Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
15510
(C)(A)
1) Anlage 6
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001 15511
(C)
(D)
(A)
(B)
Altmann (Aurich), Gila BÜNDNIS 90/ 15.03.2001
DIE GRÜNEN
Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 15.03.2001**
Binding (Heidelberg), SPD 15.03.2001
Lothar
Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 15.03.2001
Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 15.03.2001
Freitag, Dagmar SPD 15.03.2001
Friedrich (Altenburg), SPD 15.03.2001
Peter
Heinrich, Ulrich F.D.P. 15.03.2001
Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 15.03.2001
DIE GRÜNEN
Hirche, Walter F.D.P. 15.03.2001
Irber, Brunhilde SPD 15.03.2001
Jäger, Renate SPD 15.03.2001
Klappert, Marianne SPD 15.03.2001
Lehn, Waltraud SPD 15.03.2001
Lietz, Ursula CDU/CSU 15.03.2001
Nolte, Claudia CDU/CSU 15.03.2001
Ohl, Eckhard SPD 15.03.2001
Otto (Frankfurt), F.D.P. 15.03.2001
Hans-Joachim
Pieper, Cornelia F.D.P. 15.03.2001
Rachel, Thomas CDU/CSU 15.03.2001
Reichard (Dresden), CDU/CSU 15.03.2001
Christa
Reiche, Katherina CDU/CSU 15.03.2001
Schily, Otto SPD 15.03.2001
Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 90/ 15.03.2001
DIE GRÜNEN
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 15.03.2001
Hans Peter
Schröder, Gerhard SPD 15.03.2001
Schröter, Gisela SPD 15.03.2001
Dr. Schuchardt, Erika CDU/CSU 15.03.2001
Dr. Seifert, Ilja PDS 15.03.2001
Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 15.03.2001
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 15.03.2001
DIE GRÜNEN
Vogt (Pforzheim), Ute SPD 15.03.2001
Dr. Vollmer, Antje BÜNDNIS 90/ 15.03.2001
DIE GRÜNEN
Wieczorek (Duisburg), SPD 15.03.2001
Helmut
Wohlleben, Verena SPD 15.03.2001
Zierer, Benno CDU/CSU 15.03.2001*
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates
** für die Teilnahme an Sitzungen der NordatlantischenVersammlung
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Jugendgerichtsgesetzes (Tagesord-
nungspunkt 11)
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Diese Bundesratsinitiative zielt darauf ab, das Hauptprin-
zip des Jugendstrafrechts, gewissermaßen das „Herz-
stück“ des Jugendgerichtsgesetzes (JGG), den Erzie-
hungsgedanken, in seinem Kern zu schwächen. Bündnis 90/
Die Grünen lehnen diesen Entwurf deshalb mit aller Ent-
schiedenheit ab. Die Einführung des beschleunigten Ver-
fahrens, also eines „kurzen Prozesses“, in das JGG, wäre
kriminalpolitisch und auch pädagogisch in hohem Maße
unverantwortlich. Die Rückfallquote straffällig geworde-
ner Jugendlicher würde nicht sinken, sondern sie würde
wieder zunehmen. Das können wir nicht wollen.
Dass die Strafe der Tat möglichst auf dem Fuße folgen
soll, ist wünschenswert. Aber dieser Grundsatz gilt nicht
uneingeschränkt, nicht um jeden Preis.
Bereits im Erwachsenenstrafrecht begegnet das be-
schleunigte Verfahren einer Reihe von ernst zu nehmen-
den rechtsstaatlichen Bedenken. Werfen Sie nur einen
Blick in die einschlägige Kommentarliteratur zu den
§§ 417ff. der Strafprozessordnung! Eine Einführung aber
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
darüber hinaus in das JGG würde in kriminologischer
Hinsicht einen Rückfall in längst vergangene Zeiten be-
deuten. Irgendein Anlass hierzu besteht nicht; denn schon
heute bietet bei Jugendlichen das so genannte verein-
fachte Verfahren der §§ 76ff. JGG in geeigneten Fällen
angemessene, zügige Reaktionsmöglichkeiten. Eine Rei-
he von Sanktionen kommen dabei in Betracht, sogar ein
vierwöchiger Dauerarrest als schwerste Sanktion.
Im Jugendstrafverfahren muss die eingehende Würdi-
gung der Persönlichkeit des beschuldigten Jugendlichen
vollständig gewährleistet sein und auch im Vordergrund
stehen, dies gerade auch deshalb, um durch geeignete
Sanktionen eine nachhaltige erzieherische Einwirkung zu
gewährleisten und den Jugendlichen von weiterer Straf-
fälligkeit abzuhalten. Das flexible Instrumentarium des
JGG ist ja gerade der maßgebliche Vorzug des Jugend-
strafrechtes gegenüber dem Erwachsenenrecht! Mit
diesem Schnellverfahrensgesetzentwurf würden diese
Vorzüge abgebaut. Auch auf die immens wichtige Einbin-
dung der Jugendgerichtshilfe, wie sie § 38 JGG vorsieht,
müsste letztlich – auch wenn der Gesetzentwurf dies an-
ders vorgibt – aus Zeitgründen verzichtet werden. Und
nur um der Beschleunigung des Strafverfahrens willen
propagiert der Entwurf sogar die Hauptverhandlungshaft
für Jugendliche. Das ist ebenso unverantwortlich!
Aus guten Gründen geht doch das geltende Jugend-
strafrecht vom Grundsatz der Haftvermeidung (§§ 71,
72 JGG) aus. Nur unter strengen Voraussetzungen dürfen
Jugendliche inhaftiert werden. Es ist doch hinlänglich be-
kannt, dass das Gefängnis als die Schule des Verbrechens
gilt. Und diese „Ausbildung“ gilt es den Jugendlichen
doch möglichst vorzuenthalten. Meine Damen und Her-
ren aus den Bundesländern, das muss doch auch in Ihrem
Interesse liegen.
Aber nicht nur die rot-grüne Koalition schüttelt bei die-
sem rückwärts gewandten Entwurf, der unverkennbar die
Handschrift eines unionsgeführten, konservativen Bun-
deslandes – nämlich Thüringens – trägt, mit dem Kopf.
Auch die Praktiker sind ja entsetzt. Entsetzt ist zum Bei-
spiel die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und
Jugendgerichtshilfen. Ihre Stellungnahme vom Novem-
ber 2000 ist eine vernichtende Kritik der uns heute hier
beschäftigenden Vorschläge. Ebenso entsetzt sind auch
die Strafverteidigervereinigungen. Aus ihrer heutigen
Presseerklärung möchte ich – die Genehmigung des Prä-
sidenten vorausgesetzt – an dieser Stelle einmal zitieren:
„Eine Realisierung des Gesetzentwurfes wäre kriminal-
politisch eine Katastrophe und würde sich unter Präventi-
onsgesichtspunkten als kontraproduktiv erweisen.“
Alle wundern sich zu Recht darüber, dass der Bundes-
rat offenbar die einhellige Erkenntnis der jugendstraf-
rechtlichen Praxis und der Wissenschaft nicht kennt oder
nicht kennen will. Die lautet unzweifelhaft: Zur Bekämp-
fung von Jugendkriminalität besteht kein Änderungs-
bedarf im JGG. Im Gegenteil: Um angemessen sank-
tionieren zu können, müssen Jugendgerichte und
Staatsanwaltschaften endlich das geltende Recht aus-
schöpfen. Das dies auch geht, haben gerade Urteile im
Zusammenhang mit rechtsextremen Gewalttaten (Naum-
burg und Rostock) gezeigt. Und was das in der Tat wich-
tige Beschleunigungsgebot im Jugendstrafrecht anbe-
langt: Verbesserungen in diesem Punkt schafft man in ers-
ter Linie, indem man Organisationsabläufe in der Justiz
überprüft und gegebenenfalls optimiert, und auch, indem
man die Kooperation zwischen den unterschiedlichen
Verfahrensbeteiligten verbessert. Letzteres wird Rot-
Grün in einer umfassenden Strafprozessreform angehen!
Die Arbeiten hierzu sind in vollem Gange.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Einsetzung eines Ausschusses für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft
– Einsetzung eines Ausschusses für Verbraucherfra-
gen
(Tagesordnungspunkt 12 und Zusatzpunkt 9)
Ilse Janz (SPD): Die F.D.P.-Fraktion beantragt die
Einsetzung eines eigenständigen Verbraucherschutzaus-
schusses – 26 Mitglieder, F.D.P.: 2. Hilfsweise beantragt
sie die Erhöhung der Mitgliederzahl des neuen von uns
heute einzusetzenden Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft auf insgesamt 39 Mitglie-
der; die F.D.P. hätte dann 3 statt 2. Hintergrund für dessen
Vorstoß der F.D.P. ist der – von mir nachvollziehbare –
Wunsch, mit jeweils mehr Mitgliedern vertreten zu sein.
Sie wissen, dass die Koalitionsfraktionen dieses Anlie-
gen der F.D.P. nicht auf die leichte Schulter genommen
haben. Auch deshalb ist die Einsetzung des Ausschusses
im Plenum mehrfach verschoben worden, um diese Frage
ausführlich zu prüfen und erörtern.
Bei den Koalitionsfraktionen haben diese Abwägun-
gen zu folgendem Ergebnis geführt:
Erstens. Der Einsetzung eines eigenständigen Verbrau-
cherschutzausschusses können wir nicht zustimmen. Wir
sehen den Ausschusszuschnitt in Orientierung am Res-
sortzuschnitt des neuen Ministeriums für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft als besonders ge-
eignet an, um die begleitende parlamentarische Kontrolle
in der Regierung in diesem Bereich zu gewährleisten. Es
entspricht im Übrigen bewährter parlamentarischer
Übung in diesem Haus, den Ressortzuschnitt auf Aus-
schussebene nachzuvollziehen. Die Aufsplittung von
Zuständigkeiten auf verschiedene Ausschüsse wäre mei-
nes Erachtens dagegen kontraproduktiv. Im Übrigen
– auch darauf möchte ich hinweisen – verfügt der
14. Deutsche Bundestag bereits über 23 ordentliche
Ausschüsse, 5 Enquete-Kommissionen, einen Untersu-
chungsausschuss sowie eine Vielzahl informeller Gre-
mien, die die Mitglieder des Bundestages bereits jetzt in
außerordentlich intensiver Weise binden. Dieser Aspekt
wird gerade von den kleinen Fraktionen immer wieder be-
klagt.
Auch vor diesem Hintergrund ist die Einrichtung eines
weiteren Bundestagsausschusses nicht sinnvoll. Und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 200115512
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politisch ist es meines Erachtens nicht nur richtig, sondern
notwendig, alle Themenbereiche in einem Ausschuss zu-
sammenzuführen. Alles andere heißt zusätzliche AGs, zu-
sätzliche Abstimmungen und zusätzliche Termine, die
nicht erforderlich sind.
Zweitens. Schließlich können wir auch ihrem weiteren
Antrag nicht zustimmen. Mit der Erhöhung der Mitglie-
derzahl im Verhältnis zur bisherigen Ausschussgröße des
Agrarausschusses um acht Mitglieder und um acht stell-
vertretende Mitglieder wird nach unserer Auffassung der
erweiterten fachlichen Zuständigkeit in geeigneter Weise
Rechnung getragen.
Nach alledem bitte ich um Verständnis dafür, dass wir
den Anträgen der F.D.P.-Fraktion nicht zustimmen können.
Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU):
Drei Anträge liegen vor. Erstens der Antrag der SPD: Um-
benennung des Ausschusses Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten in Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernäh-
rung und Landwirtschaft und Aufstockung auf 35 Mit-
glieder. Zweitens der Antrag der F.D.P: Aufstockung die-
ses Ausschusses auf 39 Mitglieder, was der F.D.P. ein
drittes ordentliches Ausschussmitglied sichert. Drittens
der Antrag der F.D.P. auf Einsetzung eines weiteren Aus-
schusses für Verbraucherpolitik mit 26 Mitgliedern.
§ 62 der GO des Deutschen Bundestages definiert die
Aufgaben der Ausschüsse: Die Ausschüsse sind vorberei-
tende Beschlussorgane des Bundestages und haben die
Pflicht, dem Bundestag bestimmte Beschlüsse zu emp-
fehlen. Sie können sich mit anderen Fragen aus ihrem Ge-
schäftsbereich befassen.
Die Ausschüsse sind die Arbeitsgremien des Parla-
mentes. Hier wird all das zurechtgeschliffen oder umge-
modelt, was der Bundestag schließlich zum Beschluss er-
heben kann oder wird. Die Ausschüsse sind die
Arbeitsgremien des Parlamentes. Sie sind in der Regel in
ihrem Geschäftsbereich einem Ministerium zugeordnet.
Daraus ergibt sich auch der Name dieses neuen Aus-
schusses, über den ich nicht streiten will, obwohl ich
schon gerne gesehen hätte, dass der wichtigste Punkt im
Namen, nämlich die Ernährung, nach vorne gestellt wor-
den wäre und der Bereich Forsten nicht im Namen weg-
gefallen wäre.
Aber über den Namen zu streiten scheint mir heute
müßig zu sein. Ernährung, Verbraucherschutz, Landwirt-
schaft und Forsten wäre besser, sachgerechter, scheint
aber nicht durchsetzbar zu sein.
Wichtiger ist die Situation und meinetwegen auch der
Streit über die Inhalte der Arbeit und über die Art der Ar-
beit in diesem neuen, neu bezeichneten und ausgeweite-
ten Ausschuss. Wir brauchen Sachverstand in diesem
Ausschuss. Sachverstand kann in der Politik nicht scha-
den, weder im Ausschuss, noch in der Regierung. Das gilt
für alle Bereiche der Ausschussarbeit, für die Fragen der
Ernährung, für Agrar- und Forstpolitik ebenso wie für die
zusätzliche Aufgabe des Verbraucherschutzes.
Nach BSE in Deutschland und jetzt nach der inzwi-
schen verbundenen Debatte über BSE und MKS in
Deutschland zeigt es sich, wie notwendig und wie ange-
bracht es ist, die Diskussion über den Verbraucherschutz
in diesen Bereichen als typische Querschnittsaufgabe zu
betrachten und nicht getrennt von Fachleuten in einem
Bereich mit Fachleuten aus dem anderen Bereich an un-
terschiedlichen Orten zu führen.
Der richtige Ort ist die Debatte im Ausschuss für
Ernährung, Verbraucherschutz und Landwirtschaft.
Ernährungsfragen und Verbraucherschutz sind gemein-
sam zu betrachten, wobei ihre Einordnung in politische
Handlungsstrategien neu überdacht werden müssen. Die
Verantwortung für diese Fragen muss gebündelt werden,
obwohl oder vielleicht auch weil der Verbraucherschutz
eine Querschnittsaufgabe ist und bleibt.
Was hat das politische Handeln zu Beginn der BSE-
Krise ausgezeichnet? Das unkoordinierte Vorgehen der
Bundesregierung war an Dummheit und Peinlichkeit, an
nicht sachgerechten Entscheidungen und an fehlender
Koordination nicht zu überbieten. Das hat zu Rücktritten
zweier Minister geführt, zu einem neuen Zuschnitt von
Ministerien und letztendlich zu neuen Aufgaben unseres
Agrarausschusses.
Die Bündelung des Verbraucherschutzes in Kombina-
tion mit Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik ist zwei-
felsohne notwendig. Aber der jetzige Zuschnitt ist im
Ministerium absolut unzureichend, weil nicht alle we-
sentlichen Verbraucherbereiche aus anderen Ressorts auf-
genommen wurden. Ein Grund mehr, das beliebte Wort
der Schröder-Regierung, nämlich „Nachbesserung“, wie-
der einmal in den Mund zu nehmen.
Wir brauchen im Verbraucherschutz Übersichtlichkeit,
eindeutige Kompetenzen, eindeutige Ansprechpartner in
der Regierung und somit auch im Parlament. Kaum ein
Ausschuss – den Ausschuss für Angelegenheiten der Eu-
ropäischen Union ausgenommen – hat wohl so viele Ein-
zelpunkte, Verordnungen, Richtlinien, Berichte aus euro-
päischer Verwaltung, Parlament und Gesetzgebung zu
bearbeiten wie der Agrarausschuss. Das liegt in der Natur
der Sache. Kein Bereich ist so europäisiert wie die Agrar-
politik. Auch deswegen ist der Verbraucherschutz im Hin-
blick auf den Binnenmarkt der EU bei diesem Ausschuss
gut aufgehoben, weil auch der Verbraucherschutz nicht
als nationale Aufgaben sondern in diesem Binnenmarkt
als europäische Aufgabe gesehen werden muss. Nach
Maastricht ist der Verbraucherschutz in den Rang einer
echten Gemeinschaftspolitik gehoben worden.
Nationale Alleingänge, auch von neuen Ministerinnen,
denen man am Anfang der Arbeitszeit noch einige Un-
kenntnis und mangelndes Fachwissen verzeihen mag, lau-
fen gegen die Wand und führen unzweifelhaft zu nicht
aufholbaren Wettbewerbsnachteilen für die deutsche
Wirtschaft und die deutsche Landwirtschaft. Und sie
bringen null Komma nichts für den Verbraucherschutz.
