Ebenen ein einzigesMal netto geringer gewesen als im Vorjahr. Das stimmt.Aber 1996 hatten Sie ein großes Loch im Haushalt, weil1996 die Konjunktur wegbrach, die Arbeitslosigkeit ex-plodierte und Sie einen Finanzminister hatten, der fürseine Haushaltspläne auf Sand gebaute, nicht realitäts-taugliche Projektionen verwandte.
Ich setze meine Ausführungen zu der Senkungsstrate-gie bei der Verschuldung fort: Kollege Rexrodt – im All-gemeinen ein sachlicher Mann, aber auch für eine spitzeZunge gut – hat in einem Punkt den Eindruck erweckt, un-sere Koalition habe eigentlich nicht gespart, weil 1999 dieAusgaben um gut 20MilliardenDM höher gewesen seien.Das ist richtig. Wissen Sie aber auch, warum die Ausga-ben höher waren? – Weil wir in unserer Regierung zumersten Mal die Schattenhaushalte – Erblastentilgungs-fonds und anderes – im Bundeshaushalt etatisiert haben.
– Nein, wir haben den Erblastentilgungsfonds in den Zins-ausgaben des Bundeshaushalts veranschlagt und damitsind die Zinsausgaben zwischen 1998 und 1999 entspre-chend angestiegen. Ich habe das Material an meinemPlatz. Die Zahlen sind mir präsent; ich kann es Ihnen be-legen.Der Anstieg der Ausgaben in unserer Regierungszeitresultiert aus dem explosionsartigen Anstieg der Zinsaus-gaben. Ihre Erblast schlägt durch bis heute. Wer die Ver-antwortung dafür trägt – meine Damen und Herren vonUnion und F.D.P., ich teste das zurzeit im baden-würt-tembergischen Wahlkampf –, können auch Ihre Wähle-rinnen und Wähler gut einschätzen. Ich sage Ihnen eines:Bei jeder Wahlkampfveranstaltung kann jeder Sozialde-mokrat und jeder Grüne damit punkten, auch vor konser-vativem und liberalem Publikum. Das tut Ihnen so weh.Deshalb versuchen Sie immer wieder, die Regierung mitfalschen Behauptungen vor sich herzutreiben. Aber Siekönnen uns nicht treiben; denn da haben wir wirklich et-was zu bieten.
Ich möchte auf die finanziellen Risiken dieses Jahreszu sprechen kommen. Ich bin für meinen Realitätssinnbekannt. Unser Kollege Wagner hat als haushaltspoliti-scher Sprecher der Regierungsfraktionen ebenso wie ichin den letzten Tagen darauf hingewiesen: Wir müssen unsvor Übermut hüten. Wir sehen natürlich die negativenweltwirtschaftlichen Veränderungen, die auch dasWachstum in Deutschland und in Europa reduzieren wer-den. Wir dürfen nicht so tun, als könnten wir in diesemJahr einfach Steuermehreinnahmen einkalkulieren, umdie möglichen Risiken im Bundeshaushalt finanziell ab-zufedern. Es handelt sich um Risiken, die unvorhersehbarwaren, wie zum Beispiel BSE. Es ist keine Frage: DieMilliarde, die Staatssekretär Diller im Zusammenhangmit den BSE-Folgekosten genannt hat, müssen wir diesesJahr im Haushalt auffangen.Dass die Langzeitarbeitslosigkeit trotz aller Versucheerschreckend hoch bleibt, müssen wir konstatieren.
Wenn aber der Obmann der Unionsfraktion Austermannin der heutigen Ausgabe des „Handelsblatts“ einfachlocker verkündet, man müsse für die Arbeitslosenhilfemehr einkalkulieren und deshalb den Bundeszuschuss andie Bundesanstalt für Arbeit – 1,2 Milliarden DM sinddafür im Haushalt eingestellt – einfach kassieren, dannantworte ich ihm, er sollte den Haushalt genau lesen. Erenthält nämlich einen Deckungsvermerk für Mehrausga-ben im Bereich der Arbeitslosenhilfe. Wir haben also miteiner etatisierten Position im Bundeshaushalt Vorsorgegetroffen, die finanziellen Mehrausgaben für die Arbeits-losenhilfe – Stichwort: Haushaltsklarheit und Haushalts-wahrheit – aufzufangen. Wir müssen uns also nicht auf Ri-siken in Höhe von bis zu 2 Milliarden DM einstellen, weilwir bereits mit der Etatisierung von Teilbeträgen vorge-sorgt haben.Ich möchte auch an die Debatte über die Bundeswehrin der letzten Woche erinnern. Es gab eine Auseinander-setzung darum, dass sich der Verteidigungsminister an dasHaushaltsgesetz und die Finanzplanung hält, so wie eszwischen Kanzler und Finanzminister abgesprochen war.Das, was unserer Etatplanung zugrunde liegt, wird aucheingehalten, keine Frage. Staatssekretär Diller hat die Ver-teidigungspolitiker der Union – ich sehe gerade HerrnBreuer – zu Recht darauf hingewiesen, dass sie und Ver-teidigungsminister Rühe es waren, die der Truppe verbo-ten haben, über Reformen nachzudenken,
und deshalb der jetzigen Koalition, die Reformen auch imVerteidigungsbereich angeht, nicht vorwerfen dürfen,Wolkenkuckucksheime zu bauen.
Wir haben tatsächlich auch im Verteidigungsetat Re-serven mobilisiert. Lassen Sie die Gesellschaft zur Ver-wertung der Bundeswehrliegenschaften die Liegenschaf-ten erst einmal baureif machen und ausgemustertesMaterial – dafür sind natürlich mehr als zwei Monate Vor-lauf erforderlich – werthaltig verkaufen! Dann werdenwir auch in diesem Bereich Einnahmen erzielen, mit de-nen wir einen Teil der notwendigen Investitionen finanzi-ell absichern können. Auch das ist seriös und solide. Mankann der Bundeswehr den Zwang, ihr eigenes Effizienz-und Rationalisierungspotenzial zu nutzen, nicht dadurchersparen, indem man ihr mehr Geld gibt. Vielmehr mussman die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Truppe
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zwingen, das Notwendige zu tun, um wirtschaftlich undeffizient zu werden, keine Frage.
Zu einer Generaldebatte über den Nachtragshaushaltgehört nicht nur – wir wollen natürlich nichts beschöni-gen – die Diskussion über finanzielle Risiken. Vielmehrmüssen wir unsere Volkswirtschaft auch in das konjunk-turelle Umfeld stellen. Ich möchte Sie im Hinblick auf dasMakroklima davon in Kenntnis setzen, dass viele real-wirtschaftliche Daten wie das Konsumklima positivsind. Lesen Sie den gestern von der GZ-Bank vorgelegtenBericht zum Einzelhandelskonsumklima im Januar. WennSie das tun, werden Sie feststellen, dass die realen Um-satzzuwächse 2,5 Prozent über dem liegen, was die Ana-lysten erwartet haben. Seit drei bis vier Monaten schätzendie Einzelhändler das Klima immer besser ein. Warum? –Sie schätzen es immer besser ein, weil sie eine Steigerungdes Konsums durch die Auswirkungen der Steuerreformerwarten.Die Basisdaten in den USA sind nicht so schlecht, alsdass man dort eine Rezession erwarten müsste. Es ist rich-tig, dass die US-amerikanische Konjunktur gewaltig ge-bremst wird. Deshalb bauen selbst der IWF und dieOECD auf Europa. Ein Argument dafür, dass Europa dieWeltwirtschaft vor einer starken Abkühlung bewahrenkann, sind die Steuerreformen in Deutschland und Frank-reich, die in diesem Jahr greifen. Meine Damen und Her-ren von der Opposition, ich frage Sie: Wenn man außer-halb dieser Republik anerkennt, dass wir in diesem Jahrder Wirtschaft sowie den Verbraucherinnen und Verbrau-chern eine Steuerentlastung in Höhe von 1 Prozent desBruttoinlandsproduktes – das sind über 40 Milliar-den DM – gewähren und dass wir einen sensationellenKraftakt leisten, wenn in diesem Jahr wie im letzten Jahrunserer Regierungszeit gleichzeitig die Kreditaufnahmedes Bundes sinkt, dann sollten Sie das auch anerkennen.
Das ist eine Herkulesarbeit, für die wir in der Tat den Bei-fall hier im Haus, aber auch Zustimmung bei Veranstal-tungen im Land und auch bei der Wirtschaft erwarten.Deshalb sollte man sich, wenn man das Konjunktur-klima anschaut, nicht darauf einstellen, nur zu unken. Wirwaren als Regierung vorsichtig genug. Im letzten Jahr, woviele gesagt haben, ihr habt beim Wachstum untertrieben,wo die Prognosen teilweise über 3 Prozent hinaus-geschossen sind, sind wir auf dem Teppich geblieben undhaben 2,75 Prozent wirtschaftliches Wachstum beimHaushalt 2001 und im Übrigen für die Folgejahre 2,5 Pro-zent in der Finanzplanung unterstellt. Wir sind also auf dersicheren Seite geblieben.Das Motto jedes guten Haushälters, jedes guten Fi-nanzpolitikers ist immer – das dürfte für die Schwarzengenauso gelten wie für die Rot-Gelb, Rot-Rot und Libe-ral –: Man schätzt die Einnahmen eher vorsichtig und dieAusgaben eher zu hoch, denn dann kommt unterm Strichein gutes Ergebnis heraus. An diesem Prinzip wollen wirauch im Haushaltsvollzug dieses Jahres festhalten in derHoffnung, dass uns nicht abenteuerliche Einbrüche be-vorstehen. Gegen die könnten wir natürlich nichts ma-chen. Aber nach menschlichem Ermessen werden wir denHaushalt vor dem Wahljahr 2002 so ordentlich abschlie-ßen, dass in der Tat die finanzpolitische Solidität das Mar-kenzeichen dieser Koalition bleibt.
Nun noch ein Stichwort zum Thema Ökosteuer. Ichhabe mich daran gewöhnt, dass so gut wie keine Zahlstimmt, die Kollege Austermann, der Haushaltssprecherder Union, hier nennt.
Kollege Austermann hat von Ökosteuereinnahmen von65 Milliarden DM geredet.
– Wenn Kollege Austermann das jetzt durch Zwischenruf– das sage ich für die Zuschauer – korrigiert und sagt, dieEnergieverteuerung – –
– Also er kennt die Zahlen, aber er hat vorher einen ande-ren Eindruck entstehen lassen.
Wenn er das jetzt korrigiert, ist das in Ordnung.Herr Austermann hat natürlich die Ökosteuer ange-sprochen.
– Ich weiß es, Kollege Poß. Natürlich hat er den Eindruckerweckt, die Energieverteuerung, die Marktpreisentwick-lung sei von der Regierung zu schultern. Euro-Dollar-Re-lation, OPEC, Rohölpreissteigerung, das macht zwei Drit-tel der Kostensteigerung der Energiepreise aus, dieübrigens auch überwiegend für den Anstieg der Inflati-onsrate verantwortlich sind.
22 Milliarden DM werden dieses Jahr an Einnahmenerwartet. Ich nenne jetzt aber ein Beispiel, bei dem manden Kassenabschluss sieht; das ist noch besser. Ich sage,was wir 2000 eingenommen haben. Wir haben 17,4 Mil-liarden DM im Bundeshaushalt des letzten Jahres an Öko-steuereinnahmen erwartet; eingegangen sind 17,2 Milli-arden DM, 200 Millionen DM weniger, als wir imHaushaltsplan im Soll eingestellt hatten. An die Renten-versicherung gingen 16,8 Milliarden DM, also 400 Milli-onen DM weniger, als eingegangen sind. Damit haben wirdie Lohnnebenkosten gesenkt.
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Wir haben in unserer Regierungszeit die Situation ge-schaffen, dass der Durchschnittsarbeitnehmer in der ge-werblichen Wirtschaft –
jetzt rechne ich einfach mit 5 000 DM monatlichem Brut-toeinkommen – 30 DM weniger an Abgaben in die Rentezahlt, also 30 DM netto mehr hat. Damit kann der Durch-schnittsarbeitnehmer – ich erinnere an das Argument„Energie teurer, Arbeit billiger“ – fast 100 Kilometer amTag zur Arbeit fahren und damit hat er den Ausgleichdurch Senkung der Arbeitskosten in der Tasche. In mei-nem schwarzen Wahlkreis kann ich den Wählerinnen undWählern und den Pendlern den Zusammenhang erklären,dass „Arbeit billiger und Energie teurer“ ein Markenzei-chen dieser Koalition ist. Das ist eine Botschaft, die so-wohl von den Grünen als auch von den Sozialdemokratenprogrammatisch vor der Bundestagswahl den Wählerin-nen und Wählern auch deutlich gemacht wurde.Sie haben 1998 die Mehrwertsteuer um einen Prozent-punkt erhöht, damit der Anstieg der Rentenversicherungauf 21 Prozent nicht greifen konnte.
Sie haben praktisch eine Steuererhöhung versus Nichtan-stieg der Rentenversicherungsbeiträge als Mittel Ihrer Po-litik zugelassen. Innerhalb der Union gab es damals eineRiesendebatte zwischen Repnik, Schäuble, damals nochFraktionsvorsitzender, und der CSU. Die CSU hat verhin-dert, dass Sie damals Schäubles Vorschlag gefolgt sind,die Mineralölsteuer um 12 bis 15 Pfennige zu erhöhen,um den Anstieg in der Rentenversicherung zu verhindern;denn Herr Schäuble hatte eher Sympathien für eine Öko-steuer als für die Erhöhung von Verbrauchsteuern.Herr Schäuble hat Recht gehabt. Warum? – Weil derVerbraucher bei steigender Mehrwertsteuer eine Mehrbe-lastung über sein gesamtes Ausgabe- und Konsumgeba-ren erfährt. Wenn die Energiepreise steigen und dafür dieArbeitskosten sinken, dann hat der Konsument, zum Bei-spiel durch die Art, wie er sein Gaspedal benutzt oderseine Wohnung heizt, durchaus Einfluss auf den Ver-brauch und damit darauf, wie viel Steuern er mehr zahlt.Der Mehrwertsteuer kann der Verbraucher nur entgehen,wenn er schwarz einkauft. So einfach – Sie können das er-mitteln – sind Zusammenhänge. Auch ein grüner Finanz-politiker braucht sich wegen der Ökosteuer und wegen ih-rer Verwendung zur Senkung der Arbeitskosten überhauptnicht zu genieren. Das kann man in jeder Wahlveranstal-tung und in jeder Debatte, auch mit Wirtschaftsvertretern,vertreten.
Ich komme zum Schluss. Ich bin der Auffassung, dasswir den Haushalt dieses Jahres auf Sicht fahren müssen.Wir müssen uns vor Übermut schützen. Die Ausgaben inden einzelnen Ressorts müssen natürlich im Rahmen derSollanschläge bleiben. Vor allem darf es in diesem Jahrkeine selbst gesetzten Mehrausgaben geben. Es geht da-rum, dass wir zum Jahresende einen soliden Haushaltsab-schluss und im Herbst einen soliden Haushalt für dasWahljahr 2002 vorlegen können. Daran werden wir unsmessen lassen. Wir müssen uns für die letzten knapp dreiJahre überhaupt nicht genieren.Vielen Dank.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen
Dietrich Austermann.
Der KollegeMetzger hat meine Zahlen angezweifelt. Ich möchte siekurz erläutern. Wir gehen davon aus, dass der Liter Spritzurzeit 50 Pfennig mehr kostet. Davon sind 22 Pfennigökosteuerbedingt.
– Plus Mehrwertsteuer. – Wenn man die Mehrkosten von50 Pfennig mit der Menge des in Deutschland verbrauch-ten Sprits multipliziert und dasselbe in Bezug auf Heizöl,Gas und Strom tut, dann kommt man auf eine Gesamt-belastung der Bürger und der Betriebe von 65 Milliar-den DM pro Jahr.
Viele Menschen – in Baden-Württemberg und anderswo –bekommen zurzeit ihre Heizkostenabrechnung und kön-nen ganz leicht nachvollziehen, dass die Heizkosten um50 Prozent höher als im vorigen Jahr sind.
– Die Regierung hat die Ökosteuer eingeführt. Sie schlägtsich in den 22 Pfennig von den zusätzlichen 50 PfennigSprit nieder.Außerdem trägt die Regierung einen Anteil an einerwachstumsschädlichen Politik, die dazu geführt hat, dasssich die Relation zwischen D-Mark und Dollar ver-schlechtert hat.
Das heißt, dass sich die Politik der Regierung auch bei denEnergiepreisen und bei den Öleinkaufspreisen bemerkbarmacht. Ich behaupte nicht, dass die 65 Milliarden DM inGänze auf die Politik der Bundesregierung zurückzu-führen sind, aber ein wesentlicher Teil.
Ich setze diese 65 Milliarden DM in Relation zur Steu-erentlastung vom 1. Januar in Höhe von 45 Milliar-den DM. Ich halte mich genau an die bekannten Zahlen.Die Energiebelastung – zum Teil regierungsbedingt, zum
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Teil durch Außenmärkte bedingt – liegt um 20 Milliar-den DM höher als die Steuerentlastung. Wenn man sichdiese Situation betrachtet, dann ist ziemlich klar, werder Verursacher der gegenwärtigen konjunkturellen Si-tuation ist.Ein Letztes. Ich zitiere – auch von Herrn Diller ist hieretwas zum Thema Steuereinnahmen vorgetragen wor-den – mit Erlaubnis des Präsidenten zwei Sätze aus denVolks- und Finanzwirtschaftlichen Berichten des Finanz-ministeriums, Bericht Januar 2001:Die reinen Bundessteuern verzeichneten eine Steige-rung– also im Januar dieses Jahres gegenüber dem Vorjahr –um + 52,8 Prozent. Bereinigt um den o. g. Effekt derZahlungsverschiebung bei der Mineralölsteuer– diese 3,5 Milliarden DM haben nämlich im Vergleich zudem, was wir prognostiziert haben, gefehlt –betrug die Zunahme + 15,8 Prozent.Das heißt, der Finanzminister hat im Januar unter ande-rem durch eine höhere Mineralölsteuer 15,8 Prozent mehran Steuereinnahmen erzielt. „Sie sind auf höhere Einnah-men durch die Stromsteuer, durch den Solidaritätszu-schlag“ – er hängt ja von der Höhe der Lohn- und Ein-kommensteuer ab – „und durch die Mineralölsteuer“zurückzuführen. Eine falsche Wirtschaftspolitik, einefalsche Energiepolitik belastet die Konjunktur also dra-matisch.
Zur Erwi-
derung hat der Kollege Metzger das Wort.
Vom Mikrofon des Rednerpultes aus war ich zu fair, weil
Herrn Austermanns Zwischenruf, der sich auf die dies-
jährigen Einnahmen durch die Ökosteuer in Höhe von
22 Milliarden DM bezog, die Kenntnis der Zahlen ver-
muten ließ. Jetzt hat Herr Austermann wieder den Ein-
druck erweckt, dass die gesamte Energiekosten-
verteuerung von 65 Milliarden DM, die Wirtschaft und
Verbraucher zu tragen haben, auf die Ökosteuer zurück-
zuführen sei.
– Doch.
Ich bleibe dabei: Wir haben mit den Einnahmen durch
die Ökosteuer den Zuschuss an die Rentenversicherung
erhöht und dadurch die Rentenversicherungsbeiträge ge-
senkt.
Das Wort
hat der Kollege Metzger, Herr Kollege Kalb.
Der Kollege Kalb kann ja nachher in die Debatte eingrei-fen.Ich stelle noch einmal fest: Die Richtigkeit der Politik,die Energie teurer, die Arbeit billiger zu machen, könnenSie auch mit den Istzahlen der vergangenen Jahre belegen.Das gilt auch für 1999, das erste Jahr, in dem die Öko-steuer erhoben wurde.Zu Ihrem zweiten Punkt, zur konjunkturellen Ent-wicklung, Kollege Austermann: Sie sollten zur Kenntnisnehmen, dass alle internationalen Auguren Deutschlandund damit der größten Volkswirtschaft in Europa einestabilisierende Wirkung auf die Weltwirtschaft zuschrei-ben, weil wir in diesem Jahr 1 Prozent unserer gesamtenvolkswirtschaftlichen Leistung – das sind rund 43Milliar-den DM – in Form von Steuerentlastungen den Bürgernzurückgeben und die Belastungen durch die Ökosteuerdurch die Absenkung der Lohnnebenkosten kompensie-ren. Die Wachstumsdelle im Winter wurde durch den ex-tremen Anstieg der Energiepreise im Herbst verursacht,die aber, wie Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmensollten, zurückgehen. Selbst die Europäische Zentralbanksagt, die Kerninflation in Europa betrage nach wie vorpraktisch 1,2 oder 1,3 Prozent. Sie treiben dagegen dieBehauptung einer Inflationsrate von 2,6 Prozent als poli-tische Sau durchs Dorf.
– Die leugne ich nicht, aber es ist klar, dass nach mensch-lichem Ermessen in drei bis vier Monaten aufgrund derfallenden Energiepreise auch die Inflationsrate zurückge-hen wird. Dann können Sie die tagespolitische Argumen-tation, die Sie heute bringen, vergessen.Genau das Gleiche gilt auch für die Halbwertzeit derDebatte über die Benzinpreise, die Sie im Herbst letztenJahres vom Zaun gebrochen haben. Ihre Rechnung gingnicht auf. Die Ökosteuerdiskussion spielt im baden-würt-tembergischen Wahlkampf faktisch keine Rolle. Sie hät-ten sich gewünscht, mit diesem Thema die Schwarzen zumobilisieren. Sie werden aber am 25. März in Baden-Württemberg die Rechnung dafür bekommen. Wir habendas ja schon am vergangenen Sonntag in Friedrichshafenam Bodensee bei der OB-Wahl gesehen, wo ein Amtsin-haber trotz positiver Bilanz aus dem Amt gewählt wurde.
Die Stimmung in Baden-Württemberg ist so, dass Sie mitder Argumentation, die Sie hier im Bundestag bringen, beiVersammlungen nicht mehr ankommen. Die Leute habendie schwarze Regierung im Lande satt.
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Dietrich Austermann15443
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Christa Luft
von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kol-leginnen und Kollegen! Was hier vor sich geht – im Übri-gen eigentlich schon seit heute Morgen –, ist typisch fürWahlkampfzeiten. Die Union versucht noch einmal, dieKoalition so richtig vorzuführen, die Koalition schlägtselbstverständlich zurück. Das Ganze ist zwar legitim,aber es droht zu einem Routineakt zu werden. Menschen,die zurzeit arbeitslos sind – und das sind ja viele –, klei-nen Unternehmen, die Auftragssorgen haben, und jungenLeuten im Osten, die auf gepackten Koffern sitzen, weilsie dort keine Perspektive erkennen können, nützt die bis-her geführte Debatte über einen eventuellen Nachtrags-haushalt 2001 überhaupt nichts.
Sie von der Union wissen ganz genau, dass Ihr Begeh-ren von der Koalition heute schon rein formal abgewiesenwerden kann. Die rechtlichen Voraussetzungen für dieForderung eines Nachtragshaushaltes können nämlichnoch bestritten werden. Spätestens nach den Landtags-wahlen wird auch die Koalition manch beängstigendenTrend nicht mehr verharmlosen können, wie das nachmeiner Ansicht der Staatssekretär Diller und auch KollegeMetzger soeben noch versucht haben, es sei denn, sie ha-ben finanzielle Polster im Haushalt versteckt, die sie jetztmobilisieren können. Wenn dies so ist, wäre das Haus-haltsverfahren nicht ganz in Ordnung gewesen.
In einem sind wir uns mit der antragstellenden Fraktionallerdings einig, selbst wenn das die Union während ihrerRegierungszeit auch nicht ernst genommen hat: Budget-fragen dürfen nicht, wie das bisher mit den Rentenfragenim Bündnis für Arbeit geschehen ist, in Nebenzirkeln be-handelt werden. Sie gehören hier ins Parlament.
Ich bin mir insofern sicher, dass sich der Deutsche Bun-destag noch vor der Sommerpause mit dem Haushalts-vollzug 2001 und mit den gravierenden Abweichungenbei Einnahmen und Ausgaben, wenn dafür belastbare Da-ten vorliegen, zu befassen haben wird.Die Risiken für den Haushalt 2001 haben doch ihre Ur-sache nicht im EXPO-Defizit, da dieses bei der Haus-haltsaufstellung ziemlich deutlich abzusehen war. Auchaufgrund der BSE-Krise, so ernsthaft die finanziellen Fol-gen, insbesondere auch für die Länder, sind, entstehendem Haushalt keine Risiken. Das Grundproblem desHaushalts 2001 ist meiner Meinung nach ein anderes.Es wird offenbar, dass manche Weichenstellung in dereichelschen Finanz-, Steuer- und Haushaltspolitik falschgewesen ist. Der Lack platzt allmählich ab; der selbst auf-getragene Glanz verblasst.
Nehmen wir die hoch gelobte Steuerreform. ÜppigeSenkungen der Steuersätze sollten den Inlandskonsumund private Investitionen ankurbeln. Herr KollegeMetzger, ich würde die Januarzahlen des Einzelhandels-umsatzes nicht überbewerten. Beide – also angekurbelteprivate Investitionen und angekurbelter Inlandskonsum –sollten das Wirtschaftswachstum stimulieren und dadurchden Steuertopf füllen. Jetzt ist offenbar das Gegenteil derFall. Da ist doch offensichtlich etwas schief gelaufen.Es war kontraproduktiv, eine Steuerreform dieses Ka-libers vor allen Dingen zugunsten großer Unternehmendurchzuführen und außer Acht zu lassen, dass der Kon-junkturaufschwung nicht ewig währt. Es war falsch, denLändern und Kommunen die finanziellen Spielräume ein-zuengen, ihnen aber gleichzeitig immer neue Aufgabenaufzubürden und ihnen im kommunalen Bereich die In-vestitionsfähigkeit zu beschränken. Es war angesichts derzunehmenden Polarisierung von Arm und Reich falsch– siehe den jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht –, aufeine angemessene Vermögensbesteuerung zu verzichten.Selbst wenn diese Einnahmen nicht in den Bundeshaus-halt geflossen wären, hätten sie doch die finanzielle Si-tuation der Länder erleichtert.
Es rächt sich bitter, dass seit Jahren die immer dreisterwerdende Umsatzsteuerhinterziehung tatenlos hingenom-men wird.Auch die Weichenstellung bei der Bundeswehrreformist falsch. Ich komme aber nicht zu diesem Schluss, HerrKollege Rexrodt, weil ich fürchte, dass dort russischeVerhältnisse einziehen würden.
Wer die russischen Verhältnisse einigermaßen kennt, derweiß, dass sich die russische Armee freuen würde, wennes dort Verhältnisse wie in der Bundeswehr gäbe.
Wir sind für eine Ausrüstung der Bundeswehr, mit derder grundgesetzlich verankerte Verteidigungsauftrag er-füllt werden kann. Aber die Bundeswehr soll für die Er-füllung von Interventionsaufgaben ausgestattet werden.Das haben wir immer abgelehnt und das werden wir auchheute wieder ablehnen.
Wegen nicht ausreichender Gelder für die Anschaffungdes Eurofighters oder von Großraumtransportflugzeugeneinen Nachtragshaushalt zu fordern, lehnen wir entschie-den ab. Wir sehen hier sogar Einsparpotenziale.
Der Bundesfinanzminister tappt in eine selbst aufge-stellte Falle. Er hat nämlich die Absenkung der jährlichenNeuverschuldung auf Null bis 2006 zum wichtigsten Gü-tesiegel seiner Politik, zum Aushängeschild für Rot-Grünerklärt. Es war aber abzusehen, wie schwierig dies wer-den wird. Ehrgeiz allein zählt in der Politik nicht. Nichtsist gegen die Rückführung der Kreditaufnahme zu sa-gen. Auch wir haben uns dafür eingesetzt. Aber wenn un-ter Maß und Tempo hierbei die Ankurbelung existenz-
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sichernder Beschäftigung, die Armutsbekämpfung oderdie besonders für den Osten Deutschlands notwendigeInnovations- und Investitionsoffensive leidet, dann kanndas nicht im Interesse der Bevölkerung sein.Überhaupt verwundert uns an dem Antrag der Union,dass über die bestürzende Lage in den neuen Ländernüberhaupt kein Wort verloren wird; denn auch das würdehaushaltspolitisches Handeln erzwingen, auf Bundes-ebene ebenso wie auf Länderebene. Das kann man nichtauf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, sondern esmüsste noch in diesem Jahr angeschoben werden, damitwir vor der Osterweiterung der Europäischen Union imJahre 2004 im Osten eine Innovations- und Investitions-offensive sowie eine Offensive zur Erschließung sowohlregionaler als auch überregionaler und internationalerMärkte auf den Weg bringen können. Ansonsten droht dasGebiet zwischen Elbe und Oder tatsächlich in Agonie zuverfallen. Daran kann niemand interessiert sein.Falsch war die drastische Reduzierung des Zuschussesan die Bundesanstalt für Arbeit und die Streichung derSachkostenzuschüsse für ABM. Beide Entscheidungen– das zeigen Signale aus den strukturschwächsten Regio-nen in Ost und West – werden schon in den nächsten Mo-naten zu sozialen Zuspitzungen und in nicht wenigenostdeutschen Städten und Landkreisen zu einer katas-trophalen Situation auf dem Arbeitsmarkt führen. DieBundesregierung kann das Thema Ost nicht aussitzen. Siemuss umgehend handeln, auch in Vorbereitung auf dieOsterweiterung der Europäischen Union.Wir müssen vor der Sommerpause – erst dann – dieFrage nach einem Nachtragshaushalt mit Ja beantworten,wenn es zutrifft, was Institute und Banken voraussagen,dass nämlich das Wirtschaftswachstum erheblich unterdem Ansatz im Haushaltsplan liegen wird, und wenn eszutrifft – was zu erwarten ist – dass die Arbeitslosigkeitschwächer sinkt als geschätzt und die Folgekosten damitsteigen.Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Steffen Kampeter von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatteüber die völlig verfehlte Haushalts- und Finanzpolitik derrot-grünen Bundesregierung
findet zum Zeitpunkt eines grundlegenden Wandels derwirtschafts- und finanzpolitischen Stimmung statt. Diewirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute korri-gieren Woche für Woche ihre Wachstumsprognosen nachunten. Erste Prognosen sehen das Wachstum nicht, wievermutet, bei 3 Prozent, sondern bei unter 2 Prozent. DieInflation ist auf dem höchsten Stand seit sechs Jahren. Esist eigentlich empörend, in welcher Art und Weise derSprecher von Bündnis 90/Die Grünen diese inflationäreEntwicklung in seinem Redebeitrag verniedlicht hat.
Infolgedessen verändern sich auch die haushaltspoliti-schen Rahmenbedingungen. Der Kollege Metzger hat vordem Forum des Deutschen Bundestages darauf hingewie-sen, wie exakt die Regierung – er war stolz darauf – dieSteuereinnahmen prognostiziert und auch schon ausgege-ben hat. Wenn aber das Wachstum 1 Prozent hinter den Er-wartungen zurückbleibt, bedeutet allein das einen Ausfallbei den Steuereinnahmen in der Größenordnung von9 Milliarden DM. Diese exakten Schätzungen, die derKollege Metzger hier stolz vorgetragen hat, entsprechendden wirtschaftspolitischen Erwartungen noch vor weni-gen Monaten, werden zum Bumerang werden und weiteregroße Haushaltslöcher in den Eichel-Etat reißen.
Der Euro dümpelt mit einem niedrigen Außenwertherum. Dies mag den Export fördern und Bestandteil derStrategie der Regierung sein, die binnenwirtschaftlicheReformen verweigert und versucht, mit der Exportkon-junkturwirtschaftlich zu punkten. Aber trotzdem: In demMaße, in dem der außenwirtschaftliche Motor stockenwird, wird sich auch hier ein großes wirtschafts- und haus-haltspolitisches Risiko zeigen.Es ist auch deutlich geworden – der Kollege Rexrodthat darauf hingewiesen –, dass die strukturellen Anpas-sungen auf dem Arbeitsmarkt nicht so vorangehen, wie esnoch vor wenigen Monaten prognostiziert worden ist.100 000Arbeitslose mehr kosten 4Milliarden DM mehr –ein unübersehbares Haushaltsrisiko! Dass dies nicht nurdie von der Opposition vorgetragene Einschätzung derwirtschaftlichen Entwicklung ist, zeigt ein Blick auf dieBörse. Da graust es einem. Der Frühindikator zeigt ganzklar nach unten.Aber eines muss deutlich werden: Erschreckender alsdieser Befund ist die Ignoranz, mit der die rot-grüne Bun-desregierung mit diesen wirtschaftspolitischen Rahmen-daten umgeht. Die Vereinigten Staaten senken in dieserSituation die Steuern, um die Wachstumsschwäche zuüberwinden. Wir verschlechtern durch die Änderung derAbschreibungstabellen die wirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen und geben den kleinen und mittleren Betriebenin dieser Wachstumsschwäche nicht durch ein Vorziehenweiterer Schritte der Steuerreform wachstumspolitischeImpulse. In Japan verändern sich die Konjunkturdatendramatisch. Und was macht der Bundesfinanzminister? –Er will die Steuerschätzung abwarten. Abwarten und Teetrinken, das ist eine völlig unzureichende haus-haltspolitische Strategie.
Jetzt kommt nämlich langsam die Wahrheit auf denTisch. Die Kommentare klingen anders als noch vor we-nigen Wochen, als die Haushaltspolitik irreführender-weise als ein Markenzeichen der rot-grünen Bundesregie-rung bezeichnet wurde.
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Dr. Christa Luft15445
Krise, Haushaltsrisiko, Defizit – jede Woche erfahrenwir von einem neuen Loch und der Staatssekretär bemühtsich nicht einmal darum, hier das eine oder andere zu de-mentieren. Bei 18 bis über 20 Milliarden DM liegen nachunseren gegenwärtigen Schätzungen die Haushaltsrisi-ken, die sich seit der Haushaltsaufstellung ergeben haben.
Aus dem Hoch- und Vielflieger Finanzminister wurdeeine lahme Ente. Hans Eichel, der Lack ist ab!Wenn ich sehe, in welcher Art und Weise der Staatsse-kretär aus dem Finanzministerium, der, während der Bun-desfinanzminister offensichtlich irgendwo in Deutsch-land Wahlkampf macht, hier hingeschickt worden ist,auch die Steuerverschiebung, bei der zwischen den Jahrenein paar Milliarden hin- und hergeschoben worden sind,zum Erfolg seiner Politik erklärt, muss ich feststellen: Dasist Täuschung der Öffentlichkeit und hat mit Haushalts-klarheit und -wahrheit überhaupt nichts mehr zu tun.
Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf: Been-den Sie die Wirklichkeitsverweigerung! Nehmen Sie dierosarote Brille ab! Legen Sie endlich einen Nachtrags-haushalt vor! Korrigieren Sie Ihren Finanzplan und gebenSie uns Auskunft über die anstehenden haushalts- und fi-nanzpolitischen Fragen!Wir wollen eigentlich nur wissen: Gibt es eine Mehr-wertsteuererhöhung, wie von Herrn Metzger in der Öf-fentlichkeit angedeutet wurde, oder wird stattdessen dieÖkosteuer erhöht? Wie wollen Sie die Löcher in der Ren-tenkasse füllen? Klar ist bei der Rentenreform doch nureines: Sie wird teurer, als Sie uns bisher gesagt haben.Wie wollen Sie die Einsatzfähigkeit der Bundeswehrwieder herstellen? Das, was der Kollege Diller hier vor-getragen hat, war eine unerträgliche Verniedlichung derBeschreibung, dass unsere Bundeswehr unterfinanziertund nicht mehr vollständig einsatzfähig ist. Mit solchenAussagen muss Schluss sein, wir erwarten eine klare Ant-wort der Bundesregierung.
Gibt es eine Haushaltssperre, über die in der Pressebereits öffentlich spekuliert wird? Kein Wort dazu! Wiewollen Sie reagieren, wenn die Verfassungsklage der Län-der gegen die Verwendung der UMTS-Mittel erfolgreichsein sollte und Sie dadurch neue Haushaltsrisiken imzweistelligen Milliardenbereich hätten? Die eigentlichentscheidende Frage ist: Sagt diese Bundesregierung vorden Landtagswahlen endlich einmal die Wahrheit oderwird sie die Bevölkerung weiterhin über ihre politischenAbsichten täuschen?
All diese Fragen liegen auf dem Tisch des Parlaments.Da hilft jetzt kein Herummogeln mehr. Der „alte Acker-gaul“ mag irren; eine verantwortungsvolle Regierung darfdies nicht. Ein Nachtragshaushalt ist nach unserer Auffas-sung die einzig ehrliche Antwort auf unsere Fragen. DieBürger in diesem Land wollen Haushaltsklarheit undHaushaltswahrheit und keine die Tatsachen vernebelndenReden wie die des Herrn Metzger,
der bei den Zinsausgaben die Öffentlichkeit getäuscht hatund hier eine Angabe gemacht hat, die überhaupt nicht mitden haushaltspolitischen Daten übereinstimmt.Dies müssen wir als Haushälter den Menschen draußensagen. Wir wollen Haushaltsklarheit und Haushaltswahr-heit; aber Sie verweigern sie uns. Wir brauchen keinen Fi-nanzminister, der nur auf seine PR-Berater hört und imWahlkampf herumturnt,
sondern wir brauchen einen Finanzminister, der sich hierund heute im Parlament den Problemen stellt.
Wir brauchen einen Finanzminister, der endlich einenNachtragshaushalt vorlegt, wie es die CDU/CSU-Bun-destagsfraktion heute beantragt.
Zu einer
Kurzintervention – ich füge gleich hinzu: das ist die letzte,
die ich in dieser Debatte zulasse – erteile ich dem Kolle-
gen Metzger das Wort.
Ichspreche in meiner Kurzintervention nicht zur Sache. Ichbin ein Abgeordneter, der dann, wenn er in freiem Vortragetwas unpräzise darstellt, das auch korrigiert.Ich möchte eine Aussage aus meiner Rede – KollegeKampeter, Sie haben es gerade eben in einem Halbsatzangedeutet – zum Thema Zinsausgaben korrigieren.Wir hatten zwischen 1998 und 1999 in der Tat bei den eta-tisierten Zinsausgaben einen Anstieg von 24 Milliar-den DM. Es ist richtig, dass wir Schattenhaushalte in denBundeshaushalt integriert haben, wenn auch nicht in demgenannten Umfang. Integriert haben wir die Postunter-stützungskassen mit 8,4 Milliarden DM und wir habenZuschüsse an den Erblastentilgungsfonds, der noch ausIhrer Regierungszeit stammt, auf der Ausgabenseite an-ders etatisiert. Daraus mussten praktisch die Zinsen desELF bezahlt werden. Nachher haben wir diese Zuschüssebuchungstechnisch zu den Zinsausgaben umorientiert.Das heißt, der Anstieg der Zinsausgaben resultierte nichtallein aus einer tatsächlichen Erhöhung der Zinsausgaben,da an anderer Stelle die Ausgaben des Bundes gesenktwurden. Dies war bereits den Zwischenrufen der Haus-hälter der Opposition zu entnehmen; sie hatten Recht. DerAusgabenanstieg kam durch die Erhöhung des Zuschus-ses an die Rentenversicherung, durch die Integration derPostunterstützungskassen und in einem Teilbereich auchdurch einen Anstieg auf der Ausgabenseite durch Er-höhung bestimmter Haushaltstitel.Wahrheit muss Wahrheit bleiben. Ich will meinen Rufbehalten, dass ich korrekt und präzise bin.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Steffen Kampeter15446
Danke.
Zur Erwi-
derung, Kollege Kampeter.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ehrt den
Kollegen Metzger sehr, dass er in dieser einen Frage seine
Fehlinformationen richtig gestellt hat. Es wäre zu wün-
schen gewesen, dass er die übrigen Desinformationen,
Nebelkerzen und Verharmlosungen, die er in seine Rede
eingebaut hatte, gleichermaßen zurückgenommen hätte.
Als
nächstem Redner gebe ich jetzt dem Kollegen Volker
Kröning von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Der Verteidigungshaushalt
ist einer der Punkte, die die CDU/CSU dazu bewogen ha-
ben, diese Debatte zu beantragen und einen Nachtrags-
haushalt zu verlangen. Nach dem bisherigen Verlauf der
Debatte habe ich den Eindruck, dass Sie Ihr Feuerwerk
zum Verteidigungshaushalt abgebrannt und überhaupt
kein Interesse an Einzelheiten zu diesem Thema haben.
Ich möchte dennoch die Gelegenheit nutzen, einiges
klarzustellen.
Was ich zu sagen habe, ist zwar Experten nicht neu,
braucht aber offenbar seine Zeit, um allgemein akzeptiert
zu werden.
Der beliebteste Vorwurf gegen die Reform der Bun-
deswehr, die auch eine Reform des Einzelplans 14 sein
muss, ist der, die Bundeswehr sei unterfinanziert, oder
vulgär: Eichels Finanzplanung diktiere Scharping eine
Bundeswehr nach Kassenlage. Unbedacht offenbaren Sie,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion,
damit ein weiteres Mal die Politikunfähigkeit Ihrer, näm-
lich der früheren, Regierung. Aussitzen und Reformstau
waren die Kennzeichen der letzten Jahre vor dem Regie-
rungswechsel.
Was den Verteidigungshaushalt angeht, so ist der Ein-
druck beinahe zwingend, dass Sie die Zeichen der Zeit im-
mer noch nicht begriffen haben und dass Sie die Rückkehr
zur Planung von Waigel und Rühe wollen und damit den
Rückweg in den Schulden- und Abgabenstaat. Das wer-
den Sie mit uns nicht hinkriegen; das wird mit uns nicht
geschehen.
Wer mehr Geld ausgeben will, als wir haben, muss sa-
gen, woher er es nehmen will. Die Koalition wird jedenfalls
nicht davon abgehen, die Neuverschuldung stetig zu redu-
zieren. Bis wir einen Überschuss erreicht haben und einen
Teil davon – neben der Rückführung der Staatsverschul-
dung und weiteren Steuersenkungen – für Mehrausgaben
verwenden können, wird es noch ein langer Weg sein. Nicht
über den Haushaltsumfang, sondern über Haushaltsstruk-
turen wird in den nächsten Jahren zu streiten sein.
Damit sind wir beim nächsten Vorwurf, der Reform
fehle es an einer Anschubfinanzierung. Auch dies ist
falsch; das ist ebenfalls schon längst gesagt worden.
Die Anschubfinanzierung besteht zum Ersten in der
Differenz zwischen den Balkan-Mitteln, die unmittelbar
für den Bundeswehreinsatz benötigt werden, und der
vollen Höhe von 2 Milliarden DM, die bereits seit dem
Jahr 2000 und seit 2001 im Einzelplan 14 zur Verfügung
stehen, und zwar nach der geltenden Finanzplanung bis
2004 und nach allen außen- und sicherheitspolitischen
Auspizien sicherlich auch über diesen Zeitpunkt hinaus.
Ich rechne vorsichtig mit einem Betrag von 800 Millio-
nen DM pro Jahr. Dies gleicht die Reduzierung des Pla-
fonds zu einem erheblichen Teil aus und trägt schon heute
zum Abbau des Ausrüstungsdefizits bei der Bundeswehr
bei.
Zum Zweiten besteht die Anschubfinanzierung in
dem Eigenbehalt, den der Finanzminister dem Verteidi-
gungsminister bei Veräußerungen und bei Effizienzstei-
gerung zugestanden hat, übrigens weitaus mehr als jedem
anderen Ressort. Für 2001 bis 2004 sind dafür rund
4,6 Milliarden DM eingeplant.
Zum Dritten gibt es Besserstellungen des Verteidi-
gungshaushaltes gegenüber dem Gesamthaushalt, die
nicht vergessen werden dürfen, nämlich die im Vergleich
zu den anderen Ressorts pro Jahr um 200 Millionen DM
reduzierte Effizienzrendite und die um 500Millionen DM
pro Jahr verbesserte Plafondlinie im Vergleich zu der Ent-
wicklung des Gesamthaushaltes.
Herr Kol-
lege Kröning, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Koppelin?
Wenn es nicht zulasten mei-
ner Redezeit geht, bitte schön.
Nein, sie
wird gestoppt.
Zumal Sie heute Geburts-tag haben, zu dem ich Ihnen recht herzlich gratuliere.
Jetzt aber zu meiner Frage: Herr Kollege Kröning,durch Beschluss des Bundestages haben wir Soldaten imAusland im Einsatz. Ist es richtig – als Mitglied der Ko-alition und auch, genau wie ich, zuständig für den Einzel-plan 14, können Sie dazu sicherlich konkret etwas sagen –,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Oswald Metzger15447
dass sich jetzt eine Kommission auf den Weg macht, denEinsatz unserer Soldaten im Ausland begutachtet undüberlegt, die Auslandszulage zu kürzen, was für den Ver-teidigungsminister Ersparnisse von circa 45 Millio-nen DM bedeutet?
Herr Kollege Koppelin, ich
weiß das genau wie Sie nur aus der Zeitung. Ich denke,
wir beide werden uns zusammen mit den anderen Be-
richterstattern noch darum kümmern und dafür sorgen,
dass trotz der Notwendigkeit der Gleichbehandlung aller
öffentlich Bediensteten aufgrund der Sonderbedingun-
gen, unter denen unsere Soldaten und auch vergleichbare
Exekutivbeamte auf dem Balkan arbeiten, die Zulage
nicht reduziert wird, solange die Spannung anhält.
Lassen Sie mich bitte in meinen Ausführungen fort-
fahren.
Besonders beliebt ist der Vorwurf, die Bundesrepublik
gefährde mit ihren angeblich niedrigen Verteidigungsaus-
gaben ihren Einfluss in Europa und in der Welt. Auch die-
ser Vorwurf geht ins Leere. Erstens ignorieren Sie – an-
ders als unsere Partner; das erfährt man in der Begegnung
mit Vertretern der Verbündeten – die nicht militärischen
Sicherheitsaufwendungen wie die Milliardenhilfen für
Russland, ohne die wir mit Präsident Putin über NATO-
Osterweiterung oder NMD überhaupt nicht zu reden
brauchten.
Zum anderen sind die wesentlichen neuen Verpflich-
tungen, die wir eingegangen sind, nämlich bei den Ver-
einten Nationen und auch bei der Europäischen Union,
mit der Finanzlinie zu erfüllen. Herr Austermann, Sie er-
innern sich, dass uns als Berichterstattern das sogar
schriftlich mitgeteilt worden ist.
Völlig deplatziert möchte ich es schließlich nennen,
wenn in die Kritik an der angeblich unzulänglichen Sach-
ausstattung der Bundeswehr der Verdacht eingestreut
wird, der Bund vernachlässige seine Fürsorgepflicht ge-
genüber den Soldaten und gegenüber den Zivilbeschäf-
tigten. Auch die Form, in der sich manche Kritiker äußern,
hat mit der Sache nichts mehr zu tun. Das jüngste Beispiel
dafür hat Herr Oberst Gertz geliefert. Ich stehe nicht an,
dies für unsere Fraktion hier schärfstens zurückzuweisen.
Ich sage für beide Koalitionsfraktionen zum Thema
Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten und den Zivilbe-
schäftigten: Der Kabinettsbeschluss zu den Strukturver-
besserungen beim Personal der Bundeswehr wird erfüllt,
beginnend im Jahre 2001 und weiter im Jahre 2002 – ge-
nau so, wie wir es in den Haushaltsberatungen zugesichert
haben und wie es im Haushalt bereits beschlossen worden
ist.
Ich darf zusammenfassen: Legendenbildung war noch
nie ein guter Ratgeber in der Politik. Doch im Grunde ge-
nommen geht es um ein tieferes Problem. Teile der bun-
desdeutschen Elite haben noch nicht erkannt, dass die
Jahre 1989 bis 1991 nicht die Rückkehr zu einem unge-
bundenen Nationalstaat markierten, dessen wichtigstes
Merkmal umfassendes militärisches Handlungsvermögen
ist. Vor allem der Begriff „Souveränität“ trägt nicht zur
Lösung bei. Denn so instabil einige Randregionen in Eu-
ropa sind, so unübersehbar und schwer beherrschbar Ri-
siken in aller Welt sind, es steht doch fest, dass militäri-
sche Mittel nur eine begrenzte, wenn auch unentbehrliche
Funktion in der internationalen Politik haben. Ein Staat,
der auf seine Autonomie Wert legt und zugleich auf dem
Klavier der vielfältigen Interdependenzen zu spielen
beansprucht wie die Bundesrepublik Deutschland, muss
Sicherheit arbeitsteilig organisieren. Wir verdanken es der
Nachkriegsentwicklung, dass dafür Strukturen entstanden
sind – die über Regierungswechsel hinweg gefestigt wor-
den sind –, die uns die Einordnung unserer Sicherheitspo-
litik besonders in einen europäischen Gesamtzusammen-
hang gestatten.