Wettbewerbsverzerrungen, aber kein bisschen Verbrau-
cherschutz bringen die unterschiedlichen Regelungen
beim Schnelltest für Tiere ab 24 Monate, beim Milchaus-
tauscher und beim Fischmehl im Schweinefutter.
Verbraucherschutz, diese Querschnittsaufgabe, gebün-
delt zusammen mit der Agrarpolitik, die sich zweifels-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001 15513
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(B)
ohne weiterentwickeln wird und muss, ist in diesem neuen
Ausschuss gut aufgehoben. Die Arbeit dieses Ausschus-
ses wird immer mehr von der Öffentlichkeit beobachtet.
Wir nehmen diese neuen Aufgaben gerne an. Wir erwar-
ten aber auch eine bessere Transparenz und Offenheit in
der Zusammenarbeit zwischen dem Ausschuss und dem
entsprechenden Ministerium.
Dazu gehören Berichte über Verbraucherschutzmaß-
nahmen ebenso wie organisatorische Veränderungen und
Erweiterungen bei den zuständigen Behörden wie zum
Beispiel beim Bundesinstitut für gesundheitlichen Ver-
braucherschutz und Veterinärmedizin. Dazu gehört aber
auch mehr Respekt vonseiten des Ministeriums gegen-
über dem Ausschuss. Nicht der Vorsitzende des Agraraus-
schusses des Europäischen Parlaments gehört bei einem
Besuch der Schweiz in die Delegation, sondern Mitglie-
der des Deutschen Bundestages.
Bei allem neuen Denken, bei aller neuer Organisation
dürfen aber die Belange der Agrarpolitik nicht zu kurz
kommen. Unsere Bauern haben ebenso wie die
Ernährungsbranche in Deutschland ein Anrecht darauf,
nicht auf dem Altar der planwirtschaftlichen Vorgaben aus
dem Bundeskanzleramt oder des neuen Ministeriums ge-
opfert zu werden. Ganz gleich, ob 2, 5 oder auch 20 Pro-
zent ökologischer Produktion in Deutschland – die Bau-
ern und die Ernährungswirtschaft haben ein Anrecht auf
wettbewerbsfähige Bedingungen bei der Arbeit und Pro-
duktion in Deutschland. Die Agrarpolitik, die Politik für
Bauern, darf kein Nebenprodukt in der Arbeit unseres
Ausschusses werden, sie muss weiterhin an einer zentra-
len Stelle stehen.
Wir wollen die Agrarpolitik auf europäischer Ebene so
weiterentwickeln, dass sie einer von Bauern getragenen
nachhaltigen Landwirtschaft eine Perspektive bietet und
eine ausreichende Einkommensentwicklung ermöglicht.
Sie soll auch weiterhin den Verbrauchern gesundheitlich
einwandfreie und qualitativ hochwertige Nahrungsmittel
zu günstigen Preisen zur Verfügung stellen. Sie soll
Konflikte zwischen den unterschiedlichen Nutzungsan-
sprüchen im ländlichen Raum vermindern. Sie soll stand-
ortangepasste Landnutzung und artgerechte Tierhaltung
absichern und die Kulturlandschaft als wesentlichen Teil
unserer Heimat erhalten.
Natürlich muss aufgrund der neuen Aufgaben auch die
Größe des Ausschusses verändert werden. Das gilt übri-
gens auch für die Verwaltung dieses Ausschusses. Vier
Mitarbeiter im Ausschuss – mehr haben wir nicht, die
leisten die ganze Arbeit: der Ausschuss-Sekretär Herr
Kehrhahn, Herr Güth, Frau Rostoski und Frau Oehlmann –
haben in den letzten Monaten viel mehr geleistet und ge-
arbeitet, als ihre Tarifverträge verlangen. Und auch meine
persönlichen Mitarbeiterinnen – Frau Eickhorst und Frau
Häger – sind in diese Arbeit mit eingebunden. Sie haben
geleistet, ohne zu klagen. Aber das kann nicht so weiter-
gehen. Wir brauchen eine Aufstockung der Zahl der
Mitarbeiter. Wir erwarten von der Verwaltung, dass Aus-
schusssaal und Büros nach dem Umzug in das Paul-Löbe-
Haus der neuen Situation angepasst werden.
Im Ausschuss geht es ebenso wie in der Landwirtschaft
nicht um Klasse statt Masse. Wir brauchen Masse mit
Klasse. Aber die Arbeit muss auch von den Kolleginnen
und Kollegen kontinuierlich geleistet werden können.
Deshalb ist mir als Vorsitzender ein Ausschuss mit 35 Mit-
gliedern, die auch einigermaßen kontinuierlich anwesend
sind, lieber als mit 39, bei denen laufend einige fehlen,
weil andere Arbeiten in Fraktionen oder anderen Aus-
schüssen zu erledigen sind.
Allerdings verstehe ich das Anliegen der F.D.P., den
dritten Sitz im Ausschuss haben zu wollen. 39 Mitglieder
bedeutet aber auch bei den 23 Ausschüssen eine Summe
vom 720 Mitgliedern in allen Ausschüssen bei 668Abge-
ordneten im Bundestag. Ein zusätzlicher Ausschuss mit
26 Mitgliedern würde die Zahl auf 746 erhöhen.
Das ist mit dem Anspruch an ordentliche Arbeit nicht
zu vereinbaren. Auch deshalb lehnen wir den Antrag auf
einen zusätzlichen Ausschuss ab.
Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
werden heute die Einsetzung des Ausschusses für Ver-
braucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft be-
schließen. Dieser wird den bisherigen Landwirtschafts-
ausschuss ersetzen. Somit wurde die Umstrukturierung
des alten Agrarministeriums zum neuen Ministerium für
„Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft“
auch durch den Bundestagsausschuss nachvollzogen.
Und das ist gut so. Der jetzige Ausschuss hat in den ver-
gangenen Jahrzehnten mit Sicherheit wertvolle Arbeit
im Deutschen Bundestag geleistet. Aber er hat auch
Veränderungen in unserer Gesellschaft bezüglich der
Ernährung, dem Wunsch der Verbraucher nach frischen,
gesunden Lebensmitteln und dem stärkeren Schutz von
Natur und Umwelt zu wenig aufgegriffen. Deshalb ist
eine Umstrukturierung auch vor dem Hintergrund der
BSE-Krise notwendig und bietet für die Ausschussarbeit
neue Entwicklungsperspektiven.
Ich glaube, dass die schwierige Aufgabe, Agrarpolitik
zum Wohle der Verbraucher und der Landwirte zu ent-
wickeln, spannend wird und auch frischen Wind in die
manchmal etwas filzige Arbeit bringt.
Herr Carstensen von der CDU meinte zwar, dass die
neue Agrarpolitik mit Renate Künast in Brüssel gegen die
Wand gelaufen ist, aber erstens: Wenn ich so zu Frau
Künast hinüberblicke, kann ich keinerlei Blessuren an ihr
erkennen. Zweitens: Wenn die Vorgänger von Frau
Künast in der Tür stecken geblieben sind, hat das die Po-
litik nicht gerade weitergebracht.
Wir werden also mit dem neuen Ausschuss die vor uns
liegenden Aufgaben anpacken. Dabei sollten wir auch
neue Wege gehen, um unsere Arbeit zu verbessern, mehr
Transparenz herzustellen und auch die Möglichkeit neuer
Kommunikationsformen zu nutzen.
Die Anträge der F.D.P., den Ausschuss aufzustocken
oder einen extra Ausschuss zu gründen, halte ich nicht für
zielführend. Ich glaube nicht, dass ein Ausschuss desto
besser arbeitet, je größer er ist. Und auch ein Ausschuss,
der nicht einem Ministerium zugeordnet ist, sondern zwi-
schen zwei Stühlen sitzt, wäre nicht sachgerecht, wenn
wir den Verbraucherschutz wirklich voranbringen wollen.
Stimmen Sie deshalb unserem Antrag und Ausschuss
zu, dann können wir uns an die Arbeit machen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 200115514
(C)
(D)
(A)
(B)
Gudrun Kopp (F.D.P.): In unserem Land gibt es
einen Riesenbedarf an sachgerechter Verbraucherpolitik,
und zwar jenseits von Agrarkrisen. Lebensmittelsicher-
heit, Gesundheit, Datenschutz im Internet, Wettbewerbs-
fragen, Ladenschluss – Verbraucherpolitik ist eine Quer-
schnittsaufgabe, der diese Regierung umfassend gerecht
werden muss.
Vor diesem Hintergrund war es eine kapitale Fehlent-
scheidung von Bundeskanzler Schröder, die Verbraucher-
politik willkürlich beim Agrarministerium zu bündeln.
Will Turbo-Ministerin Künast tatsächlich für alle bereits
genannten Problemfelder kompetent zuständig sein? –
Das geht schief. Wie schief, das haben wir gerade erlebt
mit der Forderung der Grünen – ausdrücklich unterstützt
von Frau Künast – nach einer Versicherungsabgabe zur
Finanzierung der Stiftung Warentest. Die Verbraucher
werden wieder einmal missbraucht als Melkkühe der Grü-
nen. Nach Ökosteuer, geplanter Fleischabgabe und
Zwangspfand wollen sie nun diese neue Quersubvention.
Welch ein Verbraucherverständnis!
Fehler Nummer zwei ist die mangelnde Transparenz
der Aufteilung von Zuständigkeiten für Verbraucher-
fragen. Was fehlt, ist eine eindeutige Organisationsent-
scheidung dieser Bundesregierung. Klar ist lediglich: Lei-
denschaftslos, ja sogar bereitwillig hat Bundeswirt-
schaftsminister Müller seine Zuständigkeit für Verbrau-
cherpolitik an das neue Verbraucher- und Agrarministe-
rium abgegeben. Schon dort wurden Verbraucheranliegen
eher unwillig bearbeitet. Nun, im neuen Verbrauchermi-
nisterium, wird es dem Verbraucherschutz kaum besser
ergehen: Schon Minister Müller hatte die Finanzierung
der Stiftung Warentest bis zur Existenzbedrohung herun-
tergekürzt. Besseres – das erwähnte ich bereits – ist auch
im neuen Verbraucherministerium nicht zu erwarten.
Fehler Nummer drei ist die Absicht von Rot-Grün, den
Agrarausschuss lediglich umzubenennen und personell
aufzustocken. Klarer kann die Regierungskoalition nicht
zu erkennen geben, dass es ihr mit dem umfassenden Ver-
braucherschutz nicht wirklich ernst ist.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion fordert deshalb heute
die Gründung eines eigenständigen Ausschusses für Ver-
braucherpolitik. Dieses Anliegen unterstützt im Übrigen
auch die AgV und vor kurzem noch forderten auch die
Grünen einen solchen eigenständigen Ausschuss. Inzwi-
schen hören wir dazu nichts mehr. Ministerin Künast ist
in dieser wichtigen Frage schlicht abgetaucht.
Kersten Naumann (PDS): Eine katastrophale Krise
macht erst jetzt möglich, was jahrelang vernachlässigt
und sogar abgebaut wurde: Der Verbraucherschutz ist in
den Mittelpunkt von Politik, Medien und Gesellschaft
gerückt! Die Bündelung der Belange der Verbraucher war
überfällig, denn sie unterstehen mehr denn je den Aus-
wirkungen des globalisierten Marktes.
Gerade mit der weiteren Vergesellschaftung aller Le-
bens- und Ernährungsbereiche werden Verbraucher- und
Gesundheitsschutz immer wichtiger. Sie sind durch den
Staat als Regulativ zwischen wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Interessen zu leisten.
Aus den Erfahrungen und Ereignissen der letzten Jahre
heraus kann der neue Ausschuss seiner Verantwortung ge-
genüber dem Verbraucher nur gerecht werden, wenn An-
hörungen grundsätzlich öffentlich gestaltet werden, wenn
eine unbürokratische Koordinierung und Zusammen-
arbeit zwischen den neuen und alten Abteilungen des
BMVEL, dem Ausschuss und dem angekündigten Bun-
desamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit
stattfindet und wenn es dabei wirklich gelingt, das Vor-
sorgeprinzip walten zu lassen und den Verbraucher vor-
beugend schützt, bevor Gefahr im Verzuge ist.
Es bleiben jedoch die Zuständigkeiten für das Lebens-
mittel „Wasser“ aber auch die Boden- und Lufthygiene
sowie die Zuständigkeit für Strahlenschutz beim Gesund-
heits- bzw. Umweltministerium.
Wenn man den Verbraucherschutz wirklich ernst
nähme, wäre eine eigenständige, unabhängige Behörde
für Verbraucherschutz auf Bundesebene mit Kontroll-
funktion und Weisungsrecht in unserer Vorstellung die
beste Lösung. Unser Anliegen ist es nicht, den bürokrati-
schen Wasserkopf noch weiter aufzublähen. Es geht aber
um die Trennung von Fachpolitik und Verbraucherschutz.
Wie soll denn eine Behörde, die die Interessen der ge-
samten Bandbreite der Agrarwirtschaft und Ernährungs-
industrie vertritt, auch gleichzeitig den Schutz des Ver-
brauchers im Auge haben? Oftmals liegen die Interessen
mehr als konträr. Das wird auch auf unseren Ausschuss re-
flektieren.
Ein brisanter Streit scheint schon jetzt bevorzustehen.
Frau Künast unterliegt zwar die Federführung bei der
grünen Gentechnik und ihr untersteht auch das Bundes-
sortenamt, aber für die Genehmigung der Freisetzung von
GVO ist nach wie vor das RKI zuständig. Das unterliegt
jedoch dem Gesundheitsministerium.
Den Ansatz der F.D.P. für einen weiteren ständigen
Ausschuss für Verbraucherpolitik halten wir deshalb für
richtig. Jedoch müsste die unabhängige Behörde, die alle
Fragen des Verbraucherschutzes und -rechts zusammen-
führt, Voraussetzung dafür sein. Die neue Struktur des Mi-
nisteriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft halten wir für eine aktionistische, halbherzige
und damit die zweitbeste Lösung.
Den Verbrauchern ist also nur zu wünschen, dass durch
die neuen Strukturen im Ministerium wie im Ausschuss
der Verbraucherschutz tatsächlich zum Schutz der Ver-
braucher führen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Form-
vorschriften des Privatrechts und anderer Vor-
schriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr
– Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Verfahrens
bei Zustellung im gerichtlichen Verfahren (Zustel-
lungsreformgesetz – ZustRG)
(Tagesordnungspunkt 13 a und b)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001 15515
(C)
(D)
(A)
(B)
Christine Lambrecht (SPD): Hinter diesen Ge-
setzestiteln verbirgt sich ein entscheidender Durchbruch
in der Anpassung unseres Rechtssystems an die Erforder-
nisse moderner Technik. Die Entwicklung der elektroni-
schen Datenverarbeitung, die Möglichkeiten, via Internet
in Sekundenschnelle über den ganzen Erdball zu kommu-
nizieren, hat unsere Lebens- und Arbeitswelt in großem
Umfang verändert. Längst ist es üblich, auch einen großen
Teil des Schriftverkehrs über das Netz abzuwickeln, und
dies im privaten Bereich, in der Arbeitswelt und auch
– soweit bisher zulässig – im Rechtsverkehr.
Nur die Rechtssicherheit in diesem Bereich bestand
bislang nicht in ausreichendem Maße. Selbst der Einsatz
von Faxgeräten hat bisher in einer rechtlichen Grauzone
stattgefunden, was die Funktion eines Faxes als Urkunde
und gültige Willenserklärung angeht.
Es ist Zeit, dass die mittlerweile zum Alltagsleben
gehörenden elektronischen Kommunikationsmittel im
Rechtsverkehr auf eine solide rechtliche Basis gestellt
werden. Und es wird auch Zeit, dass im Rechtsgeschäfts-
verkehr bürokratische Vorschriften, die zum Teil noch aus
dem 19. Jahrhundert stammen, fallen, wenn sie unnötig
sind, und die Vereinfachung und Beschleunigung, die uns
die neue Technik bietet, zum Einsatz kommt. Das vorlie-
gende Gesetzesvorhaben ist seit zehn Jahren überfällig
und es ist gut, dass es nun endlich umgesetzt wird.
Im Kern geht es darum, der im § 126 BGB vorgesehe-
nen Schriftform eine Option zu einer elektronischen Form
hinzuzufügen. Um diese für den Rechtsverkehr sicher zu
machen, wird eine qualifizierte elektronische Signatur ge-
schaffen. Grundlage dafür ist das Signaturgesetz. Mit die-
ser Signatur wird ein Zertifikat geschaffen, das von einer
zuverlässigen Zertifizierungsstelle vergeben wird. Damit
wird die Identität und die Authentizität einer in elektroni-
scher Form übermittelten Erklärung für den Empfänger
erkennbar. Der Absender wiederum hat die Sicherheit,
dass niemand an seiner statt eine solche Erklärung abge-
ben kann. Die elektronische Form soll eine gleichwertige
Alternative an den Stellen werden, an denen das Gesetz
eine schriftliche Form verlangt. Die elektronische Signa-
tur wird analog zu einer Unterschrift angesehen werden.
Wir sind aus diesem Grund auch der Überzeugung,
dass es darüber hinaus keiner besonderen Neuregelung
der Anfechtbarkeit von elektronisch übermittelten Wil-
lenserklärungen bedarf. Die bereits bestehenden gesetzli-
chen Regelungen und die von der Rechtsprechung ent-
wickelten Auslegungskriterien reichen hierfür unserer
Auffassung nach aus.
Zum anderen wird die Textform in den allgemeinen
Teil des BGB eingestellt. Sie wird unabhängig von der
elektronischen Form eingeführt. Einzeltatbestände unter-
schriftsloser Form gibt es schon im geltenden Recht. Mus-
terfall ist hierfür § 8 MHG als Modell für die Textform. In
der zwanzigjährigen Praxis des § 8 MHG gab es keine
Probleme durch den Verzicht auf die eigenständige Un-
terschrift. Kein einziges gerichtliches Verfahren ist be-
kannt, für das die fehlende Unterschrift ursächlich war.
Die Textform ist keine einfache Nachbildung dieser Be-
stimmung. Es muss die handelnde Person unmissver-
ständlich erkennbar sein, die Erkennbarkeit des von der
nicht unterschriebenen Erklärung erfassten Inhaltes gege-
ben sein und die Erklärung muss in Schriftzeichen lesbar
sein.
Die Öffnung für die Textform erfolgt nur in ausge-
wählten Sachverhalten, wenn Manipulationsinteressen
Dritter nicht bestehen. In keinem Fall wird ein Schriftfor-
merfordernis für einen Vertragsschluss durch die Text-
form ersetzt. Darüber hinaus werden endlich die elektro-
nischen Pforten zu den Gerichten eröffnet.
Wenn ich als Anwältin derzeit bei Gericht eine Klage
einreichen will, sieht der Vorgang nach derzeit geltendem
Recht folgendermaßen aus: Die Klageschrift muss in drei-
facher Ausführung eingereicht werden: einmal als Origi-
nal, einmal als beglaubigte, gestempelte Kopie, einmal als
normale Kopie. Das wird in Zukunft nicht mehr nötig
sein. In Zukunft kann die Klageschrift als Dokument mit
der entsprechenden Signatur mit einer E-Mail verschickt
werden, wenn die entsprechende Ausstattung bei den Ge-
richten vorhanden ist. Das ist nicht nur eine Erleichterung
für Anwälte, sondern auch für Zeugen und Sachverstän-
dige.
Der Gesetzentwurf steht im Einklang mit der
EG-Richtlinie über gemeinschaftliche Rahmenbedingun-
gen für elektronische Signaturen und nimmt bereits die
Umsetzung der EG-Richtlinie über den elektronischen
Geschäftsverkehr vorweg und er ist kompatibel mit inter-
nationalen Regelungswerken für den elektronischen
Datenverkehr. Wir stehen mit diesem Gesetz also mit an
der Spitze für verbindliche, sichere Regeln zur Anwen-
dung elektronischer Kommunikation im Rechtsverkehr,
aber auch in der Wirtschaft.
Ich bitte Sie, diesem Gesetz zuzustimmen und seine
Umsetzung zu befördern. Denen unter Ihnen, die diesem
Vorhaben skeptisch gegenüber stehen, weil sie den neuen
Kommunikationsformen nicht trauen, sei gesagt: Sehen
Sie in dieser Technik nicht in erster Linie die Risiken, son-
dern die Chancen, die darin stecken. Deshalb wollen wir
diesen Bereich politisch gestalten, was wir mit diesem
Gesetz tun.
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Wir behandeln
heuten in zweiter und dritter Lesung die von der Bundes-
regierung eingebrachten Gesetzentwürfe zur Anpassung
der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vor-
schriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr sowie
zur Reform des Verfahrens bei Zustellungen im gerichtli-
chen Verfahren.
Letzteres, also das Zustellungsreformgesetz, hat im
Rechtsausschuss die Zustimmung aller Fraktionen gefun-
den. Der Entwurf macht es künftig möglich, die Mittel der
modernen Bürokommunikation und die Telekommunika-
tionstechnik für die Ausführung förmlicher Zustellungen
im gerichtlichen Verfahren zu nutzen. Künftig ist die Zu-
stellung an Adressaten, denen ein Schriftstück gegen
Empfangsbekenntnis zugestellt werden kann, auch mit-
tels Telefax oder als elektronisches Dokument, E-Mail,
möglich. Diese Neuerung trägt den gewandelten Lebens-
verhältnissen Rechnung und vereinfacht die gerichtliche
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 200115516
(C)
(D)
(A)
(B)
Zustellung, ohne die gebotene Rechtssicherheit zu beein-
trächtigen.
Auch die Beschränkung der Ersatzzustellung durch
Niederlegung bei der Post für den Fall, dass die Einlegung
in einen Briefkasten nicht möglich ist, stellt eine be-
grüßenswerte Vereinfachung der Zugangsregelung dar,
ebenso wie die Möglichkeit, dass der Zustellungsemp-
fänger eine Person seines Vertrauens zur Entgegennahme
eines zuzustellenden Schriftstückes bevollmächtigen
kann.
Begrüßenswert ist auch die Vereinheitlichung des ge-
richtlichen Zustellungsverfahrens, das künftig nicht nur
für die ordentlichen Gerichte, sondern auch für die Ver-
waltungs-, Sozial- und Finanzgerichte gelten soll.
Was das Gesetz zur Anpassung der Formvorschriften
angeht, muss ich dazu sagen, dass dieses nicht die unge-
teilte Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion findet. Zu be-
grüßen ist die Einführung einer mit qualifizierter elektro-
nischer Signatur nach dem Signaturgesetz versehenen
Willenserklärung in elektronischer Form mit dem neuen
§ 126 a BGB. Damit wird der Bedeutung und raschen
Ausdehnung der elektronischen Kommunikation im täg-
lichen Leben für immer mehr Menschen, besonders natür-
lich im Wirtschaftsleben, Rechnung getragen. Diese
Neuerung liegt auch auf der Linie des Beschlusses der
Justizministerkonferenz vom Juni 1999.
Was die Einführung der so genannten Textform angeht,
bleiben wir bei unserer ablehnenden Haltung. Der Bun-
desrat hat zutreffend festgestellt, dass die Textform gerade
nicht in die Systematik der im Privatrecht geltenden
Formvorschriften passt und bezeichnet sie als „qualifi-
zierte Formlosigkeit“. Ich möchte es noch deutlicher sa-
gen: Die Textform ist eine Scheinformvorschrift, die nur
Verwirrung und neue Probleme schaffen wird. Einen Vor-
geschmack darauf hat das erste Berichterstattergespräch
vermittelt: Die heillose Verwirrung, die nach einer Stunde
zwischen den Anwesenden – allesamt Fachleute – darüber
herrschte, was überhaupt mit der Textform gemeint sei,
sollte eigentlich allen klarmachen, dass es besser ist, da-
rauf zu verzichten.
Zu viele Manipulationsmöglichkeiten werden eröffnet.
So muss zwar die handelnde Person unmissverständlich
erkennbar sein. Wie passt aber dazu, dass keinerlei Ge-
währ besteht, dass der Text auch tatsächlich von der an-
gegebenen Person stammt? Was soll eigentlich im Kern
mit der Textform juristisch Relevantes wirklich verkör-
pert sein? Letztlich ist meines Erachtens Information das
Einzige, was durch die Einhaltung der Textform vermit-
telt wird, ohne dass allerdings eine Gewähr für die Rich-
tigkeit der Information und für die Authentizität des Tex-
tes besteht.
Auch der Haupteinwand des Bundesrates ist, dass hier
eine Pseudoformvorschrift geschaffen werden soll, die
gerade keine Formvorschrift ist. Die „Textform“ soll den
Rechtsverkehr erleichtern, was jedoch gerade nicht der
Fall sein wird, da durch sie selbst vielfältige neue Pro-
bleme geschaffen werden, mit denen sich die Gerichte
auseinander zu setzen haben werden. Auf die Gerichte
wird eine Flut von Streitfällen zukommen, was ja wohl
nicht der Sinn einer Gesetzesänderung sein kann, die
die Rechtsunsicherheit auf diesem Gebiet gerade besei-
tigen will.
Dokumentationsanforderungen können nur erfüllt
werden, wenn man sich auf das Dokumentierte auch ver-
lassen kann, was bei der „Textform“ gerade nicht der Fall
ist. Der Rechtsverkehr wird hingegen sachgerecht er-
leichtert, wenn auf Massenunterschriften in geeigneten
Fällen verzichtet wird. Ein Änderungsbedürfnis ist in in-
dividuell geprägten Konstellationen dagegen schlicht und
einfach nicht erkennbar.
Ein Wort zu dem Vorwurf der Inkonsequenz, der dem
Bundesrat gemacht wird: Wenn der Bundesrat die Text-
form ablehnt, aber das Regelungsmodell des § 8 MHG
für elektronisch erstellte oder übermittelte Erklärungen
insoweit als verallgemeinerbar ansieht, als auf die Unter-
schrift verzichtet werden kann, so ist das gerade keine
Textform, sondern der Verzicht auf eine bestimmte Form.
Wir bleiben also dabei: Die Textform wird keine Ver-
einfachung bringen, sondern Verwirrung schaffen und
neue Probleme aufwerfen. Aus diesem Grund haben wir
im Rechtsausschuss eine gesonderte Abstimmung über
den geplanten § 126 b BGB, der die Textform regelt, be-
antragt und diesen abgelehnt. Da der Gesetzentwurf in
seiner Gesamtheit aber überwiegend begrüßenswerte
Neuerungen enthält, vor allem die Einführung der elek-
tronischen Form, stimmen wir dem Entwurf insgesamt zu.
Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Heute werden das altehrwürdige BGB und die
ZPO den Errungenschaften der digitalen Welt angepasst.
Die mit dem Internet bereitstehenden Möglichkeiten
der Kommunikation machen diese Reaktion des Gesetz-
gebers unaufschiebbar. Denn wie wir alle miterleben kön-
nen, hat die mit rasender Geschwindigkeit fortschreitende
Technisierung der privaten Haushalte dazu geführt, dass
sich auch die Lebensgewohnheiten der Menschen verän-
dert haben. Insbesondere das Verhalten im privaten
Rechtsverkehr hat sich deutlich gewandelt. Der Compu-
ter macht es möglich, eine Vielzahl von Rechtsgeschäften
ohne direkten Kontakt mit dem Vertragspartner abzu-
schließen. Die Nutzung des Computers hat dabei zu einem
sorgloseren und unkritischeren Verhalten der Menschen
geführt, was den Abschluss von Verträgen angeht. Die
Annahme des Vertragsangebotes per Mausklick fällt man-
chem eben doch erheblich leichter, als seine Unterschrift
unter ein körperlich existierendes Schriftstück zu setzen.
Darum war es dringend geboten, die Formvorschriften
im BGB dem modernen Rechtsgeschäftsgebahren der Be-
völkerung anzupassen. Das Schriftformerfordernis behin-
dert einen zügigen Vertragsabschluss durch den rationalen
Einsatz moderner Kommunikationstechnik. Darum führt
der vorliegende Gesetzentwurf als Option zur Schriftform
die elektronische Form in das BGB ein. Die eigenhändige
Unterschrift wird dabei durch die elektronische Signatur
ersetzt. Nebenbei handelt es sich um ein Verfahren, dass
zugleich ein Mehr an Rechtssicherheit im Rechtsverkehr
bedeutet. Denn die Fälschung einer Unterschrift ist um ein
Vielfaches leichter als das Entschlüsseln einer elektroni-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001 15517
(C)
(D)
(A)
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schen Signatur, die den Anforderungen des Signaturge-
setzes entspricht. Zu dieser Erkenntnis bin auch ich erst
durch die intensive Beschäftigung mit dem Thema ge-
langt. Mit der so genannten Textform wird ein gegenüber
der Schriftform erleichtertes Formerfordernis eingeführt.
Für bestimmte Fälle, in denen der Beweis- und Warn-
funktion der Schriftform ohnehin kaum Bedeutung zu-
kommt, ist es zukünftig ausreichend, die Abfassung in
lesbaren Schriftzeichen zu erbringen und auf die Unter-
schrift zu verzichten. Mit diesen Änderungen wird das seit
über 100 Jahren geltende BGB für den modernen Rechts-
verkehr fit gemacht. Außerdem erhoffe ich mir, dass
durch die Diskussionen zu dem Thema eine stärkere Be-
wusstseinsbildung der „Internetgeneration“ in Gang ge-
setzt wird, was die später unter Umständen erforderliche
Beweisbarkeit von Rechtshandlungen angeht.
Es freut mich in meiner Funktion als Obmann der Grü-
nen im Petitionsausschuss natürlich besonders, dass es
nicht zuletzt Petitionen waren, die dem Gesetzesvorhaben
auf die Sprünge geholfen haben. In ihnen wurde wieder-
holt auf Schwierigkeiten bei der Anwendung einzelner
Zustellungsvorschriften hingewiesen. Darum war es ein
Anliegen von Rot-Grün, die modernen Kommunikations-
möglichkeiten auch für das gerichtliche Zustellungsver-
fahren nutzbar zu machen. Die Geschäftsstelle hat nun die
Möglichkeit, zwischen mehreren Zustellungsformen aus-
zuwählen. Durch den Einsatz von Telefax und E-Mail
wird die Zustellung durch das Gericht vereinfacht und da-
mit erheblich kostengünstiger möglich sein. Insbesondere
die kostenaufwendige und für den Adressaten oftmals
umständliche beurkundete Zustellung durch Niederle-
gung soll, soweit vertretbar, vermieden werden. Ich freue
mich, dass der Rechtsausschuss bei diesem Thema die Re-
formziele einvernehmlich begrüßt hat.
Rainer Funke (F.D.P.): Die modernen Kommunika-
tionsmittel nehmen immer größeren Einfluss auf unser
tägliches Lebens. Es kann daher auch nicht verwundern,
dass unser Geschäftsverkehr, aber auch die Formvor-
schriften des Privatrechts und die Fragen der Zustellun-
gen im gerichtlichen Verfahren immer mehr durch die
elektronische Form geprägt werden. In Zukunft sollen die
Zustellungen im gerichtlichen Verfahren auch auf dem
Wege der Fernkopie – Telefax – oder als elektronisches
Dokument – E-Mail – möglich sein.
Wir haben uns im Rechtsausschuss und in Berichter-
stattergesprächen konzentriert auf das Gesetz zur Anpas-
sung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer
Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr.
Wenig haben wir uns beschäftigt mit dem Zustellungsre-
formgesetz, obwohl insbesondere die Stellungnahme der
Bundesrechtsanwaltskammer und zahlreiche wissen-
schaftliche Stellungnahmen, auch aus der Praxis, eigent-
lich eingeladen hätten zur intensiveren Auseinanderset-
zung. Ursache dieser – hoffentlich nicht sträflichen
Vernachlässigung – ist die Bereitschaft der Berichterstat-
ter, die Verfahren bei förmlichen Zustellungen in gericht-
lichen Verfahren zu vereinfachen und die modernen tech-
nischen Entwicklungen stärker zu nutzen. Wir werden
sehr genau beobachten, ob diese von uns gewählten For-
men von der Praxis angenommen werden, vor allem, ob
sie reibungslos funktionieren. Sollten hier Schwierigkei-
ten entstehen, sollten wir kurzfristig auch bereit sein, uns
zu korrigieren.
Intensiver haben wir uns mit den Fragen der Anpas-
sung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer
Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr
beschäftigt. Dabei standen vor allem die Überlegungen
über die Vorschriften der §§ 126 a und 126 b des Bürger-
lichen Gesetzbuches über die erweiterte Einführung der
„Textform“ im Vordergrund. Über diese Bestimmungen
ist im Rechtsausschuss gesondert abgestimmt worden.
Die Einführung der Textform als verkehrsfähige Form,
die den Rechtsgedanken zur unterschriftslosen Erklärung
zusammenfasst, begegnete großer Skepsis. Ich selbst
habe Zweifel, ob dieser § 126 b einen wirklichen Nutzen
darstellt. Aber er wird wohl auch nicht schaden. Auch hier
gilt, was ich schon zur Reform des Zustellungsreformge-
setzes gesagt habe: Wir sollten nach angemessener Frist
vorurteilslos prüfen, ob die vorgenommene Anpassung
der Formvorschriften von den am Rechtsverkehr beteilig-
ten Personen angenommen wird, vor allem, ob schwer-
wiegende Mängel auftauchen wie etwa beim Gesetz zur
angeblichen Beschleunigung fälliger Zahlungen.
Hinzu kommt, dass gerade bei den Formvorschriften
des Privatrechts neue Techniken Anwendung finden, die
wir heute noch gar nicht kennen. Die Kommunikations-
technologie hat sich in den letzten Jahren so rasant ent-
wickelt, dass wir davon ausgehen können, dass uns neue
Entwicklungen zu weiteren Gesetzesnovellen zwingen.
Gerade wegen der modernen Techniken müssen wir bereit
sein, bisherige Entscheidungen erneut auf den Prüfstand
zu stellen.