Es zählt zu den besten Traditionen der Bundesrepublik,
sich auf keine militärische Statuskonkurrenz einzulassen,
sondern einen eigenständigen, berechenbaren und sogar
vertrauensbildenden Weg militärischer und nicht mili-
tärischer Sicherheitsvorsorge zu gehen. Der Bundeskanz-
ler hat diese Richtschnur bereits vor eineinhalb Jahren in
seiner Rede vor der Kommandeurtagung in Hamburg klar
formuliert. Ich weiß, dass einige Soldaten daran zu
schlucken hatten. Ich rechne es unseren Soldaten hoch an,
dass sie, bis auf Bruchteile eines Prozents, diese Vorgabe
der Regierung loyal mittragen. Wir werden uns jedenfalls
daran halten.
Die Verteidigungsausgaben werden bei der Fortschrei-
bung der Finanzplanung in diesem und im nächsten Jahr
verstetigt werden. Die Strukturreform der Bundeswehr
und des Verteidigungshaushaltes wird einen sicheren
Rahmen behalten, innerhalb dessen wir Schritt für Schritt
die einzelnen Maßnahmen verwirklichen. Messen Sie uns
bitte daran; betreiben Sie keine Panikmache und erst recht
keine Desinformation.
Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Josef Hollerith von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Wir behandeln denAntrag der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 14/5449zur Vorlage eines Nachtragshaushaltes zur Korrektur derEntwicklung der Bundesfinanzen. Der ursprüngliche An-lass dieses Antrages ist die Absicht der Bundesregierunggewesen, die Folgekosten der BSE-Krise mit über- bzw.außerplanmäßig bereitzustellenden Geldern zu finan-zieren.Nach § 37 Bundeshaushaltsordnung ist die Vorausset-zung für eine über- bzw. außerplanmäßige Ausgabe, dasssie, bezogen auf den Zeitpunkt der Verabschiedung desHaushalts, unvorhergesehen oder unabweisbar ist. Un-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Jürgen Koppelin15448
vorhergesehen kann diese Ausgabe nicht sein. Denn dieUnion hatte in den Haushaltsverhandlungen vor dem Hin-tergrund der sich anbahnenden BSE-Krise ein BSE-Son-derprogramm gefordert, das mit der rot-grünen Mehr-heit sowohl im Haushaltsausschuss als auch bei derzweiten Lesung des Bundeshaushaltes abgelehnt wordenwar.
Bei rechtlich einwandfreier Handhabung des Haushalts-rechtes müssen die BSE-Mittel daher in Form eines Nach-tragshaushaltes bereitgestellt werden.Weiter ist es im Sinne von Haushaltswahrheit undHaushaltsklarheit sachlich geboten, dass ein Nachtrags-haushalt vorgelegt wird. Ich verweise stichwortartig aufdie Risikokosten durch die Bundeswehr, das EXPO-Defi-zit, den Konjunktureinbruch mit steigenden Sozialausga-ben, erheblichen Steuermindereinnahmen und erhöhterArbeitslosenhilfe sowie die BSE-Krise, die weit über dievon der Bundesregierung geschätzte 1 Milliarde DM hi-nausgehen.Nach seriöser Schätzung zum heutigen Tage rechne ichdamit, dass der Bundeshaushalt in diesem Jahr mit min-destens 3,5 Milliarden DM zusätzlich belastet wird: DieHerauskaufaktion von 400 000 Rindern, die schonbeschlossen worden ist, belastet Deutschland mit einemAnteil an der EU-Finanzierung in Höhe von 500 Milli-onen DM. Zusätzlich entstehen dem Bund Kosten in Höhevon 362 Millionen DM für die nationale Kofinanzierungund in Höhe von rund 63 Millionen DM für die anteiligeMitfinanzierung der Beseitigung des verbotenen Tier-mehls. Hinzu kommt die bereits von Kommissar Fischlerund einem Großteil der europäischen Agrarminister ge-forderte und in Aussicht genommene notwendige weitereHerauskaufaktion von 1,2 Millionen Rindern, welche denBundeshaushalt im Rahmen der anteiligen Finanzierungder EU-Ausgaben mit weiteren 1,5 Milliarden DM belas-ten wird. Dazu kommt die anteilige nationale Kofinanzie-rung von 1,08 Milliarden DM. Das heute realistisch ab-sehbare Gesamtvolumen der BSE-bedingten Folgekostenbeträgt also 3,5 Milliarden DM.
Die deutsche Landwirtschaft befindet sich angesichtsdieser katastrophalen Situation in einer existenziellen Be-drohung.
In dieser Situation tragen die Bauern am wenigstenSchuld daran, dass die BSE-Krise über sie hereingebro-chen ist. Sie sind am wenigsten dafür verantwortlich.
Deswegen muss in dieser Situation der nationalen Kata-strophe die Gemeinschaft der Steuerzahler die notwendi-gen Beistandsfinanzierungen leisten.In der Landwirtschaft besteht zudem eine enorme psy-chologische Belastung. Der Landwirt hat jeden Tag dieSorge, dass womöglich ein Stück Vieh, wenn es den Stallverlässt, von der BSE-Krankheit befallen sein könnte.Dies hätte die Folge, dass der gesamte Bestand – fälschli-cherweise, wie ich meine, da nicht das Schweizer Modellangewendet wird – gekeult wird. Der Landwirt wird da-mit bundesweit in Deutschland zum Schauobjekt lüster-ner Kameras. Er muss in diesem Falle von der Polizei ge-schützt werden, damit er als normaler Staatsbürger vonseinen Rechten, zum Beispiel von dem Recht, sich frei zubewegen, Gebrauch machen kann.In dieser dramatischen Situation treibt die Bundesre-gierung die Landwirtschaft in eine weitere unverantwort-liche Belastung. – Ich halte dies für den eigentlichenSkandal im Rahmen der Diskussion über die Bewältigungder BSE-Folgekosten: – In dieser Lage finanziert FrauBundesministerin Künast die BSE-Folgekosten in ihremHaushalt durch Kürzung der ohnehin zu gering veran-schlagten Mittel für die Agrarstruktur und den Küsten-schutz um 125 Millionen DM, was zu einer weiteren Be-lastung der Bauern führt.
Dies ist ein Skandal. Hier gilt für die Frau Ministerin: Sieist als Löwin gesprungen und als Bettvorleger gelandet.Das ist die richtige Beschreibung für das Ergebnis einersolchen Politik.
Hinzu kommt eine enorme Vorbelastung der deutschenLandwirtschaft durch falsche Beschlüsse der rot-grünenMehrheit in diesem Hause. Ich erinnere an die Kürzungenin der Agrarsozialpolitik um 650 Millionen DM und andie Belastungen durch die Ökosteuer in Höhe von 1 Mil-liarde DM.Ich verweise auf den Agrardiesel: 27 Pfennig pro Li-ter kostete er während unserer Zeit; jetzt sind es 50 Pfen-nig pro Liter, was wiederum eine enorme Belastung fürdie deutsche Landwirtschaft in der Wettbewerbssituationausmacht. Bei einem Verbrauch von 100 bis 150 LiternAgrardiesel pro Hektar heißt dies, dass die deutschenBauern gegenüber ihren holländischen Wettbewerbern,ihren französischen, österreichischen, dänischen Wettbe-werbern mit zwischen 23 DM und 34,50 DM pro Hektarzusätzlich belastet werden.Hinzu kommt, dass durch die weitere Kürzung der Mit-tel für die Agrarstruktur und den Küstenschutz um125 Millionen DM europäische Kofinanzierungsmittelnicht abgerufen und nicht zur Strukturverbesserung in derdeutschen Landwirtschaft verwendet werden können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, bezeichnendist für diese Politik – damit komme ich auf das zurück,was Staatssekretär Diller zum Thema Prophetie gesagthat –: Bundeskanzler Schröder ist mit der Aussage ange-treten, es bleibe bei 6 Pfennig Belastung je Liter Benzin.
Heute sind wir bei: 35 Pfennig.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Josef Hollerith15449
Der Lügenbundeskanzler ist mit der Aussage angetre-ten: Es bleibt bei der nettolohnbezogenen Rente.
Zwei Mal sind die Renten in diesem Lande unter Inflati-onsrate gestiegen. Der Lügenbundeskanzler!Ein Wort zum Kollegen Metzger. Er hat von der Net-toneuverschuldung gesprochen und er hat Recht: DieLast zu unserer Zeit war enorm. Ja, warum war sie dennenorm? – Weil die Altlastenbeseitigung von Kommunis-mus, Planwirtschaft und Sozialismus zu bewältigen war,weil es darum ging, Freiheit, Demokratie und sozialeMarktwirtschaft in diesem Lande einzuführen.
Das war die Ursache dafür, und dazu stehen wir, weil wirfür die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht auch derFreunde in den neuen Bundesländern eingetreten sind.
Dazu bekennen wir uns als nationale Leistung, als histo-rische Leistung dieser Mehrheit von CDU und CSU imDeutschen Bundestag mit Bundeskanzler Kohl in der Ver-gangenheit.Herzlichen Dank.
Herr Kol-
lege Hollerith, ich bitte darum, dass Sie dem parlamenta-
rischen Sprachgebrauch folgen und nicht diese sprachli-
chen Übertreibungen benutzen.
Als nächster Redner hat der Kollege Hans Georg
Wagner das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich gehe davon aus,dass der Kollege Hollerith diesen Ausdruck zurück-nimmt; denn es ist eine Unverschämtheit, was er hiergeäußert hat, und es ist in keiner Weise zutreffend. Ichfinde es unverschämt und unterträglich, dass Sie einensolchen unparlamentarischen Ausdruck gebraucht haben.
Meine Damen und Herren, es ist wie bei dem Weih-nachtslied, das lautet: Alle Jahre wieder kommt das Chris-tuskind. Alle Jahre wieder reden wir auf Antrag der Op-position Anfang des Jahres über einen Nachtragshaushalt.Herr Austermann, ich war ganz irritiert, als die ersten bei-den Monate des Jahres schon vorbei waren und immernoch kein Antrag auf einen Nachtragshaushalt vorlag. DerJanuar ging ohne Nachtragshaushalt vorbei, der Februarging ohne Nachtragshaushalt vorbei. Ich habe gedacht:Du lieber Gott, was ist denn jetzt los? Irgendwann mussdie Opposition in Gestalt von CDU/CSU doch einen An-trag stellen, damit wir darüber reden. Dann kam er Gottsei Dank. Ich war sehr erleichtert, dass Sie in der Konti-nuität Ihrer Arbeit geblieben sind: Panikmache, Panikma-che, Panikmache
– und dann der Antrag zum Nachtragshaushalt. Ich haltedas nicht für gut und generell für falsch.
Ein paar Punkte möchte ich nennen, und zwar zunächsteinmal das Stichwort Arbeitslosigkeit. Ich kann es Ihnennicht ersparen, sich die Zahlen einmal genau anzusehen:Im Jahre 1998, im letzten Jahr Ihrer Regierungszeit, be-vor Sie von den Wählerinnen und Wählern von derRegierungsbank vertrieben worden sind, hatten wir imFebruar 4,82 Millionen Arbeitslose. Im Jahr 1999 warenes noch 4,46Millionen, im Jahre 2000 4,28Millionen undim Jahr 2001 4,11Millionen. Wenn ich richtig rechne, gibtes 710 000 Arbeitslose weniger, seit Sie aus der Regierungherausgewählt worden sind. Ich finde, das ist gut.Wir müssen auch über Subventionen reden. Einige,die Subventionen erhalten, wurden heute ständig als dieÄrmsten der Nation geschildert. Aber die Subventio-nen zum Beispiel für den Wohnungsbau liegen bei 60Mil-liarden DM – das sind die höchsten aus dem Bundeshaus-halt –, und die Subventionen für die Landwirtschaft be-tragen insgesamt 27,3 Milliarden DM, die zweithöchstenSubventionen. Dann kommt mit 11,4 Milliarden DM derSteinkohlenbergbau. Diese Subventionen sind abge-schmolzen. Die einzige Regelung zur Reduzierung vonSubventionen betrifft den Steinkohlenbergbau. Ichmöchte sagen: Auch bei anderen muss man einmal genauhinsehen.
Genauso gilt das für andere Diskussionen.Die Schulden – das sind immer noch Ihre Schulden –beliefen sich zum 31. Dezember 2000 auf 1,513 Billio-nen DM.
– Ja, das ist mehr geworden, natürlich.
– Nun seien Sie doch einmal ruhig! – Durch die Netto-kreditaufnahme steigen die Schulden immer an. Wenn wiralso in diesem Jahr eine Nettokreditaufnahme von43,7MilliardenDM haben – der geringste Betrag seit übereinem Jahrzehnt –, dann haben wir 43,7 Milliarden DMmehr Schulden. Im Jahr 2006 soll die Nettokreditauf-nahme bei Null liegen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Josef Hollerith15450
Es wäre gut, wenn Sie uns dabei helfen würden und nichtAnträge stellten, die genau das Gegenteil bewirken.Allein die Umsetzung des Vorschlags von HerrnStoiber betreffend das so genannte Familiengeld würde60 Milliarden DM kosten. – Dies ist nicht gegenfinan-ziert.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die CDU-re-gierten Länder Baden-Württemberg und Hessen wollenfür die Länder und Kommunen einen Anteil an denUMTS-Erlösen und an den Zinsersparnissen gemäß Steu-eranteil. Daraus ergäbe sich eine Forderung von 60 Milli-arden DM an den Bund. – Auch dies ist nicht gegenfinan-ziert.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und das CDU-re-gierte Land Thüringen wollen 40 Milliarden DM für einSonderprogramm Ost.
Zur Deckung werden Positionen vorgeschlagen, die aberals Einnahmen im Haushalt längst enthalten sind.
Das bedeutet also nichts anderes als 40 Milliarden DMneue Schulden. An Ihrer unbekümmerten Art, Schuldenzu machen, hat sich gar nichts geändert. Sie meinen, Sieseien immer noch an der Regierung, und möchten immermehr Schulden.
Das wird sich ändern.Die Abschaffung der Ökosteuer würde ein Loch inHöhe von 82,6 Milliarden DM in die Haushalte 2001 bis2003 reißen. Jetzt erklären Sie mir bitte einmal, wie Siedie Sozialversicherung finanzieren wollen! Wenn wir dieÖkosteuer abschaffen würden, kämen wir auf einen Sozi-alversicherungsbeitrag von 23 Prozent.
Sagen Sie mir also, einmal ganz ehrlich, was Sie machenwollen!
Ich kann weitere Beispiele aus Ihren Anträgen an-führen. So sollen zum Beispiel die Funktionäre von Ärz-tekammern steuerlich besser gestellt werden, indem dieehrenamtlichen Aufwandsentschädigungen von der Sozi-alversicherungs- und Steuerpflicht freigestellt werden.
Das würde die Sozialversicherungskassen mit 4,9 Milli-arden DM belasten und zudem 4,8 Milliarden DM weni-ger an Einnahmen bedeuten.
Die CDU/CSU will außerdem – das ist eben schon ge-sagt worden – mehr Geld für die Bundeswehr.Jetzt komme ich zu dem zurück, was Herr Austermannprognostiziert hat; das war ja sehr interessant. Er hat imvergangenen Jahr gesagt – Herr Diller hat bereits daraufhingewiesen –, dass die Ausgaben um einen bestimmtenBetrag steigen werden, aber am Schluss waren es 6 Milli-arden DM weniger.
Anfang dieses Jahres hatten Sie dann gefordert, wegen derWohngeldvereinbarungen und der Familienförderungmüsse es einen Nachtragshaushalt geben. Am Ende aberwar das Geld dafür da. So schlecht sind Ihre Prognosen.Sie werden das wahrscheinlich nie lernen. Diese Erfah-rung habe ich schon gemacht.Nun zum Stichwort EXPO. Sie wissen ganz genau,wie die Finanzierung geregelt worden ist. Im Haushalt2001 wurden dafür keine Mittel eingestellt, weil es keineentsprechende Vereinbarung gab. In den Haushalt 2002werden wir natürlich die entsprechenden Mittel einstel-len, die wir aus Solidarität mit dem Land Niedersachsenzugesagt haben. Wo waren denn Ihre Bundesländer? –Neuschwanstein, das Sie im Rahmen der EXPO als Welt-kulturerbe mit angegeben haben, liegt ja nicht in Nieder-sachsen. Die Solidarität der Länder mit dem Land Nie-dersachsen fehlt; das ist ein ganz gewichtiger Punkt. Wirstehen zu unserer Solidarität, meine Damen und Herren.
Zu Herrn Austermann muss ich noch etwas sagen. Siehaben am 26. Januar des vergangenen Jahres im Haus-haltsausschuss damit begonnen zu sagen: Ein Nachtrags-haushalt muss kommen! Am 24. Februar haben Sie diesdann in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wieder-holt. – Das ist ja Ihr Wechselspiel: „Frankfurter Allge-meine Zeitung“ an einem Tag, „Welt am Sonntag“ amnächsten Sonntag, zwischendurch einmal „Die Welt“. DerBall wird gespielt, wird mit Ihrem Namen zurückgespieltund dann wird in ganz Deutschland darüber diskutiert. Ichbegreife nicht, warum das so ist, aber Journalisten sindmanchmal auch so.
Am 30. März 2000 haben Sie in der „FAZ“ noch ein-mal den Anstieg der Ausgaben des Bundeshaushalts auf484Milliarden DM vorausgesagt. Herr Diller hat es schongesagt: Am Schluss waren es 478 Milliarden DM, also6 Milliarden DM weniger. – Dann kam am 26. Juni 2000eine Presseerklärung von Ihnen mit dem gleichen Ergeb-nis. Am 1. August erfolgte noch einmal dasselbe. Es istimmer dieselbe Leier, immer der Versuch, Panik zu ma-chen.Die Situation fiel aber wesentlich besser aus. Wir ha-ben die Nettokreditaufnahme um 3 Milliarden DM gerin-ger ausfallen lassen, als sie vorher in der Planung war, und
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Hans Georg Wagner15451
zwar durch eine solide Haushaltspolitik, mit Zahlen be-legt.Sie kommen jetzt mit Ihren 240Milliarden DM, die Sieausgeben wollen, gegenfinanziert übrigens durch eine Er-höhung der Mehrwertsteuer. 240 Milliarden DM machengenau 17 Punkte Mehrwertsteuer aus. Sie schlagen alsovor, die Mehrwertsteuer von derzeit 16 Prozent auf33 Prozent zu erhöhen. Dann läge Deutschland ganz ander Spitze, noch vor Irland mit 25 Prozent. Dies ist einefalsch verstandene Harmonisierung der Mehrwertsteuerin der Europäischen Union. Dabei macht diese Koalitionmit Sicherheit nicht mit.
Zu den Steuereinnahmen! Die Zahlen für Januar sindgenannt worden. Die Zahlen für Februar sind mit denenvom Februar 2000 vergleichbar. Sie sind also kein Anlasszur Dramatisierung, wie dies jetzt schon wochenlang pas-siert. Sie müssen sich einmal mit der durch diese Zahlenbelegten Wahrheit befassen.Wir müssen zwei Punkte bedenken, und zwar einmal,wie die Steuerentwicklung zum 31. März 2001 aussieht,denn die Steuervorauszahlungen waren nicht schon am10. Januar, sondern sind erst am 10. März zu erwarten.Ende März werden wir sehen, wie sie sich weiterent-wickeln.Außerdem bitte ich sehr darum, das zu machen, was im-mer gemacht wird, nämlich die Steuerschätzung abzuwar-ten, die Anfang Mai vorgelegt werden wird. Die Steuer-schätzung gibt dann möglicherweise Anhaltspunkte für dieZahlen des Jahres 2002.
Ich bin mir absolut sicher, dass nach Würdigung all dieserZahlen festgestellt werden kann, dass der Haushalt solidefinanziert ist.Herr Austermann, um eines bitte ich sehr: Sie habenmit Herrn Eichel den Falschen getroffen. Sie haben ge-sagt: Ein Finanzminister, der Schulden macht, ist einschlechter Finanzminister. Ich bitte doch darum, dass ihrbei Theo Waigel nicht immer nachtreten lasst. Beim Fuß-ball würde man das als Foul gegen Theo Waigel bezeich-nen, denn er hat die meisten Schulden aller Zeiten ge-macht.
Sie haben ihm mit all der Kraft, die Sie hatten, dabei ge-holfen. Dass wir bei Staatsschulden in Höhe von 1,5 Bil-lionen DM und mehr gelandet sind, ist Ihr Verdienst.
Ihre Anträge, die hier im Hause vorliegen, zeigen, dass Siemit dieser Spielerei weitermachen wollen.Aber mit uns wird das nicht gehen. Wir werden unseresolide Haushaltspolitik fortsetzen. Am Ende des Jahreswerden Sie sehen, dass die Lage nicht so schlecht ist, wieSie es im Januar angekündigt haben, nur damit Sie in dieZeitung kommen. Dies dient nur der Verunsicherung derBevölkerung. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie dieslassen würden. Sie verunsichern die Bevölkerung in einerArt und Weise, die unverschämt ist und nicht mehr hinge-nommen werden kann.Schönen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/5449 und 14/5544 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENKonsequenzen aus der Tatsache, dass die deut-sche Wirtschaft ihren Beitrag zur Stiftung„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“noch nicht geleistet hatIch eröffne die Aussprache. Als erster Redner – IhreZustimmung vorausgesetzt – hat der Beauftragte des Bun-deskanzlers für die Stiftungsinitiative Deutscher Unter-nehmen, Dr. Otto Graf Lambsdorff, das Wort.Dr. Otto Graf Lambsdorff, Beauftragter des Bundes-kanzlers für die Stiftungsinitiative Deutscher Unterneh-
sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Bundeskanz-ler hat mich gebeten, Ihnen den Stand der Gespräche, vorallem das Treffen darzustellen, zu dem der Bundeskanz-ler gestern Vorstandsvorsitzende der Unternehmen derStiftungsinitiative eingeladen hatte.Der Bundeskanzler hat der Stiftungsinitiative Deut-scher Unternehmen unter ihrem Sprecher Dr. Gentz aus-drücklich für ihre Bereitschaft gedankt, die im Dezember1999 gemachte Zusage, für das Kapital der Stiftung „Erin-nerung, Verantwortung und Zukunft“ zu sorgen, mit ei-nem letzten, rechtlich und finanziell belastbaren Schritt zuuntermauern. Deswegen ist die Überschrift der heutigenAktuellen Stunde durch den Gang der Ereignisse – erfreu-licherweise – ein bisschen überholt.Die 16 Gründungsunternehmen haben ihren Beitragdeutlich erhöht und für den Rest Ausfallbürgschaften zu-gesagt. Es ist jedoch klar, dass sich die Wirtschaft viel Är-ger und öffentliche Schelte erspart hätte, wenn sie sich zudiesem Schritt einige Monate früher entschlossen hätte.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Hans Georg Wagner15452
Das Zögern hat den möglichen Bonus für das Ansehen derdeutschen Wirtschaft in einen Malus verwandelt. Aberkritisieren sollte man nicht diejenigen, die das Geld ge-sammelt und sich bemüht haben, sondern diejenigen, diesich verweigert haben.
Vielleicht wäre auch der Beschluss der New Yorker Rich-terin Kram anders ausgefallen. Das alles ist sehr schade;denn es bleibt eine wirklich beachtenswerte Leistung,5 Milliarden DM – das ist kein Kleingeld – in einer frei-willigen Aktion zusammenzubringen.Der Bundeskanzler hat festgestellt, dass damit beideSeiten, Bundesregierung und Unternehmen der Stiftungs-initiative auf der einen Seite, die amerikanische Regie-rung auf der anderen Seite, ihre Verpflichtungen aus demdeutsch-amerikanischen Regierungsabkommen vom17. Juli vorigen Jahres erfüllt haben.Das im Dezember 1999 zugesagte Stiftungskapital von10 Milliarden DM ist aufgebracht. Die US-Regierung hatin allen Fällen einen Schriftsatz, das Statement of Interest,abgegeben, in dem sie die Stiftungslösung als fair, an-gemessen und für die Kläger vorteilhaft bezeichnet unddie Richter darauf hinweist, dass es im außenpolitischenInteresse der Vereinigten Staaten liegt, wenn die Klagenabgewiesen und die Kläger an die Stiftung verwiesen wer-den.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch etwaszur Kritik an diesem Weg sagen. Ich lese immer wieder,dass man diese Summe doch hätte einklagen sollen. WennSie die Kläger auf den Gerichtsweg verweisen, dann be-kommt nicht ein einziger der Überlebenden zu seiner Leb-zeit eine einzige Mark zu sehen. Nur dieser Weg kann dazuführen, dass die Überlebenden noch Geld bekommen.
Mit dieser Erklärung, die wir gestern Abend abgegebenhaben und die ohne Widerspruch angenommen wurde, wieich feststellen konnte, erfüllt die amerikanische Regierungauch im Detail die eingegangenen Verpflichtungen. Dieauch öffentlich geäußerte Kritik am Verhalten der US-Re-gierung ist grundlos. Der amerikanische AußenministerColin Powell hat gestern in einem Brief an AußenministerFischer eindeutig das Engagement auch der neuen US-Ad-ministration für einen umfassenden und dauerhaftenRechtsfrieden für deutsche Unternehmen unterstrichen. Esist klar – der Bundeskanzler hat dies gestern angekün-digt –, dass dieses Thema bei seinem Besuch in Washing-ton, beim amerikanischen Präsidenten, eine Rolle spielenwird. Wir sind zuversichtlich, dass Präsident Bush genaudieselbe Bestätigung geben wird wie Colin Powell.Noch einmal: Die Stiftungsinitiative, also die deutscheWirtschaft, der Bundestag – dafür möchte ich mich erneutbedanken –, die Bundesregierung und die US-Regierungsowie die Klägeranwälte haben jetzt alles getan, was siezu tun hatten und wozu sie sich verpflichtet hatten. Esliegt jetzt an den amerikanischen Gerichten und den ame-rikanischen Klägeranwälten, die am 17. Juli 2000 die Ge-meinsame Erklärung unterschrieben haben, den Zustandherzustellen, den § 17 Abs. 2 des Stiftungsgesetzes als„ausreichende Rechtssicherheit für deutsche Unterneh-men“ beschreibt. Wir alle haben die Rechtssicherheit beider Unterzeichnung der Verträge im Juli vorigen Jahresnoch für den September 2000 für erreichbar gehalten. Dashat sich leider als Irrtum erwiesen.Ein amerikanischer Richterausschuss, das so genannte„Multi District Litigation Panel”, lehnte es im Juli vorigenJahres ab, die Sammelklagen, wie von Klägern und Be-klagten beantragt, vor einen einzigen Richter zu bringen– in Amerika heißt dies „konsolidieren“ –, und beließ siebei drei Richtern. Bei zwei Richtern führte dies nur zu ge-ringfügigen Zeitverlusten. Richter Bassler hat am 13. No-vember in New Jersey die nicht streitigen Zwangsarbei-terklagen, Richter Mukasey am 8. Dezember des letztenJahres die Versicherungsklagen abgewiesen. Man ist alsKläger einer Sammelklage im amerikanischen Prozess-recht nicht wie im deutschen Zivilprozessrecht Herr sei-ner eigenen Klage. Der Richter muss die Klagerücknahmegenehmigen.Auf die Wahrung der Interessen nicht benannter Klägerhat Richterin Kram am 7. März dieses Jahres ihre Ableh-nung gestützt, die Bankenklagen, wie von beiden Parteienbeantragt – Klägern und Beklagten –, abzuweisen. Sie hatfestgestellt, dass es unfair sei, die Kläger auf eine Stiftungzu verweisen, die nicht voll finanziert ist. Nicht zuletzt aufunsere Anregung hin haben die beiden Richter Basslerund Mukasey dieses Risiko mit einer Formulierungaufgefangen, wonach den Klägern die Wiederaufnahmeder Klagen ausdrücklich eröffnet wurde, sollte das Geldnicht zusammenkommen. Darum hat sich Richterin Kramnicht gekümmert. Sie hat diesen Weg nicht akzeptiert.Das nicht vorhandene Geld war nicht der einzigeGrund, weswegen sie die Klagen nicht abgewiesen hat.Zum Zweiten hat sie noch Geld für abgetretene angeb-liche Forderungen österreichischer gegen deutsche Ban-ken gefordert. Dabei hat sie feststellen müssen, dass dieStiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ nichtdazu da ist, Forderungen juristischer Personen un-tereinander abzudecken. Sie hat – ich kann es nicht andersformulieren – mit einem rechtlich fehlerhaften Beschlussden Beginn der Auszahlungen um etliche Wochen, bisüber die Rechtsmittel entschieden ist, zulasten der Opferverzögert.Unter den übrigen Klagen sticht die Klage gegen dieamerikanische IBM hervor, die sich aber in ihrer Begrün-dung de facto gegen die seinerzeitige deutsche TochterHollerith GmbH richtet. Die Klage gegen IBM wurde vonzwei Anwälten eingereicht, die sich in der GemeinsamenErklärung verpflichtet hatten, für Rechtssicherheit zu sor-gen. Ich habe eben gesagt, die Klägeranwälte hätten allesgetan, was in ihren Kräften steht, um die getroffene Ver-einbarung umzusetzen. Diese beiden haben das genaueGegenteil getan. Ihr Vorgehen ist eindeutig rechtsmiss-bräuchlich und ein eindeutiger Vertragsverstoß. Selbstver-ständlich ist die deutsche IBM Mitglied der Stiftungs-initiative. Die amerikanische Regierung bemüht sichintensiv, auch diese Klage aus der Welt zu schaffen. Aberohne Zeitverlust ist dies nach amerikanischem Prozess-recht nicht möglich. – Ich weise auf diesen Fall hin, weil
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Dr. Otto Graf Lambsdorff15453
ich um Ihr Verständnis für die Haltung der deutschen Un-ternehmen werben möchte, die gerade über diese neueKlage zu Recht besonders empört sind.Es ist zwischen der Bundesregierung und der amerika-nischen Regierung völlig unstreitig, dass der in Ziffer 4 dder Gemeinsamen Erklärung vorgesehene Zustand, näm-lich die rechtskräftige Abweisung der in diesem Zusam-menhang gegen deutsche Unternehmen anhängigen Kla-gen, bisher nicht hergestellt ist.Die Stiftungsinitiative ist aber vor allem gegründetworden, um einer moralischen Verantwortung gerecht zuwerden, wie es in der Gemeinsamen Erklärung vom16. Februar 1999 formuliert wurde. Ich betone erneut,dass Rechtsfrieden nicht nur im Interesse der Unter-nehmen liegt. Auch die Bundesregierung und die ameri-kanische Regierung haben ein vitales Interesse daran,dass solche Auseinandersetzungen vor amerikanischenGerichten nicht die deutsch-amerikanischen Wirtschafts-beziehungen unterhöhlen oder gar die politischen Bezie-hungen zwischen beiden Ländern in Mitleidenschaft zie-hen. Die US-Regierung bringt das in ihrem Statement ofInterest ganz klar zum Ausdruck.Es bestand gestern Abend völlige Einigkeit darüber,dass die Abweisung der zurzeit vor Richterin Kram an-hängigen Klagen – wahrscheinlich in einem Berufungs-verfahren – eine notwendige, aber keine hinreichende Be-dingung für die Rechtssicherheit ist. Der Bundeskanzlerhat deswegen vorgeschlagen, eine Arbeitsgruppe aus Mit-arbeitern der Bundesregierung und der Stiftungsinitiativeeinzusetzen, die nach Abweisung der Bankenklagen– also der Klagen vor Richterin Kram – feststellen soll,welche relevanten Fälle, wie es Dr. Gentz ausdrückte,noch anhängig sind und wann der Komplex positiv ent-schieden ist, wie es der Bundeskanzler ausdrückte. Wirwerden uns in einem intensiven Dialog mit dem Bundes-tag darum bemühen, in dieser Frage eine gemeinsameHaltung zu finden. Das wird nicht ganz einfach sein; dasmuss jeder wissen. Auch Sie, Herr Beck, wissen das. Wirwissen es alle. Wir müssen es aber versuchen, und zwarauf seriöse Weise.Ich möchte schließlich noch kurz auch auf den von denUnternehmen eingebrachten Vorschlag eingehen, Stiftungund Rechtssicherheit zu spalten: In einer Gesetzesände-rung soll der Bundestag erklären, dass die Rechtssicher-heit nicht gegeben sei, die Auszahlung aber dennoch mitden Bundesmitteln beginnen soll. So sehr das hinter die-ser Überlegung stehende Engagement für die Überleben-den zu verstehen ist: Der Bundeskanzler hat diesen Vor-schlag aus gewichtigen, und wie ich meine, auchzutreffenden Gründen abgelehnt. Er erinnerte daran, dassdas gemeinsame Vorgehen von Regierung und Wirtschaftzu den Prämissen der Stiftungsinitiative gehörte. DieBundeskasse – das betrifft vor allem den Bundesfinanz-minister – würde für das gesamte Stiftungskapital ins Ob-ligo gebracht, ohne dass der Zeitpunkt der Überweisungdurch die Stiftungsinitiative ausreichend gesichert wäre.Schließlich löst der Beginn der Auszahlungen an dieÜberlebenden nach den getroffenen Vereinbarungenautomatisch die Honorarzahlungen an die amerikanischenKlägeranwälte aus. Auf deren Unterstützung sind wir aberbei der Herstellung des Rechtsfriedens nach wie vor an-gewiesen. Daher dürfen wir deren Interessen nicht außerAcht lassen.Allen Beteiligten ist bewusst, dass es um das Schicksalvon etwa 1 Million Menschen geht, denen seit mehr alszwei Jahren Zahlungen in Aussicht gestellt wurden, aufdie sie einen moralischen Anspruch haben. Alle Betroffe-nen sind alt: Die meisten – über 90 Prozent – leben in Ost-europa. Viele gehören zu den Verlierern der Öffnung zumWesten und der Perestroika, wie so viele alte Menschen indiesem Teil der Welt. Für jemanden, der in der Ukraineoder in Weißrussland lebt, sind 5 000 oder 15 000 DMeine große Summe. Für jemanden, der in Amerika lebt, istdas auch viel Geld, aber lange nicht so bedeutsam wie fürMenschen, die über 50 Jahre lang noch nie etwas bekom-men haben.Wir werden die uns hier gestellte Aufgabe mit dem ge-botenen Ernst und im Bewusstsein der Menschen, an de-nen sich Deutschland vergangen hat, so schnell wie mög-lich zu Ende führen. Ich kann nicht sagen, wann ich demDeutschen Bundestag empfehlen kann, die Rechtssicher-heit festzustellen. Es hat keinen Sinn, Daten in die Welt zusetzen, die man hinterher korrigieren muss.
Ich kann insbesondere nicht vorhersagen, ob dies sorechtzeitig geschehen wird, dass der Bundestag noch vorder Sommerpause entscheiden kann. Ich glaube es kaum.Das hängt jetzt allein von den US-amerikanischen Ge-richten ab.
– Nein, Frau Jelpke, die Wirtschaft hat das Geld zur Ver-fügung gestellt. Es hängt von den US-amerikanischen Ge-richten und nicht von der Wirtschaft ab, ob die noch an-hängigen Gerichtsverfahren, die nach übereinstimmenderAuffassung von Bundestag, Bundesregierung und deut-scher Wirtschaft aus der Welt sein müssen, bevor man vonRechtssicherheit sprechen kann, beendet werden.Wenn die Wirtschaft bei der Forderung nach dem, wasalles unter dem Begriff Rechtssicherheit zu verstehen ist,überziehen sollte, dann müssen wir erneut Gesprächeführen. Nach dem Gespräch gestern Abend haben wirnach meiner Einschätzung alle Möglichkeiten, uns zu-mindest sehr weit anzunähern. Ich lasse es einmal dahin-gestellt, ob wir uns über jeden Fall hundertprozentig einigwerden. Insofern war das Gespräch gestern Abend nütz-lich, zielstrebig und, wie ich hoffe, den Gesamtanstren-gungen, die wir vor uns haben, förderlich.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Worthat nun der Kollege Wolfgang Bosbach von derCDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Dr. Otto Graf Lambsdorff15454
Herr Präsident!
Lieber Graf Lambsdorff! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Auch wenn Grund und Überschrift dieser Aktuellen
Stunde mittlerweile – glücklicherweise – überholt sind, so
ist diese Debatte dennoch richtig und wichtig.
Vor wenigen Tagen hat die deutsche Wirtschaft die von
ihr zugesagten 5 Milliarden DM aufgebracht und damit
ihre Zahlungszusage eingelöst. Nunmehr kann eigentlich
kein US-amerikanisches Gericht die notwendige Erledi-
gung oder Abweisung der dort anhängigen Klagen gegen
deutsche Unternehmen länger unter Hinweis darauf ver-
weigern, dass Zweifel an der Leistungsbereitschaft und
der Leistungsfähigkeit der Bundesstiftung bestünden. An-
ders formuliert: Mit der Bereitstellung der 5 Milliar-
den DM ist eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen
worden, dass der notwendige Rechtsfrieden nunmehr
rasch hergestellt werden kann. Nicht mehr, aber auch
nicht weniger haben wir bis heute erreicht.
Es wäre gut, wenn die deutsche Wirtschaft die 5 Milli-
ardenDM zügig an die Bundesstiftung überweisen würde,
auch, weil dann die nicht unerheblichen Zinserträge dem
Stiftungszweck zugute kämen.
Eine Auszahlung dieses Betrages kommt allerdings erst
dann in Betracht, wenn ausreichende Rechtssicherheit be-
steht und diese durch Beschluss des Deutschen Bundesta-
ges ausdrücklich festgestellt wird. Die Entschädigung für
NS-Zwangsarbeit und die Einrichtung eines Zukunfts-
fonds einerseits und die Herstellung ausreichender
Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen in den USA
andererseits sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Wer diesen nach langwierigen, schwierigen und kompli-
zierten Verhandlungen von allen Seiten akzeptierten Zu-
sammenhang auflöst, wird die Ziele der Stiftung in ab-
sehbarer Zeit nicht erreichen.
Die deutsche Wirtschaft ist für ihre bislang zögerliche
Haltung in den letzten Monaten oft und nicht zu Unrecht
kritisiert worden. Aber wir können sie jetzt nicht auch
noch dafür kritisieren, dass sie auf die Einhaltung
geschlossener Verträge Wert legt.
Wer die versprochene Leistung erbracht hat, kann erwar-
ten, dass auch die vereinbarte Gegenleistung erbracht
wird.
Rechtsfrieden und Rechtssicherheit müssen jetzt durch
gemeinsame Anstrengungen von Klägern, Klägervertre-
tern und Gerichten vor der US-amerikanischen Justiz her-
gestellt werden, und dies so rasch wie möglich; denn Ziel
der Bundesstiftung kann ja nicht sein, die Hinterbliebenen
der ehemaligen Zwangsarbeiter zu erreichen. Vielmehr
müssen die noch heute lebenden, alten und oft kranken
und gebrechlichen Opfer erreicht werden. Leider – ich be-
tone: leider – kann der Deutsche Bundestag zum jetzigen
Zeitpunkt noch nicht ausreichende Rechtssicherheit für
die deutschen Unternehmen durch einen Beschluss fest-
stellen. Es wäre schön, wenn diese Rechtssicherheit schon
jetzt bestünde. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Allerdings muss sich die deutsche Wirtschaft fragen
lassen – darauf hat Graf Lambsdorff zu Recht hingewie-
sen –, ob sie tatsächlich auf der Haltung bestehen will,
dass ausreichende Rechtssicherheit nur dann gegeben sei
und von uns gemeinsam festgestellt werden dürfe, wenn
zunächst ausnahmslos alle Klagen vor US-amerikani-
schen Gerichten abgewiesen seien, bevor die 5 Milliar-
den DM ausgezahlt werden dürften. Die Klagen bei der
Richterin Kram und das Verfahren Deutsch gegen Turner
Corporation in Kalifornien – es handelt sich hier um ein
streitiges Berufungsverfahren in einem Zwangsarbeiter-
fall – sind in der Tat wichtige Präzedenzfälle, deren Aus-
gang wir abwarten müssen. Allerdings muss die Wirt-
schaft dann auch einmal in Ruhe darüber nachdenken, ob
es tatsächlich richtig ist, auch allen anderen Fällen die
gleiche Bedeutung zukommen zu lassen, ohne dass diese
wirtschaftlich oder materiell-rechtlich tatsächlich ebenso
wichtige Präzedenzfälle sind.
Es wäre gut, wenn auch in puncto Rechtssicherheit
Einvernehmen zwischen dem Bundestag und der Wirt-
schaft erzielt werden könnte. Dieses Einvernehmen dürfte
jedoch nur dann erzielbar sein, wenn einerseits der Deut-
sche Bundestag nicht leichtfertig Rechtssicherheit fest-
stellt, ohne dass diese tatsächlich vorliegt, und wenn die
Wirtschaft andererseits bereit ist, zu akzeptieren, dass
ausreichende Rechtssicherheit nicht zwangsläufig die Er-
ledigung aller Klagen bedeuten muss. Wir müssen beides
gewährleisten: Schnelligkeit und Einigkeit. Das sind wir
den noch lebenden Opfern schuldig.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Graf Lambsdorff! Meine Damen und Her-ren! 10Millionen Zwangsarbeiter wurden von Deutschlandverschleppt, versklavt und gequält. Von diesen leben heutenoch ungefähr anderthalb Millionen Menschen. Bis 1998hat die Bundesrepublik Deutschland mit ihnen um dieFrage gerechtet, ob sie aus dieser Zeit einen Anspruch aufEntschädigung oder auch nur auf Lohn haben. Zwei Jahrehaben wir mit den Opferorganisationen, den osteuropäi-schen Staaten und dem Staat Israel verhandelt und sindschließlich im Juli 2000 zu einer Lösung gekommen undhaben als Bundestag das Stiftungsgesetz verabschiedet. Alswir das getan haben, haben wir gehofft, wesentlich frühermit der Auszahlung an die Opfer beginnen zu können.Mit den Ereignissen dieser Woche sind wir einen ent-scheidenden Schritt vorangekommen. Das Geld ist nunvorhanden; die deutsche Wirtschaft hat ihre 5 Milliar-den DM zusammen. Sie hat hierfür eine Lösung gefun-den. Aber damit ist noch nicht alles erfüllt, was wir brau-chen, um auf einem sicheren Weg zur Rechtssicherheit zu
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001 15455
kommen. Das Geld muss an die Bundesstiftung überwie-sen werden. Zur Not kann hierfür die Konstruktion einesTreuhandverhältnisses gewählt werden.Aber Richterin Kram hat in ihrem Urteil ganz eindeu-tig gesagt: „Full funding of the foundation is accom-plished.“ Die volle Finanzierung der Stiftung ist erreicht.Sie hat nicht gesagt: ist gewährleistet oder garantiert. Dasheißt, wenn man diesen Richterspruch erfüllen will, mussdas Geld der Stiftung zur Verfügung gestellt werden. An-sonsten geht die Wirtschaft erneut unnötige Prozessrisi-ken auf Kosten der Opfer ein.
Wir haben der Wirtschaft bereits vor diesem Urteil ge-raten, sie solle durch eine erste Überweisung ihre Zah-lungswilligkeit demonstrieren. Damals hat man uns ge-sagt: Das wird die Richterin nicht interessieren, dieKlagen werden schon abgewiesen werden. Man hat sichschon einmal getäuscht. Ich warne davor, ein Risiko in dernächsten Instanz einzugehen, denn dann könnte Rechts-sicherheit auch höchstrichterlich abgelehnt werden.Meine Damen und Herren, die Verträge wie das Stif-tungsgesetz machen die Feststellung ausreichenderRechtssicherheit zur Voraussetzung von Auszahlungen andie Opfer. Dabei dürfen wir die Anforderungen nicht zuhoch schrauben. Wir hatten im Bundestag immer Einver-nehmen darüber, dass wir gesagt haben, wir müssen dieSammelklagen zurückgewiesen haben und wir braucheneinen Testfall für die Belastbarkeit des Statement of Inter-est. Ich meine, dies muss ausreichen.Selbstverständlich hat die deutsche Wirtschaft ein be-rechtigtes Interesse an einem allumfassenden rechtlichenFrieden, wie er uns Deutschen von den Amerikanern ver-sprochen wurde, für deutsche Unternehmen in den Verei-nigten Staaten. Wir stehen auf ihrer Seite, wenn es darumgeht, diese vertragliche Zusage einzufordern, solange sichdas nicht gegen die Interessen der Opfer wendet. Es gehteinerseits zwar um Rechtssicherheit, aber es geht ande-rerseits auch um den moralischen Gehalt dieses Projektes.Es geht um historische Schuld, um Verantwortung, die wirals Deutsche dafür übernehmen wollen, und es geht umVersöhnung.Wenn Rechtssicherheit nicht schnell erreicht werdenkann – Vertreter der Wirtschaft haben gestern in Inter-views mitgeteilt, dass man alle Urteile zu diesem Themaabwarten will; man muss sich daher darüber klar sein,dass bis zum Jahresende wahrscheinlich weder Rechtssi-cherheit bestehen wird noch Auszahlungen erfolgen kön-nen –, dann werden wir in einem moralischen Dilemmasein und darüber nachdenken müssen, ob es eine humani-tär motivierte Lösung geben kann.
Der Bundestag muss die Lage neu bewerten, wenn derBundeskanzler aus den Vereinigten Staaten zurück-kommt. Wir müssen von unseren amerikanischen Freun-den auch verlangen, dass sie ihre Zusagen aus demRegierungsabkommen voll und ganz einhalten. Dazukönnen Sie einiges mehr als in der Vergangenheit tun. DieStatements of Interest können näher an dem Regierungs-abkommen liegen, als dies bislang der Fall war.Wir dürfen aber bei all diesen Diskussionen überRechtsfragen die Opfer nicht vergessen. Jeden Tag ster-ben nach Schätzungen der Opferorganisationen 200 Men-schen, die eigentlich eine Zahlung aus der Bundesstiftungerhalten sollen. Allein in Tschechien sind es 15 Menschenpro Tag. Als wir vor nicht langer Zeit das Stiftungsgesetzverabschiedet haben, wollten wir eine Überlebendenstif-tung schaffen. Wir müssen aufpassen – der Bundestag hatdafür die Verantwortung –, dass daraus keine Hinterblie-benenstiftung wird.
Deshalb sollten wir diese Fragen gründlich diskutierenund dabei alle Motive des Projektes berücksichtigen.Nach der Reise des Bundeskanzlers sollten wir uns in denAusschüssen noch einmal intensiv mit Lösungsmöglich-keiten beschäftigen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Dr. Max Stadler.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Als sich vor knapp ei-nem Jahr abzeichnete, dass die internationalen Verhand-lungen zu einem erfolgreichen Ende kommen, hat derBundestag zwei Versprechen abgegeben: erstens, das not-wendige Stiftungsgesetz gründlich zu beraten und, zwei-tens, es zugleich schnell zu verabschieden, damit die Zah-lungen an die Opfer rasch beginnen können, beigleichzeitiger Rechtssicherheit für die deutsche Wirt-schaft. Der Bundestag hat diese Versprechen eingehalten.Das Gesetz ist hier trotz der Kompliziertheit der Materieschnell beraten und verabschiedet worden. Noch vor derSommerpause 2000 ist ein Kuratorium installiert worden,das seither mit Hochdruck an der verwaltungstechnischenUmsetzung des gesamten Projekts arbeitet.Dennoch ist die Zielsetzung des Stiftungsgesetzes bisheute nicht erreicht worden. Dies ist wirklich bedrückend.Man kann hinsichtlich der beiden Anwälte, die an denVerhandlungen beteiligt waren und jetzt mit der Erhebungneuer Klagen den Eintritt der Rechtssicherheit hinauszö-gern, nur Unverständnis haben. Unverständnis muss manauch gegenüber den Teilen der deutschen Wirtschaft zei-gen, die gezögert haben, sich an der Aufbringung der5Milliarden DM zu beteiligen – dies gilt aber nicht für dieStiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft insgesamt.