Dr. Evelyn Kenzler (PDS):Unsere Justiz hat einen er-
heblichen Modernisierungsbedarf. Deshalb ist jeder Ver-
such zu begrüßen, der es sich zum Ziel setzt, den beste-
henden Rechtsverkehr zeitgemäß, das heißt schnell und
unkompliziert, aber auch sicher abzuwickeln. Die Durch-
dringung des Rechts- und des Gerichtssystems mit den
Mitteln der elektronischen Datenverarbeitung sowie die
Nutzung des Internets dürfen nicht hinter der Entwick-
lung in der Wirtschaft und auch der öffentlichen Verwal-
tung zurückbleiben. Doch das alles soll nicht um der Mo-
dernität willen geschehen. Die Herausforderungen der
Informationsgesellschaft hinsichtlich der Anwendung
moderner Technologien im Zivilprozess und in anderen
Verfahren müssen letztlich den Bürgerinnen und Bürgern
nutzen. Das sollte das entscheidende Kriterium für die
umfassende Anwendung der Computertechnik sein.
Moderne Technologien haben deshalb auch im Zivil-
prozess eine dienende Funktion bei der Verwirklichung
von Gerechtigkeit und Rechtsfrieden durch gerichtliche
Entscheidungen zu erfüllen. Bekanntermaßen tragen ins-
besondere die bestehenden Formvorschriften des BGB
den Entwicklungen des modernen Rechtsverkehrs immer
weniger Rechnung. Die Verbesserung der Kommunikati-
ons-, Dokumentations- und Informationsmöglichkeiten
bei Wahrung der prozessualen Grundrechte ist daher
– auch mit dem Blick über Deutschland hinaus – ein drin-
gendes Gebot.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 200115518
(C)
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(B)
Der heute vorliegende Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung unternimmt einen wichtigen Schritt in diese Rich-
tung. Darüber besteht sehr weitgehend Einigkeit – mit ei-
ner Ausnahme: der so genannten Textform. Wenn die
Regierungskoalition nun einschätzt, dass es zwar anfäng-
lich Skepsis gegenüber der Textform gegeben habe, man
nun aber davon überzeugt sei, sie dem Rechtsverkehr als
Option anzubieten – so noch einmal nachzulesen im Be-
richt des Rechtsausschusses –, dann darf man gespannt
sein, wie dieses Angebot in der Praxis angenommen wird,
oder bessert welche Probleme es uns bringen mag.
Nicht nur der Bundesrat hat hier bekanntlich Beden-
ken. Wenn sich von 40 kontaktierten Verbänden nur zwölf
mit einer Stellungnahme gemeldet und letztlich neun zu-
gestimmt haben, dann ist dieses Ergebnis nur relativ über-
zeugend. Und dass die Arbeitsgemeinschaft der Verbrau-
cherverbände scharfe Kritik an der Einführung der so
genannten Textform übt und sie für entbehrlich und sogar
schädlich hält, ist wenig beruhigend. Abgesehen von der
Gefahr ihrer spurenfreien Manipulierbarkeit, kann sie we-
der eine Beweis- noch eine Warnfunktion erfüllen. Wer-
den aber die mit Formzwängen verfolgten Ziele nicht er-
reicht, dann ist die Einführung einer Textform
entbehrlich. Es ist zu befürchten, dass die Textform zu
Konflikten im praktischen Rechtsleben und damit zu ver-
mehrten Rechtsstreitigkeiten führt, da die Zuordnung ei-
ner nicht signierten elektronischen Erklärung zum Ur-
heber nicht das gewährleistet, was Voraussetzung für ihre
Wirksamkeit ist. Der Erklärungsempfänger darf aber
nicht dort geschwächt werden, wo es im gleichen Umfang
wie bisher möglich ist, ihm durch die Schriftform die Ge-
wissheit zu geben, dass er es tatsächlich mit einer Er-
klärung eines dazu Berechtigten zu tun hat.
Am Ende bleibt mir nur noch, das Zustellungsreform-
gesetz zu begrüßen. Die einschlägigen Änderungen der
Zivilprozessordnung dürften in der Tat das Verfahren bei
förmlicher Zustellung im gerichtlichen Verfahren verein-
fachen und den gewandelten Lebensverhältnissen anpas-
sen. Vor allem die elektronische Übermittlung von Doku-
menten, versehen mit einer elektronischen Signatur gegen
die unbefugte Kenntnisnahme Dritter, dürfte zu einer er-
heblichen Erleichterung im Rechtsverkehr führen.
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Handel im Internet, vor einigen Jahren noch kaum
vorstellbar, wird heute für immer mehr Menschen zur
Normalität. Dies ist ein, wie ich finde, besonders ein-
drucksvolles Beispiel dafür, wie schnell neue Informati-
ons- und Telekommunikationstechnologien die Gesell-
schaft verändern.
Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die neuen Möglich-
keiten der rasch fortschreitenden Technik moderner Kom-
munikationsmittel aufzugreifen und das Recht zeitgemäß
zu gestalten.
Mit dem Gesetz zur Anpassung der Formvorschriften
des Privatrechts vollziehen wir einen weiteren längst
überfälligen gesetzgeberischen Schritt zur dringend erfor-
derlichen Modernisierung der Justiz.
100 Jahre blieben die Formvorschriften des BGB un-
verändert. Kernstück unserer bestehenden Formvor-
schriften ist und bleibt die Schriftform, die, wie jeder
Jurist weiß, als die Verwendung der eigenhändigen Un-
terschrift definiert wird. Damit ist bisher von vornherein
ausgeschlossen, dass formgebundene Erklärungen durch
Telefax oder E-Mail übermittelt werden.
Durch das vorliegende Gesetz schaffen wir nunmehr
erstens die gesetzgeberischen Voraussetzungen, um elek-
tronischen Signaturen die gleichen Rechtswirkungen wie
einer handschriftlichen Unterschrift im Privatrecht zuzu-
erkennen, und zwar so, dass jeder weiß, was auf ihn zu-
kommt, wenn er sie verwendet. Die technische Grundlage
hierfür stellt das Gesetz über Rahmenbedingungen für
elektronische Signaturen auf, das der Bundestag ja vor
vier Wochen bereits verabschiedet hat. Dort erfolgt die
technische und logistische Ausgestaltung der Signaturen.
Das BGB greift diese Vorgaben des Signaturgesetzes
auf und stellt diese so genannten qualifizierten elektroni-
schen Signaturen mit der handschriftlichen Unterschrift
funktional gleich. Dies bedeutet, dass die elektronische
Form vom Gesetzgeber als gleichwertiges Alternativ-
angebot zur bisherigen Schriftform eingeführt wird. Ich
betone, weil dieser Punkt in den Beratungen immer wie-
der angesprochen wurde: nur als Angebot, nicht als zwin-
gende gesetzliche Anordnung. Niemand wird durch das
Gesetz gezwungen, elektronische Signaturen gegen sei-
nen Willen zu verwenden.
Daneben wird zweitens durch den Gesetzentwurf eine
Textform als verkehrsfähige Form in den Allgemeinen
Teil des BGB eingestellt. Dabei handelt es sich, salopp
gesagt, um eine Schriftform ohne Unterschrift. Durch den
Verzicht auf die eigenhändige Unterschrift wird es mög-
lich, die Erklärung neben der Übermittlung als normalen
Brief auch zum Beispiel durch Telefax bzw. E-Mail zu
übermitteln.
Zur Textform hat es in den Beratungen sowohl im Bun-
desrat als auch im Bundestag Nachfragen gegeben, wenn-
gleich es mich freut, dass die Kolleginnen und Kollegen
der CDU/CSU-Fraktion trotz ihrer kritischen Haltung zur
Textform dem Gesetzentwurf insgesamt im Rechtsaus-
schuss zugestimmt und damit ein, wie ich finde, auch
rechtspolitisch wichtiges Signal gesetzt haben.
Lassen Sie mich aber an dieser Stelle noch einmal zwei
Aspekte, die mir besonders wichtig sind, hervorheben:
Erstens. Wir erfinden mit der Textform nichts Neues.
Unterschriftslose Erklärungen gibt es schon seit vielen
Jahren an ganz verschiedenen Stellen im Zivilrecht. Das
Musterbeispiel sind die Miethöheerklärungen nach § 8
Miethöhegesetz, MHG, die bei automatischer Erstellung
ohne eigenhändige Unterschrift erstellt werden können
und seit über 20 Jahren keinerlei nennenswerte Probleme
in der Praxis hervorrufen.
Zweitens. Die Feststellung, dass die Textform nicht in
gleicher Weise eine Warn- und Beweisfunktion wie die
Schriftform erfüllen kann, ist für sich genommen natür-
lich richtig. Aber dieser Einwand greift nicht, weil die
Textform gerade das ja auch überhaupt nicht leisten soll.
Der Gesetzentwurf öffnet nämlich nur solche Tatbestände
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001 15519
(C)
(D)
(A)
(B)
für die Textform, in denen es vor allem darauf ankommt,
dass der Empfänger etwas Lesbares vor sich hat, das er in
Ruhe nachvollziehen kann. Wer den Gesetzentwurf prüft,
wird feststellen, dass es sich typischerweise um einseitige
Erklärungen im Rahmen von bestehenden Vertragsver-
hältnissen oder Informationspflichten bei der Geschäfts-
anbahnung etwa im bank- und börsenrechtlichen Bereich
handelt. In diesen Fällen kommt der eigenhändigen
Unterschrift des Ausstellers gerade kein besonderer
Mehrwert zu. Die eigenhändige Unterschrift ist in diesen
Fällen vielmehr ein unnötiges Erschwernis und Nichtig-
keitsrisiko.
Lassen Sie mich nun zu einem weiteren wichtigen
Punkt kommen. Mit dem Gesetzentwurf wird auch der
elektronische Zugang zu den Gerichten geschaffen. Das
heißt, Klageschriften und bestimmte andere Schriftsätze
sollen in Zukunft auch in elektronischer Form bei Gericht
eingereicht werden können. Damit soll die Justiz endlich
Anschluss an moderne Kommunikationsmittel finden,
was auch wesentlich dazu beitragen wird, dass die Ar-
beitsabläufe effizienter werden, sodass die Richterinnen
und Richter entlastet werden und mehr Zeit haben, sich
auf ihre eigentliche Aufgabe zu konzentrieren, die Ver-
fahren zügiger geführt werden können und die Schritte für
die Bürgerinnen und Bürger vereinfacht werden. Das soll
möglichst bald geschehen – wenn es nach uns geht. Auch
das gehört zur Modernisierung der Justiz, die wir ent-
schlossen vorantreiben. Aber ich weiß natürlich, dass es
noch einige Zeit dauern wird, um die Gerichte und sons-
tigen Justizeinrichtungen mit der nötigen EDV auszurüs-
ten. Und deshalb sehen wir vor, dass der Zeitpunkt, von
dem an elektronische Dokumente bei Gericht eingereicht
werden können, und die dabei einzuhaltende Form vom
Bund und den Ländern jeweils für ihren Bereich durch
Rechtsverordnung bestimmt werden.
Mit der elektronischen Einreichung von Schriftstücken
bei Gericht ist aber nur die eine Seite der so genannten
modernen E-Justiz abgedeckt. Mit dem Beschluss über
das Gesetz zur Reform des Verfahrens bei Zustellungen
im gerichtlichen Verfahren haben wir jetzt auch die recht-
lichen Grundlagen für die andere Seite geschaffen.
Dieses Gesetz vereinfacht das seit etwa 100 Jahren in
seinen Grundzügen nahezu unveränderte gerichtliche Zu-
stellungsverfahren und passt es den gewandelten Lebens-
verhältnissen an. Das Gesetz eröffnet insbesondere Mög-
lichkeiten, die Mittel der modernen Bürokommunikation
und die Telekommunikationstechnik für die Ausführung
förmlicher Zustellungen im gerichtlichen Verfahren zu
nutzen. So kann an Adressaten, denen ein Schriftstück ge-
gen Empfangsbekenntnis zugestellt werden kann, künftig
dieses Schriftstück auch als Fernkopie, Telefax, oder als
elektronisches Dokument, E-Mail, zugestellt werden. Da-
durch kann die gerichtliche Zustellung – ohne Beein-
trächtigung der gebotenen Rechtssicherheit – vereinfacht
und der derzeit noch erhebliche Verwaltungsaufwand be-
trächtlich verringert werden.
Ein wesentliches Anliegen des Entwurfs ist der sichere
und zügige Zugang des zuzustellenden Schriftstücks an
den Adressaten. Deshalb ist unter anderem vorgesehen,
die aufwendige, für den Betroffenen umständliche und
nicht selten mit zusätzlichem Aufwand verbundene Er-
satzzustellung durch Niederlegung bei der Post spürbar zu
verringern. Künftig soll das zuzustellende Schriftstück in
den zu der Wohnung gehörenden Briefkasten eingelegt
werden können, wenn der Adressat nicht angetroffen wird
und die Übergabe in der Wohnung an einen erwachsenen
Familienangehörigen, eine in der Familie beschäftigte
Person oder einen Mitbewohner nicht möglich ist.
Im Übrigen soll der Zustellungsempfänger auch die
Möglichkeit erhalten, eine Person seines Vertrauens,
beispielsweise seinen Wohnungsnachbarn, zur Entgegen-
nahme eines zuzustellenden Schriftstücks zu bevoll-
mächtigen. Damit kann er gerade bei längerer Ab-
wesenheit von der Wohnung Vorsorge treffen, um von den
Wirkungen einer Zustellung nicht überrascht zu werden.
Ein grundsätzliches Anliegen des Entwurfs ist auch die
Vereinheitlichung des gerichtlichen Zustellungsverfah-
rens, das künftig für die ordentlichen Gerichte und die
Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichte gelten soll. Da-
durch wird die Zustellungspraxis erleichtert und die Vo-
raussetzung dafür geschaffen, dass moderne Kommuni-
kationsmedien auch und insbesondere für die Zustellung
in den Fachgerichtsbarkeiten genutzt werden können.
Und ein letzter Punkt: Auch für Zustellungen im Aus-
land ist durch die vorgesehene unmittelbare Zustellung
durch die Post eine spürbare Vereinfachung des Zu-
stellungsverfahrens zu erwarten; für den europäischen
Bereich hoffen wir bald neue Rechtsgrundlagen zu haben.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Mit diesem Paket,
das ich Ihnen hier in seinen Grundzügen vorgestellt habe,
vollziehen wir einen wesentlichen Schritt zur Vereinfa-
chung und Modernisierung unserer Rechtsordnung, so-
wohl im Privatrechtsverkehr als auch bei der Einschal-
tung der Justiz. Ich bitte Sie daher herzlich, die
Bundesregierung auf diesem Weg, der in unser aller Inte-
resse liegt, zu unterstützen und diesen beiden Gesetzent-
würfen Ihre Zustimmung zu erteilen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuordnung des Bundesdisziplinarrechts (Bdisz-
NOG) (Tagesordnungspunkt 14)
Peter Enders (SPD): Erstens. Zu Beginn meiner
Rede möchte ich den öffentlichen Dienst in seiner Ge-
samtheit als einen sehr wichtigen und positiven Standort-
faktor hervorheben. Es hört sich aber immer ganz leicht
an, nach Recht und Gesetz zu verfahren. Wenn man aus-
ländische Investoren nach Vergleichen fragt, hört man,
dass in Deutschland Anträge gründlich – für manche zu
gründlich – geprüft werden; die Entscheidungen sind aber
im Normalfall nachvollziehbar.
Der öffentliche Dienst ist in seiner Gesamtheit der
größte Arbeitgeber in Deutschland. Da verwundert es
nicht, dass es Mitarbeiter gibt, die sich nicht korrekt ver-
halten. Dies reicht vom Fehlverhalten am Arbeitsplatz
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 200115520
(C)
(D)
(A)
(B)
über das Nichtbeachten von Erlassen, grob fahrlässige
fehlerhafte Ermessensentscheidungen, privates Fehlver-
halten mit dienstlicher Ausstrahlung bis hin zur Korrup-
tion und damit zur Begehung von Straftaten.
Zweitens. Ein differenzierter Sanktionsmechanismus
gehört zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen
des Berufsbeamtentums. Die Sanktionen sollten zeitnah
und nach Möglichkeit bei Bund und Ländern einheitlich
sein.
Drittens. Gegenwärtig unterscheidet man bei Bundes-
beamten ein nicht-förmliches Verfahren, an dessen Ende
voraussichtlich ein Verweis bzw. eine Geldbuße steht, von
einem förmlichen Verfahren, bei dem ein besonderer Un-
tersuchungsführer behördenintern, unter Einschaltung
des Bundesdisziplinaranwaltes, BDiA, ermittelt. Wenn
Anschuldigungen und Beweise erheblich sind, leitet der
BDiA beim Bundesdisziplinargericht, BDiG, ein förmli-
ches Disziplinarverfahren ein. Allerdings braucht das
BDiG die Zeugen nicht neu zu vernehmen, da im förmli-
chen Verfahren die Untersuchung durch einen für das
Richteramt qualifizierten Untersuchungsführer durchge-
führt wurde. Sowohl der Betroffene als auch der BDiA
können im Rahmen der Berufung zum Bundesverwal-
tungsgericht gehen. Hier hat ein oberstes Gericht im Rah-
men der Berufung Tatsachen zu würdigen, was normaler-
weise nicht seine Aufgabe ist. Am ärgerlichsten ist es
bisher, wenn Verfahren, bei denen ein Staatsanwalt ermit-
telt, völlig ausgesetzt werden und sich die Disziplinar-
maßnahme extrem in die Länge zieht. Im Übrigen ver-
weisen Fachleute sowie Dienstvorgesetzte auf die hohen
formalen Anforderungen, die dazu führten, dass Gerichte
Verfahren für Außenstehende völlig unverständlich ein-
stellten.