In diesem Haus herrscht auf allen Seiten Unverständ-nis darüber, dass die vielen Mahnungen von GrafLambsdorff, von den Fraktionen des Bundestages undvon vielen anderen in der Öffentlichkeit, das Kapitalrechtzeitig und in voller Höhe zur Verfügung zu stellen, inden Wind geschlagen worden sind, weswegen weitereVerzögerungen eingetreten sind.
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Volker Beck
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Wir sind in einen Teufelskreis von fehlendem Stif-tungskapital und fehlender Rechtssicherheit geraten. Er-freulicherweise ist seit Dienstag dieser Woche die Chancegegeben, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Deshalbschließe ich mich den Appellen an die amerikanische Jus-tiz an, jetzt die Verfahren rasch abzuschließen. Aber derBundestag kommt wieder in die Situation – sie ist so ähn-lich wie die vor knapp einem Jahr –, dass er eine Ent-scheidung gründlich, aber rasch wird treffen müssen;denn – ich mache auf diesen Aspekt bewusst aufmerk-sam – es ist einzig und allein der Bundestag, der nach demStiftungsgesetz die Feststellung der ausreichendenRechtssicherheit zu treffen hat.
Wir stehen unter Entscheidungszwang. Kein runderTisch, keine Arbeitsgruppe, kein Bundeskanzler und nichteinmal der geschätzte Graf Lambsdorff können uns dieseEntscheidung abnehmen.
Dies ist im Stiftungsgesetz bewusst so festgelegt wor-den, weil von vornherein damit gerechnet wurde, dass überdie Voraussetzungen der Rechtssicherheit durchaus unter-schiedliche Meinungen entstehen können. Daher ist eineeinvernehmliche Lösung dieser Frage wünschenswert undanzustreben. Dem Bundestag bleibt nichts anderes übrig,als erneut das Versprechen zu geben, diese Frage in dennächsten Tagen und Wochen zwar mit der gebotenen Akri-bie zu prüfen, aber dann rasch so oder so zu entscheiden.Meine Damen und Herren, wir sind uns dabei unsererVerantwortung bewusst. Wir tragen Verantwortung dafür,dass das Interesse der Wirtschaft, für die gleiche Sachenicht zweimal zahlen zu müssen, berücksichtigt wird; wirhaben aber auch eine Verantwortung gegenüber den Op-fern. Aufgrund der praktischen Bewährung des Statementof Interest ist mit größter Wahrscheinlichkeit damit zurechnen, dass noch anhängige Klagen in den USA abge-wiesen werden. Der Streit geht darum, welche Klagennoch relevant sind. Dies ist das berechtigte Interesse derWirtschaft. Es darf aber nicht zugewartet werden, bis dieletzte aussichtslose Einzelklage alle Instanzen durchlau-fen hat. Dies ist das berechtigte Interesse der Opfer. Icherwarte vom Deutschen Bundestag, dass er in diesemSpannungsfeld unter Wahrung beider Interessenlagenbald eine kluge Entscheidung trifft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat Kollege
Ludwig Stiegler für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! GrafLambsdorff! Meine Damen und Herren! Die beklagens-werte Lage wurde schon angesprochen: Das Geld ist da,doch die Opfer können es nicht bekommen. Diese Situa-tion ist fast mit der des Tantalus zu vergleichen: Die Mög-lichkeit zu helfen, also das zu erreichen, was wir immerwollten, ist zum Greifen nahe, aber es geht noch nicht.Es ist auch traurig, dass die deutsche Wirtschaft ihreChance vertan hat. Hätte sie vor vier Wochen gehandelt,könnte sie sagen: Wir haben mit viel Mühe das Ziel er-reicht. – Jetzt muss man sich fragen, ob immer erst etwaspassieren muss – ein Richterspruch oder die Anberau-mung eines Kanzlergesprächs –, bevor sich etwas bewegt.Es ist wirklich schade, dass der moralische Aspekt diesergroßen Bemühungen in diesem Zögern einfach untergeht.Lassen Sie uns aber nach vorne schauen: Wir könnenFrau Kram vonseiten des Deutschen Bundestages sagen,dass das Geld da ist. Dies ist eine ganz wichtige Botschaft.So ärgerlich die Entscheidung von Frau Kram auch war,wer sie im Detail liest, wird feststellen, dass die Aus-führungen zum Statement of Interest und zu seiner Bedeu-tung eine wesentliche Hilfe bei weiteren Fällen sein kön-nen. Es wurde wirklich deutlich gemacht, dass dasStatement of Interest nicht ein einfaches Papier ist, sondernsehr bedeutungsvoll ist. Frau Kram hat sich gerade daraufberufen und gesagt, dass, solange das Geld nicht da ist, die-ses Instrument nicht wirksam eingesetzt werden könne. Da-mit können wir darauf vertrauen, dass es so ähnlich wie be-reits in einigen früheren Fällen auch in Zukunft läuft.Wir müssen uns auch darüber klar sein, dass es sich beider Vereinbarung mit der deutschen Wirtschaft um eineGesamtvereinbarung handelt. Es ist leider nicht so, wieKollege Stadler soeben gesagt hat, dass der DeutscheBundestag entscheidet und die Wirtschaft zahlen muss. In§ 17 steht: Wenn der Bundestag ausreichende Rechtssi-cherheit feststellt, kann die Stiftung an die Partnerorgani-sation zahlen. – Die Regelung, wann die Leistungen derWirtschaft an die Stiftung fällig werden, steht leider wo-anders. In diesem Bereich ist Rechtsfriede nötig. Wir tungut daran, diesen Gesamtrahmen strikt einzuhalten unddie sich daraus ergebenden Folgen miteinander zu tragen.Wir sollten nicht über dieses gesamte Vertragswerk hi-nausgehen. Vertragstreue gilt für beide Seiten.Angesichts der Tatsache, dass wir alle Anstrengungenunternehmen, um möglichst viel Rechtssicherheit herbei-zuführen, bin ich mir sicher, dass sich die deutsche Wirt-schaft am Ende der Entscheidung des Parlamentes nichtverweigern wird. Wir erwarten von der deutschen Wirt-schaft, dass sie nicht sozusagen die Buchstaben reitet,sondern dafür Sorge trägt, dass die grundlegenden Zieleerreicht werden und dass dem moralischen Anspruch dasnotwendige Gewicht verliehen wird. Entsprechende Si-gnale deuten darauf hin, dass die deutsche Wirtschaftnicht justament auf Abweisung der letzten Klage bestehenwird. Darauf werden wir auch in unseren Gesprächendringen.Es geht jetzt darum, dass die amerikanische Seite ihre Zu-sagen erfüllt. Jetzt muss Tempo in die Verfahren gebrachtwerden. Mir genügt das Statement of Interest allein nicht.Ich darf in diesem Zusammenhang aus Art. 2 Abs. 2 desdeutsch-amerikanischen Regierungsabkommens zitieren:Die Vereinigten Staaten werden sich in Anerkennungder Bedeutung der Ziele dieses Abkommens ein-schließlich des umfassenden und dauernden Rechts-friedens frühzeitig und nach besten Kräften bemühen,auf eine Weise, die sie für angemessen halten, diese
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Dr. Max Stadler15457
Ziele gemeinsam mit den Regierungen der Bundes-staaten und der Kommunen zu verwirklichen.Ich erwarte jetzt von der amerikanischen Seite, dass sienoch einmal an die Gerichte herantritt und auf der Grund-lage der Information über die Zusagen der deutschenWirtschaft erklärt: Wer bisher noch Bedenken hinsichtlichder Bereitstellung der 5 Milliarden DM in voller Höhehatte, der möge diese, bitte schön, zurückstellen. – Wirmüssen uns darum bemühen, dass bei den GerichtenTempo gemacht wird, und deutlich machen, dass jederRichter, der in dieser Angelegenheit nicht schnellstmög-lich entscheidet, die Opfer, die er schützen will, imGrunde genommen schädigt, weil die Hilfe für sie zu spätkommen kann.Wir sollten gemeinsam den Richtern in Amerika sehrdeutlich machen: Wir haben unseren Beitrag geleistet.Nun tut ihr das Eure!Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Nicht das Leid der überlebenden Zwangsar-beiter, sondern der Spruch der US-Richterin Kram hat dieWirtschaft dazu veranlasst, die längst überfälligen 5 Mil-liarden DM nun endlich verbindlich zuzusagen. Alleindies zeigt: Das Unrechtsbewusstsein der deutschen Wirt-schaft beim Thema NS-Zwangsarbeit ist nach wie vor er-bärmlich.
An dieser Stelle möchte ich einige Worte an die über-lebenden Zwangsarbeiter richten: Ich versichere Ihnen,die PDS-Fraktion empfindet die jetzige Situation als un-erträglich und skandalös. Wir sind wütend und ratlos zu-gleich, dass immer noch kein Geld an die überlebendenOpfer ausgezahlt wurde. Wir werden alles daran setzen,dass so schnell wie möglich mit der Auszahlung begon-nen wird.In den letzten Wochen und auch in diesen Stunden fin-det ein Gezerre um Fragen der Rechtssicherheit für dieWirtschaft statt, das alles andere in den Hintergrund stellt.Völlig unverfroren hat erst gestern der Sprecher der Stif-tungsinitiative, Herr Gibowski, wiederholt, dass alleneuen Klagen in den USA niedergeschlagen oder zurück-gezogen sein müssen, bevor mit der Auszahlung an dieOpfer begonnen werden kann. Ich muss Ihnen ehrlich sa-gen, dass mir zu diesem Herrn nichts mehr einfällt, der inden letzten Wochen und Monaten nichts unversucht ge-lassen hat, immer wieder Vorwände – meiner Meinungnach: auch Gemeinheiten – zu finden, um die Auszahlungzu verzögern.Ich möchte hier ganz eindeutig denjenigen widerspre-chen, die jetzt auf die amerikanischen Gerichte und aufdie Situation in den USA hinweisen.
Das Entscheidende ist, dass vor allen Dingen die Wirt-schaft in den letzten Monaten immer wieder gezeigt hat,dass sie überhaupt nicht bereit war, zu zahlen und nach ei-ner Lösung zu suchen. Das ist nach wie vor skandalös.Ich bin der Meinung, dass die Lage relativ klar ist. Ers-tens. Die Wirtschaft muss sofort ihren Beitrag von 5 Mil-liarden DM auf das Konto der Bundesstiftung überwei-sen.
Zweitens. Die letzte Sammelklage in den USA – dafürmüssen wir uns einsetzen – muss so schnell wie möglicheingestellt werden. Dann – da waren sich die Mitgliederdes Kuratoriums bisher immer einig – könnte der Bun-destag eigentlich Rechtssicherheit beschließen und mitder Auszahlung an die Opfer beginnen.Ich möchte hier klipp und klar sagen: Für die Opfer istdas, was in diesem Zusammenhang in den letzten Mona-ten gelaufen ist, nicht mehr akzeptabel. Uns begegnen im-mer wieder Menschen, die völlig hilflos fragen: Wie kannes nur angehen, dass in Deutschland keine Lösung gefun-den wird? – Schauen wir zum Beispiel nach Österreich.Dort ist offensichtlich alles viel schneller geregelt wor-den. Auch andere Organisationen waren sehr viel schnel-ler in der Lage, die Opfer zu entschädigen.Hinsichtlich der Gespräche gestern beim Bundeskanz-ler hatten wahrscheinlich viele die Erwartung, dass derKanzler endlich einmal ein Machtwort spricht. Aber auchdas, was Sie, Herr Lambsdorff, heute hier vorgetragen ha-ben, war im Prinzip nichts Neues. Ich bin nicht alleine ent-täuscht darüber, dass hier nicht ganz klar entschiedenworden ist, dass im Sinne der Opfer schnell gehandeltwird.Es ist wie immer: Wenn man nicht weiterweiß, gründetman einen Arbeitskreis. Dieser soll jetzt beim Bundes-kanzler angesiedelt werden. Ich muss ehrlich sagen, dassich wenig Hoffnung habe, dass dieser Arbeitskreis die Lö-sung bringen wird, die wir in monatelangen Gesprächenund Verhandlungen zu finden versucht haben. Ich weißnicht, was dieser Arbeitskreis im Zusammenhang damitbringen soll, dass jetzt schnell Rechtssicherheit herge-stellt und die Opfer entschädigt werden sollen.Insofern möchte ich von dieser Stelle aus ein weiteresMal an die Bundesregierung appellieren, sich klar unddeutlich für die Opfer einzusetzen, nicht gegenüber derWirtschaft einzuknicken und womöglich noch weitereKlagen abzuwarten, bevor sie die Entschädigungszahlun-gen leistet.Ich möchte auch noch ein Wort zu meinem KollegenBeck sagen. Herr Kollege Beck, Sie sind jetzt in der Öf-fentlichkeit mit dem Vorschlag vorgeprescht, man könneja die Rechtssicherheit von den jetzigen Zahlungenabkoppeln. Ich halte überhaupt nichts davon, dass ein ein-zelnes Mitglied des Kuratoriums vorprescht
und irgendwelche Vorschläge macht, die falsche Hoff-nungen wecken. Das aber haben Sie in den vergangenen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Ludwig Stiegler15458
Tagen immer wieder getan. Ich fordere – ebenso wie bei-spielsweise die osteuropäischen Partnerorganisationen,aber auch andere Mitglieder des Kuratoriums –, soforteine Sitzung des Kuratoriums einzuberufen und mit denOpferverbänden darüber zu diskutieren,
was jetzt getan werden kann. Die Opferverbände solltenauch in die Arbeitsgruppe mit einbezogen werden, stattdie Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfin-den zu lassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja, ich komme zum letzten Satz.
Wenn es – in dem Punkt stimme ich mit dem Kollegen
Beck völlig überein – so weitergeht wie bisher, dann wer-
den wir keine Stiftung für die Entschädigung der überle-
benden Zwangsarbeiter haben, sondern eine Hinterbliebe-
nenstiftung. Das darf nicht passieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Bernd Reuter für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Ich will an das anknüpfen,was Frau Jelpke hier vorgetragen hat, nämlich dass wiralle darüber betroffen sind, dass es uns nicht gelingt, end-lich an die Menschen eine Auszahlung leisten zu können,die dieses schwere Schicksal erlitten haben. Aber ichmöchte auch davor warnen, dass hier der Eindruck ver-mittelt wird, man müsse nur wollen, dann könne man dasGeld auch auszahlen.
Ich bin ein ehrlicher Makler: Wir wollten im Rahmender Diskussion heute eine Aktuelle Stunde machen, umder Industrie einmal deutlich zu sagen, dass sie endlichdas Geld bringen muss. Es hieß ja immer: Das Geld ist da,wenn es gebraucht wird. Seit dem 13. März heißt es: DasGeld ist da.Nun will ich mich nicht an dem theoretischen Streit be-teiligen, ob das Geld bei der Stiftung eingezahlt werdenmuss. Mir wäre es lieber, wie es auch Herr KollegeBosbach gesagt hat, wenn es eingezahlt werden würde.Aber nach den Regeln, die wir uns selbst gegeben haben,ist dies nicht zwingend erforderlich.Wir haben unsere Aufgaben zunächst ordentlich er-füllt. Die Wirtschaft hat das Geld zur Verfügung gestellt.Jetzt liegt es – das klang auch bei Max Stadler an – in derTat an der Justiz in Amerika, durch entsprechende Ent-scheidungen dafür zu sorgen, dass wir in die Lage versetztwerden, ausreichend Rechtsfrieden herzustellen.
Die Entscheidung der Richterin Kram in Amerika seheich ähnlich wie Graf Lambsdorff. Sie mag rechtsfehler-haft gewesen sein. Aber, meine Damen und Herren, auchwenn heute nicht der Tag der Dankadressen ist, solltenwir vielleicht der Richterin Kram dafür danken, dass siediese Entscheidung getroffen hat; denn nicht die Dro-hung mit unserer Aktuellen Stunde hat die Wirtschaftdazu gebracht, das Geld bereitzustellen, sondern mögli-cherweise die Entscheidung dieser weisen Dame in Ame-rika.
Wir müssen mit einer Richterschelte auch deswegenvorsichtig sein, weil dies kontraproduktiv sein könnte. Esist richtig, was Ludwig Stiegler dargelegt hat: Wir könnendem Kanzler natürlich mit auf den Weg geben, seine Kon-takte in Amerika zu nutzen, um dafür zu werben, dassauch in Amerika eine Stimmung erzeugt wird, die es derJustiz ermöglicht, schnell zu entscheiden. Nichtsdesto-trotz werden wir nicht alle Klagen schnell vom Tisch be-kommen.Auf der einen Seite steht die Verpflichtung, dass dieWirtschaft das Geld zusammenbringt – die Bundesregie-rung hat ihren Anteil von 5 Milliarden DM bereits er-bracht –, auf der anderen Seite die so genannte ausrei-chende Rechtssicherheit. Da können wir uns nichtdavonstehlen – so Leid es mir tut, Ulla Jelpke – und sa-gen, der Kanzler sei vor der Wirtschaft eingeknickt oderer kusche vor der Wirtschaft. Man kann auch nicht so wieandere argumentieren – man braucht ja nur den Fernseheranzuschalten oder Radio zu hören –, die sagen, hier werdenur die Sache der Wirtschaft vorgetragen. Wenn ich dieseTöne manchmal höre, wundere ich mich nicht, dass dieIndustrie nicht bereit ist, das Geld einzuzahlen. Ich habeden Eindruck, manche hier argumentieren, es sei ganzegal, ob wir Rechtssicherheit erreichen, wir sollten ein-fach auszahlen.Aus meiner Sicht kann ich nur warnen: Wenn wir jetztdas Gesetz ändern und Mittel aus der Stiftung auszuzah-len beginnen, dann gefährden wir das gesamte Projekt.Wir müssen aber alles daran setzen, dass dieses Projekt er-folgreich abgeschlossen wird. Wenn es nun noch etwaslänger dauert, ist das zwar bedauerlich; aber der DeutscheBundestag könnte, sollte dies bis zum Eintritt in die Som-merpause nicht zu bewerkstelligen sein, auch aus derSommerpause zurückgeholt werden, damit wir hier dieRechtssicherheit feststellen und die Auszahlung beginnenkann.
Es liegt nun daran, durch vernünftiges Verhalten dazubeizutragen, dass hier keine Irritationen ausgelöst wer-den. Ich sage an dieser Stelle auch – das klang bei UllaJelpke ebenfalls an –: So manche Empfehlung, die ich in
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Ulla Jelpke15459
den letzten Tagen gehört habe, zeugt davon, dass diejeni-gen, die öffentlich so argumentieren, einfach ihre Unter-lagen zur Seite gelegt haben. Man muss nur in diese Un-terlagen hineinschauen; dann weiß man auch, welcheProbleme lösbar sind und was machbar ist.Mein Appell und meine Bitte: Wir müssen in dieserFrage zusammenbleiben. Nur dann, wenn der DeutscheBundestag und die Kuratoriumsmitglieder dieses Hauseseinig und geschlossen die Interessen der bemitleidens-werten Menschen vertreten, die auf ihr Geld warten, wirdes uns gelingen, Eindruck auf die Justiz in Amerika zumachen. Nur dann sind wir in der Lage, in absehbarer Zeitendlich mit den Zahlungen zu beginnen. Dieses Ziel mussfür uns im Vordergrund stehen und dafür sollten wir allegemeinsam streiten.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Martin Hohmann für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Graf Lambsdorff! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
„Unvorstellbar“ war für den Kanzler das von vielen als
dauerhaft vermutete Unvermögen der deutschen Wirt-
schaft, ihren Anteil am Stiftungsvermögen zusammenzu-
bekommen. Auch mithilfe einer „Ruck“-Entscheidung
von Richterin Shirley Kram hat Gerhard Schröder Recht
behalten. Krise und Blamage sind abgewendet, Gott sei
Dank. Reist der Kanzler jetzt zu seiner Antrittsvisite bei
Präsident Bush mit leichtem Gepäck? – Fehlanzeige!
Nach der Geldnot kommt die Zeitnot. Wer 55 Jahre auf
eine Geste der Wiedergutmachung für Zwangsarbeit ge-
wartet hat, darf keinen Tag länger hingehalten werden,
hört man. Die Opfer sollen das Geld bekommen, nicht die
Erben. – Wer wollte dem widersprechen?
Auf der einen Seite steht die Humanität, auf der ande-
ren Seite das, was man als juristischen Formelkram be-
zeichnet. Da kann, da darf doch nicht mehr gezögert wer-
den. Sofort das Geld auszahlen, der Stimme des Herzens
folgen, so die populäre Forderung.
Wagt da jemand zu widersprechen? – Ja, der Kanzler
selbst und Otto Graf Lambsdorff, sein Sonderbeauftrag-
ter. Sind das Unmenschen? – Nein! Sie tun ihre Pflicht,
wenn sie uns in einer Phase großer öffentlicher Erwartun-
gen zur Besonnenheit mahnen, wenn sie uns daran erin-
nern, dass Deutschland und die deutsche Wirtschaft eben
nicht aufgrund rechtlicher, sondern aufgrund politisch-
moralischer Verpflichtung Entschädigung leisten, wenn
sie uns an die Geschäftsgrundlage erinnern. Diese Ge-
schäftsgrundlage wurde von einer breiten Mehrheit durch
Bundestagsbeschluss im letzten Sommer gegengezeich-
net. Sie lautet: Entschädigungsleistung gegen Rechts-
sicherheit. Rechtssicherheit ist sicher erst dann gegeben,
wenn der Fall Deutsch gegen Turner-Corporation vor dem
amerikanischen Berufungsgericht im Juni positiv ent-
schieden ist.
All das fasst Graf Lambsdorff in der zutreffenden Er-
wartung zusammen, dass mit den Zahlungen frühestens
im Sommer dieses Jahres gerechnet werden kann. Für
diese klaren Worte sollten wir Graf Lambsdorff nicht ta-
deln. Wir sollten ihm auch dafür dankbar sein.
Dankbar sollten wir auch den beteiligten deutschen
Unternehmen sein; es ist bereits ausgedrückt worden. Im-
merhin haben mehr als 50 Prozent dieser Unternehmen
1945 noch gar nicht bestanden.
Trotzdem haben sie in den Fonds einbezahlt und die Grün-
dungsmitglieder haben kräftig nachgeschossen.
Nachdem wir gemeinsam mit der Wirtschaft so weit
gekommen sind, habe ich jede Zuversicht, dass wir auch
den Rest, die letzten 100 Meter bis zum Ziel, gemeinsam
schaffen. Aber der Ball liegt jetzt im Spielfeld der Ameri-
kaner. Die amerikanische Justiz und die Bush-Regierung
sind jetzt am Zug.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, nachdem
das Projekt der Zwangsarbeiterentschädigung mit großer
Unterstützung aus allen Fraktionen kurz vor einem erfolg-
reichen Abschluss steht, mein Appell an die rot-grüne
Mehrheit des Hauses: Denken Sie bitte auch an die deut-
schen Zwangsarbeiter, denken Sie bitte auch an die deut-
schen Spätheimkehrer, die in die ehemalige DDR entlas-
sen wurden!
Treffen denn die grausigen Berichte über Hunger, Qualen
und Misshandlungen nicht auch auf sie zu? Gehen wir
nicht von einer universalen Geltung der Menschenrechte
aus? Sind wir etwa ein Schwellenland in Sachen Men-
schenrechte?
Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-
tion, in Ihrer Oppositionszeit haben Sie auf das Thema
Menschenrechte größten Nachdruck gelegt. Als Union
sind wir Ihnen bezüglich der Zwangsarbeiterentschädi-
gung darin gefolgt. Wir können Sie nur bitten, umgekehrt
uns bei der beantragten Entschädigung der DDR-Spät-
heimkehrer zu folgen. Oder sind die 90 Millionen DM,
knapp 1 Prozent von 10Milliarden DM, für diese wirklich
vergessenen, alten Menschen zu viel? Wenn das der Fall
wäre, müssten wir uns einfach nur schämen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht Kollege
Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Bernd Reuter15460
der Bundestag im Juli 2000 das Gesetz zur Bundesstiftung„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ beschloss, wardas ein großes Zeichen der Hilfe und Hoffnung für vieleHunderttausende ehemalige Zwangsarbeiterinnen undZwangsarbeiter in Osteuropa, zumal nach Jahrzehnten derIgnoranz und Gleichgültigkeit, die sie aus Deutschlandihrem Schicksal gegenüber vorher erfahren hatten. DieserBeschluss war ein regelrechtes Rettungssignal gerade fürdie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Osteu-ropa, die ja ungefähr 90 Prozent der Zwangsarbeiter ins-gesamt ausmachen. Mit wachsender Irritation und Ent-täuschung mussten diese Menschen erleben, dass sich dieUmsetzung der Ankündigung verzögerte und verzögerte.Die Verweigerungshaltung eines Teils der deutschenUnternehmen verhinderte allzu lange, dass die zugesagten5 Milliarden DM zusammenkamen. Sie konterkariertendadurch zugleich die verantwortliche Haltung andererUnternehmen, vor allem auch derjenigen, die selbst garkeine Zwangsarbeiter beschäftigt hatten oder Nachkriegs-gründungen waren. Damit wurde die große Versöhnungs-geste der Wirtschaft, des deutschen Parlaments entwertetund viele, viele Tausend Zwangsarbeiter wurden um ihreEntschädigung betrogen, weil sie inzwischen eben ge-storben sind.Am 22. Juni, in wenigen Monaten, jährt sich zum sech-zigsten Mal der Beginn des deutschen Überfalls auf dieSowjetunion. Damals begann der größte Vertreibungs-,Vernichtungs- und Versklavungskrieg, den die Geschichtegesehen hat. Bis zu diesem Datum muss die Auszahlungder Entschädigung angelaufen, muss sie konkret in Sichtsein. Deshalb darf die deutsche Wirtschaft keine maxima-len Forderungen an Rechtssicherheit stellen. Deshalbmuss in die Bundesstiftung direkt und schnellstmöglicheingezahlt werden.
Die bisherige Entwicklung ist trotz aller guten Leis-tungen dabei insgesamt eher beschämend. Umso mehrmöchte ich auf diejenigen Bürgerinnen und Bürger inDeutschland aufmerksam machen, die von sich aus schonseit Jahren Verantwortung in dieser Frage übernommenhaben. Sie machten ehemalige Zwangsarbeiter aus ihrenRegionen ausfindig, organisierten Patenschaften und Be-suchsreisen. Sie organisierten Spendensammlungen fürehemalige KZ- und Getto-Häftlinge sowie für Zwangsar-beiter. Sie nahmen persönliche Kontakte auf, die oft inFreundschaften mündeten. Sie bewiesen persönlich an-schaulich und überzeugend an ihren jeweiligen Orten, wieüberfällig eine so genannte Entschädigung ist und dassRessentiments, antisemitische Ressentiments, die sich oftgerade an der Entschädigungsfrage festmachen, die Wirk-lichkeit absolut entstellen und unmenschlich sind.
Beispielhaft für solche Bürgerinnen und Bürger nenneich das Ehepaar Hanna und Wolf Middelmann in Göttin-gen, den ehemaligen Pfarrer Werner Lindemann oderMargret Sintram aus Lüneburg, die in großem Umfang sol-che Partnerschaftsbeziehungen mit ehemaligen Zwangs-arbeitern in Weißrussland, im Baltikum aufbauten. Sol-chen Bürgerinnen und Bürgern hat der Deutsche Bundes-tag ausdrücklich zu danken.
Ihre demokratische Privatinitiative sollte sich die ge-samte – die gesamte! – deutsche Wirtschaft zum Vorbildnehmen. Zugleich sollten wir, liebe Kolleginnen und Kol-legen, solche Privatinitiativen in unseren Wahlkreisen un-terstützen; denn sie sind das persönliche und menschlicheFundament einer Versöhnungsarbeit, die sich nicht auf dieAuszahlung von Geldbeträgen beschränken kann und fürdie wir nicht mehr viel Zeit haben werden.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Kol-
legin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin immernoch nicht ganz sicher, ob es wirklich klug war, mit die-sem Thema heute eine Aktuelle Stunde durchzuführen,deren ursprünglicher Anlass eigentlich entfallen ist, oderob es nicht besser und wirklich klüger gewesen wäre, nureinen Sachstandsbericht, wie ihn Graf Lambsdorff gege-ben hat, entgegenzunehmen. Wir alle wissen, dass esmanchmal klüger ist, zu schweigen und keine Unsicher-heiten aufkommen zu lassen.
Wenn in der letzten Debatte zum Nachtragshaushalt,also beim vorigen Tagesordnungspunkt, mehrfach von ei-nem Bumerang die Rede war, dann heißt das: Die Wahrheitund die Realität werden uns einholen. Es wäre nämlichfalsch und schädlich, wenn durch die heutige Debatte zu ei-ner weiteren Verunsicherung der amerikanischen Gerichteund insbesondere der Opfer beigetragen werden würde.
– Frau Jelpke, auch Ihr Beitrag war nicht dazu geeignet,das auszudrücken, was wir dringend brauchen.
– Frau Fuchs, ich bin da anderer Ansicht. Sie müssen sichjetzt anhören, warum. – Wir müssen nämlich nach außenden Eindruck erwecken, dass wir bei dem bleiben, waswir hier alle gemeinsam beschlossen haben. Genau dashabe ich gemeint. Wenn wir das nicht tun, schafft das Ver-unsicherung.
Auch dass Herr Beck soeben die Hoffnung geweckthat, wir würden uns nach der Reise des Bundeskanzlers in
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Winfried Nachtwei15461
die USA möglicherweise auf die Suche nach neuen Lö-sungswegen machen, kann nicht der richtige Weg sein.Weil ich das befürchtet habe, habe ich eingangs gesagt:Vielleicht wäre es klüger gewesen, von einer solchen Ak-tuellen Stunde abzusehen.Ich halte es für wichtig, dass wir bei der in diesemHause bisher bestehenden Einigkeit bleiben.
– Herr Stiegler, wenn wir erwarten, dass sich die US-Ge-richte an das Vereinbarte halten, dann müssen auch wiruns in Zukunft darauf verständigen, bei dem zu bleiben,was wir gemeinsam beschlossen haben.Frau Jelpke, da nutzt es nichts, wenn Sie jetzt die Wirt-schaft beschimpfen, die 5 Milliarden DM – wie auch im-mer; natürlich zu spät, da sind wir uns einig – zusammen-gebracht hat. Wenn Sie einmal schauen, welcheUnternehmen das gewesen sind, dann stellen Sie fest, dassdas nicht ganz selbstverständlich war. Es gibt bei denje-nigen, die eingezahlt haben, ein moralisches Empfinden.Ich denke, es ist hier der falsche Ort, sie zu beschimpfenund zu sagen, das sei alles nicht in Ordnung gewesen.Das, was in diesem Hause bisher der Fall gewesen ist,brauchen wir auch weiterhin: Die Seite, die außerhalb die-ses Hauses tätig ist, das heißt sowohl die deutsche Wirt-schaft als auch die Gerichte, muss wissen, dass sie sich aufdas verlassen kann, was wir hier gemeinsam beschlossenhaben. Es wäre richtig, wenn wir jetzt in Ruhe auf das ver-trauen, was Graf Lambsdorff gesagt hat, nämlich dass erso schnell wie möglich die Empfehlung geben wird, dasswir hier ausreichende Rechtssicherheit feststellen. DerSache angemessen wäre es auch, wenn wir im Prinzip ge-meinsam davon ausgingen, dass alle Beteiligten daran in-teressiert sind, möglichst schnell zu einer Auszahlung zukommen. Jede Vermutung in eine andere Richtung hieltejedenfalls ich für wenig hilfreich.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Dietmar Nietan für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Frau Philipp, ich glaube, die Op-fer sind vor allem dadurch verunsichert, dass sie seit Mo-naten das Trauerspiel erleben, dass sie auch von denVertretern der Stiftungsinitiative nur Worte gehört, aberkeine Taten gesehen haben.
Es entstand vielleicht auch dadurch Verunsicherung, dasskeine Worte des Mitgefühls für die Opfer gefallen sind,sondern Worte, die bei allem Dank dafür, dass die Stif-tungsinitiative das erforderliche Geld zusammenbekom-men hat, dafür gesorgt haben, dass man manchmal an derErnsthaftigkeit der Absichten der Stiftungsinitiative zwei-feln musste. Dies war zum Beispiel der Fall, als der Spre-cher der Stiftungsinitiative erklärte, der Deutsche Bun-destag könne beschließen, was er wolle, aber die Wirt-schaft behalte sich vor, dann einzuzahlen, wann sie wolle.Nachdem der Sprecher der Stiftungsinitiative in der Öf-fentlichkeit so getan hat, als ob ein Klagefall nach demanderen dazu komme und es mit der Abweisung der einenoder anderen Sammelklage nicht getan sei, konnte schonder Eindruck aufkommen, dass man es mit dem Anliegender Initiative nicht so ernst meint.Das Urteil der Richterin Kram – ich bedauere es sehr;denn es hat zu einer zeitlichen Verzögerung geführt – hatirrsinnigerweise dazu geführt, dass die Industrie das, wassie monatelang nicht konnte, innerhalb von wenigen Ta-gen konnte. Das alles verunsichert nicht nur die Opfer,sondern auch uns als Verantwortliche.
Die Industrie hat durch dieses Vorgehen das Vertrauenverspielt, das sie sich sicherlich überall in der Welt mitdem mutigen Versprechen, das Geld zusammenzube-kommen, erworben hat.Es wäre nur allzu gut, dieses Vertrauen wieder zu fes-tigen und nicht nur in Pressemitteilungen zu erklären, manhabe das Geld zusammen. Dieses Geld muss vielmehr soschnell wie möglich auf das Konto der Zwangsarbeiter-stiftung überwiesen werden.Ich will an dieser Stelle sehr deutlich sagen, dass esauch ein wichtiges und richtiges Signal ist, jetzt nicht dasGesetz zu ändern. Bei allem Verständnis dafür, dass einigedas aus moralischen Erwägungen gegenüber den Opferngern tun wollten, glaube ich doch, jetzt das Stiftungsge-setz zu ändern würde das Gegenteil erreichen, nämlichauch in den USAdie Frage aufwerfen: Warum ändert manjetzt das Gesetz? Glaubt man nicht mehr, dass dieses Ge-setz trägt? Deshalb sollten wir zum jetzigen Zeitpunktauch daran festhalten.
In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklichauch die Arbeitsgruppe, die der Bundeskanzler eingerich-tet hat. Diese Arbeitsgruppe muss in der Tat in dem Sinnehandeln, wie es Kollege Bosbach gesagt hat: Sie mussSchnelligkeit und Einigkeit darüber bringen, wie dieRechtssicherheit hergestellt werden kann. Aber es mussauch klar sein, dass weder diese Arbeitsgruppe noch ir-gendein Richter noch die deutsche Wirtschaft die Ent-scheidung treffen können, die Rechtssicherheit imBundestag zu beschließen. Das können nur wir. Dafür tra-gen wir die Verantwortung, wie es der Kollege Stadler ge-sagt hat.Der Bundeskanzler wünscht sich – auch das unter-stützte ich –, dass wir das möglichst noch vor der Som-merpause tun. Der Bundeskanzler hat gesagt: Die Bedin-gungen, die noch fehlen, sind nicht von uns herstellbar.Auch darin gebe ich dem Bundeskanzler Recht. Wir kön-nen diese Bedingungen nicht herstellen, aber wir habendie Verantwortung dafür festzustellen, wie hoch die Hür-den für diese Bedingungen sind.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Beatrix Philipp15462
Ich sage an dieser Stelle sehr deutlich: Vielleichtkommt der Zeitpunkt – ich hoffe, er kommt nicht –, andem der Deutsche Bundestag entgegen denjenigen Kräf-ten in der deutschen Wirtschaft, die die hundertprozentigeRechtssicherheit haben wollen, auch erklären muss, dassRechtssicherheit besteht. Auch das gehört zu unserer Ver-antwortung, der wir gerecht werden müssen.Wer es allerdings ernst meint in dem Sinne, dass es miteiner möglichst schnellen Auszahlung weitergehen muss,der sollte die Zeit jetzt nutzen, zu einem Rechtsfrieden, zueiner Rechtssicherheit zu kommen. Deshalb ist die Reisedes Bundeskanzlers aus meiner Sicht sehr wichtig, um dasin den USA zu versuchen.Ich sage aber auch klar und deutlich, dass diese Ver-antwortung nicht nur wir tragen, indem wir jetzt, wie eseben gesagt wurde, nicht weitere Diskussionen führen,sondern hoffen, dass es zu Ergebnissen kommt. Ich warnejeden in der deutschen Wirtschaft davor, in dieser emp-findlichen Phase Diskussionen in der Öffentlichkeit fort-zusetzen, welche einzelnen Urteile denn noch abgewiesenwerden müssen, bis man aus Sicht der deutschen Wirt-schaft die Rechtssicherheit hergestellt hat.
Wenn wir uns einig darüber sind, dass die Bemühun-gen in den USA, die Leute davon zu überzeugen, dass wireine neue Lage haben, weil das Geld jetzt vorhanden ist,fruchten sollen, dann hat jetzt auch jeder an seinem Platzund in seiner Verantwortung dafür zu sorgen, dass erdurch neue öffentliche Äußerungen den Eindruck, dasswir diesen Rechtsfrieden schnell herbeiführen wollen,nicht torpediert. Dazu appelliere ich an alle, nicht nur anuns, sondern auch an die Vertreter der deutschen Wirt-schaft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Thomas Strobl.
Frau Präsi-dentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchtedie heutige Debatte zunächst zum Anlass nehmen, je-mandem Dank zu sagen, der eine schwierige Aufgabe unddie Lösung eines heiklen Problems übernommen hat unddies, wie ich glaube sagen zu können, bisher erfolgreich,engagiert, hervorragend und auch mit der nötigen Nüch-ternheit geleistet hat. Ich glaube, für viele Kolleginnenund Kollegen Otto Graf Lambsdorff herzlichen Dank aus-sprechen zu dürfen.
5 Milliarden DM sind kein Pappenstiel. Ich glaube,viele sind erleichtert darüber, dass es gelungen ist, einenTeufelskreis zu durchbrechen. Weil vom Vorredner geradeKritik an der deutschen Wirtschaft geübt worden ist: Ichfinde es schon bemerkenswert, dass eine ganze Reihe vonUnternehmen, die erst nach dem Jahr 1949 gegründetworden sind, in der Lage sind, in diesem Punkt gesamt-staatliche Verantwortung zu übernehmen,
und sich in starkem Maße zu beteiligen. Auch dies solltenwir meines Erachtens sagen.Ein Teufelskreis bestand dergestalt, dass Teile der deut-schen Wirtschaft sagten: „Wir zahlen nicht, ohne dassRechtssicherheit hergestellt ist“, und umgekehrt amerika-nische Gerichte anhängige Klagen mit der Begründungnicht abgewiesen haben, in Deutschland stünde das Geldnicht bereit.Jetzt stehen neben den 5 Milliarden DM aus Haus-haltsmitteln weitere 5 Milliarden DM der deutschen Wirt-schaft bereit. Ich denke, dies ist ein wichtiges psycholo-gisches Signal für Amerika. Ein wichtiges Zwischenzieljedenfalls ist erreicht.Allerdings droht der nächste Teufelskreis: Ausgezahltwerden soll erst, so ist es vereinbart, wenn nachhaltig aus-reichende Rechtssicherheit besteht. Ich will hier gleich sa-gen, was ich denke, was die deutsche Seite – damitmöchte ich beginnen – in diesem Zusammenhang tunsollte, ja vielleicht sogar tun muss. Es muss jetzt in jeder,und zwar in wirklich jeder Art und Weise Vorsorge füreine schnelle Auszahlung getroffen werden. Das wäre einweiteres Signal an die amerikanischen Gerichte.Über 1 Million Anträge werden erwartet. Da stellt sichin der Tat die praktische und organisatorische Frage, oballe Voraussetzungen für eine schnelle Auszahlung derGelder nach dem entsprechenden Beschluss des Deut-schen Bundestages geschaffen sind. Steht in Ämtern undArchiven ausreichend Personal bereit? Gibt es ein effi-zientes und zügiges Verfahren im Einzelfall? Können dieUnternehmen jetzt so rasch wie möglich die fehlendeSumme auf das Konto der Stiftungsinitiative überweisen?Vor allem das wäre ein Signal, ein weiteres Signal an dieRichterin Kram, dass nämlich im Grunde sofort ausge-zahlt werden könnte. Es ist der Part der deutschen Seite,diese Voraussetzungen rasch und sichtbar zu schaffen.Zum anderen liegt es bei der amerikanischen Seite,hinreichend Rechtssicherheit für die deutschen Unterneh-men herzustellen. Die Verfahren sollten schnell bearbeitetund abgeschlossen werden. Darauf haben wir nur mittel-baren Einfluss und selbst die amerikanische Regierunghat auf unabhängige Gerichte keinen unmittelbarenEinfluss.Richtig ist auch, hundertprozentige Rechtssicherheitkann es natürlich nicht geben. Aber wir dürfen den ame-rikanischen Gerichten schon sagen: Es ist im Interesse derBetroffenen und der Opfer, wenn die Verfahren schnell er-ledigt werden.Es ist gesagt worden, man müsse der Richterin Kram– ich glaube, der Kollege Reuter hat es gesagt – dankbarsein für ihren Urteilsspruch, weil dies ein Grund dafürwar, dass die fehlenden 1,4 Milliarden DM jetzt doch zu-sammen gekommen sind. Ich möchte hinzufügen: Noch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Dietmar Nietan15463
dankbarer wären wir der Richterin Kram, wenn sie jetztihren Urteilsspruch änderte, nachdem das Geld da ist, da-mit wir auch möglichst schnell zur Auszahlung kommenkönnen.
Abschließend möchte ich zwei Bemerkungen zu die-sem Thema machen. Die Gemeinsamkeit der Demokratengibt es hier im Deutschen Bundestag zu diesem wichtigenThema. Ich stimme denen zu, die darauf hingewiesen ha-ben, dass wir sie gerade bei diesem Thema auch in Zu-kunft erhalten sollten – auch mit Blick auf den Eindruck,den wir gegenüber amerikanischen Gerichten machenkönnen oder eben auch nicht machen können.Ein Zweites möchte ich in dieser Debatte einfach sa-gen, weil man dies zu diesem Thema immer sagen muss.Finanzielle Hilfen können das begangene Unrecht, daszugefügte unermessliche menschliche Leid niemals wie-der gutmachen. Es geht um eine moralische Verpflich-tung, den Opfern zu helfen. Wir haben mit der Stiftungdas zum Ausdruck gebracht, was auch der Bundespräsi-dent sagte, nämlich dass Leid als Leid anerkannt unddass Unrecht, das ihnen angetan worden ist, Unrecht ge-nannt wird.Die breite überparteiliche Zustimmung wurde undwird auch von den betroffenen Staaten als politisches Si-gnal gesehen. Das muss auch in Zukunft so bleiben.Meine Damen und Herren, alle müssen sich jetztschnell um eine effektive Schaffung der Voraussetzungenfür die Auszahlung an die Opfer bemühen. Es muss unseraller Interesse sein, alle Hürden aus dem Weg zu räumen,damit noch Lebenden eine humanitäre Geste des gutenWillens und des Friedens entgegengebracht werden kann.Der Tod hält sich nicht an zeitliche Pläne. Jeder Monat,jeder Tag zählt, bevor es für die Opfer zu spät ist.Hier haben die amerikanischen Gerichte eine großeVerantwortung. Wir allerdings bleiben in dem soeben be-schriebenen Sinne ebenfalls in der Verantwortung.Besten Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Aktuellen Stunde ist der Kollege Dieter Wiefelspütz
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr Strobl, Ihre Rede hat mirsehr gut gefallen. Das Projekt, über das wir heute reden,ist nicht nur eine Angelegenheit der Koalition. DiesemProjekt haben sich viele von Rot-Grün von Beginn an sehrverbunden gefühlt und sich mit viel Herzblut engagiert.Aber dies ist eine Sache des ganzen deutschen Volkes unddemzufolge auch eine Sache des ganzen Deutschen Bun-destages. Das war für uns immer klar. Es ist wichtig, im-mer wieder zu betonen, dass wir dies – bei allem, was unssonst trennt – gemeinsam bewerkstelligen wollen. Hierfürtragen wir gemeinsam die Verantwortung. Dies will ichnoch einmal sehr deutlich unterstreichen.
Ich habe noch nie ein solch ungewöhnliches Gesetzge-bungsverfahren wie das beim Stiftungsgesetz erlebt. Ichglaube auch nicht, dass sich so etwas noch einmal wie-derholen wird. Normalerweise werden Bundesgesetzevon deutschen Abgeordneten im Deutschen Bundestaggemacht, von Männern und Frauen, die gewählt sind. Alswir über das Stiftungsgesetz beraten haben, saßen aber ne-ben uns deutschen Abgeordneten noch Vertreter vieler an-derer Regierungen mit am Tisch: Polens, Tschechiens, derUkraine, Weißrusslands, Israels sowie der VereinigtenStaaten von Amerika. Hier saßen Vertreter der Opferver-bände, des Jewish Claims Congress, des Jewish WorldCongress, vieler Opferorganisationen – ich denke, imGeiste auch die Opfer selbst – mit am Tisch und haben aufein wichtiges Gesetzesvorhaben – sehr spät – Einfluss ge-nommen. Auch Vertreter der deutschen Wirtschaft saßenmit am Tisch.Ich verstehe manche Kritik, aber ich bitte insbesonderediejenigen, die sich kritisch äußern, um Verständnis dafür– ich kenne eine ganze Reihe von Menschen aus der Wirt-schaft, die mit großem, ehrlichem inneren Engagementbei der Sache sind; diejenigen, die gestern beim Kanzlerwaren, gehören mit Sicherheit dazu; diese handeln mitgroßem Verantwortungsbewusstsein –, dass hier etwasgemacht werden muss, was auch schon – viel besser – vielfrüher hätte gemacht werden können. Hierfür gibt esGründe, die wir alle kennen.Ich weiß, die Würde der Opfer gebietet es, dass Aus-zahlungen so rasch wie möglich erfolgen. Wir arbeiten andieser Sache jetzt seit zwei Jahren. Dies ist unerträglichlang. Es ist natürlich vor allem für die Opfer nicht zu er-tragen, dass es so lange dauert. Ich glaube aber auch, dasses für viele von uns fast unerträglich ist. Wir haben in denletzten zwei Jahren, liebe Kolleginnen und Kollegen, GrafLambsdorff – dies ist vielleicht ein kleiner Trost –, sehrschwierige Situationen gemeistert. Es gab immer wiederdie Situation, dass wir geglaubt haben, jetzt gehe es nichtmehr weiter. Dies haben wir immer geschafft.Ich gebe auch zu bedenken, dass viele von uns vor ei-ner Woche bezweifelten, dass es weitergeht, weil das Geldnicht da war. Wir wissen, wie wichtig dies in dieser Si-tuation ist. Jetzt ist es da und wir haben erneut eineschwierige Situation gemeistert, einen weiteren Schrittnach vorn gemacht. Ich bin mir ganz sicher – ich will nichtvon Erfolgen sprechen, das ist in diesem Zusammenhangunangemessen –, dass wir das Ziel, das wir uns vorge-nommen haben, erreichen werden. Ich kann so wenig wieGraf Lambsdorff einen Zeitpunkt nennen. Das sollten wirauch unterlassen.Wir müssen dieses komplizierte Gesetz jetzt bitte sonehmen, wie es ist. Wir sollten es nicht aufschnüren. Wirwürden Chaos produzieren. Deswegen muss das Gesetzso bleiben, wie es ist. Ich will keine Schwarze-Peter-Spiele betreiben. Das hilft uns überhaupt nicht weiter. Ichschätze die Situation so ein wie manche meiner Vorredner,dass jetzt auf amerikanischer Seite eine besondere Ver-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Thomas Strobl
15464
antwortung liegt. Das Geld ist da. Jetzt wird es darauf an-kommen, dass die amerikanische Seite, die amerikani-schen Gerichte ihren Beitrag leisten. Es wird noch einmalkompliziert werden, wenn es um Rechtssicherheit geht.Der Bundestag wird, da bin ich ganz sicher, seiner Ver-antwortung gerecht werden. Ich bin auch ganz sicher, dassdie Wirtschaft dann, wenn es so weit ist, wissen wird,worauf es ankommt. Ich gehe davon aus, dass es dann– das muss man auch vorbereiten – nicht nur um juristi-sche Aspekte der ausreichenden Rechtssicherheit gehenwird. Das wird auch für die Wirtschaft nicht nur eine ju-ristische Frage sein, sondern es wird eine politisch-ethisch-juristische Frage sein. Die Leute, auf die es an-kommt, sind – da bin ich ganz sicher – diejenigen, die ges-tern beim Kanzler saßen. Sie werden ihrer Verantwortunggerecht werden.Wir müssen das Ganze vorantreiben. Der Zeitpunktwird kommen, an dem wir es gemeinsam abschließenkönnen. Ich habe keinen Zweifel: Diese letzte Geduld, soschmerzlich das auch ist, werden wir aufbringen müssen.Ich schließe auch nicht aus, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, dass wir, Herr Bosbach, Herr Beck, Herr Reuter undandere, als Abgeordnete noch einmal in die USA reisen,um dort noch einmal für das zu werben, was jetzt zu tunist, ohne irgendjemandem Vorwürfe zu machen.Ich bin ganz sicher, dass die Reise des Bundeskanzlerseine wichtige Rolle spielen wird. Deswegen bitte ich da-rum, dass wir nicht in allerbester Absicht Vorschläge ma-chen, die kontraproduktiv sind, sondern Vernunft behaltenund das Gesetz in seiner Struktur so ernst nehmen, wie wires gemeinsam mit vielen, vielen Beteiligten geschaffenhaben. Dann werden wir in den nächsten Wochen undMonaten die letzte Strecke gemeinsam erfolgreich gehen.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 und den Zusatz-
punkt 7 sowie den Tagesordnungspunkt 9 und den Zu-
satzpunkt 8 auf:
7. Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Qua-
litätssicherung und zur Stärkung des Verbraucher-
– Drucksache 14/5395 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 7 Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Leistungen in der Pflege
– Drucksache 14/5547 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
9. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Heimgesetzes
– Drucksache 14/5399 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Haupt, Dr. Irmgard Schwaetzer, Ina Lenke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Für ein aktives und mitbestimmendes Leben im
Alter
– Drucksache 14/5565 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zur Einführung hat die
Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt, das
Wort.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir allesind uns darüber einig, dass es eine schöne und positiveEntwicklung ist, dass die Menschen älter werden. Wir ha-ben Verständnis dafür, dass alle erwarten, hoffen und sichwünschen, dass es ihnen im Alter auch dann gut geht,wenn sie auf Hilfe angewiesen sind. Wir alle haben ge-meinsam dafür gesorgt, dass diejenigen, die im Alter aufPflege angewiesen sind, auch Angebote erhalten.Mit der Pflegeversicherung ist in der Vergangenheit einfraktionsübergreifender Konsens im Interesse der pflege-bedürftigen Menschen gelungen. Heute kann man nachunseren Erfahrungen sagen, dass dieser Beschluss gutwar. Seit fast sechs Jahren erbringt die Pflegeversicherungsolidarisch finanzierte Leistungen zur Absicherung desLebensrisikos „Pflege“. Der neueste Bericht über die Ent-wicklung der Pflegeversicherung weist aus: 1,9 Milli-onen Menschen nehmen Hilfe in Anspruch. Alle Untersu-chungen sowohl bei den Pflegenden als auch bei den zuPflegenden zeigen, dass insgesamt die Leistungen derPflegeversicherung für die Menschen zufriedenstellendsind und es positiv bewertet wird, dass es dieses In-strument gibt.