Viertens. Insgesamt ist die alte Bundesdisziplinarord-
nung unübersichtlich und unstrukturiert. Lassen Sie mich
an dieser Stelle die Autoren des vorliegenden Gesetzent-
wurfes ausdrücklich loben. Alle sind sich darüber einig,
dass der Rechtsanwender nun ein systematisches und gut
strukturiertes Gesetz vor sich hat. Der Gesetzentwurf
sieht, entsprechend unserem Verständnis von Modernisie-
rung von Verwaltung, zahlreiche Maßnahmen zur Entlas-
tung der Gerichte und zur Beschleunigung von Verfahren
vor. Er sieht auch die Abschaffung des Bundesdisziplinar-
anwaltes und des Bundesdisziplinargerichtes vor. Der Ge-
setzentwurf beinhaltet aber auch eine Heilbarkeit von
Formfehlern im gerichtlichen Disziplinarverfahren. Des-
halb ist davon auszugehen, dass Dienstvorgesetzte, die
die Formalien des bisherigen Verfahrens scheuten, in Zu-
kunft bei unkorrektem Dienstverhalten härter durchgrei-
fen werden.
Fünftens. Zur Entlastung der Gerichte führt die Erwei-
terung der Sanktionsbefugnisse für Dienstvorgesetzte, die
in Zukunft laufende Gehaltskürzungen verhängen kön-
nen. Dies entspricht auch weitestgehend dem Vorgehen in
der Wirtschaft. Die Anzahl der Verfahren wird stark ver-
mindert. Ebenso führt die Verminderung der diszipli-
narisch zu verfolgenden Tatbestände aus dem privaten
Bereich zu einer Entlastung der Gerichte. Eine Be-
schleunigung von Verfahren, „damit die Strafe schneller
auf dem Fuße folgt“, erwarten wir durch die Einschrän-
kung des bisherigen stringenten Aussetzungszwanges. Es
kann nicht angehen, dass durch Prozessverschleppungen
Dritter Verfahren, zum Beispiel bei Korruption, bei denen
die Schuld des Beamten frühzeitig feststeht, unvertretbar
in die Länge gezogen werden. Außerdem werden verfah-
rensbeschleunigende Fristen – §§ 4 und 62 – eingeführt
bei gleichzeitiger Festlegung der konkreten Folgen der
Fristversäumnisse. Dies gilt sowohl für den Beamten als
auch für den Dienstherrn.
Sechstens. Ich will mich nun Einwendungen von drit-
ter Seite zuwenden. Da die Anzahl der Verfahren voraus-
sichtlich erheblich zurückgehen wird, ist die Eigenstän-
digkeit eines Spezialgerichtes, hier des BDiG, infrage zu
stellen. Ich darf darauf verweisen, dass der Jahresbericht
2000 des Bundesdisziplinaranwaltes ausweist, dass es
insgesamt nur 81 Fälle von Dienstentfernung, Aberken-
nung des Ruhegehalts und Degradierung gibt.
Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob man Spezi-
algerichte will. Wir wollen in Zukunft Disziplinarverfah-
ren von Verwaltungsgerichten durchführen lassen, die
aber in die Zuständigkeit der Länder fallen. Hauptaufgabe
von Verwaltungsgerichten ist es, Verwaltungshandeln zu
überprüfen. Das Disziplinarrecht ist Teil des Beamten-
rechts; dieses gehört zweifelsfrei zum Verwaltungsrecht.
Im Übrigen werden Streitigkeiten eines Bundesbeamten
zum Beispiel mit seiner Beihilfestelle schon heute vor den
Verwaltungsgerichten verhandelt. Bei Landesbeamten ist
ein Antrag auf Dienstentfernung bzw. Zurückstufung be-
reits heute beim Verwaltungsgericht zu stellen.
Die Übertragung von gerichtlichen Disziplinarverfah-
ren gegen Bundesbeamte, vor allem solche Verfahren, an
deren Ende Zurückstufung bzw. Dienstentfernung stehen
soll, auf die Verwaltungsgerichte der Länder wird mehr
Gerechtigkeit vor Ort bringen, zum Beispiel in dem Fall,
wenn ein Polizist, der Landesbeamter ist, und ein BGS-
Beamter des gleichen Deliktes beschuldigt werden. Da
das Bundesverwaltungsgericht demnächst auch im Diszi-
plinarrecht Revisionsgericht wird, besteht die Möglich-
keit, dass die Länder ihrerseits in ihren landesrechtlichen
Verfahren das Bundesverwaltungsgericht ebenfalls als
Revisionsinstanz vorsehen. Dies hat zur Folge, dass eine
einheitliche Revisionsrechtssprechung für Bundes- und
Landesbeamte entstehen kann.
Die Disziplinarkammern bei Verwaltungsgerichten
und die Disziplinarsenate bei Oberverwaltungsgerichten
bestehen bereits heute für die Landesbediensteten. Mit
wesentlichen Mehrkosten der Länder ist nicht zu rechnen,
da – wie vorhin schon ausgeführt – mit wenig Fällen von
Bundesbeamten vor den Verwaltungsgerichten zu rech-
nen ist. Außerdem stimme ich der Stellungnahme der
Bundesregierung in ihrer Antwort auf den Bundesrat zu,
dass die Vorteile, Standort für eine Bundesbehörde zu sein
mit den begrenzten Mehrkosten, in Zusammenhang mit
dem Disziplinarverfahren zu sehen sind.
Das Gegenargument, es wird wenig aus dem behördli-
chen Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht landen,
überzeugt nicht. Sicher gibt es keinen dem für Vergehen
im Straßenverkehr geltenden Bußgeldkatalog adäqua-
ten Katalog für Geldbußen und Gehaltskürzungen. Es
bleibt beim klassischen verwaltungsrechtlichen Ablauf:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001 15521
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Bescheid, Widerspruch, Klage, Berufung bzw. Revision
falls zugelassen.
Meines Erachtens sollte die beim BMI anzusiedelnde
Servicestelle nicht nur die Verwaltungsgerichtsurteile sam-
meln, sondern sich auch einen Überblick über Strafen im
behördlichen Verfahren erstellen. Darauf, dass die Geld-
bußen für ein vergleichbares Fehlverhalten für Bundesbe-
amte der gleichen Berufsgruppe nicht zu weit auseinander
gehen, werden die Berufsverbände schon aufpassen.
Siebtens. Auch wird kritisiert, dass die Verfahren bei
Verwaltungsgerichten länger dauern als beim BDiG.
Allerdings sagen Durchschnittswerte über Verfahrens-
dauer nichts aus. Zusätzlich muss man beachten, dass
BDiA und BDiG personell gut ausgestattet sind. Insoweit
vergleicht man hier Äpfel mit Birnen. Das vorliegende
BDG regelt den Vorrang dieser Verfahren bei den Verwal-
tungsgerichten.
Achtens. Welche Auswirkungen wird das neue Verfah-
ren auf den sensiblen Bereich der Korruptionsbekämp-
fung haben? Es wurde behauptet, weil der BDiA und das
BDG wegfallen, sei eine Kontrolle der Exekutive nicht
mehr möglich. Dabei wurde unterstellt, dass der BDiA
Korruptionsfälle auch aufdeckt. Diese Behörde hat mei-
ner Kenntnis nach jedoch keinen einzigen Korruptionsfall
aufgedeckt.
Wenn Korruptionsverdacht gegeben ist bzw. dieser mit
Hilfe der unabhängigen Presse bekannt geworden ist,
kann kein Behördenleiter bzw. Dienstvorgesetzter mehr
wegsehen. Ich habe darauf hingewirkt, dass im §17 BDG
die eigentliche Selbstverständlichkeit hineingeschrieben
wurde, „... dass jeder Dienstvorgesetzte bei Verdacht ei-
nes Dienstvergehens die Dienstpflicht hat, ein Verfahren
einzuleiten ...“. Jeder höhere Dienstvorgesetzte und die
oberste Dienstbehörde haben im Rahmen ihrer Aufsicht
sicherzustellen, dass die oben genannte Dienstpflicht
auch eingehalten wird. Auch eine Einstellung unterliegt
strengen Regularien, sodass in der heutigen Medienwelt
jeder Vorgesetzte, insbesondere oberste Dienstvorge-
setzte, davon ausgehen muss, dass „nichts einfach unter
den Teppich gekehrt werden kann“. Und das ist gut so.
Viel wichtiger bei der Korruptionsbekämpfung ist, pro-
phylaktisch vorzugehen, wie zum Beispiel Anti-Korrupti-
onsabteilungen zu schaffen, Vorsorge an korruptionsan-
fälligen Arbeitsplätzen zu treffen, das Rechnungswesen
mithilfe von Kennziffern so aufzubauen, dass zumindest
gravierende Ungereimtheiten auffallen. Insoweit ist der
jeweils oberste Dienstvorgesetzte ein Anwalt des Bundes
in Disziplinarangelegenheiten.
Neuntens. Vergessen wir nicht die betroffenen Beam-
ten. Wie bereits ausgeführt wurde, ist eine alte Forderung
verwirklicht worden. Es werden weniger Tatbestände aus
dem privaten Bereich eines Beamten dienstlich zusätzlich
geahndet. Bislang dürfte neben der Verhängung einer
Strafe durch das Strafgericht nur ein Verweis nicht ver-
hängt werden. Künftig ist es gemäß § 14 auch verboten,
zusätzlich eine disziplinarrechtliche Geldbuße zu verhän-
gen. Der Grundgedanke lautet: Außerdienstliche Verge-
hen interessieren dann, wenn das private Fehlverhalten
Zweifel an einem korrektem dienstlichen Verhalten auf-
kommen lässt. Ich denke hier an einen wegen Trunkenheit
verurteilten Auto fahrenden BGS-Beamten, der dienstlich
Streife fährt. Dagegen ist ein Warenhausdiebstahl eines
BGS-Beamten – so verwerflich er auch ist – im Normal-
fall dienstlich ohne Nachteil. Allerdings bleibt es dabei:
Bei Urteil in Strafsachen von über einem Jahr folgt
zwingend Entfernung aus dem Dienst. Außerdem wies ich
schon auf die Möglichkeit von Landesbeamten hin, in
Zukunft euch bis zum Bundesverwaltungsgericht zu
kommen.
Das neue BDG sieht die Möglichkeit eines Beistandes
– dies kann ein Personalratsmitglied sein – schon im
behördlichen Verfahren vor. Falls keine Disziplinarverfü-
gung erlassen wird, kommt es zur Kostenerstattung durch
die Behörde, zum Beispiel für Anwälte. Da während eines
Disziplinarverfahrens in der Regel keine Beförderung
stattfindet, ist es richtig, dass der betreffende Beamte
gemäß § 62 BDG auch aufs Tempo drücken kann. In ei-
nem behördlichen Disziplinarverfahren, das nicht inner-
halb von sechs Monaten seit der Einleitung durch Erlass
einer Disziplinarverfügung oder Erhebung der Diszipli-
narklage abgeschlossen wurde, kann der betreffende Be-
amte bei dem Gericht eine Fristsetzung zum Abschluss
des Verfahrens beantragen.
Die Verbände weisen darauf hin, dass durch die Zu-
nahme der Entscheidungsmöglichkeiten auf unmittelbare
Dienstvorgesetzte mehr Möglichkeiten des Missbrauchs
entstehen. Hier vertraue ich starken Personalräten.
Zehntens. Alles in allem ist mit dem Gesetz die Mög-
lichkeit gegeben, schneller und möglichst vor Ort Fehl-
verhalten zu ahnden, gleichzeitig die Rechte der vor allem
unschuldig verdächtigten Beamten zu stärken, ohne im
Kampf gegen Korruption nachzulassen. Ich bitte um Zu-
stimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf in der Fas-
sung des Innenausschusses.
Meinrad Belle (CDU/CSU):Mit dem heute in zweiter
und dritter Lesung zu verabschiedenden Gesetz zur Neu-
ordnung des Bundesdisziplinarrechtes soll nicht eine
Reform einzelner Bestandteile, sondern eine komplette
Gesetzesreform realisiert werden. Umfassende verfah-
rensrechtliche und institutionelle Veränderungen sollen
das Disziplinarrecht effektiver und kostengünstiger ma-
chen und gleichzeitig den rechtsstaatlichen Standard der
betroffenen Beamten verbessern.
Der Aufbau des Gesetzes wird klarer strukturiert und
damit die Anwendung erleichtert. Dazu erfolgt unter an-
derem eine Trennung zwischen behördlichem und ge-
richtlichem Disziplinarverfahren. Ferner gibt es beim
behördlichen Verfahren einen Verzicht auf die Unter-
scheidung zwischen „nicht förmlichen“ und „förmlichen“
Verfahren. Stattdessen wir es ein einheitliches und damit
schnelleres Verfahren geben, bei dem die Ermittlungen
des Sachverhalts im Vordergrund stehen. Das Ermitt-
lungsergebnis ist dann Grundlage sowohl für den Erlass
einer Disziplinarverfügung als auch für die Eröffnung ei-
ner Disziplinarklage beim Verwaltungsgericht. Darüber
hinaus soll das Verfahren beschleunigt werden durch Fris-
tenverkürzung und Straffung der Verfahrensabläufe.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 200115522
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Zur Beschleunigung der Disziplinarverfahren und
auch zur Reduzierung der Zahl der gerichtlichen Verfah-
ren wird die Stärkung der Stellung des Dienstvorgesetzten
führen. Er erhält zusätzlich die Befugnis zur Verhängung
von Gehalts- und Pensionskürzungen um maximal
20 Prozent. Gleichzeitig wird ihm aber auch die Dienst-
pflicht auferlegt, ein Disziplinarverfahren dann einzu-
leiten, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte
vorliegen, die den Verdacht eines Dienstvergehens recht-
fertigen. Der höhere Dienstvorgesetzte und die oberste
Dienstbehörde haben im Rahmen ihrer Aufsicht die Er-
füllung dieser Dienstpflichten sicherzustellen.
Die gerichtlichen Disziplinarverfahren werden künftig
auf die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit übertra-
gen; damit wird auch der dreistufige Instanzenzug einge-
führt sowie eine einheitliche Revisionsinstanz für Bun-
des- und Landesdisziplinarverfahren geschaffen. Daraus
folgt die Abschaffung von Bundesdisziplinaranwalt und
Bundesdisziplinargericht.
Die Vorarbeiten zu diesem Gesetzentwurf haben be-
reits in der letzten Legislaturperiode – noch zu unserer
Regierungszeit – begonnen. Eine Bund-Länder-Arbeits-
gruppe hatte bereits 1997/98 gemeinsame Standards für
ein neues Disziplinarrecht erarbeitet. Die neue Bundes-
regierung und die sie tragenden Koalitionsparteien haben
diese Vorarbeiten inhaltlich und konzeptionell nahezu un-
verändert in den heute zu verabschiedenden Gesetzent-
wurf übernommen. Daher wird dieser Entwurf auch von
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mitgetragen.
In den ausführlichen Beratungen wurde insbesondere
die Abschaffung von Bundesdisziplinargericht – 33 Be-
troffene – und Bundesdisziplinaranwalt – 24 Betroffene –
durch die Übertragung auf die Verwaltungsgerichtbarkeit
intensiv diskutiert. Bei unserem zustimmenden Votum hat
unter anderem auch eine Rolle gespielt, dass die Verwal-
tungsgerichte auch bisher schon für die Disziplinar-
verfahren gegen Landesbeamte zuständig sind. Hinzu
kommt, dass die Zahl der Disziplinarverfahren insgesamt
durch den bei den privatisierten Unternehmen Bahn, Post,
Telekom und Postbank weiterhin vorgenommenen Perso-
nalabbau rückläufig ist. In den letzten fünf Jahren wurden
durch Entscheidungen der Disziplinargerichte jährlich
weniger als 500 Verfahren erledigt. Wie bereits erwähnt,
ist durch die erweiterte Zuständigkeit der Dienstvorge-
setzten von einem weiteren Rückgang auszugehen.
Auch das Argument, dass die Korruptionsbekämpfung
durch das neue Disziplinarrecht erschwert würde, konnte
uns bei der Beratung nicht überzeugen. Nach dem Jahres-
bericht 1999 hatte der Bundesdisziplinaranwalt im
Schnitt der Jahre von 1995 bis 1999 gerade einmal jähr-
lich zwölf Korruptionsfälle zu bearbeiten.
Zusammenfassend stelle ich fest, dass wir uns im Vor-
feld, aber auch während der Ausschussberatungen sehr in-
tensiv mit der Neuregelung des Disziplinarrechtes be-
schäftigt haben. Dies führte im Innenausschuss und auch
heute bei der abschließenden zweiten und dritten Lesung
zur Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion.
Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das bestehende Disziplinarrecht ist reformbedürf-
tig. Neben dem Bundesrecht besteht eine Vielzahl unter-
schiedlicher Länderregelungen, mit dem Entwurf existiert
ein Modell auch für die Länder. Etliche Länder haben be-
reits Übernahmebereitschaft signalisiert. Weiter ist das
geltende Disziplinarrecht unübersichtlich aufgebaut und
in verfahrensrechtlicher Hinsicht oft nicht praktikabel. So
finden sich beispielsweise Regelungen zum gerichtlichen
Verfahren zwischen den Vorschriften zum behördlichen
Verfahren.
Der nun vorliegende Entwurf ist geeignet, diese Pro-
bleme zu beseitigen und das Verfahren dort hinzuführen,
wo es hingehört: Das Verfahren wird als beamtenrechtli-
ches Verwaltungsverfahren ausgestaltet. Gerichtliche Dis-
ziplinarverfahren werden vor den Verwaltungsgerichten
ausgetragen; damit einher geht die Abschaffung des Bun-
desdisziplinargerichts als eigenständiges Gericht. Damit
können auch Kosten eingespart werden. Der Rechtsweg
wird vereinheitlicht nach den in der Verwaltungsgerichts-
barkeit üblichen Grundsätzen: Erste Instanz Verwaltungs-
gericht, Zweite Instanz OVG, Revision beim Bundesver-
waltungsgericht. Besonders wichtig ist aber, dass durch
diese Neukonzeption erstmals eine Vereinheitlichung der
Rechtsprechung im Disziplinarrecht erreicht werden kann,
weil den Ländern über § 187 Abs. 1 der Verwaltungsge-
richtsordnung ermöglicht wird, das Bundesverwaltungs-
gericht als Revisionsinstanz zu bestimmen, so dass sowohl
für Bundes- als auch für Landesbeamte eine einheitliche
Revisionsinstanz mit einheitlichen Maßstäben entstehen
kann.
Die derzeitige Bindung des Disziplinarrechts an das
Strafprozessrecht ist nicht mehr zeitgemäß, es geht ja
nicht um strafrechtliche Sanktionen – die eventuell paral-
lel von der Staatsanwaltschaft eingeklagt werden kön-
nen –, sondern um beamtenrechtliche Fragen. Diese sind
nach der allgemeinen Systematik des Gesetzes nach dem
Verwaltungsverfahrensrecht und dem Verwaltungspro-
zessrecht zu behandeln, sodass durch die Neuordnung des
Disziplinarrechts der Eindruck eines Sonderstrafrechts
für Beamte aufgehoben wird.
Zuletzt noch einige Bemerkungen zu der mit der Re-
form verbundenen Abschaffung der Institution des Bun-
desdisziplinaranwalts. Dieser ist entsprechend der Neure-
gelung entbehrlich.
Soweit insbesondere ein Verband die Aufrechterhal-
tung zur Bestechungsbekämpfung erachtet hat, können
mich dessen Argumente nicht überzeugen. Ist ein Dienst-
vergehen zugleich eine Straftat, ist für strafrechtliche Er-
mittlungen ohnedies auch der Staatsanwalt zuständig. Um
sicherzustellen, dass bei Anlass auch tatsächlich ein Dis-
ziplinarverfahren eingeleitet wird, wurde das Legalitäts-
prinzip dahin gehend konkretisiert, dass der Dienstvorge-
setzte ein Disziplinarverfahren einzuleiten hat, wenn
Anhaltspunkte hierfür bestehen.
Ich bin zuversichtlich, dass sich die Neuordnung des
Disziplinarrechts in der Praxis bewähren wird. Es wurde
ein effektives, kostensparendes Instrumentarium geschaf-
fen, dass zu einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001 15523
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führen wird, ohne seine Wirksamkeit bei der Sanktionie-
rung von Dienstvergehen einzubüßen.
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (F.D.P.): Wir halten
eine Neuordnung des Disziplinarrechts grundsätzlich für
richtig. Der Verfahrensgang nach bisherigen Recht er-
scheint uns zu schwerfällig und daher reformbedürftig.
Einen – wie vorliegend vorgesehen – einfacheren Ablauf
von Disziplinarverfahren bei gleichzeitiger Wahrung aller
Rechte der Betroffenen begrüßt die F.D.P. daher aus-
drücklich.
Strittig war in der Fachdiskussion die Abschaffung der
Institution des Bundesdisziplinaranwalts. Hier ist darauf
zu verweisen, dass schon in der letzten Legislaturperiode
die Sachverständigenkommission „Schlanker Staat“ vor-
geschlagen hat, künftig auf diese Institution zu verzichten.
Die F.D.P. hat damals diese Auffassung geteilt. Wir tragen
die Umsetzung dieses Vorschlags durch das heute zu bera-
tende Gesetz weiterhin mit, zumal die bisher vom Bun-
desdisziplinaranwalt erfüllten Aufgaben zum Teil – näm-
lich soweit notwendig – nicht wegfallen, sondern vom
Bundesinnenministerium wahrgenommen werden.
Somit ist dem Gesetzentwurf in seinen Zielsetzungen
„Verfahrensvereinfachung“ und „Beitrag zum schlanken
Staat“ prinzipiell zuzustimmen.
Dabei erwartet die F.D.P.-Fraktion, dass die Befürch-
tungen, die Korruptionsbekämpfung könnte unter der
Neuregelung leiden, sich nicht erfüllen werden. Selbst-
verständlich ist und bleibt es unser Anliegen, jeder Form
von Korruption energisch entgegenzutreten. Die diesbe-
züglichen straf- und strafverfahrensrechtlichen Instru-
mentarien sind deshalb in der letzten Legislaturperiode
von der damaligen CDU/CSU/F.D.P.-Koalition verschärft
worden. Das Disziplinarrecht ist ein Baustein bei der Kor-
ruptionsbekämpfung und wird es unserer Meinung nach
auch mit der Neufassung bleiben. Es wird aber notwendig
sein, die praktischen Auswirkungen des neuen Gesetzes
gerade in diesem Punkt besonders aufmerksam zu beo-
bachten.
Dass wir der Reform dennoch nicht zustimmen kön-
nen, liegt am Verhalten der Koalitionsfraktionen und der
Bundesregierung. Von Praktikern sind – zwar spät, aber
immerhin – Bedenken erhoben worden, die nach Auffas-
sung der F.D.P. noch gründlicher hätten erörtert werden
müssen. Insbesondere wird die Gefahr gesehen, dass die
Rechtseinheit bei der Anwendung des neuen Disziplinar-
verfahrens leiden könnte. Es wäre angemessen gewesen,
diese und andere Kritikpunkte in einer Sachverständigen-
anhörung zu überprüfen. Dazu war die Koalition nicht be-
reit. Die F.D.P.-Fraktion verfügt nicht über die notwen-
dige Sperrminorität zur Durchsetzung einer solchen
Anhörung.
Schließlich gibt es eine merkwürdige Diskrepanz im
Verhalten der Bundesregierung. Bei der Neuordnung des
Wehrdisziplinarrecht beharrt die Bundesregierung auf
dem Wehrdisziplinaranwalt. Dazu im Gegensatz steht der
vorliegende Gesetzentwurf mit der – an sich richtigen –
Abschaffung des Bundesdisziplinaranwalts. Es wäre Sa-
che der Bundesregierung und der Koalition gewesen, hier
zunächst für eine einheitliche Linie zu sorgen. Die F.D.P.-
Fraktion hat keinen Anlass, diese Unstimmigkeiten zwi-
schen einzelnen Ministerien und innerhalb der Koalition
mitzutragen. Dies führt insgesamt zur Stimmenthaltung.
Petra Pau (PDS): Den Entwurf der Bundesregierung
für ein Gesetz zur Neuordnung des Bundesdisziplinar-
rechts werden wir ablehnen. An dem Gesetzentwurf sind
zahlreiche Punkte zu kritisieren, vor allem die folgenden
vier: die geplante Abschaffung des Bundesdisziplinaran-
waltes, die Übertragung der gerichtlichen Zuständig-
keit auf die Verwaltungsgerichte, die Regelung des
Verfahrensrechts in Anlehnung an die Verwaltungsge-
richtsordnung und nicht an die Strafprozessordnung und
der geplante Nachrichtenaustausch zwischen mehreren
Dienstherren.
Die bisherige Bundesdisziplinarordnung sieht den Bun-
desdisziplinaranwalt vor, der die einheitliche Ausübung
der Disziplinargewalt sichern und das Interesse des öf-
fentlichen Dienstes und der Allgemeinheit in jeder Lage
des Verfahrens wahrnehmen soll. Funktion des Bundes-
disziplinaranwaltes ist es somit, einer zu milden Aus-
übung der Disziplinargewalt durch den Dienstvorgesetz-
ten entgegenzuwirken und auch der Korruption im
öffentlichen Dienst wirksam zu begegnen. Diese Institu-
tion soll nun nach dem Willen der Regierungsfraktionen
wegfallen.
Dies, so die gegen Korruption kämpfende Organisation
Transparency International, „stellt die Ermittlung und
Verfolgung gerade im Bereich der Korruption praktisch in
das Belieben der Behörde“. Gerade in Fällen, in denen
Dienstvorgesetzte entweder vom Verhalten ihrer Mitar-
beiter wussten und dies geduldet haben oder ihrer Auf-
sichtspflicht nicht in gebotenem Maße nachgekommen
sind, werden die Dienstvorgesetzten ohne Druck von
Außen keine Ermittlungen einleiten. Daher erscheint eine
institutionell selbstständige Behörde wie der Bundes-
disziplinaranwalt, die alleine diesen Druck ausüben kann,
weiterhin erforderlich.
Auch das Argument, mit der Abschaffung des förmli-
chen Disziplinarverfahrens durch die Neuregelung sei
die Grundlage für eine weitere Arbeit des Bundesdiszipli-
naranwaltes entfallen, vermag nicht zu überzeugen. Die
Tätigkeit des Bundesdisziplinaranwaltes geht über die
Teilnahme am förmlichen Disziplinarverfahren hinaus
und umfasst auch die Beratungstätigkeit und die Beteili-
gung am nichtförmlichen Verfahren. Gerade im Bereich
der Korruptionsbekämpfung ist es wichtig, dass ein
einheitliches Vorgehen über die Grenzen der einzelnen
Behördenzuständigkeiten hinaus gewährleistet ist.
Die in der Begründung des Gesetzentwurfes genannte
„Service-Stelle“, die noch nicht einmal im Gesetz selbst
auftauchen würde, könnte den durch den Wegfall des
Bundesdisziplinaranwalts eintretenden Mangel nicht be-
heben. Ihre Kompetenzen sind völlig unklar und entspre-
chen keineswegs den Erfordernissen. Deshalb ist nach
Ansicht der PDS der Bundesdisziplinaranwalt nicht nur
beizubehalten, sondern auch mit einem Initiativrecht für
den Fall auszustatten, dass ein Dienstvorgesetzter untätig
bleibt.
Ein weiterer Punkt ist, dass die bisherige gerichtliche
Zuständigkeit der Bundesdisziplinargerichte – dem Bun-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 200115524
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desdisziplinargericht in Frankfurt/M. und dem Bun-
desverwaltungsgericht – in Disziplinarsachen durch die
Neuregelung auf die Verwaltungsgerichte übertragen
werden soll. Es ist nicht anzunehmen, dass die Landesjus-
tizverwaltungen die ohnehin überlasteten Verwaltungsge-
richte mit zusätzlichen personellen und materiellen
Ressourcen ausstatten werden. Daherigen Zeiten kaum
noch vermittelbarer Rechtszustand, der auf jeden Fall ab-
gestellt werden sollte.
Der Rechtsschutz gegen die Disziplinarverfügung wird
ebenfalls dem normalen, also dem verwaltungsgericht-
lichen Verfahren angepasst. Hierdurch werden entschei-
dende Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten des bishe-
rigen Rechtsschutzsystems beseitigt.
Die aufgezeigten grundlegenden inhaltlichen Neue-
rungen durch weitgehende Angleichung an die normalen
Verwaltungs- und Gerichtsverfahren machen auch zwei
institutionelle Veränderungen unabdingbar. Sie betreffen
zunächst den Bundesdisziplinaranwalt, der mit der Ab-
schaffung des förmlichen Disziplinarverfahrens seine we-
sentlichen Aufgaben verliert. Wie traditionell bereits alle
Länder verzichtet auch der Bund auf das Vorhalten einer
derartigen Spezialbehörde und stärkt damit zugleich die
Kompetenz der Dienstvorgesetzten.
Darüber hinaus ist aber auch das Vorhalten einer eige-
nen Gerichtsbarkeit, nämlich des Bundesdisziplinarge-
richts, nur für die Disziplinarverfahren des Bundes nicht
mehr zeitgemäß. Bei den gerichtlichen Disziplinarver-
fahren handelt es sich um öffentlich-rechtliche Streitigkei-
ten, die demgemäß vor die Verwaltungsgerichtsbarkeit
gehören. Die Länder haben dies übrigens schon lange vor-
gelegt und selbst unter Geltung des alten Verfahrensrechts
diese Verfahren der Verwaltungsgerichtsbarkeit übertra-
gen. Für den Bund wird dieser Schritt jedenfalls jetzt un-
abweisbar, wo die Verfahren nach der Verwaltungsge-
richtsordnung abgewickelt werden und die bisherige
Struktur mit dem Bundesdisziplinargericht als erster und
dem Bundesverwaltungsgericht als zweiter Tatsachen-
instanz mit dem dreiinstanzlichen Rechtszug der VwGO
nicht mehr kompatibel ist.
Da künftig die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Bundes-
und Landesdisziplinarsachen zuständig sein wird, kann
sich in dieser Rechtsmaterie endlich auch eine einheitli-
che Rechtsprechung für Bund und Länder entwickeln,
was gerade angesichts des weitgehend übereinstimmen-
den Pflichtenkreises von Bundes- und Landesbeamten
unverzichtbar ist. Auf das Bundesverwaltungsgericht als
Revisionsgericht wird hier sicherlich eine wichtige Auf-
gabe zukommen – und dies, sofern die Länder dies wün-
schen, auch für die landesrechtlichen Verfahren.
Die aufgezeigten Punkte belegen meines Erachtens
eindrucksvoll, dass der Bund im Rahmen der vorliegen-
den Reform keineswegs kosmetische Korrekturen vor-
nimmt, sondern dass er dem zu Beginn der vorliegenden
Reform gesetzten Ziel gerecht wird und in der Tat ein
überkommenes Rechtsgebiet grundlegend neu ordnet. Ich
glaube, dass wir damit einen wichtigen Beitrag zur Justiz-
und Verwaltungsmodernisierung geleistet haben.
Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Die Modernisierung der Verwal-
tung und Rechtspflege ist ein zentrales Anliegen der Bun-
desregierung. Eine solche Modernisierung kann am Dis-
ziplinarrecht nicht vorbeigehen.
Das geltende Disziplinarrecht in der Gestalt der Bun-
desdisziplinarordnung von 1967 beruht im Wesentlichen
auf überkommenen Strukturen, die schon lange nicht
mehr zeitgemäß sind. Die Verfahren sind in der Praxis oft-
mals sehr umständlich und dauern viel zu lange. Darüber
hinaus werden die Disziplinarverfahren immer noch nach
überwiegend strafrechtlichen Grundsätzen abgewickelt,
so als befänden wir uns immer noch im alten Dienststraf-
recht. Aufgabe des Disziplinarrechts aber ist es nicht, zu
strafen, sondern für die Funktionsfähigkeit der öffentli-
chen Verwaltung Sorge zu tragen.
Diesem Ziel verpflichtet beschreitet die Bundesregie-
rung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf bewusst neue
Wege. Sie strebt ein rechtsstaatliches Disziplinarrecht an,
welches in die heutige Zeit passt und an dem Ziel einer
modernen und effektiven Verwaltung und Rechtspflege
orientiert ist.
Ich darf zunächst auf einige wesentliche Neuerungen
des Gesetzentwurfs hinweisen: Das Disziplinarrecht soll
künftig in erster Linie nach den Grundsätzen des Verwal-
tungsverfahrensgesetzes und der Verwaltungsgerichts-
ordnung ausgerichtet werden. Dies macht deutlich, was
Disziplinarrecht ist, nämlich Verwaltungsrecht und nicht
Strafrecht.
Bei der Ausgestaltung des behördlichen Disziplinarver-
fahrens soll auf die bisherige Aufteilung in ein nicht förm-
liches und ein förmliches Verfahren verzichtet werden.
Stattdessen ist ein einheitliches Verwaltungsverfahren vor-
gesehen, in dem der Sachverhalt umfassend aufgeklärt
wird. Hierdurch wird ein doppelter Ermittlungsaufwand
vermieden und so eine nicht unerhebliche Beschleunigung
des Verfahrens herbeigeführt.