Der Pflegebericht zeigt auch, dass wir mittlerweile so-wohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich über
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DieterWiefelspütz15465
ein quantitativ ausreichendes Angebot verfügen. Jetzt gehtes darum, die Qualität der Leistungen in der Pflege zu ver-bessern. Es geht hier nicht nur darum, Pflegeskandale zuvermeiden oder offensichtliche Missstände zu verhindern.Wir haben in diesem Bereich viele gute Einrichtungen undAngebote. Ich halte dies für eine Selbstverständlichkeit. Esgeht insgesamt um die Sicherstellung höherer Qualitäts-standards. Die Pflegebedürftigen müssen eine Versorgungerhalten, die ihnen das gibt, was sie brauchen, und die vorallen Dingen denjenigen, die auf Pflege angewiesen sind,ein hohes Maß an Sicherheit bietet.
Mit dem vorliegenden Pflege-Qualitätssicherungsge-setz wollen wir dazu einen Beitrag leisten. Unser Ziel istes, die Qualität der Pflege zu verbessern und die Verbrau-cherrechte zu stärken.Wir alle wissen, dass Qualität nicht von außen in dieEinrichtungen „hineingeprüft“ werden kann, sonderndass sie von innen heraus aus der Eigenverantwortung derEinrichtungsträger und aus der Mitverantwortung derLeistungsträger entwickelt werden muss. Viele Träger ha-ben dies bereits erkannt. Wir wollen diese Entwicklungmit dem vorliegenden Gesetzentwurf stärken. Alle müs-sen dazu ihren Beitrag leisten. Ich bin davon überzeugt,dass jedes Pflegeheim und jeder Pflegedienst ein umfas-sendes einrichtungsinternes Qualitätsmanagement ein-führen kann und muss.Wir wollen die Träger darüber hinaus verpflichten, inregelmäßigen Abständen die Qualität ihrer Leistun-gen durch unabhängige Sachverständige und Prüfstellennachzuweisen. Ich glaube, das ist richtig.
Parallel zu diesem internen Qualitätsmanagement bleibendie externe Qualitätssicherung durch die Landesverbändeder Pflegekassen und die staatlichen Kontrollen durch dieHeimaufsichtsbehörden bestehen. Ich halte es – egal, wasan Kritik geäußert wird – für eine Selbstverständlichkeit,dass sich externe Prüfungen nicht nur auf angemeldeteBesuche beschränken dürfen, sondern dass zur Qualitäts-sicherung auch unangemeldete Prüfungen gehören.
Ich sage immer: Wer eine hohe Qualität anbietet, brauchteine unangemeldete Überprüfung nicht zu fürchten.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass zu diesem Punktviel Kritik geäußert wird. Die einen loben dieses Vorha-ben, die anderen kritisieren es. Ich sage aber deutlich:Jede Einrichtung kann nach meiner Auffassung auf Dauernur durch Qualität bestehen. Eine Qualitätssicherung istim Interesse der pflegebedürftigen Menschen, weil dieseoft – sowohl im ambulanten wie auch im stationären Be-reich – in einer Situation sind, in der sie ihre eigenen In-teressen nicht mehr artikulieren können. Deshalb brau-chen sie unseren Schutz, den besonderen Schutz desStaates. Daher glaube ich, dass wir alle gefordert sind, imDeutschen Bundestag mit dafür zu sorgen, eine solcheQualitätssicherung zu gewährleisten.
Ich glaube, es darf nicht sein, dass wir einerseits bei derBekämpfung von BSE ein lückenloses staatliches Kon-trollsystem fordern und uns andererseits darüber unter-halten, ob eine staatliche Fürsorgepflicht für gebrechlicheund ältere Menschen an den Türen der Pflegeheime endensoll. Nein, der umgekehrte Weg ist hier einzuschlagen:Wir brauchen eine staatliche Kontrolle, damit die Men-schen sicher sein können, die beste Qualität zu erhalten.
Der nächste wichtige Punkt: Gut geführte Pflegeein-richtungen zeichnen sich auch durch eine ausreichendePersonalausstattung aus und deshalb wollen wir mit die-sem Gesetz ebenfalls den personellen Aufwand besserberücksichtigen. Dabei geht es nicht nur um Verhandlun-gen über Geld, sondern es geht um Verhandlungen überangebotene Leistungen. Wir wollen mit neuen Instrumen-ten dafür sorgen, dass Leistungs- und Qualitätsmerkmalein den einzelnen Pflegeeinrichtungen beschrieben werdenkönnen. Der maßgerechte Zuschnitt der Leistungs- undQualitätsvereinbarung auf die Bewohnerschaft eines Pfle-geheims kommt langfristig insbesondere den demenz-kranken Heimbewohnern zugute, weil deren Bedarf ansozialer Betreuung künftig in den Vereinbarungen ge-bührend berücksichtigt werden soll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Ilja
Seifert?
Nein, wir sind ohnehin schon stark in Verzug und ichmöchte – auch im Interesse der anderen Kollegen – wei-terreden.Wir wollen im stationären Bereich die Zusammenar-beit zwischen den Medizinischen Diensten der Kranken-versicherung und der staatlichen Heimaufsicht ver-bessern. Beide Aufsichtsinstitutionen sollen die Über-wachung durch gegenseitige Information und Beratung,durch Terminabsprachen für eine gemeinsame oder ar-beitsteilige Überprüfung von Heimen sowie eine Verstän-digung darüber, was im Einzelfall an Maßnahmen not-wendig ist, wirksam aufeinander abstimmen. Dabei gehtes – in diesem Punkt sehen wir auch das Interesse der Ein-richtungsträger – insbesondere darum, Doppelprüfungennach Möglichkeit zu vermeiden. Das ist die eine Seite.Die andere Seite ist: Der vorliegende Gesetzentwurfberührt auch den Verbraucherschutz.Wir wollen diePflegebedürftigen und ihre Angehörigen vor allem durchverstärkte Beratung und Information in die Lage versetzen,ihre Rechte wahrzunehmen. Ich möchte zwei Beispielenennen, die zeigen, worauf unser Gesetzentwurf abzielt. In
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Bundesministerin Ulla Schmidt15466
Zukunft muss ein schriftlicher Pflegevertrag auch bei derhäuslichen Pflege abgeschlossen werden. Wenn Pflegeein-richtungen Leistungen, die sie versprochen haben, nicht inder vereinbarten Qualität erbringen, sind sie zur Rückzah-lung verpflichtet. Das stärkt die Rechte der Verbrauche-rinnen und Verbraucher in diesem Bereich.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass viele eine Leis-tungsausweitung von den von uns vorgelegten Gesetzent-würfen erwarten, vor allen Dingen im ambulanten undhäuslichen Bereich. Uns liegen ganz besonders diejenigenMenschen am Herzen, die im familiären Bereich De-menzkranke betreuen. Deshalb werden wir in Kürze einenGesetzentwurf einbringen, mit dem die in diesem Bereichbestehenden Defizite abgebaut werden sollen
und der im Gegensatz zu dem, was die Kollegen von derUnionsfraktion heute vorgelegt haben, im Rahmen derPflegeversicherung finanzierbar ist;
denn aus populistischen Gründen kann man vieles for-dern. Aber entscheidend ist, dass es finanzierbar ist. WennSie die Kosten von der Pflegeversicherung in die Kran-kenversicherung verschieben wollen, dann müssen Sieden Menschen auch sagen, dass die Zuzahlungen bei Me-dikamenten für chronisch Kranke sowie bei Heimaufent-halten und Kuren erhöht werden müssen, damit Ihre Wün-sche erfüllt werden können.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zöller? – Of-
fenbar nicht. Sie hatte ja bereits gesagt, dass sie aus Zeit-
gründen keine Zwischenfrage zulässt.
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Ulf Fink für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Ich möchte nicht an dasEnde, sondern an den Beginn der Rede der Ministerin an-knüpfen. Ich halte es für einen guten Stil, dass die Minis-terin zu Beginn ihrer Rede die Leistungen ihres Vorgän-gers gelobt und deutlich gemacht hat: Es war wirklicheine überzeugende politische Leistung, die Norbert Blümerbracht hat, als er die Pflegeversicherung eingeführt hat.
Wir debattieren heute in erster Lesung den Entwurf ei-nes Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes und eines DrittenGesetzes zur Änderung des Heimgesetzes der Bundesre-gierung sowie den Entwurf eines Pflege-Leistungs-Verbes-serungsgesetzes, den meine Fraktion eingebracht hat. Wirkönnten uns, glaube ich, über eine ganze Reihe von Frageneinigen. Auch wir wollen, dass alles getan wird, damit kran-ken, alten und pflegebedürftigen Menschen geholfen wird,und dass nichts geschieht, was ihnen Unrecht tut. Die Frageist nur: Wie macht man das am besten? Sollte man das somachen, dass man eine Fülle von ordnungsrechtlichen In-strumentarien einführt, oder sollte man sich nicht lieberdarum kümmern – ist das nicht die eigentliche Aufgabeder Politik? –, dass die Bedingungen, unter denen gepflegtwird, verbessert werden? Anhand dieser Fragen erfolgtdie entscheidende Weichenstellung.Ich glaube, dass der wirkliche Unterschied zwischender Politik der Bundesregierung und unserer Auffassungin Folgendem besteht: Wir sind der Meinung, dass diePflegequalität nur dann wirkungsvoll verbessert werdenkann, wenn man die Bedingungen für die Pflegeberufe inden Heimen deutlich verbessert.
Unsere Auffassung ist, dass nicht so sehr bürokratischeKontrollen, sondern eine bessere finanzielle Ausstattungdie Qualität der Pflegeleistung sichert. Mit ihrem Gesetz-entwurf zäumt die Bundesregierung das Pferd vomSchwanz her auf, weil dort lediglich neue Kontrollme-chanismen und nicht die Verbesserung der Voraussetzun-gen vorgesehen sind, unter denen in den Heimen –wie wirfinden: zum Teil aufopfernd – gepflegt wird. Qualitätmuss man schaffen. Qualität kann man in Pflegeeinrich-tungen nicht „hineinkontrollieren“.Wo liegen denn die Probleme? Sie liegen darin, dassdie Leistungen der Pflegeversicherung besonders in denPflegestufen II und III, also für die Schwerstpflegebe-dürftigen, einfach nicht mehr ausreichen, um die Kostenzu decken, die bei der Betreuung dieser Menschen entste-hen, zumal mit den Pflegesätzen auch noch die Kostender medizinischen Behandlungspflege gedeckt werdenmüssen.Wir schlagen vor, dass die Pflegeversicherung künftigdiese Kosten nicht mehr bezahlen muss. Damit würden1,5 Milliarden DM frei, die unserer Auffassung nach zurEinstellung von etwa 20 000 neuen Pflegekräften genutztwerden sollten. Für diesen Vorschlag spricht, dass dieKrankenkasse schon heute die Kosten für die medizini-sche Behandlungspflege bezahlt, allerdings nur, wenn derPflegebedürftige ambulant versorgt wird. Unser Vor-schlag bedeutet also, dass das, was für ambulant Pflege-bedürftige gilt, nun auch auf stationär Pflegebedürftigeausgedehnt wird.
Ich meine, es ist ja auch überhaupt nicht einsichtig, dass dieKrankenkasse zahlt, und zwar klaglos, solange der Pflege-bedürftige zu Hause ist. In dem Moment, da nichts anderesgeschieht, als dass er von seiner häuslichen Umgebung indas Heim wechselt, zahlt die Krankenkasse nicht mehr. Dasmacht einfach keinen Sinn. Da ist es doch besser, den Vor-schlag zu verwirklichen, den wir hiermit unterbreiten.Durch unseren Vorschlag wird ein echter Beitrag zurVerbesserung der Pflegequalität geleistet, jedenfalls ein
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Bundesministerin Ulla Schmidt15467
viel besserer Beitrag, als wenn man nichts tun würde undlediglich die vorhandenen, zum Teil überlasteten Pfle-gekräfte dazu veranlasst, Prüfpapiere, Statistiken, Be-richte usw. noch zusätzlich zu fertigen. Pflegekräfte sol-len die Kranken pflegen und nicht die Bürokratie.
Es könnte sonst der bittere Spruch Wahrheit werden, dassdie Pflegekräfte künftig die Aufgabe haben, eine dritt-klassige Pflege erstklassig zu beschreiben.
Zu leicht kann es dann passieren, dass die Pflegekräfte ineine Art Generalverdacht kommen, ihre Arbeit nicht or-dentlich zu erledigen, und das haben sie nicht verdient.Wir haben einen zweiten wichtigen Punkt. Wir müssen,um die Verbesserung der Pflegequalität wirklich sicher-stellen zu können, günstigere Bedingungen schaffen, umden altersverwirrten, den dementen Menschen besser alsbisher zu helfen. Das hat ja die Regierungskoalition in ih-rer Regierungsvereinbarung aus dem Jahr 1998 festge-legt, und sie hat angekündigt, dieses in die Tat umzuset-zen. Geschehen ist allerdings bisher nichts. Das Einzige,was bisher geschehen ist, ist, dass Gesetzentwürfe imBundesrat, die genau dieses Ziel zum Inhalt hatten, ohneAlternative abgelehnt worden sind. Dasselbe ist auch un-seren Anträgen bisher im Deutschen Bundestag passiert.Wir haben Anträge zu diesem Komplex eingebracht; abersie sind abgelehnt worden. Schon Ihre Vorgängerin, FrauSchmidt, hat – ich glaube, es war im Sommer letzten Jah-res – Eckpunkte verkündet, die der Verbesserung der Ver-sorgung Demenzkranker dienen sollten.
Man hat damals auch gehört, dass bald ein Referenten-entwurf erarbeitet werde. Bis zur Stunde liegt dieser Re-ferentenentwurf nicht vor.
Sie versprechen nun, dass Sie diesen Gesetzentwurf ein-bringen. Wir hoffen sehr, dass diesmal den Worten auchTaten folgen. Ich wünsche Ihnen das Allerbeste, dass dasauch wirklich geschieht.Denn die tägliche Körperpflege ist bei vielen in denHeimen gar nicht einmal das entscheidende Problem.Diese Aufgabe können die Pflegekräfte unter den gegebe-nen Umständen oft noch gut erfüllen. Das Problem be-steht doch darin, dass Demenzkranke rund um die Uhr be-treut und beaufsichtigt werden müssen. Es ist diesetägliche Rundumbetreuung, die den Pflegekräften einegewaltige Kraftanstrengung und viel persönliches Enga-gement abverlangt. Nun ist im Rahmen der Pflegeversi-cherung bisher genau dafür nichts vorgesehen. VieleMängel, die in den Heimen vorkommen, sind daraufzurückzuführen, dass überhaupt keine finanziellen Vor-aussetzungen dafür gegeben sind, dass die Pflegekräftesich wirklich um die Demenzkranken kümmern können.Ich denke, dass es wichtig wäre, unserem Ansatz zufolgen, um eine bessere Pflegequalität für die Altersver-wirrten zu erreichen, einen zusätzlichen Betreuungsbe-darf für Demente anzuerkennen. Wir schlagen 30 Minu-ten vor.
Damit würden etwa 50 000 Pflegebedürftige, die bisherkeinerlei Leistung bekommen, in den Genuss von Leis-tung kommen. Das ist viel mehr, als man denkt; denn manwürde damit ein Drittel der Voraussetzungen erfüllen, diefür die Einstufung in Pflegestufe I Voraussetzung sind.Ich glaube, dass die 1 Milliarde DM, die dieser Vor-schlag erfordert, sinnvoll aufgebracht werden kann. Auchdie Bundesregierung sagt, dass 500 Millionen DM ver-tretbar seien. Wenn diese 500 Millionen DM zusammen-kämen, dann fehlten noch gut 400 Millionen DM bis500 Millionen DM.
– In Bezug auf die Demenzkranken liegt der Vorschlag beiinsgesamt 1 Milliarde DM. Auch Sie sagen, dass 500Mil-lionen DM gehen. Wenn diese 500 Millionen DM zusam-menkämen, dann fehlten 400 Millionen DM bis 500 Mil-lionen DM.Frau Bundesministerin, ich mache Ihnen dazu einenVorschlag: Setzen Sie sich gemeinsam mit FrauSchmidt-Zadel – auch sie ist dafür –, der sozialpolitischenSprecherin der SPD-Fraktion,
dafür ein, dass das Unrecht, das die Bundesregierung denPflegeversicherten und der Pflegeversicherung angetanhat, rückgängig gemacht wird. Herr Eichel hat der Pfle-geversicherung dadurch jährlich 400 Millionen DM ent-zogen, dass er die Beiträge für Arbeitslosenhilfeempfän-ger willkürlich gesenkt hat. Das muss rückgängiggemacht werden.
Wenn das geschieht, dann haben Sie das Geld, das not-wendig ist, um den Dementen wirklich zu helfen.Frau Bundesministerin, ich selbst war einmal Ministerin einer Landesregierung. Ich weiß noch, wie es war, mitdem Finanzsenator zu kämpfen. Ich gebe zu: So etwas istnicht so einfach, sondern schwer. Auch Herr Eichel isteine harte Nuss; das räume ich ein. Nur, es hilft nichts.Wenn man für die Altersverwirrten wirklich etwas tunwill, dann muss man sich an der entsprechenden Stelleeinsetzen und durchsetzen. Mit dem Betrag, über den Siejetzt verfügen, können Sie nur etwas für die Ambulanz-dementen und gar nichts für die Altersverwirrten in denHeimen tun. Das bedeutet, dass eine ganz große Lückeklafft, die heute zum Teil zu erheblichen Schwierigkeitenin den Heimen führt.Wir werden den Gesetzentwürfen unsere Zustimmungdann verweigern, wenn es zu keiner Leistungsverbesse-rung kommt. Wenn es zu einer Leistungsverbesserungkommt, dann kann man mit uns reden.
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Ulf Fink15468
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin KatrinGöring-Eckardt.
gen! Mit der Einführung der Pflegeversicherung 1995wurde – ich glaube, das muss man so sagen – durch einegemeinsame Anstrengung die letzte Lücke in der sozialenVersorgung gegen Lebensrisiken geschlossen. Rund60 Millionen Menschen haben inzwischen Ansprüche ausder Pflegeversicherung. Mit ihren Leistungen erreicht diePflegeversicherung insgesamt 1,9 Millionen Pflegebe-dürftige. Wenn wir uns hier diese Zahlen vergegenwärti-gen, dann wissen wir, dass wir über einen sehr wichtigenBereich reden, auch wenn diese Debatte zu abendlicherStunde geführt wird.Es ist ein Erfolg der Pflegeversicherung, dass die über-wiegende Zahl der Pflegebedürftigen nicht mehr von derSozialhilfe abhängig ist. Auch den Menschen, die im Pfle-gebereich arbeiten, gebührt – in dieser Hinsicht kann ichmich der Ministerin nur anschließen – Anerkennung undDank für eine engagierte und nicht zuletzt oft auch zu ge-ring entlohnte Tätigkeit. Ein weiteres großes Verdienst istes, dass es zum ersten Mal gelungen ist, eine sozialeAbsicherung der Pflegepersonen einzuführen und die Pfle-getätigkeit wie eine Erwerbstätigkeit sozial abzusichern.Derzeit profitieren davon 600 000 Personen. 90 Prozentdavon sind Frauen. Auch das ist ein großer Erfolg für An-gehörige, für Freundinnen und Freunde und für Nachbarn.Obwohl die Pflegeversicherung bewusst als Teilabsi-cherung konzipiert wurde, gibt es gravierende Lücken inder vorgesehenen Versorgung. Das betrifft vor allen Din-gen die Qualität. Deswegen debattieren wir heute unteranderem über die Versorgung in der ambulanten wie in derstationären Pflege. Berichte über Mängel in der Pflegehäufen sich. Wir kennen sie aus eigener Anschauung, ausdem Wahlkreis, aus Besuchen in Pflegeheimen oder ausdramatischen Fernsehberichten, die oft entwürdigendeZustände in Pflegeheimen beschreiben. Wir haben einendringenden Handlungsbedarf. Der vorliegende Gesetz-entwurf deckt sich mit den Zielen, die wir in derGesundheitspolitik seit der Regierungsübernahme insge-samt formuliert haben, nämlich mehr Qualität, mehr Ei-genverantwortung und mehr Patientenrechte.
Dieses Gesetz ist ein weiterer Schritt dahin, Qualität,Wirtschaftlichkeit und Eigenverantwortung zu verbindenund als Parameter fest zu verankern.Was bedeutet denn Qualität? Es geht um eine gute undangemessene Versorgung, um eine Versorgung, dieWürde und Selbstbestimmung gewährleistet. Menschen,die der Pflege bedürfen, sind nicht Objekt einer Maschi-nerie oder einer falsch verstandenen Fürsorge. Die Perso-nalpolitik darf Pflegepersonal nicht als Verschiebemassegebrauchen, sodass es hier zu chronischen Unter-besetzungen kommt. Insbesondere muss Fehlmanage-ment vorgebeugt werden.
Fehlende Qualitätsvereinbarungen dürfen nicht mehr aufdem Rücken dieser beiden Gruppen ausgetragen werden.Natürlich sollten auch die Träger selbst ein Interesse anhoher Qualität haben.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es geht um dieStärkung der Eigenverantwortung der Pflegeselbstver-waltung. Qualitätssicherung kann man nämlich nicht– das wollen wir auch nicht – gegen Pflegepersonal undSelbstverwaltung durchsetzen. Es geht um die Sicherung,Weiterentwicklung und nicht zuletzt auch um die Prüfungvon Pflegequalität. Schließlich geht es um bessere Zu-sammenarbeit von staatlicher Heimaufsicht und vonSelbstverwaltung. Die Tatsache, dass Trägervereinigun-gen selbst Vorschläge vorgelegt haben, wie Qualitätssi-cherung angegangen werden kann, gibt unserem Vorha-ben Recht. Hier wird deutlich, dass sie die Verantwortungzur Sicherung von Qualität nicht mehr Heimaufsichts-behörden oder Trägereinrichtungen überlassen, sonderndie Sicherung der Qualität in der Pflege eigenverantwort-lich gestalten wollen. Beispielsweise verpflichten sichPflegeeinrichtungen zum Qualitätsmanagement und zurVorlage von regelmäßigen Leistungs- und Qualitätsnach-weisen. Außerdem sollen unabhängige Sachverständigeeingebunden werden. Was heißt das? Die Arbeit von Pfle-geeinrichtungen, die ja überwiegend – das sollte man beialler Kritik und angesichts öffentlicher Berichte nicht ver-gessen – schon heute von guter Qualität ist, wird transpa-renter. Dann entscheiden sich eben Pflegebedürftige undihre Angehörigen nicht mehr zufällig für die eine oder an-dere Einrichtung, sondern für diejenige, die für die be-troffene Person tatsächlich die beste und sinnvollste Al-ternative darstellt. Das wollen wir erreichen.Wenn wir genau hinsehen, dann stellen wir fest, HerrFink, dass das System nicht in erster Linie mehr Geldbraucht. Damit macht man es sich auf gewisse Weise ein-fach. Wir brauchen zunächst einmal eine verbesserte in-terne Steuerung, um die vorhandenen Ressourcen effizienteinzusetzen. Dies beinhaltet nicht nur abstraktes Manage-ment oder die Effizienzsteigerung von Abläufen, sondernauch Eigenverantwortung für Qualität und Mittun vonPflegebedürftigen. Die Tatsache, dass die Pflegeeinrichtun-gen hier selbst mitmachen wollen, gibt unserem Vorhaben,wie ich glaube, Recht. Der ernst genommene, informierteund eigenständige Patient ist dafür die Voraussetzung. Des-wegen ist es so wichtig, dass Patientinnen und Patienten so-wie Pflegebedürftige in kritischer Weise mitbestimmenkönnen. Versicherte sollen verbesserte Möglichkeiten er-halten, sich generell über medizinische Leistungsangebote,Pflegeangebote und deren Qualität zu informieren. Deshalbmuss endlich die unabhängige Patientenberatung inDeutschland in Gang kommen.
Wir können nicht über Verbraucherschutz reden, wodie Kuh längst in den Brunnen gefallen ist,
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und riskieren, dass wir an anderer Stelle blind handeln. Ichfordere die Selbstverwaltung mit Nachdruck auf, hier end-lich ihre Scheu und an mancher Stelle vielleicht auch ihreÜberheblichkeit zu überwinden. Beste Information allerSeiten ist auch die beste Grundlage für hohe Qualität. Dasheißt konkret: Trotz ihrer Abhängigkeit von fremder Hilfemüssen Pflegebedürftige ein möglichst selbstbestimmtesLeben führen können, sich in den Institutionen zurechtfin-den können sowie wissen und auch aufgefordert werden zusagen, was gut für sie ist und was sie auf gar keinen Fallwollen. Deshalb sollten pflegebedürftige Menschen undihre Angehörigen eine Beratung erhalten, die sie in dieLage versetzt, ihre Rechte besser wahrzunehmen.Allerdings hat sich auch gezeigt,
dass weiterhin ein externes und effizientes Kontroll-instrument notwendig ist mit, wie die Ministerin ausge-führt hat, Prüf- und Zutrittsrechten. Die Einrichtungen, indenen die Pflegebedürftigen nicht mit der notwendigenSorgfalt gepflegt werden, müssen auch finanzielle Kon-sequenzen tragen und zur Rechenschaft gezogen werden.Nur mit einer solchen Konsequenz ist es möglich, tatsäch-lich dafür zu sorgen, dass Qualitätsstandards eingehaltenwerden. Es geht um die Stärkung der Rechte der Verbrau-cherinnen und Verbraucher und der Pflegebedürftigen. Esgeht um die Würde und um die Sicherstellung höchsterQualitätsstandards, die die Pflegebedürftigen brauchen.Dieses Gesetz ist notwendig. Es ist ein erster Schritt;weitere werden folgen. Es würde sehr viel Sinn für diePflegebedürftigen und deren Angehörige in diesem Landmachen, diesen ersten Schritt gemeinsam zu gehen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Niemand kann dem Inhalt des Gesetzent-wurfes widersprechen. Es ist nämlich dringend erforder-lich, dass wir eine Qualitätsdiskussion führen. Miss-stände in Pflegeheimen müssen, wo immer sie auftreten,mit Nachdruck beseitigt werden. Ein Blick auf die Arbeitder unabhängigen Beschwerdestellen und Krisentelefonezur Hilfe und Beratung bei Konflikten und Gewalt in derPflege älterer Menschen liefert oft erschütternde Beweisefür solche Missstände.Richtig ist weiterhin, Frau Ministerin, dass Qualitätnicht von außen in die unterschiedlichen Einrichtungen„hineinkontrolliert“ werden kann. Es gilt aber auch: Qua-lität kann nicht „hineinreguliert“ werden.
Die Bundesregierung fordert mit ihren Vorstellungeneinen hohen Preis: Dieses Gesetz kostet die Pflegebedürf-tigen immerhin 40 Millionen DM jährlich, verursacht inder Hauptsache durch Bürokratie. Kollege Fink hat schondarauf hingewiesen.
Der Chefarzt des gerontopsychiatrischen Zentrums derRheinischen Kliniken Bonn und Leiter der Initiative„Handeln statt Misshandeln“ sagt dazu:Es gibt jetzt schon gute Gesetze, die in keiner Weiseangewendet oder eingeklagt werden.Es ist bedauerlich, dass die Bundesregierung nichtzunächst an einer besseren Umsetzung der bestehendenGesetze gearbeitet hat.
Jetzt müssen wir uns also mit einer Vielzahl neuer Be-stimmungen auseinander setzen. Frau Ministerin, Siemüssen sich wieder die Fragen nach den Umsetzungs-möglichkeiten in der Praxis stellen lassen: Wird dieHeimaufsicht wirklich einmal jährlich jedes Pflegeheimunter die Lupe nehmen können? Wiegen Sie die Pflege-bedürftigen und ihre Angehörigen nicht in einer falschenQualitätssicherheit, wenn Sie nach einer Zertifizierung,diesem Gütesiegel der Pflege, den Überprüfungszeitraumauf zwei Jahre automatisch verlängern? Was bedeutetganz konkret Ihre Forderung nach „aktivierender Pflege“?Wie steht es mit der Eindämmung des Arzneimittelmiss-brauchs – Stichwort: Ruhigstellen statt Sichkümmern –aus? Hinzu kommt die entscheidende Frage: Billigen Sieden Pflegerinnen und Pflegern zukünftig genügend Zeitfür die geforderten Leistungen zu oder bleibt es bei demGrundsatz des „Ratzfatz“, also sauber, satt und kein Stückmehr?Ich stimme der Feststellung des Verbandes der Kran-kenhausdirektoren Deutschlands zu – ich zitiere –:Sollte das Bundesministerium für Gesundheit davonausgehen, dass die Umsetzung dieses Gesetzesvor-habens im Rahmen der bisherigen Vergütungssätzeerfolgen soll, wird dies die Pflegequalität negativ be-einflussen, da diese nicht unabhängig von der ver-fügbaren Pflegezeit erreicht werden kann.Wichtig ist und bleibt mehr Transparenz im System.Frau Ministerin, mir ist schon sehr unwohl geworden, alsSie von einer lückenlosen staatlichen Kontrolle gespro-chen und einen Vergleich zum BSE-Problem gezogen ha-ben. Ich glaube, mit diesem Vergleich lagen Sie ein biss-chen daneben.
Ich könnte mir vorstellen, dass als dritte Säule neben denoffiziellen Einrichtungen, also Medizinischer Dienst derKrankenkassen einerseits und der Heimaufsicht anderer-seits, eine unabhängige Stelle nach dem Muster „Pflege inNot – Krisentelefone und Beschwerdestellen“, von denenes bereits 14 in Deutschland gibt, für mehr Transparenzsorgt.
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Katrin Göring-Eckardt15470
Wir haben am Mittwoch im Gesundheitsausschuss ei-ner Anhörung zu diesem wichtigen Themenbereich zuge-stimmt. Sie ist dringend notwendig; denn die gute Absichtdieses Gesetzentwurfs allein reicht nicht aus. Es bedarfweiterer Überlegungen, an denen sich die F.D.P. gern kon-struktiv beteiligen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Dr. Ilja Seifert für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, Sie benen-
nen das Ziel so präzise, zeichnen aber den Weg dorthin so
mangelhaft auf, dass man eigentlich nicht darüber reden
sollte. Wenn wir in der Pflege wirklich über Qualität re-
den wollen, dann müssen wir erst einmal den Pflegebe-
griff ändern; denn man kann sich dann nicht ausschließ-
lich auf den somatischen Pflegebegriff beziehen.
Insofern, Herr Fink, können Sie Ihr Lob für Herrn
Blüm ein kleines bisschen herunterschrauben. – Es freut
mich, dass Sie nicken; ich hoffe, dass das ins Protokoll
kommt.
– Deswegen sage ich es ja.
Wenn Sie von Qualität in der Pflege sprechen, die wir
erreichen wollen, dann sagen Sie doch einmal, welche
Qualität Sie überhaupt meinen. Es kann doch nur um die
Lebensqualität von Menschen gehen, die fremde Hilfe
brauchen, und nicht um die Qualität des Aufschreibens
von irgendwelchen Verrichtungen, die man angeblich ge-
tan hat.
Aber darauf läuft es hinaus.
Wir brauchen nicht so zu tun, als ob es etwas anderes
wäre. Die einzige Möglichkeit, den Menschen in Einrich-
tungen und auch zu Hause zu helfen, ist, über größere
Zeiträume mehr Personal zur Verfügung zu stellen. Das
ist nicht zum Nulltarif zu haben.
Die Pflegeversicherung ist aber so angelegt, dass die zur
Verfügung stehenden Mittel nicht einmal gleich bleiben,
sondern immer weniger werden, weil auch die Inflations-
rate usw. eine Rolle spielt, es aber nicht mehr Geld gibt.
Frau Ministerin, Sie sagen hier, dass die Situation bes-
ser werden soll. Sie kann aber gar nicht besser werden,
wenn nicht mehr Leute in die Arbeit einbezogen werden.
Insofern müssen Sie, wenn Sie wirklich eine Verbesse-
rung der Situation wollen, in das Gesetz bindend hinein-
schreiben, wie viele Leute pro Tag und pro Stunde in den
Heimen anwesend sein müssen, und damit dafür sorgen,
dass die Heime nicht selbst entscheiden können, was sie
unter Pflegequalität verstehen.
Das ist der Punkt, um den es geht. Ich hätte hier noch
viele andere Punkte, die ich gerne aufzählen würde, aber
das ist der entscheidende Punkt: Ohne mehr Personal geht
es nicht. Mehr Personal kostet Geld und wer das nicht
ausgeben will, braucht nicht von Qualität in der Pflege zu
reden.
Auch die Diakonie sagt: Das Gesetz läuft nur auf mehr
Bürokratie hinaus.
Wenn das, was Sie hier vorhaben, am Ende nur dazu
führt, dass die Menschen, die die Hilfe brauchen, mehr be-
zahlen müssen – und so wird es sein –, dann können Sie
damit rechnen: Wir, die PDS, werden einem solchen Ge-
setz, das der Öffentlichkeit die Situation verschleiert,
nicht zustimmen können. Wir fordern: Nennen Sie die
wirkliche Situation in der Pflege beim Namen. Sagen Sie
nicht, die meisten seien gut und artig und es gebe nur ei-
nige schwarze Schafe. Es gibt zu viel unglaubliches Elend
in diesem Bereich, das Sie benennen müssen. Wenn Sie
die Situation ändern wollen, dann müssen Sie mehr Leute
einstellen, die arbeiten können, die helfen können, die mit
den Menschen, die Hilfe brauchen, reden können und die
sich um sie kümmern können. Kultur der Pflege ist et-
was anderes als Verwaltung und Bürokratie.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Bun-desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,Dr. Christine Bergmann.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete,speziell Herr Abgeordneter Seifert! Was wir heute hiervorlegen, geht davon aus, dass wir wollen, dass der Re-formstau, den wir im Bereich der Altenpflege haben, ab-gebaut wird.
Da haben wir uns auf den Weg gemacht. Wir haben dasbereits – da wende ich mich an Sie, Herr Fink – mit derbundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung getan. Dennwenn wir die Bedingungen – auch in der Pflege, HerrSeifert – verbessern wollen, brauchen wir natürlich auchgute Fachkräfte. Wir brauchen Menschen, die motiviertsind, diesen Beruf zu ergreifen, und dafür müssen sie eineChance bekommen. Das ist eine Voraussetzung, die wirzunächst einmal geschaffen haben.
Natürlich haben wir Missstände in der Pflege. Deswe-gen machen wir diese Gesetze und sprechen darüber, wie
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Detlef Parr15471
wir diese Missstände abbauen können. Diese Missständehaben nicht immer etwas mit der personellen Ausstattungin den Heimen zu tun.
– Das ist auch ein Thema. Aber in den meisten Heimenwird sehr verantwortungsvoll gepflegt; das wurde heuteschon angesprochen. All diese guten Heime leiden darun-ter, dass wir den einen oder anderen Missstand haben. Daswollen wir ändern.
Da geht es uns schon um Qualität, die sich allerdingsnicht mit einer bestimmten Zahl von Beschäftigten auto-matisch verbessern lässt. Wir müssen uns vielmehr über-legen, was in den Heimen passiert, warum es in dem ei-nen gut und in dem anderen schlecht funktioniert und obwir unserer Kontrollaufgabe gerecht werden. Sie könnenso viele Mitarbeiter in ein Heim geben, wie Sie nur wol-len; wenn kein ordentliches Qualitätsmanagement vor-handen ist und wenn nicht eine gewisse Sicherheit gege-ben ist, dass von außen kontrolliert wird, dann kann manimmer erst handeln, wenn der Staatsanwalt auf den Plangerufen wurde. Das wollen wir nun wirklich vermeiden.
Deswegen ist es so wichtig, dass wir mit diesen beidenGesetzen die Möglichkeiten verbessern, die wir in diesemBereich haben.In diesem Zusammenhang kann ich es nicht mehrhören, dass immer nur über Bürokratie geredet wird. HerrFink, Sie wissen es doch besser. Das, was im Heimgesetzgefordert wird, ist genau das, was ein ordentlich arbeiten-des Heim jetzt schon erfüllt, zum Beispiel die Arzneimit-teldokumentation.
– Ja, es gibt in dem einen oder anderen Bereich Zusätz-liches. Das ist auch begründet. Aber Sie können nicht sotun, als bauten wir mit dem Gesetz nur Bürokratie auf. Wirwollen – das gilt vor allem für das Heimgesetz – mehr Be-ratung in die Heime hineinbringen. Das Heimgesetz istnicht nur ein ordnungspolitisches Gesetz, das kontrolliert.Es will auch für mehr Beratung, und zwar für mehr Ein-zelfallberatung sorgen und hier das erreichen, was unterden jeweiligen Bedingungen möglich ist. Wir wollennämlich, dass die Achtung der Menschenwürde nicht vordem Heim Halt macht. Wir wollen, dass Menschen im Al-ter ordentlich gepflegt werden und das Recht haben, biszum letzten Tag ein menschenwürdiges Leben zu führen.
Das ist unser Ziel, über das wir uns, wie ich glaube, auchverständigen können. Deswegen hoffe ich auch, dass wirdas einigermaßen im Konsens hinbekommen können.Was verändern wir im Heimgesetz? Zum einen verbes-sern wir die Rechtsstellung der Heimbewohnerinnenund Heimbewohner. Ein ganz wichtiger Punkt ist dabei,dass wir mehr Transparenz haben. Im Moment wird über-all über mangelnde Transparenz der Heimverträge, übermangelnde Nachvollziehbarkeit von Entgelterhöhungenund über rückwirkende Entgelterhöhungen geklagt.
– Sie nicken. So etwas hören Sie bestimmt auch in IhrenWahlkreisen und Ihrem persönlichen Umfeld immer wie-der. Deswegen wird jetzt im Heimgesetz geregelt, dass imHeimvertrag die Leistungen gesondert beschrieben unddie Entgelte angegeben werden. Das betrifft Unterkunft,Verpflegung und alle möglichen sonstigen Leistungen.Das heißt, die Heimbewohnerinnen und Heimbewohnersowie die Angehörigen können Leistungen verschiedenerHeime miteinander vergleichen und können erkennen,wofür sie etwas bezahlen müssen. Natürlich können siedie Leistungen, für die sie bezahlen, auch einfordern. Dasist im Interesse der Heimbewohnerinnen und Heimbe-wohner.
Diese Entgelte müssen auch nach einheitlichen Grund-sätzen bemessen werden. Das bedeutet, dass eine Diffe-renzierung nach Kostenträgern unzulässig ist. Es wardringend erforderlich, im Gesetz zu regeln, dass Selbst-zahler keine anderen Preise bezahlen als diejenigen, dieandere Kostenträger haben. Rückwirkende Erhöhungensind nicht mehr zulässig, was dazu führt, dass sich Heim-bewohnerinnen und Heimbewohner auf Entgelterhöhun-gen einstellen können. Durch Begründungszwang wirddie Entgelterhöhung nachvollziehbar. Wir bringen alsoendlich all das in die Heime hinein, was in anderen Be-reichen der Gesellschaft selbstverständlich ist. Ich glaube,dies sollte von allen Seiten unterstützt werden.Wir entwickeln die Heimmitwirkung weiter. Auchdies ist ein wichtiger Grund, weshalb wir das Heimgesetznovellieren und das Pflege-Qualitätssicherungsgesetzeinführen. Die Situation hat sich verändert. Wir haben vorkurzem hier den Dritten Altenbericht diskutiert und wis-sen, dass die meisten Menschen, die in Heime gehen, über80 Jahre alt sind. Viele von ihnen leiden an psychischenStörungen oder sind dement; sie können also gar nichtmehr in einem Heimbeirat mitarbeiten. Deswegen erwei-tern wir jetzt die Regelung und legen fest, dass An-gehörige und auch Menschen aus Seniorenverbänden inden Heimbeiräten mitarbeiten können. Wir stärken hierdie Mitwirkungsrechte. Der Heimträger soll den Heim-beirat künftig auch an Vergütungsverhandlungen sowie anVerhandlungen über Leistungs- und Qualitätsvereinba-rungen beteiligen.
Damit wird ein ganz wichtiges Recht der Mitwirkung ge-sichert. Der Beirat wird auch in die Qualitätssicherungund in die Kontrolle durch die Heimaufsicht einbezogen.Wenn ich den Antrag der F.D.P. richtig gelesen habe,dann sind das Anliegen, die Sie durchaus unterstützen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann15472
Also werden wir hier doch zu einem breiteren Konsenskommen.
– Man muss ja Menschen auch eine Entwicklungsmög-lichkeit zugestehen. Darüber haben wir in diesem Hauseauch schon häufiger diskutiert.Wir stärken die Heimaufsicht. Das ist ein wichtigerPunkt. Hier geht es eben nicht schlicht und einfach ummehr Kontrolle, sondern darum, neben dieser Aufsicht,die die Heimaufsicht jetzt schon leisten soll und die siemehr oder weniger gut erbringt, vor allem die Aufgabe derBeratung wahrzunehmen. Das wollen wir verstärken,aber wir wollen natürlich auch Kontrollmöglichkeitenverbessern. Immer wieder höre ich die Klagen, es werdein den Heimen zu selten kontrolliert.Wenn wir jetzt sagen, eine Kontrolle im Jahr ist die Re-gel, dann ist das sehr wichtig. Damit wissen die Heime– die meisten haben damit auch überhaupt kein Problem –,in welchen Abständen Kontrollen zu erwarten sind. Wirhaben auch die Möglichkeit vorgesehen, dass in größerenAbständen geprüft werden kann, wenn entsprechendeZertifikate – aber eben von unabhängigen Sachverstän-digen – vorliegen. Diese Kontrollen finden dann nicht allezwei Jahre statt, sondern es gibt dann generell eine andereRegelung.Natürlich müssen diese Prüfungen auch unangemeldeterfolgen können. Sie müssen, wenn das begründet ist,auch einmal zu ungewöhnlichen Zeiten durchgeführt wer-den, zum Beispiel nachts. Wie will ich beispielsweisekontrollieren, ob nachts Pflegekräfte anwesend sind,wenn ich nicht auch einmal nachts kontrolliere?
Das sind alles Dinge, die sehr im Interesse der Heimbe-wohnerinnen und Heimbewohner und auch im Interesseder Heimträger liegen.Ferner verbessern wir die Zusammenarbeit zwischender Heimaufsicht, dem Medizinischen Dienst der Kran-kenkassen, den Pflegekassen und den Trägern der Sozial-hilfe. Diese Zusammenarbeit soll durch Bildung vonArbeitsgemeinschaften institutionalisiert werden. Das istnötig. Die gemeinsame Arbeit soll sich auf die Prüftätig-keit und auf die Verständigung über im Einzelfall not-wendige Maßnahmen zur Beseitigung von Mängeln oderzur Vermeidung von Fehlern erstrecken. Damit deckenwir den Bereich der Qualitätssicherung gut ab. Dabeibleibt die Letztverantwortung der Heimaufsicht un-berührt. Ich glaube, auch damit haben wir einen wichtigenPunkt angesprochen.Diesbezüglich gibt es auch einen breiten Konsens mitden Ländern. Wir haben viele Gespräche mit den Verbän-den geführt, die eigentlich sehr befriedigend verlaufensind. Da kann man sich immer noch einmal über den ei-nen oder anderen Punkt streiten. Dazu stehen auch nochAnhörungen aus; das Verfahren dazu beginnt ja auch erst.Ich rechne aber doch mit einem breiten Konsens zwischenallen Seiten.Ich hoffe, dass wir einen solchen Konsens auch hier imHaus zustande bringen, weil wir uns eines wirklich nichtleisten können: Das sind ständig wiederkehrende Presse-mitteilungen über Missstände, über Pflegefehler, die aufschlechtes Qualitätsmanagement oder darauf zurückzu-führen sind, dass sich bestimmte Anbieter darauf verlassenkönnen, dass nicht so schnell eine Kontrolle zu erwartenist. Das wollen wir mit gemeinsamen Kräften vermeiden,weil Menschen in Einrichtungen das gleiche Recht auf Un-versehrtheit und auf ein Leben in Menschenwürde habenwie Menschen außerhalb von Einrichtungen.
In diesem Sinne hoffe ich auf eine konstruktive Zu-sammenarbeit bei der Beratung über diese beiden Ge-setze.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat Kollege
Wolfgang Zöller für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir diskutierenheute wieder einen typischen Gesetzentwurf à la Schröder
nach dem Motto: Die Zielsetzung wird von allen aus-drücklich begrüßt;
allerdings können mit den geplanten Regelungen die ge-nannten Ziele nicht erreicht werden.