Auf die Einrichtung des unabhängigen Untersuchungs-
führers – in einer Zeit entstanden, als die heute selbstver-
ständlichen rechtsstaatlichen Garantien vor allem des ge-
richtlichen Verfahrens noch keineswegs gewährleistet
waren – soll verzichtet werden.
Die Disziplinarbefugnis der Dienstvorgesetzten soll
– ebenfalls im Interesse der Beschleunigung – erweitert
und deren Kompetenz insgesamt deutlich gestärkt werden.
Das gerichtliche Disziplinarverfahren erfährt durch
den Entwurf ebenfalls wichtige rechtsstaatliche Verbesse-
rungen. Zu nennen ist hierbei vor allem die Einführung
der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Sie sollte in ei-
nem Rechtsstaat eigentlich selbstverständlich sein, ist es
im Disziplinarrecht bislang aber leider nicht. Nach altem
Recht kann sich das Verwaltungsgericht sogar bei der Dis-
ziplinarmaßnahme der Entfernung aus dem Dienst auf
Beweise beziehen, die zuvor lediglich durch den Unter-
suchungsführer, also im Verwaltungsverfahren, erhoben
worden sind. Dies ist ein in heutigen Zeiten kaum noch
vermittelbarer Rechtszustand, der auf jeden Fall abge-
stellt werden sollte.
Der Rechtsschutz gegen die Disziplinarverfügung wird
ebenfalls dem normalen, also dem verwaltungsgericht-
lichen Verfahren angepasst. Hierdurch werden entschei-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 2001 15525
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(D)
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dende Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten des bishe-
rigen Rechtsschutzsystems beseitigt.
Die aufgezeigten grundlegenden inhaltlichen Neue-
rungen durch weitgehende Angleichung an die normalen
Verwaltungs- und Gerichtsverfahren machen auch zwei
institutionelle Veränderungen unabdingbar. Sie betreffen
zunächst den Bundesdisziplinaranwalt, der mit der Ab-
schaffung des förmlichen Disziplinarverfahrens seine we-
sentlichen Aufgaben verliert. Wie traditionell bereits alle
Länder verzichtet auch der Bund auf das Vorhalten einer
derartigen Spezialbehörde und stärkt damit zugleich die
Kompetenz der Dienstvorgesetzten.
Darüber hinaus ist aber auch das Vorhalten einer eige-
nen Gerichtsbarkeit, nämlich des Bundesdisziplinarge-
richts, nur für die Disziplinarverfahren des Bundes nicht
mehr zeitgemäß. Bei den gerichtlichen Disziplinarver-
fahren handelt es sich um öffentlich-rechtliche Streitigkei-
ten, die demgemäß vor die Verwaltungsgerichtsbarkeit
gehören. Die Länder haben dies übrigens schon lange vor-
gelegt und selbst unter Geltung des alten Verfahrensrechts
diese Verfahren der Verwaltungsgerichtsbarkeit übertra-
gen. Für den Bund wird dieser Schritt jedenfalls jetzt un-
abweisbar, wo die Verfahren nach der Verwaltungsge-
richtsordnung abgewickelt werden und die bisherige
Struktur mit dem Bundesdisziplinargericht als erster und
dem Bundesverwaltungsgericht als zweiter Tatsachen-
instanz mit dem dreiinstanzlichen Rechtszug der VwGO
nicht mehr kompatibel ist.
Da künftig die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Bundes-
und Landesdisziplinarsachen zuständig sein wird, kann
sich in dieser Rechtsmaterie endlich auch eine einheitli-
che Rechtsprechung für Bund und Länder entwickeln,
was gerade angesichts des weitgehend übereinstimmen-
den Pflichtenkreises von Bundes- und Landesbeamten
unverzichtbar ist. Auf das Bundesverwaltungsgericht als
Revisionsgericht wird hier sicherlich eine wichtige Auf-
gabe zukommen – und dies, sofern die Länder dies wün-
schen, auch für die landesrechtlichen Verfahren.
Die aufgezeigten Punkte belegen meines Erachtens
eindrucksvoll, dass der Bund im Rahmen der vorliegen-
den Reform keineswegs kosmetische Korrekturen vor-
nimmt, sondern dass er dem zu Beginn der vorliegenden
Reform gesetzten Ziel gerecht wird und in der Tat ein
überkommenes Rechtsgebiet grundlegend neu ordnet. Ich
glaube, dass wir damit einen wichtigen Beitrag zur Justiz-
und Verwaltungsmodernisierung geleistet haben.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung: Sam-
melübersicht 217 zu Petitionen (Verbot von poli-
tischen Parteien und Organisationen) (Tagesord-
nungspunkt 15)
Reinhold Hiller (Lübeck) (SPD): Die Arbeit im Peti-
tionsausschuss ist ein guter Gradmesser für die drängen-
den politischen Themen in unserem Land, die sozialen
Probleme und die beschwerenden Ärgernisse mit der Ver-
waltung, die die Menschen vor Ort haben, die sie bewe-
gen. Besonders reizvoll ist für mich als langjähriges Mit-
glied des Petitionsausschusses immer wieder die Vielfalt
der dort behandelten Sachfragen. Die Sammelübersicht
217 ist dabei ein gutes Beispiel für die Arbeit des Petiti-
onsausschusses.
Gegenstand einer der heute behandelten Eingaben ist
eine Sammelpetition von 25 Unterzeichnern aus dem
Raum Celle. Die Abgeordneten des Deutschen Bundesta-
ges sollen die Bundesregierung auffordern, das Verbot der
kurdischen Arbeiterpartei, der PKK, aufzuheben und für
das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes und
eine friedliche Lösung des Konfliktes einzutreten.
Mit dem vorliegenden zur Abstimmung stehenden Än-
derungsantrag will die PDS die Berücksichtigung der Pe-
tition erreichen. Der Petitionsausschuss hatte in seiner Sit-
zung vom 15. Oktober 2000 keine Abhilfegründe gesehen
und gegen die Stimmen der PDS den Abschluss der Peti-
tion empfohlen. Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt die-
sen Antrag ab und befürwortet das vorliegende Petitions-
verfahren abzuschließen.
Die PDS macht sich mit ihrem Antrag zum Handlanger
einer kurdischen Kaderpartei, die in ihrer Programmatik
und inneren Struktur der SED oder der KPdSU und nicht
einer demokratischen Organisation, die sich in einen de-
mokratischen Prozess einordnet, ähnelt. Sie übernimmt
kritiklos und ohne politische Distanz die politische Pro-
paganda der PKK. In der Antragsbegründung wird gar
von einer „völkerrechtswidrigen Verbringung des Präsi-
denten der PKK, Öcalan, in die Türkei“, von einer „Ein-
stellung der bewaffneten Gegenwehr gegen die türkische
Politik“ und von einem „Guerrilla-Kampf“ gesprochen.
Die Antragsteller versteigen sich dabei zu der Behaup-
tung, dass sie die Erklärung der PKK, die Partei und ihre
Kader würden sich zukünftig in unserem Land an Recht
und Gesetz in unserem Land halten, für glaubwürdig ein-
schätzen. Sie stellen gar fest, es bestünden keine vernünf-
tigen Zweifel an einer Änderung der Politik der PKK.
Die laufenden Ermittlungsverfahren und die abge-
schlossenen Strafverfahren sprechen eine deutliche
Sprache.
Die PDS führt weiter aus, dass „die Beibehaltung des
Verbots die Distanz und das Misstrauen der kurdischen
Bevölkerung gegenüber den deutschen Behörden vertie-
fen“. Diese Behauptung weisen wir entschieden zurück.
Es besteht gegenwärtig kein Anlass dafür, die Bundesre-
gierung aufzufordern, das Verbot der PKK aufzuheben.
Die PKK gefährdet auch nach der Verurteilung des PKK-
Führers Öcalan den inneren Frieden in unserem Land.
Ich verweise ausdrücklich auf die Antwort der Bun-
desregierung auf eine Kleine Anfrage der PDS vom Fe-
bruar dieses Jahres. Politische Auseinandersetzungen in
den jeweiligen Heimatländern dürfen nicht durch Gewalt
auf deutschem Boden ausgetragen werden. Das gilt auch
für die Kurden, die aus der Türkei stammen und der Auf-
fassung sind, dass sie von der türkischen Regierung als
Minderheit unterdrückt werden.
Wir fordern nicht, wie der Kollege Merz von der
Union, ein Verbot der politischen Betätigung von Auslän-
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dern und Ausländerinnen und Asylbewerbern. Vielmehr
sind wir der Auffassung, dass sich alle in Deutschland le-
benden Menschen an Gesetz und Recht halten müssen.
Gewalt gegen Polizisten oder Andersdenkende sind kein
Mittel der politischen Auseinandersetzung in unserem
Land. Schutzgelderpressungen, Freiheitsberaubungen,
Brandanschläge und Körperverletzungen sind auch im
Namen eines politischen Kampfes von der Rechtsord-
nung geächtet und können von uns nicht geduldet werden.
Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entschei-
dung zum PKK-Verbot ausgeführt: „Die innere Sicherheit
der Bundesrepublik Deutschland ist gefährdet, wenn ge-
walttätige Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten
Volksgruppen in die Bundesrepublik Deutschland verla-
gert und hier ausgetragen werden und damit das Gewalt-
monopol des Staates infrage gestellt wird.“
Fernsehbilder von gewalttätigen Kurden tragen unge-
wollt dazu bei, Vorurteile oder gar Fremdenhass zu för-
dern. Deutschland hat ein großes Interesse an einer Ein-
bringung der Türkei in die Europäische Union. Wir
unterstützen dabei diejenigen politischen Kräfte, die den
Prozess der Demokratisierung vorantreiben und friedlich
an einer Überwindung bestehender Probleme der kurdi-
schen Minderheit in der Türkei arbeiten.
Martin Hohmann (CDU/CSU): Seit 1984 begeht die
PKK in Deutschland durchgängig schwerste Straftaten:
Mord, Mordversuche, Freiheitsberaubung, Körperverlet-
zung, Brandanschläge, erpresserischer Raub. Im Oktober
1991 erklärt die PKK-„Militärorganisation“ die Bundes-
republik Deutschland zum „Kriegsgegner Nummer
zwei“. In den folgenden Jahren rollten Wellen der Gewalt
über Deutschland hinweg. Die offenbar zentral gesteuer-
ten gewalttätigen Protestaktionen von Tausenden von
Kurden sind uns alle noch im Gedächtnis. Sie errichten
brennende Barrikaden auf deutschen Autobahnen, gehen
mit Steinen, Molotow-Cocktails und Schlagwaffen gegen
Polizisten und Feuerwehrleute vor: Schwerverletzte Poli-
zisten und Feuerwehrleute, menschenverachtende Bruta-
lität der Kurden bei allen Krawallen in ganz Deutschland
gehörten in diesen Tagen zur Normalität. Weitere
„Kriegsgegner“ der PKK sind konkurrierende Kurdenor-
ganisationen und abtrünnige Mitglieder der PKK.
Am 22. November 1993 verbietet das BMI die PKK
und eine größere Anzahl ihr nahe stehender Organisatio-
nen. Die PKK macht auch nach dem Verbot deutlich, dass
sie gar nicht daran denkt, sich an die deutsche Rechtsord-
nung zu halten. Deutschland wird Vergeltung angedroht.
Bei den Vergeltungsaktionen werden deutsche Polizisten
mit Benzin übergossen und angezündet. Die Diskussion,
ob es sich um eine terroristische Organisation oder nur
eine kriminelle Vereinigung handelt, ist in diesem Punkt
überflüssig wie ein Kropf. Eines ist gewiss: Kein Staat
darf sich gefallen lassen, dass Fremde ihre Kriege auf sei-
nem Boden ohne jede Rücksicht ausfechten, auch
Deutschland nicht – nicht heute und auch nicht in Zu-
kunft! Manfred Kanther hat damals das einzig Richtige
getan und diese Verbrecherbande verboten.
Was sind das für Leute, die ihre Abtrünnigen in Wup-
pertal ermorden, es in Krefeld, Bremen und Hamburg zu-
mindest versuchen? Öcalan führt eine Truppe stalinisti-
scher Guerillas im Sinne marxistisch-leninistischer Ideo-
logie. Ganz im Sinne der Bolschewisten erhebt er den Al-
leinvertretungsanspruch aller Kurden gegenüber der
Türkei. Das Verbot der kriminellen PKK wird aus siche-
rer Sicht verstanden als: „eine flächendeckende und pau-
schale Verfolgung und Diskriminierung der gesamten
kurdischen Minderheit“ in Deutschland. Aber ist das so?
Eine stalinistische Guerilla kann gar nicht die Interes-
sen eines ganzen Volkes wahrnehmen. Eine stalinistische
Organisation nützt nur sich selbst und ihren Funktionären.
Die Zustände in den kurdischen Gebieten sind zum Teil
schlimm, ja, fürchterlich. Eine Organisation, die die hier
in Deutschland lebenden Kurden terrorisiert, nützt der
kurdischen Sache nichts. Im Gegenteil: Hier in Deutsch-
land entzieht sie den verfolgten Kurden das Verständnis
und das Mitgefühl der Deutschen.
Für das Verbot ist nur die Situation in Deutschland aus-
schlaggebend. Wie sieht es aus in Deutschland? Die PKK
ist verboten, die Abwehrmittel des deutschen Staates wir-
ken. Dennoch, die von der PKK ausgehende Kriminalität
in Deutschland hält sich weiterhin auf einem hohen Ni-
veau. Die Entschlossenheit Manfred Kanthers und die
drohenden Verfahren und Verhaftungen wegen Mitglied-
schaft in einer terroristischen Vereinigung führten Mitte
1996 zu der Erklärung der PKK-Führung, die Anschläge
seien ein Fehler, man verzichte auf neue Anschlagswellen.
Müssen wir dafür jetzt dankbar sein? Die PKK erpresst
weiter Steuern in Deutschland, „bestraft“ kurdische
Landsleute, bis hin zum Mord. Mit der Verhaftung
Öcalans in Afrika und seinem Todesurteil in der Türkei er-
lebten wir wieder Brandanschläge auf türkische Reise-
büros, Kulturvereine und Geschäfte. Aus seiner Gefan-
genschaft ruft Öcalan auf, die Waffen niederzulegen. Sein
Bruder erklärt daraufhin für die PKK den bewaffneten
Kampf für beendet. Was war sein Versprechen wert? Gilt
es auch im Falle der Vollstreckung des Todesurteils gegen
Öcalan? Der Bruder klärt uns, von der PKK autorisiert,
auf: „Sollte das Urteil vollstreckt werden, dann überlas-
sen wir dem Volk die Entscheidung. Jeder einzelne kann
dann selbst entscheiden, was er tut. Die Kurden werden
dann mit allen Mitteln kämpfen, die ihnen zur Verfügung
stehen.“
Also: Wer als revolutionäre Bewegung sich taktisch
friedfertig verhält, ansonsten aber unverzüglich mit dem
revolutionären Volkszorn droht, hat sich nicht geändert.
Die PKK pfeift auf unsere Gesetze. Die PKK richtet sich
gegen den Gedanken der Völkerverständigung und ge-
fährdet die innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung und
andere wesentliche Belange unserer Republik. Die PKK
ist und bleibt auch in Zukunft verboten und das ist gut so.
„Es darf kein Zweifel daran sein, dass schwer straffäl-
lige Ausländer in Deutschland keinen Platz haben. Das
muss deutlich werden. Andernfalls verliert der Rechts-
staat die Gefolgschaft seiner Mitbürger, und zwar der
deutschen wie der ausländischen“, wie Manfred Kanther
unübertroffen formulierte. Das muss jeder einzelne ge-
walttätige Kurde und PKK-Angehörige wissen.
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Der vorliegenden Petition, die darauf zielt, das Verbot
der PKK aufzuheben, kann und darf nicht entsprochen
werden.
Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Um es
gleich vorwegzunehmen: Es geht bei der Ablehnung der
Petition, die sich die PDS zu Eigen gemacht hat, nicht um
die Frage einer von allen hier im Hause befürworteten de-
mokratischen Lösung des kurdischen Problems in der
Türkei, sondern einzig und allein um die Frage, ob eine
Aufhebung des PKK-Verbots Sinn macht.
Zu Ersterem ist unsere Position als Bündnis 90/Die
Grünen seit langem glasklar: Nur eine konsequente De-
mokratisierung der Türkei auf allen Ebenen, eine voll-
ständige Gewährleistung der Meinungsfreiheit, die Äuße-
rungen über kurdische Angelegenheiten mit einbezieht
und eine Änderung des Wahlsystems, das es beispiels-
weise der prokurdischen Partei Hadep ermöglichen
würde, ihre hohe Zahl an Wählern im Südosten der Tür-
kei auch im Parlament zu repräsentieren, ist in der Lage,
die Chance zu einer Öffnung der Türkei in Richtung Eu-
ropa zu nutzen.