Ich darf das Diakonische Werk der Evangelischen Kir-che zitieren, das in einer Stellungnahme Folgendesschreibt:Die vorgesehenen Vorschriften führen nicht zurQualitätsentwicklung, zu mehr Effizienz und erhöh-ter Wirtschaftlichkeit.Sie verursachen vielmehr einen hohen Verwaltungs-aufwand und werden in der Praxis nicht umsetzbarsein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer mehrQualität fordert – ich glaube, darin sind wir uns alle ei-nig –, muss auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dassmehr Qualität geleistet werden kann. Hier unterscheidenwir uns ganz wesentlich. Sie setzen auf mehr Kontrolle;wir setzen mehr auf qualifiziertes Personal,
weil wir nämlich fest davon überzeugt sind – dieser Satzist heute schon wiederholt gefallen; umso richtiger ist er –:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann15473
Qualität kann man nicht in Pflegeeinrichtungen hinein-kontrollieren.Zur Lösung dieses Problems haben wir auch einenganz klaren Vorschlag unterbreitet – Kollege Fink hat diesvorgetragen –, nämlich: Durch die systemgerechte Verla-gerung der Kosten der Behandlungspflege auf die Kran-kenkassen wird im Bereich der Pflegeversicherung ein fi-nanzieller Handlungsspielraum geschaffen, der für dieFinanzierung zusätzlichen Pflegepersonals genutztwerden kann.Frau Ministerin Schmidt, eine Unterstellung lasse ichIhnen nicht durchgehen, nämlich die, dass Sie sich hier-her stellen und sagen: Wenn die CDU/CSU mehr Qualitätwill, müssen chronisch Kranke automatisch mehr zuzah-len. – Diese Rechnung geht nicht auf. Im Übrigen sindchronisch Kranke sowieso von der Zuzahlung befreit. Beiuns mussten diejenigen, die ein höheres Einkommen hat-ten, eine Zuzahlung leisten. Diese haben Sie um eineMark reduziert. Da frage ich mich: Ist es nicht überle-genswert, über diese eine Mark Zuzahlung zu sprechenund dafür mehr Qualität in der Pflege zu bekommen? Istdas nicht das höhere Gut?Ich kann Ihnen aber noch eine zweite Finanzierungs-möglichkeit nennen und möchte dazu die Überschrift„Mehrbelastungen in der GKV: 5 Milliarden aus politi-schen Entscheidungsgründen“ zitieren. Nehmen Sie Ihrefalschen politischen Entscheidungen zurück, dann habenwir genügend Geld, um für die entsprechende Qualität inder Pflegeversicherung zu sorgen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, neben demPflege-Qualitätssicherungsgesetz sieht auch die Ände-rung des Heimgesetzes eine Vielzahl von Prüfungendurch den MDK, durch Sachverständige, durch die Heim-aufsicht in regelmäßigem Turnus sowie ergänzend durchEinzelprüfungen, Stichprobenprüfungen und verglei-chende Prüfungen vor. Überzogene Kontrollen und diedazu erforderlichen Verwaltungsvorgänge demotivierenjedoch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vor allem,solange keine ausreichenden Personalschlüssel zur Verfü-gung gestellt werden.
Wegen der vielen Prüfungen und des damit verbundenenhohen Verwaltungsaufwandes bleibt immer weniger Zeitfür die eigentliche Pflege, Betreuung und Versorgungübrig.Für besonders wichtig halte ich, dass im Rahmen derDiskussion über die Qualität der Pflege auch deutlich überdie Belastung der Pflegekräfte gesprochen wird.
Beruflich Pflegende sind ebenso wie pflegende An-gehörige nicht nur physisch, sondern vor allem auch psy-chisch hohen Belastungen ausgesetzt.
Hinzu kommt noch der Zwiespalt, dass sie sich oftmalsnicht in der Lage sehen, so zu pflegen, wie es den fachli-chen Anforderungen und ihrer Ausbildung entspricht,weil wegen Zeitmangels und mangelnder personellerAusstattung keine Möglichkeit besteht, die Pflege akti-vierend und rehabilitierend auszuführen. Diese Situationkann bei den Pflegenden zu Gleichgültigkeit und Aggres-sionen führen. Wir alle sind aufgefordert, uns dieses Pro-blems verstärkt anzunehmen. Ich habe nämlich die großeBefürchtung, dass man aufgrund von Meldungen über be-stehende Defizite die entscheidenden Fragen zum Bereichder Pflege aus den Augen verliert.Wir müssen uns als Gesellschaft folgende Fragen stel-len und beantworten: Wie wollen wir mit unseren Pflege-bedürftigen umgehen? Was ist uns die Pflege wert? Wiekann in einer Gesellschaft, die immer älter wird und in derimmer mehr Menschen auf fremde Hilfe angewiesen sind,sichergestellt werden, dass jedem eine menschenwürdigeHilfe und Betreuung zuteil wird? Wie können wir auch inZukunft genügend engagierte Pflegekräfte finden, diesich der Aufgabe annehmen, pflegebedürftige ältere Men-schen in einem Lebensabschnitt zu begleiten, der ein ho-hes Maß an Zuneigung und Sozialkompetenz erfordert?Wie kann auf Dauer sichergestellt werden, dass der Aus-gleich zwischen den Generationen, nämlich den Beitrags-zahlern auf der einen und den Leistungsempfängern aufder anderen Seite, auf größtmögliche Akzeptanz stößt?Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie unsgemeinsam nach dem richtigen Weg für die Pflegebedürf-tigen suchen. Wir bieten auch hierzu unsere Mitarbeit an.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die nächste Rednerinist die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.
Kollegen! Wir haben in den letzten Wochen über eineReihe von parlamentarischen Initiativen diskutiert, beidenen es eine große Übereinstimmung gibt. Ich glaube,das wird bei der Novelle zum Heimgesetz ähnlich sein.Denn die demographische Entwicklung macht ja nicht vorden Toren der Altenheime halt.
– Sie macht nicht halt. Sie sollten genau zuhören, HerrKollege Lohmann!
Bei Einführung des Heimgesetzes vor 25 Jahren lagdas durchschnittliche Heimeintrittsalter bei 72 Jahren;heute liegt es bei 82 Jahren. Mit zunehmendem Altersteigt das Risiko, pflegebedürftig zu werden. Zwei Drittelder Heimbewohnerinnen und -bewohner sind schon heuteschwer- bzw. schwerstpflegebedürftig. Gibt es heute fast2 Millionen pflegebedürftige Menschen, werden es in50 Jahren wohl 5 Millionen Menschen sein.
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Wolfgang Zöller15474
Das Risiko einer Demenzerkrankung wächst mit zu-nehmendem Alter. Schon heute leiden 850 000 Menschenan einer mittelschweren bzw. schweren Demenz und dieTendenz ist steigend.Es werden also immer mehr alte Menschen mit immerhöherem Alter und schweren Beeinträchtigungen, die aufeine intensivere Pflege in einem Altenheim angewiesensind. Allein das ist ein Grund, das Heimgesetz zu ändernund die Rechte der Bewohnerinnen und Bewohner zu ver-bessern.Viele Heimbewohnerinnen und -bewohner könnenheute ihre Interessen in den Heimbeiräten kaum wir-kungsvoll vertreten. Nicht selten kommt überhaupt keinHeimbeirat zustande. Deshalb ist es sinnvoll, die Interes-senvertretung für Dritte, für Außenstehende, zu öffnen. InZukunft können auch Vertrauenspersonen und An-gehörige, aber auch Mitglieder der Seniorenvertretungenin den Heimbeirat gewählt werden. Sie werden künftigmehr Mitspracherechte haben. Bei Vergütungsverhandlun-gen, aber auch bei Leistungs- und Qualitätsvereinba-rungen muss der Heimbeirat angehört werden. Die Zu-sammenarbeit der Heimträger und der Pflegebedürftigenwird so intensiviert.Zwar ist die Beteiligung der Heimbewohnerinnenund -bewohner durch die neuen Regelungen verstärktworden. Allerdings handelt es sich hierbei lediglich umeine Mitwirkung und nicht um eine echte Mitbestim-mung. Noch immer herrscht ein deutliches Ungleichge-wicht zwischen dem Heimträger und den Pflegebedürfti-gen. Um der Interessenvertretung der Bedürftigen mehrRespekt zu zollen, sind meines Erachtens klarere Mitbe-stimmungsrechte nötig. Da stimme ich Ihnen, Herr Haupt,ausdrücklich zu.
Durch die Öffnung des Heimbeirates wäre dies zukünftigohne Probleme realisierbar. Ich hoffe, dass wir diesenAspekt in den parlamentarischen Beratungen, aber auchin der in diesem Zusammenhang vorgesehenen Anhörungnoch einmal zum Thema machen werden.Ein weiterer Bereich bedarf der Regelung: Mit demvorliegenden Entwurf werden bestimmte Bereiche desbetreuten Wohnens, die heute noch unter die Schutzre-gelungen des Heimgesetzes fallen, jedoch nicht Heime imengeren Sinne sind – das sind eine Menge –, in die Re-gellosigkeit entlassen. Zukünftig wird es dort nicht mehrnachvollziehbar sein, wer welche Leistungen zu welchemPreis anbietet. Der Markt des betreuten Wohnens könntedadurch völlig unübersichtlich werden. Ja, es müssennoch nicht einmal Verträge über die angebotenen Leis-tungen geschlossen werden. Wir alle wissen: BetreutesWohnen ist das Modell der Zukunft und wird nicht nurvon uns Bündnisgrünen, sondern auch von der Fachweltgrundsätzlich als eine sehr begrüßenswerte Entwicklungbetrachtet, die auch weiter gefördert werden muss.Schließlich werden dadurch flexible, aber auch bedürfnis-orientierte Wohnformen ermöglicht. Gerade darum brau-chen wir bei dieser expandierenden Form des Wohnens al-ter Menschen verlässliche Rechte. Regelungen analogzum Heimgesetz, die die Besonderheiten des betreutenWohnens aufnehmen, müssen für diesen Bereich zügiggeschaffen werden, wie es im Übrigen auch der Bundes-rat fordert.Ein Schwerpunkt der Novellierung ist die transparenteGestaltung der Heimverträge. Bis heute war es demHeimträger möglich, ohne konkrete Angabe von Gründeneine Entgelterhöhung zu verlangen. Es konnten bishersogar über mehrere Monate rückwirkend Forderungen er-hoben werden. Künftig müssen im Heimvertrag Leistun-gen wie zum Beispiel Unterkunft, Verpflegung und Be-treuung gesondert ausgewiesen werden. Das ist sicherlichein großer Vorteil; denn so können die Leistungen mitei-nander verglichen oder bei Schlechtleistungen Forderun-gen gestellt werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf wurde vonseiten be-stimmter Interessenverbände auch sehr massiv kritisiert.Ich kann die Kritik gerade der Wohlfahrtsverbände nichtnachvollziehen. Bei der Novellierung des Heimgesetzesmuss es uns um den Schutz der pflege- und hilfsbe-dürftigen Menschen gehen, und finanzielle Erwägungenmüssen hintangestellt werden.Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass Miss-stände und Skandale in Heimen in den vergangenen Jah-ren immer wieder Thema öffentlicher Diskussionen wa-ren: überfordertes Pflegepersonal, schlechtes Essen,mangelnde Hygiene, gammeliges Interieur. „Satt und sau-ber“ war häufig die Devise von Heimunterbringung. Dasbedeutet: Verwahrung statt Pflege. Ich finde, ein men-schenwürdiges Wohnen ist das nicht.Auch deshalb ist eine Novellierung des Heimgesetzeswichtig. Die Zustände in den Heimen müssen weiter undintensiver überwacht werden.
– Herr Zöller, auch darum brauchen wir die Einführungregelmäßiger Kontrollen, die auch ohne Vorankündigungerfolgen können. Das ist konsequent.
Natürlich dürfen wir das Personal in den Einrichtungennicht mit den Problemen alleine lassen. Darin stimme ichIhnen zu, Herr Fink. Denn viele pflegen bis zur Erschöp-fung ihrer eigenen Kräfte. Darum bin ich der Meinung,dass eine angemessene Personalbemessung in der Heim-personalverordnung verankert werden muss. Wir führengerade ein Modellprojekt „Plaisir“ durch. Wir werden dieErgebnisse auswerten und darauf entsprechend reagieren.
Menschen, die in Heimen leben, haben das gleicheRecht auf ein menschenwürdiges und selbstbestimmtesLeben wie jene, die nicht auf Hilfe angewiesen sind. DiePolitik hat die Pflicht, besonders denen Schutz zukommenzu lassen, die in Abhängigkeit von anderen leben müssen.
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Irmingard Schewe-Gerigk15475
Diesem Anspruch kommen wir mit der Novellierung desHeimgesetzes nach.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Klaus Haupt für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Seit über 25 Jahren gibt es dasHeimgesetz als Schutzgesetz für Heimbewohner. Ent-wicklungen und Änderungen in der gesellschaftlichenRealität, Strukturveränderungen sowie insbesondere diedemographische Entwicklung machen eine grundlegendeReform des Heimgesetzes notwendig. Ziel muss es sein,die Rechtsstellung und den Schutz von Heimbewohnernden heutigen Ansprüchen anzupassen.
Partizipation und Stärkung der Mitwirkungsrechte derHeimbewohner sind eines der wichtigsten Ziele derHeimgesetznovelle.
Die F.D.P. begrüßt, dass dies nun zum Gesetzeszweck er-hoben wird; denn Freiheit und Verantwortung kennen we-der Ruhestand noch Altersgrenzen. – Sie können wiederklatschen.
Doch Tatsache ist: Das Eintrittsalter für Seniorenheimeliegt heute bei 80 Jahren, das Durchschnittsalter bei82 Jahren. Deshalb unterstützen wir die Öffnung der Heim-beiräte für externe Personen.
Dies ermöglicht auch, mehr Sachkompetenz für dieHeimbeiräte zu erschließen.Im Zusammenhang mit den Heimbeiräten sind aberauch die erforderliche Ausstattung mit finanziellen Mit-teln, die Möglichkeiten der Schulung, der externen Unter-stützung, aber auch die immer notwendige Bestärkungund Motivation zur Mitgestaltung anzumahnen.Die bisherige Kritik an einer fehlenden Beteiligung derBewohner an der Gestaltung zum Beispiel der Pflegekostenund Pflegesatzvereinbarungen wurde durch die Beteiligungdes Heimbeirates bei der Vorbereitung von Leistungs-, Ver-gütungs- und Qualitätsvereinbarungen berücksichtigt.Aber auch das ist keine echte Mitwirkung. Es gilt ganz all-gemein festzustellen: Die Rechte der Heimbewohner sindim vorliegenden Gesetzentwurf auf Mitwirkung begrenzt– meine Vorrednerin hat darauf hingewiesen –; Mitbestim-mung ist nicht vorgesehen.
Im § 2 – Zweck des Gesetzes – fehlen die Leitwerte Mit-verantwortung und Mitbestimmung.
Deshalb sollte nach Meinung der F.D.P. durch eine Ex-perimentierklausel
– zu Ende zuhören! – die Möglichkeit geschaffen werden,in bestimmten Teilbereichen, die die Bewohner unmittel-bar betreffen – Freizeitgestaltung, Durchführung von Ver-anstaltungen, Verpflegung –, Mitbestimmungsrechte inModellversuchen zu erproben.
Ein zweites zentrales Ziel der Gesetzesnovelle – dieFrau Ministerin hat darauf hingewiesen – ist die Trans-parenz, die bessere Durchschaubarkeit und Rechtswirk-samkeit des vertraglichen Miteinanders von Bewohnerund Träger. Wir begrüßen die Leistungs- und Aufgaben-beschreibung der Heime und die differenzierte Aufstel-lung einzelner Leistungsbereiche und Entgeltbestand-teile. Auch dass die Unterrichtung und Beratung derHeimbewohner nicht mehr allein dem Heimbetreiber ob-liegt, ist eine Verbesserung der bisherigen Regelung.
Beide Neuregelungen können zu einer erhöhten Kunden-orientierung beitragen und dienen dem Verbraucher-schutz.
Dagegen halten wir die vorgesehene Fristkürzung beiEntgelterhöhung von vier auf zwei Wochen für proble-matisch.
Alte Menschen müssen mehr Zeit haben, die aus einer sol-chen Entgelterhöhung resultierenden schwerwiegendenFragen zu beantworten. Dazu sind die Formulierungen imGesetzentwurf zum Thema Entgelterhöhung und Entgelt-kürzung zu unbestimmt. So schwammige Rechtsbegriffewie „nicht erhebliche Mängel“ oder „angemessene Kür-zung“ werden in der Praxis zu erheblichen Interpre-tationsschwierigkeiten führen.Heimbewohner fühlen sich unter Umständen durchEntgelterhöhung übervorteilt oder sehen sich nicht ohneweiteres in der Lage, die vorgelegten Unterlagen, die dieForderungen des Heimes untermauern sollen, sachkundigzu kontrollieren. Deshalb fordern wir Liberalen eineSchiedsstelle, die das Erhöhungsbegehren innerhalb einesMonats gutachterlich überprüft.Die vorgesehene Aufzeichnungspflicht als Teil derQualitätssicherung führt zu einer erheblichen Mehrbelas-tung der Heime. Dies darf nicht dazu führen, dass derentsprechende Mehrbedarf an Arbeitszeit und -personal
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Irmingard Schewe-Gerigk15476
bei Versorgung und Betreuung der Heimbewohner einge-spart wird.Das dritte bedeutende Anliegen der Heimgesetznovelleist die Verbesserung der Heimaufsicht. Bisher konnte dieHeimaufsicht die ihr zugedachten Aufgaben nicht erfül-len. Weder personell noch in sachlicher Hinsicht war siegenügend ausgestattet. Die Qualität der Aufsicht hängtaber entscheidend ab von der Kompetenz der Mitarbeiterund dem Stellenwert, der ihr in der Verwaltung einge-räumt wird.Die Heimaufsicht muss unabhängig sein von den Inte-ressen der Leistungsträger. Der Entwurf der Novelle ver-stärkt dagegen solche Abhängigkeiten noch. Dazu verletzt erin erheblicher Weise die Interessen des Datenschutzes. DerDatenaustausch zwischen Pflegekassen, MedizinischemDienst der Krankenkassen und den Sozialhilfeträgern darfnicht in diesem Maße uneingeschränkt möglich sein.
Als Fazit darf ich für die F.D.P.-Fraktion feststellen,dass wir viele gute Ansätze und Verbesserungen im Heim-gesetz sehen, dass aber in zahlreichen Details noch er-heblicher Nachbesserungsbedarf besteht. Einige Formu-lierungen sind zu wenig präzise,
manche Regularien zu bürokratisch, andere Teile der No-velle werden die beabsichtigte Wirkung so nicht entfaltenkönnen. Wir Liberalen werden daher – wie Sie schon ausunserem Antrag ersehen können – an den weiteren Bera-tungen kritisch, aber konstruktiv mitwirken. Wir hoffen,dass die Koalition für unsere Vorschläge offen ist.Ich bedanke mich ganz herzlich.Herr Präsident, darf ich einen P.S.-Nachtrag machen?
Bitte
schön, Herr Kollege.
In einer früheren Debatte hat-
ten wir hier eine Auseinandersetzung. In einer Kurzinter-
vention hatte ich auf die Kollegin Lörcher geantwortet,
dass Mitbestimmung nicht vorgesehen ist. Frau Lörcher
sagte: Herr Haupt, bei der Novellierung des Heimgesetzes
ist Mitbestimmung sehr wohl vorgesehen; es freut mich,
dass Sie sich derart dafür interessieren. – Lesen Sie sich
doch die Vorschrift noch einmal durch! Mit meinem Vor-
trag habe ich sicherlich bewiesen, dass keine Mitbestim-
mung vorgesehen ist.
Es ging um eine gute Flasche sächsischen Weines.
Diese habe also ich gewonnen. Frau Lörcher, aus kolle-
gialer Verbundenheit kriegen Sie von mir eine Flasche Li-
kör aus Hoyerswerda.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Marga Elser
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ich glaube, man sollte beim Aufzählenderjenigen, die gegen das Pflege-Qualitätssicherungsge-setz und das Heimgesetz sind, nicht immer nur die An-bieter anführen, sondern vielleicht auch einmal diejeni-gen, für die diese Gesetze verabschiedet werden sollen:die Männer und Frauen, die im Heim wohnen.
Das ist sehr wichtig. Wenn man dies tut, dann weiß man,dass wir mit unseren Gesetzen auf dem richtigen Wegsind.Wir haben festgestellt, dass wir bei der Pflege das Au-genmerk verstärkt auf die Qualitätssicherung und dieVerbesserung des Verbraucherschutzes richten müssen.Es gibt sehr viele Pflegeeinrichtungen, die schon seit Jah-ren Pflegeleistungen auf einem hohen Qualitätsniveau er-bringen. Eine ganze Reihe von Heimen sah sich seiner-zeit, als die Pflegeversicherung eingeführt wurde,veranlasst bzw. wurde vom Medizinischen Dienst daraufgestoßen, verstärkt Methoden der internen Qualitätssi-cherung anzuwenden. Es gibt aber eben auch – das warheute schon mehrmals Thema – Heime, die keine qua-litätsgerechte Versorgung anbieten. Diese sind eine nichtzu unterschätzende Gefahr für die Pflegebedürftigen.Natürlich gibt es viele Gründe für solche Fehler. Wirwollen mit unserem Gesetz die Weiterentwicklung derPflegequalität und die Stärkung der Verbraucherrechtefördern und so dafür sorgen, dass die Heimbewohnerin-nen und Heimbewohner eine gute Pflege bekommen, undzwar flächendeckend.
Gleichzeitig mit dem Gesetz zur Qualitätssicherunghaben wir heute die Novellierung des Heimgesetzes zuberaten. Wir wissen, dass die Leistungsqualität in derPflege nicht allein durch Kontrolle und Überwachungverbessert werden kann. Das ist klar. Wir wissen aber,dass dies durch eine Förderung und Intensivierung derQualität der pflegerischen Versorgung möglich ist. Des-halb wollen wir vor allem das Eigeninteresse der Heimedaran stärken, qualitativ hochwertige Pflege anzubieten.Wir als Gesetzgeber konzentrieren uns schwerpunkt-mäßig auf die Sicherung, Weiterentwicklung und Über-prüfung der Pflegequalität, auf die Stärkung der Eigen-verantwortung der Pflegeselbstverwaltung und auf einebessere Zusammenarbeit von Heimaufsicht und Selbst-verwaltung. Das ist ganz wichtig.
Wir verknüpfen dies mit einer Verstärkung des Verbrau-cherschutzes.Es ist klar, dass für die Sicherung und Weiterentwick-lung der Qualität ihrer Leistungen zuallererst die Träger
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Klaus Haupt15477
der Pflegeeinrichtungen zuständig und verantwortlichsind. Das heißt, dass es für jedes Pflegeheim und für je-den Pflegedienst ein umfassendes Qualitätsmanage-ment geben muss. Wir halten es aber auch für sehr wich-tig, dass dieses Qualitätsmanagement gelegentlich vonentsprechenden übergeordneten Stellen, also beispiels-weise vom Medizinischen Dienst, kontrolliert wird undder Nachweis einer guten Pflege erbracht werden muss.Dies beruht nicht auf einem Misstrauen gegenüber derPflegeeinrichtung. Es ist aber im Interesse der Heimbe-wohnerinnen und Heimbewohner, dass das Qualitätsma-nagement ihres Heimes gelegentlich überprüft wird. Da-vor sind wir überhaupt nicht bange. Und gute Heimebrauchen dies auch nicht zu sein. Viele Trägervereinigun-gen haben ein hervorragendes Management und werdendies bei den gelegentlichen Überprüfungen auch gernevorzeigen.
Die Qualitätssicherung und die entsprechenden Zer-tifizierungen werden einen guten Vergleich der Heimeuntereinander ermöglichen. Dies ist wichtig, da dadurchdie Rechte der Pflegebedürftigen geschützt und gestärktwerden.
Gleichzeitig wollen wir die Eigenverantwortungdurch Anpassungen im Vertragsrecht stärken. Die Eigen-verantwortung beinhaltet die Pflicht, aber auch das Rechtder Träger, die personelle und die sachliche Ausstattungbereitzustellen, die für eine leistungs- und qualitätsge-rechte Versorgung der von ihnen betreuten Pflegebedürf-tigen erforderlich ist. Das heißt aber auch – dies ist ganzwichtig, wird aber oft vergessen –, dass die Träger danndie Möglichkeit haben, ihren Anspruch auf leistungsge-rechte Vergütungen gegenüber den Kostenträgern effizi-ent durchzusetzen.Es gibt zum einen die unternehmerische Verantwor-tung und die Gestaltungsfreiheit in der Pflege. Zum ande-ren wollen wir aber auch einen effektiven Schutz gegen il-legale Praktiken zum Schaden der Pflegebedürftigen.Beispielsweise sollte es nicht vorkommen, dass Pflege-kräfte zwar in der Buchhaltung auftauchen, aber im Heimselber nicht vorhanden sind. Wir brauchen dieses Gesetzalso auch zum Schutz der Mitarbeiter.
Es wird sicherlich für das gesamte Vertrags- und Ver-gütungsrecht ein schwieriges Problem sein, dass es allge-mein anerkannte Maßstäbe für die Personalbemessungin den Pflegeheimen derzeit nicht gibt. Wir sind derzeitdabei, Pflegeprogramme wie „Plaisir“ oder „Persis“ zuuntersuchen. Grundsätzlich wird es aber so sein, dass imRahmen der Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen dieEinführung von landesweiten oder regionalen Rahmen-verträgen diskutiert wird.
Allerdings werden die Vertragsparteien dann in die Pflichtgenommen, sich auf landesweite Personalvermittlungs-verfahren zu verständigen.Mit der Stärkung der Verbraucherrechtewird die Be-ratung der Pflegebedürftigen weiter verbessert. Es gehtdarum, dass wir die individuelle Bedürftigkeit der Pflege-bedürftigen ermitteln und die Pflege gelegentlich entspre-chend verbessern. Dazu gehört natürlich auch, dass pfle-gebedürftige Menschen und ihre Angehörigen durchBeratung in der Lage sind, ihre Rechte wahrzunehmen.Preis- und Leistungsvergleiche müssen an diese Verein-barungen geknüpft werden.Uns ist vor allem wichtig, dass bei stationärer Pflegedie Pflegeheime ausdrücklich verpflichtet werden, füreine qualitätsgerechte Versorgung und Betreuung derHeimbewohnerinnen und Heimbewohner das erforderli-che Personal bereitzustellen. Ich denke, das kommt vor al-lem den Heimbewohnern zugute, die besonders häufig ei-nen hohen Bedarf an allgemeiner und sozialer Betreuungbenötigen. Das ist vor allem bei Demenzkranken der Fall.Weil dies auch der Inhalt des Gesetzentwurfes derCDU/CSU ist, darf ich zur Situation der Demenzkrankenauf das verweisen, was unsere Gesundheitsministerin vor-her gesagt hat.
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin sofort fertig. – Ich möchte
an dieser Stelle unseren beiden Ministerinnen, Frau Ulla
Schmidt und Frau Christine Bergmann, für die beiden Ge-
setzentwürfe sehr herzlich danken. Ich wünsche uns allen
eine gute Beratung.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Balt von der
PDS-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Ziel des Heimgesetzes ist es,„die Rechtsstellung und den Schutz von Bewohnerinnenund Bewohnern von Heimen zu verbessern und die Qua-lität der Betreuung und Pflege weiterzuentwickeln“. Soder Entwurf der Bundesregierung.Grundsätzlich ist gegen eine Verbesserung des Heim-gesetzes ebenso wenig wie gegen ein Gesetz zur Qua-litätssicherung in der Pflege einzuwenden. Aber diejetzige Diskussion erweckt in der Öffentlichkeit den Ein-druck, als ob wir derzeit keine gesetzlichen Grundlagenhätten. Dem ist nicht so. Das 1974 verabschiedete Heim-gesetz erfüllt prinzipiell seinen Zweck.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Marga Elser15478
Das Problem ist, dass die Umsetzung des Heimgeset-zes regional sehr unterschiedlich ausfällt. Um es ganz klarzu sagen: Die Probleme des Heimgesetzes liegen wenigerim Gesetz selbst als vielmehr in Qualifikations- und Voll-zugsdefiziten der Heimaufsichtsbehörden vor Ort. Hieranändert auch der neue Gesetzentwurf nichts.Wichtig wäre nämlich, eine bemerkenswerte Interes-senkollision bei Ländern und Kommunen aufzulösen. Soliegt die Zuständigkeit für die Heimaufsicht in vielenLändern bei denselben Behörden, die letztendlich auchfür die Pflege in den Heimen finanziell aufzukommen ha-ben, nämlich den Sozialhilfeträgern. Wenn nun nach einerPrüfung durch die Heimaufsicht Auflagen an den weite-ren Betrieb der Einrichtungen gemacht werden, betrifftdies somit nicht nur den Träger des Heimes, sondern – un-ter finanziellen Gesichtspunkten – in den meisten Fällenauch die eigene Behörde, in allen Fällen jedoch die öf-fentliche Kasse.
Dieser Zusammenhang ist im Ministerium durchausbekannt. In § 24 des Gesetzentwurfes ist formuliert: „DieLandesregierungen haben darauf hinzuwirken, dass dieAufgabenwahrnehmung durch die zuständigen Behördennicht durch Interessenkollisionen gefährdet oder beein-trächtigt wird“. Noch schwächer kann man einen Appellwohl kaum formulieren.
Der zitierte Paragraph dokumentiert eher die Hilflosigkeitdes Ministeriums in diesem Punkt.Diese Hilflosigkeit setzt sich in fataler Weise fort: Soist 1996 auf Wunsch der Länder eine Regelung in dasHeimgesetz aufgenommen worden, wonach Auflagen derHeimaufsichtsbehörden generell im Einvernehmen mitdem Sozialhilfeträger zu erfolgen haben. Im Klartext: Siestehen unter Kostenvorbehalt.Unter dem Strich weckt das neue Heimgesetz Erwar-tungen, die es gar nicht erfüllen kann. Die Aufblähungbürokratischer Anforderungen verbraucht im Gegenteilunnützerweise Ressourcen, die für eine gute Pflege dannnicht mehr zur Verfügung stehen. Wir sind der Auffas-sung, dass die Instrumente des geltenden Heimgesetzesdurchaus ausreichen, sie aber auch konsequent angewandtwerden müssen. Wir fordern, unabhängige Anlaufstelleneinzurichten, die Beschwerden entgegennehmen, diesenkompetent nachgehen und die Pflegebedürftigen und An-gehörigen entsprechend beraten.Unser Anspruch ist, Bürokratie abzubauen statt sieweiter aufzublähen,
Pflege zu verbessern statt Apparate zu vergrößern. Genaudas muss in dem vorliegenden Gesetzentwurf nochberücksichtigt werden.Danke.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Arne Fuhrmann von der SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Fink, vorneweg eine kurze Be-merkung, die Sie kennen, die ich aber gerne wiederhole,weil sie im Kontext Ihrer Rede wohl ziemlich wichtig ist:Nicht immer neues Geld, sondern gelegentlich eine Ideeund deren Umsetzung machen Bestehendes zu etwas Bes-serem.
Wenn wir am heutigen Abend unter dieser Prämissemiteinander diskutieren und uns nicht gegenseitig vor-rechnen, wo man Geld herbekommt bzw. wo man es nichtherbekommen kann, wären wir auch in dem von allen be-teuerten Konsens, es der älteren Generation in diesemLande leichter und vielleicht auch angenehmer zu ma-chen, einen Schritt weiter.Jetzt zurück zu dem Thema Heimgesetz. Ich habe ei-nen Zeitungsbericht gelesen, den ich zwar nicht besondersernst nehmen kann, zu dem ich aber eine Bemerkung ma-chen möchte. Wenn wir dazu übergehen und sagen, dassWohnen im Altenheim kein Zuhause ersetzt, machen wiruns zu einem schäbigen und nicht tauglichen Parlament.
Die letzten Tage, Wochen, Monate oder Jahre im Lebeneines alten Menschen, die er in einer Pflegeeinrichtungoder einer Alteneinrichtung verbringt, müssen von Qua-lität, Wohlbefinden, Vertrauen und Perspektiven – wel-cher Art auch immer – geprägt sein. Nur dann wird er sichim Endeffekt zu Hause fühlen. Um das zu erreichen, istdie Novellierung des Heimgesetzes einer der entschei-denden Schritte überhaupt; denn zum Wohlbefinden undzum Vertrauen gehört auch das Element des Verbraucher-schutzes, über den wir im Zusammenhang mit einer solchelementaren Frage gar nicht intensiv genug diskutierenkönnen.
Es gibt einige wenige Punkte, die zumindest nach mei-ner Meinung heute noch nicht deutlich genug angespro-chen wurden. Das ist zum Beispiel die Klarheit und Über-schaubarkeit von Verträgen im Zusammenhang mitVertragsdauer und Tod. Wenn Sie sich – Herr Fink, Siesind ja Spezialist und kennen das – überlegen, was heuteimmer noch gang und gäbe ist, dass nämlich nach demTod eines Heimbewohners auf Wochen und Monate hi-naus von den Hinterbliebenen oder aus der ErbmasseGeld noch geschöpft wird, weil der Heimplatz nicht neuzu belegen ist oder er renoviert werden muss
– lassen Sie es; Praktiker wissen, dass es so ist –,
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Monika Balt15479
werden Sie mir zustimmen, wenn ich sage: Ich finde esnur recht und billig, wenn im Heimgesetz verankert wird,dass der Vertrag und damit auch die Zahlungspflicht mitdem Tod endet.
Es ist ein wesentlicher Punkt, dass das Verhältnis vonLeistungen und Geldzahlungen im Gesetz differenzierterals bislang beschrieben wird. Ich denke, darauf habennicht nur die Heimbewohner, sondern auch derenAngehörige einen Anspruch. Die Verhandlungen über diePflegesätze – darauf hat die Ministerin vorhin sehr deut-lich hingewiesen; auch Herr Haupt hat es zu meinerFreude getan – können nicht über die Köpfe der Heimbe-wohner hinweg geführt werden.
Wenn ich mir vorstelle, dass ich mit 85 Jahren als gnadd-riger Greis in einer Alteneinrichtung untergebracht binund dass über meinen Kopf hinweg – aus welchen Grün-den auch immer – entschieden wird, dass der Pflegesatzum 250 DM im Monat angehoben wird, dann können Siesich sicherlich vorstellen, dass ich dann erst recht gnadd-rig werde.
Dann hat das Heim, in dem ich untergebracht bin, nichtszu lachen.
Wir geben den Heimbewohnern die Chance – dieseRegelung ist vernünftig –, sich zum Beispiel gegen dieKündigung des Heimvertrages zu wehren, wenn sie nichtdas notwendige Geld haben. Das wird zwar vielen Betrei-bern von Pflegeeinrichtungen nicht gerade viel Spaß be-reiten. Aber damit sind wir, glaube ich, auch einen Schrittim Hinblick darauf weiter, dass man sich auch in Pflege-einrichtungen zu Hause fühlen und dort Vertrauen zu an-deren aufbauen kann. Damit wird im Grunde genommenauch die Position derjenigen gestützt, die bereits heuteihre Einrichtungen so leiten und führen, wie wir uns daswünschen und wie es dem Sinn des Heimgesetzes von1974 entspräche, wenn es komplett umgesetzt würde.Aber dies ist wohl eine Illusion. Deshalb ist die Novel-lierung des Heimgesetzes notwendig.
Sie reden immer davon, dass Kontrollen eine fürch-terliche Sache seien. Mit der Novellierung des Heimge-setzes wollen wir im Grunde neben einigen anderen Punk-ten vor allem drei ganz entscheidende Knackpunkteangehen. Wir wollen erreichen, dass differenziert aufge-schlüsselt wird, welche und unter welchen Bedingungendie Heimbewohnerinnen und -bewohner Medikamentebekommen. Wir wollen wissen, wie der Pflegeverlaufaussieht. Wir wollen vorrangig wissen, welche freiheits-beschränkenden Maßnahmen unter welchen Grundvo-raussetzungen durchgeführt werden.
Wir müssen uns in diesem Haus doch nichts vorma-chen. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten nichtnur darüber zu reden gehabt, dass in den Heimen aufop-ferungsvoll gepflegt wird und dass dort nur hoch qualifi-ziertes Personal beschäftigt ist. Wir haben auch über ka-tastrophale Zustände in verschiedenen Einrichtungenheftig diskutiert, unter denen diejenigen leiden müssen,die ihren Lebensabend dort verbringen, und uns von derPresse auch manches Mal um die Backe knallen lassenmüssen, dass wir auch politisch etwas verändern müssten.
Ich als politisch Verantwortlicher möchte in Zukunft nichtmehr die Prügel dafür einstecken, dass die Vorschriftendes Heimgesetzes möglicherweise nicht erfüllt werden.Deshalb möchte ich Kontrollen einführen, zumindest solange, wie diese ordnungsrechtlich zulässig sind.Da Sie die Schwierigkeiten, die ein solches Gesetzauch im Hinblick auf die Zuständigkeit der Länder mitsich bringt, samt und sonders kennen, wissen Sie, dassman an manchen Stellen auch Kompromisse schluckenmuss. Vielleicht kann man dann, wenn das Gesetz novel-liert ist, versuchen, Änderungen auf der Ebene der Länderdurchzusetzen. Ich glaube, die Selbstverwaltung und dieEigenverantwortung der Heime und ihrer Träger solltenzwar durch das Heimgesetz nicht angetastet werden. Aberstaatliche Daseinsvorsorge und Verantwortung endennicht am Bett im Pflegeheim oder an der Haustür. Diesebestehen vielmehr immer und überall und gelten für jedenMenschen in Deutschland, egal, wie alt er ist, wo er wohntoder ob er Geld hat oder nicht.
Alle Einrichtungsträger, die sich bisher ordnungs-gemäß verhalten haben und deren Einrichtungen vomStandard und vom Pflegeniveau her vernünftig geführtwerden, werden im Grunde durch das Heimgesetz über-haupt nicht tangiert. Sie werden vielmehr unterstützt undwerden in Zukunft – auch durch die Möglichkeit der Zer-tifizierung – sehr schnell aus den Kontrollen – egal, wel-cher Art sie sind – entlassen werden, weil sie ihre Sacherichtig machen. Deshalb wird dieses Gesetz, glaube ich,nicht nur Ärger, sondern auch Freude bei denen, die sichschon bisher ordnungsgemäß verhalten haben, und auchbei den Betroffenen auslösen.Im selben Atemzug bedanke ich mich bei den Mit-arbeitern meines Ministeriums sehr herzlich für die kon-struktive Zusammenarbeit und auch für die Bereitschaft,mit denen zusammenzuarbeiten, die uns noch heute kriti-sieren. Ich denke, es wird schon funktionieren.Danke schön.
Alsnächster Redner hat das Wort Herr Kollege Gerald Weißvon der CDU/CSU.
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Arne Fuhrmann15480
Gerald Weiß (CDU/CSU): Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Mi-nisterin, den von Ihnen eingeforderten Konsens im The-menzusammenhang, Frau Schewe-Gerigk, die von Ihnengeforderte Übereinstimmung im Sachzusammenhang
– ähnlich haben Sie sich, Herr Minister Fuhrmann,geäußert –,
lösen wir in der Grundsatzfrage natürlich ein.Beim neuen Heimgesetz, Frau Ministerin, streiten wirnicht über die grundlegenden Ziele. Wir streiten über dierichtigen Wege – wie das Herr Fink und Herr Zöller schongesagt haben –,
den Schutz der Menschen in den Heimen bestmöglich zugewährleisten, ihre Würde zu sichern, Pflegequalität zuoptimieren und zu bewahren. Das sind unstreitige, rich-tige Grundziele. Es geht nicht um das Ob, sondern es gehtum das Wie. In der übergroßen Zahl von Heimen wird gutund aufopferungsvoll gepflegt.
Aber die Minderzahl schlecht pflegender Heime, derenOpfer weitgehend hilf- und wehrlose Menschen sind, istdie Herausforderung für den Staat, der auf diesem Feld,Herr Kollege Fuhrmann, wirklich nichts weniger sein darfals Nachtwächterstaat. Hier geht es im Kern um eine staat-liche Ordnungsaufgabe.Bei diesem Gesetz, Frau Ministerin, gestehen wir zu,dass es gut gemeint ist; das attestieren wir sofort. Aber obes wirklich insgesamt gut ist im Sinne von zielführend, dahaben wir einige Zweifel. Gut gemeint ist noch langenicht zielführend. Gut ist, wenn man Teilhaberechte ver-nünftig weiterentwickelt. Aber wir haben Zweifel, ob eszielführend ist, die Heime mit Bürokratie, Verwaltungs-vorschriften und Berichtspflichten, die zum Teil ans Un-sinnige grenzen, zu überziehen. Da haben wir sehr großeZweifel, weil Kapazität in den Heimen für Administrationstatt für den Menschen in Anspruch genommen würde.
Es war übrigens interessant, Frau Schewe-Gerigk, dassSie gesagt haben, Sie könnten die Äußerung, die dieWohlfahrtsverbände gemacht haben, nicht verstehen.Bis vor kurzem, in Ihrer Oppositionszeit, waren sie nochIhre Kronzeugen.
Die Arbeiterwohlfahrt, die ja nicht gerade eine Filiale derUnion ist, hat Ihnen zum Beispiel ins Stammbuch ge-schrieben:Die freie Wohlfahrtspflege wird zum Objekt vonÜberregulierung und Bürokratisierung.Die Diakonie hat gesagt:Die Mitarbeiterinnen müssen über ausreichend Zeitfür die Pflegebedürftigen verfügen. Das gilt vor al-lem für Gespräche. Die zu erwartenden Gesetze soll-ten hierfür entsprechende Rahmenbedingungenschaffen. Es ist aber jetzt zu befürchten, dass derenUmsetzung eher das Gegenteil bewirken wird.Durch neue Auflagen, etwa zur Dokumentation, wirdimmer weniger Zeit für die eigentliche Pflege, Be-treuung und Versorgung zur Verfügung stehen.
Das ist doch der falsche Ansatz.
Geben Sie qualifiziertes Personal in die Heime, statt ad-ministrative Aufgaben vorzuschreiben, deren Erkenntnis-wert sehr begrenzt sein wird.Was uns auch nicht gefällt: Das Gesetz mutet an wieeine einzige große Misstrauenserklärung an alle Heimträ-ger. Wir sind aber eher für eine Kriegserklärung an dieMinderheit derjenigen, die schlecht pflegen. Das müsstedie Ausrichtung sein.
Da sind wir bei der Ordnungsfunktion. Ich sage Ihnen:Dreh- und Angelpunkt, Herr Fuhrmann, ist eine funktio-nierende Heimaufsicht. Was Sie dazu in das Gesetz ge-schrieben haben, kommt mir manchmal vor wie viel Lärmum wenig. Das ist ja eher rudimentär, wenn Sie die Wahr-heit zugestehen würden. Das kann es in einem Bundesge-setz auch nur sein. Das ist Domäne der Bundesländer. Ichkomme aus einem Land, aus Hessen, das eine sehr guteHeimaufsicht hat, für die ich einmal Verantwortung hatte.Die Art und Weise, wie die Heimaufsicht – auch personell –ausgestaltet und organisiert ist, entscheidet über ihre ge-samte Wirksamkeit und über die präventive Wirksamkeitim Alltagsgeschehen. Wir sind für eine starke Heimauf-sicht. Deren Stärke bemisst sich aber nicht am Umfangvon Gesetzen, wie sich auch ein starker Staat, für den wirsind, nicht am Umfang seiner Gesetze bemisst. Manchmalhabe ich den Eindruck, dass das für Sie ein Kriterium ist.Sie türmen – das ist bereits gesagt worden – einen un-bestimmten Rechtsbegriff auf den anderen. Neue Pa-noramadachfenster, die mehr Licht in die Pflegezimmerbringen, seien betriebsnotwendige Investitionen. Ist dasbetriebsnotwendig oder nicht? Mit der Klärung dieserFrage werden Sie Gerichte beschäftigen, da Sie in diesemGesetzentwurf eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbe-griffe kreieren.
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Frau Bergmann, Sie sagten, dass Sie motivierte Men-schen wollen. Ich glaube, dass Sie die Menschen demoti-vieren. Formulare motivieren die Menschen nicht, son-dern sie demotivieren, wenn sie sie von ihren eigenenPflichten ablenken. Es wird zu keiner Verbesserung derBedingungen in den Heimen, sondern zu einer Ver-schlechterung kommen.Herr Fuhrmann, ich greife einmal einen Punkt einer ein-zelnen Regelung auf – Sie haben ihn gerade erwähnt –, umzu demonstrieren, wo bei diesem Gesetzentwurf der Teufelim Detail steckt. Sie sagen: Das Vertragsverhältnis endetmit dem Tod; das muss so sein. Ich halte Ihnen entgegen:Zumindest in denjenigen Heimen, wo die Wohnkompo-nente, das Wohnverhältnis bzw. das Mietverhältnis im Vor-dergrund stehen, bewirken Sie damit im Ergebnis eine Er-benschutzklausel und – durchdenken Sie es einmal! – eineUmverteilung der Kostenlast auf die übrigen Heimbewoh-nerinnen und Heimbewohner. Das kann doch nicht wahrsein. Das ist eine unsachgemäße Regelung.
Ich möchte noch auf eine andere Norm hinweisen. Die-ser Gesetzentwurf versucht in vielem Antworten auf Fra-gen zu geben, die es gar nicht gibt. Betrachten wir einmalden Aspekt der Kürzungen von Leistungen. Natürlichmüssen Leistungen gekürzt werden können, wenn sie un-qualifiziert sind und wenn es Mängel gibt. Aber dieserAnspruch ist bereits im guten alten BGB enthalten.
Dem durch dieses Gesetz eine Spezialnorm hinzuzufü-gen, legt den Verdacht nahe, dass Sie so vorgehen, weil esso fortschrittlich wirkt. Wir brauchen aber keine Überre-gulierung, sondern Einfachheit der Rechtsnormen undRechtsklarheit. In dieser Hinsicht liegen wir – darüberwerden wir diskutieren müssen – mit dem BGB recht gut.Ich nenne ein anderes Beispiel. In diesen Sachzusam-menhang passt die Bildung von Arbeitsgemeinschaften.Sie schreiben, dass Arbeitsgemeinschaften der Beteilig-ten, der Kostenträger, der Pflegekassen, der Heimträgerund eine Heimaufsicht gebildet werden müssen. Weil esvernünftig ist und ungeheuer nahe liegt, gehört es dochzur täglichen Wirklichkeit, dass alle Beteiligten – ichglaube, nahezu flächendeckend in dieser Republik – dieZusammenarbeit suchen; denn es ist notwendig.
– Nein, so sieht die Praxis aus. – Sie beabsichtigen, eineBundesnorm zu schaffen, die in diesem Fall eine Ver-pflichtung auferlegt. Warum können Sie sich nicht vondiesem bundesgesetzlichen Zentralismus lösen? Bundes-gesetzlicher Zentralismus durchzieht diesen ganzen Ge-setzentwurf. In Bezug auf die Heimaufsicht habe ich Ih-nen das bereits beschreiben können.
Ich will noch eine andere Norm ansprechen. Es stimmtuns sehr skeptisch, in welchem Umfang der Gesetzent-wurf personenbezogene und übrigens auch betriebsbezo-gene Daten zum Austausch freigibt. PersonenbezogeneDaten dürfen in nicht anonymisierter Form den Pflege-kassen übermittelt werden, wenn es im Sinne des Sozial-gesetzbuches ist. Eine so weit gefasste – scheunentor-weite – Formulierung bedeutet die Schaffung einesEinfallstors für Verstöße gegen den Datenschutz. Ichwundere mich eigentlich, dass die selbst ernannten Grals-hüter des Datenschutzes nicht hellwach werden, wenneine solche Regelung in einem Gesetzentwurf auftaucht.Auch und gerade Pflegebedürftige müssen davor ge-schützt bleiben, gläserne Patienten zu werden,
wenn wir die Würde der Menschen bewahren wollen.Nur noch ein Stichwort: Zu den Mängeln des Gesetzesgehört, dass durch standardisierende und nivellierendeVorschriften, nämlich durch den Zangengriff, dass dasEntgelt, das die Bewohnerinnen und Bewohner zu zahlenhaben – eben, Herr Fuhrmann, von Ihnen noch gefeiert –,vereinheitlicht wird und Investitionen, soweit Entgeltwir-kungen damit verbunden sind, dem Kriterium der Be-triebsnotwendigkeit unterworfen werden, einem ganzenBereich altengerechten Wohnens der Garaus gemachtwird. Das gilt insbesondere für die Wohnstifte in Deutsch-land. Sie wollen nivellieren, das Niveau standardisieren.Das ist ein zentralistischer Regelungsanspruch.
Wir sind entschieden dagegen. Wir wollen Vielfalt und eindifferenziertes Angebot.Insgesamt wollen wir einen kritisch-konstruktivenDialog mit Ihnen führen. Ausgehend von gemeinsamenGrundzielen möchten wir über die Kritik an Detailfragenzu einem gemeinsamen Ergebnis kommen. Das gelingtuns, wenn wir uns bemühen.Vielen herzlichen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/5395, 14/5547, 14/5399 und14/5565 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisun-gen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
F.D.P.
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Gerald Weiß
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Ende der Exklusivlizenz für die Deutsche Postzum 31. Dezember 2002– Drucksache 14/5333 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
RechtsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei dieF.D.P. sieben Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat fürden Antragsteller der Kollege Rainer Funke von derF.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Die Absicht der Bundesregierung und vor al-lem des Bundeswirtschaftsministers, das Postmonopolüber den 1. Januar 2003 hinaus zu verlängern, zeugt voneinem tiefen Misstrauen in die Marktwirtschaft.
Das verwundert mich bei einem Bundeswirtschaftsminis-ter ganz besonders.
Im Zuge der Postreform II haben die damaligen Koaliti-onsfraktionen CDU/CSU und F.D.P., aber auch die SPDdas Grundgesetz in Art. 87 f geändert und bestimmt, dassim Bereich des Postwesens die Dienstleistungen privat-wirtschaftlich durch die aus dem Sondervermögen Deut-sche Bundespost hervorgegangenen Unternehmen unddurch private Anbieter erbracht werden.
Das heißt eindeutig, dass die Post AG und die privatenAnbieter gleichberechtigt am Markt tätig sein sollen.
Im Postgesetz ist geregelt worden, dass das Monopolfür die Beförderung von Briefen bis zu 250 Gramm füreine Übergangszeit bei der Post AG verbleiben solle.Diese Exklusivlizenz sollte am 31. Dezember 2002 aus-laufen.
Dieses Postgesetz einschließlich des Auslaufens der Ex-klusivlizenz kam im Vermittlungsausschuss als Kompro-miss zustande. Dieser Kompromiss wurde von derCDU/CSU, der SPD und der F.D.P. getragen. Es ist keinGeheimnis – jedermann weiß es –, dass die F.D.P. durch-aus bereit war, diese Exklusivlizenz auch schon früherauslaufen zu lassen. Im Vermittlungsausschuss musstenwir den Kollegen der SPD und der CDU/CSU aber entge-genkommen, weil auch wir dieses Postgesetz wollten. ImÜbrigen wollte dies auch der jetzige Staatsminister imBundeskanzleramt, der Kollege Bury, der im Vermitt-lungsausschuss vehement für den 31. Dezember 2002gekämpft hat.
– Daran habe ich große Zweifel. Auch damals war es umseine Marktwirtschaftlichkeit nicht ganz so gut bestellt,lieber Herr Kollege van Essen.Wenn heute der Bundeswirtschaftsminister von diesemKompromiss abweichen will, dann ist das nicht nur ver-fassungswidrig – worauf namhafte Verfassungsrechtlerhinweisen –,
sondern dies zeugt auch davon, wie sehr man sich, lieberHerr Kollege Barthel, auf ein gegebenes Wort der SPDverlassen kann.Da gilt auch nicht der Grundsatz, dass man einfacheGesetze mit einfachen Mehrheiten ändern kann. Zwarkann sich der Bürger nicht darauf verlassen, dass ein ein-faches Gesetz ewig Bestand hat. Aber jeder Sachkundigeweiß – vielleicht mit Ausnahme des Bundeswirtschafts-ministers –, dass man ein Postdienstnetz nicht von heuteauf morgen aufbauen kann, sondern drei bis fünf Jahredazu benötigt. Das haben Feldversuche ergeben.Die Investoren müssen einen gewissen Vorlauf habenund müssen sich auch darauf verlassen können, dass derGesetzgeber bei den beschlossenen Fristen bleibt. EinEingriff des Gesetzgebers kurz vor Auslaufen derExklusivlizenz verstößt nicht nur gegen Eigentums-rechte der Investoren gemäß Art. 14 des Grundgesetzes– das dürfte den meisten bekannt sein, aber vielleicht Ih-nen nicht, Herr Barthel –,
sondern erschüttert auch das Vertrauen der Bürger in dieRechtskraft und Rechtswirkung von Gesetzen.
Eine Entscheidung der Bundesregierung, die Exklusiv-lizenz für die Post AG zu verlängern, wird nicht nur vielGeld aus dem Haushalt als Entschädigung für die Inves-toren kosten, sondern auch das Vertrauen des Bürgers invon Bundestag und Bundesrat beschlossene Gesetze er-schüttern.Will man die Exklusivlizenz verlängern, müsstenhöherrangige und höherwertige Interessen vorhandensein. Wir haben schon damals bei der Beratung im Ver-mittlungsausschuss gewusst, dass die Vorstellungen dernordeuropäischen Länder unseren Vorstellungen vonWettbewerb, Marktwirtschaft und privater Wirtschaftmehr entsprechen als die Vorstellungen von Frankreichund beispielsweise der südeuropäischen Länder. Seitdem Beschluss des Bundestages ist also überhaupt keineneue Situation eingetreten. Wir haben immer gewusst,dass Frankreich und die südeuropäischen Länder bei der
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms15483
Aufgabe des Postmonopols eher zurückhaltend sein wer-den.Wir haben uns auch sonst noch nie um diese Fragengekümmert, etwa als es darum ging, die Postunternehmen– damals zum Beispiel die Telekom – in den Wettbewerbzu entlassen. Wir haben auch damals gewusst, dass dieFranzosen in dieser Angelegenheit etwas zurückhaltendersind. Aber wir haben damals schon gezeigt, dass der Wegin Richtung mehr Wettbewerb und Marktwirtschaft rich-tig ist und dem Bürger zugute kommt. Den Mut sollten wirauch in Bezug auf die Post AG haben.
Interessanterweise fordert der Vorstand der PostAG nichteine Verlängerung der Exklusivlizenz, weil die Post AGweiß, dass sie ein modern aufgestelltes Logistikunterneh-men mit gutem Management und mit guten Mitarbeiternist.Die Post AG braucht keinen Wettbewerb zu scheuen.Der Wettbewerb stärkt alle am Wettbewerb teilnehmen-den Unternehmen. Das sollte eigentlich der Wirtschafts-minister, der ja einer der Nachfolger von ProfessorLudwig Erhard ist, wissen. Er sollte sich auch der Markt-wirtschaft und dem Wettbewerb verpflichtet fühlen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die
Bundesregierung hat jetzt die Parlamentarische Staatsse-
kretärin Margareta Wolf das Wort.
M
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-ehrter Herr Funke! Die Bundesregierung beabsichtigt, dieExklusivlizenz derDeutschen PostAG um fünf Jahre zuverlängern.Jörg van Essen [F.D.P.]: Das ist schlimm!)Das tun wir nicht deshalb, weil wir Monopole so schönfinden, sondern weil uns unter vernünftiger Betrachtungder Welt um uns herum nichts anderes übrig bleibt.
Ausgangspunkt der Überlegungen zur Verlängerungder Exklusivlizenz ist im Wesentlichen die Entwicklungder Postpolitik innerhalb der Europäischen Union.
Dort ergeben sich nicht die Fortschritte, die sich die Bun-desregierung bisher erhofft hatte. Die Europäische Kom-mission hatte zwar am 30. Mai letzten Jahres endlich ei-nen Vorschlag für eine neue Postdienste-Richtlinievorgelegt. Grundsätzlich hat die Bundesregierung – daswissen Sie auch – diesen Vorschlag begrüßt, weil er einenweiteren Schritt zur Öffnung der Postmärkte ab 2003 ent-hielt. Wir hätten den Vorschlag der Kommission aller-dings noch heftiger begrüßt, wenn er auch einen Zeitplanfür die vollständige Öffnung der Postmärkte enthaltenhätte.An dieser Stelle möchte ich auch dem Vorwurf entge-gentreten, dass sich die Bundesregierung nicht energischgenug für eine Marktöffnung im Postbereich eingesetzthabe. Bereits im Vorfeld des Kommissionsbeschlussesstanden wir in engem Kontakt mit den beiden deutschenKommissaren in Brüssel, die sich beide nachhaltig für diePosition der Bundesregierung eingesetzt haben.
Nicht nur innerhalb der Kommission, sondern auch imEuropäischen Parlament und im Ministerrat – das ist auchbekannt – sind die Befürworter und die Gegner weitererMarktöffnungsschritte im Postbereich in etwa gleichstark. Dies erklärt, warum in den letzten Monaten bei derFormulierung einer zukunftsgerichteten europäischenPostpolitik keine nennenswerten Fortschritte zu erzielenwaren.Die gegenwärtige Präsidentschaft betrachtet die Post-politik nicht als vorrangig. Wir bemühen uns zwar, diePostdienste-Richtlinie auf der Tagesordnung zu halten.Absehbar ist jedoch, dass wir mit der Verabschiedung ei-nes gemeinsamen Standpunktes im Ministerrat kurzfristignicht rechnen können.Ein Blick auf den Zeitplan zeigt, dass die Zeit auf dereuropäischen Ebene noch nicht stark genug drängt, umKompromisse zu erzwingen. Die gegenwärtige Richtlinie– das wissen Sie – läuft erst Ende 2004 aus. Selbst für einmöglicherweise notwendig werdendes Vermittlungsver-fahren zwischen Europäischem Parlament und Minister-rat bleibt aus heutiger Sicht noch reichlich Zeit.Dagegen läuft nach gegenwärtiger Rechtslage inDeutschland die Exklusivlizenz Ende 2002 aus. Dieszwingt uns – so meinen wir – zum Handeln, da die Bun-desregierung nicht beabsichtigt, das nationale Restmono-pol auslaufen zu lassen, ohne zu wissen, wie es innerhalbder EU weitergeht.Die Bundesregierung befürwortet ein gemeinsamesVorgehen innerhalb der Europäischen Union, auch imPostbereich. Damit haben wir in der Vergangenheit guteErfahrungen gemacht, beispielsweise bei der Telekom-munikation. Darauf haben Sie, Herr Funke, hingewiesen.Eher schlechte Erfahrungen hat Deutschland dagegen mitder einseitigen vollständigen Marktöffnung in den Berei-chen von Strom und Gas gemacht, in denen wir auch heutenoch keine gleichgewichtige europäische Marktöffnunghaben. Dies wirkt nach.Wir wollen vermeiden, dass Postunternehmen aus ge-schlossenen oder nahezu geschlossenen Märkten in einemvollständig geöffneten deutschen Markt tätig werden kön-nen. Der deutsche Postmarkt ist der mit Abstand größte inEuropa und überdies mit seiner zentralen Lage für alleausländischen Postunternehmen sehr lukrativ.Ungleiche Wettbewerbschancen würden – so meinenwir – zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Den Preis
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Rainer Funke15484
dafür müssten vor allen Dingen die Kunden, die deut-schen Postunternehmen, aber auch die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer zahlen. Das wollen wir nicht.
Allein mit wettbewerbsrechtlichen Instrumenten wäremissbräuchliches Verhalten nur im Nachhinein zu sank-tionieren. Die Bundesregierung kann und wird eine Be-einträchtigung unternehmerischer Strukturen in Deutsch-land nicht billigen. Entweder gibt es fairen Wettbewerboder keinen; unfairen Wettbewerb werden wir nicht zu-lassen.
Lassen Sie mich zum Schluss etwas zu den Briefent-gelten sagen. Mit der Verschiebung der vollständigenMarktöffnung im Postbereich müssen die Verbraucher je-doch nicht unbedingt auf sinkende Preise verzichten. DasPostgesetz sieht vor, dass sich die Briefentgelte an denKosten einer effizienten Leistungsbereitstellung zu orien-tieren haben. Die Deutsche Post AG hat in puncto Effizi-enz in den letzten Jahren durchaus Fortschritte gemacht,übrigens in Erwartung des Wettbewerbs. Es bedarf alsokeiner hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusagen,dass die Briefentgelte ab 2003 tendenziell sinken könnten.Damit werden dem Verbraucher die Preisvorteile, die derWettbewerb ansonsten – wenn auch nicht kalkulierbar –mit sich brächte, grundsätzlich nicht vorenthalten. Wirsind darüber im Gespräch.Das Handeln der Bundesregierung im Postbereich wirdvon der Einsicht in das Notwendige und in das Machbarebestimmt. Indem die Bundesregierung bereits jetzt dieÄnderung des Postgesetzes ankündigt, schafft sie Klarheitdarüber, was auf die Unternehmen im Postbereich ab2003 zukommt. Im Sinne von Max Weber beweist dieBundesregierung damit Augenmaß. Wünsche zu formu-lieren ist hingegen ein Vorrecht der Opposition.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie deshalb na-mens der Bundesregierung, den vorliegenden Antrag inder parlamentarischen Beratung abzulehnen.Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Elmar Müller von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! So weit also die Mit-telstandsbeauftragte dieser Bundesregierung, KollegeFunke. Es ist schon eine erstaunliche Entwicklung, diediese Dame vollzogen hat.
Zunächst gratuliere ich – ich meine das überhaupt nichtironisch – der Deutschen PostAG herzlich dazu, dass sieam Montag mit einem Anteil von 1,53 Prozent in den Daxkommt. Das ist eine reife Leistung dieses Unternehmens;das hat es verdient. Die Vorstände und Manager diesesUnternehmens, an der Spitze Herr Zumwinkel, machenauch einen guten Job, wenngleich zumindest einige derer,die sich mit der Post beschäftigen, mit der Postpolitik, wiesie vorgegeben wird, nicht immer einverstanden sind.Aber das ändert nichts daran, dass man dies respektvollbemerken darf.Meine Damen und Herren, ich greife, gerichtet an dieSPD-Fraktion, Herr Kollege Barthel, weit in die Ge-schichte zurück. Seit der Französischen Revolution imJahre 1789 gibt es das unveräußerliche Menschenrechtder Berufs- und Gewerbefreiheit.
Nun wissen wir allerdings, dass es Regierungen gibt, diesagen, sie verzichteten überall dort gern auf Berufs- undGewerbefreiheit, wo die Kasse klingelt. So sind wir an ei-nem Punkt angelangt, der diese Regierung ganz besondersauszeichnet.
Das Briefbeförderungsmonopol bedeutet bei unsganz konkret, dass Briefe mit einem Gewicht von unter200 Gramm und Infopost mit einem Gewicht von unter50 Gramm nur von einem Unternehmen befördert werdendürfen und dass alle anderen Unternehmen aus dieserBranche ausgeschlossen sind. Dabei gilt seit 1997 – alswir das Postgesetz geschaffen haben –, dass der Wettbe-werb die Regel und das Monopol die zu begründendeAusnahme sei. An diesem Punkt haben wir richtig gehan-delt, auch wenn Herr Funke gesagt hat, es hätte etwasschneller kommen können. Aber wir haben eine vernünf-tige Linie gefunden.Damit sollte für den Verbraucher und für die Wirtschaftder Zugang zu preiswerten und kundengerechten Post-dienstleistungen sichergestellt werden. Dass es in derPraxis anders ist, Herr Barthel, erleben wir ja derzeit beieiner Post, die sich über Einnahmen und Gewinne nichtbeklagen kann. Trotzdem erreichen uns täglich Berichteüber irgendwelche Missstände. Zuletzt haben wir – Siegenauso wie ich – einen Brief der Diamant- und Edel-steinbörse auf den Tisch bekommen. Allein aus der Strei-chung des Wertbriefversandes im Jahre 1999 und der Ver-änderung der allgemeinen Geschäftsbedingungen imvergangenen Jahr sind dieser Branche inzwischen in523 Fällen Verluste in Höhe von 2,5 Millionen DM ent-standen. Ein zweites Beispiel – darüber werden wir unsauch noch unterhalten – ist die Frage der Massendrucksa-chen: Bis hinunter in die kleinsten Dörfer sollen nun Ein-lieferungen im Wert von weniger als 500 DM nicht mehrmöglich sein. Man stelle sich das einmal vor. Das betrifftvor allem jene Gemeinden, die im Fremdenverkehrsbe-reich tätig sind. Sie fragen: Wie sollen wir in einer kleinen
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Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf15485
Gemeinde mit 800 Einwohnern auf einen Umsatz von500 DM kommen?
– Genau das ist das Thema. Herr Barthel, jetzt will ich auseinem Brief zitieren, der dem Kollegen Ernst Hinskendazu zugegangen ist. Das ist nun wirklich interessant:Die von einigen Kunden geforderten Ausnah-meregelungen für kleine Gemeinden, Vereine usw.würden dem durch die Einführung einer Mindestaus-lieferung verfolgten Zweck der Effizienzsteigerungzuwiderlaufen, denn gerade bei kleinen Sendungs-mengen stehen die Einnahmen zu den entstehendenBearbeitungskosten in einem besonders ungünstigenVerhältnis.
So weit die Post. Da sagen Sie, wir müssten diesesSystem beibehalten. Herr Kollege Barthel, ich denke, dassSie durchaus noch einmal darüber nachdenken sollten,wie Sie das verantworten wollen.Eine Verlängerung der Exklusivlizenz stößt sowohl aufverfassungsrechtliche Widerstände wie auch auf erhebli-che europarechtliche Probleme, weil die Überleitungsre-gelungen in Art. 143 b Grundgesetz, die durch Gesetz von1994 in das Grundgesetz aufgenommen wurden, durchdas 1997 verabschiedete Postgesetz mit der einmaligenVerlängerung der Exklusivlizenz ausgeschöpft sind. Einedarüber hinausgehende Beschränkung der Berufsfreiheitist mit Sicherheit – davon kann man heute ausgehen – mitArt. 12 Grundgesetz nicht vereinbar. Es wird dazu ver-mutlich ein Verfahren geben.
Wir sind jetzt an einem Punkt, meine Damen und Her-ren, an dem ich gespannt darauf warte, was die Kolleginder Grünen dazu zu sagen hat. Wir haben ja gehört, dassdie Grünen gegen eine Verlängerung sind.Das ist möglicherweise der gleiche Vorgang wie voreinem Jahr, als die Kollegin Wolf beim Portostreit öf-fentlich bekannte, dass der Minister mit seinem Eingriffin die Portoregelung falsch gehandelt habe. Als wir dannhier darüber diskutierten, wurde das alles zurückgenom-men und gesagt, das sei alles nicht so gemeint gewesen.Ich befürchte, Frau Kollegin Hustedt, dass Sie auch inder Frage der Verlängerung der Exklusivlizenz wahr-scheinlich bereits in wenigen Tagen – zumindest nach derLandtagswahl – wieder den Kotau vor Ihrem Koali-tionspartner machen werden und Ihr vermeintlicher Wi-derstand wahrscheinlich sehr schnell beendet sein wird.Eines, meine Damen und Herren, ist beim Portostreitdes vergangenen Jahres völlig klar geworden: Ohne Kon-kurrenz gibt es für die Post AG überhaupt keinen Grund,ihre Preise zu senken.
Die Post AG nennt sich zwar heute Global Player, aberimmerhin 90 Prozent ihrer Gewinne schöpft sie auchheute noch aus den alten Produkten, das heißt aus der Ex-klusivlizenz. Da soll einer sagen, sie verdiene als GlobalPlayer heute weltweit ihr Geld. Nein, in dieser Frage mussman einfach sagen: Der Bundesbürger wird mit überhöh-ten Portopreisen und durch eine Verlängerung der Exklu-sivlizenz zugunsten eines Unternehmens noch mehr undnoch länger geschröpft.Diese Frage müssen Sie als Koalition schon beantwor-ten: Darf es möglich sein und ist es rechtlich richtig, dasssich eine Regierung zugunsten eines Unternehmens der-artig ins Zeug legt und sagt, dieses Unternehmen darf dickund fett werden, während die anderen, die vor der Tür ste-hen, ruhig warten sollen?Sie sollten in dieser Frage endlich zu einer wettbe-werbsorientierten Politik zurückfinden, vor allem zu einerPolitik, die im Zusammenhang mit der Förderung desMittelstandes positiv genannt werden kann.Dies meine ich vor allem im Zusammenhang mit denArbeitsplätzen, Herr Kollege Barthel. Ich war vorhinschon etwas erstaunt, Frau Staatssekretärin, als Sie mitArbeitsplätzen argumentierten. Es ist wirklich das Ge-genteil der Fall.
Herr Kol-
lege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Funke?
Aber selbst-
verständlich.
Bitte,
Herr Funke.
Herr Kollege Müller, kennen
Sie ein an der deutschen Börse notiertes privatwirtschaft-
liches Unternehmen außer der Post AG, das eine Mono-
polrente an die Aktionäre ausschütten kann und das durch
den Staat fett gemacht wird?
Ich würde
gerne ausführlicher antworten, aber ich kann Ihnen sagen,
Herr Kollege Funke: Das gibt es nicht; das ist in der Tat
ein Widerspruch in sich. Daran wird das Fehlerhafte die-
ser Diskussion deutlich,
auch die Absurdität dieser Entwicklung. Ich bedanke
mich für diese Feststellung und schließe mich ihr vorbe-
haltlos an.
F
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie wissen, dass die Post AG in den letztenJahren 150 000 Arbeitsplätze abgebaut hat. Das musste
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sein; denn sie war mit Arbeitsplätzen übermäßig ausge-stattet. Das hatte mit dem alten System, vor allem mit denGewerkschaften zu tun. Allerdings wurde hier – im Ge-gensatz zur Telekommunikation – aufgrund der Exklusiv-lizenz der Wettbewerb verhindert und damit die Schaf-fung neuer Arbeitsplätze.Wir haben in diesem Bereich über 800 Lizenznehmer.Diese Lizenznehmer haben inzwischen trotz ihres gerin-gen Umsatzes immerhin rund 4 000 Vollzeitarbeitsplätzeund etwa 20 000 Teilzeitarbeitsplätze geschaffen. Genauhier liegt das Potenzial, das Sie in den nächsten Monatenbräuchten. Sie werden in den nächsten Monaten – allesspricht ja dafür, dass wir auf dem Arbeitsmarkt in eineschwierige Phase geraten – in die Situation geraten, Lang-zeitarbeitslose und gerade solche, die nicht die höchsteQualifikation haben, genau für solche Arbeiten aktivierenzu können. Hier wird von Ihnen die Chance vertan, Ar-beitslose und Langzeitarbeitlose wieder in den Arbeits-markt zurückzubringen, was wirklich schade ist. Auf die-sem Markt kann im Grunde genommen doch nur durcheinen Wettbewerb, an dem vor allem der Mittelstand be-teiligt ist, durch neue Produkte und neue Impulse etwasgeschehen.Ich will Ihnen noch einmal die Zahlen nennen: In derBundesrepublik Deutschland werden pro Einwohnerund Jahr etwa 250 Briefe versandt. In den USA sind es700 Briefe pro Einwohner im Jahr bei wesentlich gerin-geren Portokosten.
Im nordeuropäischen Bereich, bei unseren skandina-vischen Nachbarn, sind es immerhin noch doppelt soviele wie bei uns. Herr Kollege Barthel, Sie mögen sichdarüber lustig machen, aber das hat damit zu tun,
dass in Schweden und Finnland seit 1993 die Monopol-situation aufgehoben worden ist. Dort kann aber niemandbehaupten, dass die Postinfrastruktur, worauf die Bürgereinen Anspruch haben, in irgendeiner Weise beeinträch-tigt worden ist. Im Gegenteil, die Bürger haben dieselbenMöglichkeiten wie vorher, aber mittelständische jungeUnternehmen haben dort eine Chance bekommen.Herr Kollege Barthel, da Sie mir nicht glauben, will icheinen Kollegen aus Ihrer Fraktion zu diesem Thema miteinem fast klassischen Beitrag für ein Lehrbuch zur Be-triebwirtschaftslehre zitieren. Kollege Professor UweJens, der bei solchen Gelegenheiten überhaupt nicht re-den darf, hat vor wenigen Tagen in der „Frankfurter All-gemeinen Zeitung“ Folgendes geschrieben:Doch hat der Wirtschaftsminister Politik für einzelneUnternehmen oder für die ganze Volkswirtschaft zubetreiben? Ist es sinnvoll, deutsche Unternehmen fürden Weltmarkt staatlich zu füttern, damit sie dort un-sere Interessen vertreten? Für die Gesamtwirtschaftist dies verhängnisvoll.Weiter sagt er:Die kleinen und mittleren Unternehmen haben nurNachteile davon. Geschwächt wird das dynamischeElement der Gesamtwirtschaft.Professor Jens schließt dann mit den Worten:Deutschlands Wirtschaft profitiert von offenen Welt-märkten.Diese Weltmärkte können nicht dort, wo es politisch op-portun ist, geschlossen werden, wie es diese Regierungnach Gutsherrenart vorhat, sondern man muss schon beieiner bestimmten ordnungspolitischen Linie bleiben. Dastun Sie derzeit aber nicht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Post AGhat, wie gesagt, in den letzten Jahren eine Menge Arbeits-kräfte entlassen müssen und es wird in der Tat verhindert,dass andere, neue Unternehmen diesen Arbeitskräfte-abbau ausgleichen können. Das ist ein Versäumnis, dasich nur immer wieder beklagen kann. Sie können noch soviele Argumente finden,
aber es wird Ihnen nicht gelingen, die Binsenweisheit,dass durch Wettbewerb neue Arbeitsplätze geschaffenwerden können, auch nur im Ansatz zu widerlegen.
Das Ganze zeigt mir Ihr Misstrauen, Frau Staatssekre-tärin, gegenüber dem Mittelstand; anders kann man dasnicht bezeichnen. Wir haben in den letzten anderthalb Jah-ren ausschließlich junge mittelständische Unternehmenmit Lizenzen versorgt. Über 800 Unternehmen warten da-rauf, dass dieser Markt endlich wettbewerbsmäßig neuaufgemischt werden kann. Eine ganze Menge neuer Pro-dukte – die Post hat es natürlich nicht nötig, diese anzu-bieten – könnte auf den Markt kommen. Ich frage Siewirklich, ob es sein muss, dass ein Brief innerhalb Berlinsden gleichen Portowert hat wie ein Brief zum Beispiel vonGarmisch nach Flensburg, oder ob ein Brief, der amnächsten Tag ankommen muss, den gleichen Tarif habenmuss wie ein Brief, den mir meine kurlaubende Tanteschreibt und der erst nächste Woche ankommen muss.
– Herr Kollege Barthel, Sie unterstützen doch im Hinblickauf die Telekom genau diesen Punkt,
indem Sie sagen: Die unterschiedliche Stärke des in denRegionen bestehenden Marktes muss aufgebröselt wer-den. – Auf dem Postmarkt aber verweigern Sie sich einersolchen Lösung.Meine Damen und Herren, die rot-grüne Bundesregie-rung will mit dieser Mittelstandsfeindlichkeit neue Struk-turen schaffen. Wir sagen jedoch: Marktpositionen dürfennicht durch Machtpositionen verfestigt werden, sondern
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müssen durch Leistung immer wieder neu errungen wer-den. Deshalb ist und bleibt die Union die Partei des fairenWettbewerbs und des Mittelstandes. Daher muss das, wasderzeit im Gesetz steht, nämlich dass das Monopol Ende2002 ausläuft, bestehen bleiben. Einen anderen Weg darfes nicht geben.Ich bedanke mich.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kurs derTelekomaktie steigt wieder. Der Hintergrund ist, dass dieHauptversammlung von Voicestream gestern der Über-nahme durch die Telekom zugestimmt hat. Das heißt, derKurs der Telekomaktie steigt in Abhängigkeit davon, obdie Übernahme von Voicestream durch die Telekomklappt. Daran kann man erkennen – auch wenn man nichtimmer alles das versteht, was an den Börsen passiert –,
dass Aktienkurse nicht nur vom Gewinn, sondern auchvon ganz anderen Dingen abhängen.Ich frage mich, ob man sicher sein kann, dass der Kursder Postaktie steigt, wenn man das Monopol der Post be-seitigt, ob ein Unternehmen, das durch den Staat künstlichgestützt wird, für Investoren nicht Unsicherheiten mit sichbringt, weil sich dieses Unternehmen nicht auf den Markteingestellt hat.
Mein Eindruck ist, dass in den großen Volksparteien,im Übrigen auch in der CDU/CSU, häufig Skepsis ge-genüber dem Wettbewerb und dem Markt bei Übergängenvon Monopolen zu Wettbewerbssituationen herrscht. Da-hinter stecken natürlich teilweise berechtigte Befürchtun-gen; denn bestimmte Dinge müssen gewährleistet wer-den. Bei der Post ist es ganz klar: Eine Versorgung mitPostdienstleistungen, sprich: die Lieferung und die Ab-gabe von Briefen, muss flächendeckend, also auch aufdem Land, innerhalb eines bestimmten Zeitraums, der ak-zeptabel sein muss, gewährleistet werden. Jeder muss andie Postversorgung angeschlossen sein. Das gilt sehr wohlauch für andere Märkte, zum Beispiel für den Telekom-munikations-, den Gas- und den Strommarkt. Auch aufdiesen Märkten ist dies machbar.Ich teile nicht die Position, dass es für den deutschenStrommarkt schlecht war, ihn so frühzeitig für den Wett-bewerb zu öffnen. Im Gegenteil: Die deutschen Strom-konzerne – darauf muss man sehr deutlich hinweisen –sind im europäischen Wettbewerb hervorragend positio-niert. Auf lange Frist wird sich erweisen, dass die schwe-dischen und die deutschen Stromkonzerne, die sich sehrfrüh einer Liberalisierung stellen mussten, wesentlichbesser fahren als diejenigen Konzerne, die später dazuge-kommen sind.
Die Vorteile des Marktes sind eminent. Das sieht maninsbesondere an den Preisen; ich nenne beispielsweiseden Telekommunikations- und den Energiebereich. Dasnützt der Volkswirtschaft, den Verbrauchern und der In-dustrie. Dass wir heute für 5 Pfennig pro Minute statt für60, wie noch vor kurzer Zeit üblich, ein Ferngesprächführen können, bietet gerade Niedrigverdienern einewirkliche Chance zur Kommunikation.
Ich habe bedauert, dass, als die Regulierungsbehördeim März 2000 das Porto senken wollte, Minister Müllersie angewiesen hat, dies bis 31. Dezember 2002 konstantzu halten. Wir haben europaweit das zweithöchste Porto.
Ich halte es deswegen für wichtig, dass, wenn überhauptüber die Verlängerung des Monopols gesprochen wird,diese Weisung aufgehoben wird. Ich begrüße ausdrück-lich, was Margareta Wolf gefordert hat, nämlich dass imWirtschaftsministerium in dieser Richtung nachgedachtwerden muss. Wir werden darüber auch weiterhin zu dis-kutieren haben.
Wir, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, wollen dieEinführung des Wettbewerbs auch für die Post und befin-den uns deshalb in der Diskussion mit der SPD und mitdem Wirtschaftsministerium. In der Tat gibt es auch Pro-bleme, wenn man das Monopol verlängert. Es gibt Un-ternehmen, die bereits entsprechend investiert haben. Ichweiß von Unternehmen, die schon Briefsortieranlagen ge-kauft haben und jetzt darauf sitzen bleiben.Die Gefahr, dass ausländische Investoren kommen undder Deutschen Post sozusagen den Markt streitig machen,halte ich für ungeheuer gering.
Man muss 600 Millionen DM Investitionskosten vor-schießen, wenn man tatsächlich die flächendeckende Ver-sorgung in diesem Bereich übernehmen will. Auch in an-deren Ländern, wie Schweden und Finnland, die schonlange weitgehend liberalisiert haben, ist das nicht passiert.Selbst auf den kleineren Märkten hat niemand angegriffenund diesen Bereich übernommen. In Deutschland wäredas noch wesentlich schwieriger.Ganz anders sieht es aber mit den Nischen aus, die ge-rade kleine Unternehmen besetzen können. Es ist zumBeispiel für Zeitungsverleger, die sowieso ihre Zeitungverteilen, ganz attraktiv, vor Ort auch Briefe mitzuvertei-len. Dabei machen sie – das gibt es teilweise schon – ganzhervorragende Angebote, zum Beispiel die Post am selbenTag oder über Nacht auszutragen. Es gibt auch schon An-
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gebote, bei denen das Porto, von solchen Synergieeffek-ten getragen, eindeutig unter dem der Post liegt, also beietwa 80 Pfennig statt 1,10 DM.
Ich wäre allerdings dafür, das Postmonopol auslaufenzu lassen. Wir werden gemeinschaftlich darüber redenund sicherlich einen Kompromiss finden. Auf jeden Fallmuss klar sein, dass man es nicht auf zwei Legisla-turperioden hinaus verlängert, sondern dass wir uns in dernächsten Legislaturperiode darüber unterhalten werden.Wenn Sie jetzt eine Kompromisssuche anprangern,dann werde ich Sie daran messen, wie im Bundesrat abge-stimmt wird. Falls die F.D.P. nach der Wahl in Rheinland-Pfalz, im letzten Bundesland, in dem sie mitregiert, nochweiter in der Regierung sein sollte, was ich allerdingsnicht glaube
– gut, aber da haben Sie ja sowieso nichts zu sagen –,
wenn Sie also noch mit Beck zusammen regieren sollten,dann werde ich genau darauf achten, wie sich die F.D.P.im Bundesrat verhalten wird; denn soweit ich weiß, istMinisterpräsident Beck für die Verlängerung des Postmo-nopols. Ich werde auch genau beobachten, wie die LänderBayern und Sachsen, wie Berlin und Hessen in dieserFrage abstimmen werden. Dann werden wir uns hier wie-dersehen und über diese Frage reden.
– In der Tat, Hessen ist auch ein Bundesland. Ich werdeHessen genau beobachten.
Frau Kol-
legin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Funke?
Ja, wenn es sein muss.
Frau Kollegin, nach Ihrer ful-
minanten Rede habe ich fast den Eindruck, dass Sie
durchaus bereit sind, dem Antrag des Bundeswirtschafts-
ministeriums und der Bundesregierung zur Verlängerung
der Lizenz nicht die Zustimmung zu geben. Wie werden
Sie sich denn nun verhalten, wenn der Antrag der Bun-
desregierung eingebracht wird, das Gesetz zu ändern und
die Exklusivlizenz zu verlängern?
Da hat Herr Schmidt völlig Recht: Ein bisschen Spannung
muss sein.
Ich habe es in meiner Rede sehr deutlich gesagt: Wir
sind zurzeit mitten in der Diskussion über diese Frage.
Wir führen sie sehr solidarisch und gemeinschaftlich und
werden selbstverständlich – so ist es in der Politik – einen
Kompromiss finden.
– Nein, ich eiere nicht. Sie haben eben genau dargestellt,
wie es damals gewesen ist
und wie sich die F.D.P. verhalten hat: Sie wollte das Brief-
monopol wesentlich früher aufgeben, hat dem Antrag
dann aber doch zugestimmt. Haben Sie damals geeiert?
Nein, Sie haben sich so verhalten, wie man sich in der Po-
litik meistens verhält, wenn es unterschiedliche Vorstel-
lungen gibt: Man sucht einen Kompromiss. Das werden
wir in diesem Punkt genauso tun.
Abschließend warne ich gerade Sie von der F.D.P. da-
vor, die Backen so aufzublasen. – Wie gesagt: Ich werde
das Abstimmungsverhalten der Bundesländer haargenau
beobachten. – Denn sonst enden Sie genauso wie bei der
Steuerreform, dass Sie nämlich als Tiger losspringen und
als Bettvorleger landen.
Danke.
Alsnächster Redner hat der Kollege Gerhard Jüttemann vonder PDS-Fraktion das Wort.Gerhard Jüttemann (von der PDS mit Beifallbegrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorwenigen Wochen ist bekannt geworden, dass die DeutschePost AG 12 000 Arbeitsplätze im Bereich Verkehr ausla-gern wird. Das wird das Aus für 12 000 tarifvertraglichund sozial geschützte Arbeitsplätze bedeuten.
Die Postgewerkschaft nennt dieses Vorhaben zu Recht ei-nen „platten Ausverkauf des Fahrdienstes“, der nicht hin-zunehmen sei.
Ersetzt werden sollen die vernichteten Arbeitsplätzedurch Billigjobs. Das ist das Ergebnis Ihrer Privatisie-rungs- und Liberalisierungspolitik im Postbereich: maß-loses Lohn- und Sozialdumping.
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Michaele Hustedt15489
Erst zu Anfang dieses Jahres ist bei der Post ein neuerTarifvertrag in Kraft getreten, der bei allen Neubeschäf-tigten zu gewaltigen Lohneinbußen führt. Hätten die Ge-werkschaften ihm nicht zugestimmt, wären weitere Tau-sende Arbeitsplätze ausgelagert worden. „Auslagern“heißt aber, wie wir gerade gesehen haben, nichts anderesals vernichten. Das, was Sie schönfärberisch Wettbewerbnennen, zersetzt das soziale Gefüge der Bundesrepublik.Das Tempo dieses sozialen Kahlschlages erhöht sichdabei in einer Weise, die noch vor kurzem kaum jemandfür möglich gehalten hätte. Zwischen 1995 und 2000 wur-den laut Regulierungsbehörde 71 000 Arbeitsplätze beider Post platt gemacht. Natürlich drückt sich die Behördevornehmer aus; sie nennt das „Personalanpassung“. Wa-rum, das werden wir gleich sehen.Jedenfalls stehen dieser unglaublichen Zahl von 71 000vernichteten Arbeitsplätzen insgesamt nur schlappe27 000 Arbeitsplätze bei der Konkurrenz im Briefbereichgegenüber. Wie sehen die neuen Arbeitsplätze aus, diedurch den Wettbewerb entstehen?
Von den 27 000 Beschäftigten handelt es sich bei 16 000um geringfügig Beschäftigte ohne Sozialversicherungs-pflicht. So sieht die Qualität von 60 Prozent aller bei denKonkurrenten entstandenen Arbeitplätze aus. DiesenSkandal nennt die Regulierungsbehörde der Bundesregie-rung vornehm „Personalanpassung“.Nun kommt noch etwas hinzu: Der gewaltige Stellen-abbau bei der Deutschen Post AG hatte bisher direkt mitder Konkurrenz noch gar nichts zu tun; denn im Briefbe-reich gab es weder Umsatz- noch Absatzrückgänge. ImGegenteil, es gab sogar Zuwächse. Nun kommt die F.D.P.und fordert das Ende der Exklusivlizenz zum Ende desJahres 2002, damit es infolge der Konkurrenz der Turn-schuhbrigaden endlich zu den lang ersehnten Umsatz-und Absatzeinbußen kommt und damit die schon jetzt un-erträgliche Entlassungswelle bei der Deutschen Post AGzur unbeherrschbaren Lawine wird.Übrigens ist Ihr Antrag nicht nur inhaltlich, sondernauch formal überflüssig. Schließlich läuft der reservierteBereich laut Postgesetz ohnehin Ende 2002 aus. Was wirwirklich brauchen, ist also nicht Ihren Antrag, sondern dieÄnderung des Postgesetzes, um das zu verhindern. Wasderzeit aus dem Wirtschaftsministerium dazu zu verneh-men ist, klingt vernünftig.Inzwischen geht ja selbst die Europäische Kommis-sion davon aus, dass der Rückgang der Gesamtbeschäfti-gung im Postsektor bis 2007 anhalten werde. Als Grundführt sie an – ich zitiere –, „dass der Stellenabbau durchEffizienzsteigerungen größer ist als das durch das Markt-wachstum bewirkte Plus“. Die Kommission hat deshalbeine Beschäftigungsstudie in Auftrag gegeben, in dernachgewiesen wird, dass die privaten Postkonkurrentenschlechtere Beschäftigungsbedingungen anbieten. DieArbeitszeiten seien länger, die Grundlöhne geringer undder gewerkschaftliche Organisationsrat sei erheblichniedriger. Der europäische Ausschuss für Beschäftigungund soziale Angelegenheiten hat deshalb eine weiter ge-hende Liberalisierung entschieden abgelehnt. Die Aus-wirkungen der vollständigen Liberalisierung auf dieErbringung des Universaldienstes sind bisher überhauptnoch nicht untersucht worden. Werden wir unterschiedli-che Preise für gleiche Produkte bekommen? WelcheNachteile wird es in ländlichen Regionen geben? Auch inDeutschland liegen dazu keine Untersuchungen vor, wieauch die sozialen Folgen für die Beschäftigten inDeutschland nicht im Vorhinein untersucht werden. Dochdas ist die Forderung, die heute erhoben werden muss:Untersuchen Sie die Folgen Ihrer sozialfeindlichen Post-politik!Ich danke. Denken Sie einmal darüber nach!
Jetzt hat
der Kollege Klaus Barthel von der SPD-Fraktion das
Wort.
Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Nachdem Elmar Müller selber dieStichworte „gesamtwirtschaftliche Verantwortung“ und„Telekom“ in die Debatte eingeführt hat, muss ich an die-ser Stelle auf einen Vorgang eingehen, der auf den erstenBlick nicht unmittelbar mit dem heutigen Thema zusam-menzuhängen scheint, der mich aber sehr beunruhigt undder letztlich auch in einem sehr engen Sachzusammen-hang mit dem steht, was wir heute diskutieren.Bisher habe ich Sie, Kollege Müller, für einen solidenKollegen gehalten, mit dem man zwar nicht immer einerMeinung ist, der aber noch Maß und Ziel kennt.
Was wir aber vorgestern Abend im „Heute-Journal“ sehenund hören mussten, steht außerhalb des Hinnehmbaren.Deswegen frage ich Sie heute: Stimmt es, Herr Müller,dass Sie der Ansicht sind, der deutsche Telekommuni-kationsmarkt sei nicht offen genug für US-amerikani-sche Unternehmen? Stimmt es, dass Sie es richtig finden,dass man die Deutsche Telekom am Zugang zum Markt inden USAhindern soll, damit sie in Deutschland gefügigerwird? Stimmt es, dass Sie US-amerikanischen Stellen ver-zerrte und einseitige Informationen über die Situation aufdem deutschen Markt zukommen lassen, die dann von denProtektionisten vom Schlage des Senators Hollingsmissbraucht werden, um den Zugang der Deutschen Tele-kom zum US-amerikanischen Markt zu verhindern?
Stimmt es, dass Sie die unglaublichen Schikanen, denenausländische Unternehmen in den USA unterworfen sind– mittlerweile dauert es dort über ein Jahr, bis eine Unter-nehmensübernahme genehmigt wird –, auf eine Ebene mitder deutschen Regulierungspolitik zerren, die – wohlge-merkt – für den deutschen Telekommunikationsmarkt, aufdem sich US-amerikanische Unternehmen, für die die
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Gerhard Jüttemann15490
Deutsche Telekom sogar die Gebühren eintreibt, be-grüßenswerterweise mit großer Intensität und völlig un-gehindert tummeln, zuständig ist?
Stimmt es, dass Sie der Ansicht sind, dass der Wettbewerbso aussehen muss, dass Polizei und Geheimdienste, Re-gulierungsbehörden und Parlamente, Regierungskom-missionen und Gerichte bei staatlicher Beteiligung anausländischen Unternehmen prüfen und prüfen müssen,ob das nationale Interesse bei Unternehmenskäufen ge-wahrt bleibt?
Stimmt es, dass Sie sich bei derartigen Auswüchsen auchdadurch zum Kronzeugen der US-amerikanischen Pro-tektionisten machen lassen, indem Sie Schauermärchenüber den deutschen Markt und angebliche Machenschaf-ten der Bundesregierung und der SPD verbreiten?
Es gibt nur zwei Möglichkeiten, Kollege Müller: Ent-weder Sie distanzieren sich von den dubiosen Aktivitätendes VATM und seiner Anwälte in den USA, bei denen Sieals Informant und Ratgeber genannt werden,
und fordern, dass der US-Markt für europäische Unterneh-men endlich genauso zugänglich wird, wie das umgekehrtder Fall ist, oder Sie sind in Ihrer Rolle als Vorsitzender desBeirates der Regulierungsbehörde für Telekommunikationund Post nicht mehr tragbar. Ich hoffe in unserem gemein-samen Interesse, Sie schaffen ersteres.
Um dasselbe Thema, nämlich um die internationaleVergleichbarkeit von Marktzutrittschancen und faireWettbewerbsbedingungen auf internationalen Märkten,geht es auch in der heutigen postpolitischen Debatte. Lei-der haben wir auch im Postsektor Ähnliches erlebt wie mitElmar Müller im Telekommunikationsbereich. Ichmeine – Herr Funke wird sich sicher erinnern – die Er-scheinung, dass deutsche Parlamentarier – zumindest beieinem ist es nachgewiesen – die Deutsche Post und diedeutsche Bundesregierung in Brüssel wegen angeblicherQuersubventionierung angeschwärzt haben.Ich stelle jetzt einmal fest: Schon heute hat die Bun-desrepublik einen der offensten nationalen Postmärkte inder Europäischen Union. Schauen wir uns die Situationin Europa einmal an: In 13 von 15 Ländern gibt es reser-vierte Bereiche; in elf Ländern ist der reservierte Bereichgrößer und nur in einem kleiner als in Deutschland. In nureinem weiteren Land ist die Post nicht mehr ausschließ-lich in staatlichem Besitz. In nur einem weiteren Land istdie Exklusivlizenz bisher befristet. In nur drei weiterenLändern gibt es einen Netzzugang für Wettbewerber. Infünf nicht unwesentlichen Ländern gibt es einen offen zu-gegebenen Transfer vom Staat in die nationalen Postun-ternehmen. In kaum einem Land in Europa gibt es Pläneoder Tendenzen in Richtung auf eine weitere Liberalisie-rung und Privatisierung der Postmärkte.
Sie sagen, es gebe seit 1997 keine neue Situation. Dasist doch absolut lachhaft. Ich frage Sie: Weshalb solltesich daran etwas ändern, wenn der deutsche Markt geöff-net wird, wenn die schon vorgezogene Liberalisierungbisher in dieser Richtung nichts bewirkt hat? Sie führenan dieser Stelle immer Finnland und Schweden als Bei-spiele an und sagen, dort sei alles liberalisiert. Diese Län-der sind Ihre großen Vorbilder.Wie wäre es denn mit ein paar Fakten? In Schwedensind seit der Marktöffnung 1993 die Porti für Briefe in-klusive Mehrwertsteuer um 60 Prozent gestiegen. Diesgeschah trotz der Behauptung der F.D.P., durch eine Li-beralisierung werde alles billiger. In Schweden steht derWettbewerb auf dem Papier. Trotz formaler Marktfrei-gabe werden 95 Prozent aller Briefe von der Staatspostausgeliefert. Es gibt keine asymmetrische Regulierung.Die schwedische Post hat über 41 000 Beschäftigte. Sieist ein staatliches Unternehmen und wirft keinen Gewinnab. Rechnet man einmal die Beschäftigtenzahl der schwe-dischen Post auf die Bevölkerungszahl und Wirtschafts-kraft Deutschlands um, müsste die Deutsche Post AG370 000 Beschäftigte haben. Sie hat aber ein Drittel we-niger, nämlich 240 000 Beschäftigte.Schweden liegt am Rand Europas, hat 9 Millionen Ein-wohner und weite ländliche Räume. Deutschland in zen-traleuropäischer Lage hat eine neunmal so große Bevölke-rung.Jetzt frage ich Sie von der F.D.P.: Weshalb kann manwohl in Schweden den Markt so leicht liberalisieren?Weshalb ist es wohl ein Unterschied, ob man den schwe-dischen oder den deutschen Markt öffnet? Warum habendie postalischen Global Player und die Mittelständler sogroße Lust auf Lappland?
Sind Sie bereit, mit uns zusammen eine Wirtschafts- undSozialpolitik nach dem schwedischen Modell zu machen,bei dem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keineAngst vor Umstrukturierungen haben müssen, weil esdort massive sozialstaatliche Sicherungen gibt?Wenn wir nun nicht mehr von Schweden reden wollen,dann reden wir von halbwegs vergleichbaren europä-ischen Ländern. Warum ist man in Italien, in Frankreichund in Großbritannien so wenig zu weiteren Marktöff-nungen geneigt? Das liegt daran, dass die Lage dort an-ders als in Schweden ist. Diese Länder wissen aus Erfah-rungen im eigenen Land, dass die Liberalisierung bei derPost eben nicht der große Renner und deren Akzeptanz inder Bevölkerung gering ist. In Großbritannien hat nichtnur die Regierung gewechselt, auch die Stimmung ist zu-gunsten des Erhalts der Post als öffentliches Unternehmen
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Klaus Barthel
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und zugunsten eines reservierten Bereiches völlig umge-kippt.Warum sind auch wir gut beraten, mit der Postlibera-lisierung vorsichtig umzugehen? Erstens. Das viel stra-pazierte Beispiel der Telekommunikation passt überhauptnicht. Die Telekommunikation und ihr Umfeld in der IuK-Branche wachsen volumen- und umsatzmäßig dyna-misch. Marktanteilsverluste können dort durch Volumen-und Umsatzzuwächse leicht aufgefangen werden.Nur ein Beispiel: In den letzten drei Jahren hat sich dasVerkehrsvolumen im Festnetz um insgesamt 60 Prozenterhöht, allein im letzten Jahr um 26 Prozent. Die DeutscheTelekom konnte in diesen drei Jahren ihr Volumen umrund 25 Prozent erhöhen, obwohl ihr die Wettbewerber ei-nen Marktanteil von 22 Prozent abgenommen haben. Ichfrage Sie: Ist hier irgendjemand im Raum, der eine ähnli-che Prognose für den Postsektor treffen möchte? Das be-deutete 60 Prozent mehr Briefe, mehr Massensendungenund mehr Pakete in drei Jahren. Das wäre ein volumen-mäßiges Wachstum von 20 Prozent im Jahresdurchschnitt.Das ist ebenso wahrscheinlich wie die 18 Prozent für dieDrei-Pünktchen-Partei.Zweitens. Im Postsektor gibt es durchaus Wachs-tumschancen. Derzeit bewegt sich das jährliche Volu-men- und Umsatzwachstum bei 2 Prozent im Jahr. Dasmögliche Wachstum wird aber nicht durch die Exklusiv-lizenz behindert, weil dieses nicht in das Drittel des re-servierten Postmarktes fällt, sondern in den freigegebenenBereich. Sie haben selber die Beispiele genannt. Es wirdniemand daran gehindert, Prospekte auszutragen oderbeim Paketservice Mehrwertdienste anzubieten.Drittens. Was heißt das also? Bei einer zu raschen Li-beralisierung würde in dem bisher geschützten Monopol-bereich ein Verdrängungswettbewerb stattfinden – keinZuwachs an Qualität, sondern Überlebenskampf durchLohn- und Sozialdumping sowie ein Abbau von Leistun-gen gegenüber den Kunden.Viertens. Noch ein Wort zu den selbst ernannten Mit-telstandspolitikern aus der F.D.P. und der Union: Sie tunimmer so, als sei die schnelle Marktöffnung eine Chancefür kleinere und mittlere Unternehmen. Das ist ein Mär-chen und das wissen die UPS-Berater auch. Nur eineschrittweise und harmonisierte Öffnung kann, wenn über-haupt, den kleinen und mittleren Unternehmen eineChance geben.Wenn wir dagegen im Jahre 2003 auf einen Schlag ein-seitig unseren Markt öffnen, dann ist das die Stunde derPost- und Logistikkonzerne aus den Nachbarländern. Diekleinen und mittleren Unternehmen können nicht auf ei-nen Schlag 600 Millionen DM aufbringen – Frau Hustedthat es schon angesprochen –; dies können nur große Un-ternehmen. Wir hätten dann Verhältnisse wie im Güter-fernverkehr und auf den Baustellen: organisiertes Lohn-und Sozialdumping zulasten der Sicherheit, zulasten desMittelstandes, zulasten der Kunden, zulasten der Infra-struktur und zulasten der Arbeitsplätze. Das wäre ein flie-gendes Suizidkommando und das geht mit uns nicht.
Nur mit einer schrittweisen, sozial flankierten und miteiner konsequenten Bekämpfung illegaler Praktiken so-wie der Sicherung des Universaldienstes verbundenen,europäisch abgestimmten Liberalisierung können wir die-sen Tendenzen begegnen.Wir laden alle recht herzlich ein, uns auf diesem Wegzu begleiten. Wir haben die Hoffnung noch nicht aufge-geben, dass insbesondere der Bundesrat zum Beispiel beider Frage der Infrastruktur noch an die Länderinteressendenkt. Rechtlich ist eine Verlängerung des reserviertenBereichs, beispielsweise bis zum Jahre 2007, völlig un-problematisch. Ein Blick in das Gesetz und die Erinne-rung an das Vermittlungsverfahren zum Postgesetz von1997 – Stichwort § 47, Herr Funke, auch wenn Sie sichimmer nur an die eine Seite des Kompromisses erinnernkönnen – ersparen uns sinnlose Debatten.Zum Schluss, damit wir uns richtig verstehen: Für unsist ein reservierter Bereich für ein privates Unternehmenweder eine Ideallösung noch ein Dauerzustand. Ein reser-vierter Bereich für sich allein bewirkt nichts anderes alsEinnahmensicherheit. Aber die Entwicklungen bei derDeutschen Post – Stichworte: Benachteiligung ländlicherRäume durch Mindestvolumen bei Wurfsendungen, Out-sourcingpläne in der Sparte Transport und Unterlaufender Universaldienstverordnung – verfolgen wir mit Sorgeund Kritik. Die Ziele und Zwecke des reservierten Be-reichs sind und bleiben für uns klar – und wir werden siedurchsetzen –: Kundeninteresse, Infrastruktur und Ar-beitsplätze. Es wird also keinen Freibrief für die Post AGgeben, und zwar weder bei der Höhe des Portos ab 2003noch bei den anderen genannten Bereichen.
Kommen
Sie bitte zum Schluss!
Wie Sie wissen,
planen Koalitionsfraktionen und Regierung eigene Initia-
tiven zum weiteren Vorgehen in der Postpolitik. Unter
Hinweis darauf und in der Hoffnung, dass gemeinsames
Nachdenken doch noch zur Einsicht führt, weisen wir den
F.D.P.-Antrag heute nur inhaltlich zurück, stimmen aber
einer Überweisung an die Ausschüsse zu.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen
Elmar Müller.
Herr KollegeBarthel, Sie hatten etwas angesprochen, das mich, wieviele andere auch, seit 24 Stunden amüsiert. Ich habe espersönlich nicht gesehen, aber angeblich soll einUnternehmer in Washington vor einer Behörde auf und abgesprungen sein und mit einem Papier gewedelt haben,das von mir stammen soll.Ich will Ihnen nun sagen, was zwischen mir, nachdemich als Mitglied des Beirats der Regulierungsbehörde an-
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Klaus Barthel
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gegangen worden bin, und der FCC an Austausch erfolgtist: Anfang Dezember des vergangenen Jahres erreichtemich ein Anruf aus Washington, in dem mir mitgeteiltwurde, es gebe in den amerikanischen Zeitungen eineDiskussion über dieses Thema. Man wollte wissen, wiedenn das Ganze zustande gekommen sei, da man die Vor-gänge nicht ganz verstehe. Ich habe daraufhin geantwor-tet, seit 14 Tagen werde in den Wirtschaftsabteilungen derZeitungen ein Papier diskutiert, das von dem KollegenBarthel stamme, welches am 4. Dezember veröffentlichtund außerdem ins Internet gestellt worden sei. In diesemPapier bringe die große Regierungspartei zum Ausdruck,die Regulierung bei Post und Telekom müsse überprüftund zurückgefahren werden, und dagegen hätten sichnicht nur ich, sondern auch eine ganze Menge von Wirt-schaftssachverständigen gewehrt.Die Frage, ob man dieses Papier haben könne, habe ichmit Ja beantwortet. Ich habe dieses Papier kommentarlosnach Washington gefaxt. Dieses Papier war das Einzige,was zwischen mir und dieser Einrichtung ausgetauschtworden ist.Herr Kollege Barthel, ich frage Sie: Ist es denn wirk-lich eine Schande, ein Papier eines Mitglieds einer Regie-rungsfraktion im Austausch zwischen deutschen und US-amerikanischen Parlamentariern – ich sage es noch mal:ohne jeglichen Kommentar von mir – nach Amerika zu fa-xen? Ist ein solches Papier, das von der SPD-Fraktion am4. Dezember des vergangenen Jahres veröffentlicht wor-den ist, etwa so geheim, dass man es den Kollegen jenseitsdes Atlantiks nicht zur Kenntnis bringen darf? Wie verhältes sich also mit solchen Papieren? Ich habe heute Nach-mittag gehört, dass dieses Papier offensichtlich nicht ganzautorisiert war und dass ihm in den vergangenen Tagendie Zähne gezogen worden sind. Ich kenne allerdings dieNeuauflage dieses Papiers nicht.Auf alle Fälle, Herr Kollege Barthel, bestand der ein-zige Kontakt zwischen mir und einem Anwalt in Wa-shington in dem Austausch Ihres Papiers.
Herr Kol-
lege Barthel zur Erwiderung.
Herr Müller, es
geht überhaupt nicht um dieses Papier; denn dieses stand
nicht im Zusammenhang mit dem Bericht des ZDF im
„Heute-Journal“. Sie sollten sich einmal anschauen, wie
der Sachverhalt in diesem Bericht dargestellt worden ist
und wie Sie dort zitiert worden sind.
In den Berichten, die in die USA gelangt sind, werden
Sie nicht primär mit irgendwelchen Aussagen zu meinem
Papier, sondern mit Aussagen über die Offenheit des deut-
schen Telekommunikationsmarktes und damit zitiert, dass
Sie die dort herrschenden Zustände bedauert haben. Dort
hieß es, Sie hätten versucht, Benachteiligungen und
Einschränkungen glaubhaft zu machen, die es angeblich
auf dem deutschen Telekommunikationsmarkt gebe. Da-
mit haben Sie für die US-amerikanischen Beobachter in-
direkt die Legitimation geliefert, die Deutsche Telekom
auf ihrem Weg in die USA zu behindern.
Wenn das alles nicht stimmt und Ihre Aussagen falsch
wiedergegeben worden sind, was durchaus sein kann
– wir wissen ja, wie das manchmal läuft –, dann bitte ich
Sie dringend: Schauen Sie sich den Bericht genau an; stel-
len Sie das Ganze schriftlich klar und distanzieren Sie sich
von dem, wofür Sie in Anspruch genommen worden sind.
Wenn Sie das tun, müssen wir über die Sache hier nicht
weiter reden. Aber angesichts der heiklen Situation, in der
wir uns befinden, erwarte ich von Ihnen, dass Sie eine
deutliche Haltung zu dieser Sache einnehmen. Darum
ging es mir und um nicht mehr.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5333 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
10. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Zapf, Brigitte Adler, Rainer Arnold, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Winfried Nachtwei, Dr. Uschi Eid,
Angelika Beer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Förderung der Handlungsfähigkeit zur zivilenKrisenprävention, zivilen Konfliktregelungund Friedenskonsolidierung
– Drucksachen 14/3862, 14/5283 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Clemens Schwalbe
Rita Grießhaber
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das
Wort zu diesem Tagesordnungspunkt die Kollegin Uta
Zapf von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Der Titel des Tagesordnungspunktes, den der Prä-sident gerade vorgelesen hat, hat heute tragische Aktua-lität erlangt, weil eine Situation eingetreten ist, die be-weist, wie dringend die Förderung von Krisenpräventionund Krisenbewältigung ist: Die Eskalation der Gewalt inMazedonien, die wir heute in den Nachrichten sehenkonnten – ich nehme an, einige von Ihnen haben dieNachrichten vernommen –, zeigt, dass wir noch eingroßes Stück zu gehen haben und dass das, was wir bisherauf dem Balkan getan haben, noch immer nicht ausreicht.
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Elmar Müller
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Ich lese ein paar Schlagzeilen vom heutigen Morgen vor:„Konflikt greift auf Mazedonien über“, „Albanische Ex-tremisten liefern sich heftige Gefechte mit der mazedoni-schen Armee“, „Verteidigungsminister“ – gemeint ist dermazedonische – „sieht Land am Rande eines Krieges“,„Blutige Gefechte verschärfen Krise in Mazedonien“,„Mazedonische Minderheiten flüchten aus Tetovo“.Deshalb, lieber Kollege Irmer, hoffe ich, dass Sie heutenicht wieder dasselbe Urteil über ein solches Konzeptder Krisenprävention fällen, wie Sie das das letzte Malgemacht haben; denn es ist kein „Schmarren“, und es istkeine „weiße Salbe auf eine grüne Seele“.
Wenn es an dieser Stelle um eine Seele geht, dann um dierot-grüne; denn sowohl die Grünen als auch wir als Sozi-aldemokraten haben uns seit Jahren um diesen Bereichgekümmert, als noch niemand dieses Wort richtig aus-sprechen konnte – zu Recht, wie ich denke. Es ist auchgut, dass diese Koalition endlich angefangen hat, dieseDinge in die Hand zu nehmen und auf allen Ebenen zuentwickeln. Das, was wir wollen, ist keine Heilsarmeevon „Gutmenschen“ und Fernethikern. Es geht um In-strumente, die dringend notwendig sind, um Mord undTotschlag zu verhindern – wenn es uns denn gelingt. Waswir wollen, sind auch keine gläsernen Weihnachtszwergemit Korkhämmern, die „Frieden, Frieden“ schreien. Ichdenke, wir müssen dieses Thema wirklich ernster neh-men, als Sie, lieber Kollege, das zu meiner großen Ent-täuschung beim letzten Mal getan haben.
Vielleicht hilft die aktuelle Situation, dieses etwas erns-ter zu nehmen, endlich auch mehr dafür zu tun und ent-sprechend zu handeln. Das, was da passiert, ist doch einBeweis dafür, dass die internationale Staatengemein-schaft immer noch unvollkommen mit den vorhandenenInstrumenten zur Friedenskonsolidierung und Krisen-prävention umgehen kann.Wenn Rolf Paasch am 13. März in der „FR“ schreibt,dass das, was da passiert, ein Armutszeugnis für dieNATO in Sachen Friedensmission sei, dann ist dieses Ur-teil sicher nicht richtig, aber dann beweist das doch dieNotwendigkeit der Weiterentwicklung und der Verbesse-rung der Instrumente und der Konzepte. Wir müssen indieser Situation schneller und einiger reagieren, als sichdas – leider – bisher abzeichnet. Ich denke, ein Eingrei-fen der internationalen Staatengemeinschaft mit Poli-zei und Sicherheitstruppen, um eine weitere Eskalation zuverhindern, ist dringend angesagt.Dann müssen wir uns überlegen: Was haben wir viel-leicht in diesem Zusammenhang falsch gemacht? Diehalbherzige Entwaffnung der UÇK im Kosovo zum Bei-spiel haben wir alle mit Unbehagen gesehen. Dass da soeine Art technisches Hilfswerk in Form des Kosovo-Schutzkorps aufgestellt worden ist, war uns auch nicht soganz geheuer. Jetzt erweist sich, welche Fehler und Män-gel dort passiert sind. Es wäre ein Demobilisierungspro-gramm mit einer echten Zukunftsperspektive für die jun-gen Menschen angesagt gewesen.Aber im Moment sieht es ganz anders aus. Das machtmir tiefe Sorge. Beim KPC und bei dem einzigen größe-ren Arbeitgeber, dem Energieunternehmen KEK, wo auchlauter ehemalige UÇK-Kämpfer untergekommen sind,wird es eine Entlassungswelle geben, sodass in den nächs-ten zwei Jahren circa 5 000 bis 7 000 ehemalige Kämpferauf der Straße stehen werden, ohne Arbeit, ohne Perspek-tive, ohne Zukunft. Was das in einer Situation bedeutet, dadie Konflikte, die wir dort zu beruhigen versuchen, immernoch schwelen und an der einen oder anderen Stelleeskalieren, das brauche ich Ihnen, glaube ich, nicht aus-zumalen.
Es gibt also mehr als genug Alarmsignale, die uns veran-lassen sollten, jetzt diese Konzepte weiterzuentwickeln,weiter auszubauen und in diesem Bereich Ernst zu ma-chen.Der Kollege Clemens Schwalbe, der beim letzten Malfür die CDU geredet hat, hat beklagt, dieser Antrag tue so,als werde Prävention hier erstmals propagiert. Das istnatürlich nicht richtig. Das meint dieser Antrag auchnicht.
Aber dieser Antrag lobt die Bundesregierung mit Recht,weil sie eine konsequente nationale und internationalePolitik der Prävention und des Krisenmanagementseingeleitet, konsequent aufgebaut und weitergeführt hat.Sie gedenkt dies auch in Zukunft zu tun.
Wir versuchen, mit diesem Antrag Bausteine dazu zu lie-fern. Aber jeder ist eingeladen, an diesem Konzept mitzu-arbeiten und es weiterzuentwickeln. Wir brauchen eineGesamtstrategie für Prävention und Konfliktbearbeitung,die umfassend und ressortübergreifend sein muss. Einesolche Strategie – das sehen wir an jeder Stelle – ist nurim internationalen Rahmen wirksam.Ich nenne einige Stichworte aus dem Grundsatzpa-pier der Bundesregierung „Krisenprävention und Kon-fliktbeilegung“, um klarzumachen, was zu einem solchenGesamtkonzept gehört:Dazu gehört – das ist ein ganz schwieriger Punkt – eineFortentwicklung des Völkerrechts. Darüber sind wir unsalle einig.Dazu gehört eine Verrechtlichung der Konfliktaustra-gung. In diesem Punkt sind wir uns mit dem Internationa-len Gerichtshof und anderen Schlichtungsformen einStück weit einig. Aber auch das garantiert noch keinen Er-folg.Dazu gehört eine integrierte Entwicklungspolitik. Dasheißt, dass wirtschaftliche, soziale und ökologischeAspekte sowie Rechtsstaatlichkeit in andere Politiken
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Uta Zapf15494
– auch auf EU-Ebene – integriert und besser koordiniertwerden müssen.Dazu gehört Abrüstung und Rüstungskontrolle.Dazu gehört schließlich der Aufbau von zivilen Struk-turen der Konfliktbearbeitung unter Einbeziehung derNGOs. Ein guter Teil unseres Antrages beschäftigt sichmit diesem Feld. Das ist insofern gerechtfertigt, weil essich um Organisationen handelt, die von den Konfliktenund von den Zuständen vor Ort sehr viel Ahnung haben;deshalb ist die Kooperation mit diesen Organisationendringend erforderlich.
Wir brauchen den Aufbau einer Infrastruktur,wie erjetzt begonnen worden ist. Meines Erachtens besteht darindie zentrale Leistung der Bundesregierung in diesem Be-reich. Wir brauchen zudem eine Integration in die inter-nationalen Strukturen. Auf der EU-Ebene haben wir mitdem zivilen Ausschuss für Konfliktprävention begonnen– auch das ist ein großes Verdienst dieser Bundesregie-rung –, eine solche Infrastruktur zu schaffen, genauso wieauf der OSZE-Ebene. Der zivile Friedensdienst, den dieCDU 1997 noch abgelehnt hat, und das Ausbildungspro-gramm für die zivilen Experten integrieren sich in dieseStrukturen. Das ist auch so beabsichtigt, weil es andersgar nicht geht.Ich bin froh, dass wir heute, anders als zum Beispielzum Zeitpunkt der Kosovo-Verifikationsmission, einenPersonalpool haben und nicht mehr in die Situation kom-men könnten, die gegenüber der Mission zugesagten80 Personen über Monate hinweg mühsam suchen zumüssen.Es gibt im Auswärtigen Amt ein Krisenreaktionszen-trum und einen Sonderbeauftragten für die Krisenpräven-tion. Sie arbeiten mit all den anderen Instanzen, die zumBeispiel bei der OSZE oder bei der UNO angesiedelt sind,zusammen. Im Übrigen müssen wir berücksichtigen, dassdie UNO – eine Entscheidung über den Brahimi-Reportsteht aus – in diesem Sinne gestärkt und weiterentwickeltwerden muss. Natürlich wird das Geld kosten. Aber wieviel mehr wird es kosten, wenn immerfort Kriege geführtwerden? Irgendjemand Schlaues hat einmal ausgerechnet,dass der Jugoslawien-Konflikt bisher insgesamt eine drei-stellige Milliardensumme gekostet hat. Wenn wir das ir-gendwo im Hinterkopf haben, dann werden wir nichtmehr so knickrig sein. Dies muss auch unsere Haushalts-beratungen berühren.
Ich plädiere sehr dafür, dass wir dieser Erkenntnis, die wiralle haben, in Zukunft auch insofern Rechnung tragen, alswir in unseren Haushalten zusätzliche Gelder einstellen.Ich finde es angesichts der vorhandenen Konflikte er-freulich – das muss man vielleicht wirklich einmal laut sa-gen –, dass innerhalb der europäischen GemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik beide Elemente, nämlichdas militärische und das zivile Element, damit also daspräventive, berücksichtigt worden sind. Das, was wirheute im Fernsehen gesehen haben und morgen in derPresse lesen können, beweist doch, dass wir zwar ohneden militärischen Fuß nicht auskommen, dass es aberohne den zivilen überhaupt nicht geht. Wir brauchen zi-vile Maßnahmen, um weit im Vorfeld zu vermeiden, dassGewalt ausbricht und dann militärisch reagiert werdenmuss. Wir brauchen zivile Maßnahmen aber auch, umausgebrochene Gewalt einzudämmen und in eine Situa-tion zu kommen, in der Frieden wieder aufgebaut werdenkann.Ich bin froh, dass diese Konzeption der GemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik nicht rein militärischer Artist, sondern ihr der erweiterte Sicherheitsbegriff zugrundeliegt, der all das, was ich vorher gesagt habe, in Bezug aufEntwicklungspolitik, auf Ökonomie und auf soziale Zu-stände, berücksichtigt.Meine Damen und Herren, ich glaube, dass ein wichti-ges Problem noch nicht gelöst ist – etwas, was wir nichtanders lösen können als durch einen ständigen offenenDiskurs über das Problem –, nämlich die Akzeptanz voninternationaler Konfliktvermittlung in Fällen, in denensich Kontrahenten gegenüberstehen und selber nicht zueiner friedlichen Lösung kommen. Das ist auch der Grunddafür, dass die Beratungen über den Brahimi-Bericht imMoment ins Stocken geraten sind. Wir sollten dazu bei-tragen, dass die Akzeptanz solcher Vermittlung und auchder Wille der Konfliktparteien zur Annahme dieser ge-stärkt wird. Dem entgegen steht immer der Souverä-nitätsgedanke; dieser stellt ein großes Hindernis dar.
Kommen
Sie bitte zum Schluss!
Ich bin sofort beim letzten Satz mei-
ner Rede. – Meine Damen und Herren, wir wissen, dass
alle diese Instrumente, die ich eben dargestellt habe, im
Zweifelsfall nicht ausreichen und keine Garantie darstel-
len. Wenn wir aber nicht alle Instrumente stärken und nut-
zen, die im Rahmen eines solchen umfassenden Sicher-
heitsbegriffes zur Verfügung stehen, dann werden wir
keine Chance haben, durch Konfliktprävention zukünftig
Leid und Elend da, wo wir es können, zu verhindern.
Ich danke Ihnen.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Ruprecht Polenz von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Die Quintessenz des vorlie-genden Antrags der Koalitionsfraktionen lässt sich in ei-nem Satz zusammenfassen: Vorbeugen ist besser als hei-len. Wer wollte dieser Lebensweisheit widersprechen?Natürlich haben Sie Recht, wenn Sie schreiben:
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Uta Zapf15495
Die Chancen, humanitäre Krisen, Kriege odergewalttätige Konflikte erfolgreich zu verhindern,sind am größten, wenn auf der Grundlage einer fun-dierten und permanenten Konfliktanalyse frühzeitiggehandelt wird.Es ist auch richtig, um einen weiteren unstrittigenPunkt zu nennen, dass wir es, wie Sie in Ihrer Analysefeststellen, heute weniger mit bewaffneten Konfliktenzwischen Staaten zu tun haben, sonderndass das Gros der heutigen bewaffneten Konflikteinnerstaatlicher Natur ist.Auch sonst stehen auf den neun Seiten Ihres Antragesviele Punkte, die seit langem unstrittig sind, wie etwa dasErfordernis einerStärkung und Mitgestaltung der multilateralen undeuropäischen Entwicklungszusammenarbeit im Be-reich von Krisenprävention und ziviler Konfliktbe-arbeitung.Ich habe mich angesichts so vieler Selbstverständlich-keiten gefragt, weshalb Sie das alles in einem Antrag auf-schreiben. Sie mögen mich umgekehrt fragen, warum wirIhrem Antrag nicht zustimmen, obwohl auch Richtigesdrinsteht. Auf beides will ich eine Antwort geben.Warum stellen Sie den Antrag? Der Hauptgrund ist,dass die rot-grüne Basis nach der militärischen Interven-tion im Kosovo beruhigt werden musste.
Jahrelang hatten Sie der alten Bundesregierung eine Mili-tarisierung der Außenpolitik vorgeworfen. Der Vorwurfwar zwar falsch, böswillig und völlig unbegründet, erdrohte sich aber wegen der Intervention im Kosovo gegenSie selbst zu wenden. Frau Beer und der Außenministerkönnen ein Lied davon singen.
Herr Kol-
lege Polenz, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Zapf?
Gerne.
Bitte,
Frau Zapf.
Herr Kollege Polenz, ich möchte Sie
fragen, ob Ihnen entgangen ist, dass schon in der letzten
Legislaturperiode von der SPD ein ziemlich ähnlicher An-
trag in den Bundestag eingebracht worden ist, der dann
leider der Diskontinuität am Ende der Legislaturperiode
anheim gefallen ist. Ist Ihnen das entgangen? Würden Sie
angesichts einer vielleicht wieder aufgefrischten Erinne-
rung immer noch behaupten, dass dieser Antrag als Pla-
cebo für rot-grüne Klientel gedacht sei?
Dieser damalige Vor-gang ist mir nicht nur nicht entgangen. Ich habe heutenoch mit meinem Kollegen Laschet telefoniert. Er be-richtete mir von den Bestrebungen in der letzten Legisla-turperiode, zu einer gemeinsamen Entschließung allerBundestagsfraktionen zu kommen. Ich will aber gleichbegründen, wie ich dennoch zu meiner Ansicht komme,Frau Kollegin.Dieser Vorwurf der Militarisierung der Außenpolitikdrohte sich, wie gesagt, durch die Intervention im Kosovogegen Sie selbst zu wenden. Deshalb gab es zur Beruhi-gung der aufgebrachten Basis einen Antrag, in dem die zi-vile Krisenprävention und die zivile Konfliktregelung be-tont wird. Der Text wurde vorsorglich so formuliert, dassihn jeder Koalitionsabgeordnete unkommentiert an alleim Wahlkreis verschicken konnte, die sich mit kritischenFragen wegen des Militäreinsatzes im Kosovo gemeldethatten. Er ist ein Placebo, um die Reste der fundamentalenPazifisten bei der rot-grünen Stange zu halten.Der zweite Grund für Ihren Antrag ist die deutlicheKritik vor allem von Nichtregierungsorganisationen anden massiven Kürzungen, die Sie in der Ent-wicklungshilfepolitik vorgenommen haben. Dieser be-rechtigten Kritik setzen Sie in Ihrem Antrag ein ent-schlossenes Eigenlob entgegen nach dem Motto: „Wennuns schon niemand anderes lobt, dann tun wir das ebenselbst.“ Aber ist dieses Eigenlob berechtigt? Hat die Bun-desregierung die Streicheleinheiten nicht nur nötig, son-dern auch verdient? Ich meine, nein, und will das im Fol-genden begründen.Wir sind uns sicher darüber einig, dass Armut in derWelt nicht nur aus humanitären Gründen bekämpft wer-den muss, sondern dass Armut auch eine besonders bri-sante Ursache für Konflikte ist. Was tut die Bundesregie-rung zur Armutsbekämpfung? Vor allem: Tut sie auchgenug?Weil Sie meine Kritik vielleicht als parteilich abtunwürden, möchte ich Ihnen vorhalten, was die DeutscheWelthungerhilfe und das Hilfswerk terre des hommes inihrer Zwischenbilanz zu zwei Jahren rot-grüner Entwick-lungspolitik vor kurzem festgestellt haben. Ich zitiere:Die Analyse des entwicklungspolitischen Teils imBundeshaushalt zeigt, dass die Bundesregierungauch in ihrer eigenen bilateralen Politik gegenüberfrüheren Bemühungen zur Armutsbekämpfungzurückfällt.Mit anderen Worten: Die frühere Bundesregierung hatmehr gegen die Armut getan als jetzt Rot-Grün.
Immer wieder ist in Ihrem Antrag – übrigens zuRecht – die Rede davon, dass die Entwicklung einerkohärenten, ressortübergreifenden Gesamtstrategie zurzivilen Krisenprävention unverzichtbar sei. Auch in die-sem Punkt ist nach dem Urteil von Welthungerhilfe undterre des hommes das rot-grüne Eigenlob unbegründet.Ich zitiere:Die Proklamation der Bundesregierung, künftig glo-bale Strukturpolitik betreiben zu wollen, ist institu-
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Ruprecht Polenz15496
tionell noch nicht angemessen umgesetzt worden.Auch unter rot-grüner Bundesregierung verläuft dieinterministerielle Kooperation hinsichtlich derschnell wachsenden globalen Herausforderungenweiterhin in den seit Jahrzehnten praktizierten tradi-tionellen Bahnen. Besondere Anstrengungen, durchinstitutionelle Reformen einer kohärenten globalenStrukturpolitik näher zu kommen, sind nicht erkenn-bar.In ihrer Kritik warnen terre des hommes und Welthunger-hilfe die Bundesregierung davor, in eine Omnipotenzfallezu geraten, also zuerst das Blaue vom Himmel zu ver-sprechen, um später eingestehen zu müssen, dass dieKräfte zu schwach waren, um die hoch gesteckten Zielezu erreichen.Diese Sorge muss man auch beim Lesen Ihres Antra-ges haben. Er vermittelt nämlich den Eindruck, dass sichdie Konflikte dieser Welt in Wohlgefallen auflösen wür-den, wenn nur verwirklicht würde, was SPD und Grüneaufgeschrieben haben. Der Nordirlandkonflikt, der Nah-ostkonflikt, der Zypernkonflikt, der Kaschmirkonflikt,die Konflikte in Tschetschenien, Indonesien und Afrika –als wenn es so einfach wäre, all diese Konflikte zu lösen,wie Ihren Antrag zu Papier zu bringen.Bei allem Ehrgeiz in der Zielsetzung – da sind wir unseinig –, mehr und besser zur Konfliktprävention und zurfriedlichen Konfliktlösung beizutragen:
Etwas mehr realistische Bescheidenheit, Herr KollegeNachtwei, wäre schon angebracht.
Bei Ihrem Eigenlob tun Sie so, als hätten Sie zivileKonfliktprävention erfunden. Dabei ist vor dem Hinter-grund unserer Geschichte der gesamte Prozess der euro-päischen Einigung und Integration geradezu der Modell-fall für eine zivile Konfliktprävention,
die an strukturellen Ursachen ansetzt und mit einer auf-einander abgestimmten Koordinierung praktisch aller Po-litikbereiche darauf antwortet. Dieser Prozess der europä-ischen Einigung und Integration wird in Deutschland vorallem mit den Namen von Konrad Adenauer und HelmutKohl verbunden.
Zur zivilen Konfliktprävention der früheren Bundesre-gierung gehören übrigens auch die Wirtschaftshilfen undKredite an Russland, die nicht zuletzt deshalb gegebenwurden, um Russland auf seinem Weg zur Demokratieund Marktwirtschaft zu helfen. Wenn Sie also bei jederKritik an Ihrer Kürzungspolitik nicht müde werden, aufdie Verschuldung unseres Staates hinzuweisen, dann müs-sen Sie ebenso feststellen, dass auch diese Hilfeleistungenin unserer unmittelbaren Nachbarschaft im Sinne einerzivilen Konfliktprävention zu unserer Verschuldung bei-getragen haben. Ich bleibe dabei: Für den beschleunigtenAbzug der Roten Armee aus Deutschland war dieses Geldgut angelegt.
Auch die von Ihnen zunächst abgelehnte Öffnung derNATO für die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas hateinen wirksamen Beitrag zur zivilen Konfliktpräventiongeleistet. Weil es eine Vorbedingung für den Beitritt war,Minderheiten im eigenen Staat zu schützen und Konfliktemit Nachbarn auszugleichen, wurden gleichsam als Vor-wirkung des erstrebten NATO-Beitritts die Bedingungenfür Minderheiten in Polen, Ungarn und der Slowakei ver-bessert und Spannungen beispielsweise zwischen Polenund Litauen oder der Slowakei und Ungarn abgebaut.
Zivile Krisenprävention also als Vorwirkung eines er-strebten Beitritts zu einem militärischen Verteidigungs-bündnis.
Damit bin ich bei meinem Hauptvorwurf und Haupt-kritikpunkt: Sie sprechen zwar von einem umfassendenSicherheitsbegriff, spielen aber nach wie vor zivile Kri-senvorsorge und militärische Krisenprävention gegenein-ander aus.
Sie erwecken den Eindruck, als ließe sich sicherheitspoli-tische Vorsorge – bei gutem Willen und wenn man sichnur genug anstrengt – allein durch zivile Kri-senprävention betreiben. Wir brauchen aber beides: zivileund militärische Krisenprävention.
Das Beispiel Mazedonien, auf das Sie verwiesen haben,belegt das augenscheinlich.Sie fordern die Bundesregierung auf – das ist nicht nurrichtig, sondern dringend notwendig –,sicherzustellen, dass die Bundesrepublik Deutsch-land im Rahmen ihrer Außen-, Sicherheits- undEntwicklungspolitik personell, institutionell und fi-nanziell in der Lage ist, einen ihrem politischen undökonomischen Gewicht angemessenen Beitrag zurinternationalen zivilen Krisenprävention, Kon-fliktregelung und Friedenskonsolidierung zu leisten.Ebenso notwendig und richtig wäre es, die Bundesre-gierung dazu aufzufordern, dass sie auch auf dem Gebietder militärischen Krisenprävention und Sicherheitsvor-sorge den Beitrag leistet, der unserem politischen undökonomischen Gewicht angemessen ist. Denn auf beidenFeldern tut die Bundesregierung zu wenig.
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Ruprecht Polenz15497
Aber hier ist von Ihnen nichts zu hören. Sie bleiben we-gen der unbelehrbaren Reste Ihrer fundamental-pazifisti-schen Klientel
wie zu Oppositionszeiten dabei und spielen zivile und mi-litärische Krisenprävention gegeneinander aus. Damitenthalten Sie Ihren Anhängern den Lerneffekt vor, den je-denfalls ein Teil von Ihnen in der Regierungsverantwor-tung gehabt hat.Mit den Rüstungsexporten ist das übrigens ganz ge-nau so. Wie haben Sie die unionsgeführte Bundesregie-rung wegen ihrer Rüstungsexporte kritisiert! Jetzt hat diedeutsche Rüstungsindustrie unter der Schirmherrschaftder rot-grünen Bundesregierung im Jahre 1999 Waffen imWert von 5,9 Milliarden DM exportiert.
Das waren erstens mehr als je zuvor und damit zweitensmehr als zur Regierungszeit von Helmut Kohl.
Damit wir uns hier nicht missverstehen: Ich will nichtdie Höhe der Waffenexporte kritisieren. Denn ich gehe da-von aus, dass überwiegend NATO-Partner zu den Emp-fängerländern gehörten
und dass unsere seit Jahrzehnten außerordentlich restrik-tive Rüstungsexportpolitik auch 1999 durchgehaltenwurde und Waffen nicht in Krisen- oder Span-nungsgebiete exportiert wurden.
Ich erwarte und verlange aber dann von Ihnen, dass Sieentweder den Lerneffekt der eigenen Regierung nachvoll-ziehen und zu diesen Rüstungsexporten stehen oder Ihreeigene Regierung mit den Maßstäben messen, auf derenBasis Sie uns seinerzeit kritisiert haben.
Mit grüner Dialektik, wie man sie von der sicherheitspo-litischen Sprecherin der Grünen hören konnte, lassen sichdiese Widersprüche nicht wegreden. Das ist nicht grüneDialektik, sondern Sprechen mit doppelter Zunge.
Sie haben also noch eine Menge Fragen in Ihren eige-nen Reihen zu klären, ehe Sie wirklich eine kohärente Si-cherheitspolitik formulieren können, die alle notwendi-gen Elemente umfasst. Bis dahin erweist sich Ihr Geredevon einem umfassenden Sicherheitsbegriff als leereHülse. Denn oft wirkt zivile Krisenprävention doch nurdeshalb, weil der Adressat der Maßnahmen – etwa der vonIhnen geforderten effektiveren, nicht militärischen Sank-tionen – einlenkt und friedlich wird, da am Ende derEinwirkungsskala, sozusagen als Ultima Ratio, auch mi-litärische Mittel zur Verfügung stehen, um Frieden durch-zusetzen.
Das Wort
hat der Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kol-lege Polenz, Ihren Beitrag fand ich sehr enttäuschend,weil Sie in der Kritik dieses Antrages auf Nebenfelderausgewichen sind und zu den konkreten Vorschlägen desAntrages, um die es im Kern geht, nichts gesagt haben.Ich erinnere mich an die erste Lesung dieses Antrages am9. November letzten Jahres. Da war nämlich auffällig,dass im Kern der Sache – bis auf den Kollegen Irmer; seinAusreißer ist vorhin schon gebührend gewürdigt worden –eine auffällige Einigkeit bestand. Auch von der PDS kamdie Kritik nicht am Kern dieses Projekts, nicht an den ein-zelnen Maßnahmen, sondern am Kontext rot-grüner Poli-tik. Es sei Ihnen unbenommen, das zu kritisieren und Wi-dersprüche aufzuzeigen. Im Kern der Sache kam vonIhnen aber kein Widerspruch.Ich hoffe immer noch, dass wir heute noch mehr überden Kern der Sache diskutieren und keine ausweichendenDebatten führen. Deshalb will ich vor allem etwas zu dennächsten vordringlichen Schritten sagen, die in diesemBereich notwendig sind. Die Anforderungen der Staaten-gemeinschaft zur nicht militärischen Krisenbewältigungund -vorbeugung liegen auf dem Tisch, und zwar als Kon-sequenz aus der Erfahrung mit militärischen Krisen-einsätzen.Lassen Sie mich zunächst etwas zu dem wichtigen In-strument der Friedensmissionen auf Ebene der VereintenNationen sagen. Wer weiß schon, dass die Bundesrepu-blik nach den USA das meiste Personal für solche Frie-densmissionen stellt? In den letzten Jahren wurde aller-dings auch die Erfahrung gemacht, dass bei diesenFriedensmissionen zunehmend ziviles Personal gebrauchtwird. Hier hat die Staatengemeinschaft insgesamt bisherdie größten Rekrutierungsprobleme. Die EuropäischeUnion hat im letzten Sommer Planziele für die Ent-sendung von nicht militärischen Polizeimissionen aufge-stellt. Sie erinnern sich: Bis 2003 will die EuropäischeUnion 5000 Polizisten für Auslandseinsätze zur Verfü-gung haben. Im zweiten Halbjahr dieses Jahres sollen dieMitgliedstaaten auf einer Beitragstellerkonferenz ihre An-gebote an Kontingenten benennen. Bis zum Gipfel in Gö-teborg im Juni sollen Planziele für andere Expertengrup-pen aufgestellt werden, nämlich Fachpersonal zurStärkung des Rechtsstaats, der Zivilverwaltung und desKatastrophenschutzes. Ich möchte einmal wissen, was andiesen konkreten Anforderungen rot-grüne Spinnerei ist.
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Ruprecht Polenz15498
Nein, das sind Anforderungen der internationalen Staa-tengemeinschaft, die sich aus den Erfahrungen ergebenhaben.
Nun zu den vorrangigen, notwendigen Schritten. DasAuswärtige Amt hat im Sommer 1999, als der Kosovo-Krieg lief – das ist Anfang 1999 angestoßen worden –, mitder Ausbildung von Fachpersonal für internationale Frie-densmissionen begonnen. Diese Ausbildung hat sich sehrbewährt und ist international hoch anerkannt. Jetzt kommtes darauf an, die Rekrutierung, Begleitung und Evaluationsolcher ziviler Kriseneinsätze auf eine stabile Grundlagezu stellen und erheblich zu effektivieren. Diese zivilenKriseneinsätze laufen in der Regel parallel zu militäri-schen Missionen; denn wir wissen: So etwas funktioniertnur als integrierter, umfassender Kriseneinsatz, nicht alseinseitiger Kriseneinsatz.
– Kollege Polenz, es geht um die nächsten praktischenSchritte, nicht um Hirngespinste. – Diese Aufgaben sindmit dem normalen Personal eines AA-Referats, das vor-her auch andere Aufgaben hatte, nicht mehr zu bewälti-gen. Hierfür muss tatsächlich eine Ausgliederung gesche-hen, muss eine neue Dachorganisation aufgebaut werden.Dies ist – das müssen wir hier ganz nüchtern und klar fest-stellen – bei der Aufstellung des Haushalts für das nächsteJahr unbedingt zu berücksichtigten. Zusammen mit derVerstetigung der Gelder für den Titel „FriedenserhaltendeMaßnahmen“ ist das der Knackpunkt beim Aufbau einerVN- und OSZE-Fähigkeit, die den künftigen Anforderun-gen entspricht.Ein zweiter sehr wichtiger Bereich sind die nicht mi-litärischen Polizeimissionen. Zurzeit sind 550 deutschePolizeibeamte im auswärtigen Einsatz, davon 318 im Ko-sovo. Sie leisten unter schwierigsten Bedingungen undbei einer Einsatzdauer von neun Monaten bis zu einemJahr hervorragende Arbeit, international höchst aner-kannt. Herr Staatssekretär, ich bitte Sie, dies über Ihr Hausauch an die Beamten weiterzuleiten.
Die Bundesrepublik hatte für die UNMIK-Polizei imKosovo 420 Beamte zugesagt; sie kann aber nur 318 Be-amte stellen. Das ist ein Fehl von 25 Prozent. Stellen Siesich einmal vor, ein solches Fehl gäbe es bei den Bun-deswehr-Anteilen für KFOR oder SFOR! Das wäre nichtvorstellbar. In diesem Bereich ist es offensichtlich vor-stellbar, aber daraus resultiert kein Vorwurf gegen dieLandesinnenministerien oder gegen das Bundesinnenmi-nisterium, sondern hier ist schlichtweg eine Schallgrenzeerreicht. Das heißt, es müssen neue Wege der Rekrutie-rung von Beamten für internationale Polizeimissionen ge-funden werden.Deshalb – ich habe es bei der ersten Lesung schon ein-mal gesagt – kommen wir wahrscheinlich nicht darumherum, neben der Attraktivitätssteigerung in diesem Be-reich sowohl in den Ländern als auch beim Bund neuePlanstellen für diese künftige Daueraufgabe des Bundesund der Länder einzurichten. Ohne eine solche Verstär-kung wird die Bundesrepublik gegenüber der Eu-ropäischen Union keinen Beitrag nennen können, der ih-rer Stellung entspräche.In Kürze werden die Staatssekretäre von Bund undLändern über die künftige Lastenverteilung bei interna-tionalen Polizeimissionen verhandeln. Bundestag undLänderparlamente sollten darauf achten, dass die Bundes-republik auch auf diesem Feld ihre gewachsene Verant-wortung wahrnehmen kann.Die schwedische EU-Präsidentschaft macht hervor-ragend Tempo beim Aufbau von Fähigkeiten nicht mili-tärischer Krisenbewältigung. Die rot-grüne Koalitionbegrüßt das voll und ganz. Ich denke, bei genauerem Hin-sehen – Kollege Polenz nickt; das freut mich – müsstenalle Fraktionen des Hauses dieses Tempo begrüßen.
Der zu beschließende Antrag zeigt, was wir dafür leistenwollen.Danke schön.
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht Kollege Ulrich Irmer.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon ein Tri-umpherlebnis, wenn man nach viereinhalb Monaten hört– so lange liegt unsere erste Debatte zu diesem Themazurück –, dass die Kollegen zum Teil noch wörtlich wis-sen, was ich damals gesagt habe. Vielen Dank für die Auf-merksamkeit.
Frau Zapf, es war natürlich ein Missverständnis, ichhätte Ihr Anliegen ins Lächerliche ziehen wollen. Was ichbeanstandet habe – wobei ich der Auffassung bin, dassman dem am besten mit satirischen Mitteln beikommt –,ist dieser himmelweite Abstand zwischen Anspruch undWirklichkeit, der bei Ihnen immer wieder deutlich wird,aber in diesem Antrag ganz besonders.
Ich kann dem, was Kollege Nachtwei hier gerade zuder beklagenswerten Situation, dass es der Bundesrepu-blik Deutschland nicht gelungen ist, die zugesagten Poli-zisten vor Ort zu entsenden, gesagt hat, voll zustimmen.Auch ich finde es außerordentlich bedauerlich, unter wel-chen Gefährdungen diese Kräfte dort mit wie wenig ro-busten Mitteln ausgestattet sind. Ich glaube, hier bestehtein erheblicher Nachholbedarf.Frau Zapf, wenn Sie auf die schrecklichen Nachrichtenvon heute früh verweisen, dann kann ich das nur bestäti-gen. Natürlich ist das furchtbar. Das hätten wir alles nicht,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Winfried Nachtwei15499
wenn dieser Antrag endlich verabschiedet würde – das istdoch das, was mich zur Heiterkeit reizt.
Das, was Sie in diesem Antrag alles auflisten, was al-les geschehen müsste, ist doch, wenn man es zusammenbetrachtet, nichts als ein Misstrauensvotum gegenüber Ih-rer eigenen Bundesregierung.
Es ist ein Misstrauensvotum gegenüber der gesamtenklassischen Außen- und Entwicklungspolitik und ihrenInstrumenten und damit ein Misstrauensvotum gegenüberIhrer eigenen Bundesregierung, die ich hier gegen dieseIhre Vorwürfe, Herr Zöpel, ganz vehement in Schutz neh-men möchte; denn so schlecht, wie sie aussieht, ist sie garnicht. So schlecht sind Sie wirklich nicht.
Sie lassen es sich von Ihrer Mehrheit in Ihrem Parla-ment gefallen, dass sie Ihnen auf neun Seiten vorschreibtund auflistet, was Sie alles nicht gemacht haben.Ich fand es eben außerordentlich interessant zu hören,dass es – das war mir entfallen, Frau Zapf – in der letztenWahlperiode schon einmal einen entsprechenden Antrag,damals allein von der SPD, gegeben hat. Da haben Sie diegesamten Vorwürfe, die Sie jetzt wieder erheben, der al-ten Bundesregierung gemacht. Das war Ihre Aufgabe alsOpposition, aber dass Sie jetzt fast denselben Antrag wie-der einbringen, zeigt doch, dass die neue Bundesregie-rung, jetzt da sie die Macht hat, nichts aus ihrem alten An-trag gelernt hat.
Was ich auch außerordentlich bemerkenswert finde,ist, dass viele ihrer Forderungen hierin stehen – den An-trag haben Sie ja vor Monaten formuliert –, in Ihre Haus-haltsbeschlüsse, die Sie mit Mehrheit gefasst haben, je-doch keinen Eingang gefunden haben.
Es ist wunderschön, als Opposition von einer Bundesre-gierung alles Mögliche zu verlangen. Das ist die Aufgabeder Opposition. Wenn Sie aber selbst die Mehrheit und dieMacht haben und alles das beschließen und durchsetzenkönnten, stellt sich doch die Frage: Warum haben Sie esdenn nicht getan?
Stattdessen beglücken Sie uns hier zum wiederholtenMale mit einem doch eher abstrus wirkenden Wortgeklin-gel.Ich will Ihnen einige konkrete Punkte nennen, bei de-nen nun wirklich Abhilfe geschaffen werden könnte. Ichverstehe es so, dass Sie einen albernen Verschnitt einesPeace-Korps ausbilden wollen. Da lassen Sie wirklichnichts aus. Insofern hat Herr Polenz natürlich Recht; dakommt das ganze Spektrum honigsüß triefender Be-glückungsrhetorik wieder, welche die Grünen so mögen.Da muss natürlich besonderer Wert auf frauenspezifischeFragen gelegt werden. Ich habe mit großem Interesse ge-lernt, dass man das neuerdings „gender training“ nennt.Ich hatte das irgendwie anders in Erinnerung. Lassen Siesich den Begriff „gender training“ auf der Zunge zergehen!
Des Weiteren: Die berufliche Freistellung des Mis-sionspersonals soll rechtlich abgesichert werden. Ja,fabelhaft, das ist wieder eine Arbeitsbeschaffungs-maßnahme für stellungslose grüne Universitätsabsol-venten. Das kennen wir alles schon.
Jede Nische des grünen Gemüts wird hier mit einerBemerkung bedient. Da sind die Kindersoldaten erwähnt,da muss die Trauma-Hilfe herangezogen werden. Nein,meine Damen und Herren, das Thema ist mir viel zu ernst
und im Übrigen keine Erfindung von Ihnen. Schon derWiener Kongress hat festgestellt, dass Vorbeugen besserist als Schießen. Dem will auch niemand etwas entgegen-setzen. Sie haben in vielem Recht.Herr Polenz hat Recht, wenn er sagt, es seien zum Teilgrobe Gemeinplätze, die hier kommen. Wir lehnen denAntrag ab, weil er nichts als Rhetorik und Romantik ist,und damit haben wir es nicht so sehr, jedenfalls nicht inder Öffentlichkeit.
Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf – –
Ich fordere
Sie auf, hier zum Schluss zu kommen, Herr Kollege.
Ich bin sofort fertig. Es ist nuraußerordentlich schwierig, Herr Präsident, die Redezeiteinzuhalten, wenn man durch Gelächter und Beifall un-terbrochen wird.
Ich darf noch einen letzten Satz hinzufügen. Ich bitteSie herzlich: Nehmen Sie Ihre eigenen Worte ernst undnutzen Sie Ihre Mehrheit dazu, Ihre Forderungen nicht nurverbal hier zu postulieren, sondern ein wenig davon in dieRealität der praktischen Politik umzusetzen.Ich danke Ihnen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Ulrich Irmer15500
Nun spricht
die Kollegin Heidi Lippmann für die Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich kann im Anschluss an Ihre Rede,
Herr Irmer, nur noch – um Erich Kästner zu zitieren – sa-
gen: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Der vorliegende Antrag und die Emotionalität, mit der
du, liebe Uta Zapf, diesen Antrag verteidigt hast, sind
natürlich Beleg dafür, in welchen Argumentations-
schwierigkeiten sich die Friedenspolitiker in diesem
Hause angesichts des Gesamtkontextes der Außen- und
Sicherheitspolitik bewegen.
Eine Voraussetzung dafür, die zivile Krisenprävention
und Konfliktregelung tatsächlich zu einem der höchsten
Güter deutscher Politik im 21. Jahrhundert zu machen,
wäre, wie die Antragsteller richtig beschreiben, die Not-
wendigkeit der Konfliktanalyse als politische Dauerauf-
gabe zu verstehen und dementsprechende Instrumente zur
zivilen Konfliktbewältigung zu benennen. Eine weitere
Grundvoraussetzung ist die Ursachenforschung. Dazu
wird im vorliegenden Antrag herzlich wenig gesagt.
Zwar ist im Antrag allgemein von „gerechtem Interes-
senausgleich“ und der „Verbesserung der wirtschaftli-
chen, sozialen, ökologischen und politischen Verhält-
nisse“ die Rede. Doch ich frage Sie: Wessen Interessen
stehen dem entgegen und wer wäre folglich in erster Li-
nie verpflichtet, seine Politik in den Bereichen Wirtschaft,
Finanzen, Umwelt, Militär, auswärtige Beziehungen und
Entwicklungszusammenarbeit auf den Prüfstand zu stel-
len? Das wird hier nicht gesagt.
Natürlich wird auch nicht erwähnt, dass Deutschland
wie die übrigen Industriestaaten des Westens und des Nor-
dens die Konfliktpotenziale in der Welt permanent an-
heizt, zum Beispiel durch Hermesbürgschaften, durch
Rüstungsexporte, durch die Unterstützung umweltschäd-
licher Großprojekte, durch die Verschuldungsproblematik
und letztendlich durch die eigene neoliberale Wirt-
schaftspolitik.
Ich frage Sie, Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen und von der SPD: Wo bleibt Ihre Forderung nach ei-
ner Neuausrichtung der internationalen Finanz-, Wäh-
rungs- und Wirtschaftspolitik, die nicht allein auf die
Interessen der Industriestaaten ausgerichtet ist? Wo bleibt
Ihre Forderung nach einer Reform der Institutionen Welt-
bank, Internationaler Währungsfonds und WHO zur
Annäherung an einen „gerechten Interessenausgleich“?
Kann man von einer zivilen Friedenspolitik sprechen,
wenn rund 40 Millionen DM für den zivilen Friedens-
dienst ausgegeben werden und auf der anderen Seite ein
Rüstungsetat von knapp 47 Milliarden DM steht, wobei
die rund 200 Milliarden DM, die man in den nächsten
10 bis 15 Jahren in diesen Bereich investieren will, noch
gar nicht eingerechnet sind?
Nein, das kann man nicht. Denn der Schwerpunkt
deutscher Sicherheitspolitik ist vorrangig auf die mi-
litärische Absicherung deutscher Wirtschaftsinteressen
orientiert. Wer die Bundeswehr für weltweite Militär-
interventionen umrüstet, der kann nicht glaubhaft von der
Priorität ziviler Konfliktvorbeugung sprechen.
Die Knappheit der öffentlichen Haushalte verlangt eine
Grundsatzentscheidung: Geld für die zivile Bekämpfung
der Krisenursachen oder Geld für die gewaltförmige und
vordergründige Eindämmung von Krisen?
Wer auf die umfassende Stärkung der NATO durch im-
mer neue Rüstungsmodernisierungen setzt, kann nicht
gleichzeitig die UN als zentrale Einrichtung der Weltent-
wicklung und des Weltfriedens stärken. Wer zu 1 Prozent
auf Zivil und zu 99 Prozent auf Militär setzt, der setzt
seine Prioritäten falsch.
Wer durch weltweite Rüstungsexporte dazu beiträgt,
dass Krisen und Kriege technisch führbar gemacht wer-
den, der trägt zur Verschärfung von Konflikten bei.
In diesem Kontext – liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich sehe Ihr Wohlwollen und ich glaube Ihnen ernsthaft,
dass Sie Interesse daran haben, diesen Politikbereich vo-
ranzubringen – können wir Ihrem Antrag nicht zustim-
men.
Ich schließedie Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlungdes Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktio-nen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit demTitel „Förderung der Handlungsfähigkeit zur zivilen Kri-senprävention, zivilen Konfliktregelung und Friedens-konsolidierung“, Drucksache 14/5283. Der Ausschussempfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3862 anzuneh-men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-nen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen ange-nommen.Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 11 auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung desJugendgerichtsgesetzes– Drucksache 14/5014 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001 15501
Ich gebe als erstem Redner dem Justizminister desLandes Thüringen, Dr. Andreas Birkmann, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wirberaten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf desBundesrates zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes,der zwei Ziele verfolgt: erstens das beschleunigte Verfah-ren des Erwachsenenstrafrechts auch bei jugendlichenStraftätern anwenden zu können und zweitens: das schonbestehende vereinfachte Jugendverfahren prozess-rechtlich effizienter zu gestalten.Lassen Sie mich bitte darlegen, warum die Länder-kammer eine Gesetzesänderung für notwendig erachtet.Wir erleben immer wieder, dass bei Straftaten Tätergrup-pen so konstruiert sind, dass 17-Jährige, 19-Jährige und22-Jährige zusammen auftreten. Das erleben wir bei all-gemeinen Straftaten, das erleben wir aber auch besondersbei Gewaltdelikten und hier nicht nur, aber insbesondereauch bei rechtsradikalen Ausschreitungen Jugendlicherund Heranwachsender.Die gerichtliche Praxis hat in der Vergangenheit, wennes dann bei der Aburteilung der Straftaten zu Verzögerun-gen gekommen ist, prozessuale Schwierigkeiten dafürverantwortlich gemacht. Bei einem Tatgeschehen, also ei-ner prozessualen Tat, ist gegen den Heranwachsendenzwischen 18 und 21 Jahren das beschleunigte Verfahrenanwendbar, gegen den jüngeren, den unter 18-Jährigen,jedoch nicht.Folgender Fall, der leider nicht untypisch ist, verdeut-licht das Problem. Zwei mehrfach und einschlägig, wennauch nicht gravierend in Erscheinung getretene jungeMänner von 17 und 19 Jahren misshandeln einen Fahrgastin einer Straßenbahn aus rassistischen Motiven oder weilsie ihn für einen Ausländer oder politisch Andersdenken-den halten oder weil dieser schlicht körperbehindert undnach ihrer Auffassung offenbar minderwertig ist. Dazubekennen Sie sich dann auch demonstrativ. Das Opfer er-leidet schwere Verletzungen und muss längere Zeit statio-när im Krankenhaus verweilen. Die Täter wohnen bei denEltern; es besteht also ein fester Wohnsitz. Sie haben eineLehrstelle oder gehen noch in die Schule. Sie bekennensich aber zu ihrer Weltanschauung. Die Öffentlichkeit istzu Recht empört. Die Polizei verweist auf die Justiz. El-tern und Schule sind hilflos.Was passiert? Haftbefehle dürften in Ermangelung vonHaftgründen ausscheiden. Eine schnelle Reaktion mussdie Straftäter nachhaltig beeindrucken. Gegen den 19-Jährigen, also den Heranwachsenden, kann das be-schleunigte Verfahren durchgeführt werden. Er kann mitdem Sanktionenkatalog des Jugendstrafrechts, gegebe-nenfalls auch mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr belegtwerden. Nicht so bei dem tatbeteiligten Jugendlichen, derunter Umständen der weitaus üblere Schläger war. Dasvereinfachte Jugendverfahren gibt die erforderlichenSanktionen nicht her. Klar ist aber auch, dass der Jugend-liche nicht erst in ein paar Wochen oder Monaten, sondernsofort, umgehend spüren muss, was er angerichtet hat.Nach derzeitigem Recht bekommt er voraussichtlicheine Anklage, über die in der Regel erst nach einigen Wo-chen verhandelt wird, wobei zwischen Verurteilung undAbbüßung der Strafe weitere Zeit ins Land gehen wird.Bis dahin war für ihn, den Jugendlichen, der Vorfall of-fensichtlich nicht so schlimm; denn in seiner Vorstel-lungswelt wäre er anderenfalls bereits im Gefängnis. Dieschnelle Reaktion, die den Zusammenhang zur Tat sinn-fällig macht, ist zwar dringend geboten, aber nicht mög-lich.Hier setzt der Reformvorschlag an. Auch hier muss einrasches Jugendstrafverfahren möglich sein.
Die Aufsplittung eines solchen einheitlichen Tatge-schehens in mehrere Strafverfahren – gegen Heranwach-sende und Erwachsene das beschleunigte Verfahren ei-nerseits, gegen Jugendliche das normale Jugendverfahrenandererseits – und die damit zwangsläufig verbundenezeitliche Verzögerung erscheinen im Hinblick auf die ge-wünschte Beschleunigung der Sanktionierung eines sol-chen Verhaltens kontraproduktiv.In Gesprächen bei Staatsanwaltschaften und Gerichtensowie mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugend-gerichtshilfe ist mir von diesem Missstand immer wiederberichtet worden. Mir leuchtet ein, dass bei unserer Reak-tion auf Jugendkriminalität nicht nur zählt, welche Stra-fen Gerichte im Urteil aussprechen, sondern dass vor al-lem auch zählt, dass die Reaktion schnell erfolgt.Nach dem Gesetzentwurf der Länderkammer soll des-halb das in der Strafprozessordnung vorgesehene be-schleunigte Verfahren, das eine zügige Aburteilung er-möglicht, künftig auch im Jugendstrafrecht Anwendungfinden können.
Ich betone ausdrücklich: können. Das heißt nicht: müs-sen. Denn letzten Endes bleibt es der Einzelfallentschei-dung des Richters vorbehalten, ob zur Aburteilung derkonkreten Straftat im beschleunigten Verfahren verhan-delt werden soll oder nicht.Meine Damen und Herren, ich weiß, diesem Lösungs-ansatz des Gesetzentwurfes wird vereinzelt entgegen-gehalten, dass die Einführung des beschleunigten Verfah-rens für Jugendliche wesentlichen Prinzipien des Jugend-strafrechts widerspreche, da sich das Jugendstrafrecht amErziehungsgedanken orientiere und auf eine Beteiligungder Jugendgerichtshilfe nicht verzichtet werden könne.Dieser Einwand ist nicht zutreffend. Er verkennt zwei-erlei: zum einen, dass die Beschleunigung dem Erzie-hungsgedanken nicht nur nicht im Wege steht, sondernihn fördert; zum anderen, dass die Grundsätze des Ju-gendstrafrechts im vorliegenden Gesetzentwurf – das be-tone ich ausdrücklich – nicht infrage gestellt werden. Umdies noch einmal ausdrücklich klarzustellen: Auf eine Be-teiligung der Jugendgerichtshilfe kann und soll nicht ver-zichtet werden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters15502
– Danke schön. Sie werden noch Weiteres erfahren undfeststellen, wie gut es ist, dass ich sie hier halte.Der Gesetzentwurf des Bundesrats sieht demgemäßauch keine dahin gehenden Beschränkungen vor. Es wer-den weder Elternrechte tangiert noch wird die Beteiligungder Jugendgerichtshilfe beschränkt noch werden Verteidi-gerrechte beschnitten. Eine im Einzelfall eventuell not-wendig werdende Hauptverhandlungshaft findet ihre ge-setzlichen Schranken in der Regelung des § 72 desJugendgerichtsgesetzes
und selbstverständlich im Grundsatz der Verhältnis-mäßigkeit. Dies sind unverrückbare Grundsätze.
Andere Lösungsmöglichkeiten sind zur Bewältigungder aufgezeigten Problemlage nicht ausreichend. Das ver-einfachte Jugendverfahren, das wir ja bereits anwendenund das im Jugendgerichtsgesetz niedergelegt ist, kommtdem Bedürfnis nach Beschleunigung nur eingeschränktentgegen, da es nur bei Jugendlichen gilt, nicht jedochgleichzeitig bei Heranwachsenden und Erwachsenen. Da-bei darf nicht auf Jugendstrafe erkannt werden, auch wennschädliche Neigungen des Jugendlichen oder die„Schwere der Schuld“ – so der Gesetzeswortlaut – diesansonsten gebieten würden.Ich meine, meine sehr verehrten Damen und Herren, indem gesetzgeberischen Anliegen müssten wir uns an sichalle einig sein. Es geht darum, dem Bedürfnis nach Be-schleunigung im Jugendstrafverfahren Rechnung zu tra-gen, um möglichst effektiv auf straffällig gewordene Ju-gendliche einzuwirken, damit ihnen eine kriminelleKarriere erspart bleibt.Der Beschleunigungsgrundsatz beherrscht bekannt-lich das gesamte Jugendstrafrecht. Das ist so richtig. Waswir wollen, ist nur die konsequente Fortsetzung dieserschon bisher als richtig erkannten Maxime. Mit diesemGesetzentwurf wollen wir keine Verfahrensbeschleuni-gung um jeden Preis. Aber unseren Jugendstaatsanwältin-nen und Jugendstaatsanwälten, Jugendrichterinnen undJugendrichtern müssen alle wirksamen Mittel zur Verfü-gung stehen, um in den hierfür geeigneten Fällen eineschnelle Reaktion herbeiführen zu können; jedoch – dasbetone ich ausdrücklich – nicht mit dem Ziel, jugendlicheStraftäter wegzuschließen, sondern um ihnen zu helfenund ihnen Lösungswege für eine straffreie Zukunft auf-zuzeigen.
In jedem Fall ist hierfür jedoch eine zeitnahe Reaktion er-forderlich.Eine solche zeitnahe Reaktion ist sowohl mit Blick aufden jugendlichen Täter als auch unter dem Aspekt derWirkung in der Öffentlichkeit positiv zu sehen. Das sindjedenfalls die Erfahrungen, die wir mit dem beschleunig-ten Verfahren im Erwachsenenstrafrecht ständig machen.Wenn die Strafe der Tat alsbald auf dem Fuße folgt, be-eindruckt das den Täter und – auch das ist wichtig – stärktdas Sicherheitsgefühl in der Öffentlichkeit. Warum solldieses nicht auch im Jugendstrafrecht gelten, meine Da-men und Herren? Im Interesse einer Verfahrensbeschleu-nigung ist es dabei allen Verfahrensbeteiligten – auch derJugendgerichtshilfe – zuzumuten, die erforderlichen Er-mittlungen und Prozesshandlungen in kurz bemessenerZeit vorzunehmen, zumal der Jugendgerichtshilfe manchein Täter aus früheren Verfahren durchaus bekannt seindürfte. Wenn die Entscheidungsvoraussetzungen für dasbeschleunigte Verfahren vorliegen – dazu gehört, um dasnoch einmal zu sagen, dass die Sache aufgrund des einfa-chen Sachverhalts und der klaren Beweislage zur soforti-gen Verhandlung geeignet ist –, ist eine zügige Bearbei-tung regelmäßig möglich.
– Herr Präsident, ich möchte noch ganz kurz einen zwei-ten Aspekt des vorliegenden Gesetzentwurfs ansprechen.
Herr Minis-
ter, ich unterbreche einen Vertreter eines Bundeslandes ja
nur ungern, aber es gibt unter den Fraktionen eine Ab-
sprache über die Redezeit zu dieser abendlichen Stunde.
Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten. Ich
wäre Ihnen daher dankbar, wenn Sie zügig zum Abschluss
kommen würden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr
Präsident, ich werde Ihrer Bitte gerne folgen und will nur
noch kurz darauf hinweisen, dass die Gesetzesvorlage ei-
nen zweiten Aspekt hat, nämlich die Einführung der
Zwangsmittel Vorführung und Haftbefehl, was eben-
falls notwendig erscheint, um das vereinfachte Jugend-
verfahren zügig durchführen zu können.
Damit komme ich zum Schluss. Meine Damen und
Herren, der Bundesrat bezweckt mit der von ihm be-
schlossenen Gesetzesinitiative die genannte Beschleuni-
gung. Dieses Anliegen entspricht der allgemeinen Inten-
tion des Jugendstrafrechts, und dem kommt angesichts
der Zunahme von Gewalttaten Jugendlicher – häufig mit
jungen Erwachsenen zusammen – besondere Bedeutung
zu. Lassen Sie uns deswegen bei den anstehenden Bera-
tungen in den Ausschüssen gemeinsam überlegen, wie wir
diesem Anliegen Rechnung tragen können. Der vorlie-
gende Gesetzesentwurf erscheint mir die geeignete
Grundlage dafür zu sein.
Schönen Dank.
Für die
SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Erika Simm.
Sehr verehrter Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegendenGesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Ju-gendgerichtsgesetzes soll das beschleunigte Verfahrenaus dem allgemeinen Strafprozess auch im Strafverfahrengegen Jugendliche, also gegen die unter 18-Jährigen, und
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Minister Dr. Andreas Birkmann
15503
damit auch die Anordnung von Hauptverhandlungshaftzugelassen werden. Ferner soll künftig in dem schon jetztbestehenden so genannten vereinfachten Jugendverfahrengegen einen Jugendlichen, der unentschuldigt nicht zurHauptverhandlung erscheint, gemäß § 230 der Strafpro-zessordnung die polizeiliche Vorführung angeordnet undHaftbefehl erlassen werden können.Begründet wird die Notwendigkeit dieser Änderungendamit, dass in der letzten Zeit in der Öffentlichkeit ver-mehrt Fälle bekannt geworden seien, in denen auf frischerTat betroffene Jugendliche trotz eindeutiger Beweislageerst nach Wochen oder gar Monaten einer strafrechtlichenSanktion hätten zugeführt werden können. Dass Jugend-gerichtsverfahren mitunter zu lange dauern, ist keines-wegs eine neue Erscheinung. Dies ist auch in der Vergan-genheit immer wieder beklagt worden. Es fragt sich nur,was die Ursachen sind. Nach meiner Einschätzung liegt esin der Regel zuletzt daran, dass jugendliche Angeklagtenicht zur Hauptverhandlung erscheinen. Oft aber hat dasdamit zu tun, dass Polizeibeamte, Staatsanwälte undRichter überlastet sind und dass die Arbeitsabläufe inner-halb der Justiz auch einem gutwilligen Richter wenigFlexibilität ermöglichen. So kann es zum Beispiel – dabeispreche ich aus Erfahrung – schon zu einem Problem wer-den, wenn man als Jugendrichter außerhalb der üblichenSitzungstage einen Sitzungsraum oder einen Protokollfüh-rer braucht, um eine schnelle Hauptverhandlung durch-zuführen.Oft mangelt es auch an der notwendigen und rechtzei-tigen Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft, Ju-gendgerichtshilfe und Gericht. Die vorgeschlagenen Ge-setzesänderungen sind nicht geeignet, solchen Mängelnabzuhelfen.
Im Übrigen stellt das Jugendgerichtsgesetz neben denMöglichkeiten der Verfahrenserledigung nach den §§ 45und 47 – das ist die Einstellung in der Regel mit einerSanktion – in Form des so genannten vereinfachten Ver-fahrens eine Verfahrensalternative zur Verfügung, diedurchaus eine rasche Verhandlung und Aburteilung er-möglicht. In diesem vereinfachten Verfahren, wie wir eshaben, können alle Sanktionen des Jugendgerichtsgeset-zes mit Ausnahme von Jugendstrafe, Heimunterbringungund Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verhängtwerden. So kann zum Beispiel auf Jugendarrest von bis zuvier Wochen, bei Verkehrssachen auf Fahrverbot undFührerscheinentzug mit einer Sperrfrist von bis zu zweiJahren erkannt werden.Der mögliche Anwendungsbereich des vereinfachtenVerfahrens umfasst damit die leichte bis mittlere Krimina-lität, deckt also sehr viel ab und erscheint mir deswegenvoll ausreichend. Ein Bedürfnis, daneben noch das be-schleunigte Verfahren zuzulassen, sehe ich nicht.Im Übrigen möchte ich darauf verweisen, dass es dasbeschleunigte Verfahren gab, bevor das vereinfachteVerfahren eingeführt wurde. Das beschleunigte Verfahrenwurde durch das vereinfachte und stärker auf Jugendlichehin orientierte Verfahren abgeschafft. Ich halte es für ge-radezu widersinnig, nun beide Verfahren nebeneinanderzuzulassen. Das gab es noch nie. Auch spricht in der Sa-che nichts dafür, das zu tun.Ich bin aber auch der Meinung, dass das beschleunigteVerfahren den im Jugendgerichtsgesetz verankertenGrundprinzipien des Strafverfahrens gegen Jugendlichenicht hinreichend Rechnung trägt.
So kann im beschleunigten Verfahren die Anklage münd-lich erhoben werden, die Ladungsfrist kann auf 24 Stun-den verkürzt werden, Aussagen von Zeugen, Sachver-ständigen und Mitbeschuldigten können verlesen werden.Die vorgeschriebene Beteiligung der Jugendgerichtshilfeund des gesetzlichen Vertreters, aber auch das gerade inVerfahren gegen Jugendliche so wichtige Mündlich-keitsprinzip der Verhandlung erscheint mir damit nichthinreichend gewährleistet.Mit der Ermöglichung der Hauptverhandlungshaftwird in meinen Augen gegen den Grundsatz verstoßen,dass Freiheitsentziehung gegen Jugendliche stets UltimaRatio sein sollte.
Wohlgemerkt: Wir reden von den 14- bis 17-Jährigen.Dieser Grundsatz hat zuletzt 1990 im Ersten Gesetz zurÄnderung des Jugendgerichtsgesetzes in den §§ 71 und 72einen besonderen Niederschlag gefunden, wonach zumBeispiel die Untersuchungshaft gegen Jugendliche unter16 Jahren nur noch unter ganz engen Voraussetzungenverhängt werden darf, praktisch nämlich dann, wenn eswirklich keine andere Möglichkeit gibt, den Jugendlichenbis zur Hauptverhandlung festzuhalten.Man zog damit die Konsequenzen aus der über dieJahrzehnte hinweg gewonnenen Erkenntnis, dass Frei-heitsentziehung, insbesondere kurze Inhaftierung in Ein-richtungen, die nicht speziell auf die erzieherischen Be-dürfnisse von Jugendlichen ausgerichtet sind, oft mehrschadet als nutzt. Gegen die Vorführung oder gar einenHaftbefehl nach § 230 der Strafprozessordnung im ver-einfachten Jugendverfahren bestehen schon aus dem Ge-sichtspunkt der Verhältnismäßigkeit in meinen Augen er-hebliche Bedenken.Im Übrigen halte ich die Durchführung eines verein-fachten Verfahrens grundsätzlich nur in den Fällen fürsinnvoll, in denen ein gewisses Maß an Einsichtsfähigkeitund Kooperationsbereitschaft bei den jugendlichen Ange-klagten vorausgesetzt werden kann. Der unentschuldigtnicht zur Verhandlung erschienene Jugendliche hat durchsein Nichterscheinen aber gerade bewiesen, dass er nichtbereit ist, die Konsequenzen aus seinem Fehlverhalten zutragen und sich dem Verfahren zu stellen. Ich bin der Mei-nung, dass es in diesen Fällen auch aus erzieherischenGründen geradezu geboten ist, ins reguläre Verfahrenüberzuwechseln und eine förmliche Hauptverhandlungdurchzuführen. Im Übrigen ist meine Erfahrung, dass Ju-gendliche eher selten nicht zur Verhandlung erscheinen.Das gilt zumindest dann, wenn es vor Ort eine funktio-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Erika Simm15504
nierende Jugendgerichtshilfe gibt, die zu dem Jugendli-chen vor der Verhandlung Kontakt aufnimmt und ihn aufdie bevorstehende Verhandlung und das, was ihn dort er-wartet, entsprechend vorbereitet.Zusammenfassend stelle ich fest: Das Instrumentariumdes geltenden Jugendgerichtsgesetzes reicht völlig aus, umStrafverfahren gegen Jugendliche mit der gebotenen Be-schleunigung durchzuführen. Wenn die Verfahren im Ein-zelfall dennoch zu lange dauern, so sind die Ursachen imunzureichenden Vollzug des Gesetzes zu sehen. In diesemPunkt wäre dann auch anzusetzen, wenn man ernsthaft zueinem schnelleren Abschluss der Verfahren kommen will.
Ich gebe nun
dem Kollegen Jörg van Essen für die F.D.P.-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das,was Frau Kollegin Simm gerade vorgetragen hat, ent-spricht sicherlich der Auffassung vieler, die in der Praxistätig sind. Ich muss sagen: Viele der von Ihnen vorgetra-genen Argumente sind von hohem Gewicht und habenauch mich immer überzeugt.Trotzdem: Ich will signalisieren, dass ich bei dem ei-nen oder anderen Punkt durchaus nachdenklich gewordenbin, und zwar deswegen, weil sich das Jugendstrafrechtin unserem Lande in besonderer Weise bewährt hat. Wirhaben gerade am Wochenende wieder lesen können, dassverschiedene Länder anders mit ihren Jugendlichen um-gehen. Wir haben ein Urteil in den Vereinigten Staaten er-lebt, wonach ein 14-Jähriger wegen eines Tötungsdelik-tes, das er im Alter von zwölf Jahren begangen hat, zueiner lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt wordenist. Wir haben die Hände über dem Kopf zusammenge-schlagen. Im Übrigen nützt ein solches Vorgehen über-haupt nichts: Die Gewaltkriminalität und die Jugendkri-minalität insgesamt sind in den Vereinigten Staaten vielhöher als bei uns. Das macht deutlich, dass der erziehe-rische Ansatz, den wir in unserem Jugendstrafrecht ha-ben, offensichtlich richtig ist. Die Betonung liegt aber aufdem erzieherischen Ansatz.In diesem Zusammenhang will ich auf einen Aspekteingehen. Frau Simm, Sie haben gesagt: Wenn ein Ju-gendlicher nicht zur Hauptverhandlung erscheint, dannmacht das deutlich, dass er sich mit der Tat nicht richtigauseinander gesetzt hat. – Das kann auch andere Gründehaben, zum Beispiel den Grund, dass er das Gericht nichternst nimmt. Sein Verhalten macht aber deutlich, dass beiihm eine erzieherische Einwirkung notwendig ist. Wie Siein diesem Bereich als Richterin Erfahrung sammeln konn-ten, so weiß ich als Oberstaatsanwalt, dass gerade Ju-gendliche darauf reagieren, wenn sie mal einen Tag in derKiste waren. Das ist eine Erfahrung, die dazu führt, etwasintensiver über die eigene Situation nachzudenken undnicht anzunehmen, der Staat ließe alles mit sich machen.
Ich glaube, für Erziehung ist entscheidend, dass Fehl-verhalten – das Nichterscheinen bei Gericht ist ein solchesFehlverhalten – nicht folgenlos bleibt.
Deshalb könnte eine entsprechende Reaktion bewirken,dass das, was der Richter anordnet und was dann ge-schieht, zu einer wesentlich intensiveren erzieherischenEinwirkung führt. Das kann bedeuten, dass die Entschei-dung, die der Jugendrichter zu treffen hat, ganz andersausfällt , weil eine erzieherische Wirkung erzielt wordenist.
Ich selbst habe das in meinem persönlichen Umfeld beijemandem, der auf die schiefe Bahn gekommen ist, erlebt.Erst, nachdem ein Tag in Haft verbracht worden war, warein Gespräch über die Situation möglich.
Über diese Punkte lohnt es sich nachzudenken. Des-wegen bin ich der Auffassung, wir sollten offen in eineAnhörung gehen – wir werden mit Sicherheit eine solchehaben –, und ich signalisiere, dass ich dafür offen bin.Was mich sehr nachdenklich macht, ist die Frage nachder Beteiligung der Jugendgerichtshilfe. Für mich warbei der Vorbereitung auf Jugendverfahren der Bericht derJugendgerichtshilfe von außerordentlicher Bedeutung.Ich habe mich deshalb ganz bewusst immer mit den Be-richten der Jugendgerichtshilfe auf die entsprechendenVerhandlungen vorbereitet, weil man durch diese Be-richte wertvolle Hinweise bekam, was hinterher als Re-aktion erfolgen sollte. Leider muss ich feststellen, dassdas nicht alle Richter genauso gesehen haben, es reichteaber aus, wenn der Staatsanwalt nachhelfen und den einenoder anderen Hinweis geben konnte.Ich denke, wir sollten zu einer Beschleunigung desVerfahrens kommen. Im Übrigen hat sich gezeigt – auchdas gehört zu einer klaren Lagebeurteilung –, dass vieleder Befürchtungen, die wir aus der SPD-Fraktion, aberauch aus meiner eigenen Fraktion bei der Förderung desbeschleunigten Verfahrens gehört haben, nicht einge-troffen sind. Es ist auffällig, wie viele der beschleunigtenVerfahren sofort rechtskräftig werden. Das zeigt, dass dieAngeklagten eben keine Beschränkung ihrer Rechte zubefürchten haben.Ich denke, dass gerade das Jugendverfahren von Be-schleunigung lebt. Deshalb ist für mich die Sicherstellungder Beteiligung der Jugendgerichtshilfe ein wichtigerFaktor. Darauf werde ich auch bei den Beratungen großenWert legen. Das muss gewährleistet sein. Es darf alsonicht Beschleunigung um jeden Preis geben; denn die er-zieherischen Vorgaben des Jugendgerichtsgesetzes müs-sen bei allen Anstrengungen, die zu einer Beschleunigungder Verfahren unternommen werden, erhalten bleiben.Aber Beschleunigung ist notwendig. Je schneller Jugend-liche eine Reaktion spüren, desto besser ist es auch fürihren weiteren Lebensweg.
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Erika Simm15505
Vielen Dank.
Der Redner
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, Volker Beck,
gibt seine Rede zu Protokoll.1)
Es spricht nun für die Fraktion der PDS die Kollegin
Sabine Jünger.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Ich möchte meinem Erstaunen zumindestüber den ersten Teil Ihrer Rede, Herr van Essen, Ausdruckverleihen. „Erstaunen“ ist noch eine sehr vorsichtigeFormulierung. Ich gebe gerne zu, dass Sie mich über-rascht haben. Das hätte ich von Ihnen so nicht erwartet.Wenn das die neue Liberalität ist, dann muss ich ehrlichzugeben, dass es mich ein Stück weit davor gruselt.
Jugendstrafverfahren – das möchte ich deutlich unter-streichen – sollten so schnell wie möglich abgeschlossenwerden. Ich denke, darüber sind wir uns alle einig. Außer-dem steht es schon jetzt ganz deutlich im Gesetz. DasJugendgerichtsgesetz enthält ausdrücklich ein Beschleu-nigungsgebot für alle Verfahren. – Herr Nooke, wenn Siemir zuhören würden, dann könnten Sie das vielleicht auchverstehen.
§§ 76 ff. bieten darüber hinaus die Möglichkeit, Verfahrenzu vereinfachen und damit relativ zügig abzuschließen.Nun gibt es aber doch leider immer wieder Fälle, in de-nen es über ein Jahr – wenn nicht noch länger – dauert, bises zu einem Urteil kommt.
Das ist nicht nur bedauerlich, nein, das ist in jeder Hin-sicht kontraproduktiv. Die Frage ist nur, woran das liegt.Frau Simm, der doppelt so viel Redezeit zur Verfügungstand wie mir jetzt, konnte darauf etwas ausführlicher ein-gehen. Ich fasse mich ganz kurz und sage: Es liegt an derÜberlastung von Polizei und Gerichten sowie an derschlechten Ausstattung und Überlastung der Jugendge-richtshilfe. Die gesetzlichen Möglichkeiten, denke ich,sind ausreichend.
An denen liegt es wohl zu allerletzt.Der Gesetzentwurf des Bundesrates geht meiner Mei-nung nach völlig an den Problemen vorbei, noch schlim-mer: Er ist ein Angriff auf grundlegende Prinzipien desJugendstrafrechts. Wenn es um Haftstrafen für Jugendli-che geht, muss sorgfältig gearbeitet werden. Das Jugend-gerichtsgesetz legt ganz klar fest, was darunter zu verste-hen ist.
– Wenn ich mich mit Ihren alten Argumenten, Herr Geis,wie Herabsetzung der Strafmündigkeit auseinander set-zen würde, die Sie Jahr für Jahr aus der Mottenkiste ho-len, dann hätte ich viel zu tun.
– Wissen Sie, ich saß vorher vier Jahre im Rechtsaus-schuss des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern.Auch dort durfte ich mich öfter mit Ihren Ergüssen aus-einander setzen. Sie sind ja – das möchte ich Ihnen zuge-stehen – ein Stück weit über den Bundestag hinaus be-kannt, sodass mir das auch dort leider nicht erspart blieb.
Die so genannten beschleunigten Verfahren aus demallgemeinen Strafrecht können dem, was ich vorhin überdie Haftstrafen für Jugendliche gesagt habe, nicht gerechtwerden. Genau deshalb sind sie ausdrücklich unzulässig.Das muss auch so bleiben.Richtig haarig wird es an dem Punkt, wo die Haupt-verhandlungshaft auch für Jugendliche eingeführt wer-den soll. Dieser Vorschlag stellt sich ausdrücklich gegendas Prinzip der Haftvermeidung bei Jugendlichen und da-mit gegen unser nationales Recht. Es geht den konserva-tiven Urhebern dieses Gesetzentwurfs offensichtlich imKern wieder einmal darum, sich als Hüter der öffentlichenSicherheit aufzuspielen. Dazu ist ihnen bekanntlich jedesMittel recht. Zurzeit dient ja die Bekämpfung des Rechts-extremismus regelmäßig als Vorwand für den Ruf nachStrafverschärfungen. Wir haben das heute auch vomJustizminister aus Thüringen gehört. Alles, was die Kon-servativen schon immer am vermeintlich zu liberalen Ju-gendstrafrecht gestört hat, soll jetzt unter diesem Vorwandwieder einmal entsorgt werden. Auch der vorliegende Ge-setzentwurf des Bundesrates, der auf Initiative des LandesThüringen zustande gekommen ist, lässt sich hier nahtloseinreihen.Ich wundere mich immer wieder, dass gerade diejeni-gen am lautesten nach Strafverschärfung rufen, die dasProblem des Rechtsextremismus an anderer Stelle klein-reden. Rechtsextremismus ist kein Jugendproblem, dasdurch Änderungen im Jugendstrafrecht bekämpft werdenkönnte. Hier sind gesamtgesellschaftliche Lösungen ge-fragt, die weit von der Ebene des Strafrechts entfernt an-setzen müssen. Gerade in Thüringen, aber nicht nur dort,sollte man sich dieser Thematik viel dringender stellen.
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Jörg van Essen15506
1) Anlage 2
Ich gebe das
Wort nunmehr dem Kollegen Alfred Hartenbach für die
Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minis-ter Birkmann! Der vorliegende Gesetzentwurf des Bun-desrates beginnt mit zwei Denkfehlern.Der erste Denkfehler ist, dass in der letzten Zeit – FrauSimm hat schon darauf hingewiesen – die Verfahren zulange dauern. In dem Entwurf steht „Wochen und Mo-nate“. Wenn Verfahren Wochen dauern, ist das bei Ju-gendlichen eine gute Sache, und Monate haben sie auchschon vorher gedauert. Das wird man nicht verhindernkönnen.Der zweite Denkfehler ist, dass wir etwas Neues brau-chen. Gehen Sie einmal etwas in die Geschichte des Ju-gendgerichtsgesetzes hinein. Gustav Radbruch hat es1923 hauptsächlich und vornehmlich initiiert. Er hat dieStrafmündigkeit mit diesem Gesetz von 12 auf 14 Jahrehochgesetzt und hat erstmals für die 14- bis 17-Jährigenneben den allgemeinen Knast, der damals, 1923, üblichwar, erzieherische Maßnahmen gesetzt.Dass in der nationalsozialistischen Zeit leider vielesverschärft wurde, will ich hier nicht weiter ausführen. Dasist auch leider 1953 bei der ersten maßvollen Korrekturdes Jugendgerichtsgesetzes kaum verbessert worden. Al-lerdings hat dieses Jugendgerichtsgesetz 1953 etwas ge-bracht, was auch sehr wichtig ist: dass nämlich Jugend-strafrecht auch auf die 18- bis 21-Jährigen angewandtwerden kann.Erst 1990 haben wir – Frau Simm hat eben schon dasThema mit der Untersuchungshaft angesprochen – einenweiteren Schritt hin zu einem modernen und auch sach-gerechten Jugendstrafrecht getan, indem diese unseligeJugendstrafe von unbestimmter Dauer abgeschafft wurde.Diese Strafe war das Härteste, was man Jugendlichenüberhaupt antun konnte. Das geschah damals unter einerkonservativ-liberalen Regierung. Herr van Essen, derje-nige, der das damals gemacht hat, war der JustizministerEngelhardt.
Dies war ein sehr liberaler Mann.
– Ja, das war gut. – Das gebe ich Ihnen nur einmal kurzmit auf den Weg: ein sehr liberaler Mann.Was Sie heute wollen, Herr Birkmann – und darin sindSie von Herrn van Essen unterstützt worden –, ist, das Radwieder zurückzudrehen. Sie wollen wieder mehr formel-les Erwachsenenstrafrecht in diesen Jugendstrafprozesshineinbringen über die Verhaftung, über das beschleu-nigte Verfahren mit der Hauptverhandlungshaft. Sie ken-nen meine Einstellung zur Hauptverhandlungshaft. Eswar kein guter Tag, als dieser Bundestag damals dieHauptverhandlungshaft beschlossen hat.
– Herr van Essen, ich habe eben erlebt, wie Ihre Praxis ist.Die heißt: Rein in den Kasten; das wird schon helfen.
Früher sagte man dazu: U-Haft schafft Rechtskraft. Herrvan Essen, wenn Sie als Mensch mit liberalem Anspruchsich hier hinstellen und sagen: „Es ist gut, wenn einer ein-mal einen Tag gesessen hat; das wirkt“, dann zementierenund verfestigen Sie damit, dass Sie bei einer Unschulds-vermutung jemanden einfach einsperren wollen. Dann se-hen wir mal zu, was hinterher daraus wird. Ich bin eini-germaßen enttäuscht.
Ihr liberaler Freund, Herr Funke, hat Magenschmerzenbekommen, als Sie hier eben geredet haben.
– Herr Geis, Gott sei Dank haben Sie heute mal nichts zusagen.
Wenn wir nun in diese Beratungen hineingehen – undwir werden uns diesen Beratungen nicht verschließen –,dann sollen Sie wissen,
was für uns als Prämisse gilt: Wir wollen, dass in demSpannungsfeld zwischen Strafe und pädagogischer Aus-richtung des Jugendgerichtsgesetzes der erzieherischeGedanke eine ganz wesentliche und gewichtige Rollespielt.
Der erzieherische Gedanke kann keine wesentliche undgewichtige Rolle spielen, wenn Sie hier ein Hauruck-Verfahren haben wollen, wie es das beschleunigte Verfah-ren ist.
Wir brauchen in diesen Verfahren eine sehr sorgfältigeBeobachtung des jungen Menschen und eine sehr sorgfäl-tige Auslotung des Wesens des jungen Menschen.
Die allermeisten, die als Jugendliche abweichendesVerhalten zeigen, sind weder kriminell noch drohen sie
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kriminell zu werden. Deswegen war die Bemerkung „ei-nen Tag in die Kiste“ auch so schlimm.
Sie brauchen eine klare entsprechende Ausrichtung. Dasgelingt eben nur mit einer vernünftigen Jugendgerichts-hilfe und einer vernünftigen Verhandlung. Wir haben– Frau Simm hat es angesprochen – die notwendigen In-strumentarien.Sie wollen, dass gegen rechtsradikale jugendliche Tä-ter so wie gegen Erwachsene verhandelt wird. Wir müs-sen auch das Umfeld genau derjenigen rechtsradikalenTäter, die Herr Birkmann angesprochen hat, sehr sorgfäl-tig und sehr genau ausloten. Gerade bei einem jungenMenschen genügt es nicht, ihn wie einen Erwachsenen zupacken, ihn ins „Kästchen“ zu stecken, gegen ihn zu ver-handeln und ihn zu verurteilen. Alle Maßnahmen müssensehr sauber gegeneinander abgewogen sein.
– Herr Geis, da haben Sie Ihren Parteifreund, HerrnBirkmann, ganz offensichtlich sehr missverstanden.
Im Hinblick darauf, dass wir die Beratungen dem-nächst beginnen, wiederhole ich: Es wird für uns wichtigsein, dass wir bei Ihnen die Bereitschaft vorfinden, überMöglichkeiten nachzudenken, wie man Tat und Reaktionin einen vernünftigen zeitlichen Zusammenhang bringenkann. Ich denke, dass ich bei Ihnen als früherem Famili-enrechtler Verständnis dafür finden müsste. Ich bin abernicht sicher, ob das auch für jemanden gilt, der einen Gen-test für alle männlichen Bewohner dieses Landes will.Vielen Dank.
Ich schließedie Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 14/5014 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an-dere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatz-punkt 9 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENEinsetzung eines Ausschusses für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft– Drucksache 14/5543 –Beratung des Antrags der Abgeordneten GudrunKopp, Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Einsetzung eines Ausschusses für Verbraucher-fragen– Drucksache 14/5568 –Zum Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis-ses 90/Die Grünen liegt ein Änderungsantrag der Fraktionder F.D.P. vor.Ich habe heute Mittag im Ältestenrat gesagt, dass ichauf die Weitsicht der Parlamentarischen Geschäftsführerund auf die Einsicht der Redner vertraue. Wie die nächs-ten vier Tagesordnungspunkte zeigen, ist dieses Vertrauengerechtfertigt. Bei diesem Tagesordnungspunkt geben dieRedner Ilse Janz, SPD, Peter Harry Carstensen,CDU/CSU, Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen,Gudrun Kopp, F.D.P., und Kersten Naumann, PDS, ihreReden zu Protokoll.1)
Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwarzunächst über den Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Ein-setzung eines Ausschusses für Verbraucherfragen. Werstimmt für den Antrag auf Drucksache 14/5568? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mitden Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen undCDU/CSU bei Enthaltung der PDS gegen die Stimmender F.D.P. abgelehnt.Wir kommen nun zu dem Antrag der Fraktionen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Einset-zung eines Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernäh-rung und Landwirtschaft“, Drucksache 14/5543. Hierzuliegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. aufDrucksache 14/5569 vor, über den wir zuerst abstimmen.Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Gegen-probe! – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen deranderen Fraktionen abgelehnt.Nun stimmen wir über den Antrag auf Drucksache14/5543 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmenvon SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung vonCDU/CSU und PDS gegen die Stimmen der F.D.P. ange-nommen. Damit ist der Ausschuss für Ernährung, Land-wirtschaft und Forsten in Ausschuss für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft umbenannt. DerAusschuss hat 35 Mitglieder.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Anpassung der Formvorschriften des Pri-vatrechts und anderer Vorschriften an den mo-dernen Rechtsgeschäftsverkehr
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Alfred Hartenbach15508
1) Anlage 3– Drucksache 14/4987 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/5561 –Berichterstattung:Abgeordnete Christine LambrechtDr. Wolfgang GötzerVolker Beck
Rainer FunkeDr. Evelyn Kenzlerb) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Reform des Verfahrens bei Zustellungenim gerichtlichen Verfahren
– Drucksache 14/4554 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/5564 –Berichterstattung:Abgeordnete Joachim StünkerDr. Norbert RöttgenHelmut Wilhelm
Rainer FunkeDr. Evelyn KenzlerDie Kolleginnen und Kollegen Christine Lambrecht,SPD, Dr. Wolfgang Götzer, CDU/CSU, Helmut Wilhelm,Bündnis 90/Die Grünen, Rainer Funke, F.D.P., Dr. EvelynKenzler, PDS, und die Bundesministerin der Justiz,Dr. Herta Däubler-Gmelin, geben ihre Reden zu Pro-tokoll.1)Wir stimmen über den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung zur Anpassung der Formvorschriften des Pri-vatrechts und anderer Vorschriften an den modernenRechtsgeschäftsverkehr auf den Drucksachen 14/4987und 14/5561 ab. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist auch in dritter Beratung mit den Stimmen des Hausesbei Enthaltung der Fraktion der PDS angenommen.Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform desgerichtlichen Zustellungsverfahrens auf den Drucksachen14/4554 und 14/5564: Wer möchte diesem Gesetzentwurfin der Ausschussfassung zustimmen? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-tung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte, hier ähnlich wie beider zweiten Beratung abzustimmen und sich zu erheben,wenn Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – DerGesetzentwurf ist einstimmig angenommenIch rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Neuordnung des Bundesdisziplinarrechts
– Drucksache 14/4659 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/5529 –Berichterstattung:Abgeordnete Peter EndersMeinrad BelleCem ÖzdemirDr. Max StadlerPetra PauZu Protokoll gegeben wurden die Reden von PeterEnders, SPD, Meinrad Belle, CDU/CSU, HelmutWilhelm, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, F.D.P., Petra Pau, PDS, und des Parlamentari-schen Staatssekretärs beim Bundesminister des Innern,Fritz Rudolf Körper.2)Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-gebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung des Bundes-disziplinarrechts auf den Drucksachen 14/4659 und14/5529: Wer diesem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Bei Ent-haltung der F.D.P. und gegen die Stimmen der PDS istdieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Beratungangenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 217 zu Petitionen
– Drucksache 14/5256 –Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDSvor.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters15509
1) Anlage 4 2) Anlage 5Die Kolleginnen und Kollegen Reinhold Hiller, SPD,Martin Hohmann, CDU/CSU, Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Karlheinz Guttmacher, F.D.P., UllaJelpke, PDS, und für die Bundesregierung die Staatsse-kretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast geben ihre Redenzu Protokoll.1)Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses in Sammelübersicht 217. Hierzu liegt ein Än-derungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache14/5537 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmtfür diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stim-men des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.Wer stimmt für Sammelübersicht 217 auf Drucksache14/5256? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DieSammelübersicht 217 ist mit den Stimmen des Hauses ge-gen die Stimmen der PDS angenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schlussder heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages auf morgen, Freitag, den 16. März 2001, 9 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.