Aber gerade als Freunde der Türkei und ihrer Bewoh-
ner, gleich welcher Herkunft und Glaubenszugehörigkeit,
sagen wir klipp und klar: Nach schlimmsten Menschen-
rechtsverletzungen, einer immer noch stattfindenden Fol-
ter in den Gefängnissen und ungezählter Menschen, die
ihre Heimat im Südosten des Landes im Rahmen der so
genannten Terrorismusbekämpfung verlassen mussten,
muss die Türkei Gesten der Versöhnung erbringen. Dazu
gehört beispielsweise die Anerkennung der kurdischen
Sprache in den Medien und möglicherweise auch deren
Akzeptanz neben der türkischen Amtssprache.
Damit leite ich auch schon über zum zweiten Teil mei-
ner Ausführungen und zum eigentlichen Kern des Antra-
ges: An einer klaren Ablehnung der PKK und ihrer Me-
thoden hat meine Partei nie einen Zweifel gelassen. Wir
haben zu viele – auch und gerade kurdische Oppositio-
nelle – Freunde, die Opfer von „Bestrafungen“ und „Dis-
ziplinierungen“ geworden sind. Alleinvertretungsan-
sprüche sind totalitären Organisationen zu Eigen. Mit
Demokratie haben sie allerdings nichts zu tun. Wer für
seine angeblich gerechte Sache mit Methoden des Mordes
und der Gewaltanwendung kämpft und auch in Deutsch-
land unschuldige Polizisten gefährdet hat, der kann nicht
in Anspruch nehmen, als Gesprächspartner ernst genom-
men zu werden. Aber auch hier gilt: Der Grund für den
Zuspruch, den die PKK – ob es uns gefällt oder nicht –
sehr lange hatte und teilweise noch heute hier wie in der
Türkei hat, liegt in den ungelösten Problemen der Türkei.
Erst wenn die Türkei wirksam beginnt, sich an Haupt und
Gliedern zu reformieren und beispielsweise die jüngsten
Fälle von „Verschwindenlassen“ kurdischer Politiker auf-
klärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht,
gibt es eine Chance, dass die nächste Generation kurdi-
scher und türkischer Jugendlicher weder in die Berge
noch in Kasernen zieht, sondern gemeinsam an der Ge-
staltung einer modernen aufgeklärten Türkei arbeitet.
Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Das im Novem-
ber 1993 für die PKK und zahlreiche Unterorganisationen
ausgesprochene Verbot war eine Folge der damaligen kur-
disch veranlassten Gewaltwelle in unserem Land. Es
musste aus objektiven wie rechtlichen Gründen ausge-
sprochen werden, und damals wie heute begrüßt die F.D.P.
diese Maßnahme.
Es ist das definitive Signal dafür, dass wir fremde Bür-
gerkriege auf unserem Boden nicht dulden können und
nicht dulden wollen. Die Terroranschläge der PKK haben
bis heute den Tod Tausender Menschen mit sich gebracht.
Außerhalb der Türkei versucht die Partei, die öffentliche
Meinung in den Ländern Westeuropas zu beeinflussen
und somit allgemeine Unterstützung für ihre politischen
Ziele zu erlangen.
Lassen Sie mich klarstellen, dass es sich bei den Ge-
walttätern um den geringsten Teil unserer kurdischen Mit-
bewohner handelt. Rund 500 000 Kurden mit türkischem
Pass leben friedlich in Deutschland mit uns zusammen.
Wir dürfen keinesfalls den Fehler machen, sie mit der
PKK zu verwechseln oder der PKK zu erlauben, die Spre-
cherrolle für die zu ihrem weit überwiegenden Anteil
friedliche kurdische Gemeinschaft zu missbrauchen. Fast
alle Kurden in Deutschland respektieren das Gastrecht bei
uns. Sie sind uns auch herzlich willkommen. Für Gewalt-
täter dagegen ist in Deutschland kein Platz. Türkische
Einrichtungen, Geschäfte und Organisationen sollten und
müssen dringend vor gewalttätigen PKK-Anschlägen ge-
schützt werden.
Trotz hin und wieder gegenteiliger Äußerungen hat
sich das Verbot der PKK bis heute bewährt: Infolge der
Bestandskraft des Verbotes hat sich die polizeiliche Zu-
griffsmöglichkeit um einiges verbessert. Durch die Auf-
hebung des Verbots würde der Boden, der der PKK erst
vor etwa sieben Jahren in Deutschland entzogen wurde,
und der die Basis für die damalige Gewaltwelle darstellt,
wieder übergeben werden. Das Kurdenproblem ist in der
Türkei nicht so weit gelöst, als dass nicht die Möglichkeit
bestünde, dass eine aggressive Bewegung reaktiviert wer-
den könnte. Dies aber gilt es zu vermeiden. Solange noch
nicht hundertprozentig davon ausgegangen werden kann,
dass sich weitere Anschläge oder Angriffe auf das friedli-
che Zusammenleben aller in Deutschland Lebenden durch
die Wiederaufnahme der politischen Tätigkeit der PKK
nicht wiederholen werden, dürfen wir kein Risiko einge-
hen. Dazu ist der Einsatz zu hoch.
Es darf sich nicht wiederholen, dass eine gewalttätige
Bewegung, dann jedoch durch einen Mantel der Bestäti-
gung in Deutschland geschützt, erneut in alter, berüchtigter
Weise auf sich aufmerksam machen darf. Die Aufhebung
eines Parteienverbots kommt einer geprüften Be-
stätigung, wenn nicht sogar einer Anerkennung gleich.
Aus diesem Grunde spreche ich mich gegen die Aufhe-
bung dieses Verbots der PKK in Deutschland zum gegen-
wärtigen Zeitpunkt aus.
Ulla Jelpke (PDS): Das Betätigungsverbot gegen die
Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, das mit der vorliegenden
Petition aufgehoben werden soll, ist von der PDS, von
Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen, Straf-
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verteidigern und anderen seit der Verhängung im Novem-
ber 1993 immer scharf kritisiert worden.
Dieses Verbot hat zu einer breiten Repression gegen
Kurdinnen und Kurden geführt. Hunderte von kurdischen
Familien mussten Razzien in ihren Wohnungen erleiden.
Kurdische Newrozfeiern, Veranstaltungen und Demons-
trationen wurden schikaniert und verboten. Sogar bei
Sportveranstaltungen und Hochzeiten griff die Polizei ein
und verhinderte diese mehrfach. Tausende von Büchern
und Zeitungen wurden beschlagnahmt und vernichtet,
Büros kurdischer Vereine durchsucht, viele Vereine ver-
boten.
Allein die Zahl der Opfer von Strafverfahren wegen so
genannter verbotener Fähnchen geht in die Zehntausende.
Die Geldstrafen, die dabei verhängt wurden, belaufen sich
auf viele Hunderttausend Mark. Zahlreiche Prozesse ge-
gen tatsächliche oder vermeintliche Mitglieder und Funk-
tionäre der PKK endeten mit langen Haftstrafe. Die ge-
samte kurdische Bevölkerungsgruppe wurde durch dieses
Verbot unter Sonderrecht gestellt. Das dauert bis heute an.
Das Betätigungsverbot gegen die PKK ist Symbol ei-
ner völlig falschen, repressiven Politik. Seit Jahrzehnten
stehen in den deutsch-türkischen Beziehungen Machtin-
teressen, militärische und Wirtschaftsinteressen im Vor-
dergrund. Menschenrechte zählen nicht. Bis heute werden
kurdische Flüchtlinge, die nach Deutschland fliehen, in
die Türkei zurück geschoben. Bis heute weigern sich
deutsche Gerichte, eine Gruppenverfolgung von Kurdin-
nen und Kurden anzuerkennen.
Das PKK-Verbot war von Anfang an ein Freund-
schaftsdienst für den türkischen NATO-Partner. Die da-
malige Regierung unter Tansu Ciller ist heute bei deut-
schen Gerichten wegen Drogengeschäften aktenkundig.
Die türkischen Sicherheitsapparate sind seit dem Susur-
luk-Zwischenfall international berüchtigt für ihre Morde
an Oppositionellen und ihre Verbindungen zum organi-
sierten Verbrechen. Bis heute ist das PKK-Verbot eine Er-
munterung für die Hardliner in Ankara, an ihrem repres-
siven, militärischen Umgang mit der kurdischen Frage
festzuhalten und jede demokratische Lösung der kurdi-
schen Frage zu blockieren. Das PKK-Verbot ist in Europa
einmalig. Kein anderes Land – außer der Türkei – prakti-
ziert eine so repressive Politik in der kurdischen Frage.
Inzwischen haben wir eine gegenüber 1993 erheblich
geänderte Situation. Der PKK-Vorsitzende wurde in einer
Geheimdienstaktion entführt und ist seitdem in der Türkei
inhaftiert. Die PKK hat ihren bewaffneten Kampf in der
Türkei eingestellt. Was immer man davon halten mag –
das ist eine weitreichende Änderung der Politik der PKK.
Die deutsche Politik sollte darauf antworten. Sonst
bleibt das Bekenntnis zu einer demokratischen Lösung
der kurdischen Frage Geschwätz. Auch eine Antwort Eu-
ropas auf die neue Politik der PKK steht bis heute aus. Die
Enttäuschung und Empörung der Kurdinnen und Kurden,
dass ihre Konzessionen an die Türkei als Schwäche abge-
tan werden und zu keiner Gegenleistung führen, wird im-
mer deutlicher.
Vor wenigen Tagen hat die Bundesregierung erklärt,
sie wolle das PKK-Verbot trotz dieser neuen Entwicklung
auch in Zukunft aufrechterhalten. Diese Antwort und ihre
Begründung sind skandalös.
1993 lautete die Begründung für das PKK-Verbot, die
Arbeiterpartei Kurdistans habe Gewaltwellen in Deutsch-
land zu verantworten. Außerdem richte sich ihre Politik
gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Das Letz-
tere war schon damals eine Frechheit. Heute kann von
kurdischen Gewaltwellen nun wirklich keine Rede mehr
sein. Die Regierung führt nun für 1999 und 2000 38 Fälle
von Spendengelderpressung, 21 vermisste Jugendliche
und acht mögliche Bestrafungsaktionen an, also körperli-
che Misshandlungen. Das sind, wenn die Vorwürfe stim-
men, keine Kleinigkeiten. Aber eine Beibehaltung des
PKK-Verbots rechtfertigt das auf keinen Fall.
Als nächste Begründung führt die Regierung an, die
PKK sei hierarchisch, undemokratisch, toleriere keine in-
nerparteiliche Opposition und habe ihr konspiratives Ver-
halten beibehalten. Hierarchisch und undemokratisch
sind so manche Einrichtungen in diesem Land, zum Bei-
spiel Firmen, Kirchen und sicher auch viele Vereine. Eine
solche Begründung für ein Betätigungsverbot gegen
Zehntausende von Kurdinnen und Kurden ist aber einfach
hanebüchen.
Absurd ist auch der Vorwurf, die PKK sei konspirativ.
Was erwarten Sie eigentlich? Dass die PKK ihre Struktu-
ren offen legt, damit der türkische Staat oder die deutsche
Polizei ihre Leute reihenweise verhaften können? Die
PKK hat ihren bewaffneten Kampf gegen die Türkei ein-
gestellt. Das ist ein sehr weit gehender Schritt. Die Bun-
desregierung aber erklärt nun, das sei – ich zitiere – nur
eine formelle Änderung. Die notwendigen inhaltlichen
Veränderungen seien ausgeblieben. Ich finde das un-
glaublich. Auf die Idee, die Einstellung eines bewaffneten
Kampfes, bei dem auf beiden Seiten Tausende Menschen
gestorben sind, als „formelle Änderung“ abzutun, kann nur
eine Regierung kommen, die schon den Kosovo-Krieg be-
denkenlos geführt hat.
Wenn Menschen politische Konflikte nicht mehr auf
Leben und Tod austragen, ist das eine ganz gravierende
Änderung. Eine politische Antwort darauf ist überfällig.
Das PKK-Verbot muss weg.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
rin beim Bundesminister des Innern: Ob Verbote von
Parteien und Organisationen in einem demokratischen
Rechtsstaat wirklich dazu beitragen, bestimmte politische
Strömungen und radikale Aktionen zu stoppen, ob sie
nicht etwa – im Gegenteil – die verbotene Organisation in
eine Märtyrer-Rolle drängen – darüber wird immer wie-
der lebhaft diskutiert. Das ist verständlich. Deshalb muss
man schon nach Ursachen und Wirkungen fragen, auch
nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel.
Unter den 7,3 Millionen Menschen ausländischer Her-
kunft leben in Deutschland mehr als 500 000 Kurden. Wir
haben eine große und lebendige kurdische Gemeinde hier.
Die meisten dieser Menschen haben die türkische Staats-
angehörigkeit; viele sind schon Jahrzehnte hier zu Hause;
und der allergrößte Teil der Kurdinnen und Kurden lebt
friedlich in guter Nachbarschaft. Sie sind unsere will-
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kommenen Mitbürger, sie haben Anspruch auf unseren
Schutz und unsere Fürsorge. Sie sind ausdrücklich ein-
geladen, sich innerhalb der weiten Grenzen unseres
Grundgesetzes gesellschaftlich, kulturell und politisch zu
betätigen.
Zur Debatte steht heute die Forderung, das Betäti-
gungsverbot gegen die PKK aufzuheben. Ich möchte da-
ran erinnern, wie das Verbot im November 1993 zustande
kam. Ich erinnere an Wellen von Gewalt insbesondere seit
1991; vor allem an den Überfall auf das türkische Gene-
ralkonsulat in München im Juni 1993 – damals wurden
zwanzig Menschen als Geiseln genommen. Auch nach
dem Verbot haben PKK-Anhänger auf Anordnung ihrer
Europaführung mit Autobahn- und Grenzblockaden,
Brandanschlägen und brutalen Angriffen auf Polizisten
auf sich aufmerksam gemacht. Das Kürzel „PKK“ wurde
zum Drohbegriff. Ich bedauere sehr, dass die große Mehr-
heit der friedlichen Kurden in unserem Land darunter lei-
den muss, weil viele Bürger sie – zu Unrecht – mit der mi-
litanten Arbeiterpartei gleichsetzen.
Inzwischen hat sich manches geändert. Gewalttätige
PKK-Aktionen gingen zurück; auch die organisationsin-
terne Kriminalität, die so genannte Binnenkriminalität, ist
rückläufig. Seit etwas über anderthalb Jahren spricht die
PKK von einem einseitigen „Friedenskurs“ gegenüber
der Türkei und den kurdischen Gruppierungen im ira-
nisch-irakischen Grenzgebiet. Diese Linie hat der Partei-
kongress im Frühjahr 2000 ausdrücklich bestätigt.
Es ist völlig klar, dass die Bundesregierung diese Ent-
wicklung aufmerksam verfolgt. Allerdings sind den Wor-
ten bislang kaum Taten gefolgt!
Ich will das belegen: Die hierarchisch aufgebaute
Führungsstruktur und das in Jahrzehnten aufgebaute Ge-
dankengut der verantwortlichen PKK-Funktionäre beste-
hen weiter. Konspirative Kommunikationswege wurden
beibehalten, sind in Teilen sogar erweitert worden.
Außerdem weiß man, dass die PKK weiterhin im-
stande ist, schnell und wirkungsvoll zu mobilisieren – zu
friedlichen Kundgebungen, wie zum Beispiel am 15. Fe-
bruar dieses Jahres vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte, aber auch zu gewalttätigen Aktionen
wie vor zwei Jahren, als Öcalan in die Türkei gebracht
wurde.
Mit anderen Worten: In ihrer Gesamtheit ist die PKK
nach wie vor unkalkulierbar, und sie kann weiterhin die
innere Sicherheit unseres Landes gefährden. Diese Si-
cherheitsgefährdung zeigt sich zum Beispiel auch in
Äußerungen des führenden PKK-Funktionärs Osman
Öcalan, des Bruders von Abdullah Öcalan. Er sagte in ei-
nem Interview mit der „Woche“: „Sollte das Urteil voll-
streckt werden, dann überlassen wir dem Volk die Ent-
scheidung. Jeder Einzelne kann dann selbst entscheiden,
was er tut. Die Kurden werden dann mit allen Mitteln
kämpfen, die ihnen zur Verfügung stehen.“ Nach Er-
kenntnissen des Bundeskriminalamtes lässt zwar die Kri-
minalität, die von der PKK ausgeht, nach. Aber es kommt
dennoch zu Spendengelderpressungen, Bestrafungen und
Disziplinierungen von Abweichlern, Schleusungen in be-
trächtlichem Umfang und Taten, die sich vornehmlich ge-
gen die eigenen Leute richten.
Der Europäische Rat hat nachdrücklich seine Erwar-
tung geäußert, dass die Türkei die Kurdenfrage mit poli-
tischen Mitteln löst. Und die Bundesregierung appelliert
an die Türkei als Mitglied der NATO und der europä-
ischen Familie, eine friedliche Lösung des Kurdenpro-
blems zu finden und dabei die Identität der Kurden, ihre
kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Belange zu be-
achten. Dennoch: Solange die PKK ihre Absichtserklä-
rungen noch nicht konsequent umsetzt, halten wir an dem
Betätigungsverbot in Deutschland fest.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 158. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. März 200115530
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Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin