Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gratuliere ichdem Kollegen Gustav-Adolf Schur, der am 23. Februarseinen 70. Geburtstag hatte, sowie dem Kollegen RudolfKraus, der am 27. Februar seinen 60. Geburtstag feierte,im Namen des Hauses nachträglich sehr herzlich.
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass die KolleginnenHeidemarie Wright und Christel Humme ihre Ämter alsSchriftführerinnen niedergelegt haben. Dafür werdennunmehr die Kollegin Gudrun Roos und der KollegeWinfried Mante vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind dieKollegin Roos und der Kollege Mante als Schriftführerinbzw. als Schriftführer gewählt.Sodann sollen im Gemeinsamen Ausschuss gemäßArt. 53 a des Grundgesetzes auf Vorschlag der Fraktionder SPD folgende Änderungen vorgenommen werden:Die Kollegin Ulla Schmidt scheidet als ordent-liches Mitglied aus. Als Nachfolgerin wird die KolleginHildegard Wester, bisher stellvertretendes Mitglied, vor-geschlagen. Als stellvertretende Mitglieder scheiden auchdie Kollegin Gudrun Schaich-Walch und der KollegeAdolf Ostertag aus. Als neue stellvertretende Mitgliederwerden die Kollegin Christel Humme sowie die Kolle-gen Franz Thönnes und Klaus Brandner vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann sind die Kollegin Wester als ordentlichesMitglied sowie die Kollegin Humme und die KollegenThönnes und Brandner jeweils als stellvertretende Mit-glieder im Gemeinsamen Ausschuss gemäß Art. 53 a desGrundgesetzes bestimmt.Des Weiteren teilt die Fraktion der SPD mit, dass derKollege Stephan Hilsberg als stellvertretendes Mitgliedaus dem Wahlprüfungsausschuss ausscheidet. Als Nach-folger wird der Kollege Harald Friese vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist der Kollege Friese als stellvertretendesMitglied in den Wahlprüfungsausschuss gemäß § 3Abs. 2des Wahlprüfungsgesetzes gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnenvorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion CDU/CSU: Ab-sichten derKoalition, Mineralöl- und Stromsteuerweiter zuerhöhen
2. Beratung des Antrages der Fraktion der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Weichen für die Er-weiterung der Europäischen Union richtig stellen – Druck-sache 14/5447 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschuss3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. HelmutHaussmann, Hildebrecht Braun , Rainer Brüderle,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Die Bürgerfür die Ost-Erweiterung der EU gewinnen – Drucksa-che 14/5454 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss
– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Internationalen Übereinkommen von 1989
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelungdes Bergungsrechts in der See- und Binnenschiff-fahrt – Drucksa-che 14/4672 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
– Drucksache 14/5459 –
15115
155. SitzungBerlin, Donnerstag, den 8. März 2001Beginn: 9.00 UhrBerichterstattung:Abgeordnete Joachim StünkerDr. Wolfgang Freiherr von StettenHelmut Wilhelm
Rainer FunkeDr. Evelyn Kenzler5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-tung derBundesregierung zur aktuellen Haushaltssituationund offensichtlichen Unterfinanzierung der Bundeswehr6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss, MonikaBalt, Maritta Böttcher, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder PDS: Frauenrechte sind Menschenrechte – Gewalt ge-gen Frauen effektiver bekämpfen – Drucksache 14/5455 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussRechtsauschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.:
Stärkeres deutsches Engagement auf der 57. Sitzung derMenschenrechtskommission der Vereinten Nationen –Drucksache 14/5452 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann,Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ulrich Irmer, weitererAbgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Deutsche Initiativezum Schutz der Binnenvertriebenen – Drucksache 14/5453–Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr.Dietmar Bartsch, Dr. Heinrich Fink, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der PDS: Zukunftschancen des deutschen undeuropäischen Schiffbaus nachhaltig verbessern – Drucksa-che 14/5457 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger AusschussAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Franz Thönnes, KlausWiesehügel, Leyla Onur, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten Kerstin Müller ,Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN: Eckpunkte zur Verbesserung der Bekämpfungillegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit – Drucksache14/5270 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Tourismus11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Franz Thönnes, DorisBarnett, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD sowie Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Ekin Deligöz,Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Jobrotation im Arbeitsför-derungsrecht verankern – Drucksache 14/5245 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zungVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Außerdem ist vereinbart worden, die Tagesordnungs-punkte 15 – Künstlersozialversicherung – und 18 – Ver-mögenszuordnungsgesetz – abzusetzen.Weiterhin mache ich auf eine nachträgliche Überwei-sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der inder 146. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenenachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend zur Mitberatungüberwiesen werden.Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Friedrich ,Thomas Rachel, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU: Eckpunkte für eine Reform desHochschul-dienstrechts– Drucksache 14/4382 –überwiesen:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltausschussSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungJahreswirtschaftsbericht 2001 der Bundesre-gierung Reformkurs fortsetzen – Wachstums-dynamik stärken– Drucksache 14/5201 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungJahresgutachten 2000/01 des Sachverständi-genrates zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung– Drucksache 14/4792 –
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Präsident Wolfgang Thierse15116
Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusHaushaltsausschussc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-logie zu dem Antrag der Abgeord-neten Gunnar Uldall, Birgit Schnieber-Jastram,Wolfgang Börnsen , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der CDU/CSUBeschäftigung als Ziel der Wirtschaftspolitikherausstellen– Drucksachen 14/2988, 14/3845 –Berichterstattung:Abgeordneter Gunnar UldallNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demBundesminister für Finanzen, Hans Eichel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Prä-sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In denvergangenen zwei Jahren sind in Deutschland rund900 000 neue Arbeitsplätze entstanden.
Das sind so viele neue Arbeitsplätze, wie in den Jahrenvon 1991 bis 1998 verloren gegangen sind.
Diese Bundesregierung hat immer gesagt, sie lässt sich anden Erfolgen am Arbeitsmarkt messen. Die Zahlen spre-chen eine deutliche Sprache. Die Wirtschafts- und Fi-nanzpolitik der Bundesregierung ist erfolgreich.
Allein im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Erwerbs-tätigen um rund 580 000.
Die Arbeitslosenquote sank auf 9,6 Prozent. Der Abbauder Arbeitslosigkeit gelang dadurch stärker, als ich selbstnoch vor einem Jahr geglaubt hatte. Ich würde mich auchin diesem Jahr gerne positiv überraschen lassen. Aberschon, wenn es uns gelingt, die Zahl der Arbeitslosen imJahresdurchschnitt an die 3,5 Millionen heranzuführen,wäre das ein großer Erfolg.
Wir erwarten für dieses Jahr einen Rückgang der Zahl derArbeitslosen um 270 000.Meine Damen und Herren, anders als es die Oppositionbehauptet, hilft uns die demographische Entwicklung –das ist Ihre Fälschung – dabei nicht. Zwar gehen Jahr fürJahr viele Menschen in Rente, noch mehr drängen aberneu auf den Arbeitsmarkt. Menschen, die seit langem dieHoffnung auf einen Arbeitsplatz aufgegeben hatten, fas-sen wieder Mut. Sie suchen einen Arbeitsplatz und sie fin-den ihn. Sie kommen aus der so genannten stillen Re-serve. Die Legende, die Entlastung des Arbeitsmarktes seiallein auf demographische Effekte zurückzuführen, istwiderlegt. Die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt ist echtund sie wäre ohne unsere erfolgreiche Wirtschafts- undFinanzpolitik nicht so deutlich ausgefallen.
Der Chef von Audi, Herr Paefgen, hat in einem Inter-view mit der „Berliner Zeitung“ letzte Woche gesagt,langfristig erwarte sein Unternehmen Produktionseng-pässe. Dann sagte er wörtlich: „An den deutschen Stan-dorten ist das Reservoir geeigneter Fachkräfte nahezuausgeschöpft.“ Dazu kann ich nur sagen: Sehr geehrterHerr Paefgen, bilden Sie neue aus! Sie werden sie in Zu-kunft noch brauchen.
Es ist doch nicht so, dass es in Deutschland keine ar-beitswilligen Menschen mehr gäbe, und es ist auch längstnicht so, dass die, die gerne arbeiten wollen, nicht ausbil-dungsfähig und ausbildungswillig wären. Die Unterneh-men müssen wissen, dass Investitionen in Ausbildungähnlich wichtig sind wie Investitionen in Anlagekapital.
Bei aller Unterstützung durch den Staat bleibt es dieAufgabe der Unternehmen, in ihre Arbeitnehmer zu inve-stieren. Deswegen bin ich froh über das, was das Bündnisfür Arbeit am vergangenen Sonntag zu diesem Thema ge-sagt hat.
– Ich komme zu Ihnen. – Anders sieht das scheinbar dieUnion: Aus deren Reihen kam der Vorschlag, den An-spruch auf Weihnachtsgeld teilweise in einen Fortbil-dungsanspruch umzuwandeln. Ich kann da alle Arbeit-nehmer nur warnen: Die Union will euch ansWeihnachtsgeld. Ihr sollt einen Teil der Kosten der Un-ternehmen übernehmen.
– Dann dürfen Sie nicht solche Vorschläge machen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Präsident Wolfgang Thierse15117
Ich bin sehr für lebenslanges Lernen. Fortbildungsbe-reitschaft muss bei den Arbeitnehmern bis ins hohe Alterbestehen. Wir müssen auch wieder lernen, ältere Arbeit-nehmer zu schätzen, und sie nicht frühzeitig in Renteschicken.
Aber die Kosten zulasten der Arbeitnehmer zu verschie-ben, halte ich in der Tat für falsch. Das zeigt jedoch aus-drücklich, welche Position Sie einnehmen.
– Ja, darauf komme ich noch, wenn ich mir Ihre Haus-haltsvorschläge anschaue. Für Sie kam der Aschermitt-woch gerade eine Woche zu spät.
Bis vorige Woche, sogar bis zum Anfang dieser Woche,hieß es: Der schwimmt im Geld. Jetzt heißt es – manch-mal hat Ihr haushaltspolitischer Sprecher beides ja in ei-nem Satz unterbekommen –: Er hat große Haushalts-löcher. Sie müssten sich einmal entscheiden, meineDamen und Herren. Es ist unglaublich, was Sie sich in derHaushaltspolitik alles leisten.Das Wirtschaftswachstum in Deutschland war imvergangenen Jahr so stark wie seit dem Wiedervereini-gungsboom nicht mehr. Mit 3 Prozent lag es deutlich überdem Durchschnitt der 90er-Jahre. Der Jahresdurchschnittbetrug damals nämlich 1,4 Prozent. In den von Ihnen inletzter Zeit hoch gehaltenen 80er-Jahren – weil Sie nichtso gerne über die 90er reden – betrug der Durchschnitt2 Prozent. Für 2001 erwarten wir weiterhin ein starkesund robustes Wirtschaftswachstum. Die Dynamik wirdsich zwar leicht abschwächen; angesichts von 2,75 Prozentrealem Wachstum bleibt das Umfeld zum Aufbau neuerArbeitsplätze aber weiterhin günstig.Meine Damen und Herren, die Lage in den neuen Län-dern muss derzeit noch differenziert betrachtet werden.
Der Anpassungsprozess in der Bauwirtschaft dauert anund ist auch unvermeidlich. Die ersten Jahre waren durcheinen – ich sage nicht überhöhten – Boom gekennzeichnet.Angesichts der nach Jahrzehnten der Nichtinvestition vor-gefundenen Situation in der ehemaligen DDR war das auchnotwendig. Das kann aber keine Dauersituation bleiben.Andererseits übertrifft die Dynamik des verarbeiten-den Gewerbes dort die im Westen schon seit längerem.Die Unternehmen expandieren und sie sind auch interna-tional wettbewerbsfähig. Diese positive Entwicklungwird von uns gefördert. Zur Verbesserung der Infrastruk-tur werden wir vor der Bundestagswahl einen neuen Soli-darpakt schließen; so hat es der Bundeskanzler mit denMinisterpräsidenten verabredet.
An dieser Stelle rate ich im Übrigen dazu, sich gele-gentlich des Sachverstandes eines Ihrer Mitglieder, näm-lich Herrn Späths, zu bedienen, um zu erkennen, wie dieEntwicklung in den neuen Bundesländern tatsächlich ver-läuft.Als Wachstumsprognose für ganz Deutschland nenneich bewusst 2,75 Prozent. Prognosen, die sich auf einenZehntelprozentpunkt festlegen, versuchen eher, eine Ten-denz anzudeuten. So genau kann niemand schätzen undmit dieser Präzision können Wirtschaftsabläufe nicht vor-hergesagt werden. Mit 2,75 Prozent meinen die Expertendie Bandbreite zwischen 2,875 Prozent und 2,625 Pro-zent. Noch im November sahen uns alle Experten eher amoberen Rand dieser Spanne.Die gestiegenen Energiepreise und die Abschwächungder Wirtschaftsentwicklung in den Vereinigten Staatenlassen uns vorsichtiger werden.
Deutschland wird in diesem Jahr wahrscheinlich eher amunteren Rand dieser Spanne bleiben; die Aussichten sindaber weiterhin günstig. Das belegen die Umfrageergeb-nisse des Deutschen Industrie- und Handelstages, der unsseinerseits mit 2,8 Prozent eher am oberen Ende sieht undder direkt am Puls der Zeit ist, also das Geschehen in denBetrieben kennt.Auch die gestern durch das Statistische Bundesamtveröffentlichten Zahlen über den Auftragseingang zei-gen: Auf der einen Seite gab es von Dezember zuJanuar eine leichte Abschwächung; im Zweimonatsver-gleich – aus einem Einmonatsvergleich kann man nichtviel schließen – sieht das schon anders aus. Eines kannman sehen: Wir bewegen uns auf wesentlich höheremNiveau als vor einem Jahr. Der Vergleich zwischenDezember 1999/Januar 2000 und Dezember 2000/Januar 2001 zeigt, dass es insgesamt einen Anstieg desAuftragseingangs um 10,3 Prozent – Inland 5,3 Prozent,Ausland 16,8 Prozent – gibt. In Ostdeutschland sind dieZuwächse doppelt so hoch wie im Westen. Das zeigt, dassdie These richtig ist: Wir haben – niemand bestreitet das –eine Wachstumsabschwächung; aber wir haben gleichzei-tig ein starkes, robustes Wirtschaftswachstum auf außer-ordentlich hohem Niveau. Das ist der eigentliche Sach-verhalt, mit dem wir es zu tun haben.
Es besteht kein Grund zur Schwarzmalerei. Aus unbe-gründeter, übertriebener Schwarzmalerei – darin sind wirDeutschen offenbar gut – könnte eher ein Risiko entste-hen. Schwarzmalerei könnte bei den Verbrauchern zuunnötiger Kaufzurückhaltung führen.
Wir blieben dann unter unseren Möglichkeiten. In der jet-zigen Wirtschaftslage gilt: Schwarz sehen kommt teuer zustehen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Bundesminister Hans Eichel15118
Im Hinblick auf die vor uns stehenden Wahlen – mandenke an die Staatsverschuldung – sage ich ebenfalls:Auch schwarz wählen kommt uns teuer zu stehen.
Unsere Wachstumserwartung stützt sich vor allem aufeine Binnennachfrage, die stärker als im vergangenenJahr ist. Unsere Erfolgsformel lautet: Höheres Netto-ein-kommen dank Steuersenkung multipliziert mit höhererBeschäftigung gleich mehr Kaufkraft. Das Wirtschafts-wachstum wird in diesem Jahr rund ein halbes Prozenthöher liegen, als es ohne die beschlossene Steuerreformgewesen wäre. Die Entlastung der Bürger durch die Steu-erreform ist auch deutlich höher als die Belastung durchdie gestiegenen Energiepreise. Von Ihrer Falschmünzereiin Bezug auf das Thema Ökosteuer will ich gar nicht re-den. Das Verhältnis zwischen Entlastung auf der einenSeite und Belastung durch die Ökosteuer auf der anderenSeite – diese Belastung wird über die Höhe der Renten-versicherungsbeiträge voll zurückgegeben – beträgt neunzu eins.
Allein in diesem Jahr sinkt durch die Steuerreform dieSteuerbelastung der Bürgerinnen und Bürger sowie derUnternehmen um rund 45 Milliarden DM. Es handelt sichum nahezu 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. KeinLand in Europa – das ist gut so – hat eine solch durch-greifende Steuersenkung wie Deutschland durchgeführt,obwohl eine Reihe von Ländern zum 1. Januar Steuersen-kungen in Kraft gesetzt hat. Die Arbeitnehmer haben imJanuar und im Februar bereits mehr Nettolohn erhalten.Im Schnitt bedeutet das einen Nettozuwachs um 3 Pro-zent. Von den Tariferhöhungen und von den Kaufpreis-steigerungen – auch das muss man natürlich dagegen-rechnen – will ich gar nicht sprechen. Ich wiederhole: DerNettozuwachs durch die Steuerreform liegt bei 3 Prozent.Ich kann allen Arbeitnehmern versichern: Das bleibtnicht nur so; vielmehr wächst 2003 und 2005 die Entlas-tung noch an.Nutzen Sie das zusätzliche Einkommen!Herr Uldall, ich bin übrigens ganz zufrieden mit dem,was Sie gesagt haben. Sie haben inzwischen anerkannt,dass es sich in der Tat um eine große Steuerreform han-delt, nachdem Sie die ganze Zeit versucht haben, das inAbrede zu stellen. Sie haben aber hinzugefügt, sie seinicht größer als die Steuerreform von Stoltenberg. Es gibtdennoch einen großen Unterschied, sehr geehrter HerrUldall: Zu der Zeit von Stoltenberg betrug die Zinsaus-gabenquote 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wirhaben aber von Ihnen einen Haushalt mit einer Zinsaus-gabenquote von 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktsübernommen. Der Unterschied entspricht einer Summevon 40 Milliarden DM. Ausgehend von dieser höherenAusgabe musste ich die Steuerreform durchführen. Inso-fern handelt es sich um eine weitaus größere Anstrengung,als Sie sie in den 80er-Jahren zusammen mit HerrnStoltenberg im Rahmen Ihrer Steuerreform auf sich ge-nommen haben.
Unsere Steuerreform kommt genau zur rechten Zeit.Wenn wir sie nicht schon beschlossen hätten, müssten wiruns jetzt damit beeilen. Deutschland reagiert auf die Ab-kühlung der Weltwirtschaft im richtigen Augenblick miteiner Steuersenkung. Wir stärken die Binnennachfrageund kompensieren so den womöglich etwas schwächerenExport.Man muss allerdings den Export genauer betrachten– man kann sich zum Beispiel den Automobilexport indie Vereinigten Staaten ansehen –: Zwar hat auf der einenSeite der Automobilhersteller Volkswagen weniger Autosin den USAabgesetzt – gleichzeitig konnte er in Deutsch-land mehr Autos absetzen; allgemein haben wir bei denZulassungen im Januar 2001 einen Zuwachs gegenüberdem Januar 2000 –, aber auf der anderen Seite hat der Ab-satz aller anderen deutschen Automobilhersteller in denUSAzugelegt. Diese erstaunliche Entwicklung zeigt, dassunsere Produkte gut sind.Im Übrigen weise ich darauf hin, dass für unsere Volks-wirtschaft der Export in die mittelosteuropäischen Re-formstaaten dieselbe Bedeutung hat wie der Export in dieVereinigten Staaten. Die Wirtschaft der mittelosteuropä-ischen Reformstaaten wächst nämlich stark.Auch die amerikanische Regierung plant eine Steuer-reform, um dort die Wachstumsschwäche zu überwinden.Die amerikanische Notenbank hat bereits schnell unddrastisch die Zinsen gesenkt. Es sieht so aus, als könntendie USA – dies ist jetzt aber eine Sache der Interpretation;keiner kann es genau vorhersagen – bald wieder bessereWachstumswerte erreichen. Davon wird die gesamte Welt-wirtschaft profitieren, auch Deutschland.Im vergangenen Jahrzehnt haben die Vereinigten Staa-ten eine nie da gewesene Phase von Wirtschaftswachs-tum, von sinkender Arbeitslosigkeit und von relativ stabi-len Preisen erlebt. Viele sahen darin den Beginn einerNew Economy. Ich weise allerdings auch auf die Schat-tenseiten hin, die wir lange Zeit nicht ausreichend disku-tiert haben: das große Leistungsbilanzdefizit, das uns inder Tat mit Blick auf die Weltwirtschaft Sorgen machenmuss, die geringe Sparrate und in vielen Fällen die hoheVerschuldung der privaten Haushalte.Aber die anderen Entwicklungen sind positiv. Träger die-ser positiven Entwicklungen war die Informations- undKommunikationstechnologie. Der Jahreswirtschaftsbe-richt 2001 widmet diesem Phänomen ein eigenes Kapitel.Die jüngste Entwicklung der amerikanischen Wirtschaftsteht nicht unbedingt im Widerspruch zur New Economy;denn nicht zu übersehen sind die Produktivitätszuwächse inden USA, die durch den Einsatz der Informations- undKommunikationstechnologie zu verzeichnen waren. DasProduktionspotenzial in den USA wurde auf Dauer erhöhtund modernisiert.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Bundesminister Hans Eichel15119
Die New Economy hat darüber hinaus zu einem anhal-tenden Strom von Innovationen geführt. Innovationen sindder Antrieb des Wirtschaftswachstums. Wir müssen uns ummehr Innovationen bemühen. Träger von Innovationen sindhäufig Unternehmensgründer. Nicht ohne Grund werdenUnternehmungsgründungen in vielen deutschen Förderpro-grammen als Start-ups bezeichnet. Herr Präsident, Sie müs-sen mir verzeihen, der Fachausdruck für Unternehmens-gründungen ist nun einmal „Start-ups“; ich kann keinanderes Wort dafür finden. Viele Unternehmungsgründun-gen starten aus dem Bereich der Informations- und Kom-munikationstechnologie. Dort dominiert Englisch als Fach-sprache. Die Wortwahl entspricht der Zielgruppe.In einer hoch entwickelten Volkswirtschaft wie derdeutschen ist es schwer, als Unternehmensgründer einenMarkt zu erobern. Wer ohne viel Geld unternehmerischtätig werden will, dem bietet die Informations- undKommunikationstechnologie weiterhin beste Chancen.Mit einer überzeugenden Idee lässt sich viel bewegen.Darin liegt ein großer Teil der Faszination der New Eco-nomy. Ich hoffe, dass noch viele ihre Kreativität auf die-sem Sektor ausprobieren. Die Wirtschafts- und Finanzpo-litik der Bundesregierung wird sie dabei unterstützen.Ich sage aber auch mit allem Nachdruck: Vorstellun-gen, insbesondere Vorstellungen an der Börse, die nur aufFantasie gegründet sind, sind nicht die richtige Grund-lage. Das haben wir an der Entwicklung auf dem NeuenMarkt sehen können.
Der Europäische Rat von Lissabon hat sich das ehr-geizige Ziel gesetzt, im Bereich der Informations- undKommunikationstechnologie nicht nur zu den VereinigtenStaaten aufzuschließen, sondern die führende Wettbewerbs-position in der Welt zu übernehmen. Die Bundesregierungarbeitet auf dieses Ziel hin. Wir brauchen dazu einen sta-bilen makroökonomischen Rahmen, eine verlässliche Wirt-schafts- und Finanzpolitik, aber auch eine technikfreundli-che Gesellschaft.Für eine verlässliche, stabilitätsorientierte Finanzpoli-tik steht diese Bundesregierung. Die Offenheit gegenübertechnischen Entwicklungen ist in allen Bevölkerungs-gruppen hoch. Es gibt keine strukturellen Gründe, warumEuropa und Deutschland nicht ebenso wie die VereinigtenStaaten zu einer lang anhaltenden Phase eines starkenWirtschaftswachstums und einer stetig sinkenden Ar-beitslosigkeit bei stabiler Preisentwicklung kommen soll-ten. Der Euro hat die Voraussetzungen dafür übrigensdeutlich verbessert.Die Wachstumsprognosen der Bundesregierung stüt-zen sich aber nicht auf überzogene Erwartungen an die In-formations- und Kommunikationstechnologie. Vielleichtschon in wenigen Monaten wird aus der Gentechnik eine„New New Economy“, oder ein Sektor, an den wir nochgar nicht denken, bringt über eine Basisinnovation zu-sätzlichen Schwung in die Wirtschaftsentwicklung.In diesem Jahr dürfte das Wachstum in der Europä-ischen Union bei rund 3 Prozent liegen. Deutschland hatim vergangenen Jahr mit seinem starken Wirtschafts-wachstum zum Trend in der Europäischen Union aufge-schlossen. Das hatten wir auch bitter nötig, nachdem wirseit Mitte der 90er-Jahre hintendran hingen. Der langeZeit große Abstand Deutschlands zum Durchschnitts-wachstum in Europa wurde stark verringert, und das trotzder Anpassungsprobleme in den neuen Bundesländern.Ähnliche Probleme hat keiner unserer europäischenNachbarn zu bewältigen. Schon wenn die schlechte Lageder Bauwirtschaft in den neuen Ländern, die sich zwin-gend ergab, unberücksichtigt bliebe, sähe das Gesamt-ergebnis viel freundlicher aus.Wir arbeiten darauf hin, dass Deutschland eine ange-messene Rolle in Europa spielt, so wie es der größtenVolkswirtschaft zukommt, und gemeinsam mit Frank-reich unter den Großen eine starke Position in der MitteEuropas einnimmt. Dieser Prozess verlangt eine stärkereZusammenarbeit der nationalen Regierungen auf dem Ge-biet der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die Verflech-tungen zwischen den Staaten haben zugenommen. Denzunehmenden Interdependenzen muss Deutschland mitseinen europäischen Partnern gemeinsam gerecht werden.Wir brauchen in Europa günstige makroökonomischeBedingungen und weitere Strukturreformen, um die Ar-beitslosigkeit weiter zu bekämpfen. In einem Satz: „Re-formkurs fortsetzen – Wachstumsdynamik stärken“, soauch der Titel des diesjährigen Jahreswirtschaftsberichts.Der Jahreswirtschaftsbericht stellt ausführlich die Ver-netzung der nationalen mit der europäischen Wirtschafts-politik dar. Es sind die gemeinsamen Grundzüge der Wirt-schaftspolitik aller Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, andenen sich auch die nationale Politik, die vorher an ihrerFormulierung beteiligt ist, anschließend orientieren muss.Gerade die Grundzüge der Wirtschaftspolitik zeigen, wiestark der Einfluss der europäischen Einigung auf unsereWirtschafts- und Finanzpolitik inzwischen notwendiger-weise geworden ist.Im Europäischen Rat derWirtschafts- und Finanz-minister wollen wir nächste Woche einen weiterenSchritt in Richtung einer wissensbasierten, fort-schrittlichen Wirtschaft und Gesellschaft in Europa ge-hen. Das deutsche Positionspapier für diesen Ecofin-Ratist sehr konkret. Wir nennen die Maßnahmen, die wir unswünschen, und verbinden sie mit Zeitpunkten, die wir an-streben. Das gilt beispielsweise für die vollständige Libe-ralisierung des Telekommunikationsmarktes bis zumEnde des Jahres, aber auch der Post-, Gas- und Strom-märkte, für die spätere Zeitpunkte gelten.Bei dieser Gelegenheit will ich noch eine Bemerkungzum Thema Postmonopol machen. Ich bin sehr für eineÖffnung der Märkte. Wir werden das Wachstumspoten-zial des Binnenmarktes nur entfalten, wenn wir ihn wirk-lich öffnen. Das heißt, nationale Regulierungen störenund müssen weg; wir brauchen europäischen Regulierun-gen. Aber wir brauchen auch einen ungefähren Gleich-klang bei der Deregulierung in den nationalen Volkswirt-schaften. Es kann nicht so sein, dass wir alle unsereMärkte öffnen und andere aus gesicherten Monopolen he-raus in unsere Märkte eindringen. Das kann auch nichtdeutsches Interesse sein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Bundesminister Hans Eichel15120
So werden wir übrigens bei der Öffnung der Märkte inEuropa auch nicht vorankommen. Wenn der Druck aufdiejenigen, die sich bisher noch der Öffnung der Märkteverweigern – das hat ja nationale Gründe, die man poli-tisch alle verstehen kann –, nicht aufrechterhalten wird,dann werden wir es nicht schaffen. Infolgedessen brau-chen wir ein Stück Harmonisierung bei der Öffnung derMärkte. Es dient deutschen Interessen nicht, an dieserStelle zu sagen: Wir machen das ohne Rücksicht darauf,ob die anderen mitziehen oder nicht. Daran, dass wir dasnicht tun, möchte ich angesichts der Debatte in der letztenZeit um das, was Herr Kollege Müller angestoßen hat,herzlich appellieren.
Auch die drängenden Probleme des Verbraucher- unddes Umweltschutzes können wir nur gemeinsam lösen.Dabei will ich auch auf eine positive Nachricht dieserTage hinweisen: Nachdem es bisher eine Fundamentalop-position Spaniens gegen die Harmonisierung der Ener-giebesteuerung in Europa gab, scheint sich jetzt die spa-nische Position langsam zu verändern, und zwar imHinblick auf den Vorschlag, den die schwedische Präsi-dentschaft auf den Tisch gelegt hat, ebenso wie im Hin-blick darauf, dass auch Spanien ein großes eigenes Inte-resse daran hat, einen gemeinsamen europäischenEnergiemarkt zu schaffen.Dies zeigt, dass man keinen gemeinsamen europä-ischen Energiemarkt schaffen kann, wenn man nicht auchdie Energiebesteuerung harmonisiert. Die Umsetzungdieser Erkenntnis würde uns übrigens aus vielen Debattenherausbringen, die wir ganz unnötigerweise führen. Icherinnere daran, dass dies schon das Ziel der Vorgängerre-gierung war – ich kritisiere das nicht –, das wir nachhal-tig verfolgen, und dass die Ökosteuer damals bereits eineuropäisches Thema war und nur an Spanien und Irlandgescheitert ist. Warum führen wir heute solche Debatten?Mir leuchtet das nicht ein.
Meine Damen und Herren, die günstige Situation inDeutschland ist natürlich nicht nur das Ergebnis unsererPolitik, sondern daran haben alle Menschen im Landemitgearbeitet. Auch die Tarifpartner haben großen Anteildaran. Im Bündnis für Arbeit hatten sie eine beschäf-tigungsfördernde Lohnpolitik vereinbart, die auch umge-setzt wurde. Dies hat verhindert, dass aus dem Anstieg derÖlpreise eine Lohn-Preis-Spirale geworden ist. Die Lohn-abschlüsse haben sich auch positiv auf den Arbeitsmarktausgewirkt. Sie belegen, was Mitbestimmung und Mit-verantwortung bedeuten, dass sie sich für alle Beteiligtenauszahlen und dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer und ihre Organisationen, die Gewerkschaften,sehr wohl sehr verantwortlich damit umgehen. Das sollteauch in der Debatte um die Reform des Betriebsverfas-sungsgesetzes beachtet werden.
Wir haben große Fortschritte bei der Bekämpfung derArbeitslosigkeit gemacht. Die Finanzpolitik hat wesent-lich dazu beigetragen. Der Sachverständigenrat zur Be-gutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, des-sen Bericht hier auch zur Aussprache steht, hat die Rich-tung unserer Finanzpolitik ausdrücklich gelobt. Natürlichgibt es Kritik im Detail; das erwarte ich von Wissen-schaftlern auch. Aber die Konsolidierung und die Steuer-reform werden in ihren Grundzügen ausdrücklich be-grüßt. Der Sachverständigenrat formuliert wörtlich:Die Politik hat begonnen, den wachstumshemmen-den Reformstau aufzulösen.Für den Stau waren andere vor uns verantwortlich. SeineBeseitigung erfolgt durch uns.
Wir haben für unsere Politik das beste Zeugnis erhal-ten, das eine Regierung seit langem bekam. Wäre das Ur-teil der Fünf Weisen zu Zeiten der Regierung Kohl auchnur einmal so gut ausgefallen, wie es diesmal für uns aus-fällt, hätte das bayerische Fernsehen dieses Urteil nonstopden ganzen Tag über verlesen.
Ich bin davon überzeugt: Wir machen die richtige Wirt-schafts- und Finanzpolitik. Deutschland ist in europä-ischer Einbindung auf gutem Wege. Genau diesen Wegwerden wir weitergehen.
Ich erteile dem Kolle-gen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.Friedrich Merz (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Wer soeben diese Rede gehört hat,muss zu der Erkenntnis kommen, dass es wohl ein schwe-rer Fehler war, die Zuständigkeit für den Jahreswirt-schaftsbericht dem Finanzminister zu übertragen.
Diese Rede, Herr Eichel, hätte jedenfalls der Präsident desStatistischen Bundesamtes der Bundesrepublik Deutsch-land genauso halten können.
Aber ich will den Ball schon aufnehmen und auf dieZahlen zu sprechen kommen, die Sie hier erwähnt haben.Lassen Sie mich zunächst etwas zu den Wachstumserwar-tungen für das Jahr 2001 sagen und dabei auch einen kur-zen Blick zurück auf das Jahr 2000 werfen.Wir haben in der Tat im Jahr 2000 in der Bundesrepu-blik Deutschland ein höheres Wachstum als im Vorjahrgehabt, aber das Wachstum des Jahres 2000 in unseremLand befand sich am unteren Rand des Mittelfeldes der
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Bundesminister Hans Eichel15121
Europäischen Union. Die meisten stark wachsenden Län-der in der Euro-Zone haben ein höheres Wachstum als dieBundesrepublik Deutschland gehabt.Wenn Sie es im Quartalsvergleich sehen, dann wird dieEntwicklung des Jahres 2000 noch deutlicher.
Im ersten Quartal betrug das Wachstum in Deutschland1 Prozent, im zweiten Quartal 1,2 Prozent, im drittenQuartal 0,3 Prozent und im vierten Quartal 0,2 Prozent.Das war das Ergebnis des Jahres 2000.Herr Eichel, für das Jahr 2001 glaubt außer Ihnen inDeutschland mittlerweile kaum noch jemand daran, dasswir ein Wachstum von 2,75 Prozent erreichen.
Die Probleme sind unübersehbar.
Die Konjunktur leidet unter dem, was in Amerika und inJapan bevorsteht. Wir haben in der BundesrepublikDeutschland wegen der hohen Exportabhängigkeit keineChance, den Ausfall im Wachstum in der Binnenkonjunk-tur zu kompensieren.
Dies schlägt sich auf dem Arbeitsmarkt nieder. HerrEichel, es gehört wirklich schon eine ganze Menge Dreis-tigkeit dazu zu behaupten, wir hätten in der Bundesrepu-blik Deutschland einen Zuwachs an Beschäftigung undeine Abnahme der Arbeitslosigkeit.Auch ich will es jetzt nicht mit Zahlen übertreiben,aber eine Zahl will ich Ihnen schon nennen. Im Okto-ber 1998, im Monat der Regierungsübernahme durch Sie,gab es 3,9 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Im Fe-bruar 2001, nach der Halbzeit, sind es 4,11 Millionen Ar-beitslose in Deutschland. Wo kommt denn der Abbau derArbeitslosigkeit her?
Herr Eichel, Sie können nun wirklich niemandem inDeutschland erklären, dass die Arbeitslosigkeit abnimmt.Sie haben sämtliche statistischen Effekte herausgerech-net.
– Ja, ich kann gut verstehen, dass es Ihnen Probleme be-reitet, wenn ich Ihnen die Zahlen vorhalte, mit denen Siehier jonglieren.
Meine Damen und Herren, auch der Sachverständi-genrat sagt klipp und klar:
Es hat keine Zunahme der Beschäftigung in Deutschlandgegeben, keine Zunahme an Arbeitsstunden. Wenn Siesich darauf beziehen, dass die Beschäftigtenzahlen zuge-nommen haben, dann sind das ausschließlich die früherengeringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die Sie jetztsozialversicherungspflichtig gemacht haben. Das ist dieZunahme an Beschäftigung, Herr Eichel, die Sie uns hiergerade dokumentiert haben.
Sie haben relativ kurz und ziemlich oberflächlich et-was zur Lage in den neuen Ländern gesagt. Wir hättenerwartet, dass in dieser Rede ein wesentlich größererSchwerpunkt auf die Lage in den neuen Ländern gelegtworden wäre, die nun in der Tat besorgniserregend ist.Die neuen Länder stehen nicht auf der Kippe, wie derHerr Bundestagspräsident meinte beurteilen zu müssen.Die Lage dort ist sehr differenziert zu betrachten; sie istunterschiedlich. Sie ist – genauso wie auch in der altenBundesrepublik in Baden-Württemberg und Bayern – inden südlichen Ländern, in Sachsen und in Thüringen,wesentlich besser als in den Ländern, wo beispielsweisedie SPD zusammen mit der PDS regiert, in Sachsen-An-halt und in Mecklenburg-Vorpommern. Aber sie ist un-verändert schwierig.Weil sie schwierig ist, hat Ihnen, Herr Bundeskanzler,einer der Ministerpräsidenten der neuen Länder vor knappzwei Wochen einen Brief geschrieben, ausführliche Vor-schläge gemacht, wie man die Lage in den neuenBundesländern verbessern könne, insbesondere mit einerInfrastrukturoffensive Ost, und diesen Brief hat in der ver-gangenen Nacht per Fax Ihr Staatsminister Schwanitz be-antwortet, die Zahlen bestritten,
die Vorschläge abgelehnt
und damit ist das Thema für Sie erledigt.
Herr Bundeskanzler, Sie haben den Aufbau Ost zurChefsache erklärt. Dann ist es eine Unverschämtheit, dassder Brief eines Ministerpräsidenten aus einem der neuenLänder mit konkreten Vorschlägen zur Verbesserung derLage durch einen Staatsminister beantwortet wird. Es isteine Unverschämtheit!
Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ist fast drei-mal so hoch wie in der alten Bundesrepublik Deutschland.Die Entwicklung geht nicht zueinander, sondern sie gehtwieder auseinander. Das Wachstum dort ist geringer als inder alten Bundesrepublik Deutschland, obwohl dieWachstumslücke so groß ist, dass es eigentlich größer seinmüsste. Was sind die konkreten Antworten der Bundesre-
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gierung auf die Probleme in den neuen Bundesländern imRahmen der Chefsache Ost, die vom Bundeskanzler aus-gerufen worden ist? Sie hätten heute die Gelegenheit nut-zen sollen, darauf eine Antwort zu geben.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat– nicht ohne gute Gründe – einen Schwerpunkt auf denAbbau der Jugendarbeitslosigkeit gelegt. Zum ThemaJugendarbeitslosigkeit, Herr Eichel, haben Sie kein Wortgesagt. Lassen Sie es mich tun: Der Anteil der arbeitslo-sen Jugendlichen an den Arbeitslosen insgesamt ist seitdem Zeitpunkt, seit dem diese Regierung im Amt ist, von10,9 auf 11,4 Prozent angestiegen. Nun hat der absoluteWert bei den Jugendlichen etwas abgenommen. Beiknapp 500 000 arbeitslosen Jugendlichen sind es in denletzten zwei Jahren 20 000 weniger. Für diese 20 000 Ju-gendlichen haben Sie im Rahmen Ihres so genanntenJUMP-Programms zwei Jahre lang jeweils 2 Milliar-den DM aufgewendet, also insgesamt 4 Milliarden DMfür ein Programm, das dazu geführt hat, dass 20 000 Ju-gendliche weniger arbeitslos sind.
Das ist eine Verschwendung von Steuermitteln. Sie setzensie nicht so effizient ein, dass gerade auf diesem Teil desArbeitsmarktes eine Verbesserung erfolgt. Das ist ein ka-tastrophales Ergebnis.
Herr Bundeskanzler, Sie haben sehr viel Wert daraufgelegt, dass das Bündnis für Arbeit nach Ihrem Regie-rungsantritt wieder auflebt. Sie haben zu Beginn IhrerAmtszeit dieses Bündnis für Arbeit als das zentralemakroökonomische Steuerungsinstrument für die Wirt-schaftsentwicklung und für den Arbeitsmarkt angesehen.Mittlerweile ist das alles auf Normalmaß geschrumpft.Aber vielleicht darf man doch einmal die Verabredun-gen, die dort getroffen worden sind, im Lichte der Ergeb-nisse beurteilen. Ich begrüße es übrigens sehr, dass Siebeim letzten Zusammentreffen des Bündnisses für Arbeitam letzten Sonntag verabredet haben, den verhängnisvol-len Weg zur Frühverrentung älterer Arbeitnehmer zu stop-pen. Ich bezweifle allerdings, ob man diese Verabredungirgendwann einmal umgesetzt sieht. Denn das, was Sievor acht Monaten, nämlich am 10. Juli des letzten Jahres,als das Bündnis für Arbeit zum letzten Mal zusammenge-treten ist, verabredet haben, ist überhaupt nicht Realitätgeworden. Sie haben sich damals für den beschäftigungs-wirksamen Abbau von Überstunden ausgesprochen. Mit1,9Milliarden Überstunden kam es Ende letzten Jahres zueinem Höchststand in der Geschichte der BundesrepublikDeutschland.Lassen Sie mich einmal die Ergebnisse Ihrer Arbeits-marktpolitik zusammenfassen: 4,11 Millionen Arbeits-lose,
1,8Millionen in der so genannten stillen Reserve, 1,9Mil-liardenÜberstunden – dies ist ein Höchststand –, 500 000 of-fene Stellen und gleichzeitig – dazu haben Sie, HerrEichel, kein Wort gesagt – eine dreimal so schnell wach-sende Schattenwirtschaft in der Bundesrepublik Deutsch-land im Vergleich zum tatsächlichen Anstieg des Brutto-inlandsprodukts.Niemand behauptet, es gebe in diesem Land zu wenigArbeit. Es gibt genug Arbeit. Aber offensichtlich ist dievorhandene Arbeit nicht mehr so organisiert, dass sie inder realen Volkswirtschaft stattfinden und zu bezahlbarenPreisen als sozialversicherungspflichtige Beschäftigungangeboten werden kann.
Was ist die Antwort der Bundesregierung? Sie regulie-ren den Arbeitsmarkt immer mehr und Sie benachteiligeneinseitig die Unternehmen, die eigentlich für einen Zu-wachs an Beschäftigung und auch für einen Zuwachs anAusbildungsplätzen in Deutschland sorgen könnten, näm-lich die mittelständischen Unternehmen.
Die einseitige Benachteiligung des Mittelstandes inDeutschland
ist die eigentliche Ursache für die nicht überwundene Be-schäftigungskrise.
Sie stellen uns zu Recht immer wieder die Frage: Wasist denn nun Ihre Alternative zur Wirtschaftspolitik derrot-grünen Bundesregierung? Ich will Ihnen vier Punktenennen:
Erstens. Wir müssen in Deutschland den Mittelstandstärken und dürfen ihn nicht weiter schwächen.
Dies hat konkrete Auswirkungen auf die Steuerpolitik.
Sie haben im letzten Jahr eine viel gefeierte Steuer-reform durchgesetzt. Diese Steuerreform entpuppt sichimmer mehr als eine Steuerreform zugunsten der großenUnternehmen – die zunehmend, richtigerweise, auch imAusland investieren – und als eine Steuerreform, die ohnejede sachliche Begründung einseitig den Mittelstand be-nachteiligt.
Wir fordern Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass die mittel-ständischen Unternehmen in Deutschland früher als imJahr 2005 entlastet werden!In diesem Zusammenhang lassen Sie mich ein offenesWort an die Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. richten.
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Friedrich Merz15123
Ich finde es ja bemerkenswert, dass Sie in der Steuerpoli-tik jetzt neue Initiativen ergreifen und die Politik auffor-dern, schneller voranzugehen. Wir teilen diese Einschät-zung. Aber ich bin, so muss ich sagen, schon etwaserstaunt, wenn ich lese, was der zukünftige Vorsitzendeder F.D.P. in einem Gastbeitrag für eine Zeitung vor eini-gen Tagen veröffentlicht hat. In diesem Artikel vergleichter die Steuerpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika– diese dürfte in der Tat eine große Herausforderung auchfür uns werden – mit der von der Bundesregierung durch-gesetzten Steuerreform. Er schreibt dort:Was im direkten Zahlenvergleich schon armselig ge-nug wirkt,– er meint die deutsche Steuerpolitik –entpuppt sich auf den zweiten Blick als volkswirt-schaftlicher Offenbarungseid.Ich teile diese Einschätzung, frage mich nur: Warum ha-ben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.,im letzten Jahr der Steuerreform im Bundesrat zuge-stimmt?
Wir brauchen eine Steuerreform, die auf die mittleren undkleinen Unternehmen ausgerichtet ist und deren Wachs-tum ermöglicht.Zudem muss, meine Damen und Herren, der Unfug mitder Ökosteuer aufhören.
Herr Bundesfinanzminister, wir hätten uns schon ge-wünscht, dass Sie im Namen der Bundesregierung einklärendes Wort sagen, wie es denn nun nach 2002 mit derÖkosteuer weitergehen soll.
Dazu haben wir in den letzten Tagen von Rot und Gründie verschiedensten Varianten gehört. Bei Ihnen geht esbei der Debatte über die Ökosteuer zu wie in einem Ke-gelklub nach der fünften Lokalrunde.
Wir hätten schon gerne Klarheit: Wie geht es jetzt weiter?Was ist die Position der rot-grünen Bundesregierung zurZukunft der Ökosteuer? Wird weiter abgezockt oder ist,wie der Bundeskanzler sagt, das Ende der Fahnenstangeerreicht?
Was gilt denn nun, Rot-Grün?
Zweitens. In der Bundesrepublik Deutschland bestehtdurch Mitbestimmungsgesetz und Betriebsverfassungs-gesetz ein außergewöhnlich hohes Maß an sozialem Frie-den in Unternehmen und es gibt bewährte soziale Part-nerschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.Aber das, was wir jetzt mit der Vorlage eines neuen Be-triebsverfassungsgesetzes erleben,
das hat mit der Fortsetzung der Mitbestimmung und derFortsetzung der sozialen Partnerschaft in den Betriebennichts mehr zu tun. Was Sie hier vorlegen, ist ein Gesetzzur Stärkung der Funktionäre von außen zulasten der Au-tonomie und der Verantwortung der Belegschaft von in-nen.
An dieser Stelle sind wir an einem Grundproblem Ih-rer Wirtschaftspolitik. Das hat mit Mitbestimmung garnichts mehr zu tun, sondern berührt die Grundfrage, ob esrichtig ist, dass wir in einem Staat leben, in dem diegroßen Organisationen, der Staat, die Gewerkschaften,die Verbände, immer mehr Verantwortung übertragen be-kommen, immer mehr Möglichkeiten zur Bevormundungdes Einzelnen und der Betriebe haben, oder ob es nichtbesser wäre, angesichts der großen Herausforderungen ineiner globalisierten Welt zu Beginn des 21. Jahrhundertsden Betrieben in Deutschland ein höheres Maß anEigenverantwortung und Autonomie zu übertragen. Dasist die entscheidende Frage.
Herr Bundeskanzler, Sie können sich die, wie ich höre,groß angelegte Veranstaltung am 3. Oktober zur Bürger-gesellschaft in diesem Lande sparen, wenn Sie gleichzei-tig ein Betriebsverfassungsgesetz vorlegen, das nicht dieBürger in Deutschland, sondern die Funktionäre in die-sem Land weiter stärkt.
– Ihre Zwischenrufe bestätigen mich in unserer Einschät-zung, dass das, was Sie jetzt als neues Betriebsverfas-sungsgesetz vorlegen, was durch die Wahlverfahren dieDGB-Gewerkschaften in den Betrieben der Bundesrepu-blik Deutschland einseitig bevorzugen und stärken soll,der Dank der rot-grünen Bundesregierung für die Wahl-kampfunterstützung in Höhe von 8 Millionen DM imJahr 1998 ist. Das ist die Wahrheit.
Drittens. Wir brauchen durchgreifende und langfristigwirkende Reformen der sozialen Sicherungssysteme inDeutschland. 75 Prozent der Menschen in Deutschlandglauben nicht, dass die von Rot-Grün vorgelegte Reformder Rentenversicherung wirklich für eine Generationträgt. 75 Prozent der Menschen in Deutschland liegen
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richtig mit ihrer Einschätzung. Auch die anderen 25 Pro-zent werden bald verstehen, dass eine Rentenreform, sowie Sie sie vorgelegt haben, nicht in der Lage ist, die Pro-bleme, die wir innerhalb der Rentenversicherung haben,wirklich zu lösen.
Sie werden allerdings mit Ihrer Politik der falschen Re-form in der Rentenversicherung und der Verweigerungder Reform, die eigentlich in der Krankenversicherungnotwendig wäre, an keiner Stelle in Deutschland einewirklich substanzielle Begrenzung der Lohnzusatzkostenfür die Wirtschaft erreichen. Die Kostenbelastung und dieBürokratiekosten in den Betrieben, die Sozialabgaben,die Summe der Abgaben aus Sozialversicherungsbeiträ-gen
und Steuern in Deutschland sinken unter dieser Regierungnicht, sondern sie haben im Jahr 2000 einen historischenHöchststand erreicht.
Das ist die Politik, meine Damen und Herren, die Sie ma-chen und die mit Sicherheit nicht zur Überwindung derBeschäftigungskrise führen wird.
Der vierte Sachverhalt, den ich in diesem Zusammen-hang ansprechen möchte, ist in der Rede des Bundesfi-nanzministers nicht erwähnt worden, der es ja fertigbringt, Reden zur sozialen Marktwirtschaft zu halten,vornehmlich außerhalb des Parlaments, in denen das Wort„Markt“, das Wort „Wettbewerb“ und das Wort „Ord-nungspolitik“ nicht ein einziges Mal vorkommen. Es istschon eine beachtliche intellektuelle Leistung, eine Redezur Marktwirtschaft zu halten, in der „Wettbewerb“,„Markt“ und „Ordnungspolitik“ mit keinem Wort erwähntwerden!Die eigentliche Aufgabe, die uns allen gestellt ist, isteine Reform des Arbeitsmarktes selbst. Die Überwin-dung der Beschäftigungskrise wird nicht gelingen, wennwir nicht tief greifende Reformen des Arbeitsmarktesselbst auf den Weg bringen.
Obwohl jetzt in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalzund Hessen Wahlkampf ist, sage ich ganz offen: Auch wirhaben in der früheren Koalition diesen Weg nicht beherztgenug und nicht früh genug beschritten.
Aber wir haben erste Schritte in die richtige Richtung ge-macht, als wir beispielsweise das Bundessozialhilfegesetzreformiert haben. Nicht wir, nicht neoliberale Turbokapi-talisten, sondern der Präsident des Ifo-Instituts in Mün-chen hat vor einigen Wochen darauf hingewiesen,
dass die Überwindung der Beschäftigungskrise inDeutschland nur möglich ist mit einer grundlegenden Re-form der Sozialhilfe.
Ich will genau dies zum Schluss noch einmal kurz be-gründen. Wenn die Regel weiter gilt, dass die Sozialhilfesozusagen die Lohnuntergrenze in Deutschland ist, keinBetrieb und kein Arbeitgeber in Deutschland aber bereitsind, einen Mitarbeiter zu beschäftigen, dessen Lohnoberhalb der Produktivität liegt, dann ist jede Arbeitspro-duktivität, die unterhalb der Sozialhilfe liegt, automatischmit struktureller Arbeitslosigkeit verbunden.
Deshalb müssen die Vorschläge zur Reform der Sozialhilfe,die nicht von uns, sondern von der Wissenschaft gemachtwerden, in dem Licht geprüft werden, ob wir damit einenbesseren Anreiz zur Beschäftigung auslösen, statt durch diehohen Transferleistungen in der Bundesrepublik Deutsch-land einen Anreiz zur Nichtbeschäftigung zu geben.
Wenn Sie sich dieser Frage nicht zuwenden, wenn esbei der Höhe der Sozialhilfe, die häufig auch bei kinder-reichen Familien an die Zahl der Haushaltsmitglieder ge-bunden ist, bleibt, werden Sie die Beschäftigungskrise inDeutschland nie überwinden.Andere Länder haben es uns längst vorgemacht: nichtnur die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auchGroßbritannien, Dänemark und mittlerweile sogar Frank-reich, ein Land, das von einer sozialistischen Regierungregiert wird. Diese Länder haben längst erkannt, dassdurch die sozialen Transfersysteme nicht Anreize zurNichtbeschäftigung, sondern Anreize zur Beschäftigunggegeben werden müssen.Deswegen machen wir Ihnen, Herr Bundeskanzler, er-neut ganz konkret den Vorschlag, darüber zu reden, Ar-beitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen, dieKompetenzen der Kommunen zu stärken und nicht zuschwächen, um gerade im Bereich der lokalen Arbeits-märkte bessere Vermittlungschancen insbesondere fürLangzeitarbeitlose zu eröffnen und durch ein Zusammen-wirken von Transferleistungen und Löhnen dafür zu sor-gen, dass die Menschen aus der Beschäftigungs- und Ar-mutsfalle herauskommen. Wir machen Ihnen diesenkonkreten Vorschlag.
Das setzt allerdings voraus, dass der Sozialstaat, dieGesellschaft insbesondere bei jüngeren Arbeitslosen miteiner gewissen Härte sagt: Wer eine zumutbare Beschäf-tigung ohne triftigen Grund ablehnt, muss den Anspruchauf soziale Transferleistungen im Wesentlichen verlieren.Sonst wird man nicht zu mehr Beschäftigung kommen.
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Friedrich Merz15125
Voraussetzung ist, dass Sie bereit sind, mit dieser Härtevorzugehen.
Derjenige, der eine zumutbare Beschäftigung ohne er-kennbaren Grund ablehnt, verletzt das Solidaritätsprinzipim Sozialstaat.
Deswegen muss in Deutschland wieder der Grundsatzgelten, dass derjenige, der arbeitet, grundsätzlich mehrGeld bekommt als derjenige, der nicht arbeitet und sozialeTransferleistungen bekommt.
Dies wäre eine arbeitsmarktorientierte Wirtschafts-und Finanzpolitik. Das hätte etwas mit Erneuerung der so-zialen Marktwirtschaft zu tun. Das wäre ein politischesDenken in Gesamtzusammenhängen zwischen Wirt-schafts-, Finanz-, Sozial- und Familienpolitik. Das wäredie richtige Botschaft gewesen, die heute von dieser Stelleaus von einem Vertreter der Regierung der Bundesrepu-blik Deutschland in der Aussprache zum Jahreswirt-schaftsbericht hätte gegeben werden müssen. Statt anei-nander gereihte Zahlen, Herr Eichel, hätte eine klarePerspektive für die Überwindung der Beschäftigungskrisevon dieser Stelle aus gegeben werden müssen. Dazu sindSie leider nicht in der Lage.
Ich erteile dem Kolle-gen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diewirtschaftliche Lage bietet keinen Anlass, Trübsal zu bla-sen, wie Sie, Herr Merz, das tun. Aber bei Ihnen ist eswohl mehr die Furcht vor dem April, mehr die Furcht vordem eigenen Absturz als vor dem der Wirtschaft.
Eine Frage wird durch Ihre Rede allerdings schon be-antwortet, die heute in der „Bild“-Zeitung steht, nämlichwarum Sie eigentlich so unbeliebt sind. Sie haben 20 Mi-nuten lang wortreich über all das gesprochen, was Sienicht wollen, was Sie schlecht finden, was schief läuft. Siesind hier mit der Art eines zum Oberlehrer mutierten Best-schülers aufgetreten.
Dabei ist es doch eher verblüffend, wie stabil und ro-bust die Konjunktur in Deutschland trotz der Dämpfungim letzten Quartal des vergangenen Jahres,
trotz des Einbruchs der US-Konjunktur und der anhalten-den Rezession in Japan, trotz der schwankenden Ölpreiseund des gestiegenen Außenwerts des Euro verläuft. Es istdoch eher verblüffend, dass wir in Europa eine solcheWachstumsstabilität haben. Dies ist kein Wunder, sondernes ist der Politik der Bundesregierung zu verdanken, dienämlich für mehr Wachstum und Beschäftigung gesorgthat.
Schlüsselbegriffe sind: Haushaltskonsolidierung, Steu-erreform, Rentenreform, Senkung der Lohnnebenkosten.Dies sind alles Projekte, die Sie sich fast 16 Jahre langvorgenommen und nicht geschafft haben. Das sind dieGründe, warum wir relativ optimistisch und mit Zuver-sicht in dieses Jahr schauen können.Der Standort Deutschland ist wieder attraktiv. Daszeigt sich auch an den ausländischen Direktinvestitio-nen. Fragen Sie Hilmar Kopper, den Bundesbeauftragtenfür die Akquirierung von Direktinvestitionen. Er führtdiese Entwicklung unmittelbar auf die rot-grüne Reform-politik zurück. Oder nehmen Sie das Beispiel Betriebs-gründungen. Hier liegt Deutschland nach den USA undKanada an dritter Stelle. Das heißt, es gibt viele jungeLeute, die bereit sind, Wagnis- oder Risikokapital aufzu-nehmen und mit einer Idee in den Wettbewerb und in denMarkt einzutreten. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich andiesem Standort Deutschland eine Dynamik entwickelthat. Das spricht nicht für die These eines festgezurrten,verkrusteten Arbeitsmarktes, wie Sie, Herr Merz, ihn be-schrieben haben. So ist es nicht. Auch haben wir Lehr-stühle für Existenzgründung gefördert. All das hat posi-tive Auswirkungen.Die jüngsten Arbeitsmarktzahlen zeigen den nied-rigsten Februarstand seit fünf Jahren. Das ist positiv undmuss festgehalten werden. Trotzdem ist die Zahl der Ar-beitslosen noch viel zu hoch. Das verschweigen wir nicht.Vor allen Dingen die Tatsache, dass die Arbeitsmärkte inOst und West auseinander driften, dass der Anstieg der Ar-beitslosigkeit im Januar ausschließlich auf den Anstieg imOsten zurückzuführen ist, macht uns Sorgen. Deswegenmüssen die Anstrengungen verstärkt werden.Das Bündnis für Arbeit als Kranzlerrunde abzutun,als einen Gesprächskreis, in dem sich nichts bewegt, istvöllig verfehlt.
Ich nenne allein die Aussichten auf moderate Lohnab-schlüsse und darauf, dass die Überstunden abgebaut wer-den. Das sind keine haltlosen Versprechungen, die dortgegeben worden sind. Schauen wir uns an, was die Ge-werkschaft vorgerechnet hat: Wenn man nur ein Vierteldieser 1,9 Milliarden Überstunden abbauen würde, kämeman auf 250 000 neue Arbeitsplätze. Was dazu noch opti-mistisch stimmt: Die Arbeitgeberverbände haben sich da-rauf eingelassen, entsprechende Schritte einzuleiten. Dassind zwar nur Trippelschritte, aber wir kommen nur inTrippelschritten voran. „Henneteppele“ würde man indem Wahlkampf führenden Land sagen, das bekanntlichalles außer Hochdeutsch kann.
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Friedrich Merz15126
Mit solchen Schritten oder auch der Qualifizierungsof-fensive für ältere Arbeitnehmer kommen wir weiter. Dennlebenslanges Lernen darf keine hohle Phrase sein. DieQualifikation, die Motivation und der Leistungswille vonälteren Arbeitnehmern sind ein wertvolles Kapital, für denVorruhestand viel zu wertvoll.Dies ist auch der Sinn der Reform des Betriebsverfas-sungsgesetzes. Schauen Sie sich einmal die neue Grün-derwelle bei den Start-up-Unternehmen an, die nach demZähneklappern beim Fall der Stock Options den Wunschhatten, Betriebsräte zu gründen, ihre Interessen besser zuvertreten, um künftig im Betrieb das wirtschaftlicheWachstum mitzubestimmen und mitzuorganisieren. Ge-nau das beabsichtigen wir mit unserem Gesetzentwurf. Esist ein Gesetzentwurf, der einen Kompromiss zwischenden beiden Tarifpartnern enthält. Ich gehe davon aus, dasser in der weiteren Beratung noch weiter verbessert wird,so wie wir auch vorher Kritik aufgegriffen haben.So gut die wirtschaftliche Lage in Deutschland auchsein mag, so ist sie doch gespalten. Wir wussten von An-fang an, dass die deutsche Einheit zwar politisch richtig,aber wirtschaftlich falsch war. Mit anderen Worten: Wirhaben den teuersten Weg der Vereinigung gewählt. Daslastet auf uns. Wir haben eine Art Transferökonomie auf-gebaut. Der Osten – darin stimme ich Ihnen ausdrücklichzu, Kollege Merz – steht nicht auf der Kippe. Aber wasman hinzufügen muss: Er befindet sich in einem schrägenGleichgewicht mit einer fatalen Kreislaufführung. DasGanze ist transfergestützt und schafft Abhängigkeiten. Siekönnen das auch bildhaft umsetzen.
– Bei Ihnen dreht sich das Rädchen etwas langsamer. Dasmerke ich.Hier tritt ein Gewöhnungseffekt ein, sodass die struk-turellen und sektoralen Schwächen nicht ausgeglichenwerden. Begleiterscheinungen sind die sehr hohe Arbeitslo-sigkeit und die geringe Steuerkraft. Aber ein Mezzogiorno-Vergleich ist völlig absurd.
Kein Großunternehmen würde eine Chipfabrik wie die inFrankfurt/Oder im Mezzogiorno ansiedeln. Wenn mansich den Mezzogiorno heute einmal etwas genauer an-schaut, dann stellt man fest, dass es auch dort Wirt-schaftsentwicklung gibt, seit einige Subventionen abge-baut worden sind. Auch hier steht der Wettbewerbstesteinigen ostdeutschen Unternehmen noch bevor. Das wirdsich im Rahmen der EU-Osterweiterung ergeben.Viel interessanter ist aber, dass der Deindustriealisie-rung im Osten eine Reindustriealisierung gefolgt ist. Eshat sich im Grunde genommen ein sehr interessanterStrukturwandel vollzogen: Abbau von Überkapazitätenim Baugewerbe und im öffentlichen Dienst auf der einenSeite und auf der anderen Seite Wachstumsraten im zwei-stelligen Bereich bei der gewerblichen Wirtschaft, beihochmodernen und wettbewerbsfähigen Branchen. Dasist etwas, was sich auch auf dem Arbeitsmarkt widerspie-gelt, denn nur wenn man oberflächlich hinsieht, gewinntman den Eindruck, als stagniere die Arbeitslosigkeit imOsten. Sie ist zwar – weitgehend jedenfalls – gleich blei-bend, aber wir können auch erkennen, dass Arbeitsstellenim Baugewerbe ebenso wie ABM-Stellen abgebaut wer-den, dies aber auf der anderen Seite durch die Schaffungneuer Stellen in der gewerblichen Wirtschaft und imDienstleistungsgewerbe aufgefangen wird.Das ist der eigentliche Aufholprozess, der sich in Ost-deutschland ereignet und zum Aufbau einer wirklich leis-tungsfähigen Industrie beigetragen hat, die keine Schein-blüten hinterlässt, wie wir das Anfang der 90er-Jahre mitleeren Büropalästen und geprellten Anlegern erlebt ha-ben. Hier ist etwas in den letzten Jahren passiert, was ichschon als Trendwende bezeichnen möchte. Daran könnenSie möglicherweise auch die Chefsache ablesen, die imKanzleramt nicht verwaltet, sondern gestaltet wird.Ich weiß nicht, mit welchem Glauben Sie immer nachdem Kanzler rufen. Das ist ein später Nachruf auf GünterMittag oder die Staatliche Plankommission. Als ob das einEinzelner richten könnte! Ich wundere mich, dass ausge-rechnet so junge Kollegen wie der Kollege Merz solcheForderungen aufstellen.
Natürlich wird der Solidarpakt II weitergeführt werdenmüssen. Das ist überhaupt keine Frage. Ich muss Ihnen,Kollege Merz, um das Schreiben des Kollegen Vogel zubeantworten, sagen: Uns ist mit pauschalen Forderungenaus der Vogelperspektive und dem pauschalen Aufmerk-sammachen auf eine generelle Infrastrukturlücke nichtgeholfen. Ich hätte mir gewünscht, dass eine Projekt- undDringlichkeitsliste vorgelegt würde, aus der hervorginge,wo man einen Bedarf in Höhe von 40Milliarden DM siehtund in kürzester Zeit verbauen will. Das wäre höchst in-teressant gewesen, statt immer nur neue Finanzforde-rungen aufzustellen und die Diskussion über die Milliar-dengräber Ost fortzuführen.
Mit Sofort- oder Aktionsprogrammen kommen wirnicht weiter. Sie helfen genauso wenig wie der Vorschlagdes DGB, eine weitere Vorruhestandsregelung für 55-jäh-rige Arbeitnehmer aufzulegen. Hier stehen Qualifizie-rungsmaßnahmen für ältere Arbeitnehmer im Osten undvielleicht auch großzügigere Übergangshilfen, Über-brückungs- und Umzugshilfen an, die wir zum Beispielfür die Bonner Beamten geschaffen haben. Sie müsstengreifen, wenn ostdeutsche Arbeitnehmer bereit sind, ei-nen Arbeitsplatz im Südwesten anzunehmen, wo Fach-kräftemangel herrscht.Das sind die Punkte, auf die wir stärker eingehen müs-sen. Daneben müssen wir die Chancen der EU-Osterwei-terung nutzen, die in der Markterschließung der revitali-sierten Märkte in Osteuropa und in entsprechendenWirtschaftskooperationen bestehen. Was alles möglichist, zeigt allein das Beteiligungsangebot von PNK Orlen,die bei der Leuna-Raffinerie einsteigen wollen.
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Werner Schulz
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Einen Aspekt, den bisher keiner meiner Vorredner ange-sprochen hat, will ich zum Ende meiner Rede noch anspre-chen. Wenn wir über Klimaverbesserungen sprechen, gehtes nicht nur um das Wirtschafts- und Betriebsklima, son-dern die jüngsten Prognosen zur weltweiten Klimaverän-derung sind echte Alarmzeichen, die zeigen, dass dasKlima zwar träger auf Treibhausgase reagiert als das Rin-derhirn auf Prionen, doch wir haben diesmal die Chance,vorher zu handeln und nicht erst durch Schaden klug zuwerden. Daran gemessen wirkt der Streit über die Öko-steuer regelrecht kurzsichtig und kleinkariert. Gerade jetzt,wo eindeutig Lenkungseffekte eingetreten sind und wir einWirtschaftswachstum bei besserer Ressourcenprodukti-vität verzeichnen, zeigt sich der Erfolg der Ökosteuer. Sieist keine Episode, sie ist ein Erfolg. Gerade die Einführungder Ökosteuer war ein Erfolg, den wir fortsetzen werden.Dabei werden wir von Fachleuten wie ProfessorNorbert Walter bis hin zu Wolfgang Wiegard, dem neuenMitglied des Sachverständigenrates, bestärkt. Sie betonenbeide, dass die Ökosteuer ein sinnvolles umweltpoliti-sches Instrument ist. Das werden wir unter keinen Um-ständen aus der Hand legen. Selbst die hartkrumige Land-wirtschaft hat mit der Agrarwende, das heißt demökologischen Umbau, betont, dass die Nachhaltigkeit einLeitprinzip des Wirtschaftens werden muss.Ich frage mich bei dieser Debatte: Wo sind die Refor-mer geblieben, die die soziale Marktwirtschaft zu einerökologisch-sozialen Marktwirtschaft weiterentwickelnwollten? Herr Kollege Merz, das war doch wohl einmalein Programmpunkt bei Ihnen in der Union. Ich höre jetztnur noch, dass Sie die soziale Marktwirtschaft wiederbe-leben wollen. Ich lese von einem „mitfühlenden Konser-vatismus“. Ich hoffe, Sie meinen damit mehr als das Mit-gefühl mit dem Zustand Ihrer Partei.
Sie sollten endlich mit dieser unsäglichen Kampagne ge-gen die Ökosteuer aufhören und in diesem Punkt lieberauf Klaus Töpfer hören. Ich glaube, in Ihren Reihen gibtes noch kluge und mutige Protagonisten für eine ökologi-sche Steuerreform und für einen ökologischen Struktur-wandel.Wir wollen jedenfalls daran festhalten, dass aus einerRessourceneinheit ein Vielfaches an Wohlstand erwirt-schaftet werden kann. Das ist letztlich mit dem „Faktorvier“ gemeint, den Ernst Ulrich von Weizsäcker in die De-batte gebracht hat. Darin liegt der Sinn der ökologischenSteuerreform: ein Joint-Venture zwischen Ökonomie undÖkologie. Das anzustreben wird uns keiner – auch nichtmit einem Machtwort – ausreden können.
Ich erteile dem Kolle-gen Rainer Brüderle, F.D.P.-Fraktion, das Wort.Rainer Brüderle (von der F.D.P. mit Beifallbegrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Zunächst eine Anmerkung zu Ihnen, Herr Kollege Merz:Ihre Hinweise auf die Ausführungen meines FreundesGuido Westerwelle sind das, was man klassischerweiseeinen Rohrkrepierer, eine Selbstbeschädigung nennt. Siesind mit dem Versuch Ihrer Strategie, um das Halbein-künfteverfahren als großen Hit mit einer Totalblockade zukämpfen, voll gegen die Wand gefahren.
Ihre Leute haben um Zuschüsse für das Olympiastadion,für Theater oder ein Stückchen Straße gefeilscht,
während es uns gelungen ist, dauerhaft 7 Milliarden DMpro Jahr an zusätzlicher Entlastung durch Tarifsenkungenfür alle zu erreichen.Sie sprechen zu Recht von der Förderung des Mittel-stands als zentraler Aufgabe.
Mit der Wiedereinführung des halben Steuersatzes, derabgeschafft worden war, ist eine Ungerechtigkeit für denMittelstand beseitigt worden.
Sie sollten in diesem Punkt absolut zurückhaltend sein.Sie haben nichts erreicht und Ihre eigenen Leute nicht aufeine Linie bringen können. Sie sind voll gegen die Wandgefahren und sollten bei diesem Thema ganz still sein.
Meine Damen und Herren, am deutschen Konjunktur-himmel ziehen dunkle Wolken auf. Der Jahreswirt-schaftsbericht der Bundesregierung ist natürlich bemüht,die konjunkturelle Lage schönzufärben. Wir haben heuteMorgen ein solches Bemühen auch bei Bundesfinanz-minister Eichel entdecken können. Ich verstehe das: Es istja Ihr Job, die Ergebnisse der Politik besser darzustellen,als sie sind.Wir wollen jetzt aber einmal die grün-rote Tagträume-rei beenden und die wirtschaftspolitische Realität be-trachten. Zum Aufwärmen einige Eckdaten: Die Wachs-tumsprognosen für dieses Jahr werden nach untenkorrigiert. Das Ifo-Institut hat gerade erst seine Prognosevon 2,4 Prozent als zu optimistisch bezeichnet. Das Insti-tut für Weltwirtschaft rechnet sogar nur noch mit einemAnstieg von 2,1 Prozent. Die Arbeitslosigkeit stagniertauf ernüchternd hohem Niveau. Über 4,1 Millionen Ar-beitslose für den Monat Februar belegen das Versagen derRegierung bei diesem zentralen Thema. Wo bleiben denndie versprochenen Jobs? Die Preise steigen wieder, vor al-lem die Preise für Strom, Gas, Heizöl und Benzin. DerEuro dümpelt bei niedrigem Außenwert vor sich hin undführt uns jeden Tag vor Augen, dass eine bessere Ein-schätzung des Euro nicht mit einer Rüge des kleinen Ir-land erreicht wird, das wirtschaftlich boomt, sonderndurch Fortschritte in den großen Mitgliedsländern
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Werner Schulz
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Deutschland, Italien und Frankreich, die einen Rückstandan internen Reformen aufweisen.
Im Sachverständigengutachten heißt es, dass der zu-künftige Konjunkturverlauf nicht mit einer Wachstumsdy-namik aus eigener Kraft gleichzusetzen sei, wie sie ge-braucht würde, um im härter gewordenen Wettbewerb aufglobalisierten Märkten bestehen zu können. WennDeutschland tatsächlich „Chancen auf einen höherenWachstumspfad“ haben soll, dann brauchen wir eine ent-schlossen betriebene Reformpolitik und keine Politik, diesich nach einer Teilsteuerreform schon ein Reform-päuschen erlaubt.
Die Bundesregierung hat sich allein auf die Euro-Schwäche und auf eine günstige Exportkonjunktur ver-lassen. Die scharfsinnige Äußerung des Bundeskanzlers,ein schwacher Euro sei gut für den Export, zeigt dieschlichte Strategie. Dahinter steht eine Milchmädchen-ökonomie. Das hat das gleiche Niveau wie der Satz: „Lie-ber 5 Prozent Inflation als 5 Prozent Arbeitslosigkeit.“ AmSchluss haben Sie Inflation und Arbeitslosigkeit.
Herr Eichel, entgegen Ihrer immer wieder geäußertenMeinung gehen nur rund 44 Prozent der Exporte nachEuro-Land, allein über 20 Prozent in die Schweiz, in dieUSA und nach Großbritannien, wo die Wechselkursrela-tionen in den vergangenen Jahren sehr vorteilhaft fürDeutschland waren. Hinzu kommt, dass die Verkäufedeutscher Niederlassungen in den USA fünfmal größersind als der Anteil deutscher Waren an den direkten Ex-porten. Das heißt, je härter die Ökonomie in den USA lan-den wird, desto schwächer wird das Wachstum inDeutschland sein, und zwar deshalb, weil bei uns dieStrukturreformen verbummelt werden.Herr Eichel, Sie laufen jetzt auch Gefahr, Ihren Ruf alsSparkommissar zu verlieren. Der „Spiegel“ hat Haus-haltsrisiken in Höhe von über 20 Milliarden DM in denkommenden beiden Jahren aufgedeckt. Das zeigt: DieBundesregierung hat zu wenig auf der Ausgabenseite ge-tan. In der Rentenpolitik wurde die Gelegenheit für einenmutigen Schritt unter dem Druck der Gewerkschaftenvertan. Die ineffiziente und teure aktive Arbeitsmarktpo-litik wurde ausgedehnt. Über die Steinkohlesubventionenreden Sie gar nicht mehr. Jetzt offenbart sich: Beim Spa-ren hat zu sehr das Prinzip der Verlagerung auf die Län-der und das Verschieben auf die Zukunft regiert.Ich habe meinen Ohren nicht getraut, als ich am Sonn-tag die Worte des Bundeskanzlers vernahm. Herr Schrödererklärte, er wolle die Arbeitslosigkeit in Deutschlandunter die 3-Millionen-Grenze senken, und zwar imJahr 2002. Ganz kurz hatte ich die Hoffnung, dass dieseBundesregierung trotz grüner und gewerkschaftsnaherProtagonisten einen politischen Kurswechsel hin zu mehrBeschäftigung einleiten wollte.
Leider bin ich am folgenden Tag wieder tief enttäuschtworden. Mein Weltbild wurde zurechtgerückt. Der Kanz-ler hat Angst vor der eigenen Courage und ist wieder aufdie bekannte Politik der Mut- und Perspektivlosigkeiteingeschwenkt. Jetzt gibt er sich mit „3,5 Millionen Ar-beitslosen“ zufrieden. Ich finde es schon bemerkenswert,dass der Bundeskanzler innerhalb eines Tages über500 000 Einzelschicksale so locker hinweggehen kann.
Das erinnert mich ein wenig an die Brutto-Netto-Pro-bleme Ihres heutigen Verteidigungsministers.
Die Reduzierung der Zahl der Arbeitslosen auf 3,5Mil-lionen käme auch dann zustande, wenn die Bundes-regierung Ihre Tätigkeit komplett einstellen würde.Grund: altersbedingt ausscheidende Arbeitnehmer. Sol-che Angsthasenziele offenbaren das Dilemma grün-roterBeschäftigungspolitik. Sie ist geprägt von einem diffusenVerständnis wirtschaftspolitischer Abläufe. Mit Um-armungsstrategien werden keine Arbeitsplätze geschaf-fen. Wenn man sich ständig umarmt, dann hat man dieHände nicht zum Arbeiten frei.
Das systematische Abwenden von den wirklichen Pro-blemen auf dem Arbeitsmarkt führt dazu, dass IG-Metall-Chef Zwickel, also Ihr Chef, die Arbeitsmarktbilanz derBundesregierung als schlecht beurteilt. BDI-PräsidentRogowski bezeichnet die Arbeitsmarktpolitik als dengrößten Schwachpunkt grün-roter Politik. Die sonntägli-che Bündnisrunde war dafür wieder einmal ein Beleg. Dersyndikalistische Ansatz ist längst gescheitert.
Die Bündnisgespräche bremsen den Tatendrang, statt ihnzu fördern. Strittige Themen werden ausgeblendet, alsgäbe es sie nicht. Die Verschärfung der Mitbestimmungund die gewerkschaftliche Forderung nach einem Abbauder Überstunden spielen keine Rolle. Was macht der Bun-deskanzler? Er betätigt sich als Weichzeichner und be-treibt eine Weichzeichnerpolitik, mit der gefährlichenTendenz zum überlebten Strukturkonservatismus. DerPräsident des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle,Rüdiger Pohl, stellt zu Recht fest: „Das Bündnis für Ar-beit ist schlichtweg überflüssig.“Meine Damen und Herren, wir brauchen keinen Kon-sensbrei, keine nutzlosen Kaffeekränzchen, die die Leutedavon abhalten, etwas zu tun. Was wir brauchen, ist eineRenaissance der sozialen Marktwirtschaft. Wir brau-chen mehr Wettbewerb in Deutschland. Wir brauchen fle-xiblere Güter- und Arbeitsmärkte. Nur so bekommen wirmehr Jobs.
Doch was macht die Bundesregierung? Sie spürtauch noch die letzten Flexibilitätsnischen auf dem deut-schen Arbeitsmarkt auf und verregelt, verriestert sie. Ich
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Rainer Brüderle15129
brauche auch an dieser Stelle nur aus dem letzten Gut-achten des Sachverständigenrats zu zitieren. Zwangsteil-zeit, Zurückdrängung der befristeten Arbeitsverhältnisse,Verschärfung der Mitbestimmung – alles geht in diefalsche Richtung.
Wer die Flexibilisierungsspielräume weiter einschränkt,der nimmt in Kauf, dass weniger Beschäftigung zustandekommt – so jedenfalls der Sachverständigenrat.Die grün-rote Politik ist einzig darauf ausgerichtet, dieGewerkschaften vor der nächsten Bundestagswahl zu be-sänftigen. Das hört man auch bei den Zwischenschreiern.Das ist durchsichtig, rückwärts gewandt und ein Schlagins Gesicht der Arbeitslosen in Deutschland.
Sie sollten keine Politik für machtbewusste Gewerk-schaftsfunktionäre, sondern lieber eine Politik für dieMenschen anpacken, die Hoffnung und Perspektive ha-ben wollen, Menschen, die Entscheidungs- und Hand-lungsspielräume brauchen, um neue Investitionen vorzu-nehmen und neue Arbeitsplätze zu schaffen.Die Bundesregierung hält nichts von Aufbruch. Sie trittlieber auf die Bremse. Vor allem der kleinere Koalitions-partner, die Grünen, die sich selbst so gern als Reform-motor bezeichnen, steht noch stärker auf der Bremse alsso manches gestandene Gewerkschaftsmitglied von derSPD.Um ihre Haltung deutlich zu machen, bedienen sich dieGrünen neuerdings eines Tricks. Sie schicken regelmäßigihren Fraktionsvorsitzenden Rezzo Schlauch nach vorne,lassen ihn das ausplaudern, was der politische Gegnerdenkt – beispielhaft nenne ich Schlauchs Einsichten zurFlexibilisierung des Flächentarifvertrags –, und sofortkommt die gesamte grüne Parteispitze aus der Deckungund macht den Fraktionsvorsitzenden einen Kopf kürzer.Das hat Methode. Schlauch spielt quasi den Bremskraft-verstärker grüner Reformverweigerer.
Man könnte auch sagen: Er ist der wirtschaftspolitischeHarlekin der Grünen.
– Sogar Sie haben es verstanden. Das muss toll sein. HerrBaron, ich begrüße Sie! Ihre Zwischenrufe, Herr Baron,machen immer deutlich, dass der Neofeudalismus einekonkrete Gefahr in Deutschland ist.
Dann gibt es noch eine grüne Staatssekretärin im Wirt-schaftministerium. Das sollte man bei einer Debatte überden Jahreswirtschaftsbericht zumindest einmal erwähnen.Frau Wolf kommt doch tatsächlich zu der Einsicht, dassdie Tatsache, dass sich in Unternehmen der New Eco-nomy derzeit Betriebsräte gründen, ein Beleg dafür sei,dass wir eine Verschärfung der Mitbestimmung bräuch-ten. Liebe Frau Wolf, Entschuldigung, wenn ich Sie be-lehren muss.
Soweit ich weiß, ist das Gesetz des Herrn Riester, das mitheftiger Gewerkschaftsunterstützung jetzt eine Verschär-fung der Mitbestimmung vorsieht, noch nicht in Kraft.Ihre eigene Aussage zeigt doch, dass Mitbestimmungfunktioniert und keine Verschärfung notwendig ist. Es istdoch Quatsch mit Soße, was Sie erklären.
Moderne Mitbestimmung, Herr Baron, funktioniert imÜbrigen anders, nämlich über direkte Gespräche zwi-schen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen brauchenwir keine zusätzlichen Gewerkschaftsfunktionäre, auchnicht mit Adelstitel, die dem Mitarbeiter sagen, wie erseine Arbeitszeit einzuteilen hat und wann er Weiter-bildung zu betreiben hat. Gerade im Zeitalter der NewEconomy gilt: Wir brauchen eine Stärkung der Mitarbei-terbeteiligung und nicht der klassischen Mitbestim-mungsrituale von gestern.
Wir brauchen mehr Miteinander und nicht eine Wie-derbelebung des veralteten Gegensatzes zwischen Arbeitund Kapital. Lassen Sie Karl Marx in seinem Museum inTrier! Er hat solch einen Bart. Wir brauchen mehr Mut zurVeränderung, mehr Bewegungsspielräume.Über die Qualität grüner Beschäftigungspolitik sagenauch nackte Zahlen etwas. In Nordrhein-Westfalen betrugdie Arbeitslosenquote im Durchschnitt des vergangenenJahres 9,2 Prozent, in Schleswig-Holstein 8,5 Prozent, inHamburg 8,9 Prozent. Überall dort regieren Grüne mit.Diese Zahlen zeigen, dass die Sozialdemokraten sich denfalschen Koalitionspartner ausgesucht haben.
Ich kann Ihnen sagen, wie eine erfolgreiche Arbeits-marktpolitik aussieht. In Rheinland-Pfalz haben wir mit7,3 Prozent Arbeitslosigkeit die drittbeste Arbeitsmarkt-situation in Deutschland.
Das bestätigt meine These, dass die SPD dann eine anderePartei ist, wenn sie mit einem starken liberalen Koaliti-onspartner zur Vernunft getrieben wird.
– Ihr Kanzler hat sich schon festgelegt. Das ist doch soschön. Zum Nulltarif bekommt er vielleicht einen grünen,aber nie einen liberalen Koalitionspartner.
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Rainer Brüderle15130
– Ja, liberaler Wirtschaftsminister, da haben Sie Recht; zi-tieren Sie Döring einmal! Nachmachen, Herr Schauerte!Anstrengen!
Die gerade umgesetzte Steuerreform muss bald durcheine zweite Steuerreform ergänzt werden. Die Bundesre-gierung macht aber das Gegenteil: Statt weitere Steuer-senkungen umzusetzen, sorgt sie für 10 Milliarden DMaußerplanmäßige Zusatzbelastungen: Die AfA-Tabellenführen zu fast doppelt so hohen Belastungen wie verspro-chen. –
– Herr Baron, das ist trotzdem richtig; Sie können nichtrechnen; schon Ihre Vorfahren im Mittelalter konntennicht richtig rechnen.
Die Mitbestimmungsnovelle kostet knapp 3MilliardenDM zusätzlich; das geplante Zwangspfand – hören Sie ge-nau zu, Herr Baron! – belastet die Unternehmen mit wei-teren 3 Milliarden DM. Dabei sind die Ökosteuer und diePreistreiberei auf dem Strommarkt durch die Förderungvon Kraft-Wärme-Kopplung im Rahmen des Erneuer-bare-Energien-Gesetzes noch gar nicht eingerechnet.Eigentlich hat sich die SPD ja mental von der Öko-steuer verabschiedet. Der Kanzler beruhigt die Wählervor den Landtagswahlen. Wenn Sie aber konsequent sind,machen Sie Schluss mit dieser unsinnigen Besteuerung!Millionen Pendler, Rentner, Taxifahrer, Studenten undFuhrunternehmer würden es Ihnen herzlich danken.
Die Grünen klammern sich krampfhaft an die Öko-steuer; das ist ihr letztes ureigenes Projekt. Ansonsten ha-ben sie alles aufgegeben: Der Pazifismus ist seit demKosovo-Krieg und den Bombardements im Irak passé,
den Atomausstieg in 32 Jahren erleben selbst die gesün-desten Grünen kaum und die Menschenrechtspolitik musssich den Karrierewünschen von Joseph Fischer beugen.Die Ökosteuer ist der letzte Kitt, der Sie zusammenhält;aber die Ökosteuer bringt keine neuen Jobs, sie ist völligfalsch konzipiert. Auch die Verteuerung der Prozessener-gie führt bei den Unternehmen, die sich rational verhalten,zu einer höheren Kapitalintensität und nicht zur Schaf-fung neuer Jobs. Die neue Strategie führt dazu, dass derUmbau hin zu mehr Arbeitsplätzen, wie Sie propagiert ha-ben, in keiner Weise stattfindet. Im Gegenteil: Sie belas-ten die Wirtschaft und beseitigen Arbeitsplätze.Die SPD ist ganz ruhig geworden; selbst der rote Ba-ron. Mit der Ökosteuer wollten Sie doch einmal Energieteurer machen, Herr Baron, um Arbeitsplätze zu schaffen.Jetzt sind auch Sie ganz ruhig geworden, weil sogar Siegemerkt haben, Herr Baron, dass diese Rechnung nichtaufgeht.
Bei den Grünen geht es um Ideologie. Sie wollen, dassdie Menschen weniger mobil, vor allen Dingen wenigerautomobil sind. Wir Liberale halten das für eine völligfalsche Strategie. Ökosteuer und Zwangsabgaben sindgrüne Verhinderungsstrategien; sie geben keine Zukunfts-perspektive. Wir brauchen Strategien, die uns weiter-führen und nicht zurückführen auf einen Weg, wo Arbeits-plätze aus ideologischen Gründen von den Grünenbeseitigt werden.In Rheinland-Pfalz haben wir die Grünen und ihreÖkosteuer nicht gebraucht, um modernste Güterverkehrs-zentren zu bauen und Wasser-, Schienen- und Straßen-transport miteinander zu kombinieren.
Wir haben die Grünen und die Ökosteuer in Rheinland-Pfalz nicht gebraucht, um das modernste Konzept imÖPNV umzusetzen. Wir haben die Grünen und ihre Öko-steuer nicht gebraucht, um in Rheinland-Pfalz das mo-dernste Eisenbahnsystem umzusetzen, das 150 Prozentmehr Fahrgäste auf die Schiene gebracht hat. Wir habendie Grünen und ihre Ökosteuer auch nicht gebraucht, umaus dem amerikanischen Militärflughafen Hahn einenhöchst erfolgreichen zivilen zu machen und 2 000 neueArbeitsplätze zu schaffen.
Wenn es nach den Grünen gegangen wäre, wäre dort einArbeitsplatz für einen Schäfer entstanden, weil sie dortSchafe weiden lassen wollten. So verhalten sich Ihre grü-nen Mitstreiter in Rheinland-Pfalz, die alles Fortschritt-liche blockiert haben und noch behaupten, sie würdenirgendetwas Vernünftiges machen. Selbst der Bundes-kanzler konnte sich vor kurzem vor Ort überzeugen, wieerfolgreich wir sind.Im Jahreswirtschaftsbericht hat mich vor allen Dingendas Kapitel Wettbewerbspolitik erstaunt. Da schreibenSie, wie wichtig der Wettbewerb in der Marktwirtschaftist. Was Sie aber machen, ist dem diametral entgegenge-setzt. In Bezug auf den Strommarkt drehen Sie durch dieFörderung der Kraft-Wärme-Kopplung, die Herr Müller –da hat er einmal einen lichten Moment gehabt – „Penner-prämie“ genannt hat, die Uhr zurück. Mit dem Erneuer-bare-Energien-Gesetz belasten Sie zusätzlich den natio-nalen Energiesockel. Der Strommarkt wird resozialisiert,die Marktwirtschaft wird teilweise wieder abgeschafft.Das ist Ihre Politik.
– Herr Baron, hören Sie zu! Sie werden es bald verstehen.Auch Ihre Vorfahren haben länger gebraucht.
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Rainer Brüderle15131
Herr Brüderle, Ihre
Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte, zum Ende zu kommen.
Darf ich den Satz noch zu
Ende bringen, Herr Präsident? Seien Sie gegenüber mei-
nen Vorrednern und mir gleichermaßen fair. Ich vertraue
auf Ihre Fairness, dass ich meinen Gedanken zu Ende
bringen darf.
Sie haben die volle
Redezeit der F.D.P.-Fraktion. Was die Rede des Kollegen
Merz angeht, war freie Redezeit angemeldet.
Lassen Sie mich den Satz
beenden.
Ich bitte Sie, ganz
schnell zum Ende zu kommen.
Ich beende den Satz.
Der Monopolminister Müller hat nicht nur in der Ener-
giepolitik die Weichen falsch gestellt. Die Weichen stellt
er auch bei der Verlängerung des Briefmonopols falsch.
Fehlentwicklungen erleben wir ebenfalls bei der Telekom;
Kleinanleger werden in ihren Erwartungen enttäuscht. Wo
bleibt die Verbraucherministerin? Sie ist offenbar nur für
Lebensmittel da, aber nicht für Verbraucherschutz bei
Monopolfehlgriffen dieses Monopolministers.
Deshalb brauchen wir eine andere Politik. Wenn Sie es
nicht können, dann hören Sie auf und lassen Sie es andere
machen!
Ich erteile der Kolle-
gin Christa Luft, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kol-leginnen und Kollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht, denwir heute debattieren, datiert vom 31. Januar 2001. Dasheißt, die Tinte ist noch nicht ganz trocken und schon er-reichen uns täglich neue Hiobsbotschaften, auf die derBundesfinanzminister heute leider nicht eingegangen ist;auch im Jahreswirtschaftsbericht werden sie noch nichteinmal andeutungsweise aufgegriffen.Was meine ich? Die offizielle Arbeitslosigkeit über-schreitet im ganzen Land die 4-Millionen-Grenze wiederweit. Im Osten kann jeder fünfte Erwerbsfähige sein Brotnicht allein verdienen. Kommen Sie diesen Menscheneinmal mit Ihrem Rentenkonzept – wenn es tatsächlichumgesetzt wird – und privater Vorsorge. Ich kann mirnicht vorstellen, wie das dort aufgenommen wird.Herr Kollege Merz, Sie haben für Arbeitsmarktverglei-che eben das Jahr 1998 angeführt. Ich muss Sie bitten, mitdiesen Daten ein bisschen seriöser umzugehen. Sie wer-den sich wie ich daran erinnern, dass im Wahlkampf-jahr 1998 die damalige Regierung, von Ihrer Partei getra-gen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in großer Anzahlinitiiert hat. Vermutlich hätte auch eine CDU-geführte Re-gierung diese Anzahl alsbald wieder abgebaut.
Die Steuereinnahmen – eine neue Hiobsbotschaft –werden geringer als erwartet ausfallen. Also müssen wiruns offenbar auf weitere Kürzungen von öffentlichenInvestitionen und von Sozialausgaben gefasst machen.Große Unternehmen wie Daimler-Chrysler und dieDresdner Bank können sich nach der rot-grünen Steuer-reform aber ganz legal aus der Finanzierung des Gemein-wesens zurückziehen. Wie der „Spiegel“ kürzlich berich-tete, werden diese großen Unternehmen im Jahr 2000nicht nur keine Steuern zahlen, sondern sogar Rückforde-rungen geltend machen. Demgegenüber – wir alle be-kommen in diesen Tagen ganz viel Post – muss der kleineHandwerksmeister – er hat schon Haus und Hof verpfän-det, nur um seinen Betrieb am Leben zu erhalten – beiverzögerten oder ausbleibenden Zahlungseingängen auf-grund einer unerhört schlecht gewordenen Zahlungsmo-ral seine Steuern an das Finanzamt selbstverständlichpünktlich abführen. Sie müssen einmal erklären, wie Siemit dieser Absurdität zwischen Groß und Klein weiterumgehen wollen.
Im inzwischen vorliegenden Armutsbericht kannman lesen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich unun-terbrochen wächst. Fast ein Drittel der 80 Millionen Bun-desbürger hat nicht einmal die Hälfte des Durchschnitts-einkommens zur Verfügung. Unter diesen Menschen sindvor allem allein erziehende Frauen. Am 8. März darf mandaran ganz besonders erinnern. 10 Prozent der Haushalteverfügen bereits über die Hälfte allen Besitzes. Auf diesesProblem muss die Wirtschaftspolitik reagieren.Die Kontroverse um den Aufbau Ost kocht täglichhöher. Herr Schulz bestreitet, dass der Osten auf derKippe steht. Er hat eine Wortakrobatik parat. Er sagt, derOsten befinde sich nicht auf der Kippe, sondern nur imGleichgewicht eines fatalen Kreislaufs. Soeben hat er voneinem „schrägen Gleichgewicht“ gesprochen. Herr Schulz,ich versuche mir immer vorzustellen, wie das mit einem„schrägen Gleichgewicht“ so ist. Ich versuche mir auchvorzustellen, wie Sie noch 1998 reagiert hätten, wenn je-mand von der CDU/CSU hier behauptet hätte, der Ostenbefände sich nur in einem schrägen Gleichgewicht.
Ich kann nur sagen: Eine Antwort darauf, ob der Ostenauf der Kippe steht oder nicht, geben junge Leute. Nacheiner jüngsten Umfrage der „Leipziger Volkszeitung“ willjeder dritte Ostdeutsche zwischen 18 und 29 Jahren denOsten verlassen. Wenn man angesichts dieser Zahlennicht zu dem Schluss kommt, dass der Osten auf derKippe steht, dann weiß ich nicht, was man noch an Datenbenötigt.Das mag an Hiobsbotschaften genügen. Zu fragenbleibt: Woran misst man eigentlich den Erfolg von Wirt-
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schaftspolitik? Misst man den Erfolg von Wirtschafts-politik nur an der Höhe der Steuern, nur an der Höhe derStaatsquote oder nur an der Höhe der Wachstumsraten?Auf diesem Gebiet hat sich tatsächlich etwas bewegt.Aber das kann doch nicht der Erfolgsmaßstab sein. Diegerade genannten Punkte sind Mittel der Wirtschaftspoli-tik; sie können aber nicht die Ziele sein.Im Jahreswirtschaftsbericht wird das nur an einer ein-zigen Stelle genauso gesehen – ich zitiere –:Der beste Beitrag einer sozial verantwortlichen Wirt-schaftspolitik besteht darin, durch eine dynamischeWirtschaftsentwicklung und geeignete Reformenmöglichst vielen Menschen eine ausreichende Betei-ligung am Erwerbsleben und so ein Einkommen auseigener Kraft zu ermöglichen.
Wenn dies von der Bundesregierung als Maßstab ange-nommen würde, dann hätte sie ihre Nagelprobe noch vorsich.Herr Brüderle, wenn ich mich richtig erinnere, war eseinmal der Sinn der sozialen Marktwirtschaft – Sie wol-len sie ja wiederbeleben –, ein Einkommen aus eigenerKraft zu ermöglichen.
Ich habe bei Ludwig Erhard nachgelesen.
Er hat gesagt – ich zitiere wörtlich –:Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und nur so langefür gut zu erachten, als sie den Menschen schlecht-hin zum Nutzen und Segen gereicht.Damit können wir uns voll einverstanden erklären. Aberum dies zu erreichen, hat die Bundesregierung noch aller-hand vor sich.
Die im vergangenen Jahr entstandenen und über-schwänglich als Erfolg deklarierten Jobzuwächseberuhen zum großen Teil nicht auf einem Zuwachs beiunbefristeten Vollzeitarbeitsplätzen, sondern bei geringfü-gigen Beschäftigungsverhältnissen, die nicht existenzsi-chernd sind. Es kann doch niemand diesen Zusammen-hang leugnen: Wenn das Arbeitsvolumen nicht steigt – dasweist die Statistik aus –, aber die Zahl der Beschäfti-gungsverhältnisse gewachsen ist, dann kann auf das ein-zelne Beschäftigungsverhältnis nur ein geringeres Arbeits-volumen mit einem entsprechend geringeren Einkommenentfallen.Damit Armut tatsächlich bekämpft werden kann, for-dern wir, die Weichen so zu stellen, dass erwerbstätigeMenschen ohne zusätzliche Hilfe zum Leben auskommenkönnen. Dazu gehört der Abbau der Überstunden; darüberdarf man nicht nur parlieren, sondern es muss endlichpraktisch etwas geschehen. Wir werden alsbald eine Ini-tiative zu diesem Thema in das Parlament bringen. Es darfnicht mehr nur allein außerhalb des Parlaments über dieArbeitszeit und den Überstundenabbau geredet werden.Wir fordern die Rückholung dieses Themas ins Par-lament. Wir werden initiativ, um die wöchentlicheHöchstarbeitszeit auf 40 Stunden gesetzlich zu beschrän-ken.
Damit würde in der Bundesrepublik die Praxis der meis-ten EU-Mitgliedsländer endlich eingeführt.Die Pleiten im Handwerk und im Baugewerbe wegenschlechter Zahlungsmoral der Kunden eskalieren. Hierbedarf es einer unverzüglichen Novellierung des Schuld-rechts, das im vergangenen Jahr auf den Weg gebrachtwurde. Beispielsweise muss der Eigentumsvorbehalt ge-regelt werden, sonst werden wir bei den kleinen Unter-nehmen Pleite über Pleite erleben.Die Wirtschaftsförderung muss evaluiert werden. Eskann doch nicht so weitergehen, dass öffentliche Gelder,vornehmlich Steuergelder von abhängig beschäftigtenMenschen, in privaten Unternehmen versickern, ohnedass es öffentliche Effekte, insbesondere Beschäftigungs-effekte, gibt.
Ein Wort zum Osten. Diesem Thema widmen gegen-wärtig Millionen Menschen – nicht nur im Osten, sondernauch im Westen – ihre Aufmerksamkeit. Der Bericht ist114 Seiten lang; dem Osten werden aber nur viereinhalbSeiten gewidmet. Ich finde, das ist sehr ärmlich. Das spie-gelt sozusagen den Rang wider, den das Thema gegen-wärtig in der Bundesregierung einnimmt.Wir fordern ein energisches Umdenken und Umsteuernin der Bundesregierung, sonst wird der Osten den Pfaddes selbsttragenden Aufschwungs verfehlen. Das wärezum Schaden des ganzen Landes. Unserer Meinung nachist eine Initiative zur Markterschließung und zur Ver-marktung von Produkten ostdeutscher Unternehmen – so-wohl regional als auch überregional und international –endlich notwendig. Uns nützt kein Investitionszuwachsschlechthin. Investitionen in den Kapitalstock nutzen nur,wenn eine Vermarktung der Produkte möglich ist; nurdann kommt es zur erforderlichen Effizienz der Investi-tionen.Daher fordern wir von der Bundesregierung eine Of-fensive zur Erschließung von Märkten für internationalhandelbare Güter. Ein Bündnis für Aufträge, beispiels-weise aus Russland, zur Modernisierung der Gas- undÖlindustrie, aber auch der Landwirtschaft und des Um-weltschutzes wäre möglich. Wir werden auch hierfür Vor-schläge für eine Initiative vorlegen. Das wäre sowohl füreinen Beschäftigungszuwachs als auch für Steuerzu-wächse eine wichtige Offensive.Notwendig sind aus unserer Sicht konzentrierte öf-fentliche Investitionen in Bildung, Wissenschaft, For-schung und in die Vernetzung von kleinen und mittlerenUnternehmen. Das muss vor der EU-Osterweiterung imJahr 2004 geschehen; denn sonst wird der Landstrich zwi-schen Elbe und Oder tatsächlich in Agonie verfallen. Das
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Dr. Christa Luft15133
kann nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger in Ostund West sein.Danke schön.
Ich erteile dem Kolle-
gen Joachim Poß, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Herr Merz hat heute in der „Bild“-Zeitungauf die Frage, was zu tun sei, von sich gegeben: „DieMarschrichtung lautet: Schotten dicht und arbeiten.“ DasErgebnis seiner geistigen Abschottung war heute Morgenhier zu hören.
Ich habe mich schon in der Vergangenheit des Öfteren da-rüber gewundert, dass Herrn Merz profunde wirtschafts-und finanzpolitische Kenntnisse unterstellt wurden. Die-ses Bild hat er heute Morgen erneut erfolgreich zerstört,wie ich fand.
Insofern diente das auch zur Aufklärung der Öffentlich-keit.Herr Merz, ich würde Ihnen empfehlen, bei Vorwürfenan die Adresse von Hans Eichel ganz vorsichtig zu sein.Wenn Sie hier konstatieren, dass er wie der Präsident desStatistischen Bundesamtes geredet habe
– Herr Eichel; das habe ich erwähnt –, dann muss man aufder anderen Seite feststellen: Auch Sie haben, wie HerrEichel, über Zahlen geredet, aber bei Herrn Eichel stimm-ten die Zahlen und die Zahlenvergleiche, während bei Ih-nen weder eine Zahl noch irgendein Zahlenvergleichstimmte.
Das heißt, wenn es denn eine Aufnahmeprüfung für einenGrundkurs in Statistik gäbe, hätten Sie nicht einmal diesebestanden; Sie hätten es also noch nicht einmal zum Ab-teilungsleiter in diesem Bundesamt gebracht.
Vorsicht: Sie ziehen einen abenteuerlichen Vergleichder Arbeitslosenzahl von Oktober 1998 – die KolleginLuft hat auf die Besonderheiten dieser Zahl hingewiesen –mit der von Februar 2000. Einen solchen Vergleich würdekein Statistiker anstellen; nicht einmal ein seriöser Politi-ker würde das tun.
Dass die Abgaben zu hoch sind, ist leider das Ergeb-nis Ihrer Politik. Wir sind erfolgreich dabei, das zu ändern,Schritt für Schritt, Jahr für Jahr. Früher haben Sie doch sogerne den Sachverständigenrat zitiert. Hätten Sie einmalheute Morgen zitiert, was der Sachverständigenrat überdie Entwicklung von Staatsausgaben und Abgabenquotenin den nächsten Jahren sagt! Wir arbeiten doch alles, wasSie uns hinterlassen haben, Schritt für Schritt ab. Das istdas Problem, mit dem wir zu tun haben.
Ich glaube, dass das immer mehr Menschen deutlich wird.Herr Merz, in Wahrheit war Ihre Rede – das ist, glaubeich, keine Polemik – ein Beleg dafür, dass Sie keine kon-kreten Alternativen haben, dass Sie schier ratlos sind. Eswar ein wirkliches Bild der Ratlosigkeit, das Sie hier ge-boten haben.Dass Sie es wagen, das Thema der Jugendarbeitslo-sigkeit anzusprechen, ist nun wirklich der Gipfel an Dreis-tigkeit,
um ein Wort von Ihnen aufzunehmen. Denn in diesem Be-reich haben Sie in der Vergangenheit überhaupt nichts ge-macht. Wenn sich der Regierungswechsel 1998 für ir-gendwen gelohnt hat, dann doch für Tausende jungerFrauen und Männer, die endlich wieder eine Perspektivebekommen haben.
Sie waren doch vor dem Regierungswechsel ohne Per-spektive. Deren Sorgen und Nöte haben Sie nicht einmalregistriert, geschweige denn als Problem diagnostiziertund entsprechende Schritte eingeleitet. Allein wegen die-ser jungen Frauen und Männer hat sich der Regierungs-wechsel gelohnt.Lassen Sie mich wiederholen, was bereits der Bundes-finanzminister gesagt hat, und den Sachverständigenratzitieren, der ja mit Lob vorsichtig ist:Die Politik hat begonnen, den wachstumshemmen-den Reformstau– ich ergänze: aus Ihrer Zeit, meine Damen und Herrenvon CDU/CSU und F.D.P. –aufzulösen.Als Sie noch in der Regierungsverantwortung standen– das ist noch gar nicht so lange her –, bestand die Gefahr,die Grenze von 5 Millionen registrierten Arbeitslosen zuüberschreiten. Das versuchen Sie wohl gänzlich auszu-blenden.
– Es ist doch wohl nicht zu leugnen, dass in einer be-stimmten Phase 5 Millionen Arbeitslose realistisch er-schienen, auch wenn diese Grenze dann nicht überschrit-ten wurde.Gemessen an dieser Ausgangssituation hat diese Ko-alition beachtliche Veränderungen durchsetzen können.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Dr. Christa Luft15134
Sie können doch gar nicht bestreiten, dass die Trend-wende auf dem Arbeitsmarkt erreicht ist; Herr Eichel hatdie Zahlen dazu genannt. Wir sind dabei, die Lasten ab-zutragen, die Sie angehäuft haben. Das gilt auch für an-dere Themen, die in diesen Tagen eine Rolle spielen. Soist es doch auch dreist, uns im Zusammenhang mit derBundeswehrreform Vorwürfe zu machen. Auch die Bun-deswehrreform zeigt: Wir machen das, was Sie liegenließen.
Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass dieskeine einfache Aufgabe ist.Die gesamtwirtschaftlichen Daten sind insgesamtdurchaus positiv: Das Preisniveau ist stabil. Das Wirt-schaftswachstum ist auch weiterhin beachtlich. Die hohenExportzahlen sprechen eine klare Sprache. Die Arbeitslo-sigkeit geht zurück. Die Steuer- und Abgabenbelastungsinkt. Aber ich füge hinzu: Es ist nicht befriedigend, dasswir in Deutschland Regionen haben, in denen es nach wievor große Beschäftigungsprobleme gibt; das sind vor al-lem weite Teile in Ostdeutschland. Das will und kann nie-mand leugnen. Es gibt aber auch in den alten Bundeslän-dern Regionen, die einen gravierenden Strukturwandeldurchmachen und ebenfalls hohe Arbeitslosenzahlen auf-weisen.Aber lassen Sie uns das ganz realistisch betrachten:Welche Handlungsmöglichkeiten waren überhaupt nachdem Regierungswechsel gegeben und was ist gemachtworden? Wir haben den richtigen Rahmen gesetzt: durchunsere Wirtschafts- und Finanzpolitik, durch die stetigeSanierung der öffentlichen Haushalte, mit einer klarenund verlässlichen Perspektive in der Steuerpolitik, durchdie begonnene Anpassung der sozialen Sicherungssys-teme an die ökonomischen und demographischen Erfor-dernisse von Gegenwart und Zukunft sowie mit der nach-haltigen Begrenzung von Sozialabgaben. Das machen wirso weiter.Wir werden in diesem Jahr bei den Verhandlungen überdie Bund-Länder-Finanzbeziehungen und insbesondereüber die Fortführung des Solidarpaktes über das Jahr 2004hinaus die Voraussetzungen dafür schaffen, dass denstrukturell schwächeren Ländern Deutschlands weiterhindie Möglichkeit gesichert wird, Anschluss an die Gesamt-entwicklung zu finden.Die Forderung von Herrn Ministerpräsident Vogelnach einem 40-Milliarden-DM-Sonderförderpro-gramm Ost ist leider deshalb nicht verhandelbar, weil dievon ihm vorgeschlagene Finanzierung dieses Programmsnicht seriös ist. Das weiß auch jeder, der sich damit einwenig auskennt; Herr Merz hat ja offenbar den Brief vonHerrn Schwanitz gelesen, in dem im Einzelnen darauf Be-zug genommen wird. Man kann jetzt, nachdem wir imKonsens aller Parteien etwas anderes festgelegt haben,nicht einfach fordern, den Gewinn der Deutschen Bun-desbank jenseits von 7 Milliarden DM anders zu verwen-den. Ähnliches gilt auch für andere Finanzierungsvor-schläge von Herrn Vogel. Das heißt, dieses Programm istnicht seriös finanziert und deswegen nicht im ostdeut-schen Interesse. Im ostdeutschen Interesse kann nur etwassein, was anschließend konkrete Handlungsmöglichkei-ten bietet, nicht aber etwas, was man nur in Aussicht stellt,was sich aber nicht konkret umsetzen lässt.
Es wäre der Sache schon sehr dienlich, wenn HerrVogel oder auch Herr Nooke oder wer auch immer uns da-bei helfen würden, über die Parteigrenzen hinweg die an-gemessene Fortführung des Solidarpaktes zu gewähr-leisten. Ich bin mir nämlich überhaupt nicht sicher, ob dieHerren Stoiber, Koch und Teufel, die ja derzeit dasMachtzentrum in der Union darstellen, mit ihren vehe-ment vorgetragenen Vorstellungen über die Zukunft desbundesstaatlichen Finanzausgleichs ernsthaft bereit sind,ihrer gesamtdeutschen Verantwortung nachzukommen.
Ich glaube, das tun sie nur verbal. Tatsächlich geht es ih-nen, meine Damen und Herren, um puren Eigennutz.
– Um puren Eigennutz, Herr Michelbach. Es soll mehrGeld in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg bleibenund dafür weniger nach Ostdeutschland fließen. Das istder Kern der Politik, die Sie zu verantworten haben.
Die Position der SPD in dieser Frage ist eindeutig:Trotz aller erkennbaren Aufbauerfolge wird unstreitiganerkannt, dass es in den neuen Ländern noch erhebli-che Infrastrukturdefizite und noch immer gravierendeteilungsbedingte Sonderlasten gibt. Deswegen werdenwir die bewährten Instrumente des Solidarpakts, dieSonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen und dasInvestitionsförderungsgesetz, ergänzt durch Mittel derGemeinschaftsaufgaben, durch Mittel der europäischenStrukturfonds und durch alles, was dazu gehört, sowie dengezielten Einsatz von Bundesinvestitionen so wie bisherfortführen und da noch verstärken, wo es erforderlich ist,um eine Mezzogiorno-Situation zu verhindern. Das ist un-sere Linie; für sie stehen die Sozialdemokraten hier imDeutschen Bundestag, nicht für das, was Sie durch dieVorstöße von Koch, Stoiber, Teufel und wie sie alle heißenmitzuverantworten haben.
Ein letztes Wort zum Mittelstand – weil Herr Merzauch darauf zu sprechen kam; aber auch die ständige Wie-derholung macht es nicht richtig –: Durch unser Steuer-senkungsgesetz nebst Ergänzungsgesetz entsteht eineEntlastung um 62,5 Milliarden DM. Davon entfallen aufPrivate 32,6 Milliarden DM, auf Großunternehmen6,8 Milliarden DM und auf den Mittelstand 23,1 Milliar-den DM. Deshalb ist es richtig, was die Beratungsgesell-schaft Arthur Andersen im Auftrag des „Handelsblatts“festgestellt hat „Der Mittelstand wird nicht benachteiligt.“Er wird jedenfalls nicht durch diese Steuerreform
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benachteiligt. Der Mittelstand wurde systematisch durchdie Politik benachteiligt, die nun wirklich Sie zu verant-worten haben. Dadurch ist die Schieflage zulasten desMittelstandes entstanden, meine Damen und Herren, undauch da müssen wir Aufräumarbeiten leisten – im Inte-resse der Handwerksmeister, im Interesse des Mit-telstandes. Das werden wir in den nächsten Jahren so fort-setzen.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirt-schaftsbericht ist ein Dokument der Selbstzufriedenheitdieser Bundesregierung. Vielleicht war es diese Selbstzu-friedenheit, die den Bundeskanzler am Wochenendeveranlasste, zu verkünden, dass er bis zur Wahl die Ar-beitslosigkeit auf 3 Millionen Beschäftigungssuchendezurückführen will. Er hat sich einen Tag später leider wie-der korrigiert. Er hat wohl gewusst, warum.
Es mehren sich vielmehr die Anzeichen dafür, dass dieobjektive wirtschaftliche Lage längst nicht so gut ist, wieuns von der Bundesregierung glauben gemacht werdensoll. Das gilt vor allen Dingen für die Lage im deutschenMittelstand.Wir hatten bereits im letzten Jahr einen massivenRückgang des Wirtschaftswachstums zu verzeichnen.Nach 3,7 Prozent im ersten Quartal, 3,5 Prozent im zwei-ten Quartal und gerade noch 2,8 Prozent im dritten Quar-tal waren es im vierten Quartal des letzten Jahres nur noch1,9 Prozent Wachstum.Die Abkühlung der Konjunktur in den USAund der et-was stärkere Euro werden nicht spurlos an der deutschenExportwirtschaft vorübergehen; sie werden die konjunk-turellen Auftriebskräfte weiter schwächen. Ob dasWachstumsziel von 2,75 Prozent in diesem Jahr erreichtwird, ist deshalb ernstlich zu bezweifeln.Stattdessen steigen die Preise immer stärker. Im Fe-bruar verteuerte sich die Lebenshaltung in Deutschlandum 2,7 Prozent und damit so stark wie seit sieben Jahrennicht mehr. Die Regierung hat zweifellos mit ihrer drittenStufe der Ökosteuer dazu massiv beigetragen.Es ist schon beängstigend, mit welcher Schnelligkeitdie Preise in Deutschland steigen. Noch bei der Steuer-schätzung im Mai letzten Jahres ging man von einer In-flationsrate von nur 0,7 Prozent für das Jahr 2000 aus, umdann bei 1,9 Prozent zu landen.Mit der Beschleunigung des Preisanstiegs schwindendie Aussichten auf eine deutliche Zinssenkung durch dieEZB, die reale Kaufkraft sinkt. Zugleich wächst die Ge-fahr, dass es bei den Löhnen Zweitrundeneffekte gibt, diedie Preisstabilität weiter untergraben würden. Wenn, wieam Wochenende geschehen, führende Gewerkschaftereine harte Tarifrunde ankündigen, dann hat das auch da-mit zu tun, dass beim Abschluss der Tarifverträge im letz-ten Jahr, die für zwei Jahre gelten, niemand mit einem der-art dramatischen Anstieg der Preise in Deutschlandrechnen konnte.Offenbar bleibt auch das Ökosteueraufkommenhinter den Erwartungen zurück. Dass StaatssekretärZitzelsberger in der „Berliner Zeitung“ – offenbar er-schreckt – vermerkt, dass die Ökosteuer eine Lenkungs-wirkung erzeuge, zeigt, dass diese Ökosteuer nur zum Ab-kassieren geplant war – und zu sonst nichts.
Wir spüren zunehmend deutlicher, dass die gute Kon-junktur – im letzten Jahr durch den Export getragen unddurch einen äußerst schwachen Euro begünstigt – nichtdurch eine gute, sich selbst tragende Binnenkonjunkturgestützt wird.Wenn die Bundesregierung jemals den Mut und denWillen zu durchgreifenden Strukturreformen im Sinnevon mehr Wachstum und Beschäftigung gehabt habensollte, dann hat sie dieser Mut längst verlassen. Am er-schreckendsten ist die Reformunfähigkeit der Bundesre-gierung auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik. Wennsich hier etwas bewegt, dann in die falsche Richtung!Trotz einer insgesamt guten Konjunktur im vergangenenJahr ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland weit wenigerstark gesunken als in anderen Ländern der Euro-Zone.Schon der Sachverständigenrat hat festgestellt, dass inDeutschland im letzten Jahr fast 5,5 Millionen Menschenoffen oder verdeckt arbeitslos gewesen sind. Das sind13,2 Prozent. Die Entwicklung in anderen Ländern zeigt:Es gibt kein Naturgesetz, wonach es auf Dauer hohe Ar-beitslosigkeit geben muss. Die Arbeitslosigkeit beträgtzum Beispiel in den Niederlanden 3 Prozent und in Däne-mark sowie in den USA 4 Prozent. Der Arbeitsmarkt inDeutschland – das wird immer deutlicher – ist die Achil-lesferse der Bundesregierung.
Friedrich Merz hat heute Morgen dazu Wichtiges gesagt.
Die Erstellung von Diagnosen und Prognosen zur Ent-wicklung auf dem Arbeitsmarkt wurde in den letzten zweiJahren dadurch erschwert, dass erhebliche Korrekturen ander amtlichen Erwerbstätigenzahl vorgenommen wur-den. Allein das Hinzurechnen der 630-Mark-Jobs, diefrüher nie mitgerechnet wurden, hat auf einen Schlag zu2 Millionen mehr Beschäftigten in der Statistik geführt.Die jetzt vorliegenden Zahlen, die nach hinten korri-giert wurden, zeigen, dass der Beschäftigungsaufwuchsbereits 1997 begonnen und sich bis heute fortgesetzt hat.
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– Hören Sie bitte gut zu und schauen Sie sich einmal dieentsprechenden Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit an. –Diese Zahlen zeigen aber auch, dass das Arbeitsvolumenin Deutschland, gemessen in Erwerbstätigenstunden,1997, 1998 und 1999 zugenommen hat – das hat wohlmehr mit der alten Regierung als mit der neuen Regierungzu tun – und dass es im Jahr 2000 zum Stillstand gekom-men ist. Das deckt sich mit der Feststellung des Sachver-ständigenrates, dass der Arbeitsmarkt, gemessen in Er-werbsstunden, im Jahr 2000 zum Erliegen gekommen ist.Auch das, Herr Poß, finden Sie im Gutachten der Sach-verständigen. – Das heißt mit anderen Worten: Wir hattenim letzten Jahr in Deutschland zwar mehr Beschäftigte,aber deshalb nicht mehr Arbeit.Ein weiterer Vergleich: Wir hatten im Februar 2001352 000 Arbeitslose weniger als im Februar 1999. DiesesWeniger an Arbeitslosen deckt sich exakt mit der Zahl desRückgangs beim Erwerbspersonenpotenzial, das in denJahren 1999 und 2000 ebenfalls um 350 000 zurückge-gangen ist.
Das heißt mit anderen Worten: Die Entspannung auf demArbeitsmarkt hängt ausschließlich damit zusammen, dassmehr ältere Menschen in den Ruhestand gegangen sind,als junge Menschen in das Erwerbsleben eingetreten sind.Die jetzige Regierung hat überhaupt keinen Grund, sichmit angeblichen Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt zu brüs-ten. Im Gegenteil: Diese Erfolge gibt es nicht.Für mich sind die Ursachen klar: Wer wie diese Regie-rung eine Politik gegen den Mittelstand in Deutschlandbetreibt, wird auf dem Arbeitsmarkt Schiffbruch erleidenund keinen Erfolg haben.
Es war und ist der Mittelstand, der in Deutschland zu-sätzliche Arbeitsplätze schafft. Das war in den 80er-Jah-ren so, als 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaf-fen wurden – das bräuchten wir auch heute –; das war inder Rezession 1993/94 so, als in Betrieben mit weniger alszehn Beschäftigten 700 000 neue Arbeitsplätze geschaf-fen wurden, während in der Großindustrie 1,4 MillionenArbeitsplätze abgebaut wurden. Und das war auch imletzten Jahr so: In den kleinen und mittleren Betriebenwurden 350 000 Arbeitsplätze geschaffen, während inden 100 größten deutschen Unternehmen 50 000 Arbeits-plätze abgebaut worden sind. Diese Steuerreform war– das gehört zur Wahrheit dazu – eine Reform für diegroßen Unternehmen, die Kapitalgesellschaften, aber ge-gen die Unternehmer und Arbeitnehmer in diesem Land.
Herr Eichel und Herr Poß, in diesen Tagen haben dieArbeitnehmer und die Mittelständler gespürt, dass die Er-wartungshaltung in Sachen Steuerreform in keiner Weisedurch die Realität gedeckt wird.
Die Januar- und Februar-Abrechnungen haben denFacharbeitern in Deutschland gezeigt, dass sie monatlichcirca 70 bis 90 DM mehr im Geldbeutel haben. Gleich-zeitig jedoch bekommen die Mieter in diesen Tagen dieNebenkostenabrechnungen und stellen fest, dass sie auf-grund der gestiegenen Energiepreise pro QuadratmeterWohnfläche und Monat 1 DM mehr zahlen müssen.
Das heißt, Ökosteuer, schwacher Euro und Verteuerungder Rohölpreise haben die Wirkung der Steuerreform fürdie Arbeitnehmer bereits komplett aufgefressen.
Da Sie immer sagen, der Mittelstand werde entlastet,bitte ich Sie, einen Moment nachzudenken: Um wie vielmehr gilt das erst für den kleinen und mittleren Betrieb inDeutschland,
der energieintensiv produziert oder dienstleistet? Denndarüber hinaus haben diese Betriebe die Abschrei-bungsverschlechterungen im Zuge der lafontaineschenReform sowie die jetzigen Verschlechterungen bei denAfA-Tabellen zu tragen – Verschlechterungen, die insge-samt dazu führen, dass im Schnitt circa 20 Prozent mehrGewinn zu versteuern sind, ohne dass eine Mark mehr fürLiquidität zur Verfügung stünde oder gar der Eigenkapi-talanteil verbessert worden wäre. Das Gegenteil ist derFall: Der Eigenkapitalanteil sinkt.Meine Damen und Herren, die Behauptung, dass dieSteuerreform insbesondere den Mittelstand in Deutsch-land entlastet habe, ist das größte Märchen, das man seitden Gebrüdern Grimm den Deutschen erzählt hat.
Kollege Rauen, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Poß?
Ja, bitte schön.
Kollege Rauen, bestreiten Sie
die vom Bundesfinanzministerium angegebenen Entlas-
tungen für den Mittelstand von mehr als 23 Milliar-
den DM und können Sie bestätigen, dass in dem Alterna-
tiventwurf der CDU/CSU vom Frühjahr letzten Jahres
ebenfalls Abschreibungsverschlechterungen in Höhe von
3,5 Milliarden DM zur Gegenfinanzierung vorgesehen
waren?
Herr Poß, ich bestreite dieZahlen, mit denen angegeben wird, in welchem Maß derMittelstand entlastet wird. Sie müssen sehen – das habeich Ihnen schon eben gesagt –: Unternehmer, die Sie nicht
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entlasten wollen, und Arbeitnehmer haben denselbenSteuersatz. Beim Arbeitnehmer sind die Erleichterungenbereits durch die Verteuerungen auf dem Energiesektoraufgefressen.
Das gilt natürlich umso mehr für den Unternehmer, derzudem die Ihnen bekannten Abschreibungsverschlechte-rungen zu tragen hat.
– Wenn Sie schon Fragen stellen, Herr Poß, dann bleibenSie bitte auch stehen. Sie wollen ja offenbar schlaugemacht werden.Herr Poß, ein mittelständischer Betrieb, der seine Leis-tungen nur energieintensiv erbringen kann – denken Siean Speditionen, an Fuhrunternehmen, an Busunterneh-men, an Unterglasbaubetriebe –, der wird doch aufgrundder Energiepreisverteuerungen viel stärker belastet als dernormale Arbeitnehmer. Wenn dieser schon keine Erleich-terung bekommt, um wie viel mehr muss das für den Mit-telständler gelten!
– Sie müssen trotzdem stehen bleiben.
– Ich will Ihnen erklären, Herr Poß, warum diese Zahlennicht stimmen. Sie wollen die Antwort bewusst nichthören. Denn Sie verschweigen, dass bei dieser „größtenSteuerreform aller Zeiten“, die von 1998 bis 2005 läuft,den Menschen letztlich nur das an Steuern zurückgegebenwird, was ihnen vorher durch die kalte Progression, durchdas Zusammenwirken von Progression und Inflation,abgenommen worden ist.Das alles rechnen Sie im Zeitraffer zusammen.
Sie rechnen Entlastungen zu Preisen aus dem Jahr 1998mit Tarifen des Jahres 2005 auf und geben den Leuten le-diglich zurück, was im Rahmen der kalten Progressionvorher von ihnen abkassiert worden ist. Das ist das großeMärchen bei dieser angeblich größten Steuerreform allerZeiten.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung be-hindert den Mittelstand in Deutschland in seiner Fähig-keit, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, weil sie die Freiheitder Unternehmer immer mehr einschränkt. Die Arbeits-marktpolitik der Bundesregierung geht in die völlig fal-sche Richtung. Das bescheinigt niemand anderes als dervon der Bundesregierung berufene Sachverständigenrat.Der Sachverständigenrat benennt dazu das 630-DM-Ge-setz, die überbürokratisierten Regeln zur Scheinselbst-ständigkeit, die erneute Regulierung beim Kündigungs-schutz, die Rücknahme der verminderten Lohnfortzah-lung, die Schlechtwettergeldregelung und die erneute Re-gulierung der Energie- und Telekommunikationsmärkte.Statt den viel zu starren Arbeitsmarkt zu deregulieren, ma-chen Sie das Gegenteil dessen, was OECD, lnternationa-ler Währungsfonds, EU-Kommission und der von Ihnenbestellte Sachverständigenrat Ihnen vorschlagen. Statt-dessen geht Ihre sozialistische Regulierungswut genau indie umgekehrte Richtung:
Verschlechterung der befristeten Arbeitsverträge, neueRegelungen zur Altersteilzeit, voraussetzungsloser An-spruch auf Teilzeitarbeit.Jetzt wollen Sie auch noch das Betriebsverfassungs-gesetz gegen den Mittelstand als Waffe in Anschlag brin-gen.
Es geht Ihnen doch gar nicht um Mitbestimmung.Wenn es darum ginge, würden Sie dafür sorgen, dass Be-triebe und ihre Belegschaften in eigener VerantwortungRegelungen treffen können, die Arbeitsplätze sichern undBeschäftigung mobilisieren, so wie wir von der Union esvorgeschlagen haben, so wie es teilweise Ihr Wirtschafts-minister Müller vorgeschlagen hat und so wie es Ihnen derSachverständigenrat seit zwei Jahren aufgeschrieben hat.
Die Betriebe und die Menschen in den Betrieben wol-len diese Regelungen. Indem sie orts- und betriebsnahenRegelungen zustimmen, machen die Belegschaften unddie Betriebsräte ihren Anspruch geltend, selber darüber zubestimmen, was für sie am günstigsten ist. Wer ein solchesVerfahren als Tarifbruch denunziert, spielt sich zum Vor-mund der Menschen auf. Er spricht ihnen nicht nur dasRecht, sondern auch die Fähigkeit zur Selbstbestimmungab. Das ist mit meiner Vorstellung von einer freiheitlichverfassten Gesellschaft unvereinbar. Aber das ist bei vie-len politischen Entscheidungen der große Unterschiedzwischen unserer Partei und Ihrer Partei: Wir bauen aufden einzelnen Menschen, seine Eigenverantwortung undseine Fähigkeit, selbst zu entscheiden, was für ihn gut ist,während Sie die Menschen bevormunden, erziehen undfremdbestimmen wollen.
Sie wollen mit diesem Betriebsverfassungsgesetzkeine Mitbestimmung, Sie wollen nur eines: Sie wollendie Macht der Gewerkschaften und ihrer Funktionäre stär-ken.
Mit dem Wahlverfahren geben Sie ihnen das Instrumentan die Hand, von außen gesteuerte Betriebsräte in den Be-
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trieben zu installieren, auch gegen den Willen der Mehr-heit der Belegschaft.
Was Sie da vorhaben, ist ein Anschlag auf den Mittelstandin Deutschland, ein Anschlag auf die unternehmerischeEntscheidungsfreiheit, ein Anschlag auf diejenigen, diefür das zu haften haben, was in den Betrieben geschieht.
Wir müssen den Arbeitsmarkt aufbrechen. Dazu hatFriedrich Merz heute Morgen Entscheidendes gesagt.5,5 Millionen Menschen ohne Beschäftigung, Zunahmeder Schwarzarbeit, 1,5 Millionen offene Stellen undgleichzeitig über 4,1 Millionen Arbeitslose – das geht ein-fach nicht mehr zusammen. Hier muss der Arbeitsmarktkräftig aufgebrochen werden.
– Heute Morgen hat Friedrich Merz dazu Entscheidendesgesagt. Ich hoffe, Sie haben zugehört.
– Das ist wohl wahr.Das gilt insbesondere mit Blick auf den Arbeitsmarktin den neuen Bundesländern. Wir müssen einfach zurKenntnis nehmen, dass das Netzwerk an Regulierungen,das wir in fünf Jahrzehnten geknüpft haben, die jungenund kapitalschwachen Unternehmen in den neuen Bun-desländern vielfach erdrückt. Wenn wir in den 50er- und60er-Jahren in den alten Bundesländern das heutige Re-gelungswerk schon gehabt hätten, wären wir auch nichtauf die Beine gekommen. Es fehlt auch in den neuen Bun-desländern nicht an wagnisbereiten Menschen, die Unter-nehmen gründen und sich behaupten wollen. Die Zahl derUnternehmensneugründungen ist in den neuen Bundes-ländern seit Jahren praktisch konstant. Leider nimmt aberdie Zahl der Unternehmen seit Jahren nicht mehr zu, daviel zu viele Betriebe nach wenigen Jahren aufgeben müs-sen, weil sie mit der Dichte an Regelungen und Vor-schriften einfach nicht fertig werden können.Es reicht nicht, wenn man – wie diese Bundesregie-rung – viel von der Neuen Mitte redet, in Sonntagsredenauf die Bedeutung des Mittelstandes hinweist, man abernicht weiß, welche Politik gemacht werden muss, um diein unserem Volk millionenfach schlummernden Kräftefreizusetzen und so die Zukunft des Wohlstandes zu si-chern. Weil diese Regierung das nicht weiß und wohl auchnicht lernen wird, wird sie nicht nur auf dem Arbeits-markt, sondern auch bei der Bundestagswahl im nächstenJahr verlieren.Schönen Dank.
Ich gebe das
Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dem Kolle-
gen Oswald Metzger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man stellt hierim Gremium immer wieder fest, dass das Niveau der De-batten in einem direkten Zusammenhang mit bevorste-henden Wahlen steht.
Hierin fühlte ich mich heute wieder bestätigt, als ich dierheinland-pfälzische Einfalt Brüderle gehört habe, desseneinfache Logik in etwa so lautete: SPD, nimm die F.D.P.als Koalitionspartner, dann sinken die Arbeitslosenzah-len, dann sinkt die Staatsverschuldung, dann haben wirkeine Probleme mehr!Gerade Sie, Kollege Brüderle, müssen sich sagen las-sen: Die F.D.P. hat als Regierungspartei 29 Jahre lang diewirtschaftspolitische Entwicklung auf Bundesebene mit-bestimmt.
Sie, Kollege Brüderle, sind zum Beispiel für einen An-stieg der Lohnnebenkosten in dieser Zeit um über 14 Pro-zent, für eine Verzehnfachung der Staatsschulden aufBundesebene, für einen Anstieg der Steuerquote sowie fürdie Mitnahmeeffekte der heimlichen Steuererhöhungen,von denen der Kollege Rauen gesprochen hat, verant-wortlich. Dies sind die Fakten.
Sich hier hinzustellen, sich aufzublasen und den Eindruckzu erwecken, als wären die Liberalen sozusagen dieGralshüter der mittelstandsfreundlichen Politik, der Ar-beitnehmer, der Beschäftigung, ist deshalb grotesk.
Kollege Merz, wenn Sie die ernsthaften Auguren hörenund sich auch die Tagesberichte aus dem Umfeld der In-stitute, der volkswirtschaftlichen Abteilungen der Spar-kassenorganisationen zu den wirtschaftspolitischen Fak-ten ansehen, müssen Sie feststellen, dass alle sagen: DieWachstumsdynamik hat sich gegenüber dem letztenJahr verlangsamt – keine Frage –, aber das weltwirt-schaftliche Umfeld ist ein Umfeld, für das weder Sie inder Vergangenheit etwas konnten noch wir jetzt etwaskönnen.
Jetzt haben wir in Deutschland folgende Situation: Weildie deutsche Regierung der Volkswirtschaft, den Unter-nehmen wie den Arbeitnehmern, durch die Steuerreform1 Prozent Entlastung, gemessen am Bruttoinlandspro-dukt, gibt, hat die deutsche Volkswirtschaft überhaupt nurdie Chance, mit einem relativ robusten Wachstum dazubeizutragen, dass sich der Euro-Raum insgesamt von
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Peter Rauen15139
der Entwicklung abkoppelt, die wir derzeit in den USAbeobachten können.
Das ist keine Frage. Deshalb muss man nicht schwarz ma-len, muss auch nicht in regierungsamtlichen Optimismusverfallen. Unser Land befindet sich in einer robusten Ver-fassung und das lässt sich belegen.
Ein weiterer Gesichtspunkt, den Sie von der Opposi-tion alle unterschätzen, ist der: Die Bürgerinnen und Bür-ger in unserer Gesellschaft wissen, dass ein Staat, der indie Verschuldung marschiert – wie wir es über Jahr-zehnte gemacht haben, egal, wer regiert hat –, seinen Bür-gerinnen und Bürgern sowie der Wirtschaft ständig mehrSteuern abnehmen muss, um allein die Zinsen bedienenzu können. Als wir 1998 antraten und die von Union undF.D.P. hinterlassene Erbmasse übernahmen, betrug derAnteil der Zinsausgaben an den Gesamtausgaben desBundeshaushaltes 18 Prozent. Die Steuerquote, die be-sagt, wie viel die Bürgerinnen und Bürger für Zinsausga-ben bezahlen müssen, lag bei fast 25 Prozent. Deshalb istfür eine solide Politik genau die Linie Voraussetzung, dieder Finanzminister vertritt. Die Koalitionsfraktionen wol-len die Verschuldung senken. Diesen Prozess setzen wirtrotz aller Mühen fort, um den Menschen langfristig mehrGeld in der Tasche lassen zu können. Glauben Sie, die seitdem 1. Januar dieses Jahres geltende Steuerreform, die Sieso gering schätzen, wäre ohne die Konsolidierung mög-lich gewesen? – Natürlich nicht.Kollege Rauen, was mich gerade bei Ihnen als Unter-nehmer ärgert: Wenn Sie einmal die Mittelstandsvereini-gung der CDU/CSU außen vor lassen, dann müssen Siedoch wissen, dass die Unternehmer bei fast allenVeranstaltungen quer durch die Republik und auch die In-dustrie- und Handelskammern diese Steuerreform loben.Viele Mittelständler werden am 10. März, dem großenSteuertermin, merken, dass sie als Personengesellschaftdurch die Steuerreform dieser Koalition faktisch keine Ge-werbeertragsteuer mehr bezahlen müssen. Daher kommtein erheblicher Teil der Entlastungswirkung der Steuer-reform dem Mittelstand zugute. So sehen die Fakten aus.An die Opposition und besonders an Friedrich Merzgerichtet: Warum haben Sie offensichtlich vergessen, dassdiese Koalition eine Rentenreform verabschiedet hat, diebei der Ausgabenstrukturbegrenzung im Kern in die Rich-tung geht, die Sie früher selber gefordert haben? WarumSie jetzt gegen diese Reform sind, versteht doch keinMensch. Dass unsere Koalition – das ist im Bundesrateine strittige Position – den Einstieg in die Kapital-deckung bei der Rente schafft, ist ein Beitrag dazu, denjahrzehntelangen Reformstau Ihrer Regierungszeit auf-zulösen. Das sind Projekte, die die Rahmenbedingungenfür volkswirtschaftliche Dynamik in Deutschland verbes-sern.
Sie können uns natürlich die Überregulierung desArbeitsmarktes vorwerfen. Bei dieser Debatte haben Siemich sofort auf Ihrer Seite. Aber was haben Sie in den16 Jahren Ihrer Regierungszeit getan, in Zeiten, in denendie Arbeitslosigkeit nominal deutlich höher war als in un-serer Regierungszeit? – Sie haben von Mittelstandspolitikgeredet und das Gegenteil getan. Wir bemühen uns, dieRahmenbedingungen für die Wirtschaft zu stärken, bei-spielsweise beim Mittelstand und beim Handwerk, die inder Tat mit ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerndie Leistungsträger unserer Volkswirtschaft sind.
Ich will zum Thema Betriebsverfassungsgesetz dieDebatte ein wenig versachlichen. Wenn Umfragen sagen,dass in 86 Prozent aller Unternehmen die Arbeit der Be-triebsräte eine volkswirtschaftlich positive Konsequenzhat, dann kommt doch kein Arbeitgeber an dieser Tatsa-che vorbei. Dass deshalb die Mitbestimmung in Deutsch-land darüber hinaus zur sozialen Stabilität in der Gesell-schaft beiträgt, versteht sich von selbst. Soziale Sicherheitin einer Gesellschaft ist ein volkswirtschaftliches Krite-rium für wirtschaftliche Prosperität. Menschen, die ver-unsichert sind und nichts mit entscheiden dürfen, sindweniger produktiv. Das weiß man.Wenn man außerdem den Tarifvorrang infrage stellte– dies ist die Forderung der F.D.P. –, dann bedeutete dieseDiskussion im Extremfall, die Lohnfindung nur auf dieEbene des Betriebs zu verlagern. In einer ausdifferen-zierten Volkswirtschaft wäre es fatal, die Lohnfindung al-lein auf die Einzelbetriebe zu verlagern, weil es durchständige Streiks und Arbeitskämpfe zu einer Stilllegungunserer Volkswirtschaft kommen würde. Deshalb müssenwir einen Mittelweg wählen. Das haben wir getan.Unsere Fraktion hat den Wirtschaftsminister unter-stützt, der mit dem Arbeitsminister einen Kompromiss ge-sucht hat, bevor die Kabinettsentscheidung über dieBühne ging. Ich finde, diesen Kompromiss kann man imGesetzgebungsverfahren auch unter Berücksichtigungdes Verhältniswahlrechtes in der Öffentlichkeit und auchbei der Unternehmerschaft durchaus vertreten. Man darfnicht schwarz-weiß malen, sondern muss ehrlich sagen:Die Volkswirtschaft lebt von verschiedenen Stellgrößen.Wir bemühen uns, diese verschiedenen Stellgrößen in einVerhältnis zu bringen, das zu mehr Wachstum und Be-schäftigung in unserer Volkswirtschaft führt. Das geht nurmit einer soliden Finanzpolitik, einer Politik, die langfris-tig Unternehmen und Arbeitnehmern weniger Steuernaufbürdet, und mit einer Reform der sozialen Sicherungs-systeme, die die Lohnnebenkosten senkt.Das ist die einfache ordnungspolitische Wahrheit. Sichan ihr zu orientieren ist im politischen Prozess mühsam.Daher müssen sich alle auf ihrer Ebene in diesem Hausdarum kümmern. Wir arbeiten daran.Vielen Dank.
Das wareine Rede nach § 33 der Geschäftsordnung. Das möchteich hervorheben.
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Oswald Metzger15140
Ich gebe nun das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höllfür die Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Wir diskutieren über den Jahres-
wirtschaftsbericht, das grundlegende politische Doku-
ment der Wirtschaftspolitik der nächsten Jahre. Herr
Eichel hat ihn vorgestellt. Herr Eichel wird oftmals als der
höchste Kassenwart der Republik bezeichnet. Ich denke,
er ist sicher ein guter Kassenwart. Allerdings wäre ich als
Politikerin über ein solches Lob nicht besonders erfreut;
denn es bedeutet gleichermaßen, dass er sich, wie die
Bundesregierung, ein Stück weit von der Wirtschaftspoli-
tik verabschiedet hat.
Dieser Jahreswirtschaftsbericht stellt nicht mehr die
politische Frage, wie wollen wir leben – wie es Erhard
Eppler ausgedrückt hat –, sondern es geht nur noch da-
rum: Wie haben wir zu leben, damit wir wettbewerbsfähig
sind?
Was es noch zwischen dem Markt und dem Homo oecono-
micus gibt, wird unterschlagen und als hinderlich empfun-
den. Genau das ist das Problem Ihrer Wirtschaftspolitik.
Sie versprechen letztendlich mit Blick auf die nähere und
weitere Zukunft auf der Basis der wissensorientierten Ge-
sellschaft – die Sie nur noch im Sinne von Informations-,
Bio- und Gentechnologie verstehen –, dass dann alles gut
wird. Alle Probleme werden gelöst sein. Mit diesem Ver-
sprechen sind Sie bereit, die sozialen Ungerechtigkeiten in
diesem Lande und weltweit in der Gegenwart und damit
auch in der Zukunft zu akzeptieren. Sie akzeptieren, wie der
britische Historiker Gray sagt, die tägliche Katastrophe auf
diesem Erdball. Sie haben das eindeutig im Jahreswirt-
schaftsbericht geschrieben: Wenn Menschen trotz eigener
Anstrengungen den Anforderungen der Wissensgesellschaft
nicht mehr gewachsen sind, dann ist es notwendig, eine
zielgerichtete soziale Unterstützung zu leisten.
Es wird nicht mehr die Frage gestellt: Wozu brauchen
wir das Wissen, wozu brauchen wir die Wirtschaft? Heute,
am Internationalen Frauentag, sehen wir das Problem klar:
Wir haben im vergangenen Jahr eine Unternehmen-
steuerreform für dieses Land verabschiedet, welche auf
kolossalen Risiken basiert, die sich jetzt bezüglich der
Selbstfinanzierungseffekte zeigen. Das Wirtschaftswachs-
tum wird in diesem Jahr nicht 2,75 Prozent betragen und
sich auch nicht in dem Korridor, den Herr Eichel nannte,
bewegen, sondern es wird, wie das Kieler Ifo-Institut heute
verkündete, höchstens 2,1 Prozent betragen. Das heißt, die
ohnehin fragwürdigen Selbstfinanzierungseffekte können
nicht mehr eintreten. Es sind Fehlkonstruktionen in dieser
Reform enthalten. Ein Beispiel dafür ist, dass die Steuer-
hinterziehung der Organschaft weiterhin legal möglich
sein wird, indem man Veräußerungsgewinne steuermin-
dernd einstellen wird.
Diese Steuerreform haben Sie mit Ihrer Mehrheit mit
Blick auf wahnsinnige Risiken verabschiedet. Es musste
aber eine Steuerreform zur Entlastung der großen Kon-
zerne durchgezogen werden, um diese globalisierungs-
fähig zu machen. Ich frage Sie heute, am Internationalen
Frauentag: Wo ist Ihr Ansatz für Familien- und Kinder-
politik?
Die Kinderbetreuung diskutieren Sie nur vor dem Hin-
tergrund der Kassenlage – sie darf höchstens 7 Milliar-
den DM kosten – und nicht aus der Zielstellung heraus,
dass es notwendig ist, den Kindern in unserer Gesellschaft
eine wirklich gesicherte Zukunft zu bieten und ihnen
Rechte einzuräumen. Das gilt auch für das Recht auf eine
kostenfreie Kinderbetreuung. Da können Sie sich ein Bei-
spiel an Frankreich nehmen. In Frankreich hat jedes Kind
ab drei Jahre das Recht auf eine kostenfreie Betreuung
und diese wird auch realisiert. Wir sind hier ein absolutes
Entwicklungsland.
Sie akzeptieren mit Ihrer Wirtschaftspolitik die sozia-
len Ungerechtigkeiten und die Polarisierungen in dieser
Gesellschaft. Letztendlich geht der Streit bei Ihnen nur
darum, wer am schnellsten und konsequentesten auf den
neoliberalen Wirtschaftskurs eingeschwenkt ist. Das ist
keine Politik, die mit Demokratischen Sozialistinnen und
Sozialisten zu machen ist.
Ich danke Ihnen.
Das Worthat nunmehr der Bundesminister für Wirtschaft und Tech-nologie, Dr. Werner Müller.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Lassen Sie mich, nachdem schon manches Grund-sätzliche gesagt wurde, mit einem Zweig unserer Wirt-schaft, an den weniger gedacht wird, anfangen. Nichtzuletzt, weil gerade sehr erfolgreich in Berlin die Interna-tionale Tourismus-Börse stattgefunden hat, nenne ich denTourismus, einen Wirtschaftszweig, der in diesem Lande280 Milliarden DM umsetzt und in dem annähernd 3 Mil-lionen Menschen beschäftigt sind. Er ist damit ein wirk-lich großer Wirtschaftszweig.Im letzten Jahr hatte er erfreuliche Zuwachsraten: Aus-länder haben 10 Prozent und Inländer 6 Prozent mehrÜbernachtungen in Deutschland gebucht. Der Generalse-kretär der Welttourismusorganisation, Herr Frangialli, hatam Montag in der „Welt“ dazu Folgendes gesagt:„Deutschland hat als Reiseziel eine hervorragende Leis-tung hingelegt.“
Ganz anders, Herr Merz, scheint das ja Ihre Fraktion zusehen.
Sie haben für den Tourismusstandort Deutschland SOSausgerufen und haben sogar eine Postkartenaktion ini-tiiert. Meine Postkarte ist schon etwas zerknittert, weil siebereits im Papierkorb war.
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Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters15141
Wenn Sie angesichts der Leistungen des deutschen Tou-rismus von einem SOS für den TourismusstandortDeutschland sprechen, sage ich Ihnen ganz klar: Das isteine Beleidigung für die Leistungen der Menschen.
SOS für den Tourismusstandort Deutschland müssen Sieerst dann ausrufen, wenn Sie als Fraktion anfangen, Feri-enwohnungen zu vermieten.
Ich habe mit diesem Beispiel angefangen, weil wir hierdas Vorbild eines schnell und dynamisch wachsendenWirtschaftszweiges haben. Diese Tatsache scheint bei Ih-rer Beobachtung völlig unterzugehen. Dieser Realitäts-verlust in der Betrachtung der Dinge gibt mir doch zu den-ken, nicht zuletzt deshalb, weil er mit einer statistischenBetrachtung gepaart ist, die unter Ihrer Würde ist, HerrMerz. Wenn Sie von einem Vergleich der Arbeitslosen-zahlen zwischen früher und heute reden, können Sie nichtirgendwelche Monatswerte nehmen, sondern müssen denFebruar 1998 mit dem Februar 2001 vergleichen. Wir hat-ten im Februar 1998 4,819 Millionen Arbeitslose und imFebruar 2001 4,1Millionen Arbeitslose. Das sind 700 000weniger. Das ist ein korrekter Vergleich.
Wenn wir über einen Realitätsverlust oder über einebewusst falsche Darstellung der Fakten sprechen, frageich mich wirklich: Was nützt es eigentlich, wenn wir mitUnterstützung von viel Sachverstand, insbesondere ausder deutschen Wirtschaft, sagen, wir haben in diesem Jahrnach bestem Wissen und Gewissen mit 2,7 bis 2,8 ProzentWirtschaftswachstum zu rechnen? Warum müssen Siein Ihrer Rede nur negative Möglichkeiten erwähnen unddiese Wachstumspotenziale kaputtreden?
Ich habe fast den Eindruck, dass es Sie stört – offenbarsind Sie so egoistisch –, wenn unser Wachstum doppelt sohoch ist wie das während Ihrer Regierungsperiode.
– Das stimmt. – Sie sollten doch froh sein, dass wir in denersten vier Jahren unserer Regierung beim Zuwachs desBruttoinlandsproduktes einen absoluten Zuwachs in derGrößenordnung hinbekommen wie Sie zuletzt innerhalbvon acht Jahren.
Aus meiner Sicht haben Sie als Opposition die Auf-gabe, die Fakten so zu nehmen, wie sie sind, und nicht lau-fend schlecht zu reden.
Darauf aufbauend sollten Sie dem Bürger dann bessereKonzepte vorstellen. Das ist das, was die Bürger erwar-ten. Wenn Sie offensichtlich keine besseren Konzeptevorlegen können, können Sie als Konsequenz daraus nichtalles kaputtreden. Das ist unverantwortlich!
– Herr Schauerte, das gilt auch für Sie und ganz besondersfür Herrn Brüderle. – Lassen Sie in Ihren Reden doch dieMischung von „scheintot“ und „scheinheilig“
und werden Sie Ihrer wirtschaftspolitischen Verantwor-tung gerecht! Reden und handeln Sie für die Chancen derdeutschen Unternehmen und nicht gegen die Chancen derdeutschen Unternehmen!
Ich möchte Ihnen das am Beispiel der Deutschen Postverdeutlichen.
Unsere traditionelle gelbe Post hat sich enorm gemausertund hat alle Voraussetzungen, um auf dem Weltmarktchancenreich zu sein. Der Weltlogistikmarkt ist wirklichder Zukunftsmarkt. Ich möchte, dass die Deutsche Postals Global Player im dortigen Konzert mitspielt.
Mitspielen wollen auch die Staatsmonopolisten beispiels-weise aus Frankreich oder England. Ich sehe überhauptnicht ein, dass unsere Post angesichts der globalen He-rausforderung, die auf sie zukommt, nicht als GlobalPlayer auf diesem Weltmarkt mitspielen soll, weil Sie sienational zerschlagen wollen.
– Natürlich reden Sie davon. – Soll die Deutsche Postdenn auf dem deutschen Markt der Konkurrenz ausländi-scher Staatsmonopolisten ausgesetzt sein? Das wäre dochrundum ein unfairer Wettbewerb, wozu ich Ihnen einfachsage: mit mir nicht!
Mich beeindruckt es null, wenn sich irgendwelcheLeute aus Ihrer Fraktion irgendwelche Gutachten von denKonkurrenten der Deutschen Post bezahlen lassen. Michbeeindruckt schon wesentlich mehr, dass Sie diese be-
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Bundesminister Dr. Werner Müller15142
stellten und bezahlten Gutachten zur Basis Ihrer Politikmachen.
– Ich bin vorsichtig. Ich weiß, wovon ich rede.
– Fragen Sie doch einmal Ihre Leute, von denen in derletzten Zeit in der Presse zu lesen gewesen ist. Dann wis-sen Sie das. Ich lese doch auch Zeitung.
– Beruhigen Sie sich doch! Ich weiß gar nicht, warum Siesich so aufregen.
Herr Minis-
ter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Uldall?
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Ja.
Herr Minister, ange-
sichts des schweren Vorwurfs, den Sie eben erhoben ha-
ben, nämlich dass sich unsere Fraktion ein Gutachten, das
zur Entscheidungsgrundlage unserer Politik geworden
sein soll, von einem Unternehmen habe bezahlen lassen,
bitte ich Sie nachdrücklich, jetzt klar Ross und Reiter zu
nennen, wer ein solches Gutachten hat anfertigen lassen
und wo ein solches Gutachten bei uns zur Ent-
scheidungsgrundlage geworden ist.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Ich habe ausdrücklich nicht gesagt, dass
sich Ihre Fraktion irgendein Gutachten von den Konkur-
renten der Deutschen Post hat aufschwätzen lassen. Ich
bitte, sich auf das zu beziehen, was ich gesagt habe.
Sie wissen, dass ein Mitglied Ihrer Fraktion ein Gutach-
ten von Konkurrenten der Deutschen Post hat erstellen
lassen. Sowohl diese Postkonkurrenten als auch das be-
treffende Mitglied Ihrer Fraktion sind im Zusammenhang
mit diesem Gutachten breitflächig in den deutschen Zei-
tungen vertreten gewesen. Das hat sich sogar bis nach
Hessen herumgesprochen. Ich habe gestern einen Brief
des hessischen Wirtschaftsministers
bekommen, in dem mir mit Bezug auf das von einem Mit-
glied Ihrer Fraktion in Auftrag gegebene Gutachten er-
klärt wird, dass aus Sicht der CDU dieses und jenes auf
dem Postmarkt unbedingt zu geschehen habe. Alles, was
Sie jetzt sagen, deckt sich völlig mit dem, was in dem Gut-
achten verbreitet wurde.
– Herr Uldall, ich freue mich ja und bin regelrecht beru-
higt, wenn Sie diese Gutachten zur Verlängerung des
Postmonopoles – darauf wollte ich gleich noch zu spre-
chen kommen – als nicht existent betrachten. Dafür bin
ich Ihnen dankbar.
– Ich bin gerne bereit, Ihnen meine Presseausschnitte zum
Lesen zu geben, Herr Uldall.
Herr Minis-
ter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kolle-
gen Uldall?
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Aber gern.
Herr Minister, könnenSie einmal erklären, wie meine Fraktion ein Gutachten zurEntscheidungsgrundlage machen kann, wenn weder mirals zuständigem Sprecher für Wirtschaftspolitik – dazugehört auch die Postpolitik – noch offensichtlich meinenhier versammelten Kollegen dieses Gutachten bekannt ist?
Wie kann ein solches Gutachten überhaupt Grundlage un-serer Entscheidungsfindung sein? Können Sie das bitteerläutern?
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie: Nein, das kann ich Ihnen nicht erläutern.
Ich bin sofort bereit, mich zu korrigieren, weil ich ersteben erfahre, dass dieses Gutachten, das mir von allenmöglichen Leuten – wie gesagt, auch von Mitgliedern Ih-rer Partei – mit der Bitte ins Haus geschickt wird, ja nichtsan den Gesetzen zu ändern und das Postmonopol enden zulassen, Ihnen völlig unbekannt ist.
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Bundesminister Dr. Werner Müller15143
Das begrüße ich. Denn das Gutachten ist nicht richtig.
Es gibt, Herr
Minister, den Wunsch nach einer weiteren Zwi-
schenfrage.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Ja. Ich habe Zeit.
Herr Minister, sind Sie
denn bereit, uns dieses Gutachten zur Verfügung zu stel-
len, damit wir es überhaupt kennen?
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Herr Uldall, das mache ich sehr gerne,
wenn Sie mir im Gegenzug versprechen, es hernach weg-
zuwerfen.
Zum Ernst der Sache zurück: Ich werde in allernächs-
ter Zeit das Bundeskabinett um Zustimmung zu einer Ge-
setzesänderung bitten, die nur aus einer einzigen Zeile be-
steht. Wir werden das Postmonopol von 2002 auf 2007
verlängern. Glauben Sie mir: Wir haben das rundum ge-
prüft. Das ist in Ordnung.
Vor diesem Hintergrund bitte ich schon jetzt um Ihre Zu-
stimmung. Das geht auch in Richtung Bundesrat.
Herr Bun-
desminister Müller, der Kollege Brüderle möchte eine
Frage an Sie richten.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Das lässt sich nicht vermeiden.
Bei Ihrer Politik ja, Herr
Müller.
Herr Müller, sind Sie erstens bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass Ihre Aussage nicht zutrifft, dass der CDU-
Wirtschaftsminister von Hessen dieses oder jenes mitge-
teilt habe? Der Wirtschaftsminister von Hessen ist Mit-
glied der F.D.P.
Sie sollten die politische Landschaft ein bisschen kennen;
das ist manchmal hilfreich, wenn man sich äußert.
Zweitens. Halten Sie es für vertretbar, dass der Bund
hier Schiedsrichter und Mitspieler gleichzeitig ist? Sie
sind Eigentümer einer erdrückenden Mehrheit an der
Deutschen Post AG. Sie begünstigen sich selbst, indem
Sie das Briefmonopol verlängern, damit Herr Eichel mehr
Privatisierungserlöse kriegt. Ist das Ihre Ordnungspolitik?
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Ich will Ihnen zum ersten Punkt sagen:
Das ist jetzt in der Tat für mich neu.
Aber das liegt auch daran, dass ich diesen Kollegen, der
seit etwa zwei Jahren im Amt ist, bisher vergeblich gebe-
ten habe, vielleicht einmal, wie alle anderen es machen,
zum Bundeswirtschaftsminister zu kommen. Dann hätte
ich ihn kennen gelernt.
Nun zu dem anderen Punkt. Ich habe deutlich gesagt:
Ich möchte nicht, dass die Deutsche Post unter die Mühl-
steine unfairer Konkurrenz kommt, weder auf dem deut-
schen Markt noch insbesondere auf dem großen Zu-
kunftsfeld der Weltlogistik, wo sich die Deutsche Post
aufgestellt hat, ein Global Player zu werden. Das findet
die volle Unterstützung der Politik der Bundesregierung,
die volle Unterstützung des Eigners Bundesregierung,
übrigens auch die volle Unterstützung des Aufsichtsrates
der Post. Das Ganze geschieht vor dem Hintergrund, dass
wir die Beschäftigung bei der Post weiter stabilisieren und
ausbauen wollen.
Gestatten
Sie, Herr Bundesminister, eine weitere Zwischenfrage? –
Bitte, Herr Brüderle.
Herr Müller, Sie habenzwar etwas gesagt, aber nicht meine Frage beantwortet.Meine Frage war, zugespitzt, ob Sie nicht eine Selbstbe-günstigung darin sehen, dass der Eigentümer Bund Rege-lungen zum Briefmonopol trifft, die ihn selbst besser stel-len und damit höhere Privatisierungserlöse in die Kassevon Herrn Eichel bringen, als wenn Wettbewerb bestehenwürde.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Folgt daraus im Umkehrschluss, dasswir die in unserem Eigentum stehende Post erst kaputtmachen müssen, damit wir sie nicht mehr verkaufen kön-nen?
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Also, Herr Brüderle, Ihre Parteifarbe ist zwar gelb, aberfür die Post stellen Sie eher eine gelbe Gefahr dar.
Lassen Sie mich wieder auf das eigentliche Themazurückkommen: Es wird in unserem Land – das ist meineBeobachtung – dermaßen viel an den Dingen vorbeigere-det und über Scheinprobleme geredet, dass dadurch Pro-bleme herbeigeredet werden, die es nicht gibt. Das Be-triebsverfassungsgesetz soll ja nun, wenn man einigenWirtschaftsverbänden Glauben schenkt, zum UntergangDeutschlands führen.
Dabei ist § 1 schon am 4. Februar 1920 im Reichstag inder Form beschlossen worden, wie er auch jetzt, nach80 Jahren, noch unverändert im Gesetz steht. Dort heißtes: Betriebe haben einen Betriebsrat. Das ist die simpleAussage seit 1920. Für Betriebe mit weniger als 100 Be-schäftigten ändert die Reform von Herrn Riester ganz undgar nichts.
Jetzt muss man wissen, dass beispielsweise nur 0,9 Pro-zent aller Handwerksbetriebe mehr als 100 Beschäftigtehaben. Diese 0,9 Prozent aber werden als 100 Prozent ge-setzt. Hiervon ausgehend wird dann Politik gemacht. Siegehen dem auf den Leim, so als ob Sie wieder ein Gut-achten hätten; das aber nur am Rande.
Die Steuerreform falle für den Mittelstand ungünsti-ger aus als für Kapitalgesellschaften, behaupten Sie.Fragen Sie doch einmal irgendjemanden im Mittelstand,ob er sich wie eine Kapitalgesellschaft besteuern lassenwill. Bedenken Sie bitte dabei, dass 99 Prozent allermittelständischen Personengesellschaften weniger als500 000 DM im Jahr versteuern. Erst ab diesem Wertwird eine Kapitalgesellschaft überhaupt steuerlich mar-ginal besser gestellt. Wer also so etwas behauptet, straftsteuerlich 99 Prozent aller mittelständischen Personen-unternehmen.
Deswegen – das muss ich Ihnen ehrlich sagen – bekommeich manches, was Sie so sagen, nicht mehr richtig mit.
Deswegen sprach ich vom RealitätsverlustJoachim Poß [SPD]: Ja, Schotten dicht!)und auch von mangelnden Konzepten.
Mittelstandspolitik heißt – das muss man deutlich sa-gen –, nicht für 0,9 Prozent der Betriebe etwas zu machen.Mittelstandspolitik heißt, für alle Betriebe des Mittelstan-des eine neue Technologieoffensive zu starten, allen Be-trieben des Mittelstandes deutlich zu machen, dass siesich auch mehr um den Export kümmern müssen. Mittel-standspolitik für alle heißt, das Internet dem Mittelstandnahe und den Mittelstand ins Internet zu bringen.
All diese Dinge werden in unserer Politik klar berück-sichtigt. Wir erhalten ja auch vom Mittelstand große Zu-stimmung, beispielsweise auch bezüglich der Frage derFinanzierung des Mittelstandes. Die Finanzierung desMittelstandes war eines der großen Probleme, nicht zu-letzt aufgrund der ersten Entwürfe des Basler Akkords mitVorschriften zur Eigenkapitalunterlegung usw.
Wir haben die damit zusammenhängende Problematikgelöst. Ich könnte Ihnen bezüglich dieser Frage beliebigviele anerkennende Worte der Mittelstandsverbände an-führen.Zum Schluss lassen Sie mich sagen: Alles in allem regeich mich nicht auf, weil ich weiß, dass unsere Politik vorOrt ankommt.
Sie können hier ruhig alles madig machen. Wichtig ist,dass wir vor Ort ankommen, dass dort Wachstum ver-zeichnet wird; denn gewählt wird zum Schluss vor Ort.Vielen Dank.
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Dr. Bernd Protzner für die Frak-
tion der CDU/CSU.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann nur fragen:„Alles Müller oder was?“ Müller hat bei Milch undMilchprodukten immerhin einen guten Namen, was ichhier vom Wirtschaftsminister nach seinem Auftritt nichtsagen kann.Es ist erstaunlich, an welcher Position er sprechen darf:Sieben Rangstufen nach dem Bundesfinanzminister darfer auftreten. Dies entspricht dem gehörigen Abstand zwi-schen Ministerialratsebene und der Leitung des Hauses.
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Er darf dann das große Gebiet des Tourismus bearbeiten,wobei er Umsatz mit Erträgen verwechselt. Herr Müller,Sie sind nicht mehr bei einem Energieversorgungsunter-nehmen mit Monopolstellung. Dort konnte man das ein-fach gleichsetzen.
– Das hat nichts mit Polemik zu tun. Wenn sich der Minis-ter auf eine so simple Argumentation einlässt, dann ist dassein Problem.Ich hätte eigentlich erwartet, dass er etwas mehr sagt.Meiner Ansicht nach ist er nicht nur Minister für Mes-seeröffnungen – gestern hat er die Handwerksmesse eröff-net – und Rücktrittsdrohminister; das ist er in regelmäßi-gen Abständen, etwa jedes Vierteljahr, wenn es darumgeht, die Wirtschaft zu beruhigen. Er sollte sein Amt end-lich als das des Wirtschaftsministers begreifen. Ich hättemir gewünscht, dass er etwas Sachverstand seines Hausesin den Jahreswirtschaftsbericht einbringt und den Jahres-wirtschaftsbericht nicht dem BundeseinnahmeministerEichel überlässt.
Herr Minister Eichel, dass Sie bestimmte wirtschaftli-che Probleme gar nicht ansprechen wollen, ist mir schonklar. Auf dem Arbeitsmarkt herrscht Stillstand.
Weshalb lehnen Sie, meine Damen und Herren von derSPD und von den Grünen, unseren Antrag, die Statistiksauber darzustellen, ab, wenn die Lage auf dem Arbeits-markt so gut ist?
Heute liegt die Vorlage des Ausschusses vor, in der dieAblehnung empfohlen wird. Ihre Kollegen im Wirt-schaftsausschuss haben es abgelehnt, diese Statistik end-lich zu bereinigen und die tatsächliche Entwicklung klar-zustellen. Wir können uns heute auf die Aussagen vonFachleuten verlassen: Die Anzahl der Arbeitsstunden inder Bundesrepublik Deutschland hat die letzten Jahrenicht zugenommen; sie stagniert. Die Arbeit mag auf einpaar Personen mehr verteilt worden sein; aber die Men-schen brauchen mehr Arbeitsstunden, um mehr zu verdie-nen und um mehr zu konsumieren. Nur wenn das ge-schieht, bringen wir die Binnenkonjunktur in Gang.
Ihr Bundeseinnahmeminister tut alles, um die Kräfte inDeutschland zu schwächen. Er stellt sich hin und beklagtin Hintergrundgesprächen mit Zeitungsjournalisten dieEinnahmesituation. Unter diesem Minister ist die Steuer-last um 1 Prozent des Bruttosozialproduktes – das sindimmerhin 40 Milliarden DM – gewachsen. Trotzdem er-klärt er auch hier wieder, dass zum Beispiel das für dieBundeswehr vorgesehene Geld nicht ausreicht. Dazumuss ich sagen: Er scheint mit seinen Ausgaben offen-sichtlich nicht zurechtzukommen. Er sollte einmal eineordentliche Kassenführung betreiben und die richtigenSchwerpunkte setzen.
Warum verhindern Sie mit Ihrer politischen Mehrheitbeispielsweise, dass bei der Bundesanstalt für Arbeit einemoderne Eingliederungsstatistik – dafür wurde letztesJahr der Nobelpreis verliehen – zur Überprüfung der Aus-gaben für eine aktive Arbeitsmarktpolitik in Höhe von48 Milliarden DM angewandt wird? Wenn das geschähe,käme heraus, dass diese staatlichen Maßnahmen ineffek-tiv sind und dass Sie Arbeitslosigkeit finanzieren. Es wärebesser, die 48 Milliarden DM für Investitionen heranzu-ziehen und damit Arbeit zu finanzieren. Sie gehen an die-sem Punkt einen falschen Weg.
Einen falschen Weg gehen Sie auch im Hinblick auf dieRegulierung. Der Bundeseinnahmeminister Eichel hatvorhin gesagt, er lehne deutsche Regulierungen ab und erhalte europäische Regulierungen für besser. Ich haltebeide Regulierungen für falsch und für schlecht; das giltinsbesondere für die vorgesehene Verlängerung der Re-gulierung bei der Post.
Herr Minister Müller, Sie haben sich der Einnahmepo-litik des Bundeseinnahmeministers untergeordnet. Erwird, wenn Sie das Monopol für die nächsten Jahre ver-längern, für seine Postaktien nämlich mehr bekommen,weil es dann Monopolgewinne gibt, weswegen die Er-träge höher sind. Nur, Sie verstoßen gegen die Neutra-litätspflicht des Amtes und gegen Ihre Pflichten als Wirt-schaftsminister. Sie müssen sich immer überlegen, inwelcher Tradition Sie stehen: Dem Wirtschaftsministe-rium stand einmal Ludwig Erhard und auch ein Müller, al-lerdings ein Müller-Armack und nicht ein Werner Müller,vor.
Sie betreiben eine Politik für Funktionäre. Schauen Siesich doch einmal an, wie viele Bezirksleiter von Gewerk-schaften in Ihrer Fraktion sind!
Es ist doch ganz klar, dass bei der Reform der Betriebs-verfassung nur ein Funktionärsgesetz herauskommt, aberleider nichts, was die Wirtschaft voranbringt.Hier unterscheiden sich eben die Wege der Union unddie Wege von Rot-Grün:
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Dr. Bernd Protzner15146
Wir setzen auf einen aktiven, aber nicht auf einen über-mächtigen Staat. Wir wollen in unserem Land Freiraumund Freiheit für den Ideenreichtum unserer Bürger, für dieInitiative und den Arbeitswillen der Arbeitnehmer sowiefür den Unternehmergeist, die wir dringend brauchen, umdie Wirtschaft bei uns voranzubringen. In dem Jahres-wirtschaftsbericht findet sich aber nichts davon. Hier wirdweiter der Weg in den Steuer- und Abgabenstaat, in denBürokratiestaat und in den Funktionärsstaat beschrieben.
Zum Weg in den Steuer- und Abgabenstaat: Ihre so ge-nannte Steuerreform setzt eine Fehlentwicklung inGang; denn das, was Sie den Bürgern durch die Entlas-tung bei der Lohn- und Einkommensteuer vorübergehendbelassen, das nehmen Sie ihnen bei den indirekten Steu-ern, insbesondere bei der Ökosteuer, wieder weg.
Lieber Herr Tauss, eine Erhöhung der Mehrwertsteuersteht an. Das zeigt eindeutig, welche Absichten Sie in derSteuerpolitik verfolgen. Ihr einziges Ziel scheint zu sein,die Menschen in unserem Land um den Ertrag ihrer har-ten Arbeit zu bringen.
Zum Weg in den Bürokratiestaat:Der Sachverständi-genrat warnt zwar davor. Aber was machen Sie? – Sie tau-schen einfach die Sachverständigen aus. Sie haben mitBert Rürup jemanden gefunden, der als Multifunktionärin Ihrem Sinne argumentiert. Aber in dem bayerischenVertreter haben Sie sich offensichtlich geirrt. Was dieÖffnung des Arbeitsmarktes angeht, argumentiert er näm-lich sehr in unserem Sinne und im Sinne des KollegenMerz, der seine Vorstellungen eingangs der Debatte vor-getragen hat.Echte soziale Marktwirtschaft vertraut auf mündigeArbeitnehmer und nicht auf einen Funktionärsstaat undeine Funktionärsmitbestimmung. Echte soziale Markt-wirtschaft vertraut auf Selbstständige und fördert sie, an-statt sie mit Gesetzen wie beispielsweise mit dem Gesetzzur Scheinselbstständigkeit zu bekämpfen. Echte sozialeMarktwirtschaft baut auf mittelständische Familien-unternehmen, die traditionsgemäß die Innovationen vo-rantreiben und die die Mehrzahl der Arbeitsplätze und80 Prozent der Ausbildungsplätze in Deutschland stellen.Es sind eben nicht die Großunternehmen mit Tausendenund Zehntausenden von Arbeitnehmern, die bei uns imLand die Beschäftigung garantieren und die Ausbildungsicherstellen, sondern es sind die kleinen undmittelständischen Unternehmen, die dafür sorgen. Des-halb sollten diese durch eine Steuerreform bevorzugtwerden.Es hilft nichts, wenn deutsche Unternehmer Maschinenins Ausland liefern. Herr Minister Müller, deutsche Un-ternehmer würden sich freuen, wenn sie durch vernünf-tige Abschreibungsregelungen in die Lage versetzt wer-den würden, selbst solche Maschinen anschaffen zu kön-nen.
Allerdings müssten Sie sich dann als Wirtschaftsministerendlich einmal gegen den Finanzminister durchsetzenund Sie müssten im Bundeskabinett endlich einmal eineMehrheit für Ihre Vorschläge bekommen. Bis jetzt hatsich immer der Bundeseinnahmeminister, Herr Eichel,durchgesetzt.Da Sie bezweifeln, dass der Mittelstand mit der Steu-erreform unzufrieden ist,
muss ich Ihnen sagen: Es ist schlicht und einfach einGerücht, dass Herr Eichel in den letzten Tagen sein Mi-nisterium nicht mehr betreten konnte, weil der Briefkas-ten vor Dankesschreiben der Mittelständler übergequol-len ist.
Im Gegenteil: Wir als Oppositionsabgeordnete haben eineVielzahl von Schreiben mit Klagen darüber erhalten, wiedie Steuerpolitik dieser Regierung den Mittelstand belas-tet, wie sie ihn mit Bürokratie überhäuft und wie sie ihnmit einer unseligen Funktionärsmitbestimmung an derArbeit hindert.Selbstständigkeit und Mittelstand haben die sozialeMarktwirtschaft bei uns in der Bundesrepublik Deutsch-land groß gemacht. Wenn es eine Kraft des Südens gibt,die in den südlichen Bundesländern zu höherenWirtschaftswachstumsraten führt, dann beruht sie auf derhohen Zahl von Selbstständigen und von mittelständi-schen Unternehmen. Das macht die Kraft des Südens aus.
Wir freuen uns natürlich, wenn Sie eine Unterneh-mensteuerreform machen, durch die ein einzelner imSüden angesiedelter Konzern allein in einem Jahr 2,1Mil-liarden DM mehr Gewinn ausweisen kann. Aber wirwünschten uns, dass auch die Mittelständler mehr Gewinnausweisen könnten, mehr investieren könnten und mehrfür Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze tun könnten.Dafür müssten aber die Steuerreform und die Neurege-lung der Abschreibungstabellen für sie günstiger ausfal-len, als es Ihre Regierung plant.Wir freuen uns über die Kraft des Südens.
Wir wollen sie aber nicht auf den Süden beschränken. Wirhätten es gern, wenn auch im Norden, im Westen und imOsten Selbstständigkeit und Mittelstand mehr Verbrei-tung finden würden. Allerdings müsste dann im Jahres-wirtschaftsbericht eine andere Politik eingeleitet werden,eine mittelstandsfreundliche Politik und eine Abkehr vonder allein auf Konzerne und internationale Großunter-nehmen ausgerichteten Politik, wie Sie sie betreiben.
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Dr. Bernd Protzner15147
Geben Sie doch endlich der sozialen Marktwirtschaftund dem Mittelstand wieder die Chance, die sie brauchen!Damit würden Sie die Wachstumsdynamik stärken unddie Herausforderungen Deutschlands zu Beginn des21. Jahrhunderts bewältigen können. Wir leben, wie allesagen, am Beginn einer Dienstleistungsgesellschaft. Indieser Dienstleistungsgesellschaft müsste auch Ihr Bun-deseinnahmeminister, Herr Eichel, anerkennen, dass derStaat für die Bürger da ist und nicht die Bürger für denStaat da sind. In der Wirtschaftspolitik könnten Sie damitendlich anfangen.
Für die
SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Klaus Lennartz.
Sehr geehrter Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es leuchteteeinmal ein Stern eines Generalsekretärs. Nun war vomStern des Südens die Rede. Aber dieser wird wahrschein-lich genauso erlöschen wie der Stern des Generalse-kretärs. Die Rede, die Sie hier geboten haben, war nichtgerade ein Aushängeschild für den Süden. Was Sie hiergeliefert haben, Herr Kollege, haben die Unternehmerin-nen und Unternehmer aus Bayern und Baden-Württem-berg nicht verdient.
Der Jahreswirtschaftsbericht dokumentiert, was dieMenschen längst spüren: Der wirtschaftliche Auf-schwung wird sich trotz gestiegener Rohölpreise fortset-zen und die Zahl der Arbeitslosen wird weiter abgebaut.Allein im Jahr 2000 stieg die Zahl der Erwerbstätigenbei uns um 580 000, im Jahr 2001 erwarten wir einen Ab-bau der Zahl der Erwerbslosen um rund 270 000. Das sinddie Zahlen, die mit unserer Politik verbunden sind.Wir haben in Deutschland ein neues, ausgesprochenpositives Wirtschaftsklima. Wir schaffen neue Arbeits-plätze. Die frostigen Zeiten politischer Erstarrtheit sindvorbei. Wir legen Reformen nicht aufs Eis, wir packen siean, mit neuen Ideen, Mut und Erfolg. Wir lösen die Pro-bleme, die die Kohl-Regierung und Sie, meine Damenund Herren von der Opposition, den Menschen inDeutschland hinterlassen haben. Glauben Sie mir: Inknapp 200 Monaten haben Sie mehr Probleme als Lösun-gen hinterlassen.Nachdem ich heute Morgen Ihren Reden gefolgt bin,darf ich Folgendes in Erinnerung rufen. Haben Sie ei-gentlich die Staatsverschuldung in Höhe von 1 600 Milli-arden DM vergessen, die Sie aufgebaut haben? Haben Siedie höchste Arbeitslosigkeit mit 4,6 Millionen Menschenvergessen, die Sie aufgebaut haben? Haben Sie die höchs-te Steuer- und Abgabenlast vergessen, die Sie aufgebauthaben?Ich komme zurück auf den Kollegen Merz. Ich habemir notiert, dass er heute Morgen davon sprach, wir hät-ten im Oktober 1998 bei der Übernahme der Regierungrund 3,9 Millionen Erwerbslose gehabt. Wir müssen aberfesthalten, dass wir im gleichen Monat des Jahres 2000nur circa 3,6 Millionen Erwerbslose hatten. Das heißt, dieZahl der Erwerbslosen ist in diesem Zeitraum um 300 000verringert worden. Auch so kann man die Statistik verfäl-schen, wie es hier von Herrn Merz gemacht worden ist.Wir lösen diese Probleme. Aber Fast-Food-Politik imContainerstil, meine Damen und Herren von der F.D.P., istmit dieser Regierung nicht zu machen. Das Wiedergewin-nen der Zukunftsfähigkeit in Deutschland erfordert Ver-antwortung über den Tag hinaus. Deshalb sind die Re-formvorhaben dieser Bundesregierung als langfristigeProzesse angelegt. Unsere Marschrichtung lautet: Zu-kunftsinvestitionen statt Zinszahlungen. Hans Eichel,unser Finanzminister, hat mit seinem konsequenten Spar-kurs Deutschland aus dem festgeschnürten Korsett derSchuldenfalle befreit.
Den Fehler der Kohl-Regierung, einmalige Privatisie-rungserlöse zur Finanzierung laufender Ausgaben einzu-setzen statt Schulden abzubauen, werden wir nicht ma-chen.Unsere Sparpolitik schafft Gestaltungsspielraum. DieSteuerreform der Regierung erhöht die internationaleWettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und desWirtschaftsstandortes Deutschland. Meine Damen undHerren, es lohnt sich – insbesondere für ausländische In-vestoren – wieder, in Deutschland zu investieren. Wie at-traktiv der Wirtschaftsstandort Deutschland geworden ist,möchte ich Ihnen an zwei Zahlen verdeutlichen. In derZeit von 1990 bis zum Jahre 1998 haben ausländische In-vestoren in Deutschland rund 111,4Milliarden DM inves-tiert. In der Zeit von 1999 bis zum Jahr 2000 sind nachAbzug der Mannesmann-Übernahme rund 256 Milliar-den DM von ausländischen Investoren in Deutschland an-gelegt worden. Das zeigt, wie unsere Politik Glaubwür-digkeit zurückgebracht hat.
Das ist die Politik von Hans Eichel und Wirtschaftsminis-ter Müller. Das ist die Wahrheit, das sind belastbare Fak-ten!
Durch unsere Steuerpolitikwerden die Bürger und dieWirtschaft im Jahr 2005 im Vergleich zu 1998 rund93 Milliarden DM weniger Steuern zahlen. Allein derMittelstand wird in diesem Zeitraum, Herr Brüderle, umrund 30 Milliarden DM entlastet. Meine Damen und Her-ren von der Opposition, auch wenn Sie es so nicht kennen:Das sind keine Steuersenkungen auf Pump, sondern Steu-ersenkungen, die von uns aus eigener Kraft finanziertwerden.Wer wie Sie jahrelang von der Hand in den Mund ge-lebt hat, kann für den Mittelstand nichts übrig haben. Wirhandeln! Durch das Bereitstellen günstiger Finanzie-rungsmöglichkeiten erhielten kleine und mittelständischeBetriebe 42 Milliarden DM aus dem ERP-Sondervermö-gen sowie aus den Programmen der Deutschen Aus-
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Dr. Bernd Protzner15148
gleichsbank und der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Al-lein im Jahr 2000 wurden aus dem ERP-Sondervermögen8 Milliarden DM an Finanzierungshilfen für Existenz-gründer zur Verfügung gestellt. Solche Zahlen konntenSie in Ihrer Regierungszeit niemals aufweisen.Der Mittelstand erwartet von der Politik zu Recht eineStärkung seiner Innovationsfähigkeit. Mit der steuerli-chen Entlastung des Mittelstandes sind hierfür die finan-ziellen Freiräume für Forschung und Entwicklung ge-schaffen worden. Die Bundesregierung unterstütztinnovationsbereite Unternehmen mit Kreditfinanzierun-gen und der Bereitstellung von Beteiligungskapital.2,3 Milliarden DM wurden im letzten Jahr an Beteili-gungskapital mobilisiert.
– Dass Sie diese Zahlen nicht gerne hören, Herr Repnik,ist mir schon klar.
Sie müssen den Jahreswirtschaftsbericht einmal lesen,Herr Repnik. Zum Lesen gehört nicht nur das Aneinan-derreihen von Buchstaben, sondern auch das Verstehen.Aber Sie wollen es nicht verstehen.
Meine Damen und Herren, die Regierungskoalition un-terstützt den Mittelstand auch in Fragen des E-Commerce.In 24 bundesweit eingerichteten Kompetenzzentren fürden elektronischen Handel werden Informationen gege-ben sowie Schulungen und Beratungen für Mittelständlerdurchgeführt. Mit der Umsetzung der E-Commerce- undSignaturrichtlinie Mitte des Jahres sind darüber hinaus dieGrundlagen für einen sicheren elektronischen Geschäfts-verkehr gelegt.Meine Damen und Herren, unsere Politik hat die Rah-menbedingungen für ein günstiges Wirtschaftsklima ge-schaffen. Aber die unternehmerische Verantwortung liegtnicht bei der Politik. Sie liegt beim Mittelstand: bei denen,die 70 Prozent der Arbeitsplätze stellen, bei denen, die80 Prozent aller Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen,bei denen, die Ideen in Produkte umsetzen, und bei denen,die ihr privates Vermögen investieren und dabei auch dasRisiko eingehen, mit ihrem Kapital wirtschaftlich Schiff-bruch zu erleiden. Denen muss der Staat Diener und nichtHerr sein. Eine Kultur der Selbstständigkeit setzt vo-raus, dass der Zusammenhang von Risikoübernahme undwirtschaftlichem Erfolg gesellschaftspolitisch anerkanntwird. So stolz, wie wir auf die Leistungen und den Fleißunserer Facharbeiter, Ingenieure und Informatiker sind, sostolz können wir auch auf Unternehmer sein, insbesondereauf Jungunternehmer, da jeder Jungunternehmer drei neueArbeitsplätze schafft. Anerkennung statt Neid ist hier an-gebracht, denn Gewinn sollte auch für Sie, meine Damenund Herren von der Opposition, kein Schimpfwort sein.Gerade mittelständische Unternehmen legen mit ihremHandeln vor Ort Tag für Tag Zeugnis für konkrete gesell-schaftliche Verantwortung ab. Sie hierbei zu unterstützen,ist eine hervorragende Aufgabe unserer Politik. Deshalbgibt es mit uns keine Reformpausen. Stillstand ist Gift fürdie Wirtschaft.Was müssen wir heute tun, damit Deutschland auch inzehn bis 15 Jahren die zweitgrößte Industrienation ist undder kreative Mittelstand Garant für zukunftssichereArbeitsplätze bleibt? Wissen ist Qualität. Die Leistungendes Bildungssystems sind wesentliche Grundlage für Er-folge auch und gerade in der Beschäftigungspolitik. Wirerhöhen wie in den letzten zwei Jahren die Ausgaben fürBildung und Forschung. Wir investieren in die Aus-, Fort-und Weiterbildung. Wir investieren in die Hochschulen,wir investieren in die Forschung. Wir investieren in denWissenschaftsstandort Deutschland.Meine Damen und Herren von der Opposition, 1998,im letzten Jahr Ihrer Regierung, haben Sie in diesem Be-reich circa 14MilliardenDM investiert. Wir haben hier imJahr 2000 über 17 Milliarden DM investiert. Das ist Zu-kunftsförderung. So viel werden wir auch in den nächstenJahren zur Sicherung des Standortes Deutschland bereit-stellen; denn Handeln bedeutet Zukunft.Der Faktor Humankapital ist entscheidend für dieDynamik einer ressourcenarmen Volkswirtschaft. Mit der„Zukunftsinitiative Hochschule“, die in diesem Jahrstartet, wird der Aufbau eines bundesweiten Netzwerkesfür die Patentierung und Verwertung von Forschungser-gebnissen vorangetrieben. So verstauben die Früchte derForschung nicht in den Regalen, sondern werden inGewinn bringende und Arbeitsplätze schaffende Produkteumgewandelt. Das ist zukunftsträchtiger Wissenschafts-transfer. Damit steigt die Attraktivität unserer Hochschu-len auch für die besten Köpfe im In- und Ausland.Das sind erfolgreiche Rahmenbedingungen für unsereWirtschaft. Im Jahreswirtschaftsbericht ist es nachzule-sen: Wir haben mehr Wirtschaftswachstum, wir habenmehr Beschäftigung, und wir haben den Willen zur krea-tiven Gestaltung für die Zukunft.
Eines haben wir nicht, meine Damen und Herren vonder Opposition, und das sind Ihre Probleme. Ihre Redenvon heute Morgen erinnern an einen Tropfen, der auf eineheiße Herdplatte fällt, hin- und herhüpft und letztendlichverdampft. Das ist die Politik der Opposition.Ich bedanke mich.
Ich gebe der
Kollegin Michaele Hustedt für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Seiters! Meine Damen und Herren! Eines der wich-tigsten Themen im Zeitalter der Globalisierung ist dieFrage nach dem Verhältnis von Markt und Staat. Ein zen-traler Punkt bei der Modernisierung unserer Wirtschaft istdie Liberalisierung der Monopolmärkte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Klaus Lennartz15149
Monopolmärkte sind nicht mehr zeitgemäß; sie sind einüberholtes Relikt aus vergangenen Zeiten.
Die Liberalisierung nützt allen, Verbrauchern und Un-ternehmern. Zum Beispiel kosteten Ferngespräche bei derTelekom 1997 noch 60 Pfennig pro Minute; jetzt kostensie 19 bzw. 5,4 Pfennig pro Minute. Im Ergebnis der Libe-ralisierung bei der Bahn befahren Konkurrenten der Deut-schen Bahn wieder zuvor stillgelegte Strecken. Die Ener-giepreise sind für die Industrie um 40 Prozent und fürVerbraucher immerhin um 20 Prozent gesunken.
– Dazu komme ich noch; keine Sorge. – Liberalisierungund Wettbewerb sorgen also für niedrige Preise, sie sor-gen für Effizienz. Deswegen wird dieser Prozess von unsvoll und ganz unterstützt.Allerdings kann durch den Markt nicht alles geregeltwerden. In dieser Auffassung unterscheiden wir uns vonIhnen, Herr Brüderle. Ich nenne einige Beispiele: Bei derTelekom muss man für Datenschutz sorgen. Man muss fürdie Oma, die das Internet nicht selbstverständlich nutzenkann, eine flächendeckende Versorgung mit Post undTelefonanschlüssen sicherstellen. Es ist im Zeitalter derWissensgesellschaft wichtig, für billige Internetan-schlüsse zu sorgen. Man muss natürlich auch – sieheKalifornien – für Versorgungssicherheit im Energiebe-reich sorgen. Das ist ein ganz substanzieller Punkt. Selbst-verständlich muss vor dem Hintergrund, dass UN-Wis-senschaftler vor der Klimakatastrophe verstärkt warnen,in liberalisierten Märkten auch der Umweltschutz einwichtiger Aspekt sein. Wenn man nur an niedrige Preisedenkt, Herr Brüderle, dann wird man das später teuer be-zahlen. In diesem Punkt ist Handeln angesagt!
Frau Kolle-
gin Hustedt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Frau Hustedt, uns interessiert
sehr, wie Sie und die Grünen zur Verlängerung des
Briefmonopols stehen. Würden Sie sich bitte einmal kon-
kret dazu äußern?
Ich finde es wunderbar, dass Sie mir diese Zwischenfrage
stellen. Dieses Thema wollte ich nämlich im Weiteren an-
sprechen. Durch diese Zwischenfrage kann ich zusätzlich
Zeit gewinnen.
Wir sehen die Verlängerung des Briefmonopols bis
2007 durchaus kritisch.
Ich verstehe die Argumentationen von Herrn Minister
Müller. In der Tat ist es so, dass einige Länder in Europa
die Liberalisierung verzögern. Nun muss man aber fest-
stellen: Erstens haben viele nordeuropäische Länder, zum
Beispiel Schweden, den Postmarkt bereits vollständig li-
beralisiert.
Wir sind also nicht die einzigen Vorreiter. Zweitens hat
Deutschland im Vergleich zu den anderen Ländern in Eu-
ropa die zweithöchsten Portokosten.
Drittens ist es meiner Ansicht nach so, dass die Vorreiter-
rolle in Bezug auf liberalisierte Märkte kein Nachteil für
Unternehmen ist. Wir sehen im Bereich der Telekom und
vor allem auch im Energiebereich, dass die Unternehmen,
die frühzeitig liberalisiert haben, bestens aufgestellt sind,
weil sie gelernt haben, wie man mit dem Wettbewerb um-
geht.
Deswegen sage ich ganz klar: Wir sehen die Verlänge-
rung des Briefmonopols bis 2007 kritisch.
Ich persönlich glaube nicht – Herr Brüderle, ich gehe so-
gar noch weiter als Sie –, dass diese Verlängerung für die
Aktienkurse der Deutschen Post gut ist. Denn die Frage,
ob sich die Deutsche Post auf dem Markt behaupten kann,
wird offen gelassen und die Anleger müssen mit dieser
Unsicherheit umgehen. Es kann durchaus sein, dass es für
die Aktienkurse gar nicht gut ist, wenn man zu sehr ver-
längert.
Wir werden mit den Koalitionspartnern sehr freund-
schaftlich darüber sprechen. Das kann ich Ihnen versi-
chern.
Frau Kolle-
gin Hustedt, die Kollegin Kopp möchte eine zweite Zwi-
schenfrage an Sie richten. Gestatten Sie das?
Ja.
Bitte schön.
Frau Hustedt, mich würdejetzt noch interessieren, ob Sie innerhalb der rot-grünenKoalition, in der Sie ja in aller Freundschaft diskutieren,trotz Ihrer kritischen Haltung, die wir sehr gerne hörenund die wir unterstützen, der geplanten Gesetzesänderungzustimmen werden oder ob Sie zusammen mit der Staats-sekretärin Wolf noch einmal versuchen, Wirtschaftsmi-nister Müller auf Ihre – richtige – Linie zu bringen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Michaele Hustedt15150
Ich habe doch gesagt: Noch gibt es in der rot-grünen Ko-
alition keinen Beschluss. Wir werden darüber noch ein-
mal sehr freundschaftlich diskutieren.
Nun wieder zurück zu dem Punkt, dass der Markt nicht
alles kann. Der Markt versagt zum Beispiel dann, wenn
die Preise nicht die Begrenzungen bzw. Belastungen der
Volkswirtschaft und der zukünftigen Generationen wider-
spiegeln.
Der Weg, den wir im Rahmen der ökologischen Steuer-
reform eingeschlagen haben, nämlich dass wir die Preise
Schritt für Schritt an die tatsächlichen Kosten der Volks-
wirtschaft und der zukünftigen Generationen heran-
führen, ist richtig. Wir sind sehr froh darüber, dass die
ökologische Steuerreform ein positives Projekt ist und be-
ginnt, tatsächlich eine Lenkungswirkung zu entfalten.
Dazu gehört auch, dass wir uns vorgenommen haben,
mit rechtlichen Instrumenten den Anteil der erneuerbaren
Energien und den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an
der Energieversorgung in den nächsten zehn Jahren zu ver-
doppeln. Bei den erneuerbaren Energien haben wir mit dem
EEG einen wichtigen Impuls gegeben: Die Industrie
boomt, es wird investiert und es entsteht eine neue Branche.
In Bezug auf die Kraft-Wärme-Kopplung deutet sich
an – da bin ich mir sicher; es gab ja in der letzten Zeit eine
relativ polarisierte Debatte –, dass wir einen fairen Kom-
promiss finden. Klar ist aber auch: Dieser faire Kompro-
miss beinhaltet ohne Wenn und Aber, dass wir durch den
Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung auf der Grundlage
einer rechtlichen Absicherung 23 Millionen Tonnen CO2einsparen werden.
Es gibt Beschränkungen; der Markt kann nicht alles
leisten. Aber die Liberalisierung des Marktes schafft ge-
ringe Kosten, eine höhere Effizienz, eine hohe Kunden-
orientierung, neue Angebote und eine Chance für kleine
und neue Unternehmen. Deswegen ist es wichtig, auf den
bestehenden Märkten, auf dem der Telekommunikation
und dem der Energie, die Entwicklung der Marktwirt-
schaft vom Monopol zum Wettbewerb zu verstärken.
Auch in diesen Bereichen liegen jedoch noch weitere Auf-
gaben vor uns. Denn was die alte Bundesregierung dazu
vorgelegt hat, war absolut unzulänglich.
Zur Telekommunikation: Es gibt derzeit eine Debatte
darüber, ob der Telekommunikationsmarkt schon ein
selbsttragender Markt ist oder ob er lediglich aufgrund der
Regulierung funktioniert. Die Frage ist also: Kann man
die Regulierung zurückführen und dem Kartellamt mit
seiner Erfahrung und Kompetenz die Wettbewerbsauf-
sicht überlassen? Ist dies unter Umständen für gewisse
Teilmärkte sinnvoll, und wenn ja, wie groß sind diese
Teilmärkte und wie verhindert man – das ist eine ganz
zentrale Frage, die wir klären müssen – dann Quersub-
ventionierung?
Die Regulierungsbehörde für Post und Telekommunika-
tion hat in diesem Bereich erste Schritte unternommen:
Die Regulierung im Bereich der Auslandsgespräche in die
Türkei wurde zurückgefahren. Das finde ich okay, aber
ich warne davor, diesen Bereich gänzlich aus den Augen
zu lassen. Wir sollten nicht zu schnell „entregulieren“, da-
mit die Wettbewerbsintensität im Bereich der Telekom-
munikation weiter wächst.
Dasselbe gilt für den Energiebereich.Wir stehen ja vor
der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes zur Einführung
der Liberalisierung der Gasmärkte. Natürlich muss dann
auch diskutiert werden, ob die Wettbewerbsintensität auf
dem Strommarkt ausreichend ist oder ob wir nachsteuern
müssen. Nun ist es so, dass es auch in diesem Bereich – wie
bei der Telekommunikation oder der Bahn – ein natürliches
Monopol gibt, weil die Netze für den Anbieter unabding-
bar notwendig sind, um den Kunden zu erreichen. Aber
anders als im Bereich der Telekommunikation und auch
anders als im Bereich der Bahn, wo wir dem Eisenbahn-
bundesamt jetzt die Funktion einer Regulierungsbehörde
übertragen, gibt es auf dem Energiesektor keine Regulie-
rungsbehörde, sondern den so genannten verhandelten
Netzzugang. Angesichts der Tatsache, dass die Netz-
betreiber in der Praxis ihre Konkurrenten am Zugang zum
Markt behindern, halte ich es für an der Zeit, auch in
Deutschland den regulierten Netzzugang zu gewährleis-
ten. Ich habe damit eine durchaus vergleichbare Position
wie die EU-Kommissarin de Palacio, die eine stärkere
Regulierung – Deutschland ist das einzige Land in Eu-
ropa, das keinen regulierten, sondern einen verhandelten
Netzzugang hat – sowie ein verstärktes Unbundling for-
dert. Dies kann ich unterstützen. Ich hoffe, dass wir auch
über diese Fragen diskutieren, wenn wir das Energiewirt-
schaftsgesetz novellieren.
Ich danke.
Als letztem
Redner in dieser Debatte gebe ich nunmehr das Wort für
die SPD-Fraktion dem Kollegen Dr. Mathias Schubert.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Jahreswirtschaftsberichtder Bundesregierung enthält einen Gedanken, der fürmanche vielleicht eine Art blasphemische Abkehr von ei-ner zehn Jahre lang mehr oder weniger kultivierten reinenLehre bedeutet. Er begreift nämlich ostdeutsche Wirt-schaftsentwicklung nicht mehr ausschließlich als regio-nalpolitisches Spezialproblem der BundesrepublikDeutschland.
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Mit diesem integrativen Ansatz eröffnet sich natürlichauch eine veränderte Optik auf das, was als Leitvorstel-lung für den Aufbau Ost in der Perspektive der nächstenJahre gelten könnte. Gerade unter Anerkennung der nachwie vor schwierigen Situation in Ostdeutschland wirddeutlich, dass neben den Unterschieden eben auch funda-mentale – und zunehmend mehr – Gemeinsamkeiten dieGesellschaft der Bundesrepublik und damit natürlichauch ihre Volkswirtschaft prägen.
Beide befinden sich mitten im Strukturwandel von Glo-balisierung, hin zu einer wissensorientierten Gesellschaft.In diesem Prozess werden von Gesellschaft und Wirt-schaft, unabhängig ob hie Ost und da West, mehr Eigen-verantwortung, mehr Kreativität und mehr Innovations-fähigkeit verlangt – Eigenschaften übrigens, die sich nochnie als ausschließlich westdeutsche oder ausschließlichostdeutsche Charakteristika beschreiben ließen.An der Politik war und ist es, darauf mit tief greifendenReformen zu reagieren. Dies geschieht seit zwei Jahren,obwohl der Reformstau Ende 1998 nahezu unüberwind-bar zu sein schien. Es sind neben dem politischen Groß-projekt Steuerreform vor allem auch die neuen arbeits-marktpolitischen und wirtschaftspolitischen Ansätze, diein Ost wie in West gleichermaßen positiv wirken. Es lohntsich, am Schluss dieser Debatte noch einmal auf wenigeBeispiele kurz einzugehen.Das JUMP-Programm hat sich als ein wirklich be-deutender Baustein beim Abbau der Jugendarbeitslosig-keit erwiesen,
auch wenn die Opposition mit ihrem Zwischenruf be-weist, dass sie das, was damit erreicht worden ist, nichtzur Kenntnis genommen hat. Vermutlich ist sie aufgrundihrer internen politischen Situation zurzeit auch gar nichtin der Lage ist, so etwas zur Kenntnis zu nehmen.
1999 war es Ziel, mit dem JUMP-Programm 100 000 Ju-gendlichen Ausbildung, Qualifizierung oder Beschäfti-gung anzubieten. Dieses Ziel wurde mehr als erfüllt. VonAnfang 1999 bis Herbst 2000 haben 250 000 Jugendlichean der Maßnahme teilgenommen. Dies war also ein ent-sprechend der Situation notwendiger Erfolg, in Ost wie inWest gleichermaßen. Aus gutem Grund wird dieses Pro-gramm daher in diesem Jahr fortgesetzt.Ähnlich positive Beispiele, insbesondere im Osten,sind das Inno-Regio-, das Inno-Net- und FUTOUR-Programm. Diese Förderprogramme, die den Aufbauvon Innovationsnetzwerken zwischen Wirtschaft, For-schung, Bildung und Wissenschaft in den Mittelpunktstellen, haben sich nicht nur in ihrer konkreten Umsetzungals besonders erfolgreich erwiesen, sondern zeigen auchden Weg zu einer ganz neuen Förderpolitik in Deutsch-land insgesamt. Im Mittelpunkt stehen Eigeninitiative, Ei-genverantwortung und Selbstorganisation der Akteurestatt Druck von oben, Amtsbürokratie und Alimentation,wie das trotz Herrn Protzners Einwendungen bis 1998heftigst der Fall gewesen ist.Dass sich an dem Inno-Net- und dem FUTOUR-Pro-gramm, an den beiden gesamtdeutschen Programmen,ostdeutsche Firmen überproportional beteiligen, deutetnicht nur auf zunehmende Fitness dieser Unternehmenhin, es zeigt auch die zunehmende Integration gerade aufdiesem Gebiet zwischen West und Ost.Solche Neuorientierungen erfordern natürlich politi-schen Mut, besonders den, sich von manchem Altherge-brachten zu verabschieden. Die positiven Effekte solcherProgramme machen Mut, nicht nur bewährte konserva-tive Förderinstrumente, sondern auch alternative Pro-gramme wie die erwähnten in der Zukunft fortzusetzen.Wie gesagt, ich bin davon überzeugt, dass sich die da-bei gewonnenen ostspezifischen Erfahrungen auch in an-deren Regionen unseres Landes positiv auswirken wer-den. Man muss darüber nicht gleich in überschwänglicheBegeisterung verfallen, aber es ist schon der Erwähnungwert, dass die innovativen Programme erheblich dazu bei-tragen, die Klischees vom Osten langsam, aber sicher auf-zubrechen und abzubauen.
Dies ist auch ein Grund dafür – bei allen spezifischenProblemen, die der Osten immer noch hat, die ich an die-ser Stelle auch überhaupt nicht wegdiskutiere; der Jahres-wirtschaftsbericht tut dies auch nicht –, in der Zukunftstärker über regionale Kooperationen zwischen Wirt-schaft und Forschung über Bundesländergrenzen hinausnachzudenken und entsprechende Programme zu ent-wickeln, von denen langfristig alle profitieren werden.
Ich hoffe sehr, dass das Bündnis für Arbeit seine wichtigeRolle in diesem Sinne wahrnimmt, denn nur im Konsensmit den großen gesellschaftlichen Entscheidungsgruppenkann hier entsprechend viel bewegt werden.Einen wichtigen Punkt will ich zum Schluss noch an-sprechen: Die europäische Integration fordert uns zusam-men mit den weltweiten Globalisierungsprozessen natür-lich auch zu einer Modernisierung von Wirtschaft undGesellschaft auf allen Ebenen heraus. Dabei stellt dieEU-Osterweiterung selbstverständlich nicht nur ein Pro-blem, sondern auch eine unglaubliche Chance gerade fürOstdeutschland dar.
Allerdings sage ich auch ganz klar: Das wird eine derbedeutendsten Herausforderungen und Aufgaben in die-sem Jahrzehnt für uns alle sein. Hier müssen nicht nurÄngste abgebaut werden, sondern hier muss auch Mut ge-macht werden, neue Ideen und Initiativen in diesem Kon-text zu entwickeln. Denn mit der Osterweiterung ist nichtmehr und nicht weniger verbunden, als dass Ostdeutsch-land vom Rand in die Mitte der EU rückt,
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Dr. Mathias Schubert15152
also seine Chancen als europäische Verbindungsregionbegreifen und entsprechend gestalten muss. Das wird abernur dann gelingen, wenn der innerdeutsche Integrations-prozess politisch konsequent begleitet und gefördert wird.Im Sinne dieses Gedankens erspare ich mir diesesnichts sagende Lob vom richtigen Weg als aus dem Jah-reswirtschaftsbericht zu ziehendes Fazit. Viel wichtigerist es, diesen eingeschlagenen Weg der wirtschaftspoliti-schen Reformen, verbunden mit dem integrativen Ost-West-Ansatz, weiterzugehen. Er fordert in beiden Him-melsrichtungen einiges an Umdenken, ist aber zugleichAusdruck eines hochdynamischen Prozesses und mehrund mehr erfolgreich.Vielen Dank.
Ich schließedie Aussprache.Bei den Tagesordnungspunkten 3 a und 3 b wird inter-fraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Druck-sachen 14/5201 und 14/4792 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Nun kommen wir zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antragder Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Beschäftigungals Ziel der Wirtschaftspolitik herausstellen“ auf derDrucksache 14/3845, Tagesordnungspunkt 3 c. Der Aus-schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2988 ab-zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grü-nen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU undF.D.P. angenommen.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 bsowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:4 a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenPeter Hintze, Michael Stübgen, Klaus Hofbauer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUErweiterung der Europäischen Union– Drucksache 14/3872, 14/5232 –b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für die Angelegenheitender Europäischen Union
– zu dem Antrag der Abgeordneten Günter
Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenChristian Sterzing, Ulrike Höfken, ClaudiaRoth , weiterer Abgeordneter undder Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNENFlankierung der Erweiterung der Europä-ischen Union als innenpolitische Aufgabe– zu dem Antrag der Abgeordneten KlausHofbauer, Peter Hintze, Peter Altmaier, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUDie deutschen Grenzregionen auf die EU-Erweiterung durch einen Grenzgürtel-Ak-tionsplan vorbereiten– Drucksachen 14/4886, 14/4643, 14/5475 –Berichterstattung:Abgeordnete Winfried ManteMarkus MeckelPeter HintzeMichael StübgenKlaus HofbauerChristian SterzingDr. Helmut HaussmannSabine Leutheusser-SchnarrenbergerManfred Müller
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Weichen für die Erweiterung der Europä-ischen Union richtig stellen– Drucksache 14/5447 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
der Fraktion der F.D.P.Die Bürger für die Ost-Erweiterung der EU ge-winnen– Drucksache 14/5454 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussZu der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU lie-gen ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSUund ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Das Hausist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Rednerdem Kollegen Volker Rühe für die CDU/CSU-Fraktiondas Wort.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Dr. Mathias Schubert15153
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Warum debattieren wir heute überdie Osterweiterung der Europäischen Union? Ich glaube,das Entscheidende ist: Wir müssen stärker über die Chan-cen der Osterweiterung sprechen. Es ist bedrückendund, wie ich finde, zum Teil auch beschämend, wenn manfeststellen muss, dass je konkreter die Dinge werden,umso negativer die Ergebnisse der Umfragen über die Un-terstützung der Osterweiterung in der Bevölkerung aus-fallen. Nur noch 36 Prozent unserer Bürger stehen hinterdieser Erweiterung. Damit liegt Deutschland übrigens imLändervergleich im unteren Drittel.
Deswegen müssen wir als Konsequenz nicht nur über dieProbleme und die Herausforderungen sprechen, sondernvor allen Dingen über die großartigen Chancen der Ost-erweiterung. Das ist eine politische Führungsaufgabe, beider nicht weiter versagt werden darf.
Hier sind wir alle gefordert, aber Aufgabe der Regierungsollte es sein, eine Informationskampagne in Gang zu set-zen. Wir müssen unseren Mitbürgern konkret die politi-schen und ökonomischen Vorteile für unser Land nahebringen.Ein weiterer Punkt: In der politischen Debatte wird im-mer wieder der Eindruck erweckt, als ob diese Erweite-rung ein Routinevorgang sei. Es gibt im Parlament einenKonsens darüber, dass dies nicht irgendeine Erweiterungist, wie früher die Erweiterung um England. Englandwollte zunächst nicht Mitglied werden, hat sich aber spä-ter doch um die Mitgliedschaft beworben. Staaten wieSpanien und Portugal durften wegen ihrer innenpoliti-schen Situation nicht Mitglied werden. Diesmal haben wireine ganz neue Runde der Erweiterung. Hier handelt essich um Staaten, die vier Jahrzehnte lang von Moskau sys-tematisch gehindert wurden, Mitglied dieses neuen Euro-pas zu werden. Ich nenne beispielhaft Polen, Ungarn undTschechien. Deswegen dürfen wir über diese Erweiterungnicht so sprechen, als sei es eine Erweiterung wie jede an-dere auch.
Es ist die Wiedervereinigung Europas.Wenn wir genau überlegen, dann stellen wir fest, dasses im Grunde genommen noch mehr ist, Herr Außenmi-nister: Die europäische Spaltung wird überwunden. Dasist eine großartige Leistung. Wenn Polen, Deutschlandund Frankreich nicht nur in dem Bündnis der NATO ver-einigt sind, sondern auch in der Europäischen Union,dann ist das eine Form der Gemeinsamkeit, wie es sie niezuvor in der Geschichte Europas gegeben hat. Deswegenist es mehr als nur die großartige Wiedervereinigung Eu-ropas. Wir müssen unseren Mitbürgern klarmachen, dassdas ein Vorgang, eine Nähe, eine Gemeinsamkeit und einMiteinander der Europäer sein wird, wie es nie zuvor inder Geschichte der Fall gewesen ist.
Wir unterhalten uns über das Thema der Globalisie-rung. Ich glaube, dies ist die richtige Antwort Europas aufdie Globalisierung; denn durch die Aufnahme der mittel-und osteuropäischen Staaten und ihrer Wachstumsmärktewird die Europäische Union als mit Abstand größter Bin-nenmarkt der westlichen Welt ihre Interessen in diesemglobalen Wettbewerb sehr viel besser behaupten können,als dies in einer kleineren Gemeinschaft möglich ist. Wirwerden unseren Einfluss erhöhen können und damit wirk-samer als Stabilitäts- und Ordnungsfaktor in der Weltpo-litik handeln können.Die Europäische Union wird nach ihrer Erweiterung il-legale Zuwanderung und organisierte Kriminalität durchdie Zusammenarbeit mit den neuen EU-Mitgliedern sehrviel erfolgreicher bekämpfen können. Zu den Chancendieses politischen und historischen Prozesses gehörtnatürlich auch, dass wir die Umweltprobleme im gemein-samen Europa durch die Bekämpfung der grenz-überschreitenden Umweltrisiken sehr viel besser angehenkönnen. Dies wird nicht zuletzt in Deutschland zu einerweiteren Verbesserung der Lebensqualität führen.Zu den Chancen, über die wir sprechen müssen, gehörtauch, dass durch die Erweiterung neue Absatzmärkte inden Beitrittsländern entstehen. Davon profitiert nie-mand mehr als Deutschland. Das hat dazu geführt, dass inFrankreich manche von einem deutschen Projekt spre-chen. Das ist es aber nicht, es ist ein gemeinsames euro-päisches Projekt. Wir müssen unseren Mitbürgern deut-lich machen, dass dies ein schwieriger Vorgang ist, aberdass niemand mehr davon profitiert als Deutschland.Seit 1993 hat es im Handel unseres Landes mit denBeitrittsländern Steigerungsraten von rund 20 Prozentjährlich gegeben. Es ist davon auszugehen, dass dieserProzess anhält. Der Anteil der Beitrittskandidaten amAußenhandel Deutschlands hat sich in dieser Zeit fastverdoppelt. Es ist keine zu gewagte Prognose, wenn mandavon ausgeht, dass in wenigen Jahren unser Export indiese Länder mindestens so wichtig sein wird wie dieHandelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten vonAmerika.Unser Problem ist, dass in den politischen Debatten inDeutschland allzu oft nur die Probleme im Vordergrundstehen. In dieser Debatte wäre dies jedoch völlig unange-messen.Neben den Chancen, die im Vordergrund stehen müs-sen, brauchen wir natürlich auch überzeugende Antwortenauf die Sorgen der Menschen vor der Osterweiterung, bei-spielsweise auf die Sorge, dass es durch die Osterweite-rung einen massiven Zustrom billiger Arbeitskräfte ge-ben könnte und dies zu sinkenden Löhnen und steigenderArbeitslosigkeit in Deutschland führen würde.Alle aktuellen Untersuchungen zeigen aber, dass damiteher nicht zu rechnen ist. Es ist eben nicht so, als säßendie Menschen in Polen, Tschechien oder Ungarn auf ge-packten Koffern, um nach dem Beitritt ihres Landes inScharen zu uns zu kommen.
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Eines muss man ganz klar sagen: Entweder sind sieschon hier – wir sind sehr froh darüber, dass sie infolge derLiberalisierung hier sind – oder aber die meisten bleiben inihrem Land, gerade weil sie in dem bevorstehenden Bei-tritt eine gute Perspektive für ihr Leben zu Hause sehen.Wir haben 1990 von den Deutschen in den neuen Bun-desländern gehört: Entweder kommt die DM zu uns oderwir kommen zur DM. Analog dazu möchte ich formulie-ren – und das gilt für die Menschen in Polen, Ungarn,Tschechien und den anderen Ländern –: Entweder kommtdie Europäische Union zu uns und der Prozess wird nichtweiter verzögert oder wir gehen in die EuropäischeUnion. Deswegen ist dieser Prozess eine Chance, dass dieMenschen ihre Zukunft in ihren eigenen Ländern sehen.Das ist die Wahrheit im Zusammenhang mit diesen Be-fürchtungen.
Andererseits darf es aufgrund der unterschiedlichenwirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nicht durchZuwanderung zu einer Verschärfung der Arbeitsmarkt-situation insbesondere in den strukturschwachen undgrenznahen Regionen kommen. Deshalb haben wir seitlangem länderspezifisch differenzierte, flexible Über-gangsfristen bei der Freizügigkeit von Arbeitnehmern undDienstleistungen gefordert. Wir begrüßen insofern, dass dieBundesregierung unsere Forderung aufgegriffen und jetztauch ihre konzeptionellen Vorstellungen vorgelegt hat.Wir erwarten von ihr, dass sie ihre Position bei den jetztanstehenden Verhandlungen noch präzisiert: Erstens müs-sen die Übergangsfristen länderspezifisch differenziertvereinbart werden. Nicht für jedes Beitrittsland müssenÜbergangsfristen mit der gleichen Dauer festgelegt wer-den. Als der Bundeskanzler plötzlich eine feste Frist füralle Beitrittländer nannte, konnte ich mich des Eindrucksnicht erwehren, dass das eher innenpolitisch ausgerichtetwar. Wir sollten hier länderspezifisch ganz differenziertvorgehen. Das ist die beste Möglichkeit, diesen Prozessvernünftig zu fördern.
Zweitens muss es auch möglich sein, dass für einigeLänder keine Fristen oder kürzere Fristen vereinbart wer-den, als das bei anderen Ländern der Fall ist. Die Über-gangsfristen müssen flexibel sein und es muss eine jährli-che Überprüfung ab dem zweiten Jahr stattfinden. Ichglaube, dieser Vorschlag der Kommission ist gut. So kön-nen die Fristen verkürzt werden, wenn die Vorausset-zungen dafür gegeben sind.Drittens ist es überfällig, dass die Bundesregierung ob-jektive Kriterien für die Bemessung der Übergangsfristenund für ihre Flexibilisierung nennt. Sie muss auch verläss-liche Zahlen zur Entwicklung des deutschen Arbeits-marktes vorlegen. Wir müssen den Eindruck der Beliebig-keit oder einer Abwehrhaltung vermeiden.
Deswegen ist es ganz wichtig, dass durch die politischeDiskussion klar wird, dass wir die Sorgen der Menschenin den Grenzregionen sehen
– der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommernwird ebenso wie der Kollege Stübgen aus unserer Fraktiondazu sprechen –, aber niemals die Chancen dieses politi-schen Prozesses für alle Menschen, auch für diejenigen inden Grenzregionen, außer Acht lassen. Darum geht es.
Meine Damen und Herren, Sorgen und Ängste vor derErweiterung – das ist ein Vorwurf an die Bundesregierung –resultieren aber auch daraus, dass der Kreis der Beitritts-kandidaten auf zwölf ausgeweitet und die Türkei auf-gesattelt worden ist. Herr Bundesaußenminister, den Men-schen ist nicht klar, wie das politisch, finanziell undinstitutionell machbar sein soll. Deswegen sage ich: Dass esdiese Ängste und Sorgen gibt – das zeigen die Umfragen –,hängt damit zusammen, dass man den Kreis zu groß ge-macht hat.Wie geht man damit um? Ich glaube – darauf haben wirschon seit längerem hingewiesen –, es gibt nur eine Lö-sung: Die Europäische Union muss sich so erweitern, dasssie sich auch noch in Zukunft weiter vertiefen kann. Esgibt gerade auch bei den stärksten Anhängern der Euro-päischen Union Ängste, dass durch eine zu schnell und zuumfassend organisierte Erweiterung eine Vertiefung un-möglich gemacht werden könnte. Also: Erweiterung so,dass die weitere Vertiefung der Europäischen Union mög-lich bleibt.Nach meiner Meinung geht das am besten durch einezügige Erweiterung. Die erste Verhandlungsrunde solltebis Ende 2002 abgeschlossen sein, damit zunächst einekleinere Gruppe von Ländern aufgenommen und der Pro-zess der Osterweiterung in mehreren Schritten vorange-trieben werden kann. Es muss alles getan werden, damitEnde 2002 die Verhandlungen mit denjenigen Ländernabgeschlossen werden können, die zu diesem Zeitpunktdie vereinbarten politischen, wirtschaftlichen und rechtli-chen Kriterien – auch die in Kopenhagen genannten Krite-rien der Menschenrechte und Minderheitenrechte sowiedas Kriterium funktionierender Verwaltungsstrukturen –erfüllen. Dann könnten sich diese Staaten bereits an dennächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre2004 beteiligen.Was wir brauchen – das ist in der Antwort der Bundes-regierung, Herr Bundesaußenminister, nicht enthalten, –ist ein klares Bekenntnis der Bundesregierung, dass sie al-les dafür tun wird, damit die Verhandlungen mit den ers-ten Staaten bis Ende 2002 abgeschlossen werden können.Es besteht die Gefahr, dass der Zeitplan der Kommissionnicht eingehalten werden kann. Es ist angesichts dergroßartigen Chancen einer Erweiterung, von denen ichgesprochen habe, nicht akzeptabel, dass eine solche wei-ter verzögert wird.
– Ich werde das noch konkretisieren.
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Volker Rühe15155
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: Setzen Siesich aktiv für eine Intensivierung der Verhandlungen ein.
– Bei uns am meisten? Herr Bundesaußenminister, dievorherige Regierung hat in vier Jahren 20 Milliarden DMmehr für die Bundeswehr aufgewendet als die rot-grüneRegierung, 20 Milliarden DM mehr! Seien Sie also ganzvorsichtig!
Wie gesagt, es gibt berechtigte Kritik an Europa. Siebetreiben eine Politik nach dem Motto: Große Sprüche,nichts dahinter!
Die Osterweiterung aber ist vielleicht der wichtigsteBeitrag Europas zur Sicherung der Stabilität in der Welt.Mit der Osterweiterung werden die Europäer eine gewal-tige Leistung vollbringen, an der auch viele andere ihrenAnteil haben werden. In diesem Geiste werden wir andiese Aufgabe herangehen und die notwendige Führungs-verantwortung entwickeln. Darauf kommt es an. Ichglaube, ehemalige Bundeskanzler haben anders, mit mehrAnteilnahme, mit mehr Herz, mit mehr Wärme und mitmehr Engagement, über den Prozess der europäischen In-tegration gesprochen.
– Politisch die mehrheitliche Unterstützung für die Ein-führung des Euro zu bekommen war eine viel schwieri-gere politische Leistung, als die Menschen davon zu über-zeugen, dass die Teilung Europas überwunden werdenmuss. Das ist auch nur durch einen engagierten und kon-tinuierlichen Einsatz geschafft worden.Ich finde jedenfalls, die Umfrageergebnisse sind fürDeutschland beschämend.
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Volker Rühe15156
Es ist Ausdruck eines Mangels an politischer und geisti-ger Führung, wenn noch nicht einmal das Land, das öko-nomisch am meisten von der Osterweiterung profitiert, inder Lage ist, seine Bevölkerung mehrheitlich für den In-tegrationsprozess zu gewinnen. Was sollen wir dann vonSpanien, Italien und zum Teil auch von Großbritannienund Frankreich erwarten? Darum geht es. Deswegen istdie jetzige Debatte notwendig und deswegen sollten Siedas umsetzen, was wir angeregt haben.
Liebe Kol-leginnen und Kollegen, auf der Tribüne hat soebender Präsident der Staatsversammlung der RepublikSlowenien, Borut Pahor,mit seiner Delegation Platz ge-nommen. Ich begrüße Sie, Herr Präsident, im Namen desganzen Hauses sehr herzlich.
Wir freuen uns über Ihre Anwesenheit, besonders auchdeshalb, weil wir heute erneut über die Erweiterung derEuropäischen Union diskutieren. Ich möchte Ihnen sagen,dass wir Ihren Weg in die Europäische Union mit großerSympathie begleiten. Wir wünschen Ihnen für Ihren Auf-enthalt in Berlin, im Deutschen Bundestag und im Reichs-tagsgebäude weiterhin alles Gute. Für Ihr weiteres parla-mentarisches Wirken begleiten Sie unsere guten Wünsche.
Wir fahren in der Debatte fort. Ich gebe das Wort demMinisterpräsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpom-mern, Dr. Harald Ringstorff.
Herren Abgeordneten! „Jetzt wächst zusammen, was zu-sammengehört.“ Das waren die Worte Willy Brandts, alsOst- und Westdeutschland nach 40 Jahren Teilung endlichwieder zusammenfanden. Mit der deutschen Einheit kamein Prozess in Gang, der nun zur Osterweiterung der Eu-ropäischen Union führen wird und damit den Weg für dieÜberwindung der Teilung ganz Europas ebnet.Mit der Osterweiterung eröffnen sich für Deutschland,auch für den Osten Deutschlands, neue Chancen, die wirnutzen wollen. Die Erweiterung kann für uns alle ein Ge-winn sein, wenn wir es gemeinsam richtig anpacken.Niemand gibt sich dabei der Illusion hin, die EU-Ost-erweiterung wäre ein Selbstläufer. Ich gebe Ihnen Recht,Kollege Rühe, dass das keine Routineangelegenheit ist.Sie erfordert von uns allen harte Arbeit, Besonnenheit undMut.Viele Menschen haben aber auch Sorgen. Es gibt Sor-gen vor zunehmender Billigkonkurrenz, Sorgen vor ei-nem Zustrom von Arbeitskräften, auch von Pendlern, Sor-gen vor Lohn-, Sozial- und Umweltdumping. Davon istmanches berechtigt, anderes nicht.Diese Sorgen treffen in unserem Landesteil Vorpom-mern, im Grenzraum, auf eine Arbeitslosigkeit von 25 bis30 Prozent, auf das Wegbrechen von Unternehmen, denAbzug der Bundeswehr aus Eggesin und manches mehr.Das alles wirkt sich ganz konkret in den Familien und inden Handwerksbetrieben vor Ort aus.Vorbehalte und Ängste müssen wir ernst nehmen. Auf-klärungs- und Überzeugungsarbeit sind nötig. Sie sind diebeste Gewähr dafür, dass Sorgen und Ängste nicht von de-nen instrumentalisiert werden, die der Intoleranz das Wortreden.
Das ist wirklich das Letzte, was wir in diesem Zusam-menhang brauchen.Was wir hingegen brauchen, ist ein überzeugendes undtransparentes Beitrittskonzept, das für die Menschen imLand, in den Grenzregionen und darüber hinaus glaub-würdig ist und ihnen Chancen aufzeigt, und zwar nicht nurin ferner Zukunft, sondern auch in der Gegenwart, nichtin allgemeinen Theorien, sondern in konkreten Perspekti-ven, die der Realität vor Ort standhalten.Wenn wir den Menschen die Chancen und Vorteile derOsterweiterung erläutern, dürfen wir von den Markt-chancen nicht undifferenziert sprechen. Natürlich gibt esdiese Chancen. Sie sind, insgesamt gesehen, groß, vor al-lem für große Unternehmen. Für den Handwerks- undDienstleistungsbetrieb im Grenzraum stellt sich das Pro-blem jedoch differenzierter dar. Er hat in der Regel keinestarke Kapitaldecke. Er hat nicht die personellen Res-sourcen und das Know-how, um ohne weiteres ausländi-sche Märkte bedienen oder sich auf sie einstellen zu kön-nen. Es beginnt oft schon mit den Sprachbarrieren.Probleme mit Verwaltung und Justiz im Ausland sind fürihn viel schwerer zu lösen als für die Stäbe großer Unter-nehmen. Deshalb muss den mittelständischen Betriebenbei der Marktanpassung und der Vorbereitung auf die Er-weiterung mehr Unterstützung als bisher angeboten wer-den. Einem fairen Wettbewerb wollen wir uns auchzukünftig stellen. Wettbewerbsverzerrungen wollen wirnicht.Die Erweiterung betrifft uns alle. Doch es ist auch klar:Die Auswirkungen sind regional ganz unterschiedlich. Ichwill in diesem Zusammenhang drei Punkte nennen:Erstens dasWohlstands- und Lohngefälle. Zwischenden bisherigen und den zukünftigen EU-Mitgliedern wirdes im Grenzraum am deutlichsten. Dieses Gefälle wirdMigrations- und Anpassungsdruck erzeugen, für den nichtalle regionalen und sektoralen Arbeitsmärkte gerüstetsind. Das Gefälle wird sich nur mittel- bis langfristig ver-ringern.Zweitens die Tagespendler. Kollege Rühe, ich gebeIhnen Recht, dass nicht alle Polen und Tschechen auf ge-packten Koffern sitzen. Aber das Tagespendlerproblem istein besonderes. Sie können in den für sie erreichbaren Re-gionen arbeiten, aber in ihrem Heimatland leben. Daswirkt sich auf die Arbeitsplätze zum Beispiel in denGrenzregionen aus.Drittens nenne ich die Verkehrsinfrastruktur. Hiersind zuerst die Grenzübergänge und die Zufahrtsstraßen
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Volker Rühe15157
zu sehen. Es sind Nadelöhre; erst später verteilt sich derVerkehr.Ich denke, dass es eine ganze Reihe von Aspekten gibt,die im Rahmen des Beitrittskonzeptes für die Grenzregio-nen berücksichtigt werden können und auch berücksich-tigt werden müssen.
Hieran machen sich konkrete Erfahrungen der Men-schen und der Betriebe mit der Erweiterung fest. Ich be-grüße daher ausdrücklich, dass der Europäische Rat vonNizza die Kommission aufgefordert hat, ein Programmzur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Grenzregio-nen aufzulegen. Wir werden sehen, ob es den Bedürfnis-sen und den Realitäten vor Ort gerecht wird.
Was wir brauchen, sind administrativ und finanziell aus-gewogene Lösungen für diese Räume.
Zur Wahrung der Chancen unserer Grenzregionendrängen wir deshalb auf einen Aktionsplan, der zum Zielhaben muss, das Zusammenwachsen der Regionen aufbeiden Seiten zu fördern, die Verkehrsinfrastruktur zuverbessern sowie den kleinen und mittleren Unternehmendie Anpassung an die veränderte Marktsituation zu er-leichtern. Insgesamt gilt es, die Wettbewerbsfähigkeit derkleinen und mittleren Unternehmen in den Grenzregionenzu stärken. Hier muss ein Programm für die Grenzregio-nen effektiv ansetzen.
Ein wichtiger Teil dieses Programms sind die Über-gangsregelungen im Bereich der Freizügigkeit und derDienstleistungsfreiheit,wie es sie auch 1986 bei Vollzugder Süderweiterung für die Arbeitnehmerfreizügigkeitgab. Wir brauchen hier flexible und intelligente Lösun-gen, die auch regional unterschiedlich ausfallen können.Herr Kollege Rühe, wenn Sie den Vorschlag des Bundes-kanzlers richtig gelesen haben,
hätten Sie erkennen können, dass es Revisionsklauselngeben soll und dass er für flexible Lösungen plädiert. Eshandelt sich nicht um einen starren Vorschlag, wie Sie unshier glauben machen wollten.
Aber auch die Problematik der Tagespendler mussberücksichtigt und gelöst werden.Neben der notwendigen Unterstützung der Grenzre-gionen von außen sind natürlich auch die Regionen selbstgefordert. Selbstverständlich erwarten wir auch Eigen-initiative der Wirtschaft. Ich will zwei konkrete Beispielefür innovative Eigenaktivitäten nennen:Erstens. Im Herbst letzten Jahres haben wir in Stettinein Haus der Wirtschaft gegründet. Es bietet ganz kon-krete Hilfen für Unternehmen beider Seiten, die sich imjeweils anderen Land betätigen wollen. Dieses Haus istmit großem Erfolg gestartet.Zweitens. Im Herbst dieses Jahres startet in Mecklen-burg-Vorpommern ein Pilotprojekt für eine Lehre überdie deutsch-polnische Grenze hinweg. 45 deutsche und45 polnische Lehrlinge werden mehrwöchige Ausbil-dungsabschnitte im jeweils anderen Land absolvieren.Auch ein solches Projekt ist zukunftsweisend.
Insgesamt gilt: Die positive und integrationsförderndeWirkung der in den letzten Jahren entwickelten intensivengrenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf allen Ge-bieten ist nicht gering zu achten. Das gilt sicherlich nichtnur für Mecklenburg-Vorpommern.Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei all diesenProjekten und Formen der Zusammenarbeit auf staat-licher, privater, regionaler oder lokaler Ebene werdenMenschen zusammengebracht. Ich möchte so weit gehenzu sagen: In vielen Bereichen ist auf unteren Ebenen dieEU-Osterweiterung bereits vollzogen. Daher können wirjetzt den entscheidenden großen Schritt mit Optimismustun, aber auch mit dem Willen, sie im Interesse der Men-schen überzeugend zu gestalten, damit aus den Chancen,die die Zukunft Europas bietet, Chancen für alle und nichtfür wenige werden, damit zusammenwächst, was in unse-rem heutigen Europa zusammengehört.Vielen Dank.
Für die
F.D.P.-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. Helmut Haussmann.
Sehr geehrter HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind derMeinung, dass die Europapolitik derzeit drei Mängel auf-weist:Erstens. Im Gegensatz zu früheren Projekten fehlt es aneuropäischer Führung und einer europäischen Vision.
Es fehlt an Begeisterung; aber ohne Begeisterung – daswird zu Recht gesagt – lassen sich Ängste und Befürch-tungen nicht überwinden.
Zweitens. Für konkrete Probleme müssen Lösungenerarbeitet werden. Diese Probleme müssen zugegeben
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Ministerpräsident Dr. Harald Ringstorff
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werden. Zugleich müssen aber die Vorteile sehr viel stär-ker herausgestellt werden.Drittens. Herr Außenminister, der Post-Nizza-Prozesskann nicht nur darin bestehen, das wichtige Projekt einereuropäischen Verfassung vorzubereiten, sondern dazugehört auch die Verbesserung des unzureichenden Er-gebnisses des Vertrages von Nizza. Ansonsten wird dieVerfassung auf tönernen Füßen stehen.
Ich komme zum ersten Punkt und damit zur „Begeiste-rung“. Ich war für die Schaffung des europäischen Bin-nenmarkts mitverantwortlich und ich habe mir großeMühe gegeben, die Menschen für das Projekt einer euro-päischen Währung zu begeistern. Im Gegensatz zu frühe-ren Projekten, an denen wir mitgewirkt haben, fehlt esderzeit – das sagt Herr Verheugen – an einer gemeinsamenZukunftsvision.
Der Privatmann Fischer erklärt in der Humboldt-Univer-sität, die Osterweiterung habe oberste nationale Priorität.Nur, das Regierungshandeln zeigt relativ viel Klein-mütigkeit. Nizza war schlecht vorbereitet. Man hat es bis-her nicht geschafft, Frankreich für das Projekt der Ost-erweiterung wirklich zu gewinnen. Man hat kleine Länderschlecht behandelt und man verkürzt in der innenpoliti-schen Debatte die Osterweiterung auf das Problem derFreizügigkeit im Falle der Grenzöffnungen. Wenn mandie Debatte auf dieses Problem verkürzt, dann wird manes nicht schaffen, die Menschen für die Vision der Wie-dervereinigung Europas zu begeistern.
Wir brauchen überhaupt nicht zu suchen: Die Vision be-steht in der Wiedervereinigung Europas. Darauf hat HerrRühe völlig zu Recht hingewiesen.
Gerade von Berlin, dem neuen geographischen Zen-trum eines wiedervereinigten Europas, sollte mehr euro-päische Führung – im guten Sinne – ausgehen. Unter„Berliner Republik“ verstehe ich nicht, wie dies der Bun-deskanzler tut, eine Renationalisierung der Politik, nachdem Motto: Wir sind wieder wer, basta!
Unter „Berliner Republik“ verstehe ich Führung und Vor-bild in europäischen Fragen, Herr Kollege.
Wir sind das größte Land. Kleinere Staaten erwarten vonBerlin, dass es sich in Nizza nicht hinter den ProblemenFrankreichs versteckt, sondern dass es von sich aus bereitist, mehr für die Integration zu tun, und dass es sich nach-her nicht rühmen lässt, dass es aus nationalen Gründen be-stimmte alte Positionen gewahrt hat. Wir haben im Ver-gleich zu anderen Staaten, zum Beispiel zu Belgien, auchin Nizza zu wenig getan.Der zweite Punkt betrifft das Problem der Gewinnungder Bürger für das großartige Projekt der Wiedervereini-gung Europas.Natürlich sollte man über die Freizügigkeitdiskutieren. Wenn der Kanzler allerdings in vorauseilen-dem Gehorsam gegenüber den deutschen Gewerkschaftengleich mit sieben Jahren anfängt – die deutschen Gewerk-schaften gehen von zehn Jahren aus –, dann darf man sichnicht wundern, dass Polen in anderen sensiblen Fragen vonÜbergangsfristen von 15 Jahren ausgeht. Wir sollten alswirtschaftlich stärkstes Land eine flexible Lösung vor-schlagen.
Es ist doch interessant, dass weder AußenministerFischer noch Herr Verheugen auf die Migrationsfor-schung eingehen. Sämtliche Gutachten führen zu demVorschlag: vier Jahre Übergangszeit und nach zwei JahrenÜberprüfung. Auf diesen Vorschlag kann man eingehen.Das Lamentieren und das In-den-Vordergrund-Stellen derAngst ist aus meiner Sicht falsch. Die Migrationsfor-schung sagt eindeutig, es werde zu keinen größeren Ver-werfungen auf dem Arbeitsmarkt kommen.
Herr Ministerpräsident, allerdings kommt es in denGrenzregionen zu einem erhöhten Anpassungsbedarf. Eswäre besser, wenn die Bundesregierung ihre Reformauf-gaben vorher machen würde. Wenn sie durch eine richtigeSteuerreform und eine richtige Mittelstandspolitik neueArbeitsplätze in Deutschland schaffen würde, dann wäredie Osterweiterung arbeitsmarktmäßig natürlich sehr vielleichter zu verkraften.
Wir verschenken in Deutschland Wachstum.Der dritte Punkt – ich halte ihn für den entscheiden –den –: Herr Bundesaußenminister, nicht der mangelndeReformwillen der Osteuropäer ist das Problem bei derWiedervereinigung Europas. Die Osteuropäer haben seit1989 nationale Opfer in einem Maße gebracht, an dem wiruns in keiner Form messen können. Die eigentliche Ge-fahr für die Wiedervereinigung Europas liegt in dem man-gelnden Reformwillen, in den nationalen Egoismen derAltmitglieder, einschließlich Deutschlands. Vor dem Hin-tergrund der Ergebnisse von Nizza bedeutet jede Erweite-rungsrunde eine Zunahme der Zahl der Vetoinhaber inBezug auf zentrale politische und wirtschaftliche Ent-scheidungen und damit eine reale Gefahr der Selbst-blockierung eines erweiterten Europas. Das ist der ent-scheidende Punkt.Wenn Sie heute das Gutachten von 150 Europaabge-ordneten aller Fraktionen – Liberale, Grüne, Christdemo-kraten und Sozialisten – lesen, dann können Sie feststel-len, dass sie davor warnen, unter den jetzigenBedingungen von Nizza zu erweitern. Herr Bundes-außenminister, der Post-Nizza-Prozess darf sich nicht nurauf das große Projekt einer europäischen Verfassung ver-kürzen. Wir müssen die Zeit bis 2004 nutzen, die Ergeb-nisse von Nizza zu verbessern, sodass die Erweiterung
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Dr. Helmut Haussmann15159
der Europäischen Union durch Mehrheitsentscheidun-gen, die verstärkt das Vetorecht ersetzen, möglich wird.
Das jetzige Problem mit den Ergebnissen von Nizzabesteht doch darin, dass wir gerade den wichtigen osteu-ropäischen Ländern auch innenpolitisch keinen Gefallentun, wenn die Reformer sowie die liberalen und demokra-tischen Kräfte von Anfang an von früheren Kommunistenund neuen Nationalisten dazu gedrängt werden würden,bei wichtigen Entscheidungen zu blockieren. Angesichtsder globalen Rolle Europas muss die Osterweiterung alsAntwort auf den Druck verstanden werden, der durch dieGlobalisierung, durch die Politik der Amerikaner, durchdie verstärkten Anstrengungen auf dem Gebiet derVerteidigung, durch eine große Steuersenkung und durchden internationalen Wettbewerb bezüglich der Arbeits-plätze auf uns ausgeübt wird. Die Globalisierung lässt unskeine andere Wahl, als den gesamten Kontinent wirt-schaftlich und politisch neu zu organisieren.
Langfristig wäre Westeuropa allein nicht in der Lage,mit den Vereinigten Staaten von Amerika und später mitChina oder Indien mitzuhalten. Insofern ist die Osterwei-terung nicht nur eine Frage der innereuropäischen Orga-nisation. Die Osterweiterung muss vielmehr unter demAspekt der Effizienz und der Handlungsfähigkeit vollzo-gen werden. Der entscheidende Punkt ist, dass Ge-samteuropa in verteidigungs- und währungspolitischenFragen handlungsfähig bleibt.
Ich erwähne ausdrücklich das wirklich hervorragendeReferat, das Herr Schäuble gestern Abend in der bayeri-schen Landesvertretung – ausgerechnet dort – gehaltenhat. Er hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es für dieweitere Entwicklung Europas zwei Kriterien gibt: dieHandlungsfähigkeit und die Partnerschaft mit den Verei-nigten Staaten von Amerika. Deshalb sind die Bedin-gungen von Nizza für die Osterweiterung so wichtig. Esdarf zu keiner weiteren Zersplitterung und zur Selbst-blockade kommen. Aus globaler Sicht müssen Entschei-dungen in einem Europa, bestehend aus 25 Staaten, durchMehrheitsentscheid getroffen werden, damit wir aufDauer zu einer globalen Partnerschaft fähig werden.Aus liberaler Sicht bedingt die Zustimmung zur Ost-erweiterung eine Verbesserung der Ergebnisse von Nizza.Herr Bundesaußenminister, da Sie zu Recht von der Not-wendigkeit einer weiteren Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen gesprochen haben, will ichIhnen sagen: Eines der ersten Themen, über das Sie mitFrankreich sprechen sollten, muss sein, wie die ungelös-ten Probleme von Nizza durch Nachverhandlungen so be-seitigt werden können, dass wir am Ende dem Vertrag vonNizza mit großer Mehrheit – wie bei allen europäischenVerträgen – zustimmen können.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Herrn Bundesaußenminister.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als im No-vember 1989 der Kalte Krieg zu Ende ging und die Mauerfiel, da zeigte sich, dass das wichtigste historische Projekt,das nach 1945 in Westeuropa begonnen wurde, auch eineAntwort für die Neuordnung Gesamteuropas bereithielt.Der europäische Einigungsprozess als Antwort auf diehistorische Herausforderung umfasste nämlich nicht nurWesteuropa, sondern ganz Europa. Er ist die Antwort aufden Prozess der europäischen Selbstzerstörung in der ers-ten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die wichtigsten euro-päischen Staaten meinten, in Konfrontation, ja in Kriegihre legitimen oder auch illegitimen Ansprüche gegen-einander durchsetzen zu können und durchsetzen zu müs-sen, einer Selbstzerstörung, in deren Zentrum geradeDeutschland stand.Es ist, gerade wenn man die Geschichte unseres Lan-des in der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhundertssieht, ein unglaubliches, fast nicht für möglich gehaltenesGlück, dass wir in Frieden und Freiheit wiedervereinigtsind, dass wir, in der Mitte Europas liegend, eingebundensind in die europäische Integration, umgeben von Nach-barn, Partnern und Freunden. Noch vor zehn Jahren stan-den sich die Rote Armee und die NATO auf dem erstenSchlachtfeld eines dritten Weltkriegs gegenüber. DieseLage hat sich grundsätzlich geändert.Wir haben auch die Krise auf dem Balkan erlebt, beider wir feststellen mussten, dass dieser Kontinent nichtzwei unterschiedliche Sicherheitsprinzipien aushaltenwird. Es kann nicht ein Europa des Nationalismus aufder einen Seite und ein Europa der Integration auf deranderen Seite geben. Ein Europa des Nationalismuswürde das Europa der Integration nicht unbeschädigt las-sen.Wenn es, wie die Bundesregierung sagt – das sagt nichtnur die Bundesregierung, sondern das ist ein breiter Kon-sens in diesem Haus, was deutlich wird, wenn man einmaldie Polemik weglässt –, im höchsten deutschen Interesseist, die politische Europäische Union zu schaffen und zuvollenden, dann reflektiert das nicht nur unsere Ge-schichte, nicht nur die Chancen und Risiken, die in unse-rer Geschichte offensichtlich wurden, sondern auch dieaktuellen Herausforderungen, das aktuelle InteresseDeutschlands. Das haben alle Redner hier betont.Ich kann nur unterstreichen: Die Osterweiterung istdie große historische Chance des Zusammenführens desgeteilten Europas. Unter den Bedingungen des 21. Jahr-hunderts – das werden wir feststellen – werden der Druckin Richtung Handlungsfähigkeit, und die Krisen, die vonaußen auf uns einwirken, die Notwendigkeit der politi-schen Integration dramatisch verstärken. Aber auch dieOsterweiterung selbst wird den Einigungsdruck erhöhen.Das ist ein Prozess, den ich mir durchaus wünsche.Denn die erweiterte Union steht vor der großen Frage:Wie wird eine Union der 22, der 25, ja der 27 handlungs-fähig bleiben? Diese Frage müssen wir in den kommen-
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den Jahren in dem so genannten Prozess der europäischenIntegration beantworten, den wir bis 2004 in Richtung einerVerfassung, der Abgrenzung der Kompetenzen, aber auchder weiter gehenden Klärung der Handlungsfähigkeit diesersich erweiternden Union durch- und fortführen wollen.Hier wird viel davon gesprochen, dass wir die Vorteilein den Vordergrund stellen müssen. Richtig. Aber wirmüssen genauso die Ängste ernst nehmen. Es nützt nichts,den Kopf in den Sand zu stecken. Man soll diese Ängstenicht verstärken, aber man muss schon zur Kenntnis neh-men, dass viele Menschen, bedingt auch durch die großenhistorischen Veränderungen, so etwas wie Veränderungs-stress erlebt haben, wo sie sich nicht immer auf der Ge-winnerseite gesehen haben. Mein gestriges Gespräch mitdem Bundesausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbun-des, bei dem die Ängste in den Betrieben reflektiert wur-den, hat nochmals klargemacht, dass wir die Ängste ernstnehmen müssen. Es geht nicht darum, sie zu verstärken,sondern darum, sie zu entkräften.Auch das, was der Ministerpräsident von Mecklen-burg-Vorpommern dargestellt hat, ist richtig. Natürlichgibt es in der Grenzregion – davon konnte ich mich beiBürgerforen selbst überzeugen – entsprechende Sorgen.Natürlich gibt es in der Grenzregion ganz spezifische Pro-bleme, auf die wir eingehen müssen. Die Bundesregie-rung hat gemeinsam mit der österreichischen Regierungdurchgesetzt, dass wir auf unserer Seite bei der Osterwei-terung ein Strukturanpassungsprogramm für die Grenzre-gionen schaffen.Aber die Erfahrung zeigt eben auch: Das Schicksal vonGrenzregionen ist, dass, wenn die Grenze geschlossenbleibt, sich quasi Fuchs und Hase dauerhaft niederzulas-sen versuchen, während die Durchlässigkeit der Grenze– das geht nicht von jetzt auf gleich, aber so sind die Er-fahrungen mit der Europäischen Union zum Beispiel inRheinland-Pfalz und Baden wie auch in Nordrhein-West-falen und Niedersachsen – gewaltige Entwicklungschan-cen in Regionen an der Westgrenze geschaffen hat, die zu-vor mit Problemen zu kämpfen hatten.Ich erinnere mich sehr gut, dass es in Südbaden – ichbin in Baden-Württemberg aufgewachsen – über langeZeit sehr attraktiv war, in Deutschland zu wohnen und indie Schweiz zu pendeln.Man muss dort bestimmte Strukturanpassungen vor-nehmen. Aber zugleich bieten die Öffnung der Grenzeund die ökonomische Entwicklung, die die EuropäischeUnion mit sich bringt, eine große Chance gerade für dieneuen Bundesländer und die Regionen an der Grenze zuPolen. Würde Polen nicht Mitglied, würden sich alleProbleme, die zu Recht benannt werden, exponentiellsteigern. Das heißt, wir würden die Probleme dort dauer-haft und in erheblichen Größenordnungen bekommen.Die Süderweiterung mit Portugal, Spanien und Griechen-land hat gezeigt, dass aus armen Ländern mittlerweile be-deutende Faktoren in der großen europäischen Volkswirt-schaft geworden sind, was übrigens auch zu unseremVorteil ist, wenn man die Exporte und damit die Arbeits-plätze sieht.
Diese Erfolgsgeschichte wollen wir wiederholen,meine Damen und Herren, und dafür haben wir die ent-sprechenden Voraussetzungen geschaffen. Ich verstehe ja,dass sich die Opposition an einem Punkt schwer tut, beidem wir einen breiten Konsens haben. Aber ich halteüberhaupt nichts von der Position der Opposition – –
– Herr Rühe, ich wollte gerade auf Sie zu sprechen kom-men, weil Sie vorhin sagten: große Sprüche und nichts da-hinter. – Wenn ich Ihre Rede mit dem Beitrag des Kolle-gen Schäuble vergleiche, der heute in der „FAZ“abgedruckt ist, dann meine ich: Sie sollten diesen Beitragzum Maßstab zukünftiger Reden nehmen, die Sie zumThema Europa im Bundestag halten.
Herr Kollege Rühe, ich muss Ihnen entgegenhalten,dass in Bezug auf die Osterweiterung der Satz „großeSprüche und nichts dahinter“ für Ihre Regierungszeit gilt.Polen wurde versprochen, im Jahre 2000 Mitglied zu sein.Wir haben in der zweiten Hälfte des Jahres 1998 unterösterreichischer Präsidentschaft eine konkrete Beitritts-perspektive beschlossen. Dann kam der Beschluss vonHelsinki, der die ganze Sache durch das Zusammenziehenvon ehemals zwei Gruppen wirklich dynamisiert hat. Hät-ten Sie sich besser informiert, wüssten Sie, dass es vorherzwei unterschiedliche Gruppen mit entsprechenden Rei-bungsproblemen gegeben hat. In Helsinki wurde konkretbeschlossen – ich halte das für völlig richtig –, alle Bei-trittskandidaten in einer Gruppe zusammenzufassen, dannaber jeweils konkrete Bedingungen zu implementieren.An den Fortschrittsberichten können Sie ablesen, wie her-vorragend dies funktioniert. Gerade mein Gespräch mitdem rumänischen Außenminister vor zwei Tagen hat klargezeigt, dass es richtig war, das Zweigruppenmodell auf-zugeben, zumal ja auch schon mit der zweiten Gruppe,wenn auch nachrangig, verhandelt wurde. Jetzt geht es fürjeden nach seinen Möglichkeiten und individuellen Fort-schritten. Dieser in Helsinki beschlossene Ansatz ist wirk-lich hervorragend.
Aber das sind Ihre Widersprüche; damit müssen Sie klar-kommen.Sie wollen der Türkei einen Sonderstatus bei der eu-ropäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik einräu-men, ihr aber gleichzeitig den Status im Zusammenhangmit der Heranführungsstrategie streitig machen. Es wirdja mit der Türkei nicht verhandelt. Das Einzige, was derRat von Helsinki über Luxemburg und Cardiff hinaus be-schlossen hat, ist, dass wir die Türkei nicht mehr vertrös-ten, sondern ihr klar sagen: Wenn ihr in Richtung Europawollt, dann müsst ihr euch zusammen mit der Kommis-sion eine Heranführungsstrategie erarbeiten und sie um-setzen, bis ihr die Kopenhagener Kriterien erfüllt. DieseKriterien stellen keine „Lex Türkei“ dar, sondern geltenfür Mitglieder wie für Beitrittskandidaten und müssen
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erfüllt sein, damit Verhandlungen überhaupt begonnenwerden können. Das galt und gilt für alle; auf dieserGrundlage haben wir eine Heranführungsstrategie be-schlossen. Jetzt aber der Türkei bei der sich entwickelndenESVP einen Sonderstatus einzuräumen, davor kann ichnur warnen. Das ist nicht zu Ende gedacht, Herr Rühe. Siesollten dieses Thema einmal mit Ihren Fachleuten und Eu-ropapolitikern sorgfältig erörtern. Ich glaube, dann würdenSie sehr schnell feststellen, dass Sie hier in eine Situationgerieten, die Sie sich selbst nicht wünschen können.
Meine Damen und Herren, dem Bundeskanzler „Re-nationalisierung“ vorzuwerfen ist, Herr Haussmann,doch wirklich blühender Unsinn. Gerade die Rolle, dieder Bundeskanzler sowohl in Berlin als auch in Nizzainsbesondere bei der Wahrung der Interessen der kleinenLänder gespielt hat, zeigt – ich habe es doch unmittelbarmitbekommen –, dass das Gegenteil der Fall ist: Deutsch-lands nationale Interessen bestehen darin, Europa voran-zubringen, und zwar gemeinsam mit unserem PartnerFrankreich. Der Bundeskanzler hat sich in einem Maßedafür eingesetzt, dass ihm die anderen dafür gedankt ha-ben. Das sollten Sie hier auch sagen, anstatt blühendenUnsinn von „Renationalisierung“ zu verkünden.
Lassen Sie mich noch Folgendes hinzufügen, wenn dieF.D.P. der Meinung ist, wir müssten unser Verhältnis zuFrankreich verbessern: Ich treffe mich heute Abend mitdem Kollegen Védrine. Ich stelle mir einmal vor, dass ichihm sage: Ihr habt das in Nizza großartig gemacht; leiderist das Ergebnis von Nizza schlecht, weshalb wir nach-verhandeln wollen. Auf dieser Grundlage verbessern wirdie deutsch-französischen Beziehungen!
– Das ist nicht primitiv, sondern es ist der Vorschlag derF.D.P. Ich meine jetzt ja gar nicht die CDU/CSU.Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: Wenn Sie miteiner Nachbesserungsposition nach Paris fahren wollen– das weiß Kollege Pflüger nur zu gut, das weiß auch Kol-lege Merz, nur die F.D.P. weiß es nicht –, dann brauchenSie erst gar nicht loszufahren. Es ist doch völlig klar, dassdas nur auf der Grundlage von Nizza geht. Nizza ist mei-nes Erachtens besser, als Sie es hier darstellen. Ich kannIhnen nur sagen: Auf der Grundlage der Ergebnisse vonNizza werden die nächsten Schritte möglich und dienächsten Ziele in der Osterweiterung wollen wir auch er-reichen.
Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt anspre-chen. Ich halte nichts davon – ich bitte Sie, auch das viel-leicht in den Ausschussberatungen nochmals sorgfältigdurchzudiskutieren –, bei den Übergangsvorschriftennach Ländern zu differenzieren, wie es Kollege Rühe vor-schlägt. Daraus würde sehr schnell eine Debatte resultie-ren, die sich nicht an der Sache orientiert, sondern an demnationalen Prestige: diskriminierend oder nicht diskrimi-nierend. Davon halte ich nichts.Ich finde vielmehr den Vorschlag, den der Bundes-kanzler in Weiden gemacht hat, seinen Fünf-Punkte-Plan für den freien Personenverkehr, durchdachter. Dageht es auch nicht darum, ob sich die Übergangsfrist übervier oder sieben Jahre erstreckt. Meine Position war im-mer – insofern finde ich das, was der Bundeskanzler vor-geschlagen hat, völlig richtig –: Es ist besser, eine längereÜbergangsfrist zu wählen, um – bei gleichzeitiger hoherFlexibilität in der Überprüfung – Ängste abzubauen, denndiese Ängste müssen wir ernst nehmen. Erweisen sichdiese Ängste als gegenstandslos und hat man entspre-chend eng gefasste Überprüfungsklauseln – das ist derVorschlag des Bundeskanzlers –, dann kann man die wei-tere Übergangsfrist ad acta legen.Genau auf dieser Grundlage kann man sich einigen.Anhand der Empirie, der konkreten Bedingungen und dereng gefassten Überprüfungsvorschriften kann man dannentscheiden, ob der Tatbestand gegeben ist, ob mantatsächlich noch weiter Sorge tragen muss oder ob dieSorgen schlicht und einfach gegenstandslos sind, sodassauf die weitere Übergangsfrist verzichtet werden kann.Da vertraue ich voll der Kommission, die das bisher auchin den anderen Erweiterungsprozessen hervorragend ge-macht hat.Gleichzeitig sind wir der Meinung, dass einzelne Mit-gliedstaaten ihren Arbeitsmarkt von Anfang an öffnenkönnen, wenn sie dieses wünschen. Das ist dann deren Sa-che. Auch das ist ein Vorschlag des Bundeskanzlers.Ich finde, auf dieser Grundlage lassen sich die Ängstein unserem Lande – zusammen mit einer entsprechendenStrukturanpassungsmaßnahme für die Grenzregionen –überwinden. Diese Bundesregierung hat sich der Ost-erweiterung verpflichtet. Am Anfang wurden wir mit ei-nem gewissen Misstrauen beobachtet, aber dieses Miss-trauen wurde völlig ausgeräumt.In Polen und anderswo weiß man heute sehr genau,dass es diese Bundesregierung ist, die die polnischen In-teressen, die ungarischen Interessen, die tschechischen In-teressen, auch die Interessen der baltischen Staaten voran-bringt.
Wir wollen zum frühestmöglichen Zeitpunkt diese Er-weiterung. Ich halte aber nichts davon, wenn Herr Rühejetzt, nur weil wir vorsichtig sind, mit neuen Fristenkommt. Wir vertrauen hier auf den Beschluss von Hel-sinki. Die Fortschrittsberichte der Kommission werdenzeigen, wann es so weit ist, dass konkretisiert werdenkann, wann die Signatur unter die Verträge kommt. Dannmuss ratifiziert werden, dann kann beigetreten werden.In Nizza haben die Europäer die Erwartung geäußert,dass wir bei der nächsten Europawahl im Frühsom-
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Bundesminister Joseph Fischer15162
mer 2004 mit einer erweiterten Union rechnen können.Etwa um diesen Zeitpunkt herum wird es wohl sein, sa-gen die kundigen Auguren in Brüssel.Ich denke, wir sollten uns jetzt nicht auf Diskussionenüber das Datum konzentrieren, sondern auf Fortschritte inder Sache. Genau das will die Bundesregierung.
Nun erteile ich dem
Kollegen Uwe Hiksch, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Die Erweiterung um die StaatenMittelosteuropas ist für Europa und für die EuropäischeUnion endlich der entscheidende Beitrag dazu, um errei-chen zu können, dass Europa einen entscheidendenSchritt vorangeht, dass endlich die Spaltung überwundenwird.Wir, die PDS-Fraktion, wollen mithelfen, dass ge-meinsam mit den Menschen Mittelosteuropas, mit denMenschen in Polen, in Tschechien, in Ungarn und in denbaltischen Staaten daran gearbeitet wird, dass möglichstviele dieser Menschen die Chance bekommen, bereits zurEuropawahl 2004 an den demokratischen Wahlen Euro-pas teilzunehmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns auchdafür einsetzen, dass die Diskussion über die Kopenha-gener Kriterien und die Diskussion über den Acquis Com-munautaire eine wichtige Rolle bei den Beitrittsverhand-lungen spielen und wir gemeinsam mithelfen können,solche Bedingungen zu schaffen, dass dieser Beitritt sozi-alverträglich funktioniert.Wir sollten aber bei der Diskussion über die Europä-ische Union nicht vergessen, dass Europa größer als dasEuropa der heutigen 15 Mitglieder und derjenigen Staa-ten, die beitreten wollen, ist. Die Menschen in derUkraine, die Menschen in Russland, die Menschen inWeißrusslandwollen natürlich von uns eine gemeinsameAntwort auf die Frage haben, wie wir im Rahmen desErweiterungsprozesses der Europäischen Union mithel-fen, dass Integration nicht an den Grenzen der Europä-ischen Union aufhört
und dass auch diese Staaten und Regierungen in die Ent-wicklungen Europas eingeschlossen werden.Die Menschen im ehemaligen Jugoslawien wollennatürlich von uns eine Antwort darauf bekommen, wie fürdie Staaten auf dem Balkan eine mittelfristige Beitritts-perspektive aussehen kann. Deshalb sagt die PDS deut-lich, dass wir die zunehmende Militarisierung der Euro-päischen Union für einen falschen Schritt halten, weil siedie Wahrnehmung russischer Interessen und das Eingehenauf russische Befindlichkeiten erschwert.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EuropäischeUnion bietet uns allen die große Chance auf Rückgewin-nung des Primates der Politik. Während die Vernetzungder wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Westeuropaauf der einen Seite – Deutschland mitten drin – und denosteuropäischen Staaten auf der anderen Seite ständigvoranschreitet, haben die Menschen und Regierungen indiesen Regionen ein Bedürfnis danach, dass nicht nur diewirtschaftlichen Verflechtungen vorankommen. DieseRegierungen, diese Staaten, diese Menschen wollen viel-mehr auch an den demokratischen Entscheidungs-prozessen der Europäischen Union teilnehmen. Wirsind der Überzeugung, dass die Europäische Union denMenschen in Polen, in Tschechien, in Ungarn und im Bal-tikum die Möglichkeit der Schaffung eines wirtschaftli-chen Binnenmarktes bieten sollte. Darüber hinaus solltensie bei der Entwicklung der Europäischen Union mitbe-stimmen.Wir sehen, dass die Erweiterung der EuropäischenUnion uns allen auch eine kulturelle Weiterentwicklungbringen wird.
Es ist nicht nur so, dass 16 Millionen Menschen der ehe-maligen DDR, die einmal ein anderes Staats- und Poli-tikverständnis hatten, Mitglied der Europäischen Uniongeworden sind. Es wird vielmehr so sein, dass über100 Millionen Menschen Mitglied der EuropäischenUnion werden, Menschen, die in ihrem Leben schon ein-mal erfahren haben, dass politische Forderungen wie bei-spielsweise das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildungund die Vorstellung, dass die Wirtschaft nicht sich alleineüberlassen werden darf, sondern dass der Staat auch einesoziale Verantwortung hat, in Europa eine Rolle spielenmüssen. Deshalb gehen wir davon aus, dass Diskussio-nen, wie sie beispielsweise die PDS führt, nämlich dassEuropa eine soziale und ökologische Dimension habenmuss, verstärkt durch die Menschen aus den mittelosteu-ropäischen Staaten geführt werden.Daher glauben wir, dass die Europäische Grundrechte-Charta eine ganz neue Dynamik gewinnen wird. Wir glau-ben auch, dass Diskussionen in der Europäischen Union,wie sie beispielsweise von Ihnen, Herr Fischer, oder vonHerrn Schäuble vor wenigen Jahren im Rahmen der Kern-europa- bzw. Avantgardethese begonnen wurden, für dieMenschen in den mittelosteuropäischen Staaten in diefalsche Richtung gehen, weil die Menschen aus der Peri-pherie Europas endlich als gleichberechtigte Partner Mit-glied der Europäischen Union werden wollen. Deshalbwird die PDS auch dafür einstehen, dass sich Avantgarde-vorstellungen in Europa im Rahmen einer verstärkten Zu-sammenarbeit nicht durchsetzen können.Mit der Erweiterung der Europäischen Union wird sichdas soziale Gefälle innerhalb der Europäischen Unionweit über die bisherige soziale Situation hinaus verän-dern. Bisher erkennen wir vonseiten der PDS in keinerWeise, dass die Regierungen der Europäischen Unionbzw. die rot-grüne Bundesregierung eine Antwort daraufhaben, wie sozial-, beschäftigungs- und regionalpolitischVerantwortung für diese unterschiedlichen Wohlstands-und Wirtschaftsentwicklungen übernommen werdenkann.In der aktuellen Diskussion wird vor allen Dingen vonÜbergangsvorschriften gesprochen. Dies wird damit
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Bundesminister Joseph Fischer15163
verbunden, dass über die Frage der Freizügigkeit derMenschen Mittelosteuropas diskutiert wird. Wir glauben– da hat Ministerpräsident Ringstorff völlig Recht –, dassman die Ängste der Menschen, dieses Nichtwissen, wasaus der Erweiterung um Mittelosteuropa folgt, ernst neh-men muss. Wir als PDS glauben auch, dass wir eineaufklärerische Aufgabe haben.
Wir müssen deutlich machen, dass alle zwischenzeitlichvon unterschiedlichen Regierungen und Institutionen sowievon der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenenStudien deutlich gemacht haben, dass es keinen Migrations-druck in die Europäische Union geben wird und dass keinegrößeren Wanderungsbewegungen aus den mittelosteu-ropäischen Staaten zu erwarten sind. Deshalb sind wir derÜberzeugung, dass eine Diskussion über Übergangsvor-schriften vor allem im Bereich der Arbeitnehmerinnen- undArbeitnehmerfreizügigkeit zunächst einmal keines der rea-len Probleme lösen wird, sondern dass dadurch lediglichversucht wird, in diesem Zusammenhang eine Aufschie-bung von sieben Jahren, wie es beispielsweise der Bundes-kanzler vorgeschlagen hatte, zu erreichen.Wir als PDS wollen deshalb deutlich machen, dass dasErnstnehmen der Ängste von Menschen auch etwas damitzu tun haben muss, dass sich in der Europäischen Union,in der realen Politik etwas ändert. Wir brauchen neue Po-litikziele, müssen beispielsweise darüber diskutieren, wiedie Europäische Union eine demokratische Koordinationzwischen Geld- und Fiskalpolitik erreichen kann. Es mussdarüber geredet werden, wie Arbeitsmarkt- und Beschäf-tigungspolitik in den Mittelpunkt der Politik rücken.
Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel hat gemein-sam mit den Industrie- und Handelskammern und denHandwerkskammern in den Grenzregionen vorgeschla-gen, ein Struktur- und Infrastrukturprogramm aufzulegen.Damit könnte man dazu beitragen, den Menschen in die-sen Regionen Hoffnung zu geben. Ein solches speziellesProgramm darf jedoch nicht nur – so wie es die CDU vor-schlägt – auf das deutsche Grenzgebiet zielen, sondernmuss die Grenzregionen sowohl in den Beitrittsländernals auch in Deutschland umfassen und auf alle europä-ischen Außengrenzen, seien sie in Österreich, in Deutsch-land oder der Slowakei, in Tschechien oder in Polen, aus-gedehnt werden.
Darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wirsehr genau nachdenken, gerade vor dem Hintergrund derTatsache, dass wir hier im Deutschen Bundestag dieGrundrechte-Charta fast einstimmig verabschiedet ha-ben. Dort heißt es in Art. 15 Abs. 2 – ich zitiere –:Alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben dieFreiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen,sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbrin-gen.
Wir sollten deshalb darüber nachdenken: Wollen wir die-ses ganz wichtige Recht, die menschliche Freiheit, wirk-lich einschränken, weil wir Ängste haben – deren Grund-lage bisher durch keine Studie bewiesen worden ist –,oder sollte nicht vielmehr diese Grundrechte-Charta auchden Menschen Mittelosteuropas gelten?Ich bitte darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, dasswir die Diskussion über die Frage, wie Ängste abgebautwerden könnten, nicht einseitig verengen auf Über-gangsvorschriften. Massenarbeitslosigkeit, fehlendeWohnungen, schlechte wirtschaftliche Bedingungen oderauch nur eine sich am Konjunkturhimmel abzeichnendeRezession dürfen eine Erweiterung um Mittelosteuropa,zu unseren Freunden in diesen Ländern, nicht verhin-dern. Deshalb bitte ich darum: Lasst uns darüber disku-tieren, wie Politik verändert werden muss! Man darfnicht glauben, über Restriktionen könnten die Ängste derMenschen und manch schlechte Befindlichkeit überwun-den werden.Besten Dank fürs Zuhören.
Ich erteile jetzt das
Wort dem Kollegen Dr. Christoph Zöpel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! NachhaltigerFriede in Europa – diese Vision ist mehr als 200 Jahre alt.Sie ist in bis heute unübertroffen gültiger Weise in den90er-Jahren des 18. Jahrhunderts von Immanuel Kantformuliert worden,
in Preußen. Er hat in seiner Schrift über den ewigen Frie-den auch die Bedingungen formuliert
für dieses Ziel, eine Gemeinschaft von republikanischenDemokratien, die die Menschenrechte achten. Nicht viel– außer schlechter und guter historischer Erfahrung – istseitdem dazugekommen. Es macht Sinn, wenn man überdiese größte geistige Leistung Preußens spricht, auch ein-zuordnen, wann Kant sie formuliert hat: nach den Erfah-rungen mit den Kriegen Friedrich des Großen undwährend der Erfahrungen mit dem neuerlichen Miss-brauch des Absolutismus im Inneren durch FriedrichsNachfolger Friedrich Wilhelm II.Die Vision hat lange gebraucht, bis sie – nach den na-poleonischen Kriegen, den bismarckschen Kriegen undzwei Weltkriegen – zur konkrete Utopie wurde. Nachhal-tiger Friede in Europa als konkrete Utopie wurde aufge-schrieben in der Charta von Paris 1989. Aber damalswusste noch keiner genau, ob dies für den ganzen Bereichder Staaten, die sich an dieser Charta beteiligt haben, oderfür einige zu einem wirklich realisierbaren Projekt wer-den würde.Jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, kann, glaube ich,kein vernünftiger Mensch daran zweifeln: Nachhaltiger
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Uwe Hiksch15164
Frieden für zunächst 500 Millionen Europäer ist ein rea-lisierbares Projekt.
Von einem realisierbaren Projekt können wir sprechen,wenn wir historische Erfahrungen haben. Unsere histori-schen Erfahrungen sind: 370 Millionen Europäer haben esgeschafft, dauerhaften Frieden für sich zu sichern. KeinMensch kann sich einen Krieg wie die napoleonischenoder die bismarckschen Kriege mehr vorstellen.Eine weitere historische Erfahrung: Wenn das 370 Mil-lionen Menschen schaffen, dann schaffen sie es gleich-zeitig, ihren Wohlstand gemeinsam schneller zu steigernund soziale Probleme eher zu mindern als unter anderenBedingungen. Wer hätte es vor 20 Jahren für möglichgehalten, dass Irland Einwanderungsland wird und diehöchsten Wachstumsraten der EU hat?Zu den historischen Erfahrungen, die es erlauben, voneinem realisierbaren Projekt zu sprechen, gehört auch,dass jeder, der vorurteilsfrei herangeht, feststellen wird:Die zwölf Staaten, mit denen derzeit die EuropäischeUnion verhandelt, sind in der Lage, die Kriterien vonKopenhagen zu erfüllen und sich in ihrem staatlichen,parlamentarischen und administrativen Verhalten so dar-zustellen, dass sie den Umsetzungsprozess schaffen.Das alles wissen wir heute. Damit wird als Viertesnachhaltiger Frieden in Europa nun zu einer VerpflichtungpolitischerMoral.Wir reden manchmal unter fragwürdi-gen Gesichtspunkten über Moral in der Politik. Für michist Moral in der Politik ein realisierbares Projekt, und hierist das Edelste der Aufklärung, das dann, wenn es möglichist, auch umzusetzen. Wer sich daran auch nur durch Zö-gern schuldhaft nicht beteiligt, der handelt im Sinne vonDemokratie nicht moralisch.
Erlauben Sie mir als Sozialdemokraten, dieses realisier-bare Projekt politischer Moral mit einem Satz in Verbin-dung zu bringen, den ein sozialdemokratischer Bundes-kanzler geprägt hat. Willy Brandt hat gesagt: „Frieden istnicht alles, aber ohne Frieden ist alles andere nichts.“
Ich würde das in dieser historischen Situation für 500 Mil-lionen Europäer so konkretisieren: Die EuropäischeUnion ist nicht alles, aber ohne diese Europäische Unionist alles andere nichts.
Was das praktisch bedeutet und was die Mitgliedstaa-ten der Europäischen Union jetzt schon tun können, dashaben sie in Nizza gezeigt. Sie haben auf der Grundlageder Berichte der Kommission, vor allem der Berichte, dieGünter Verheugen vorgelegt hat, ein Datum genannt. Siehaben gesagt: Wir hoffen und wir wollen, dass die erstenneuen Mitgliedstaaten im Jahr 2004 in der EuropäischenUnion sind und ihre Bürgerinnen und Bürger das nächsteEuropäische Parlament mit wählen können. Vermutlichwird das im Juni jenes Jahres der Fall sein.
Wenn diese sehr generelle Konklusion von Nizza um-gesetzt wird und wir auf das schauen, was im Verwal-tungshandeln der Europäischen Union zum Integrations-prozess geschieht, können wir sehr nüchtern folgendeFakten feststellen: Unter der Präsidentschaft Schwedensim ersten Halbjahr 2001 werden mit zehn der zwölf Staa-ten, mit denen verhandelt wird, alle Kapitel weit fortge-schritten verhandelt sein. Es gibt den weiteren Fahrplan,dass diese Verhandlungen nach und nach bis zum Endeder spanischen Präsidentschaft abgeschlossen werden.In der Situation so komplexer Verhandlungen – 15 Staa-ten verhandeln mit zwölf, und ich gebe Herrn KollegenRühe und anderen Recht, dass die einzelnen Regierungenund vor allem die Regierung des bevölkerungsreichstenEU-Landes, der Bundesrepublik Deutschland, in der Ver-antwortung sind – kann etwas passieren, nicht nur wegender Nichtbereitschaft von Regierungen. Wahlsituationensind besondere Situationen. Im Jahr 2002 finden in achtder insgesamt 27 Länder Wahlen statt. Das alles solltenOpposition wie Regierung – sie tun das auch – berück-sichtigen. Dann können die Verhandlungen vielleicht imzweiten Halbjahr des Jahres 2002 zu Ende gebracht wer-den. Dann können wir ratifizieren und dann kann für vieleLänder das Ziel des Beitritts bis zum Jahre 2004 erreichtwerden.Die Formel „Es können nur Länder aufgenommen wer-den, die die Kopenhagen-Kriterien erfüllen“, ist so rich-tig, wie sie partiell überholt ist. Bei ehrlicher Einschät-zung des Erreichten kann man sagen: Von den zwölfkönnen es zehn schaffen. Wenn sie aber wegen dauerhaf-ter Regierungskrisen beschließen, nicht mehr zu handeln,werden sie es nicht schaffen. Dann können wir hier inDeutschland oder in Frankreich zehnmal sagen: Wirmöchten es aber. Dies gilt auch für Polen, wozu die Bun-desregierung durch den Bundeskanzler gesagt hat: Wirmöchten, dass Polen bei den Ersten ist. Ich füge aber auchhinzu: Ich sehe keinen Anlass dafür, dass irgendein Landder zehn von den zwölf in den nächsten Monaten bzw.Jahren so handeln würde, dass es nicht mehr beitretenkönnte.Einige Risiken liegen auch bei uns. Es ist nicht eu-ropäisch im Sinne der 500 Millionen Menschen gedacht,immer nur zu sagen: Die anderen müssen es schaffen.Ohne die Bereitschaft und die Fähigkeit der 15 Mitglied-staaten, zum Beispiel bezüglich der zukünftigen Agrarpo-litik und der Fonds Entscheidungen zu treffen, die einigenunserer Bürgerinnen und Bürger wehtun, wird es nicht ge-lingen.
Zu sagen, es liegt bei den Beitrittskandidaten und nichtbei uns, etwa den Deutschen, den Franzosen, den Spani-
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Dr. Christoph Zöpel15165
ern oder Engländern, ist nicht mehr ehrlich und kann Aus-druck von Hochmut sein. Hochmut wäre moralisch nichtangemessen.
– Wissen Sie, keine Regierung ist so gut wie das von ihrselbst gesteckte Ziel.
Das galt schon für Willy Brandt und Konrad Adenauer.Die anderen will ich auslassen.
Ich habe sehr bewusst die konkreten Einwohnerzahlengenannt, weil zu dem, was notwendig ist, nämlich keineÄngste zu wecken, sondern sie nach Möglichkeit zu ver-meiden, gehört, Fakten zu nennen. Deshalb noch einmal:370 Millionen Bürgerinnen und Bürger gehören bereitsjetzt zur Europäischen Union. Die zehn Länder, über dieich spreche, haben zusammen 70 Millionen Einwohner.38 Millionen davon sind Polen und 32 Millionen vertei-len sich auf neun weitere Staaten. Ich glaube, selbst nichtmit den Daten der Sozialökonomie vertraute Menschenwissen sofort: Wenn 70 Millionen zu 370 Millionen Ein-wohnern kommen, kann keine besondere Verwerfung ein-treten. Das weiß jeder. Deshalb macht es immer wiederSinn, diese Einwohnerzahlen gegeneinander zu stellen. Jemehr wir integrieren, umso gleichgültiger wird es, wieviele Bürokratien dazu kommen. Je mehr Politik verein-heitlicht wird, umso mehr wird der Einfluss der Bürokra-tien der einzelnen Staaten – sei es Deutschland, sei esSlowenien – zurückgehen, nicht aber die kulturelle Iden-tität.Wenn wir über die Rechte der Mitgliedstaaten spre-chen, sollten wir sehr sorgfältig vorgehen. Der Beitritt zurEU bedeutet für viele von ihnen, ihre kulturelle Identitätzum ersten Mal ohne Angst vor anderen leben zu können.Ich konnte mich heute hierüber mit unseren Kollegen ausSlowenien austauschen. Die Europäische Union gibtSlowenien die Chance, eine über Jahrhunderte fast be-wundernswerterweise erhaltene Sprache ungefährdet le-ben zu können. Das soll so bleiben. Auf der anderen Seitewird vieles, was bisher nationalstaatliche Bürokratien tunkönnen, europäisiert. Man muss beide Seiten sehen. Aberes geht im Kern um die Menschen und um ihre kulturelleIdentität.In der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts werden 30Mil-lionen Rumänen und Bulgaren – Bulgaren und Rumänenkönnte man vielleicht sagen – die Chance des Beitritts ha-ben, wenn es dort so positiv weitergeht, wie es sich ab-zeichnet. Ich glaube, wir alle sollten schon jetzt jedes Vor-urteil über Kroaten, Bosnier, Albaner und anderevermeiden und uns darauf vorbereiten, dass diese Staatenim Jahrzehnt darauf, wenn es dort nach demokratischenWahlen demokratische und verantwortliche Regierungengeben wird, genauso wie die Slowenen Mitglieder der Eu-ropäischen Union werden können.
Das sind dann zusammen 500 Millionen Menschen. Da-zwischen liegt ein Prozess von über zehn Jahren und da-mit auch die Chance der Gewöhnung.
Jetzt mache ich ganz bewusst eine Pause. Außer diesen500 Millionen Menschen gibt es derzeit keine Nachbarn,die die Kopenhagen-Kriterien erfüllen oder kurzfristig er-füllen können. Das wird länger dauern. Es wird dann un-sere Aufgabe sein, das Verhältnis zu diesen Nachbarn zubestimmen: den Russen, den Ukrainern, den Türken, denMenschen im nördlichen Afrika und im Mittleren Osten.Ich habe mit dem israelischen Botschafter in diesen Tagensehr intensiv darüber diskutiert: Wie nahe steht Israel derEuropäischen Union? Und wo sind Punkte, in denen Israelaus einigen Gründen nicht mit der Union übereinstimmenmöchte?
Ich nenne zwei Punkte: Die Kopenhagen-Kriterien müs-sen erfüllt werden. Zudem stellen sich Fragen der territo-rialen Ausdehnung Europas. Es wird darüber diskutiertwerden müssen, was dieses Verhältnis bestimmt.Ich habe eine Bitte, weil es um moralische Verantwor-tung geht: Lassen Sie uns den Bürgern, mit denen wir re-den, sagen: Jetzt können zusätzlich 70 Millionen Eu-ropäer zu uns kommen, dann 30 Millionen. Zurzeit stelltsich nicht die Frage, ob Türken in diesem Sinne europä-ische Bürger werden. Man muss davor jetzt keine Angsthaben. Es stellt sich aber die Frage, wie das Verhältnis zuden Türken zu bestimmen ist, damit sie zumindest guteNachbarn in Europa sind. Wenn sie tatsächlich selber ent-scheiden, Europäer in dem Sinne zu sein, dass sie in un-serem Sinne, im Sinne der Aufklärung die Menschen-rechte achten, dann sinken auch Ängste. Aber das ist einProzess des nächsten Jahrzehnts. Die Frage, ob 38 Milli-onen Polen hoffentlich 2004 Mitglieder der EuropäischenUnion sind, mit berechtigten Hinweisen auf die Nicht-achtung der Menschenrechte in der Türkei zu verbinden,halte ich nicht für in Ordnung.
Auf dem Weg zu diesem Ziel gilt ein weiteres Prinzip.Gerade bei einem historischen Projekt sind Vorsicht undBehutsamkeit das Wesentliche. Vorsicht und Behutsam-keit bedeuten hier, auf berechtigte Ängste einzugehen unddeutlich Verblendungen abzuwehren, die es nicht gebendarf. Man muss sorgfältig vorgehen. Bei diesem Prozessder Integration kann ein Jahr mehr an Übergangsvor-schrift besser als ein Jahr zu wenig sein, weil es den ehr-lichen Menschen die Chance gibt, tatsächlich zu erken-nen, dass ihre Ängste nicht berechtigt sind, und uns dieMöglichkeit gibt, den Verblendeten zu antworten. Das istbesser, als unvorsichtig zu sein.
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Dr. Christoph Zöpel15166
Es gibt in jeder Gesellschaft – also auch in der europä-ischen – Menschen, deren sozialpsychologische Konsti-tution nicht die der Aufklärung ist. Immer wieder in derGeschichte – von Hitler bis Milosevic – gibt es Menschen,die dies ausnutzen und damit spielen. Zu dem verant-wortlichen Prozess, den dauerhaften und nachhaltigenFrieden in Europa zu erreichen, gehört es, nicht mit denMenschen, die verblendet und der Aufklärung nicht inner-lich verbunden sind, zu spielen. Dies zu vermeiden ist einTeil unserer moralischen Verpflichtung.Herzlichen Dank.
Ich erteile nun dem
Kollegen Michael Stübgen, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Erweite-rung der Europäischen Union um die Staaten Mittel- undSüdosteuropas ist politisch und wirtschaftlich für Europanotwendig und moralisch eine Bedingung für die Europä-ische Union. Die Erweiterung und auch der jetzige Er-weiterungsprozess sorgen für Stabilität und wirt-schaftliche Entwicklung in Europa.Dieser Erweiterungsprozess ist auf der anderen Seitedie größte Herausforderung der Europäischen Union seitihrem Bestehen. Sie wird zu großen Veränderungen in al-len Strukturen der Europäischen Union führen. Insgesamtkann man aber feststellen, dass der bisher beschritteneWeg ein Erfolgsweg ist. Er begann mit den Assoziie-rungsverträgen von 1990, mit dem historischen Datumdes Europäischen Rates in Kopenhagen 1993 mit derFestlegung, dass Reformländer der Europäischen Unionbeitreten können, wenn sie bestimmte Voraussetzungenerfüllen, welche in drei großen Komplexen festgelegtwurden. Der Europäische Rat in Luxemburg beschloss dieAufnahme der Beitrittsverhandlungen mit sechs der mit-tel- und osteuropäischen Reformländer und Helsinki1999 – ich hielt und halte das für richtig – und hat die Auf-nahme der Beitrittsverhandlungen mit den übrigen mittel-und osteuropäischen Reformländern beschlossen.Besonders wichtig für den europäischen Erweiterungs-prozess ist der Teil der Agenda 2000 gewesen, mit dem dieso genannten Vorbeitrittshilfen beschlossen wurden, näm-lich 45 Milliarden Euro für den Zeitraum 2000 bis 2006für die Beitrittskandidaten zur Infrastrukturförderung undals Hilfe für die Beitrittspolitik dieser Länder.Bei allem Lob über die europäische Politik bezüglichdes Einigungsprozesses muss ich auch – das fällt viel-leicht der Opposition etwas leichter, obwohl ich weiß,dass einige Kollegen aus der Koalition das ähnlichsehen – auf einige Fehlentscheidungen der EuropäischenUnion in den letzten Jahren, insbesondere seit 1999, hin-weisen, die teilweise eine wachsende Gefahr für den Zeit-raum 2005/2006 bedeuten.1999 blieb in Berlin bei der Verhandlung der Agenda2000 unter der deutschen Ratspräsidentschaft die Agrar-reform auf halbem Wege stecken.
Am Ende blieben bei der notwendigen Agrarreform dras-tische Einkommenseinbußen für deutsche und europä-ische Landwirte übrig und – ich nenne das den Sündenfallder Europäischen Union – erstmalig in der Geschichte derEuropäischen Union kam es zur Einführung einer Zwei-klassengesellschaft: Das eine ist die Nobelklasse, zu derdie alten und im Verhältnis zu den Reformländern reichenEU-Mitgliedsländer gehören, die sich die Direktbeihilfenfür die Landwirtschaft genehmigen. Das andere ist dieHolzklasse, zu der die Reformländer gehören. Wenn sieMitglieder geworden sind, wird es keine Direktbeihilfenfür die Landwirtschaft geben.Diese Entscheidung birgt zwei schwerwiegende Pro-bleme: Erstens. Solche Entscheidungen haben eine fatalepsychologische Wirkung in den Reformländern. Wer sichmit der Politik der Reformländer beschäftigt, weiß, unterwelchem Druck dort die Politiker und Regierungen ste-hen. Sie müssen drastische und unpopuläre Reformendurchführen, für die man normalerweise gejagt wird.
Wenn dann von allen Staats- und Regierungschefs auchnoch der Eindruck vermittelt wird, dass sie trotz aller An-strengungen die zweite Klasse bleiben werden, wird dasden Reformeifer in diesen Ländern nicht fördern.
Zweitens birgt der Beschluss von Berlin unter deut-scher Ratspräsidentschaft ein schwer kalkulierbares finan-zielles Risiko. Jeder, der sich damit beschäftigt, weiß,dass die Zweiteilung der EU-Agrarpolitik bezüglich derBeitrittsländer und der Stammländer nach 2006 mit Si-cherheit nicht aufrechterhalten werden kann. Polen ak-zeptiert das – in diesem Punkt verstehe ich die polnischeForderung – schon jetzt nicht. Es ist bis jetzt völlig unklar,zu welchen finanziellen Folgen es führen kann, wenn imJahre 2006 bei der neuen finanziellen Vorausschau ein an-deres System eingeführt werden sollte.
– Es gibt in dieser Frage im Moment keine Überlegungen.Als nächsten Punkt möchte ich den Vertrag von Nizzakritisch bewerten. Insgesamt war er nicht ausreichend er-folgreich. Gestartet ist die Europäische Union, auch dieBundesregierung – wir als Opposition haben das unterstütztund werden diese Politik weiter unterstützen –, mit demZiel, die Europäische Union in Nizza erweiterungsfähig zumachen. Aus der großen Reform wurde ein Reförmchen.Das Resultat von Nizza ist insgesamt für die Erweite-rungsfähigkeit der Europäischen Union mangelhaft.Mir ist wohl klar, dass die Rahmenbedingungen fürNizza besonders schwierig waren; denn in Nizza sollten
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Dr. Christoph Zöpel15167
die Reformen beschlossen werden, die schon in Maastrichtund in Amsterdam verschoben worden sind. Es war klar,dass es bei den Verhandlungen über nationale Besonder-heiten und Eitelkeiten in Nizza ans Eingemachte, ans Markgehen würde. Trotzdem muss man feststellen: Das Er-gebnis ist nicht ausreichend.Besonders schwerwiegend finde ich, dass es in mehre-ren Punkten Fehlentscheidungen gibt, die die Gefahr ber-gen, dass der Erweiterungsprozess in einigen Jahren insStocken kommt. Damit komme ich auf die faktischeNichteinführung der Mehrheitsabstimmung im Bereichder Struktur- und Kohäsionsfonds zu sprechen. InNizza wurde festgeschrieben, dass die Mehrheitsent-scheidung bei den Struktur- und Kohäsionsfonds frühes-tens im Jahr 2007 und – um ganz sicher zu gehen – erstnach Beschlussfassung über die neue finanzielle Voraus-schau für den Zeitraum 2007 bis 2013 eingeführt wird.Das heißt: Wir haben faktisch frühestens im Jahr 2014Mehrheitsentscheidungen in diesen sensiblen Politik- undFinanzbereichen. Damit ist nahezu völlig unklar, wie dieStruktur- und Kohäsionsfonds im Zusammenhang mitdem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Reformlän-der überhaupt finanziert werden können. Nach der Nizza-Regelung müssen die jetzigen Empfänger von Zuweisun-gen aus den Struktur- und Kohäsionsfonds freiwillig aufeinen Großteil ihrer Subventionen verzichten, um Mittelfür die wirklich strukturschwachen, armen Beitrittsländerfreizubekommen. Nach allen bisherigen Erfahrungen sol-cher Finanzrunden – auch in Berlin – müssen wir davonausgehen, dass dies nicht oder nur in viel zu geringemUmfang gelingen wird.Damit droht uns im Jahre 2005 eine Zangenbewegung,da die Mittel für die Beitrittsländer bereitgestellt werdenmüssen; diejenigen, die jetzt Mittel erhalten, werden nichtdarauf verzichten, und somit muss der Finanzrahmen derEuropäischen Union ausgeweitet werden. Dies bedeutetin der Folge höhere Beiträge für die Länder, insbesondereDeutschland, die ohnehin schon durch die ungleiche Net-tolastenverteilung besonders betroffen sind. Ich vermute,der Finanzminister würde mir zustimmen, wenn er hierwäre. Die Zangenbewegung wird darin bestehen, dassdiejenigen, die etwas bekommen, nicht verzichten und dieanderen, die mehr zahlen müssen, nicht mehr zahlen kön-nen oder wollen.Somit besteht die Gefahr, dass in diesem Spagat der ge-samte Beitrittsprozess – möglicherweise noch währendder Ratifizierung von Beitritten neuer Länder – insStocken kommt. Bisher hat sich noch niemand Gedankendarüber gemacht, wie diese Zeitbombe entschärft werdenkönnte. Wir werden als Opposition besonderen Wert da-rauf legen, dass über diese Frage schon jetzt nachgedachtwird, um es nicht im Jahre 2005 oder 2006 zu einem Crashkommen zu lassen.
Ich möchte noch kurz auf einen Beschluss von Nizzaeingehen, den ich nicht verstehen kann. Er wird materiellglücklicherweise keine besonderen Auswirkungen haben,ideell stellt er aber eine Fortsetzung des Sündenfalls, derin Berlin unsäglich begonnen wurde, dar. Es handelt sichum den Beschluss hinsichtlich der Mandatsverteilungim Europäischen Parlament. Die Staats- und Regie-rungschefs haben beschlossen – irgendwann in der Nacht,ich weiß es nicht genau –, von dem bisher gültigen Grund-prinzip, die Mandatsverteilung im Europäischen Parla-ment nach der Einwohnerzahl auszurichten, abzurücken.Jetzt soll das anders werden. So sollen zum Bespiel Un-garn und die Tschechische Republik zwei Mandate weni-ger erhalten als Belgien und Portugal, obwohl sie jeweilsmehr Einwohner als diese Länder haben. Auch hier zeigtsich der unsägliche Trend: First Class für die alteingeses-senen EU-Mitgliedsländer und Holzklasse für die Re-formländer. Diese Entscheidung halte ich für peinlich. Siewirft kein gutes Licht auf die Verfasstheit der Europä-ischen Union und der Staats- und Regierungschefs, ein-schließlich des Bundeskanzlers der BundesrepublikDeutschland.
Um nicht nur zu kritisieren, will ich sagen, dass inNizza auch gute und wichtige Beschlüsse gefasst wurden.Dabei möchte ich auf einen kurz eingehen, weil heutenoch über zwei Anträge zu diesem Thema beraten wird.Es geht darum, dass die Kommission beauftragt wordenist, ein Grenzlandförderprogramm bzw. ein Aktionspro-gramm zur Grenzlandförderung vorzuschlagen. Jeder,der sich mit der besonderen Problematik unserer Grenz-regionen – im Wesentlichen in Mecklenburg-Vorpom-mern, Sachsen und Bayern gelegen –
– Berlin nicht unbedingt, vielleicht Brandenburg, aberBerlin gehört ja irgendwie zu Brandenburg – beschäftigt,weiß, dass eine besondere Förderung wichtig ist.Es gibt bisher schon Förderprogramme, die ein guterAnsatz sind, aber nicht ausreichend sind. Eine besondereBerücksichtigung in einem solchen Aktionsprogramm istwichtig. Ich möchte darauf hinweisen: Ich höre in der letz-ten Zeit – ich habe es bisher noch nicht lesen können –,dass innerhalb der Europäischen Kommission in Arbeits-gruppen auf Ratsebene darüber nachgedacht wird, dieMittel für das Aktionsförderprogramm lediglich durchUmschichtung aus dem jetzigen Interreg-Programm auf-zubringen. Eine solche Lösung wäre für uns völlig inak-zeptabel. Das Interreg-Programm muss in der jetzigenForm bestehen bleiben und für das Aktionsförderpro-gramm müssen zusätzliche Mittel zur Förderung dieserGrenzregionen bereitgestellt werden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Kolle-
gen Christian Sterzing vom Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst möchte ich der Opposition für ihre Große An-frage Dank sagen. Natürlich möchte ich auch der Regie-rung für ihre Antwort auf diese Große Anfrage Dank sa-gen; denn es war eine ungewöhnlich umfangreiche GroßeAnfrage und dementsprechend auch eine ungewöhnlichumfangreiche Antwort. Dahinter steckt viel Arbeit. Inso-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Michael Stübgen15168
fern haben wir eine gute Grundlage nicht nur für die jetzigeDebatte, sondern auch für die weitere Auseinandersetzungmit dem Thema „Erweiterung der Europäischen Union“.Alle großen Worte zur Erweiterung der EuropäischenUnion sind eigentlich schon gesagt worden, auch heute,so zum Beispiel die Stichworte von der historischenChance oder der historischen Herausforderung, von unse-rer Verpflichtung und Verantwortung, von der Rückkehrnach Europa und von den Chancen für Gesamteuropa. Esist natürlich wichtig, immer wieder an diese Perspektivenund daran zu erinnern, dass all die konkreten Probleme,die wir zu erörtern haben und über deren Lösung wir po-litisch streiten, in diesem Kontext zu sehen und in diesenzu stellen sind. Das heißt, dass wir auf der einen Seitenatürlich die Ängste und die Sorgen vieler Menschen ge-rade in den Grenzregionen ernst nehmen müssen, dass wiruns aber auf der anderen Seite vor dem Hintergrund derhistorischen Perspektive dagegen wehren müssen, dassdie Erweiterung mit bilateralen Problemen überladenbzw. überlastet wird oder dass sogar neue Hürden für diebeitrittswilligen Länder aufgebaut werden. Das darf nichtpassieren.
Insofern ist der Zweck der heutigen Debatte und der Aus-einandersetzungen über die Erweiterung, immer wiederder Stimmung entgegenzuwirken – darauf wurde schonhingewiesen –, die die Probleme als so gewaltig erschei-nen lässt, dass die historische, gesamteuropäische Per-spektive in den Hintergrund gedrängt wird, und auch derStimmung entgegenzuwirken, die manchmal den An-schein erweckt, dass die Probleme, die im Kern eigentlichÜbergangsprobleme sind, nur zu bewältigen seien, wennwir die Erweiterung weiter hinausschieben würden. Damitwürden wir der historischen Notwendigkeit nicht gerecht.Zwei Bemerkungen scheinen mir im Rahmen derErweiterungsdiskussion wichtig zu sein. Erster Punkt. Ichmöchte auf den dynamischen Prozess hinweisen. Wir re-den im Zusammenhang mit den Beitritten immer nur voneinem Datum im Kalender, an dem sich der Beitritt derentsprechenden Länder vollziehen wird. Aber der Bei-trittsprozess läuft schon lange. Er hat schon zu erhebli-chen Veränderungen und Strukturanpassungsprozessengeführt. Diese sind im Wesentlichen positiv verlaufen. Eserscheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, ebenso wie da-rauf, dass das Datum des Beitritts nur im europäischenGesamtprozess zu sehen ist.Der zweite Punkt betrifft das Stichwort „politischeSteuerungsfähigkeit“. Vielleicht gibt es einen geheimenoder verborgenen Zusammenhang zwischen BSE-Kriseund Erweiterung. Ich glaube, dass viele Menschen dasVertrauen in die politische Steuerungsfähigkeit und Pro-blemlösungsfähigkeit der EU verloren haben. Insofern istes wichtig, dass wir dem dadurch verursachten Ak-zeptanzverlust in der Bevölkerung entgegenwirken, in-dem wir den Erweiterungsprozess mit seinen Übergangs-problemen ernst nehmen und deutlich machen, dass wirauch über politische Instrumente verfügen, um möglicheProbleme in den Griff zu bekommen.Der Hinweis auf die Perspektiven und Veränderungenist wichtig. Ich möchte das an zwei Bereichen deutlichmachen, und zwar zum einen an der Umweltproblematikund zum anderen an der Frage der Freizügigkeit. ZumStichwort Perspektiven: Mit der Erweiterung besteht diegroße Chance, dass die Umweltqualität in Gesamteuropadurch die Übernahme des umweltrechtlichen Besitzstan-des durch die Beitrittsländer nachhaltig verbessert wird.Das ist ein Vorteil, und zwar nicht nur für die Menschenin den Beitrittsländern, sondern auch für die Menschen inden Staaten, die schon jetzt Mitglied in der EuropäischenUnion sind. Darauf gilt es hinzuweisen.Das Ziel ist uns allen klar, nämlich eine möglichstschnelle und vollständige Übernahme des umweltrechtli-chen Acquis zu erreichen. Dabei ist uns natürlich bewusst,dass einer solchen schnellen Übernahme auch Grenzengesetzt sind. In Studien wird davon ausgegangen, dass120 Milliarden Euro notwendig sind, um dem Investi-tionsbedarf im Umweltbereich Rechnung tragen zu kön-nen. Insofern gibt es auch hier eine Gratwanderung, denVersuch, auf der einen Seite den Interessen an einem zü-gigen Beitritt, an einer schnellen Übernahme Rechnungzu tragen, auf der anderen Seite aber die Menschen, dieBeitrittsstaaten nicht zu überfordern.Wir müssen in diesem Zusammenhang aber deutlichsagen, dass es bestimmte Bereiche gibt, in denen wir nichtgroßzügig sein können. So darf es unseres Erachtens inder Frage der Atomkraftwerke keinen Sicherheitsrabattgeben.
Wir unterstützen alle Bemühungen, zu gemeinsamen Ener-giestrategien mit Stilllegungsplänen und Maßnahmen zurErneuerung des Energiesektors in den Beitrittsländern zukommen.Wir betrachten die Initiative der Bundesregierung beider EBRD, der Europäischen Bank für Wiederaufbau undEntwicklung, mit großer Sympathie. Wir unterstützen dieBemühungen, einen Fonds zur Finanzierung der Stillle-gung von AKWs einzurichten. Es gibt eine klare Linie, diedeutlich macht, dass es in zentralen Bereichen keine Ra-batte, keinen Nachlass geben darf. Es darf nicht zu demkommen, was wir mit dem Stichwort „Umweltdumping“bezeichnen.Der zweite Bereich ist der der Freizügigkeit. In diesemBereich stellen wir meiner Ansicht nach sehr deutlich unserepolitischen Steuerungsfähigkeiten unter Beweis. Die Vor-schläge, die auf dem Tisch liegen, reichen von einem völli-gen Verzicht auf irgendwelche Fristen und einem Alles-dem-Markt-Überlassen über die Forderung nach Fristenvon zehn und mehr Jahren bis hin zu der weitest-gehenden Forderung, eine Freizügigkeit erst dann zuzulassen,wenn das Lohnniveau weitgehend angeglichen ist.
Ich glaube, dass die aktuell diskutierten Vorschläge so-wohl der Bundesregierung als auch der Kommission dieerforderliche Flexibilität und politische Steuerungsfähig-keit unter Beweis stellen. Es geht darum, der Ungewiss-heit der Prognosen Rechnung zu tragen und Interessenauszugleichen. Das heißt, es muss auch die Perspektiveder Beitrittsländer gesehen werden, die nicht wollen, dass
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Christian Sterzing15169
wir ihre Märkte für uns öffnen, dass aber ihre Menschenkeine Freizügigkeit genießen dürfen.Insofern ist ein flexibles Übergangssystem das Ent-scheidende.
Das ist das, was der Bundeskanzler angekündigt hat. Dasist das, was das Optionenpapier der Kommission als– meiner Einschätzung nach – realistische Lösung vor-sieht. Es sollten also keine festen Fristen, sondern flexibleÜberprüfungszeiten vorgesehen sowie regionale und sek-torale Differenzierungen ermöglicht werden. All dies er-scheint mir sehr wichtig, um auf mögliche Probleme, diewir alle nicht genau prognostizieren können, adäquat rea-gieren zu können. Insofern ist es völlig unangemessen,wenn Sie, Herr Haussmann, auf die sieben Jahre, die inder Rede des Herrn Bundeskanzlers genannt worden sind,starren. Es empfiehlt sich, nicht immer nur Überschriftenin Zeitungen zu lesen, sondern sich Reden und Vorschlägevollständig anzuschauen. Wenn Sie das tun, dann werdenSie feststellen, dass Flexibilität das entscheidende Stich-wort bei den Vorschlägen der Bundesregierung und auchLeitlinie für das ist, was die Kommission im Augenblickvorschlägt. Insofern geht das, was die Bundesregierunghierzu vorschlägt, meiner Ansicht nach in die richtigeRichtung. Damit erhalten wir uns die Fähigkeit zu politi-scher Steuerung und die Möglichkeit, die Interessen derMenschen bei uns, aber auch in den Beitrittsländern an-gemessen zu berücksichtigen.Wenn wir, wie in dieser Debatte, darin übereinstim-men, dass die Chancen der Erweiterung erheblich über-wiegen und wir alles tun müssen, um diese Chancen zuoptimieren und die Risiken zu minimieren, dann habenwir auch eine gute Chance, der wachsenden Skepsis in derBevölkerung gegenüber diesem Erweiterungsprozess ent-gegenzuwirken. Ich glaube, wir müssen den Menschenganz deutlich machen: Die zukünftigen Probleme wärenohne die Erweiterung viel größer. Wir hätten viel mehrAnlass zu Sorge und zu Zukunftsängsten, wenn es diesenErweiterungsprozess nicht gäbe.Vielen Dank.
Nun hat die Kollegin
Gudrun Roos von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Die Erweiterung der EuropäischenUnion – darin sind wir uns einig – eröffnet vielfältigeChancen für beide Seiten, für die Beitrittsländer und fürdie Mitgliedstaaten. So bietet sich die einmalige Gele-genheit, eine gesamteuropäische Umweltpolitik zu ge-stalten; Herr Sterzing hat das bereits gesagt. Dies wird po-sitive Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten haben undkann das politische Gewicht der EU in der internationalenUmweltpolitik stärken, was nicht nur angesichts der welt-weiten Klimaproblematik dringend geboten ist.Die europäische Umweltpolitik ist kein abgeschlosse-nes Projekt. Zwar fordern wir von den Beitrittsstaaten zuRecht, dass sie den Umweltschutz in andere Politikberei-che integrieren oder nach den Kriterien der Nachhaltigkeitwirtschaften, wir müssen aber auch feststellen, dass die Er-ledigung dieser Hausaufgaben in den Mitgliedstaaten teil-weise schon lange vor sich hergeschoben wird.
Wie in der Energiepolitik – spätestens seit der Kata-strophe von Tschernobyl, wenn auch zögerlich – erneuer-bare Energien marktfähig gemacht werden und wir seitheran der Energiewende arbeiten, so stehen nun auch in derVerkehrs- und der Landwirtschaftspolitik umweltverträg-liche, nachhaltige Lösungen ganz oben auf der Prioritä-tenliste der Politik.
Deshalb unterstützen wir die Beitrittsstaaten zu Recht da-bei, die erheblichen Sicherheitsdefizite in Auslegung undbeim Betrieb von Atomkraftwerken zu beseitigen unddrängen auf die Stilllegung hochriskanter Reaktoren.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, dass ich– angeregt durch die aktuelle Diskussion – den Bereichder Landwirtschaft als Beispiel für europäische Um-weltpolitik im Lichte der Erweiterung anspreche. Die mitannähernd der Hälfte des EU-Haushalts hoch subventio-nierte Agrarproduktion hatte mit Nachhaltigkeit oderUmwelt- und Naturschutz sehr wenig zu tun.
Schon lange vor der Verbreitung der Maul- und Klauen-seuche, der Infizierung von Kühen mit Tuberkulose, derMästung von Schweinen mit Hormonen oder der Aus-breitung von BSE war die Aufzucht von Tieren für unserefleischlastige Ernährung durchaus nicht artgerecht undnicht naturgemäß.
Was jahrzehntelange Kritik an einer verfehlten Subventi-onspolitik der Europäischen Union nicht vermocht hat,konnte infolge der Verunsicherung der europäischen Kon-sumentinnen und Konsumenten erreicht werden – allzuspät.
Wer in den letzten Monaten nicht nur über Alternativenzum täglichen Fleisch auf der eigenen Speisekarte nach-gedacht hat, sondern auch über dessen bisherige Produk-tions- und Verteilungsbedingungen, dem wurde klar: Esgeht auch um andere Verhaltensweisen, um eine andere
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Lebensweise. Es geht um einen umweltgerechteren Le-bensstil der Menschen, der damit einen Beitrag zu artge-rechter Tierhaltung leistet.Ich hatte es zu Beginn gesagt: Die Landwirtschaft istnur ein sinnfälliges aktuelles Beispiel. Diese Krise hat je-der und jedem klargemacht: Der unbegrenzte Verbrauchvon Ressourcen, die Verschwendung von Rohstoffen unddie Missachtung der Natur sind nicht nur nicht umwelt-schonend, sondern für die Menschen auf Dauer einfachunbekömmlich. Was ist es für ein Glück, auch für die Bei-trittsstaaten, dass dieser Umdenkungsprozess in der eu-ropäischen Politik nicht erst nach dem Beitritt, sondernjetzt begonnen hat!Die Chancen, die sich damit auftun, sollten wir ge-meinsam und in einem viel intensiveren Dialog als bishernutzen, und das in vielen Bereichen: in der Industriepoli-tik, in der Verkehrspolitik, in der Energiepolitik und natür-lich in der Umweltpolitik. Es gilt, verstärkt eine Politik zubetreiben, die auf zukunftsverträgliches Wachstum ausge-richtet ist, die ressourcenschonende Produktionsweisenunterstützt und die Nutzung regenerativer Energien sowiekurze, sinnvolle Verteilungs- und Vertriebswege für öko-logisch vorteilhafte Produkte fördert.
Wir wissen, dass der umweltpolitische Handlungsbe-darf in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländernzwar besonders hoch ist;
aber gleichzeitig sind die Naturräume bei weitem nicht sozerschnitten, zersiedelt und versiegelt wie in der EU.
In diesen Ländern liegen zahlreiche einzigartige, schüt-zenswerte Naturflächen.
Eine Verstärkung des Dialogs kann verhindern, dass inden Beitrittsländern die umweltpolitischen Fehler derEU-Vergangenheit wiederholt werden. Die gezielte Nut-zung der neuen Informations- und Kommunikations-technologien kann dabei eine große Hilfe sein. Dazugehört vordringlich eine schnellere Vernetzung der Um-weltbehörden der Mitgliedstaaten untereinander und eineschnellere Vernetzung der Umweltbehörden mit den Bei-trittsländern sowie eine umfassende Information der Bür-gerinnen und Bürger, abrufbar per Internet. Fort- und Wei-terbildung in diesem Bereich sollten eine hohe Prioritäterhalten.Wir alle wollen eine stärkere Einbeziehung der Bevöl-kerung in diesen Prozess. Wir brauchen einen intensiverenWissensaustausch zwischen örtlichen Organisationen inden Mitgliedstaaten und zwischen den örtlichen Organisa-tionen in den Kandidatenländern. Daher sollten Nicht-regierungsorganisationen in den Bereichen Umwelt-schutz, Gesundheit und Verbraucherschutz vor allem beimAufbau und bei der Pflege von Umweltnetzwerken fi-nanziell und organisatorisch effektiver unterstützt werden.Die wirkungsvollste Art des länderübergreifenden po-litischen Dialogs ist jedoch die persönliche Begegnungder Menschen; wir alle wissen das. Begegnungen könnenwertvolle Erkenntnisse vermitteln und nachhaltig vertrau-ensbildend sein. Wir sollten sie auf jeder Ebene unterstüt-zen und wann immer möglich selbst wahrnehmen.Danke.
Kollegin Roos, das
war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratu-
liere Ihnen dazu, auch weil Sie gleich zu Beginn Ihre Re-
dezeit eingehalten haben. Herzlichen Glückwunsch!
Nun erteile ich dem Kollegen Klaus Hofbauer,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnenund Kollegen! Die Erweiterung oder, besser gesagt, dieEinigung der Europäischen Union ist ein Projekt von his-torischer Dimension. Die Aufnahme von Staaten Mittel-und Osteuropas in die Union gewährt die dauerhafte Si-cherung des Friedens, der politischen Stabilität und desWohlstandes in Europa. Beim Gipfel in Nizza stand dieOsterweiterung im Mittelpunkt der Verhandlungen. Beiweitem nicht alle Erwartungen – darüber sind wir uns alleklar – wurden erfüllt.
Aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist einesder erfreulichen Ergebnisse, dass die Vereinbarung desPost-Nizza-Prozesses in Gang gebracht wurde. Für dieAkzeptanz der EU ist es zwingend geboten, die Verträgezu vereinfachen, transparent zu gestalten und mit klarenVerantwortungszuweisungen zu versehen.
Hinzu kommt, dass wir auch eine klare Verlagerung vonKompetenzen nach unten anstreben müssen.
Mit diesem Auftrag der Kompetenzabgrenzung wird einezentrale Forderung der CDU/CSU-Fraktion und insbe-sondere unseres bayerischen Ministerpräsidenten,Edmund Stoiber, erfüllt. Lange Zeit – dies möchte ichdeutlich feststellen – hat sich die Bundesregierung unse-rer Forderung widersetzt.Ein zweiter großer Erfolg von Nizza ist, dass die Kom-mission beauftragt wurde, ein EU-Programm zur Förde-rung der Grenzregionen vorzulegen. Die CDU/CSU-Fraktion hat vor wenigen Monaten einen entsprechendenAntrag eingebracht.
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Gudrun Roos15171
Ich bedauere sehr, dass die rot-grüne Koalition aus reinparteipolitischen Gründen diesen Antrag ablehnt. Eineigener Antrag der Koalition wurde erst aufgrund unsererInitiative vorgelegt. Er ist vage formuliert und ohne jeg-liche konkrete Aussage.
Eine weitere entscheidende Voraussetzung für das Ge-lingen der Osterweiterung ist die Vereinbarung von kon-kreten Beitrittsmodalitäten, die die wirtschaftlichen undsozialen Verwerfungen infolge der Erweiterung mindernund – das ist unsere Meinung – total ausschließen müssen.Warum brauchen wir diese Übergangsregelungen? Derentscheidende Grund dafür ist, dass das Lohn- und Wohl-standsgefälle auch nach dem Beitritt bestehen bleibt. Ineinem Punkt bin ich sehr realistisch: Dieses Gefälle hatauch positive Seiten, die wir nutzen sollten und die insbe-sondere im Grenzland genutzt werden. Durch die so ge-nannte Mischkalkulation können nämlich Arbeitsplätzebei uns gesichert und erhalten werden.
Diese Chance müssen wir nutzen. Das macht dieEntscheidung, Übergangsregelungen zu schaffen, etwasschwerer.Es wird sehr viel von Migration gesprochen. ErlaubenSie mir, das Problem der Tages- und Wochenpendler, dassich in den Grenzregionen ergibt und das wir besondersberücksichtigen müssen, in die Diskussion einzubringen.Eine Schulklasse in meiner Heimatstadt Cham hat eineUmfrage zum Stand der Osterweiterung durchgeführt:48 Prozent der Bürgerinnen und Bürger akzeptieren dieOsterweiterung. Wenn wir jetzt noch klare Antworten aufdie Fragen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, zur Krimina-lität, zur Landwirtschaft und zum Umweltschutz geben,dann wird die Akzeptanz sprunghaft nach oben steigen.Diese Chance müssen wir nutzen. Darin liegt die Heraus-forderung.
Ich möchte ein ganz konkretes Beispiel aus der Praxisanführen, wie wir die Arbeitnehmerfreizügigkeit gestal-ten können: Seit ungefähr zehn Jahren, nämlich seit Öff-nung der Grenzen, kennen wir in den Grenzregionen dieso genannte Grenzgänger-Regelung. Ich persönlich binder Meinung, dass sich diese Regelung in der Praxis be-währt hat. Unterziehen wir diese Regelung einer kriti-schen Beurteilung! Arbeiten wir die Vorteile, Chancenund Möglichkeiten, aber auch die Schwächen heraus!Entwickeln wir eine Übergangsregelung!
Ich möchte an dieser Stelle ein Anliegen des Mittel-standes und des Handwerks ansprechen. Ich habe vorhingesagt, dass für manche Unternehmen, insbesondere improduzierenden Bereich, die Chance in der Mischkalku-lation liegt. Mittelständische Betriebe, die nicht produzie-ren und die insbesondere im Dienstleistungsbereich tätigsind, können dies aber nicht tun, weil sie die Arbeit nichtauslagern können. Deswegen fürchten diese Betriebe,dass sie erhebliche Schwierigkeiten bekommen werden.Mir ist bewusst, dass das Thema „Übergangsfristen“kritisch diskutiert wird. Ich halte es in diesem Zusam-menhang nicht für richtig, einfach eine Zahl in den Raumzu stellen. Durch die Rede des Herrn Bundeskanzlers istein Übergangszeitraum von sieben Jahren in das Bewusst-sein der Bevölkerung gelangt. Die Menschen sind jetztder Meinung, die Probleme würden um sieben Jahre ver-schoben und sie würden erst dann anfangen.
Dies ist natürlich eine falsche Interpretation, wie sich eineÜbergangsregelung auswirkt. Wegen der Sorgen derBevölkerung brauchen wir Übergangsregelungen, dieländerspezifisch differenziert sind, die ständig überprüftwerden und die in einem überschaubaren Zeitraum aufNull zurückgefahren werden. Nur so können sie über-haupt Sinn machen.
Erlauben Sie mir eine Schlussbemerkung. Als Abge-ordneter eines Wahlkreises, der unmittelbar an der tsche-chischen Grenze liegt, möchte ich deutlich feststellen,dass es schon sehr viele Aktivitäten gibt. Ich nenne bei-spielsweise die grenzüberschreitende Zusammen-arbeit. Die Menschen, die sich hier engagieren, sind dieWegbereiter und die Botschafter für die Osterweiterung,ob es die Kommunalpolitiker, die Schulen oder die Eure-gios sind. Man könnte noch viel mehr aufzählen.
Schlussbemerkung: Nutzen wir die Chancen, kehrenwir aber die Probleme und die Sorgen der Menschen nichtunter den Tisch! Wir müssen die Menschen mitnehmen.Wenn uns dies gelingt – nicht mit Plakaten, sondern mitkonkreten Aktionen –, dann wird die Osterweiterung er-folgreich abgeschlossen werden.Danke schön.
Nun erteile ich dem
Kollegen Winfried Mante, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Ich glaube, am Ende derDebatte kann man mit Leidenschaftslosigkeit, aber dochmit Genugtuung feststellen, dass bei der Bewertung derBeitrittsfolgen für Deutschland und Europa trotz einigerGegensätze im Detail und auch einiger Polemik, die da-zugehört, in den wesentlichsten Punkten quer durch dieParteien große Übereinstimmung herrscht.
Das sieht man auch an den vorliegenden Anträgen,wenn man sie sich durchliest. Viele werden es nicht getanhaben, aber ich habe es getan. Sie zeigen: Die Erweite-rung wird nicht nur politische Stabilität und Wohlstands-gewinne in den Beitrittsländern bringen, nein, auch dieEuropäische Union und insbesondere Deutschland wer-
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Klaus Hofbauer15172
den zu den Gewinnern einer größeren europäischen Ge-meinschaft zählen.Auch unsere Regionen an den Grenzen zu Polen undTschechien, die heute besonders in der Diskussion wa-ren – auch ich komme, wie mein Kollege Hofbauer, auseiner Grenzregion, nämlich Brandenburg –, werden, aufDauer betrachtet, zu den Gewinnern zählen; denn sie wer-den sich nachhaltig positiv entwickeln. Natürlich ist klar,dass insbesondere diese Grenzregionen durch die Erwei-terung zunächst einem verstärkten Anpassungsdruck aus-gesetzt werden, der die vorhandenen Strukturschwächennoch verstärken könnte. Das ist uns nicht verborgen ge-blieben und das sorgt unsere Bürgerinnen und Bürger indiesen Regionen zu Recht; denn sie befürchten, dass dernoch nicht abgeschlossene Prozess der Angleichung derLebensverhältnisse zwischen Ost und West einen Ab-bruch erleiden könnte.Wir Sozialdemokraten nehmen diese Sorgen ernst.Deswegen wollen wir, dass sich die Grenzregionen vorden ersten Beitritten für ein erweitertes Europa fit ma-chen.
Soweit die Regionen und die Wirtschaft dazu aus eigenerKraft nicht in der Lage sind, muss die Europäische Union,müssen Bund und Länder gemeinsam und abgestimmthandeln. Bereits jetzt steht den Grenzregionen bis 2006ein breites Spektrum strukturpolitischer Instrumentezur Verfügung. Hier sind sicher Verbesserungen hin-sichtlich der Erhöhung der Flexibilität und Effizienzsowie der Koordinierung nötig und möglich. Aber ichhalte eine spezifische Stärkung dieser Instrumente fürgenauso erforderlich.
Dieser Förderrahmen – das wurde ebenfalls hier ange-sprochen – darf nach 2006 nicht abbrechen.Im Mittelpunkt der verstärkten Anstrengungen müssendie Förderung der Wirtschaft, die Entwicklung der Ar-beitsmärkte, die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktursowie die soziale und kulturelle Vorbereitung der Bevöl-kerung auf den Beitritt stehen.
Allerdings – das ist mir genauso wichtig – dürfen wirEuropa und die Erweiterung nicht zum Sündenbock jed-weder Entwicklung machen.
Die Probleme des Arbeitsmarktes, des Strukturwandelsund der Kriminalitätsentwicklung in den Grenzregionenmüssen notwendigerweise auch ohne Erweiterung gelöstwerden. Dringend erforderlich wäre auch – das fordernwir schon seit Jahren – eine bessere Verknüpfung der eu-ropäischen Fördertöpfe Interreg und PHARE CBC. Damitkönnen wir Projektförderung wirklich grenzüberschrei-tend betreiben.Wir brauchen vor allem eine ehrliche Debatte, die we-der beschönigt noch Probleme dramatisiert. Tatsache ist,dass es schon jetzt zahlreiche positive und nachhaltigeBeispiele grenzüberschreitender Entwicklung gibt.Wir reden nur leider viel zu wenig darüber. Es gibt Wirt-schaftsfördergesellschaften, die sich um deutsche Firmenin Polen und umgekehrt kümmern. Schulen und Univer-sitäten haben sich zu deutsch-polnischen Gemein-schaftseinrichtungen entwickelt. Vereine, Institutionen,Städte und Gemeinden haben Partnerschaften, die dieMenschen zusammenführen, und das seit Jahren. MeinLand Brandenburg mit 235 Kilometern Grenze zu Polenleistet selbst Erhebliches zur grenzüberschreitenden Ent-wicklung und ist von jeher ein Motor der deutsch-polni-schen Beziehungen.
Tatsache ist auch, dass zahlreiche Unternehmen geradeaus den Grenzregionen die Chancen schon jetzt ergriffenhaben, die sich in den Wachstumsregionen Mittel- undOsteuropas bieten. Nicht von ungefähr verzeichnet dasStatistische Jahrbuch, dass rund 10 000 Deutsche jedesJahr nach Polen übersiedeln. Das ist ein deutliches Signal;denn damit liegt Polen an zweiter Stelle hinter den USA.Auch warten viele Unternehmen geradezu auf den Grenz-wegfall und vereinfachte Grenzbedingungen. Sie wartenallerdings auch auf neue Brücken und neue Verkehrs-wege; denn diese sind die Voraussetzung für Handel, Be-gegnungen und Wirtschaftskontakte.Meine Damen und Herren, wir brauchen eine ehrlicheDebatte, eine tief gehende Informationskampagne undeine abgestimmte Flankierungsstrategie von Europa,Bund und Ländern. Die SPD-Bundestagsfraktion hatbereits im Juni 2000 mit der Beschlussfassung zur „Flan-kierung des Erweiterungsprozesses“ die politische Initia-tive ergriffen und die Weichen für die regionalen Bei-trittsvorbereitungen gestellt. Wir sind nicht, wie es derKollege Hofbauer behauptet hat, mit unserem Antrag ausdem Dezember den Anträgen der Opposition hinterherge-laufen. Wir haben, wie gesagt, bereits im Juni, also nochvor der Sommerpause, etwas vorgelegt. Herr Türk, hättenSie aufgepasst, wäre das an Ihnen nicht vorübergegangen.
Auch mit dem heute vorliegenden Antrag der Koaliti-onsfraktionen geben wir den Bürgerinnen und Bürgerneine klare Botschaft. Ich vertraue darauf, dass die Bun-desregierung ihrer Verantwortung so gerecht wird, wie esdie Bürgerinnen und Bürger gerade in den Grenzregionenzu Recht erwarten. Schließlich wollen und müssen wir dieMenschen auf den Weg in eine erweiterte EuropäischeUnion mitnehmen, zu der es wirtschaftlich und politischkeine Alternative gibt, wie wir alle wissen.Herzlichen Dank.
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Winfried Mante15173
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungenund Überweisungen, weswegen ich um Aufmerksamkeitbitte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-sache 14/5448 zur federführenden Beratung an den Aus-schuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionund zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, denInnenausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Tech-nologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaftund Forsten, den Ausschuss für Arbeit und Sozialord-nung, den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs-wesen, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit und den Ausschuss für Angelegenhei-ten der neuen Länder zu überweisen. Gibt es dazu ander-weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktionder F.D.P. auf Drucksache 14/5461. Wer stimmt für diesenEntschließungsantrag? – Die Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Bei Enthaltung der CDU/CSU und der PDS ist derAntrag mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/DieGrünen abgelehnt.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für die Angelegenheiten der Europäischen Union aufDrucksache 14/5475, und zwar zunächst zu dem Antragder Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-nen mit dem Titel „Flankierung der Erweiterung der Eu-ropäischen Union als innenpolitische Aufgabe“, Drucksa-che 14/4886. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seinerBeschlussempfehlung die Annahme dieses Antrags. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen dieStimmen der F.D.P. bei Enthaltung von CDU/CSU undPDS angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion derCDU/CSU mit dem Titel „Die deutschen Grenzregionenauf die EU-Erweiterung durch einen Grenzgürtel-Akti-onsplan vorbereiten“, Drucksache 14/4643. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Die Gegenprobe! –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-men.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/5447 und 5454 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 gauf:Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes
– Drucksache 14/5396 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheitb) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asyl-verfahrensgesetzes– Drucksache 14/4925 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfec) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, desBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und derPDSGegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-keit, Antisemitismus und Gewalt– Drucksache 14/5456 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
SportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussd) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, derCDU/CSU, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder F.D.P.Die Vereinten Nationen an der Schwelle zumneuen Jahrtausend– Drucksache 14/5243 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklunge) Beratung des Antrags der Abgeordneten DirkFischer , Dr.-Ing. Dietmar Kansy,Dr. Klaus W. Lippold , weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSUNeuer Schwung für das System Schiene– Drucksache 14/5316 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 200115174
Ausschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussf) Beratung des Antrags der Abgeordneten GüntherFriedrich Nolting, Jörg van Essen, Dirk Niebel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Einsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissio-nen verkürzen – Rahmenbedingungen verbes-sern– Drucksache 14/4536 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschussg) Beratung des Antrags der Abgeordneten ReinholdHemker, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack,Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ,Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENFreiwillige Agrar-Umwelt/Sozial-Zertifizierungfür Entwicklungsländer– Drucksache 14/4802 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschla-gen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführ-ten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungenso beschlossen.Wir kommen nun zur Beschlussfassung über eineReihe von Punkten, zu denen keine Aussprache vorge-sehen ist.Ich rufe Punkt 20 a der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Änderung des Übereinkom-mens zum Schutz der Meeresumwelt desNordostatlantiks
– Drucksache 14/3949 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
– Drucksache 14/5217 –Berichterstattung:Abgeordnete Anke HartnagelKurt-Dieter GrillWinfried HermannBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterDer Ausschuss für Naturschutz, Umwelt und Reaktor-sicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/5217, den Ge-setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurfist einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 20 b der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. Fe-bruar 1999 zwischen der BundesrepublikDeutschland und dem Königreich Kambodschaüber die Förderung und den gegenseitigenSchutz von Kapitalanlagen– Drucksache 14/4706 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie– Drucksache 14/5260 –Berichterstattung:Abgeordneter Rolf HempelmannDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehltauf Drucksache 14/5260, den Gesetzentwurf anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Stimm-enthaltungen? – Bei Stimmenthaltungen der PDS ist derGesetzentwurf angenommen.Ich rufe Punkt 20 c der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. Sep-tember 1998 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Gabunischen Republiküber die gegenseitige Förderung und den ge-genseitigen Schutz von Kapitalanlagen– Drucksache 14/4708 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/5261 –Berichterstattung:Abgeordneter Rolf KutzmutzDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehltauf Drucksache 14/5261, den Gesetzentwurf anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenprobe! –Stimmenthaltungen? – Wiederum bei Enthaltungen derPDS ist der Gesetzentwurf angenommen.Ich rufe Punkt 20 d der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert,Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der PDS
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs15175
Übergangsregelungen bei der Einführungdes Kapitalgesellschaften- und Co-Richtlinie-Gesetzes– Drucksachen 14/3078, 14/5144 –Berichterstattung:Abgeordnete Christine LambrechtRonald PofallaRainer FunkeDer Rechtsausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-che 14/3078 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Gegen die Stimmen der PDS ist der Beschlussempfehlunggefolgt und dieser Antrag abgelehnt worden.Ich rufe Punkt 20 e der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu der Un-terrichtung durch die BundesregierungGrünbuch zur Umweltproblematik von PVCKOM 469 end.; Ratsdok.-Nr. 10861/00– Drucksachen 14/4570 Nr. 3.1, 14/5156 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Carola ReimannDr. Paul LaufsWinfried HermannBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterDer Ausschuss für Naturschutz, Umwelt und Reaktorsi-cherheit empfiehlt auf Drucksache 14/5156, in Kenntnisdes Grünbuchs der Europäischen Kommission zurUmweltproblematik von PVC eine Entschließung anzu-nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? – Diese Beschluss-empfehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P. bei Enthal-tung der PDS angenommen.Ich rufe Punkt 20 f der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Hildebrecht Braun , Rainer Brüderle,Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P.Für eine vertiefte Partnerschaft zwischenRussland und der EU– Drucksachen 14/811, 14/5186 –Berichterstattung:Abgeordnete Gert Weisskirchen
Dr. Andreas SchockenhoffRita GrießhaberUlrich IrmerWolfgang GehrckeDer Auswärtige Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 14/811 für erledigt zu erklären. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Diese Be-schlussempfehlung ist einstimmig angenommen wor-den.Ich rufe Punkt 20 g der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 243 zu Petitionen– Drucksache 14/5338 –Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sichder Stimme? – Die Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses ist einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 20 h der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 244 zu Petitionen– Drucksache 14/5339 –Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sichder Stimme? – Bei Enthaltung der PDS ist diese Sam-melübersicht angenommen.Ich rufe Punkt 20 i der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 245 zu Petitionen– Drucksache 14/5340 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses ist einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 20 j der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 246 zu Petitionen– Drucksache 14/5341 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich der Stimme? – Gegen die Stimmen der PDS, derCDU/CSU und der F.D.P. ist die Beschlussempfehlungangenommen.Ich rufe Punkt 20 k der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 247 zu Petitionen– Drucksache 14/5342 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist ange-nommen.Ich rufe Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem InternationalenÜbereinkommen von 1989 über Bergung– Drucksache 14/4673 –
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Vizepräsidentin Anke Fuchs15176
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Neuregelung des Bergungsrechts in der
– Drucksache 14/4672 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/5459 –Berichterstattung:Abgeordneten Joachim StünkerDr. Wolfgang Freiherr von StettenHelmut Wilhelm
Rainer FunkeDr. Evelyn KenzlerDer Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksa-che 14/5459 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurfunverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist ein-stimmig angenommen.Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurf eines Dritten Seerechtsänderungsge-setzes, Drucksache 14/4672. Der Rechtsausschuss emp-fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 14/5459 die Annahme des Gesetzentwurfesin der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Dieser Gesetzentwurf isteinstimmig angenommen.Nun rufe ich Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der F.D.P.Haltung der Bundesregierung zur aktuellenHaushaltssituation und offensichtlichen Unter-finanzierung der Bundeswehr
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Günther Nolting, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Wenn man das Drama umdie Finanzierung der Bundeswehr betrachtet, so stellt manfest, dass im Zentrum ein und dieselbe Person, nämlichBundesverteidigungsminister Scharping, steht. Mit ihmauf der Bühne befindet sich der Generalinspekteur Kujatals Kulissenschieber.
Minister Scharping hat alle Mahnungen von Betroffe-nen, Verbänden und Medien sowie von der Opposition inden Wind geschlagen. So geht der Haushalt 2001 an denBedürfnissen einer soliden Finanzierung der Bundeswehrvorbei.
Minister Scharping hat es sogar abgelehnt, die Ratschlägeder Kommissionen, die er selber berufen hat, zu befolgen.So hat zum Beispiel die Weizsäcker-Kommission richti-gerweise eine Anschubfinanzierung der Bundeswehr-reform angemahnt. Minister Scharping hat dies nichtübernommen.Minister Scharping ist die haushaltspolitische Realitätseines Verantwortungsbereiches entglitten. Stattdessenübt er sich in Beschwichtigungsrhetorik. Er schönt, ertrickst und beschimpft all diejenigen, die auf die realenProbleme der Bundeswehr hinweisen,
nämlich auf die schlechte Motivation, die miserableNachwuchslage, die unzureichende Materiallage, dieStreckungen und Aussetzungen bei den Beschaffungenusw.Trotzdem schwadroniert der HaushaltspolitikerMetzger von den Grünen, die Bundeswehr könne mit kei-nem Pfennig mehr Geld rechnen. Er will weiter kürzen.Die zukünftige Vorsitzende der Grünen spricht sogar voneiner guten Nachricht, wenn nicht noch mehr Geld in dasMilitär gesteckt wird. Dazu sage ich für die F.D.P.: DieBundeswehr ist kein Selbstzweck. Die Bundeswehr erhältden Auftrag von der Politik. Dann hat die Politik auchdafür zu sorgen, dass die Finanzen stimmen.
Da muss sich auch der Außenminister der Grünen dieFrage gefallen lassen, wie er mit dieser unterfinanziertenBundeswehr die neue Rolle Deutschlands mit immermehr Verantwortung glaubhaft zu vertreten gedenkt. Dieinternationale Glaubwürdigkeit und die VerlässlichkeitDeutschlands als Bündnispartner in der Allianz sind einzu hohes Gut, als dass man sie den Grünen mit ihren Zie-len überlassen darf.Aber in dieser Angelegenheit reicht die Kraft vonMinister Scharping nicht aus. Deshalb erwarte ich vonBundeskanzler Schröder höchstpersönlich ein Machtwort.
Tönte der Bundeskanzler noch Ende letzten Jahres –ich zitiere – „Von Rudi lernen heißt siegen lernen“ undversprach er diesem bei Amtsantritt noch, es werde
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Vizepräsidentin Anke Fuchs15177
keinesfalls zu Kürzungen im Verteidigungsetat kommen,so ist heute von diesen vollmundigen Versprechungennichts, aber rein gar nichts mehr übrig geblieben.
Kanzler Schröder lässt seinen Verteidigungsminister imRegen stehen, wie wir gestern wieder einmal erlebt haben.Noch nie war die Position eines Verteidigungsministers soschwach wie zurzeit,
und das in dieser so entscheidenden Phase des Umbausder Bundeswehr. Aber gerade jetzt braucht die Bundes-wehr einen starken Minister. Denn bei der Bundeswehrhandelt es sich um diejenige Institution, die für denSchutz der entscheidenden Güter unseres Staatswesensverantwortlich ist: für Frieden, für Freiheit, für Men-schenwürde, auch außerhalb der Grenzen unseres eigenenLandes.
Es ist das Drama dieses Ministers, dass er diese so ein-fache Erkenntnis noch nicht einmal in der eigenen Frak-tion, bei den eigenen Genossen herüberbringen konnte.Wie sonst sind die Ausführungen der SPD-Haushaltspoli-tiker Kröning und Wagner zu verstehen, die ebenfalls wei-tere drastische Kürzungen fordern?
Für die F.D.P. fordere ich daher den Verteidigungsmi-nister und fordere ich die Regierung auf: Erhöhen Sie denVerteidigungshaushalt auf 50 Milliarden DM und sorgenSie für Verstetigung! Bringen Sie endlich das lange an-gekündigte Attraktivitätsprogramm auf den Weg! DieMenschen in der Bundeswehr warten darauf. Sorgen Siedafür, dass die Investitionsquote erhöht wird!
Legen Sie ein Konversionsprogramm auf, das die von derReduzierung der Bundeswehr betroffenen Kommunennicht auf einem finanziellen Scherbenhaufen zurücklässt.Ein entsprechender Antrag der F.D.P.-Fraktion liegt vor.Zeigen Sie den Angehörigen der Bundeswehr endlichklare Perspektiven auf!Auch als Oppositionspartei fühlen wir uns verantwort-lich für die Parlamentsarmee Bundeswehr.
Deshalb bieten wir Ihnen auch weiterhin unsere Zusam-menarbeit an. Dazu gehört allerdings, dass diese Regie-rung auch auf uns als Opposition zukommt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat das Wort der
Kollege Peter Zumkley, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Zur Finanzsituation der Bundeswehrwird ohne jeden Nachweis behauptet und teilweise völligunkritisch weiterverbreitet: Das Haushaltsdefizit für 2001belaufe sich auf 2 Milliarden DM;
wegen der Finanzprobleme erwäge das Verteidigungsmi-nisterium, auf den Kampfhubschrauber Tiger zu verzich-ten; darüber hinaus sollten in 2001 25 000 Wehrpflichtigeaus Sparzwängen nicht einberufen werden;
die Stationierungsentscheidungen müssten erneut auf denPrüfstand, um Geld zu sparen.All diese Behauptungen sind falsch. Sie entbehren je-der Grundlage.
Man merkt die Absicht, die dahinter steckt: durch Ver-breitung von Gerüchten und durch Dramatisierung die Si-tuation der Bundeswehr schlechter zu schildern, als sie inWahrheit ist.
Der Haushalt 2001 wird, meine Damen und Herren vonder Opposition, wie vom Parlament beschlossen un-gekürzt und ohne Auflagen vollzogen. Die dringend not-wendige Reform der Bundeswehr kann wie geplant be-gonnen werden.
Dazu gehören auch die Personalmaßnahmen zur Attrakti-vitätssteigerung.Es gibt allerdings einen Mehrbedarf bei der Material-erhaltung in Höhe von 372 Millionen DM,
insbesondere bei Heer und Luftwaffe. Da gibt es auchkeinerlei Geheimnisse. Durch Umschichtungen im Ver-teidigungshaushalt wird dies, wie in der Vergangenheitauch bei Ihnen häufig geschehen, im Rahmen des jährli-chen Haushaltsvollzuges aus dem Einzelplan 14 gedecktwerden.
Im Übrigen: Die Bugwelle bei der Materialerhaltung,Kollege Rossmanith, gibt es schon seit 1994.
So wurden zu Zeiten der Vorgängerregierung die Depot-bestände in großem Stil abgebaut, Waffensysteme kanni-
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Günther Friedrich Nolting15178
balisiert und die Ersatzteilbestände nicht aufgefüllt. Es istauch nichts Neues, dass die Bundeswehr zurzeit nochnicht voll bündnis- und europafähig ist. Das ist überhauptnichts Neues. Wir haben leider in den Streitkräften nochdie alten Strukturen und die Ausrüstung aus der Vergan-genheit. Zugleich hat die Umstrukturierung auf die neuenAufgaben begonnen. Dies ist eine schwierige Phase fürdie Streitkräfte, wie sie bei Umstrukturierungen häufignicht zu vermeiden ist.Am Ende des Reformprozesses aber wird die Bundes-wehr die neu gestellten Aufgaben und Erwartungen bes-ser und vollständiger erfüllen können, als dies jetzt derFall ist.
So werden die Einsatzkräfte beträchtlich erhöht. Ich lassedie Zahlen weg.
Das Material wird von Grund auf modernisiert. Alle Vor-haben für 2001, meine Damen und Herren der Opposition,werden auch umgesetzt. Die Bundeswehr wird so struk-turiert, dass sie ihre geänderten internationalen Verpflich-tungen besser erfüllen kann.
Im Übrigen vermissen wir ein Alternativkonzept derCDU/CSU. Sie müssen sich endlich einigen, wie Sie sichdie zukünftige Bundeswehr vorstellen, sowohl vom Um-fang als auch vom Inhalt her. Wo bleiben eigentlich IhreAlternativen?
Keine Sachpolitik, keine Fachpolitik, keine Konzepte,stattdessen Pauschalkritik gegenüber jedem Regierungs-handeln!
Dabei könnte man über Reformkonzepte durchaus unter-schiedlicher Meinung sein, wenn sie denn bei Ihnen vor-handen wären. Man könnte dann endlich in den Wettbe-werb um die besseren Ideen eintreten. Auf jeden Fallsollte aber die Auseinandersetzung so geführt werden,dass die Bundeswehr keinen Schaden nimmt. Sie von derUnion, aber auch andere haben das Thema leider häufigparteipolitisch instrumentalisiert.
Auch das heutige Thema gehört dazu.
Wir werden unseren Reformweg, der sicherheits- undverteidigungspolitisch vernünftig und notwendig ist, imInteresse unseres Landes, der eingegangenen Bündnis-verpflichtungen und der Bundeswehr selbst fortsetzen.Hierzu reichen die Haushaltsmittel für 2001, wenn auchnur äußerst knapp, insgesamt aus.– Vielen Dank.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Thomas Kossendey, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Haushaltswahrheit undHaushaltsklarheit – nicht mehr, aber auch nicht wenigerfordern wir heute von Ihnen und von der Bundesregierung.
Der Haushalt, den Sie für 2002 vorgelegt haben, erfülltbeide Bedingungen nicht. Weder besteht auf der Einnah-menseite Klarheit und Sicherheit, noch ist auf der Ausga-benseite eine Übersicht vorhanden, auf die man sich wirk-lich verlassen kann.
Bei den Einnahmen setzt der Minister eindeutig auf dasPrinzip Hoffnung, wenn er über 1 Milliarde DM als Erlösaus der Veräußerung von Grundstücken, militärischemMaterial und aus Rationalisierungsgewinnen erwartet.Weder sind bis heute die Grundstücke identifiziert, die erverkaufen will,
noch ist das Material aufgelistet, das er eventuell verkau-fen möchte, noch ist bekannt, an wen und mit wessen Zu-stimmung, liebe Frau Beer.
Noch besteht völlige Unklarheit darüber, was im Bereichder Rationalisierung wirklich eingespart werden kann.Wer auf diese erhoffte Einnahme seine Ausgabenplanungstützt, der erinnert mich an eine Hausfrau, die auf den fürSamstag erwarteten Lottogewinn hin schon am Montagihr gesamtes Haushaltsgeld ausgibt.Im Bereich der Ausgaben herrscht ein ebensolchesChaos. Wenn schon sechs Wochen nach Beginn des Haus-haltsjahres die ersten Probleme im Bereich der Material-erhaltung auftauchen, ist dieser Haushalt entweder nach-lässig erarbeitet worden oder ganz einfach zu knappgestrickt. Heute rächt sich offensichtlich, dass alle War-nungen der Opposition überheblich in den Wind geschla-gen worden sind.
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Peter Zumkley15179
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-koalition, mit dieser Operation Sparschwein verprellt derMinister so ziemlich alle diejenigen, die in der Bundes-wehr ihren Dienst tun. Sie verprellen darüber hinaus auchalle diejenigen, auf die die Bundeswehr als Partner drin-gend angewiesen ist. Investitionslücken, die man identifi-ziert hat, kann man eben nicht durch radikales Sparenschließen, sondern nur durch Investieren.Wer auf der einen Seite beklagt, dass Deutschland nichtauf Dauer weniger als die Hälfte dessen für Verteidigungausgeben kann, was Großbritannien, Frankreich oder Ita-lien dafür aufwenden, kann auf der anderen Seite nichtden Verteidigungshaushalt für die nächsten Jahre um20 Milliarden DM kürzen. Haushaltspolitik kann mannicht gegen Adam Riese planen und durchsetzen. Wer sofahrlässig mit der Bundeswehr umgeht, muss sich fragenlassen, wie ernst er es eigentlich mit der Rolle Deutsch-lands in Europa und im Bündnis meint.
Das ist nicht nur eine Frage an den Verteidigungsmi-nister, sondern auch eine Frage an den Kanzler. Er hat ge-sagt: „Von Rudi lernen heißt siegen lernen.“ Ich glaube,manche haben ihn falsch zitiert. Von Rudi lernen heißt sie-chen lernen – das scheint mir viel richtiger zu sein.
Der Kanzler ist nämlich derjenige, der als Erster das Par-lament an der Nase herumgeführt hat. Wer war es denn,der auf den Europagipfeln größere Verteidigungsanstren-gungen angekündigt hat? Wer war es denn, der den Ame-rikanern eine Beteiligung an NMD angekündigt hat, ohnedafür auch nur einen Groschen im Haushalt bereitgestelltzu haben?
Nein, wir brauchen eine radikale Bestandsaufnahme.Mein Vorschlag dazu ist: Wenn am Monatsende die vomMinister angekündigte Planung für Material und Ausrüs-tung vorliegt, sollten wir uns zusammensetzen, um ge-meinsam zu überlegen, welche großen Rüstungsvorhabenin welcher Reihenfolge und mit welchem Zeitablauf inden nächsten Jahren wirklich in Angriff genommen wer-den sollen. Wir sollten gemeinsam eine Vereinbarung tref-fen – nennen Sie es Programmgesetz, wie Richard vonWeizsäcker das getan hat –, nach der eine für die Bundes-wehr verlässliche Planung über die nächsten Jahre, auchüber das Ende der Legislaturperiode hinaus, vorgenom-men werden kann. Ich habe dies vor eineinhalb Jahren vondiesem Pult aus gefordert und dieser Vorschlag ist heuteaktueller denn je.
– Liebe Frau Kollegin Beer, gestatten Sie mir eine per-sönliche Bemerkung zu Ihnen. Wenn ich der Patient Bun-deswehr wäre und sich dann Schwester Angelika meinemPatientenzimmer nähern würde, liefe mir angesichts derMethoden, mit der die eine oder andere Helferin in derVergangenheit ihren Patienten von seinen Leiden erlösthat, ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Ich wiederhole meinen Vorschlag: Wir sollten gemein-sam versuchen, die Rüstungsplanung für die nächstenJahre, auch über die Legislaturperiode hinaus, zu be-schließen. Nur das wird letztendlich dem Anspruch ge-recht, den die Soldaten und die Bediensteten der Bundes-wehr haben. Das erwartet auch die Bevölkerung von uns.Ich kann nur an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonden Regierungsfraktionen, appellieren: Werden Sie die-sem Anspruch bitte endlich gerecht!Schönen Dank.
Nun erteile ich der
Kollegin Angelika Beer das Wort.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da ichtatsächlich Arzthelferin war, fasse ich das jetzt als Lobauf.
Nun zum Ernst der Debatte. Ich frage mich wirklich,warum wir heute die von der F.D.P. beantragte AktuelleStunde haben. Ich kann mich noch gut an die Wechsel-spiele zwischen dem ehemaligen VerteidigungsministerRühe und dem Finanzminister Waigel erinnern, in denender Bundeswehr zunächst immer zu viel Geld verspro-chen wurde und die Mittel im Laufe des Haushaltsjahresde facto wieder gekürzt wurden.
Es ist interessant zu beobachten, wie aufgeregt Sie vonder Opposition, also auch von der F.D.P., nun weiter dis-kutieren und spekulieren, als wenn es den gestrigen Taggar nicht gegeben hätte.
Sowohl der Bundeskanzler als auch der Finanzministerund der Verteidigungsminister haben eine einheitliche Po-sition formuliert, die dem Gesamtkurs der rot-grünen Ko-alition entspricht.
Ich will hier noch einmal ganz klar sagen: Ich begrüßeausdrücklich die klare Aussage vom Verteidigungsminis-ter gegenüber Parlament und Öffentlichkeit, dass die der-zeitigen Defizite, über deren Ursachen wir noch einmalgesondert zu sprechen haben, aus dem laufenden Haus-haltsansatz 2001 gedeckt werden und alle Spekulationenüber einen Nachtragshaushalt ohne jede Grundlage sind.
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Thomas Kossendey15180
Ich gehe davon aus, dass dieser Konsolidierungskurs un-serer Regierung auch in den nächsten Jahren eingehaltenwird.Wir sind nach der Übernahme der Regierungsverant-wortung darangegangen, die Versäumnisse des ehemali-gen Verteidigungsministers Volker Rühe aufzuarbeiten.Wir haben es geschafft, den Reformstau in der Bundes-wehr aufzubrechen und die Neuausrichtung der Bundes-wehr in die Haushaltskonsolidierung einzupassen. Das istnach nur zwei Jahren ein Ergebnis, das sich durchaus se-hen lassen kann.
Der Kabinettsbeschluss vom 14. Juni 2000 hat deut-lich gemacht, dass der Einstieg in den lange dauerndengesellschaftspolitischen Reformprozess – dazu gehörtauch die Bundeswehr – von allen gewollt und praktiziertwird. Allen Beteiligten, den Bundeswehrangehörigenund den Politikern, war klar, dass diese Reform erstensunverzichtbar ist und zweitens schwierig sein würde.Aber ein komplexer Prozess wie diese Reform lebt da-von, dass sich etwas bewegt. Reform heißt Bewegungund nicht Stillstand. Nichts anderes als das – Stillstand –haben Sie, Herr Kollege Kossendey, heute wieder auf-gezeigt.
Wir Grünen – das ist bekannt – hätten uns die Refor-men weitgehender gewünscht, weil wir glauben, dass wirzur Erfüllung der internationalen Anforderungen klareSchnitte brauchen, um die Planungssicherheit für die Zu-kunft zu gewährleisten.
Ich bin überzeugt, dass die Weizsäcker-Kommissionhierzu wichtige Eckpunkte, die weiterhin unsere Linie be-stimmen werden, aufgezeigt hat.Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU undinsbesondere von der CSU, ich finde, Sie betreiben heuteein leicht durchschaubares Spiel,
das vor dem Hintergrund der Versäumnisse Ihrer Regie-rungszeit in den 90er-Jahren bei Leuten, die ein gutes Ge-dächtnis haben, so etwas wie Komik erzeugt.
Zumindest eine komische Komponente kann man dieserAktuellen Stunde nicht abstreiten.Ihre Komik allerdings verliert an Unterhaltungswert,weil Sie weiterhin vollkommen konzeptionslos in denSchützengräben des Kalten Krieges agieren wollen undnicht begreifen, dass die Herausforderungen der Zukunftandere sind und der Kalte Krieg aber tatsächlich ad actagelegt worden ist. Deswegen sind wir in die Regierunggewählt worden.
Ihr Kollege Volker Rühe bemühte sich in den letztenTagen auf der internationalen Ebene, unsere Regierung inMisskredit zu bringen, weil er sich nicht traut, im eigenenLand die Verantwortung für den eigenen Schaden zu über-nehmen; denn wenn die Bundeswehr teilweise ein Ersatz-teillager ist, dann aufgrund seiner Versäumnisse.
Dieses Auftreten ist nichts anderes als peinlich und die In-kaufnahme eines außen- und innenpolitischen Schadensfür die Bundesrepublik Deutschland. Das ist an dieserStelle eindeutig zurückzuweisen.Ihr strategieloses Agieren – da beziehe ich mich auchauf den gestrigen und den heutigen Tag – kann ich nur wiefolgt zusammenfassen: Sie sind in der Realität des21. Jahrhunderts nicht bündnisfähig.
Die Bundeswehr der Zukunft wird in eine Politik derpräventiven Außen- und Sicherheitspolitik eingebettetsein. Die Konzepte der Prävention werden neu formuliert.
Die Struktur der Bundeswehr wird grundlegend geändertund modernisiert. Dies ist ein gesamtgesellschaftlichesInteresse, das wir wahrzunehmen haben. Ich stelle heutefest, dass sich die so genannte Volkspartei CDU offen-sichtlich bewusst aus dieser gesamtgesellschaftlichen undpolitischen Aufgabe verabschiedet hat.
Das Wort hat nun der
Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Bevor ich zu dem Thema derAktuellen Stunde spreche, möchte ich an dieser Stelle Ih-nen, sehr geehrte Frau Präsidentin, und allen Frauen zumheutigen 8. März, dem Internationalen Frauentag, herz-lich gratulieren.
Nach diesem Glückwunsch komme ich zu dem sehrernsten Thema der Aktuellen Stunde. Minister Scharpinghat offensichtlich selbst Meldungen lanciert,
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Angelika Beer15181
wonach die Bundeswehr in eine Finanzkrise geschlittertsei. Das hört man aus Koalitionskreisen. Er tut dies wohlmit der Absicht, vom Kanzler und von dessen Finanzmi-nister rasch Zusagen über mehr Gelder für den Etat 2002und die Etats der Folgejahre zu erheischen.Schon jetzt aber ist der Verteidigungsetat mit 46,8 Mil-liarden DM etwa 40-mal höher als der Bundesumwelt-haushalt. Da stimmt wohl bei Rot-Grün etwas nicht. Ichwende mich damit auch an Sie, liebe Kollegin Beer.
– Sie haben doch vor einigen Jahren ganz anders argu-mentiert. So schnell können Veränderungen geschehen.
Wofür braucht Herr Scharping nun mehr Geld? Er willes doch offenbar nicht dafür einsetzen – dabei würden wirihn unterstützen –, um endlich die Angleichung der Be-soldung der Zeit- und Berufssoldaten in Ost- und West-deutschland zu vollziehen.
Dafür hat sich die PDS eingesetzt und sie wird sich wei-ter dafür einsetzen.
Für einen solchen Schritt, liebe Kollegin Beer, der ver-gleichsweise wenig kostet, ist Herr Scharping einfach zufeige.
Nicht einmal den Bundesrat oder die kommunalen Spit-zenverbände müsste er dazu befragen. Der Soldatenminis-ter ist in dieser Entscheidung frei. Nur der Bund ist dafürzuständig. Ausflüchte werden nicht mehr akzeptiert.
Kollege Scharping will mehr Geld, aber nicht im Mil-lionenpack, sondern im Milliardenpack. Er braucht diesenGeldsack, um den Umbau der Bundeswehr zu einer hochmobilen und international agierenden Interventionsarmeezu finanzieren. Das lehnt die PDS ganz entschieden ab.Die Beteiligung an Kriegen wird in dieser Konzeptionausdrücklich eingeplant. Das ist ein sehr ernstes Thema,wie der Einsatz der deutschen Bundeswehr im unsägli-chen Krieg gegen Jugoslawien zeigt. Ich halte das für einsehr ernstes Thema.
Es war ein Krieg, der Tausende Tote und Schwerstver-letzte gebracht hat. Daneben hat er immense materielleund Umweltschäden angerichtet. Sein erklärtes Ziel aber,eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, hat dieserKrieg verfehlt. Das ist fürwahr eine schlimme Bilanz.
Die qualitative Aufrüstung der Bundeswehr soll nachScharpings Willen bis zum Jahr 2015 gigantische180 Milliarden DM verschlingen. Es kann, wenn es nachdem Willen des Ministers geht, wohl auch noch etwasmehr kosten. Allein die mit der Rüstungsindustrie ausge-handelten so genannten Preisgleitklauseln werden dafürsorgen.Der Bundesrechnungshof hat nachgewiesen, dass dasPreisdiktat der Rüstungsindustrie gegenüber der Hardt-höhe gerade beim Eurofighter die unvorstellbare Summevon 6 Milliarden DM zusätzlicher Kosten verursacht. Da-mit wird der Eurofighter für die nächsten Jahre die Steu-erzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland mit fast40Milliarden DM– eine unvorstellbare Größenordnung –belasten. Wie viel nützlicher könnte dieses Geld für dieFamilienförderung oder die Anhebung der Renten einge-setzt werden – aber weit gefehlt.
Die Kollegen Opel von der Sozialdemokratischen Par-tei und Kossendey von der CDU fordern sogar ein 50-Mil-liarden-DM-Sonderprogramm für die Finanzierung derHochrüstung der Bundeswehr in den nächsten Jahren. DiePDS sagt ausdrücklich Nein zu diesen Begehrlichkeiten,der Kanzler auch – aber wie lange noch?
Nach der Methode „Hoppla, hier bin ich“ hat sich derVerteidigungsminister schon so manches Finanzprivilegvom Kanzler bzw. von Finanzminister Eichel genehmigenlassen. So ist er das einzige Kabinettsmitglied, das denVerkaufserlös aus Liegenschaften und Gerätschaften indie eigene Tasche, also die des Ministeriums, steckenkann.
In diesem Jahr ging es dabei immerhin um 1Milliarde DM.
Der Zwang aber, möglichst hohe Erlöse für das Ministe-rium zu erzielen, wird die Kommunen, die als Käufer bei-spielsweise von Grundstücken auftreten, immens belasten.
An dieser Stelle muss auch das gesagt werden, da vieleKommunalpolitiker an den Bildschirmen sitzen.
Dem Kollegen Scharping wurde im August 2000 dasRecht eingeräumt, verehrter Kollege Poß, eine privatwirt-schaftlich organisierte Gesellschaft für Entwicklung, Be-schaffung und Betrieb, kurz GEBB, zu errichten, die dieBundeswehr von Aufgaben entlasten und Kosten einspa-ren soll. Aber wo bleibt diese GEBB bei der Einsparung?Wo sind deren Ergebnisse?
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Dr. Uwe-Jens Rössel15182
Herr Kol-
lege Rössel, wir müssen jetzt leider auch bei Ihrer Rede-
zeit einsparen.
Ich komme zum
Schluss, Herr Präsident. – Ein Paradigmenwechsel in der
Sicherheitspolitik ist dringend geboten. Schneiden Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, die
Bundeswehr auf eine Größenordnung zu, die sicherheits-
politisch angemessen ist und sich auf die tatsächliche Auf-
gabe der Bundeswehr, die im Grundgesetz festgelegt ist
– es handelt sich um den Verteidigungsauftrag – reduziert.
Dann haben Sie auch keine Haushaltsprobleme bei der
Bundeswehr; denn dadurch lassen sich sogar zig Milliar-
den DM einsparen, die man für andere Aufgaben einset-
zen kann.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
– Die soll ja abgeschafft sein; aber der Hinweis war nett.
Das Wort
hat nun der Parlamentarische Staatssekretär im Bundes-
verteidigungsministerium Walter Kolbow.
W
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Die öffentliche Diskussion über die ak-tuelle Haushaltssituation der Bundeswehr in diesen Tagenist zumeist geprägt von Schlagworten, Effekthaschereiund falschen Behauptungen.
Leider haben sich die Reden der Opposition, die bishergehalten wurden, in dieses Bild eingereiht.
Nicht wenigen – auch bei Ihnen auf der rechten Seite desHauses –
– von mir aus gesehen immer rechts, und das sind Sie jaauch, das wissen Sie doch, Herr Kollege Kossendey –geht es nicht um die Sache und erst recht nicht darum, wiewir gemeinsam die Streitkräfte modernisieren und auf diekünftigen Aufgaben ausrichten können.Mit ihrem Verhalten und auch mit dieser AktuellenStunde versucht die Opposition, von ihrem eigenen ge-schichtlichen Versagen während der Zeit ihrer Regie-rungsverantwortung abzulenken.
Damals, in Ihrer Regierungszeit, nach den sicherheitspo-litischen Umbrüchen, haben Sie es versäumt, die Bundes-wehr neu zu positionieren und die Reform, die wir jetzteingeleitet haben, selbst zu machen. Das ist Ihr Problem.
Lassen Sie es mich gleich zu Beginn meiner Rede deut-lich ansprechen: Es zeugt von Verantwortungsbewusst-sein – Sie haben das im Übrigen auch immer erwartet undwir haben es als damalige Opposition begrüßt –, dass mi-litärisch Verantwortliche im Ministerium, in den Einhei-ten, in den Verbänden die Politik rechtzeitig auf Probleme,wie zum Beispiel auf dem Feld der Materialerhaltung,aufmerksam machen. Es ist ein völlig normales Verfah-ren, dass die militärische Führung auf zusätzliche Erfor-dernisse hinweist, wenn sie solche erkennt. Deswegensind die Interviewaussagen des Generalinspekteurs Nor-malität.
Im Übrigen tun diese Äußerungen auch Ihnen weh, dennseine Feststellungen betreffen auch Ihre Regierungszeitund damit Ihre Versäumnisse und Ihre Verantwortung.
Wir kommen schon darauf, Herr Kollege Nolting. SeienSie doch nicht immer so ungeduldig; Sorgfalt vor Eile,auch in der Oppositionsarbeit. Dann machen Sie wenigerFehler.
Der Bundesminister, der Generalinspekteur und auchandere haben keinen Zweifel daran gelassen – ich sagedas vorsorglich, weil man bei Ihnen nie so recht weiß, wasals Nächstes kommt –, dass diese Äußerungen zurEinsatzbereitschaft selbstverständlich nicht die Einsatz-fähigkeit unserer tüchtigen und erfolgreichen Soldatinnenund Soldaten im ehemaligen Jugoslawien betreffen. BeimSchutz dieser Soldatinnen und Soldaten und bei dem, wassie im Einsatz brauchen, lassen wir uns – ich weiß auch:gemeinsam – nicht übertreffen.
Nun zum Etat; nun kommen Sie als Initiator dieser Ak-tuellen Stunde dran, verehrter Herr Kollege. In Bayernsagt man: überflüssig wie ein Kropf, aber: wat mutt, datmutt, sagt man im Norden. Also: Machen wir hier unse-ren Job. Zum Verteidigungsetat des laufenden Jahres istvorab an die Adresse des Kollegen Austermann und an-derer zu sagen: Wir brauchen keinen Nachtragshaushalt,da wir mit dem vom Bundestag beschlossenen Haushalts-rahmen auskommen werden.
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Diejenigen von der Opposition, die das Gespenst derZahlungsunfähigkeit heraufbeschwören, verkennen undverdrehen die Fakten. Die Bundesregierung hat die Re-form der Streitkräfte und der Wehrverwaltung entschlos-sen angepackt. Wir investieren in die Menschen und ihreFähigkeiten. Wir investieren in die Ausrüstung der Streit-kräfte, damit diese Fähigkeiten rasch sowie für die Zu-kunft zuverlässig und dauerhaft zur Verfügung stehen.Wir investieren in mehr Wirtschaftlichkeit und Effizienzinnerhalb der Bundeswehr.Entgegen dem Trend in der Zeit der Vorgängerregie-rung ist seit dem Regierungswechsel der Anteil der ver-teidigungsinvestiven Ausgaben im Verteidigungshaushaltgestiegen.
Beginnend mit diesem Jahr können wir im Verteidi-gungshaushalt Erlöse aus der Verwertung nicht mehrbenötigten Materials und Liegenschaften zum größtenTeil behalten. Erstmals kommen finanzielle Freiräume,die sich aus Effizienzgewinnen und sinkenden Betriebs-kosten ergeben, dem Verteidigungsetat in vollem Umfangzugute. Dies ist integraler Bestandteil und Ergebnis desumfassendsten Reformprozesses seit Bestehen der Bun-deswehr.
Dennoch stehen wir erst am Anfang. Veränderungen inBetriebsabläufen und Strukturen erfordern bei allerSchnelligkeit der Entscheidungen Zeit zur Umsetzung,bis sich die erwartete Wirkung voll entfaltet.Die Opposition hat offensichtlich hellseherischeFähigkeiten, wenn sie bereits zu Beginn des Haushalts-jahres behauptet, die gerade erst anlaufende Verwertungvon Gerät und Liegenschaften sowie die jüngst eingelei-teten Maßnahmen zu Einsparungen und Effizienzgewin-nen würden im Laufe des vor uns liegenden Haushalts-jahres keine Erfolge zeigen. Ich rate Ihnen: Setzen Sienicht auf Hellseherei!
Warten Sie lieber die Fakten und die Ergebnisse ab! Dannsprechen wir uns wieder und dann wird sich – dessen binich mir sicher – die heutige von Ihnen beantragte AktuelleStunde als ein weiterer erfolgloser Versuch erweisen, Op-positionsarbeit zu leisten.
Natürlich ergeben sich für den Verteidigungshaushalt– wie fast immer; der aktuelle ist der 21., über den ich mitIhnen debattieren darf – besondere Herausforderungen:Einerseits sind die Mittel für den unverzüglichen Aufbauder neuen Struktur bereitzustellen. Andererseits kann derAufwand für die noch bestehenden, dem künftigen Bedarfnicht mehr Rechnung tragenden Strukturen mit Rücksichtauf die Einsatzbereitschaft nur behutsam zurückgeführtwerden. Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz. Ein-satzausgaben lassen sich nun einmal nicht hundertpro-zentig veranschlagen. Dies gilt auch für die Ausgaben zurMaterialerhaltung. Das wissen Sie alle hier, zumindestdiejenigen, die im Verteidigungs- und im Haushaltsaus-schuss tätig sind. Das gilt auch für die zusätzlichen Aus-gaben, die durch die Anhebung der Löhne entstehen unddie im Rahmen eines Gesetzes erst heute Abend be-schlossen werden. Wie sollten wir denn dies schon im No-vember oder im Dezember letzten Jahres etatisieren?Gerade in diesem Bereich zeigt sich übrigens in ganzbesonderer Weise, wie durch den durch die Vorgängerre-gierung verursachten Reform- und Investitionsstau ge-rade in den Jahren 1994 bis 1998 der Bundeswehr alleindurch Haushaltssperren erhebliche Mittel – „same proce-dure as every year“, Herr Kollege Breuer – entzogen wur-den. Das ergab sich aus den Vereinbarungen zwischenWaigel und Rühe. Allerdings haben diese Herrschaften– das nehme ich doch an – in sehr nüchternem Zustand anden Diskussionen ihrer Fraktion teilgenommen und sindnicht über den berühmten Tigerkopf gestolpert. Aber weilder Bundeswehr zwischen 1994 und 1998 3 MilliardenDM entzogen wurden, mussten wir ab 1999 zusätzlichfast 300 Millionen DM im Durchschnitt pro Jahr in dieMaterialerhaltung und fast 1,5 Milliarden DM in die Aus-rüstung investieren.Sie haben auch Anspruch auf Antworten.
Natürlich bekommen Sie Antworten. Das ist doch selbst-verständlich. Wenn Sie sich selbst aufgrund Ihrer Erfah-rungen in Ihrer Regierungszeit keine Antworten gebenkönnen, dann bekommen Sie sie von uns. Sie könnendann über sie beraten und mit uns gemeinsam feststellen:Jawohl, so wird es gemacht, so ist es auch richtig, weilman es so machen muss und weil es keine anderen Wegegibt.
Zum einen werden wir uns im Zuge der Einnahme derZielstruktur so rasch wie möglich in erheblichem Umfangvon Material trennen. Zum anderen wird der Instandset-zungsbedarf konsequent priorisiert. Damit sind die drän-gendsten Probleme beim Heer gelöst. Auch bei der Luft-waffe wird es gelingen, den zwingenden Bedarf zudecken. Im Übrigen wird der zu erwirtschaftende Mehr-bedarf im Haushalt 2001 durch die Einbeziehung allerAusgabenbereiche in die Maßnahmen zur Haushaltskon-solidierung und den höheren Ausschöpfungsgrad bezüg-lich der Haushaltsmittel kompensiert. So sind die Risikenim Vollzug des Haushalts 2001 beherrschbar und wirkommen ohne zusätzliche Mittel aus. Noch einmal: DieForderung nach einem Nachtragshaushalt entbehrt jederGrundlage.In diesem Zusammenhang ist es nicht nur schlichtwegfalsch, sondern auch politisch völlig abwegig und außen-politisch schädlich, zu behaupten, Deutschland werdesein Engagement auf dem Balkan einseitig aufgeben müs-sen, es würden aus Haushaltsgründen weitere Standorte
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geschlossen, im Jahr 2001 – das alles steht in der Zei-tung – würden weniger Wehrpflichtige als geplant einge-zogen oder – Herr Kollege Raidel, nehmen Sie es mit aufden Weg – der Hubschrauber Tiger könne nicht beschafftwerden.Das ist alles falsch; das Gegenteil ist richtig. Bei die-sen und anderen Falschmeldungen und Behauptungengeht es um alles andere als um die Bundeswehr. Denen,die so argumentieren und sich auf die Basis solcherfalschen Informationen stellen, geht es vornehmlich umParteipolitik oder um Desavouierung einer solide arbei-tenden Bundesregierung.
Deswegen werden wir den eingeschlagenen Reform-weg fortsetzen. Das gilt auch für den Verteidigungshaus-halt 2001. Wir bleiben zuversichtlich und werden unsauch durch politische Störfeuer, wie die durch die Oppo-sition geforderte Diskussion um den Verteidigungshaus-halt, nicht aus der Bahn bringen lassen.
Wir werden die Probleme lösen. Dies ist im Übrigendas Markenzeichen dieser Regierung. Die zivilen und mi-litärischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bun-deswehr können sich auch weiterhin auf uns verlassen.Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, soll-ten dies konstruktiver als bisher begleiten, anstatt auf demRücken der bei der Bundeswehr tätigen Menschen partei-politisch punkten zu wollen.
Hierzu fordere ich Sie namens der Bundesregierung fürunsere Soldatinnen und Soldaten und zivilen Mitbeschäf-tigten nachdrücklich auf.
Ich erteile
dem Kollegen Dietrich Austermann für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! In den „Kieler Nachrichten“vom 28. Februar 2001 war ein Zitat der Ministerpräsiden-tin Frau Simonis zu lesen:Scharpings Ressort ist eine echte Plage.
Nach der Rede von Herrn Kolbow weiß ich, was sie ge-meint hat. Sie sagt weiter:Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut. Mangeht mit fünf Meinungen nach Hause. Ich verteidigeim Moment vom Verteidigungsministerium garnichts mehr.So Frau Simonis Ende Februar in den „Kieler Nachrich-ten“! Ich glaube, sie hat die Situation und das, was Aus-sagen insbesondere der Verteidigungspolitiker der SPDbetrifft, korrekt beschrieben.
Herr Kolbow hat gesagt, es habe zu unserer Zeit keineReform gegeben. Es sei daran erinnert, dass wir die Ar-mee der Einheit geschaffen haben. Wir haben unter denVerteidigungsministern Stoltenberg und Scharping 1992und 1995
Reform- und Strukturveränderungen erlebt.
Im Übrigen gab es bei der Bundeswehr einen Haushaltmit steigenden Ansätzen. Wenn man die letzten vier Jahreunter unserer Regierung mit den ersten Jahren unter derneuen Regierung vergleicht, dann stellt man fest, dass wiran dieser Stelle einige Milliarden Mark mehr ausgegebenhaben, als zurzeit zur Verfügung stehen. Das heißt, dieBundeswehr war in einer vergleichbaren Situation besserausgestattet, als sie es zurzeit ist.Wenn gesagt wird, es sei alles in Ordnung, dann stelltsich die Frage, weshalb es dann gestern das Gespräch zwi-schen Scharping, Eichel und dem Bundeskanzler gegebenhat. Worüber haben sie sich eigentlich unterhalten, wennes keine Probleme gibt?
Man muss sich die Situation tatsächlich angucken. Esist überhaupt nicht mit dem vergleichbar, was vorher dawar. Schauen Sie sich die Situation an. Ich will Ihnen,Herr Kolbow, jetzt genau vorrechnen, wie sich die feh-lenden 2 Milliarden DM zusammensetzen: 800 Mil-lionen DM Überkipper, also Rechnungen, die aus demJahre 2000 in dieses Jahr geschoben werden.
– Sicherlich hat es auch in der Vergangenheit, Herr Opel,Überkipper gegeben.
Es war dann nur so, dass der Verteidigungsetat angestie-gen ist. Unter diesen Umständen kriege ich diese Dingeweg. Wenn er sinkt, wird die Zahl der Überkipper bzw.der Umfang der nicht erledigten Ausgaben immergrößer.Wir haben ein zweites Problem, nämlich dass Sie dieMittel für steigende Personalkosten nicht in den Haushalt
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Parl. StaatssekretärWalter Kolbow15185
eingestellt haben. Des Weiteren sind – wie jeder weiß –die 1,2 Milliarden DM, die aus der Privatisierung für Be-schaffungen vorgesehen sind, weit entfernt von jeder Rea-lität.Wenn Sie allein das addieren, kommen Sie auf eineGrößenordnung von 2 Milliarden DM, die in diesem Etatfehlen.
Das macht deutlich, dass wir einen Nachtragshaushaltbrauchen. Ein Nachtragshaushalt ist immer dann fällig,wenn Entwicklungen, die absehbar, also nicht unvorher-sehbar waren, dazu zwingen, Haushaltskorrekturen vor-zunehmen.Nun wollen wir trotz Ihrer Bemühungen, das alles zuverniedlichen, einmal schauen, was denn die Planungsab-teilung des BMVg tatsächlich festgestellt hat. Sie hat be-reits Mitte Februar in einer Vorlage – das war nicht dieböse Opposition, sondern das eigene Haus – darauf hin-gewiesen, dass der unabdingbare Materialerhaltungsbe-darf zur Aufrechterhaltung des Ausbildungs-, Übungs-und Einsatzbetriebes sowie zur Erfüllung der internatio-nalen Verpflichtungen zusätzliches Geld erfordert. Un-abdingbar heißt, ohne zusätzliche Mittel können Mate-rialerhaltungsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung desAusbildungs-, Übungs- und Einsatzbetriebes sowie zurErfüllung der internationalen Verpflichtungen nicht vor-genommen werden. Deutlicher kann man die Situationnicht beschreiben. Das heißt, Sie haben die Bundeswehrin kurzer Zeit heruntergewirtschaftet.
Dass dies in der Bevölkerung genauso gesehen wird, ma-chen ja das abnehmende Ansehen und die sinkende Zahlvon Bewerbern, die sogar bei besonders attraktiven Diens-ten zu verzeichnen ist, besonders deutlich.
Heute besteht die Gefahr, dass zwar die Gehälter derSoldaten und der zivilen Mitarbeiter noch aufgebrachtwerden können, aber Gelder für all das, was vertraglichnicht gebunden ist, nicht mehr. Das heißt, Aufwendungenfür wehrtechnische Forschung, Beschaffung – wir habenüberhaupt keine gültige Investitionsplanung mehr –, In-frastruktur, Informationstechnologie und Instandsetzungsowie eine mögliche Steigerung der Personalkosten kön-nen nicht bezahlt werden, wenn nicht zusätzliche Mittelbereitgestellt werden.Auf die Frage, woher die Gelder kommen sollen, sageich ganz deutlich: Der Herr Bundesfinanzminister hat unsheute vorgeworfen, wir würden auf der einen Seite be-haupten, es sprudle das Geld und er schwimme darin, undauf der anderen Seite, er brauche einen Nachtragshaus-halt. Natürlich schwimmt er im Geld; er kassiert in diesemJahr voraussichtlich 43 Milliarden DM mehr Steuern als1998. Herr Kollege Metzger, wenn Ihre Rechnung stimmtund es 3 Milliarden DM weniger wären, so würde er im-mer noch 40 Milliarden DM mehr an Steuern einnehmenals im Jahre 1998. Dabei sind die Ausgaben gegenüber1998 nur um 20 Milliarden DM gestiegen. Da sage nocheinmal einer, er schwimme nicht im Geld. Auch die Pri-vatisierungserlöse haben eine Rekordhöhe erreicht.Angesichts dieser Situation sagen wir, das Geld mussanders verteilt werden. Deshalb brauchen wir einen Nach-tragshaushalt; deshalb muss die Plage der schlechten Po-litik beseitigt werden, die in diesem Ministerium offen-sichtlich von der Führung ausgeht. Bisher hat es das nochnicht gegeben, dass leitende Leute an der Spitze des Mi-nisteriums die Öffentlichkeit suchen, um auf die dramati-sche Situation hinzuweisen, in der sich die Bundeswehrtatsächlich befindet.
Sie können in der Geschichte so weit zurückgehen, wieSie wollen; dies hat es bisher nicht gegeben, weder beiRühe noch bei Stoltenberg. Das macht deutlich: Es be-steht Handlungsbedarf; die Bundeswehr braucht mehrGeld, wenn sie ihrem Auftrag entsprechen will.Herzlichen Dank.
Das Wort
hat der Kollege Oswald Metzger für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen. Hierbei handelt es sich wiederum um
eine Rede gemäß § 33 der Geschäftsordnung.
Genau, Herr Präsident, wenn man damit einmal angefan-gen hat, muss man es auch fortführen.Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen von der Opposition! Kollege Austermann, ichkann die Märchen, die Sie als haushaltspolitischer Spre-cher erzählen, nicht mehr hören. Wenn Sie hier als Ver-treter der größten Oppositionsfraktion den Eindruck er-wecken, der Staat schwimme im Geld, und so tun, als obdie 43 Milliarden DM, die wir dieses Jahr an Mehr-einnahmen erzielen, „on top“ dem Haushalt zugute kä-men, aber dabei nicht erwähnen, dass wir noch neue Kre-dite in Höhe von 43 Milliarden DM aufnehmen, umdiesen Etat auszugleichen, dann muss ich Ihnen leidervorhalten, dass das nicht zusammenpasst, sondern Volks-verdummung und sonst gar nichts ist.
Nächster Punkt. Ich bin jetzt sechs Jahre im Haus-haltsausschuss für Verteidigung zuständig
und habe die Oppositionszeit mitgemacht. Dabei habe icherlebt – darauf hätte ich gerne einmal eine Antwort, Kol-lege Austermann –, welche Überkipper es während IhrerRegierungszeit gegeben hat. Das heißt, man hatInvestitionsrechnungen und Betriebskosten nicht bezahlt,damit man überhaupt die Personalausgaben bezahlen
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Dietrich Austermann15186
konnte; man hat also mit Investitionsmitteln alimentiert.Sie hatten nämlich bei den Personalkosten immer unter-etatisiert. Und Sie reden heute von Haushaltsklarheit und-wahrheit!Wissen Sie, was wir machen? – Wir führen wie in an-deren gesellschaftspolitischen Bereichen Aufräumarbeitenund eine Strukturreform durch, die sich bemüht, tatsäch-lich militärische und sicherheitspolitische Anforderungender Verteidigung sowie bündnispolitische Verpflichtungenmit der Bereitschaft unserer Gesellschaft, Geld für das Mi-litär aufzuwenden, in Einklang zu bringen.
Dies ist der Zusammenhang. Jeder von Ihnen aus der Op-position, auch Sie, Herr Nolting, weiß doch, dass wederF.D.P. noch Union in Wahlkämpfen der Bevölkerung klar-machen können, dass die Bundeswehr künftig deutlichmehr als 10 Prozent der Gesamtausgaben des Bundes-haushaltes bekommen wird. Woher denn bitte? Die imBundeshaushalt für das Jahr 2001 vorgesehenen Ausga-ben für Verteidigung liegen bei 9,3 Prozent. Auch in denletzten Jahren lagen sie bei unter 10 Prozent. Das ent-spricht der Linie, wie sie im Hinblick auf das Ziel derKonsolidierung verabredet wurde. Es geht hier um dieAusgaben in Bezug auf den Gesamtetat.Wenn wir die Reform ernst nehmen, dann muss nun dieInvestitionsplanung der Feinausplanung der Personal-struktur folgen. Eine Reihe von Personen aus dem vertei-digungspolitischen Bereich hat ein paar Lieblingsfirmenund Lieblings-Teilstreitkräfte, weswegen sie sich für be-stimmte Rüstungsprojekte einsetzen. Das funktioniertnatürlich nicht, wenn man so tut, als ob man künftig alles,was sozusagen in der Pipeline ist, beschafft. Wir werdenuns vielmehr von bestimmten Beschaffungsvorhaben undRüstungsprojekten verabschieden müssen.
Das wird eine Entscheidung im Zusammenhang mit derFortschreibung der Bundeswehrplanung sein, mit der dieInvestitionen auf die neue Streitkräftestruktur abgestimmtwerden. Das ist keine Frage.
– Wollen Sie von mir ein paar Beispiele hören?
Warum muss das Wehrforschungs- und Erprobungsschiffsein? Warum muss die K 130 sein? Wir können auch überStückzahlen diskutieren. Dort, wo es vertraglich möglichist und zum sicherheitspolitischen Profil passt, müssenauch Stückzahlreduzierungen erfolgen. Darüber brauchenwir nicht zu diskutieren.
Das, was die Koalitionsfraktionen im Haushaltsaus-schuss beschlossen haben, ist doch kein Geheimnis: DerEinnahmetitel von 1 Milliarde DM braucht in diesem Jahrnatürlich Monate, um wirksam zu werden. Man kanndoch nicht Liegenschaften, die nicht baureif sind, zuSchleuderpreisen veräußern, weil man sie damit – daswollen wir nicht – unter Wert verkauft. Wir wollen wert-haltige Grundstücke tatsächlich baureif machen. Mit demGeld, das durch ihren Verkauf eingenommen wird, sollenseriöse Investitionen finanziert werden. Um dem Vertei-digungsministerium diesen Anschub deutlich zu machen,haben wir gesagt: Scharping kann aus dem Einnahmetitelauf jeden Fall 300 Millionen DM als Vorgriffsermächti-gung verwenden, egal ob das Geld eingenommen wirdoder nicht. Das ist doch seriös. Wir können doch nicht sotun, als ob wir von Januar bis Juni Einnahmen aus Ver-äußerungen in Höhe von 1Milliarde DM erzielen könnten.Ein weiteres Stichwort lautet: Rationalisierungspoten-ziale bzw. Outsourcingpotenziale bei der Bundeswehr;das ist bei der GEBB angesiedelt. Der konzeptionelle An-satz, bestimmte Bereiche, die bisher in der Bundeswehrangesiedelt waren, in die Wirtschaft zu verlagern und da-mit Kosten zu sparen, ist richtig. Diesen Ansatz hat übri-gens auch Ihre Regierung in anderen Politikfeldern ver-folgt. Es geht um Outsourcing in den Bereich derWirtschaft, um Kosten zu sparen. Aber wir müssen denVerantwortlichen bei der Bundeswehr Zeit geben, damitsie seriös vorgehen können. Ich bin sicher: Die Ressour-cen und die Effizienzreserven in den Streitkräften reichenaus, um die Strukturreform im Rahmen der Finanzpla-nung zustande zu bringen.Wenn man der Bundeswehr heute mehr Geld zukom-men ließe – zum Beispiel weil bestimmte Besitzstands-wahrer, auch solche in Uniform, auf der Hardthöhe oderin der Fläche, aus den Reihen der Opposition oder viel-leicht auch im Koalitionslager, meinen, man könne Re-formen nur mit mehr Geld durchführen und man müssedieses Geld bereits investieren, bevor die Reformschrittekonkret eingeleitet sind –,
dann machte man die Reform unmöglich. Man müsstedann in der nächsten Legislaturperiode eine Bundeswehrfinanzieren, die jährlich zwischen 3 und 5 Milliarden DMmehr kostet.
Deshalb heißt es jetzt: Im Rahmen der Verabredungen Li-nie halten!
– Herr Nolting, ich kenne die Vorschläge der Weizsäcker-Kommission. Aber Weizsäcker denkt an eine andere Per-sonalstruktur.
– Er spricht von einer Anschubfinanzierung, stellt dannaber die Ausgaben in einen Zusammenhang mit der Fi-nanzplanung. Wir brechen die Strukturplanung von der
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Oswald Metzger15187
Ebene der politischen Leitung auf die Teilstreitkräfteherab. Jetzt brauchen wir die Investitionsseite. Ichweiß, dass wir in der Aktuellen Stunde, in der man fünfMinuten Redezeit hat, darüber keine Fachdiskussionführen können.
Herr Kol-
lege Metzger, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Nein, darum geht es mir nicht. Ich will eines deutlich ma-
chen: Das Geschrei, dass zu wenig Geld da ist, verhindert
Reformen. Das ist meine Erfahrung aus der Vergangen-
heit. Nur unter Berücksichtigung der Knappheit der An-
sätze lässt sich die Chance einer Umstrukturierung wahr-
nehmen, sicherheitspolitische Erfordernisse der Republik
und die Finanzierbarkeit des Haushalts langfristig in Ein-
klang zu bringen.
Vielen Dank.
Ich gebe nun
das Wort dem Kollegen Jürgen Koppelin für die Fraktion
der F.D.P.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Der Generalinspekteur der Bun-deswehr hat das getan, was nach meiner Meinung seinePflicht und seine Aufgabe ist: Er hat dem verantwortli-chen Bundesminister, aber auch der Politik insgesamtaufgezeigt, wie bedenklich der Zustand der Bundeswehrist. Wir sollten ihm dankbar sein, dass er das in dieserDeutlichkeit gesagt hat.
Wir müssen nur die Konsequenzen daraus ziehen.Ich finde es nicht in Ordnung, dass der KollegeZumkley von einer Gerüchteküche spricht, wenn wirdiese Probleme ansprechen.
Gehört denn das, was der Generalinspekteur sagt, zurGerüchteküche? Das darf ja wohl nicht wahr sein.Vorhin hat die Kollegin Beer gefragt, was diese Aktu-elle Stunde soll. Sie sagte, das sei doch völlig überflüssig.
Allein der Beitrag des Kollegen Metzger hat gezeigt, wienotwendig diese Aktuelle Stunde ist. Jeder in der Bundes-wehr kann nämlich jetzt erkennen, was in der Koalitionlos ist und wie die Koalition zur Bundeswehr und zu ihrerFinanzierung steht.
Ich bin für diese Aktuelle Stunde ausdrücklich dank-bar; denn der Kollege Metzger hat hier deutlich gemacht,dass er Verteidigungspolitik nach Kassenlage machenwill. Es ist ihm völlig egal, ob, wie der Generalinspekteursagt, das Material veraltet ist und wie der Zustand der Ge-bäude ist. Die Hauptsache ist, dass Metzgers Kassestimmt. Da der Kollege davon spricht, dass angesichts derLage des Bundeshaushaltes nicht mehr drin sei – ichstimme ihm zu, dass die Haushaltslage schlecht ist –,würde ich hier eigentlich gerne auflisten – die Zeit habeich aber leider nicht –, welche rot-grünen, aber vor allemgrünen Spielereien sich im Haushalt wiederfinden, für diealso Geld in der Kasse ist und über die das Füllhorn aus-geschüttet wird. Auch das gehört zur Wahrheit.
Man muss doch erkennen, dass die Bundeswehr in ei-nem katastrophalen Zustand ist,
dass die Motivation in der Bundeswehr völlig unten istund dass das Material überwiegend in einem schlechtenZustand ist, weil es zum Teil älter ist als die Wehrpflich-tigen. Das ist doch das Problem, das wir heute bei derBundeswehr haben.
– Ich komme noch darauf zurück, Frau Kollegin Beer. ImÜbrigen glaube ich, dass Sie am wenigsten geeignet sind,an dieser Stelle dazwischenzurufen, weil Sie früher bun-deswehrfreie Zonen schaffen und den Bundeswehretat ra-dikal herunterfahren wollten.
Ich sage Ihnen Folgendes: Keiner von uns – insofernhabe ich das anerkannt, was der Generalinspekteur gesagthat –, egal, ob er heute den Regierungsfraktionen oder denOppositionsfraktionen angehört, kann sich von der Ver-antwortung freisprechen. Auch wir haben Haushalte fürdie Bundeswehr verabschiedet, von denen wir sagen müs-sen, dass sie unterfinanziert waren. Auch bei Ihnen ist dasheute der Fall. Es bringt uns aber nicht sehr viel weiter,wenn wir gegenseitig mit dem Finger auf uns zeigen. Ichwerde nachher noch etwas dazu sagen.
Was uns aber auch nicht weiterbringt, sind Beschöni-gungsreden des Verteidigungsministers.
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Oswald Metzger15188
Der Verteidigungsminister sagt, das alles seien Spekula-tionen. Es gebe keine großen Haushaltsprobleme; es gebezwar ein paar kleine Schwierigkeiten, aber ansonsten seialles bestens. Ich wundere mich allerdings darüber, dassdie Medien melden, dass sich der Verteidigungsministermit dem Bundeskanzler und mit dem Finanzminister zueinem Krisengespräch getroffen hat.
Was wurde denn da besprochen? Das müssten Sie uns ein-mal erzählen; das wäre sehr interessant.
Ich stelle fest: Der Verteidigungsminister war erneuterfolglos – deswegen wird die Bedeutung des Gesprächesabgewertet –; er lässt sich ständig vom Kanzler und vomFinanzminister demütigen und nickt das auch noch ab.
Ich muss daher sagen, dass er inzwischen zu „Rudi Ratlos“geworden ist.Ich weiß nicht, ob der Kollege Austermann das Zitat vonFrau Simonis erwähnt hat. Frau Simonis hat gesagt – dasmuss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen –:Dieses Verteidigungsministerium ist eine echte Plage.
Da weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut.
Wegen der Kürze der Zeit will ich Ihnen das ganze Zitatersparen. Der Kollege Opel verzieht schon das Gesicht,wenn ich nur den Namen Simonis erwähne.
Der Verteidigungsminister sagt nun, dass wir bei denGroßprojekten Zusatzentscheidungen brauchen. Washeißt das denn eigentlich? Darauf ist der Kollege Metzgerüberhaupt nicht eingegangen. Zusatzentscheidungenbedeuten doch, dass man mehr Geld braucht. Der Vertei-digungsminister hat aber vor den Haushaltsberatungennicht mit dem Finanzminister darüber gesprochen. Das istsein entscheidender Fehler gewesen. Er muss sich jetztquälen lassen, weil der Finanzminister zu Recht sagt: Wirhaben den Haushalt beschlossen; dabei bleibt es. Es sindentscheidende Fehler vom Verteidigungsminister ge-macht worden; darum braucht man gar nicht herumzure-den.Es besteht ein heilloses Durcheinander: Der KollegeZumkley erklärt, die Bundeswehr werde nicht mehr Geldbekommen. Der Kollege Opel fordert ein Modernisie-rungsprogramm in Höhe von etwa 50 Milliarden DM.
Wer hat nun Recht? Werden Sie sich doch erst einmal un-tereinander einig! Ihr Hauptproblem ist doch, dass Sie imBereich Verteidigung noch nicht einmal die Unterstüt-zung Ihrer Haushälter haben.Hinzu kommt ein weiterer Punkt, Herr KollegeMetzger. Sie sprechen von Reformen, die wir angeblichnicht durchgeführt haben. Ihr Fehler ist, dass Sie Folgen-des nicht bedenken: Reformen, gerade Reformen bei derBundeswehr, kosten erst einmal Geld, bevor man lang-fristig sparen kann.
Der Verteidigungsminister will aber kein Geld für die Re-formen ausgeben. Er wird also langfristig auch nicht spa-ren können.Auch wir haben Fehler gemacht. Deshalb sage ich: Wirsollten nicht gegenseitig mit dem Finger auf uns zeigen.Ich bin dafür, dass wir uns zusammensetzen – denn esgeht doch nicht um die Armee einer Regierung oder einerPartei – und uns wirklich überlegen, wie wir der Bundes-wehr helfen können.
Ich erneuere das Angebot der Freien Demokraten, mit Ih-nen darüber zu sprechen, wie wir die Bundeswehr ver-nünftig finanzieren können und wie wir eine vernünftigeReform machen können. Es ist aber leider so, dass wir ei-nen Verteidigungsminister haben, der sich da abschottet.Sie müssen Ihren Verteidigungsminister bewegen, wiedermit dem Parlament zu sprechen. Das macht er im Momentnämlich nicht. Er spricht nur mit seinem Küchenkabinett.Er redet ja nicht einmal mit Ihren Verteidigungspolitikern;das wissen wir doch inzwischen.
Wenn wir dann zusammensitzen, nehmen wir uns ein-mal den Zustandsbericht des Generalinspekteurs vor.Denn wenn wir nicht zusammen versuchen, Verteidi-gungspolitik zu machen – ich darf daran erinnern, dass,als Sie die Regierung übernommen haben, auch wirFreien Demokraten Ihrem Verteidigungsetat zugestimmthaben, weil wir wollen, dass die Bundeswehr die Armeedes ganzen Bundestages ist –, dann bleibt an dieser rot-grünen Koalition ein Etikett haften: der niedrigste Vertei-digungsetat seit vielen Jahren, aber der höchste Rüs-tungsexport seit vielen Jahren.Vielen Dank.
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Hans Georg Wagner.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Was wir heute hier er-leben, ist der Höhepunkt der Panikmache der letzten Wo-chen. Ziel der Opposition auf der rechten Seite ist,
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Jürgen Koppelin15189
die Bevölkerung, die Bundeswehr, die Bewohner und dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Donauwörth,wo der „Tiger“ hergestellt werden soll, zu verunsichernund sie im Unklaren darüber zu lassen, dass die Politikdieser Bundesregierung auch in diesen Bereichen richtigund vernünftig und für die Konsolidierung der Bundesfi-nanzen notwendig ist.Sie haben nun einmal diese Misere zu verantworten.Sie haben 1,5 Billionen DM Schulden gemacht. Sie habenverursacht, dass jährlich 82 Milliarden DM an Zinsen ge-zahlt werden müssen. Das ist ein „Erfolg“ Ihrer Politik.Wir sind sozusagen beim Ausmisten dessen, was Sie unshinterlassen haben. Das gilt auch für den Bereich der Bun-deswehr.
Wenn Sie sich an die Haushaltsdebatte im Novembererinnern, wissen Sie, dass ich Ihnen damals in Bezug aufzwei Bereiche ganz konkret gesagt habe, was Sie uns hin-terlassen haben, nämlich im Bereich der Bahn und im Be-reich der Bundeswehr. Was der Generalinspekteur gesagthat, ist eine Bestätigung dessen, was ich schon damalshier vorgetragen habe.Nun zum Haushalt selber. Sie wissen ganz genau, dassvon den 46,96 Milliarden DM, die der Haushalt des Ver-teidigungsministers, der Einzelplan 14, ausmacht, jetzt372 Millionen DM unsicher sind. Das sind genau 0,6 Pro-zent. Nun frage ich einen Haushälter, Herrn Austermannbeispielsweise: Erklären Sie mir bitte einmal, warum esbei fast 47 Milliarden DM nicht möglich sein soll, inner-halb eines Jahres 372 Millionen DM an irgendeiner Stelleumzuschichten und einzusparen! Das ist machbar und sowird es auch gemacht. Da lassen wir uns von Ihnen über-haupt nicht beirren.
Sie wissen ganz genau, Herr Kollege Rossmanith, dassder Einzelplan 14, den Sie aus der Vergangenheit – zu-mindest dem Namen nach – kennen, nun einmal anderszusammengestellt ist als bei allen NATO-Partnern. DieVersorgungslasten beispielsweise, also die Pensionen, diebei der Bundeswehr anfallen, sind bei uns im Einzel-plan 33. Wenn ich alles, was bei uns aus dem Verteidi-gungshaushalt ausgeklammert, bei den anderen Ländernaber eingeschlossen ist, zusammenrechne, dann müsstenwir den Verteidigungshaushalt nominell um 12,5 Milli-arden DM erhöhen.
Das bringt ja nichts, da es nur ein Durchlaufposten ist,aber so ist das nun einmal. 0,6 Prozent des Verteidigungs-haushaltes aufzubringen müsste in diesem Einzelplan ei-gentlich möglich sein.Hinsichtlich der Beschaffung – das hat der KollegeMetzger gesagt – müssen wir jeden Einzelfall betrachten.Auch mich hat es irritiert, dass es plötzlich hieß, wirbräuchten den „Tiger“ nicht mehr. Vor ein paar Monatenhat man uns noch eingetrichtert, man bräuchte ihn unbe-dingt, und nun heißt es, das sei eine Fehlmeldung gewe-sen. Frage: Wer setzt solche Fehlmeldungen eigentlich indie Welt?Um das Bild einmal abzurunden: Gestern ist zum Bei-spiel im Haushaltsausschuss das Besoldungsanpassungs-gesetz beschlossen worden. Darin war eine Regelung ent-halten, dass für die Soldaten der Bundeswehr derBesoldungsstufen A 1 bis A 9 viermal 100 DM zusätzlichaufgebracht werden sollen. Das hat die CDU/CSU abge-lehnt.
Ich frage Sie: Wie können Sie auf der einen Seite die Bun-desregierung beschimpfen, wenn Sie auf der anderenSeite dann, wenn die Koalition konkret etwas für die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundeswehr, fürdie Soldatinnen und Soldaten tun will, dieses ablehnen?
Das ist nicht verständlich und nicht mehr nachvollziehbar.
ZumThema „Überkipper“ müssen Sie ganz ruhig sein.Sie gehen doch genauso wie ich in die Betriebe. Dannmüssen Sie sich in den Betrieben auch einmal erkundi-gen. Dass die Betriebe vorfinanzieren, liegt nur daran,dass wir zurzeit günstige Zinsen haben. Wenn die Rüs-tungskonzerne also in der Hoffnung auf weitere Aufträgezunächst einmal darauf verzichten, dass die Rechnungenbezahlt werden, dann entstehen diese „Überkipper“. Dasist gar nichts Neues, sondern eine von Ihnen übernom-mene unrühmliche Geschichte. Das bezeichne ich des-halb so, weil ich meine, dass das irgendwann beseitigtwerden muss und die Rechnungen so bezahlt werdenmüssen, wie es dem Haushaltsjahr entspricht. Allerdingskommt hinzu, dass die Firmen oftmals – das wissen Sieauch – nicht in der Lage sind, Rechnungen rechtzeitig zustellen, sodass die Rechnungen erst im Januar oder Fe-bruar kommen.Nun noch wenige Sätze zu der 1 Milliarde DM. Wel-cher Makler dieser Welt wäre in der Lage, innerhalb einesSechstels eines Jahres, also nach zwei Monaten, bereitsdie volle Summe, die zum Jahresende veranschlagt ist, zuerzielen? Nicht ein einziger Makler! Auch die CDU/CSUwäre nicht in der Lage, die Grundstücke in den ersten bei-den Monaten zu verkaufen.
Sie müssen bewertet und angeboten werden, sie müssenin die kommunalen Planungen hineinpassen und dannmuss man sehen, wie das Geld eingeht. Ich bin mir abso-lut sicher, dass wir diese 1 Milliarde DM erreichen und,wenn der Verkauf ohne Störungen abgeht, sogar übertref-fen werden. Dann werden auch alle Probleme, die Sie in
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Hans Georg Wagner15190
den letzten Wochen panikartig verbreitet haben, vomTisch sein.Ich sage an dieser Stelle noch einmal, was ich schon inder Haushaltsdebatte gesagt habe: Bundesverteidigungs-minister Rudolf Scharping kann sich auf die Solidaritätder Haushälter der Koalition verlassen.
Wir werden mit ihm gemeinsam die Probleme lösen, dieSie verursacht haben.
Das Wort
hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Paul Breuer.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! BundesverteidigungsministerScharping ist gestern in die Vereinigten Staaten geflogen.Ich frage mich, was er unserem Hauptverbündeten in denVereinigten Staaten eigentlich im Hinblick auf die deut-sche Leistungsfähigkeit in der Außen- und Sicherheits-politik erzählen kann.
Er müsste, wenn er ehrlich wäre, sagen, dass Deutschlandin der Zukunft nicht dazu in der Lage sein wird, den Bei-trag zu erbringen, der notwendig ist, um den euro-atlan-tischen Raum sicher zu halten. Das ist die traurige Wahr-heit.
Die außen- und sicherheitspolitische Konsequenz des-sen,
was hier stattfindet, ist genau das, was wir unseren Mit-bürgern vermitteln müssen. Der Kollege Klose, Vorsit-zender des Auswärtigen Ausschusses des DeutschenBundestages, hat vor wenigen Wochen von dieser Stelleaus gesagt: Wir müssen unseren Mitbürgern erklären,dass die Zeit, in der man Friedensdividenden verteilenkonnte, vorbei ist und die Verteidigungshaushalte in Eu-ropa und speziell in Deutschland in Zukunft steigen müs-sen, damit wir unserer Verantwortung gerecht werdenkönnen. Herr Klose hat Recht, aber die Sozialdemokra-ten haben nicht verstanden – und die Grünen schon garnicht –, was er damit meinte.
Meine Damen und Herren, wir leben nicht auf der In-sel der Glückseligen. Die Spannungen, die Instabilitäten,die Kriege rund um unseren Kontinent sind jeden Tag fürjeden Bürger auf dem Bildschirm sichtbar. Wer hier inDeutschland nicht fähig ist, zur Kenntnis zu nehmen,dass es unerlässlich ist, in der Untermauerung einer Si-cherheits- und Außenpolitik auch militärisch eigeneBeiträge zu Stabilität und Stabilisierung zu erbringen, ver-sagt in der Politik. Ich mache der Koalition den Vorwurf,dass sie absolut versagt, was Vorsorgepolitik angeht.
Herr Kollege Wagner, Sie sagten, Herr Scharpingkönne sich auf die Solidarität der Haushälter der Koali-tion verlassen.
Dazu sage ich Ihnen: Lesen Sie den Kommentar in der„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ von heute, der mit„Lippenbekenntnisse“ überschrieben ist. Dort heißt es:Der Verteidigungsminister weiß schon länger, was esheißt, wenn der Bundeskanzler und der Finanzminis-ter ihm „kurz und kollegial“ ihre Unterstützung fürden Umbau der Bundeswehr zusichern: Er bekommtkein Geld.Das ist die Solidarität, die Sie hier versichern. Diese Soli-darität ist keinen Schuss Pulver wert. Das sage ich Ihnenganz deutlich.
Ich bin davon überzeugt, dass die eigentliche Proble-matik in Folgendem besteht: Der Verlust des außen- undsicherheitspolitischen Renommees Deutschlands, die Ge-fahr für die Sicherheit unserer Soldaten im Einsatz ist derMehrheit der Kollegen in der SPD-Bundestagsfraktioneigentlich Wurscht. Da liegt das Problem in der deutschenVerteidigungspolitik.
Was die Grünen angeht, so bin ich davon überzeugt,Herr Kollege Metzger, dass es in Ihren Reihen eine großeMehrheit gibt, die sich darüber freut, dass die Bundes-wehr gegen die Wand gefahren wird.
– Das ist so.Die Wurschtigkeit in der SPD und das politische Wol-len bei den Grünen, die Bundeswehr an die Wand zu fah-ren, sind das eigentliche Problem.
Die scharpingsche Reform ist vor diesem Hintergrundnicht mehr als ein potemkinsches Dorf. Es ist nicht mög-lich, die Bundeswehr mit einer fallenden Finanzlinie zureformieren und zu modernisieren.
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Hans Georg Wagner15191
Wenn Sie nicht verstehen, dass das nicht geht, dann wirdHerr Scharping natürlich scheitern.
Ich bin aber davon überzeugt, dass Ihnen auch dasWurscht ist.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Kurt Palis.
Herr Präsident! Meine liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Im Vordergrund der öffentlichenDiskussion um den Verteidigungshaushalt dieses Jahressteht naturgemäß die Frage, ob der im Einsatz sowie beider Ausbildung und bei den Übungen erforderliche Mate-rial- und Ausrüstungsaufwand ausreichend finanziert wer-den kann. Davon hängt viel ab. Mein Kollege Zumkleyund der Staatssekretär haben das Erforderliche dazu ge-sagt, ebenso unser haushaltspolitischer Sprecher.Wir sollten aber auf gar keinen Fall übersehen, dass dasgrößte Gut der Streitkräfte Menschen sind, wie wir sie ha-ben, Menschen, die zuverlässig ihren Dienst erfüllen. DieBundeswehr benötigt für eine erfolgreiche Auftragserfül-lung motivierte und leistungsbereite Soldatinnen und Sol-daten ebenso wie qualifiziertes und engagiertes Zivilper-sonal. Noch haben wir diese Menschen und wir habenAnlass, ihnen für ihren täglichen Einsatz zu danken, ins-besondere den Soldatinnen und Soldaten, die heimatfernihre Pflicht erfüllen müssen.
Wir wollen den Leistungswillen und die Einsatzbereit-schaft der Menschen bei der Bundeswehr erhalten und för-dern. Deshalb halte ich es für geboten, Ihnen, meine Damenund Herren, noch einmal in Erinnerung zu rufen, welcheMaßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Dienstesvon der Bundesregierung beschlossen wurden und von denKoalitionsfraktionen mitgetragen werden. Wenn ich dieseStichworte hier noch einmal nenne, so spiegelt das gleich-zeitig wider, was in der Regierungszeit von CDU/CSU undF.D.P. versäumt wurde und liegen geblieben ist.Ich nenne als erstes Stichwort die Qualifizierungsof-fensive: In Zusammenarbeit mit der Wirtschaft wird dasAngebot an beruflicher Qualifizierung erweitert. Insbe-sondere ausscheidenden Soldaten wird eine breite Paletteberuflicher Qualifizierungsmöglichkeiten angeboten.Als Weiteres nenne ich die Planstellenanhebung fürUnteroffiziere und Offiziere des militärfachlichen Diens-tes, die Besoldung der Einheitsführer mindestens nachA 12, die Neuordnung der Unteroffizierslaufbahn
– ich verstehe Ihre Unruhe, weil das alles ein Sündenre-gister dessen ist, was in der Vergangenheit liegen geblie-ben ist –,
die Schaffung eines gestaffelten Wehrsolds für freiwilliglänger Dienst Leistende, die Anhebung der Eingangsbe-soldung für Mannschaften auf A 3
und den Abbau personeller Überhänge.Nun wird natürlich von den für diese Aktuelle StundeVerantwortlichen die Frage gestellt: Wie wird das allesfinanziert?
Bereits im vergangenen Jahr haben wir 1 500 zusätzlicheBeförderungsmöglichkeiten für Mannschaften, Unteroffi-ziere und Offiziere geschaffen.
In diesem Jahr profitieren die Mannschaftssoldaten im Bal-kaneinsatz von 1 500 neuen Möglichkeiten der Beförde-rung zum Hauptgefreiten. Zusätzlich können 1500 hoch-wertige Offizier- und Unteroffizierdienstposten für dieFörderung qualifizierter Soldaten genutzt werden. ZivileMitarbeiter können durch Stellenanhebungen im mittlerenund gehobenen Dienst aufgabengerecht entlohnt werden.Die Vorbereitung der gesetzlichen Regelung für wei-tere Besoldungsverbesserungen, wie zum Beispiel die Be-soldung der Kompaniechefs nach A 12 und die Anhebungder Eingangsbesoldung auf A 3 sowie die Auflösung desBeförderungs- und Verwendungsstaus, den wir von Ihnenübernommen haben, ist abgeschlossen. Diese Verbesse-rungen setzen die Kabinettsbeschlüsse zur Bundeswehr-reform konsequent um. Die Abstimmung innerhalb derBundesregierung ist eingeleitet.Es sind Vorkehrungen getroffen worden, um struktu-relle Personalüberhänge abzubauen und den damit ein-hergehenden Verwendungs- und Beförderungsstau auf-zulösen. Nach Einführung der erforderlichen gesetzlichenRegelung können wir die für 2001 vorgesehenen Besol-dungsverbesserungen für Kompaniechefs und Spitzen-dienstgrade der Unteroffiziere erreichen.Die Rückführung der Zahl ziviler Mitarbeiter soll undwird in einem mittel- bis langfristigen Prozess geschehen,indem im Wesentlichen die normale Fluktuation genutztwird. Dass es in diesem Abschmelzungsprozess betriebsbe-dingte Kündigungen nicht geben wird, haben der Verteidi-gungsminister und der Bundeskanzler ausdrücklich zuge-sagt, wie Sie wissen. Die Verhandlungen zur Vereinbarungeines Tarifvertrages zur sozialverträglichen Ausgestaltungdes Reduktionsprozesses haben begonnen. Wir erwarten imInteresse der zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einezügige Verhandlungsführung und einen baldigen Ab-schluss.
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Paul Breuer15192
Meine Damen und Herren, Sie sehen, dass wir uns umdie berechtigten Interessen kümmern. Die Menschen derBundeswehr verdienen dies, und zwar umso mehr, als siein den nächsten Monaten und Jahren nicht nur ihren nor-malen Dienst werden verrichten müssen, sondern gleich-zeitig die erforderlichen Reformschritte vollziehen müssen.Wir werden sie dabei verantwortlich unterstützen. Hel-fen auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposi-tion, dabei mit! Beenden Sie vor allem die taktischen Auf-geregtheiten, die sich ja auch in der Beantragung dieserAktuellen Stunde ausdrücken! Sie erzeugen bei den Bun-deswehrangehörigen und ihren Familien mutwillig, abergrundlos Verunsicherung. Das haben diese nicht verdient.
Ich gebe
dem Kollegen Hans Raidel für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Wenn man die bisherigeDebatte zusammenfassend betrachtet, muss man feststel-len: Man kommt sich vor wie in einer Märchenstunde,wenn man all das hört, was seitens der Regierungskoali-tion gesagt worden ist. Bezieht man das Gesagte nur aufden Haushalt bzw. auf die Haushaltsgrundsätze, ist zu be-tonen: Wahrheit und Klarheit kommen in diesem Haushaltabsolut zu kurz. Sonst müssten diese Risiken gar nicht sobeschrieben werden, wie sie von der Führung des Hausesbeschrieben worden sind. Denn dann wäre ja das notwen-dige Geld vorhanden.Da ständig bestritten wird, dass das so ist, möchte ichmit der Erlaubnis des Präsidenten aus dem Schriftverkehrdes Verteidigungsministeriums zitieren. Hier heißt esganz einfach, die Situation sei außerordentlich ange-spannt, insbesondere angesichts des frühen Zeitpunktesim Jahr und der Gesamtentwicklung. Hier habe sich übereinen längeren Zeitraum ein zusätzlicher Bedarf aufge-baut, der mit den normalen Steuerungsmaßnahmen desHaushaltsvollzuges nicht mehr bewältigt werden könne.
Herr Wagner beschreibt hier eine völlig andere Situa-tion und Herr Metzger spricht in seiner bekannten Lyriküber diese Themen. Eigentlich muss man ihm dankbardafür sein, dass er endlich einmal das grüne Herz ausge-schüttet hat und wir endlich wissen, wo Rot-Grün, insbe-sondere Grün, tatsächlich in Sachen Verteidigung steht.Die Wahrheit ist: Sie haben für diese Dinge nichts übrig.
Ich sage Ihnen eines: Sicherheit nach Kassenlage gibt esnicht. Erst muss das stehen, was wir zur Sicherheit insge-samt brauchen, national und international, und dafür mussdas notwendige Geld gegeben werden – und nicht umge-kehrt.Lassen Sie mich das am Beispiel der Luftwaffe erläu-tern. In diesem Bereich fehlen, wie von den Fachleuten imHause erarbeitet wurde, rund 218 Millionen DM. Dazuheißt es: Bei Nichtverfügung dieser Mittel können Er-satzteile nicht beschafft werden, können logistische Be-treuungsleistungen nicht beauftragt werden, können In-standsetzungen, Inspektionen etc. nicht verfügt werden,können Materialerhaltungsmaßnahmen nicht mehr durch-geführt werden.Im Grunde genommen ist dies eine Bankrotterklärung.Deswegen musste die Luftwaffenführung eine Reduzie-rung des der NATO zugesagten Assignierungsumfangesvorschlagen, mit der Folge, dass Luftfahrzeuge stillgelegtund Einsatzbesatzungen zeitweilig in einen Übungshalte-status versetzt werden – nur, um Geld zu sparen! Damitwird es nicht möglich sein, unsere Verpflichtungen ge-genüber der NATO – möglicherweise auch gegenüber derEU, der UN und der OSZE – zu erfüllen.Und was ist die Folge? Schauen Sie es sich doch an:Viele Piloten der Luftwaffe verlängern ihre Verträgenicht, sondern gehen in die zivile Luftfahrt, einfach weilein Verbleiben in der Bundeswehr unattraktiv gewordenist; Lehrgänge können nicht besetzt werden, weil die qua-lifizierten jungen Leute nicht mehr bei der Luftwaffe Pi-lot werden wollen. Das zeigt, dass der Zustand der Luft-waffe besorgniserregend ist.
Aber bei den anderen Truppenteilen ist es nicht anders.
Wir haben deshalb gefordert: Der Minister muss mitdem Bundeskanzler und mit dem Finanzminister spre-chen, damit er das notwendige Geld bekommt. Weil unsimmer unterstellt wird, wir würden dieses Thema nurpolemisch abhandeln, will ich Ihnen aus einem Kommen-tar zitieren, der heute in der „Augsburger Allgemeinen“– eine sicherlich unverdächtige Quelle – erschienen ist:Scharping hat die Chance ungenutzt verstreichen las-sen. Nach dem Gipfeltreffen mit Schröder undEichel blieb ihm nur der geordnete Rückzug. ...Scharping wird so mehr und mehr zur tragischen Fi-gur. Er kann aus der Haut des braven Parteisoldatennicht heraus. Das aber ist zu wenig und falsch. DieBundeswehr braucht einen Fürsprecher im Kabinett,einen Kämpfer, der notfalls für die Interessen derSoldaten einen Konflikt mit dem Finanzminister ris-kiert. Scharping dagegen redet die Probleme klein,beschönigt und wiegelt ab. Ihm persönlich nützt dasnichts und der Bundeswehr schadet es. Auf demSpiel stehen der Ruf der Bundesrepublik und ihreGlaubwürdigkeit auf dem internationalen Parkett.Das ist eine kurz zusammengefasste Beschreibung dertatsächlichen Situation. Sie aber kommen daher und wol-len uns ein Märchen erzählen über den Zustand unsererArmee und über die Sicherheitslage. Ich fordere Sie vonhier aus auf, sich mit dem Kanzler und dem Finanzminis-ter zusammenzusetzen und gemeinsam das notwendigeGeld zu erstreiten. Es kann nicht sein, dass sich der
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Kurt Palis15193
Bundeskanzler hinstellt und in seiner bekannten Artsagt:
„Ich lassen keinen im Regen stehen!“, aber er jeden imRegen sitzen lässt. So kann man nicht Politik betreiben.
Als letzter
Redner in dieser Aktuellen Stunde spricht nun für die
SPD-Fraktion der Kollege Gerd Höfer.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Das einzig Positive – wennman es überhaupt positiv nennen kann –, was der Oppo-sition gelungen ist,
ist, die Presse von einer Suppe zu überzeugen, zusam-mengerührt aus einer Tatsache, aus vielen Spekulationen,Unterstellungen, Verleumdungen und aus Fragen, die vonAltlasten herrühren. Zukunftsfragen sind damit ebenfallsverbunden worden.
– Ich werde das gleich durchdeklinieren; aber vorhermöchte ich den Kollegen Breuer bitten, sich bei der SPD-Fraktion in diesem Hause zu entschuldigen. Es kann dochwohl nicht wahr sein, dass Sie, Herr Breuer, sich hier hin-stellen und sagen, die Sicherheit unserer Soldaten sei unsWurscht.Wer hat denn, beginnend in der letzten Legislaturperi-ode, gepredigt, es müsse ein Schutzkonzept her, die Be-schaffungsmaßnahmen der Bundeswehr müssten sich amSchutz der Soldaten orientieren? Wer hat denn den M 113angeschafft, der noch nicht einmal richtig schwimmenkann, der wie Zunder brennt und durch den man mit demGewehr hindurchschießen kann? Wer hat denn für dasAllzweckfahrzeug gesorgt?
Wie ist es denn gekommen, dass diese Dinge so verändertworden sind? Warum wurde mit Splittersicherheit nach-gerüstet usw.? Alle diese Dinge haben doch etwas mit demSchutz unserer Soldaten zu tun. Glücklicherweise habenwir das meiste praktisch gemeinsam gemacht. Ich finde esunerhört und erbärmlich, dass man zu solchen Mittelngreift, um eine Partei auf dem Rücken der Soldaten zudiskreditieren. Wie wollen Sie das überhaupt verantwor-ten?
Die einzige Tatsache, die Sie hier angeführt haben, ist,dass die Inspekteure in Zusammenarbeit mit dem Gene-ralinspekteur festgestellt haben, dass 380 Millionen DMfür den Unterhalt der Fahrzeuge fehlen. Die Haushaltsex-perten unserer Partei haben gesagt, dass diese Mittel ausdem Kapitel 14 03 erwirtschaftet werden können und0,6 Prozent des Gesamthaushalts ausmachen.
Die Frage, wie das gemacht werden soll, wurde also be-antwortet. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
Dann haben Sie, um weitere Verunsicherung in dieTruppe zu bringen, locker verbreitet, der „Tiger“ werdenicht gebaut, es könnten 25 000 Wehrpflichtige nicht ein-gezogen werden. Das alles haben Sie durch die Zeitungenverbreiten lassen. In der Regel macht man das so – das istnichts Neues –, dass man das mit einer Frage verbindet,die man gleich selber beantwortet, indem man sagt: Wenndas so kommt, ist das für die Bundeswehr nicht gut; dieSozialdemokraten gehen mit der Bundeswehr nicht gutum.
Das sind Dinge, die Herr Scharping schon seit zweiJahren sagt – nur hat das damals nicht für Aufregung ge-sorgt –: dass die Bundeswehr zurzeit nicht zu 100 Prozenteinsatzfähig ist, gemessen an den Aufgaben und Ver-pflichtungen, die Sie nicht eingegangen sind, zu denen Siepraktisch nicht die Vision und auch nicht die Courage hat-ten. Es ging zum Beispiel darum, der EU zu helfen undeine Einsatztruppe zu schaffen. Der Generalinspekteurhat gesagt, das habe man erst in dem Prozess der Vorbe-reitung auf Nizza entwickelt. Diese Truppe müsse aufge-stellt, umorganisiert, angeboten werden. Da diese Truppenoch nicht stehe, hat der Generalinspekteur gesagt, sei dieBundeswehr nur in diesem Bereich noch nicht zu 100 Pro-zent einsatzfähig. Aber Herr Breuer neigt ja zum kogniti-ven Umstrukturieren und macht daraus: Die gesamteTruppe ist in allen Aufgabenspektren nicht einsatzfähig.Er stellt das einfach in der Öffentlichkeit so fest, widerbesseres Wissen. Das ist das, was aus den Äußerungen desGeneralinspekteurs bewusst herausgelesen und kognitivumstrukturiert worden ist. Den anderen – unparlamenta-rischen – Ausdruck möchte ich nicht benutzen.Weiterhin beschönigen Sie das, was Altlasten waren.Hat es schon einmal jemand fertig gebracht, ein neuesFlugzeug zu bestellen, das Jägeraufgaben wahrnehmensoll, aber keine Bewaffnung hat? Hat es schon einmal je-mand fertig gebracht, ein solches Flugzeug zu bestellen,das noch nicht einmal über einen Eigenschutz verfügt, so-dass es hinterher nachgerüstet werden muss?
Wir waren aus völlig anderen Gründen dagegen.
Wir hatten doch Recht gehabt, Hans Raidel, als wir gesagthaben: Der Eurofighter wird wesentlich mehr kosten, alsim Haushalt jemals vorgesehen war. Den Betrag, um den
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Hans Raidel15194
es wegen fehlender Bewaffnung und fehlenden Eigen-schutzes sowie anderer zusätzlicher Dinge teurer gewor-den ist, müssen wir jetzt abarbeiten.Nun kommen Sie mir ja nicht wieder mit dem Spruchvon Frau Matthäus-Maier, wie viele Kindergärten man füreinen Eurofighter bauen könnte. Das kennen wir schon.
Zu dem Punkt Altgerät und Kannibalisierung sagen Siemir doch bitte einmal, was Sie in den 16 Jahren Ihrer Re-gierungszeit für das Heer an modernem neuen Gerät– außer der Panzerhaubitze 2000 und möglicherweiseDienstwagen, die 20 Jahre laufen müssen – für die Kom-mandeure angeschafft haben! Sagen Sie es uns einmal!Und dann wundern Sie sich, dass hinterher kannibalisiertwerden muss, weil Ersatzteilserien ausgelaufen sind?
Wir dürfen hier jetzt aufräumen und Sie werfen uns vor,dass wir solch altes Gerät übernommen haben. Das Ein-zige, was Sie uns vorwerfen können, ist, dass wir so doofsind und uns darum kümmern, diese Missstände abzu-bauen. Das ist teuer genug.Zusätzlich vermengen Sie das mit der Zukunft, zumBeispiel mit dem Aufklärer. Aber lieber Gott, wer hat esdenn erfunden? Dazu, dass die Bundesrepublik zusammenmit anderen Nationen Aufklärung betreiben will, ist immergesagt worden: Das nützt auch den anderen. 50 Prozentkommen aus dem Verteidigungshaushalt und 50 Prozentaus anderen Haushalten. Das ist alles nichts Neues.Sie vermischen also allein aus parteipolitischem Kal-kül Dinge, die nicht zusammengehören. Dies hilft nie-mandem und schadet der Bundeswehr sowie den Solda-ten. Durch diese Verunsicherung werden Sie nicht zumehr Stimmen kommen.
Die AktuelleStunde ist damit beendet.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b so-wie Zusatzpunkt 6 auf.5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-serung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Ge-walttaten und Nachstellungen sowie zurErleichterung der Überlassung der Ehewoh-nung bei Trennung– Drucksache 14/5429 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. MariaBöhmer, Maria Eichhorn, Ilse Falk, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSUAnkündigungen zur Bekämpfung von Gewaltgegen Frauen umsetzen– Drucksache 14/5093 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Kultur und MedienZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten PetraBläss, Monika Balt, Maritta Böttcher, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der PDSFrauenrechte sind Menschenrechte – Gewaltgegen Frauen effektiver bekämpfen– Drucksache 14/5455 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Das Haus ist einverstanden; dann istdies so beschlossen.Bevor wir in die Debatte eintreten, darf ich die Kolle-ginnen und Kollegen, die an der jetzt folgenden Debattenicht teilnehmen möchten, bitten, ihre Gespräche in derLobby fortzusetzen.Ich eröffne die Aussprache und gebe der Bundesjustiz-ministerin, Frau Dr. Herta Däubler-Gmelin, das Wort.Dr. Herta Däubler-Gmelin,Bundesministerin der Jus-tiz: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute ist der 90. Internationale Frauentag. Ich finde essehr gut, dass wir ausgerechnet heute mit den parlamen-tarischen Beratungen über das Gewaltschutzgesetz begin-nen, das wir Ihnen vorgelegt haben. Sie wissen, Gewaltgegen Frauen ist in unserer Gesellschaft leider immernoch ein großes Problem.Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionenhaben sich vorgenommen, die Bekämpfung der Gewalt inunserer Gesellschaft zu einem Schwerpunkt ihrer Politikzu machen. Wir tun das – wie ich glaube – auch mit be-reits durchaus feststellbarem großen Erfolg. Wir sind derAuffassung, dass auch die Bekämpfung der häuslichenGewalt zu diesem Bereich gehört. Deswegen haben wir– übrigens auch mit Unterstützung jedenfalls eines Teilsder Opposition – das Gesetz zur Ächtung der Gewalt inder Erziehung verabschiedet, das im November 2000 inKraft treten konnte. Leider Gottes hat die größte Opposi-tionsfraktion dem nicht zugestimmt, was wir sehr bedau-ern, weil wir nach wie vor davon ausgehen, dass die Ge-waltbekämpfung und gerade auch die Bekämpfung derhäuslichen Gewalt ein gemeinsames Anliegen des Deut-schen Bundestages sein sollte.
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Gerd Höfer15195
Deswegen drängen wir so darauf, dass der Bund und auchdie Länder ihre Verantwortung erkennen und in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zusammenarbeiten, wenn es umdie Bekämpfung häuslicher Gewalt geht.Was bringt nun dieses neue Gewaltschutzgesetz? Esbringt eine ganze Reihe zusätzlicher Schritte in RichtungSchutz und Hilfe für Frauen, die geschlagen wurden, dasheißt, Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind. Diesegeprügelten und geschlagenen Frauen sollen erfahren,dass sie gegen häusliche Gewalt nicht nur den Schutzdes Rechts auf ihrer Seite haben, sondern dass ihnengerade auch Polizei und Gerichte in solch schwierigenLagen helfen. Wir alle wissen, liebe Kolleginnen und Kol-legen, dass genau das erforderlich ist; denn jedes Jahr– man höre und staune – müssen in unserem Land, dassich so viel darauf einbildet, etwas für Frauen zu tun, etwa45 000 Frauen mit ihren Kindern Zuflucht im Frauen-haus suchen.Wir wissen auch, dass dies nicht das gesamte Ausmaßaufzeigt. Die Grauzone in diesem Bereich reicht sehr vielweiter, weil eine große Zahl geprügelter und geschla-gener Frauen nicht ins Frauenhaus gehen kann, da sie dortkeine Unterkunft und Zufluchtsmöglichkeit findet. DieseFrauen müssen bei ihren Verwandten oder Freunden zu-mindest vorübergehend Schutz suchen. Sie muss manebenfalls berücksichtigen. Wie groß die Grauzone wirk-lich ist, wissen wir nicht genau. Ich bin meiner KolleginBergmann sehr dankbar, dass sie mithilfe eines Gutach-tens versuchen will, diese Dunkelziffer deutlich zu ma-chen und die Grauzone weiter aufzuhellen.Wir alle sind uns einig: Es ist gut, dass es Frauenhäu-ser gibt. Wir müssen diese Einrichtungen unterstützen, so-weit wir das persönlich noch nicht tun. Wir müssen all de-nen, die dort arbeiten, gerade heute unseren herzlichenDank aussprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es eigentlich rich-tig und vernünftig, so fortzufahren wie bisher? In einerFamilie wird eine Frau geschlagen und trotzdem mutenwir es der Frau, die Opfer häuslicher Gewalt geworden ist,zusätzlich zu dieser Schmach und den Schmerzen zu, dasssie diejenige ist, die die Wohnung verlassen und Schutzsuchen muss, egal, ob bei Bekannten oder in einem Frau-enhaus. Ich sage: Das ist weder richtig noch gerecht undvernünftig ist es schon gar nicht.
Deswegen legen wir diesen Gesetzentwurf vor, dernach dem Motto verfährt: Der Schläger geht und die Ge-schlagene bleibt. Wir handeln hier nach dem österreichi-schen Vorbild. Dessen Maßnahmen haben uns deutlichgemacht, dass es Änderungsmöglichkeiten gibt, dass manhelfen kann und dass sich das Verhalten prügelnder Män-ner beeinflussen lässt. Genau das haben wir vor.Deshalb legen wir diesen Gesetzentwurf heute in dieHände des Deutschen Bundestages und bitten Sie, liebeKolleginnen und Kollegen, gemeinsam mit uns die Bera-tungen sehr zügig und schnell zu einem guten Ende zubringen. Wir möchten gern, dass die fünf wesentlichenVerbesserungen sehr bald den Opfern häuslicher Gewaltzugute kommen können:Wir wollen erreichen, dass die Opfer einer häuslichenGewalttat den Anspruch auf die alleinige Nutzung der bis-lang mit dem prügelnden Täter gemeinsam genutztenWohnung bekommen. Dieses Nutzungsrecht soll auchdann gelten, wenn bisher der Täter derjenige war, der denMietvertrag unterschrieben hat, oder wenn er alleinigerEigentümer ist. Wir möchten gern, dass auch in solchenFällen die Wohnung – jedenfalls für eine gewisse Zeit –der Frau und, falls vorhanden, den Kindern überlassenwird. Diese Frist kann sechs Monate betragen. In Aus-nahmefällen kann sie bis zu einem Jahr dauern. Währenddieser Zeit muss die Frau die Möglichkeit haben, eine an-dere Unterkunft zu suchen.Maßnahmen müssen getroffen werden, mit denen er-reicht werden kann, dass die prügelnden Männer verste-hen, dass sie Unrecht getan haben. Ihnen soll dabei ge-holfen werden, ihre Verhaltensmaßstäbe und ihr Verhaltenzu verändern. Auch in diesem Punkt war uns Österreichein gutes Vorbild. Man kann es schaffen.Wir können solche Maßnahmen nicht alle in unserBundesgesetz aufnehmen, weil die Zuständigkeit zumTeil bei den Ländern liegt. Ich appelliere an die Länder,gemeinsam mit uns dieses Projekt insgesamt zum Erfolgzu bringen.
Das neue Gesetz soll außerdem die Möglichkeit schaf-fen, weitere Schutzanordnungen zu treffen. Das istwichtig, und zwar deshalb, weil uns die Frauen häufig sa-gen, sie haben Angst, dass der prügelnde Mann in dieWohnung zurückkommt, sie an ihrem Arbeitsplatz auf-sucht, auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz bedrängt, aufirgendeine Weise einen persönlichen Kontakt herbeiführtund sie weiter belästigt, bedroht oder sogar schlägt oderauf andere Art Kontakt aufnimmt, sei es auch durch Tele-fonterror.In all diesen Fällen soll das Gericht eine so genannteSchutzanordnung erlassen können, die wir, wie auch dieWegweisungsanordnung aus der Wohnung, mit Strafe be-wehren. Das heißt auf Deutsch: Wenn sich der Schlägernicht daran hält, obwohl ein Richter gesprochen hat, kanner bestraft werden. Wir setzen hier eine Geld- oder Frei-heitsstrafe bis zu einem Jahr als Strafrahmen fest.Wir tun mit diesem Gesetz aber noch mehr. Wir sagen:Es darf nicht gewartet werden, bis es zu Prügeln und Ver-letzungen kommt. Wir möchten, dass Richter auch dannmit einer Schutzanordnung eingreifen können, wenn„erst“ Drohungen vorliegen, das heißt, wenn noch keineSchläge, noch keine Prügel, aber schon Drohungen er-folgt sind. Für solche Fälle schaffen wir die Grundlage fürSchutzanordnungen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir gehen noch ei-nen Schritt weiter – bisher haben wir über Gewalt undPrügel innerhalb einer Partnerschaft, ob nun Ehe oder Le-bensgemeinschaft, gesprochen – und erfassen auch jeneFälle, von denen wir unter dem Begriff „stalking“ immerhäufiger in der Presse lesen. Hier liegt keine Beziehung,
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Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin15196
keine Partnerschaft vor. Entweder gibt es eine eingebil-dete Beziehung oder den so genannten Liebeswahn, dasheißt, jemand bildet sich ein, er hätte irgendein Recht aufirgendeinen Menschen – das kann ein Mann oder eineFrau sein – und damit aus enttäuschter oder eingebildeterLiebe auch das Recht, ihn zu terrorisieren und zu belästi-gen.Das kann sogar noch weiter gehen und seinen Nieder-schlag in Dauerbelagerungen am Telefon finden oderauch dazu führen, dass jemand die Haustür seines armenOpfers eintritt. Die Polizei, die dann dazukommt, kann insolch schweren Fällen etwas machen. Aber sie kann nichtsunternehmen, wenn die ständigen Belästigungen und Be-lastungen auf eine Art erfolgen, von der wir heute sagenmüssen: Es ist noch nichts passiert, es hat noch keine Prü-gel gegeben. Auch mit dieser Form von Belästigungenmuss Schluss sein. Wir wollen hier den Richterinnen undRichtern die Möglichkeit geben, durch eine Anordnungsolche Belästigungen zu unterbinden, damit das Opfersolche Formen von Belästigungen und Vorstufen körper-licher Gewalt oder Bedrohung nicht mehr dulden muss.Das werden wir nicht mehr zulassen und dafür setzen wirStrafen fest.
Nun wissen wir, dass der Bund nur die zivilgerichtlicheSeite regeln kann. Ich habe schon erwähnt, dass auch alsErgänzung das polizeiliche Einschreiten gewährleistetsein muss, was nur die Länder regeln können. Ich bindafür dankbar, dass es in einigen Städten schon den einenoder anderen sehr erfolgreichen Modellversuch gibt. Esist gut, dass die Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die wir an-geregt haben, derzeit ihren Abschlussbericht vorlegt, indem vorgeschlagen wird, das Musterpolizeigesetz zu er-gänzen, um die Klarheit zu schaffen, dass die Polizei hel-fen will.Mein Appell geht heute, am Internationalen Frauentag,nicht nur an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Be-ratungen schnell zu einem guten Ende zu bringen, sondernauch an die Länder, gemeinsam mit uns dazu beizutragen,dass sich Frauen in diesem Lande sicherer fühlen und er-fahren können, dass sie den Schutz des Rechts auf ihrerSeite haben.Herzlichen Dank.
Ich bitte nun
um besondere Aufmerksamkeit für den einzigen männli-
chen Redner in dieser Debatte.
Es spricht der Kollege Ronald Pofalla für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich will den Appell der Bun-desjustizministerin an die Mitglieder des Deutschen Bun-destages aufgreifen. Frau Ministerin, ich kann Ihnen zusi-chern: Wir sind genauso wie Sie an einer schnellen Bera-tung und nach Möglichkeit auch an einer gemeinsamenVerabschiedung interessiert.Ich glaube allerdings – ich werde auf einzelne Punktegleich eingehen –, dass wir im Rahmen einer Anhörung zudiesem Gesetzentwurf zu der einen oder anderen StelleVertreter der Praxis hören sollten, um vielleicht eine nochfeinere Ausjustierung bestimmter Regelungen vornehmenzu können. Ich versichere Ihnen aber, dass wir Ihr Anliegen,häusliche Gewalt als etwas, was nicht geht, darzustellen,für richtig halten und dass auch die Rechtsfolgen, die derGesetzentwurf vorsieht, unsere Unterstützung finden.
Ich glaube, es bedarf keiner besonderen Anmerkung,dass jede Form von Gewalt vom Deutschen Bundestagund seinen Fraktionen abgelehnt wird und wir das in derVergangenheit durch eine Reihe von Gesetzesinitiativendeutlich gemacht haben. Der private Bereich – das wirdfälschlicherweise von vielen so verstanden – ist keineZone einer reuelosen Gewaltanwendung. Insoweit istgrundsätzlich jeder Versuch, eine solche Art der Gewalt-anwendung zu verhindern, unterstützenswert. Jedochmuss gerade in einem solch empfindlichen Bereich wie indem von zwischenmenschlichen Bindungen geprägtenEhe-, Verwandtschafts- und Partnerschaftsbereich behut-sam vorgegangen werden.Die Zielsetzung des hier in Rede stehenden Gesetzent-wurfes der Bundesregierung – ich habe das eingangs deut-lich gemacht – wird von uns grundsätzlich befürwortetund unterstützt. Sowohl die Gewalt in der Ehe und in derPartnerschaft als auch Belästigungen wie Nachstellungenoder ständiges Verfolgen müssen deutlich bekämpft wer-den. Die Ehe oder Partnerschaft ist kein rechtsfreierRaum.Doch bleiben nach Lektüre des Gesetzentwurfs Be-denken, was die Umsetzung des mit dem Gesetz Be-zweckten angeht. So ist zwar der Maßnahmenkatalog, derdem Gericht als Rechtsfolge bei Erfüllung der Tat-bestandsvoraussetzungen des § 1 des Entwurfs desGewaltschutzgesetzes zur Verfügung steht, durchaus aus-reichend und gibt dem Gericht eine Fülle von Handlungs-möglichkeiten an die Hand; doch bestehen beispielsweisehinsichtlich der im Entwurf vorgesehenen erleichtertenBeweisführung und der unter Umständen gebotenen – daswill ich deutlich sagen –, jedoch im Entwurf rigoros ge-regelten Wohnungsüberlassung Bedenken.Bedenken bestehen auch hinsichtlich der Regelungendes neuen § 64 b des Gesetzes über die Angelegenheitender freiwilligen Gerichtsbarkeit. Hier soll, was im Einzel-fall durchaus geboten erscheinen kann, in bestimmtenFällen die Vollstreckung vor Zustellung der Entscheidungdes Familiengerichts ermöglicht werden. Das Kernpro-blem liegt dabei – dies ist nach unserer Auffassung durchden Gesetzentwurf nicht befriedigend geregelt – im Miss-brauchspotenzial der beabsichtigten Regelungen.Durch die drastischen Maßnahmen kann zwar imtatsächlichen Misshandlungsfall schnell und effektiv
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin15197
geholfen werden, doch kann genauso schnell und effektivderjenige abgefertigt werden, der Opfer eines abgekarte-ten Spiels geworden ist.
– Ich kann auf eine zehnjährige anwaltliche Praxis beifamiliengerichtlichen Auseinandersetzungen zurück-blicken. Ich will nur darüber berichten, welche Schwie-rigkeiten bei der Umsetzung einer an sich vernünftigenRegelung bestehen können. Meine zehnjährige anwaltli-che Praxis zeigt mir Folgendes: Es wird in familienrecht-lichen Auseinandersetzungen – seien sie scheidungsrecht-licher, unterhaltsrechtlicher oder sorgerechtlicher Art – ineiner nicht zu unterschätzenden Anzahl von Fällen vonbeiden Partnern, um es deutlich zu sagen, gelogen und dieTatsachen entstellend argumentiert, sodass es in der Sachefür das erkennende Gericht manchmal schwierig ist, dentatsächlichen Sachverhalt zu erforschen und dann dierichtigen Entscheidungen zu treffen.Bei der Frage der Güterabwägung bin ich – übrigens inÜbereinstimmung mit dem Gesetzentwurf – der Auffas-sung, dass jemand, der mit dem Vorwurf belastet wird, erhabe gegenüber dem Lebenspartner oder der Lebenspart-nerin Gewalt angewandt oder mit Gewaltanwendung ge-droht, diese Behauptung zunächst unter dem Gesichts-punkt der Wohnraumzuweisung gegen sich gelten lassenmuss.Ich möchte allerdings auch darauf hinweisen – über dieFeinjustierung müssen wir uns im Rahmen des Gesetzge-bungsverfahrens noch verständigen –: Wir werden Fälleerleben – egal, wie wir das Gesetz im Detail ausgestal-ten –, in denen eine gerichtliche Entscheidung ergangenist und sich im Nachhinein herausstellt, dass das, was be-hauptet worden ist, so oder gar nicht stattgefunden hat. Ichweise darauf nur hin, weil das als Gefahr gesehen werdenmuss.Ich sage Ihnen auch aufgrund meiner anwaltlichen Er-fahrung: Ich habe eine Reihe von Mandantinnen und Man-danten vertreten, bei denen sich die Wirklichkeit– das hätte ich mir vor der Gerichtsverhandlung nicht vor-stellen können – hinterher völlig anders dargestellt hat, alses die zwischen den Parteien ausgetauschten Schriftsätzeund Sachvorträge erwarten ließen. Ich weise auf diesenUmstand hin, um deutlich zu machen, dass wir meiner An-sicht nach die Erfahrung der Personen, die in der Praxisstehen, im Rahmen einer Anhörung nutzen sollten, umvielleicht an der einen oder anderen Stelle eine feinereAusjustierung bei den jetzt vorgesehenen Maßnahmenvornehmen zu können. Ich möchte dafür Beispiele nennen.Zum einen sind im Gesetzentwurf strenge Regelungenhinsichtlich einer Widerlegungsverpflichtung für denGewalttäter und – damit korrespondierend – Beweiser-leichterungen für die verletzte Person, wie in der Begrün-dung des Gesetzentwurfs dargestellt, vorgesehen. Zumanderen gibt es die Regelung des § 64 b Abs. 2 FGG hin-sichtlich der Vollstreckung ohne Notwendigkeit dervorherigen Zustellung der familiengerichtlichen Ent-scheidung. Aufgrund der Kombination dieser beabsich-tigten rechtlichen Regelungen können gerichtliche Ent-scheidungen ergehen, die sich im Nachhinein – ich wie-derhole mich – als falsch herausstellen. Daher muss auchüber die Fristen, die Sie, Frau Ministerin, vorgeschlagenhaben, noch einmal diskutiert werden.Ich denke dabei an ein gekoppeltes Verfahren. DieSechsmonatsfrist und die Möglichkeit, diese Frist umweitere sechs Monate zu verlängern – das haben Sie, FrauMinisterin, vorgeschlagen –, sind eventuell unter dem Ge-sichtspunkt, dass sich im Nachhinein etwas anderes he-rausstellen kann, als bei der Entscheidung des Gerichtsangenommen wurde, zu verkürzen. Vielleicht sind auchdrei Monate ausreichend, weil sich auch angesichts derPraxis der Familiengerichte relativ schnell Klarheit ver-schaffen lässt, ob das, was behauptet wurde, tatsächlichrichtig ist. Die Gerichte sollten die Möglichkeit bekom-men, statt einer Frist von sechs Monaten eine Frist vondrei Monaten zu verhängen, in denen ihnen aber durchausabverlangt werden kann, den Tatsachenvortrag, soweitdas in dieser Zeitspanne möglich ist, zu überprüfen. Dassind beispielsweise Fragen, über die wir diskutieren soll-ten, um eine feinere Ausjustierung vornehmen zu können.Ich möchte zusammenfassend deutlich sagen, damitkeine Missverständnisse entstehen: Wir begrüßen den Ge-setzentwurf der Bundesregierung. Wir wollen uns an derBeratung beteiligen und den Gesetzentwurf gemeinsamverabschieden. Auch wir wollen eine schnelle Beratung.Daher rege ich an, dass wir uns gleich in einer der nächs-ten Sitzungen des Rechtsausschusses auf ein enges zeitli-ches Verfahren verständigen, damit der Gesetzentwurfzeitnah verabschiedet werden kann.Ich bitte allerdings auch darum, im Rahmen der Dis-kussion über die Ausjustierung noch einmal über die eineoder andere Bestimmung nachzudenken und mit Vertre-tern der Praxis zu reden; denn meine Erfahrung hat michgelehrt, dass sich der anfänglich als richtig angenommeneTatsachenvortrag in einer nicht zu unterschätzenden An-zahl von Fällen – ich möchte nicht sagen: in einer großenAnzahl von Fällen; eine solche Behauptung würde ichnicht aufstellen; aber es ist eben auch nicht die totale Aus-nahme – später, relativ schnell, als völlig falsch heraus-stellt.Daraus dürfen nicht gerichtliche Entscheidungen zulas-ten einer Person entstehen, sondern es muss auch hier dieMöglichkeit der kurzfristigen Überprüfung geben. Daherbieten wir eine gemeinsame Verabschiedung in der Sachean, wenn man zu gemeinsamen Lösungen kommt.Herzlichen Dank.
Zu einer
Kurzintervention erhält die Kollegin Margot von Renesse
das Wort.
Ich finde es immer gut,Herr Kollege Pofalla, wenn wir uns über weite Strecken
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Ronald Pofalla15198
einig sein können. Ihre Rede hat angedeutet, dass dies derFall ist. Wir sind uns zunächst einmal darin einig, dass indiesen Fällen mit hoch emotionalisierten Auseinanderset-zungen – ich will nicht sagen: gelogen wird – Wahrneh-mungsverzerrungen auf beiden Seiten stattfinden. Auchdas ist eine Erfahrung, die jeder gemacht hat, der mit die-sen Dingen zu tun hat.Auf der anderen Seite hoffe ich, dass wir uns auchdarin einig sind, dass die Gefahr größer ist, wenn jemandweiter geprügelt wird, und sie nicht so groß ist, wenn je-mand ohne Kinder kurzfristig vor einer Tür steht, durchdie er bei Richtigstellung aller Vorwürfe wieder gehenkann. Wenn wir uns auch darüber einig sind, dass wir ver-hindern müssen, dass Schlimmes weitergeht, werden wireine Lösung finden.
Das Worthat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kol-legin Irmingard Schewe-Gerigk.
legen! Wir setzen heute eine gute, wenn auch junge, rot-grüne Tradition fort. Statt am Internationalen Frauentagschöne Reden voller Absichtserklärungen zu halten,bringt die rot-grüne Bundesregierung Gesetze ein, die dieRechte von Frauen stärken. Wir tun also etwas.
– Ja, das kommt gleich.Im letzten Jahr war es das eigenständige Aufenthalts-recht für ausländische Frauen.
In diesem Jahr ist es das so genannte Gewaltschutzge-setz. Ich erspare mir, den vollen Titel zu nennen; denn erist sehr kompliziert.Wir diskutieren heute einen Gesetzentwurf, der einenPerspektivwechsel im Umgang mit der Gewalt gegenFrauen vornimmt. Es handelt sich um einen Gesetzent-wurf, der die Verantwortlichkeit festgelegt und darausKonsequenzen zieht. Nicht mehr die misshandelte Frauund ihre Kinder müssen die Ehewohnung verlassen, son-dern der gewalttätige Mann. Auf eine kurze Formel ge-bracht, bedeutet dies: Der Täter geht, das Opfer bleibt.
Gewalt gegen Frauen im häuslichen Umfeld ist ein we-sentliches Fundament, auf dem die gesellschaftliche Be-nachteiligung von Frauen begründet ist. Frauen, die in ihremengsten Umfeld in einer Machtbeziehung leben, erfahreneine systematische Zerstörung ihres Selbstwertgefühls.Durch Misshandlungen und Demütigungen, die sie oft überJahre hinweg erleben müssen, beschränken sich ihre Hand-lungs- und Abwehrmöglichkeiten deutlich. Eine misshan-delte Frau kann in ihrem Beruf eben nicht erfolgreich sein.Je länger die Misshandlungen andauern, desto schwe-rer ist es für die Geschlagene, der Beziehung zu entflie-hen. Wir dramatisch die Gewalt ist, die Frauen weltweitzu ertragen haben, zeigt uns der zum Internationalen Frau-entag vorgelegte Bericht von Amnesty International. SeitJahren werden in Afghanistan die Menschenrechte vonFrauen mit Füßen getreten. Obwohl das in aller Welt be-kannt ist, wurde es von den meisten ignoriert. Jetzt je-doch, da die Buddha-Statuen in Gefahr sind – so schreck-lich ich das auch finde –, geht ein Aufschrei durch dieWelt. Wo war dieser Aufschrei, als die Menschenrechteder afghanischen Frauen zerstört wurden? Wo war er?
Ich komme zurück zur Situation in Deutschland. Eswar die Frauenbewegung, die mit ihrem Slogan „Das Pri-vate ist politisch“ die Gewalt in der Familie öffentlichmachte. Das ist ein Verdienst der 68erinnen; denn bis da-hin war dies ein Tabuthema. – Die Staatssekretärinlächelt; auch sie gehört dazu.Das ganze Ausmaß, die Hintergründe und die Folgender Gewalt, die Frauen im Privatbereich erlebten, warenunbekannt. Das erste autonome Frauenhaus entstand inBerlin im Jahre 1976. Frauen fanden dort nicht nur Schutzvor weiteren Misshandlungen durch ihre Ehemänner,sondern auch kompetente Unterstützung und Ermutigung.Geschlagene Frauen erhielten Hilfe auch bei der Über-windung ihrer Misshandlungserfahrungen; denn nicht sel-ten gibt sich die Frau eine Mitschuld dafür, dass der Mannsie schlägt. Was hat sie wohl falsch gemacht, was hat ihnso in Rage gebracht?Herr Pofalla, Ihre Diskussion über den Missbrauchmag richtig sein. Aber in jedem anderen Rechtsgebiet istes möglich, dass Leute eine andere Wahrnehmung habenund in einem Verfahren lügen. Sind Sie da auch so enga-giert und fragen nach, ob nicht auch Missbrauch betriebenwird? Ich finde es etwas verwunderlich, wie ausführlichSie das an dieser Stelle dargelegt haben.
Auch in der Gesellschaft gibt es derartige Urteile bzw.Vorurteile. Ich erinnere mich noch gut an eine Frauen-hauseröffnung in Nordrhein-Westfalen vor circa 15 Jah-ren. Eine konservative Politikerin brachte da ein Bügelei-sen mit und überreichte es mit den Worten, dass dies dochein notwendiges Utensil für Frauen sei und so mancherFrauenhausaufenthalt vielleicht hätte verhindert werdenkönnen, wenn die Frauen den Männern die Hemden or-dentlich gebügelt hätten.
Ich empfinde dies als eine ziemlich zynische Entgleisung.Frauenhäuser sind heute nicht mehr wegzudenken. IhreZahl in Deutschland beläuft sich mittlerweile auf 400.
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Margot von Renesse15199
Annähernd 45 000 Frauen suchen hier jährlich Zuflucht,teilweise auch mit ihren Kindern. Ohne die hervorragendeArbeit der Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser abzuwer-ten, wünsche ich mir aber eine Gesellschaft, die keineFrauenhäuser braucht.
Mit dem heute vorgelegten Gewaltschutzgesetz gehenwir den Weg, den die Frauenbewegung vor über 25 Jah-ren initiiert hat, weiter. Das vorliegende Gesetz ist nichtnur ein Erfolg für die betroffenen Frauen. Damit werdenauch die Leistungen der Frauen in den Frauenhäusern, Be-ratungsstellen und an den Notruftelefonen unterstützt.Durch die Vorschriften des Gewaltschutzgesetzes werdenFrauen, die Gewalt im familiären Umfeld erfahren ha-ben, in ihren Rechten gestärkt. Viel zu lang waren Justizund Polizei auf einem Auge blind und haben Gewalt imsozialen Nahraum als Familienstreitigkeit angesehen, indie sich der Staat nicht einzumischen habe. Ein Blick indie Statistik macht deutlich: Nicht der dunkle U-Bahn-Schacht oder ein unbeleuchteter Park sind für Frauen diegefährlichsten Orte. Nein, es sind die eigenen vier Wände.Jede dritte Frau zwischen 20 und 59 Jahren – so eine Un-tersuchung – erlebt mindestens einmal in ihrem LebenGewalt im persönlichen Umfeld.Wir wollen, dass diese Frauen nicht zum zweiten MalOpfer werden, indem sie auch noch ihr vertrautes Lebens-umfeld verlassen müssen, während der gewalttätige Ehe-mann in der Wohnung bleibt. Genau hier setzt das Gesetzan. Die betroffene Frau wird in der akuten Gefährdungs-situation geschützt. Durch das zuständige Familiengerichtist per Eilanordnung eine vereinfachte Zuweisung der ge-meinsamen Wohnung möglich. Die Überlassung derWohnung können künftig aber nicht nur Ehefrauen, son-dern auch Partnerinnen oder Partner – nach dem neuenGesetz für die eingetragenen Partnerschaften natürlichauch Partner – in Anspruch nehmen, die in häuslichenPartnerschaften leben. Zur Wegweisung kommt ein aus-drückliches Kontakt-, Belästigungs- und Näherungsver-bot hinzu. Auch telefonischer Kontakt oder Kontakt perE-Mail kann untersagt werden. Verstößt der Gewalttätergegen diese Schutzanordnungen, macht er sich automa-tisch strafbar. Die Frau kann die Polizei rufen, die fürihren Schutz zu sorgen hat. Jeglicher Kontakt zu einemgewalttätigen Partner kann so unterbunden werden. InZukunft nutzt es den Männern auch nichts mehr, sich da-rauf hinauszureden, dass sie ja betrunken waren und sonstimmer lammfromm sind. Das Gesetz stellt ausdrücklichklar, dass die Schutzanordnungen auch dann möglichsind, wenn der Täter betrunken war oder unter Drogenstand.Das Gesetz geht noch weiter – die Justizministerin hates vorhin schon gesagt –: Es muss nicht erst etwas pas-sieren, bis sich eine belästigte Person rechtlich zur Wehrsetzen kann. Das wird mit den Schutzregelungen zum sogenannten Stalking sichergestellt. Es sind ja nicht nurProminente – aber sie insbesondere –, die von solchenNachstellungen oder von Telefonterror betroffen sind.Damit machen wir der häufigen Verharmlosung derartigerNachstellungen endlich ein Ende.
In Zukunft kann niemand mehr sagen: Es ist ja nochnichts passiert, da kann man leider nichts machen. – EinVerstoß gegen diese Schutzanordnungen hat automatischentsprechende strafrechtliche Konsequenzen. Damit be-schreiten wir juristisches Neuland. Ich finde es entgegender Position der PDS in ihrem Antrag angemessen, nichtauch schon das Stalking strafrechtlich zu verfolgen, son-dern erst den Verstoß gegen die Schutzanordnung. LassenSie uns das aber in einer Anhörung genauer beleuchten.Dies ist ein neues Phänomen und man muss es sicherlichauch genau untersuchen.Die Vorschriften des Gesetzentwurfes wurden in An-lehnung an das österreichische so genannte Wegwei-sungsrecht formuliert, das es dort seit 1997 gibt. In denvergangenen vier Jahren wurden dort gute Erfahrungen ge-macht. Herr Pofalla, die Sorgen, die Sie vorhin geäußerthaben, können durch das, was in Österreich statistisch be-legt wurde, überhaupt nicht begründet werden. Dort wer-den jährlich über 3 000 Wegweisungen an gewalttätigeMänner ausgesprochen. Hochgerechnet auf Deutschlandwären das 30 000. Das ist eine hohe Zahl. Häufig wird dieFrage gestellt, was denn diese 30 000 Männer machen:Brauchen sie ein Männerhaus? Brauchen wir für dieseMänner Unterkünfte?
Ein Blick nach Österreich zeigt, dass sich die Obdachlosen-quote nicht erhöht hat; die Männer gehen zurück zu ihrenMüttern oder zu ihren Freundinnen. Wir brauchen unsalso so große Sorgen nicht zu machen.
In Österreich hat die Polizei das Recht, den Gewalttä-ter sofort, zunächst für zehn Tage, der Wohnung zu ver-weisen und ihm den Hausschlüssel abzunehmen. Die Po-lizei muss also entscheiden, ob ein gefährlicher Angriffstattgefunden hat oder ob dies befürchtet werden muss.Sie benachrichtigt Beratungsstellen, die die gefährdeteFrau unterstützen. Auch das ist sicherlich ein wichtigerAspekt. Dieses österreichische Verfahren ist effektiv, daes bereits in der Situation einer akuten Gefährdung anset-zen kann. Ich wünsche mir, dass das auch bei uns so ist.Allerdings gibt es eine kleine Hürde. Da Polizeiange-legenheiten bei uns in die Länderzuständigkeit fallen,sind nun die Länder – ein Land hat es schon umgesetzt –an der Reihe; denn nun müssen endlich auch die polizei-lichen Möglichkeiten zum Schutz der Frauen verbessertwerden. Dazu gehören klare Regelungen, die den Polizis-ten und Polizistinnen die nötige Rechtssicherheit geben,um einen Schläger unverzüglich aus der Wohnung zu ent-fernen und ihm die Rückkehr für eine konkrete Frist zuuntersagen. Es gibt zwar Annahmen, dass die gesetzlichenMöglichkeiten schon heute ausreichen; ein Beispiel dafürist der Platzverweis. Ich kann mir aber nicht vorstellen,
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Irmingard Schewe-Gerigk15200
dass ein Polizist oder eine Polizistin einen Mann auf einerderart vagen Rechtsgrundlage tatsächlich der Wohnungverweist. In diesem Punkt brauchen wir ganz klare ge-setzliche Regelungen.
Unabdingbar ist aber auch eine feste Verankerung desThemas häusliche Gewalt in der polizeilichen wie in derjuristischen Aus- und Fortbildung. Nur so kann auch ge-währleistet werden, dass Klischeevorstellungen hinter-fragt und Frauen vor weiterer Gewalt effektiver geschütztwerden können. Es wäre doch schön, wenn das Plakat desFrauenhauses Reutlingen mit dem Ausspruch „Und wieheißt die Treppe, auf der Sie angeblich mal wieder ausge-rutscht sind?“ bald nicht mehr zum Einsatz kommenmüsste.Gewalt gegen Frauen beinhaltet aber auch einen großenvolkswirtschaftlichen Schaden. Den Staat kostet Männer-gewalt jährlich rund 29 Milliarden DM, die Frauen ihrepersönliche Integrität, ihre Gesundheit und manchmal so-gar ihr Leben.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU, die meisten der von Ihnen in Ihrem Antrag ge-stellten Forderungen sind bereits überholt; wir waren daeinfach schneller. Das Gewaltschutzgesetz liegt heute vor.Eine Kooperation von staatlichen Institutionen und nichtstaatlichen Hilfsangeboten wird bereits umgesetzt. Ichnenne nur die Finanzierung der Vernetzungsstellen derFrauenhäuser, der Notrufe und der Beratungsstellen wieauch deren Vernetzungstreffen. Damit wird die Zusam-menarbeit der Antigewaltprojekte unterstützt. Ihrer For-derung nach einer Untersuchung zur Lebenssituation aus-ländischer Mädchen und Frauen wurde bereits im6. Familienbericht nachgekommen.Damit komme ich zum Antrag der PDS. Sie haben ei-nige Punkte angesprochen, deren Umsetzung tatsächlichnoch offen ist. Als Beispiel nenne ich § 179 StGB. Wir ha-ben im Koalitionsvertrag vereinbart, die Diskriminierun-gen von widerstandsunfähigen Opfern zu beheben. Derzeitwird geprüft, ob § 179 StGB nur als Auffangtatbestand ge-nutzt wird und daher erhalten bleiben sollte. Das würdebedeuten, dass das Urteil im Falle einer nachgewiesenenVergewaltigung nicht nach § 179 StGB gesprochen wird.Der § 179 StGB würde nur gewählt, wenn keine andereMöglichkeit bleibt, einen Täter zu bestrafen. Wir müssensehr genau schauen, ob wir nicht etwas streichen, was wireigentlich brauchen. Es gibt eine Untersuchung derjeni-gen Urteile, die dazu bisher gesprochen worden sind.Um geschlechtsspezifische Menschenrechtsverlet-zungen als Asylgrund anzuerkennen – wie auch Sie es inIhren Forderungen formuliert haben –, hat die rot-grüneKoalition die entsprechenden Verwaltungsvorschriftenbereits geändert. Es gibt zudem eine Weisung des Innen-ministers an das Bundesamt für die Anerkennung auslän-discher Flüchtlinge. Wir hatten heute ein erneutes Ge-spräch mit Vertretern von Initiativen.Es sieht so aus, als sei unterhalb der rechtlichen Ände-rung all das getan, was zu tun ist: Die Verwaltungsvor-schriften sind geändert. Das Bundesamt für die Anerken-nung ausländischer Flüchtlinge hat einen großen Wandelerfahren. Die Entscheiderinnen sind geschult worden. Eswird nicht mehr automatisch davon ausgegangen, dasseine Frau, die nachträglich Gründe vorbringt, sich diesenur ausgedacht hat.Ich habe schon den Eindruck, dass es große Verände-rungen gibt. Wir können natürlich noch nicht zufriedensein. In einer rot-grünen Arbeitsgruppe überlegen wir der-zeit, ob nicht auch eine Überprüfung des Ausländerrechtsnotwendig ist, damit endgültig klargestellt wird, dassMenschenrechtsverletzungen nicht geduldet werden unddass wir den betroffenen Frauen in Deutschland Schutzgeben.
Dass bei einer Bedrohung aufgrund des GeschlechtesAbschiebeschutz gewährt werden muss, betonen wir übri-gens auch in unserem Antrag „Flüchtlingsschutz ist Men-schenschutz“, den wir heute Abend beraten und über denwir abstimmen. Wir machen also einen großen Schrittnach vorne.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zu demGesetzentwurf zurück. Es ist ein großer Unterschied, obdie Polizei zur Beruhigung der Situation der Frau nahelegt, sich in Sicherheit zu bringen und das Haus zu ver-lassen, oder ob klargemacht wird: Der Mann ist nicht deruneingeschränkte Herrscher des Hauses. Er muss dasHaus verlassen, wenn er gewalttätig geworden ist. Dasvorliegende Gesetz leistet dies und stellt die Zuständig-keiten klar heraus.
Die körperliche Unversehrtheit von Frauen ist ein ho-hes Gut, das wir mit diesem Gesetz schützen. Ich erwartedavon nicht nur einen Bewusstseinswandel, sondern aucheine Veränderung der Beziehungsstruktur zwischen denGeschlechtern. Denn – gibt es ein besseres Fazit für denheutigen Tag? –: Frauenrechte sind Menschenrechte.Vielen Dank.
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht die Kollegin Ina Lenke.
Herr Präsident! Liebe Kollegenund Kolleginnen! Heute ist Weltfrauentag und heute fin-det die erste Beratung des Gewaltschutzgesetzes statt. Zubeiden Themen will ich Stellung nehmen.Der Internationale Frauentag bietet immer Gelegen-heit, über den Tellerrand zu blicken und die Situation vonFrauen weltweit zu betrachten. Besonders Frauen leben invielen Ländern unter sehr schlechten Bedingungen. Siewerden ausgegrenzt, unterdrückt und misshandelt. MeineKollegin sagte vorhin: Frauenrechte sind Menschen-rechte. Aber der Ruf der Weltfrauenkonferenz von Peking
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Irmingard Schewe-Gerigk15201
ist in vielen Staaten ungehört geblieben. Die Bundesrepu-blik Deutschland sollte international eine Vorreiterrollespielen und versuchen, auf diese Länder einzuwirken.
Frau Schewe-Gerigk, ich möchte das, was Sie gesagthaben, nicht nur einfach wiederholen, sondern noch ver-stärken: Es kann nicht sein, dass es zwar einen weltwei-ten Protest gibt, wenn in Afghanistan Buddha-Statuenund Kulturgüter – Kulturgüter müssen wie auch andereGüter natürlich geschützt werden – zerstört werden, aberdass nur wenig darüber berichtet und dagegen protestiertwird – in dieser Kritik bin ich mit Ihnen einig –, wennFrauen in Afghanistan in unerträglicher Weise unter-drückt werden. Ich denke, dies sollten wir im Bundestagan diesem besonderen Tag tun.
Wir konnten letzte Woche in der Zeitung lesen, dass esin Indien immer noch Mitgiftmorde an jungen Frauengibt. Hier ist nach meiner Meinung die deutsche Außen-politik und natürlich auch der deutsche Außenministergefordert. Heute hat der Außenminister Joschka Fischereine Pressemitteilung zum Internationalen Frauentag he-rausgegeben. Ich habe sie mir sehr genau angeschaut.Darin fehlen die Erfolge seiner Politik zum Thema „Men-schenrechte und Frauenrechte“.
Was hat der Außenminister der Bundesrepublik Deutsch-land bei seinen vielen Auslandsreisen eigentlich konkreterreicht?
Wenn Sie sich die Pressemitteilung durchlesen, dannwerden Sie kaum Punkte finden, die auf entsprechendeErfolge seiner Außenpolitik hinweisen, und das trotz desgroßen rhetorischen Theaters, das Fischer während seinerOppositionszeit im Bundestag vom Stapel ließ.
Morgen ist auch noch ein Tag. Vielleicht erfahren wirdann von Außenminister Fischer auf einer Pressekonfe-renz, was er im Ausland in Bezug auf Menschen- undFrauenrechte ganz konkret unternommen hat.
– Das ist kein Wahlkampf. Wenn ich mich mit diesemThema beschäftige, dann lese ich auch Pressemitteilun-gen Ihres Außenministers.
Da habe ich das Recht, hier deutlich Kritik zu äußern.Herr Fischer kann mich ja eines Besseren belehren.
Ich warte auf die persönliche Bilanz von Herrn Fischer.Morgen ist auch noch ein Tag.
Dass der Frauenhandel blüht, ist oftmals in derschlechten sozialen und wirtschaftlichen Situation derFrauen begründet. Frauen sind zunehmend Opfer des in-ternational organisierten Menschenhandels. Das ist, wiewir alle wissen, die moderne Form der Sklaverei. Wir ha-ben uns bereits im Bundestag und im Frauen- und Famili-enausschuss sehr um dieses Thema gekümmert und wirkümmern uns noch darum. Wir werden zu diesem Thema –egal, von welcher Fraktion oder auch gemeinsam – in die-ser Legislaturperiode noch Initiativen verabschieden. Ichdenke, das ist genauso wichtig wie alles andere.Bei der Ausweisung von Frauen – darauf möchte ichnoch einmal hinweisen –, die sich nicht rechtmäßig in derBundesrepublik aufhalten, ist sicherzustellen, dass sie inihrer Heimat nicht Gefahren und Repressalien durch dieTäter ausgesetzt sind. Ich denke, wir sollten hier noch ein-mal genau überlegen und auch parlamentarisch beraten,was im Hinblick auf das Zeugenschutzprogramm gesche-hen kann. Da sollten wir vielleicht einiges machen.Da die gehandelten Frauen in Deutschland häufig zurProstitution gezwungen werden, ist – was wir alle wol-len, was aber bisher, glaube ich, niemand parlamentarischinitiiert hat – eine gesetzliche Regelung zur Prostitutiondringend notwendig. Die Möglichkeit, zwischen legalerund illegaler Prostitution zu unterscheiden, würde unshelfen, gegen den Frauenhandel besser vorgehen zu kön-nen. Dazu gehört in erster Linie, dass die Prostitution inDeutschland nicht mehr unter dem Verdikt der Sittenwid-rigkeit stehen soll. Ich weiß nicht, wie das bei derCDU/CSU ist, aber ich bin der Meinung, dass wir dazu imDeutschen Bundestag, wenn eine Initiative vorgelegtwird, die Mehrheit bekommen. Denn wenn es jeden Tagmillionenfach in Deutschland passiert, dann weiß ichnicht, ob man als Gesetzgeber die per Gesetz verankerteSittenwidrigkeit aufrechterhalten kann.
Nicht nur für Frauenrechte auf internationaler Ebeneist hier im Bundestag Position zu beziehen, sondern auchauf der nationalen Ebene liegt einiges im Argen. Wir ha-ben die Justizministerin gehört. Das Gewaltschutzgesetzder Bundesregierung weist hier eine Schwachstelle auf,die jetzt behoben werden soll. Endlich hat die Bundesre-gierung ihre Vorarbeit erledigt. Mit dem Gesetzentwurf,der uns heute vorliegt, sollen besonders Frauen in ihremhäuslichen Umfeld vor roher Gewalt geschützt werden.Der Täter soll aus der Wohnung gewiesen werden. Aberes wäre eine Wiederholung, wenn ich diese ganzen Punktejetzt aufzählen würde.Ich will jedoch sagen, dass Bund und Länder Regelun-gen finden müssen, die aufeinander abgestimmt sind. Indiesem Zusammenhang möchte ich hier gerne das Bun-desland nennen, das in dieser Angelegenheit schon tätiggeworden ist: das Bundesland
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Ina Lenke15202
Baden-Württemberg.
Darauf bin ich sehr stolz, weil wir einen liberalen Justiz-minister, Herrn Goll, haben, der schon im letzten Jahr sehraktiv tätig geworden ist.
Die Justizministerin mahnt die Länder und sagt, einLand sei erst tätig geworden. Jetzt lachen Sie über dasLand, das die Justizministerin ohne Namensnennung ge-lobt hat.
– Ich lasse keine Zwischenfrage zu.In Baden-Württemberg wurden keine Gesetze verab-schiedet, sondern das Landespolizeigesetz wurde geän-dert. In Baden-Württemberg wurde das Thema Gewalt inder Familie aus der Tabuzone genommen und in dieöffentliche Diskussion getragen.
Über 70 Städte und Gemeinden haben sich an diesem Mo-dellversuch beteiligt. Ich glaube, das hat mit Parteipolitiküberhaupt nichts zu tun,
sondern das deutet auf die Notwendigkeit hin, hier etwaszu tun. Wenn das Land Bremen, das auch SPD-regiert ist,oder andere Bundesländer das machen, wäre ich alsF.D.P.-Bundestagsabgeordnete genauso froh. Ich sehe dasjedenfalls nicht parteipolitisch.Auf der Grundlage des Landespolizeigesetzes sind inden letzten Monaten – falls die Herren auf der linken Seitedas nicht wissen, kann ich sie etwas aufklären – mehr als100 Platzverweise gegen prügelnde Ehemänner ausge-sprochen worden. Wenn das kein Erfolg der Modellver-suche ist!Ich war vor kurzem in Baden-Württemberg und habemich vor Ort darüber informiert, was da los ist und wie esläuft. Die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Gemeindeund Justiz hat sehr gut geklappt. Das Infomaterial liegtdort auch in verschiedenen Sprachen aus. Das bedeutet,dass wir nicht nur die deutschsprachigen Frauen errei-chen. Wir erreichen mit dem Infomaterial natürlich auchdie Männer; sie wissen jetzt, welche Rechte Frauen ha-ben. Ich denke, das stärkt das Selbstbewusstsein derFrauen und das Bewusstsein der Männer. Das ist sicher-lich auch eine präventive Maßnahme.Ich möchte noch deutlich auf etwas hinweisen, was miraufgefallen ist: Dieses Konzept stärkt auch Kinder. Kin-der lernen, dass Gewalt nicht siegt, sondern der schwachePartner Rechte hat und Rechte erhält. Kinder erfahren,dass der Schwächere dem Starken nicht schutzlos ausge-liefert ist und dass der Staat sichtlich Schutz gewährt. Ichmeine, hier hat das Land Baden-Württemberg gute Arbeitgeleistet. Ich würde mir wünschen, dass viele andere Län-der diesem Beispiel folgen.Die Initiativen zwischen Ländern und dem Bund – da-rüber sind wir uns sicher einig – müssen Hand in Hand ge-hen. Der Bund kann nicht in Ländergesetze, in die Län-derhoheit eingreifen. Daher brauchen wir die Länder,wenn wir in diesem Bereich etwas ändern wollen.Ich möchte noch etwas zu den Frauenhäusern sagen:Ich bin der Meinung, dass wir die Frauenhäuser natürlichbrauchen. Es wird immer Frauen geben, die sich unter-schiedlich entscheiden. Wenn wir jetzt zwei Optionen ha-ben, ist das umso besser. Ich denke, dass es gerade fürKinder besser ist, im häuslichen Umfeld – in der Schuleund in der Wohnung – verbleiben zu können, wenn der Tä-ter aus diesem verwiesen wird.Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Bundestags-fraktion wird in den Ausschussberatungen Vorschläge zurVerbesserung des Gesetzestextes vorlegen. Ich wollte ei-gentlich auf einige Dinge exemplarisch eingehen, die Zeitreicht aber nicht. Wir werden das in den Ausschussbera-tungen, vor allem im Rechtsausschuss, regeln. Ich möchtewirklich darum bitten, dass auch wir als Opposition in denfachlichen Beratungen in den Bundestagsausschüssengehört werden und dass es dann nicht einfach heißt: Hierist die Koalition, da ist die Opposition. Letzteres ist ab undan vorgekommen; es hat aber auch Erfolge gegeben, diewir durch Zusammenarbeit erzielt haben. Ich denke, andiesem Thema sollten wir wirklich gemeinsam arbeiten.Ich werde jedenfalls, wenn es um Kleinigkeiten geht,meine Fraktion davon zu überzeugen versuchen, dass wirden großen Weg gemeinsam gehen sollten.Trotz der Probleme, die wir Frauen manchmal haben,sollten wir positiv in die Zukunft sehen. Wir sollten dieProbleme, die die Frauen betreffen, anpacken. Das ma-chen wir hier auch; ich glaube, daran sind federführendFrauen beteiligt. Wenn wir hier im Bundestag gemeinsametwas machen, sind die Frauen gemeinsam stark. Wennwir den konstruktiven Streit zwischen den Fraktionenfortführen, dann freue ich mich darauf, dass dasGewaltschutzgesetz in die parlamentarischen Beratungenkommt. Auf ein Neues, auf ein Gutes!Vielen Dank.
Angemeldet
sind nunmehr zwei Kurzinterventionen, einmal von der
Kollegin Dr. Edith Niehuis und dann vom Kollegen
Alfred Hartenbach. Anschließend, Frau Kollegin Lenke,
können Sie darauf, wenn Sie wünschen, antworten.
Bitte, Frau Kollegin Niehuis.
Frau Kollegin Lenke, Siehaben vollkommen Recht: Frauenrechte sind Menschen-rechte. Sie haben über die auswärtige Politik geredet undgemeint, dass Außenminister Fischer in dieser Hinsicht
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Ina Lenke15203
nichts für Frauenrechte tut. Das wichtigste Dokument fürFrauenrechte auf UN-Ebene ist das 20 Jahre alte Antidis-kriminierungsabkommen. Als wir noch einen liberalenAußenminister hatten, war es nicht möglich, das seit lan-gem geforderte Zusatzprotokoll zu verabschieden, weilinsbesondere Deutschland – ganz einsam unter den euro-päischen Partnern – sich immer geweigert hat, dieses Zu-satzprotokoll zu unterzeichnen.
Anfang 1999, unter deutscher Präsidentschaft in Eu-ropa – das wissen Sie –, mit einem grünen Außenministerund mit unserer Frauenministerin ist dieses Zusatzproto-koll endlich vorangebracht und dann auch verabschiedetworden. Das heißt, nun können Frauen überall in der Weltauch individuell klagen, wenn ihre Menschenrechte ver-letzt sind. Das ist mit dem Außenminister Fischer möglichgewesen, nicht mit einem liberalen Außenminister.
Des Weiteren – ich glaube, auch Sie waren anlässlichdes Empfangs hier – hat dann das Auswärtige Amt zu-sammen mit unserem Ministerium den Frauenausschussder Vereinten Nationen für CEDAW eingeladen, um hierin Deutschland die Arbeit machen zu können, zu der sieaus Zeitgründen und aus finanziellen Gründen sonst nichtkommen. Hier in Deutschland hat der UN-Frauenaus-schuss auf Einladung des Auswärtigen Amtes daran ar-beiten können, dass dieses Zusatzprotokoll auch praktischmit Leben gefüllt wird.Fragen Sie einmal bei der UN an, wie dankbar dieFrauen dieser Welt sind, dass die Bundesregierung dieseInitiativen ergriffen hat! Sie sollten sich nicht nur aufPressemitteilungen verlassen, sondern vielleicht auch se-hen, was wirklich gemacht wird.
Zu einer
weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Alfred Hartenbach das Wort.
Verehrte Frau Kollegin,
als Sie eben das Land Baden-Württemberg so lobten,
musste ich zunächst einmal im „Kürschner“ nachschauen,
um zu sehen, ob Sie dort Ihre Heimat haben. Ich konnte
eigentlich keine solche Bindung außer Ihrer möglichen
Motivation, dort Wahlkampfhilfe leisten zu wollen, er-
kennen.
Ansonsten, Frau Lenke, hat das Land Baden-Württem-
berg das von Ihnen erteilte Lob nicht verdient. Wir wis-
sen, dass sich das Land Baden-Württemberg sehr lange
gegen das selbstständige Aufenthaltsrecht von Frauen ge-
sträubt und sehr lange blockiert hat, bis es sich dazu
durchgerungen hat.
Dann loben Sie Herrn Goll, den ich bis vor wenigen Ta-
gen auch noch sehr geschätzt habe. Wenn man heute, am
Weltfrauentag, diesen Namen in den Mund nimmt, dann
muss man sich schon fragen, ob man damit nicht einem
das Wort redet, der sich in übelster Weise des Mobbings
einer Richterin aus seinem eigenen Geschäftsbereich
schuldig gemacht hat.
Wie kann es denn angehen, verehrte Frau Kollegin Lenke,
dass dieser Mann eine Kollegin von mir – ich war früher
einmal Richter –, die vom Richterwahlausschuss gewählt
worden ist, in einer so üblen Art und Weise öffentlich
abqualifiziert? Ich hätte mich als Justizminister dafür ge-
schämt.
Zur Erwi-
derung erhält Frau Lenke das Wort.
Erstens. Frau Staatssekretärin
Niehuis, wenn ich mich auf eine Pressemitteilung des
Außenministers stütze, dann hätte der Außenminister sehr
wohl, wie Sie sagen, seine Erfolge deutlich machen kön-
nen. Das hat er aber nicht getan.
Es sind richtige Nickeligkeiten und Nichtigkeiten in die-
ser Erklärung, und wenn darin nichts anderes als Nicke-
ligkeiten und Nichtigkeiten enthalten ist, dann scheint es
wohl auch nicht nur an ihm gelegen zu haben, wenn Dinge
wie beispielsweise dieses Zusatzprotokoll verabschiedet
worden sind.
Zweitens. Herr Kollege, ich habe jetzt leider die Un-
terlagen betreffend diese Richterin nicht, aber nach mei-
ner Kenntnis ist die Sachlage ganz anders, als Sie sie dar-
gestellt haben. Ich werde mich darum kümmern und
werde Ihnen persönlich die richtige Antwort dazu geben,
die mir heute Nachmittag leider nicht möglich ist. Die
Sachlage ist aber eine ganz andere als die, die Sie hier so
polemisch darstellten.
Als
nächste Rednerin hat Kollegin Petra Bläss von der PDS-
Fraktion das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Die vielen Aktionen, die heute im ge-samten Bundesgebiet stattfinden, verdeutlichen eines:Auch am 90. Internationalen Frauentag hat der Kampf umdie Durchsetzung von Frauenrechten nicht an Aktualitätverloren, ebenso wenig die Forderungen aus der altenFrauenbewegung, zu denen auch immer wieder die Be-kämpfung jeder Form der Gewalt gegen Frauen gehörthat.Gewalt gegen Frauen – das ist hier in der Debatte schonmehrfach angesprochen worden – ist die häufigste Men-schenrechtsverletzung weltweit und eben auch hierzu-lande, in der Bundesrepublik.
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Dr. Edith Niehuis15204
Es gibt keine oder kaum gesicherte Zahlen. Aber dieverschiedensten Studien gehen davon aus, dass hierzu-lande mindestens jede fünfte, möglicherweise sogar jededritte Frau in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erfahrenhat. Der größte Teil der Gewalttaten – auch das ist schongesagt worden – findet im sozialen Nahbereich statt: inder Familie, im Verwandten- und Bekanntenkreis. Gewaltgegen Frauen und Kinder darf nicht länger ein Tabuthemasein und als privates Schicksal verstanden werden.Wenn ich die frauenpolitischen Debatten der letztenzehn Jahre Revue passieren lasse, dann ist festzustellen:Wir alle hier im Hohen Hause haben eine neue Qualitätder Debatte erreicht. Es besteht nämlich durchaus einKonsens:
Wir müssen Gewalt als Problem öffentlich machen, siezum gesellschaftlichen Problem erheben und ächten.Die Initiativen der Bundesregierung – ich spreche hierexplizit den nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung vonGewalt gegen Frauen, aber auch den heute vorgelegtenEntwurf eines Gewaltschutzgesetzes an – begrüßt diePDS im Grundsatz. Wir sehen aber in Details Verbesse-rungs- und Ergänzungsbedarf, vor allem was die kon-krete Umsetzung betrifft. Worin der besteht, haben wir inunserem Antrag „Frauenrechte sind Menschenrechte –Gewalt gegen Frauen effektiver bekämpfen“ aufgezeigt.Erstens. Notrufeinrichtungen, Frauenberatungsstellenund Frauenhäuser müssen besser und vor allem mit lang-fristiger Perspektive gefördert werden.
Die Finanzierung solcher Einrichtungen gilt in der Regelals so genannte freiwillige soziale Leistung, die in Zeitenknapper Kassen zurückgefahren wird. Deshalb sehen be-reits etliche Projektgruppen – ich fürchte, zu Recht – ihreArbeit bedroht.Zweitens. Wir begrüßen, dass die Täter zukünftig ausder gemeinsamen Wohnung weggewiesen werden kön-nen. Aber diese Regelung darf nicht durch die Hintertürzulasten von Frauen gehen. Die betroffenen Frauen soll-ten immer die Wahl haben, wie sie für sich selbst größt-möglichen Schutz vor erneuten Gewalttaten suchen. Vonder Bundesjustizministerin sind hierzu schon einige Zah-len genannt worden; ich möchte eine ergänzen: Im ver-gangenen Jahr haben allein in Berlin, in der Hauptstadt,2 000 Frauen die hier bestehenden 5 Frauenhäuser und43 Zufluchtswohnungen aufgesucht – und das in Not. DieEinführung des Gewaltschutzgesetzes darf weder Län-dern noch Kommunen als Vorwand dienen, die finanziel-len Mittel für Frauenhäuser, Beratungsstellen und Notrufezu kürzen.
Drittens. Wir wollen, dass Beraterinnen in Notrufen,Beratungsstellen und Frauenhäusern ein vertrauensvollesVerhältnis zu den Opfern von Gewalttaten aufbauen kön-nen. Dazu brauchen wir ein Zeugnisverweigerungsrechtfür Beraterinnen analog dem für Ärztinnen und Ärzte.Viertens. Gewalt gegen Frauen ist und bleibt ein Pro-blem der inneren Sicherheit. Wir fordern deshalb, dassGewalt auch im privaten häuslichen Bereich als Offizial-delikt behandelt und von Polizei und Justiz geahndet wird.Frühzeitige Intervention vermag manches Leid – ich fügeganz bewusst hinzu: auch manches Geld – zu sparen. DieArbeitsgruppe Männer- und Geschlechterforschungin Berlin hat ermittelt – die diesbezügliche Zahl istschon genannt worden –, dass Gewalt von Männerngegen Frauen und Kinder hierzulande jährlich 29 Milliar-den DM kostet.Fünftens. Wir fordern, dass die Ungleichbehandlungbehinderter Frauen im Sexualstrafrecht abgeschafft wird.Gewalt gegenüber so genannten widerstandsunfähigen,also behinderten Frauen muss genauso geahndet und mitdem gleichen Strafmaß belegt werden wie sexualisierteGewalt gegen nicht behinderte. Frau Schewe-Gerigk hatdazu bereits Ausführungen gemacht. Ich denke, dass wirdarüber in den Ausschüssen ganz konkret beraten werden.Sechstens. Auch ältere und insbesondere pflegebedürf-tige Frauen, die in Familien und Heimen Gewalt ausge-setzt sind, benötigen mehr Schutz. Dieses Thema hat erstvor kurzem das Licht der Öffentlichkeit erblickt; hier be-stand lange ein Tabubereich. Im familiären Bereich müs-sen die im Entwurf des Gewaltschutzgesetzes vorgesehe-nen Maßnahmen volle Anwendung auch zugunstenpflegebedürftiger Menschen finden. Um so genannteFreiheitsentziehungen und Ruhigstellungen im Heimbe-reich zu verhindern, bedarf es unseres Erachtens eines an-gemessenen Fachkräfteeinsatzes und entsprechenderFortbildungsmaßnahmen für das Pflegepersonal. AlteMenschen haben ein Recht auf Leben in Würde undSelbstbestimmung.
Siebtens. Die von Amnesty International am Montagvorgestellte Studie über Folter und Misshandlung vonFrauen hat einmal mehr auf das weltweite Ausmaß vonMenschenrechtsverletzungen an Frauen aufmerksam ge-macht. Amnesty International verlangt, Gewalt gegenFrauen überall in der Welt öffentlich zu verurteilen, Be-richten über Folter an Frauen konkret nachzugehen undFrauen, die vor frauenspezifischer Verfolgung fliehen,Asyl zu gewähren.Die von der Bundesregierung vorgenommene und inder Debatte schon zitierte Veränderung der Verwaltungs-verordnung zum Ausländergesetz reicht meines Erachtensnoch nicht aus. Frau Kollegin Schewe-Gerigk, wir sehensehr wohl die gravierenden Verbesserungen, die seit denÄnderungen im Verwaltungsbereich in Kraft sind. Aberwir brauchen die gesetzliche Anerkennung geschlechts-spezifischer Verfolgung als Asylgrund, um den betroffe-nen Frauen verlässlich Schutz und Aufnahme gewährenzu können.
Der diesbezügliche PDS-Antrag liegt bekanntlich nachwie vor zur parlamentarischen Beratung vor. Asylbewer-berinnen, die Opfer von Gewalt werden, müssen in denSchutzbereich des Gewaltschutzgesetzes gelangen. Es ist,so denke ich, wichtig, auch hier noch einmal alle Rechts-vorschriften durchzuforsten.
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Petra Bläss15205
Achtens. Wir brauchen eine Änderung des § 19 desAusländergesetzes im Sinne eines eigenständigen Aufent-haltsrechtes ausländischer Ehefrauen. Nun weiß ich sehrwohl, was in diesem Bereich in diesem Hause schongeleistet worden ist. Aber unsere Forderung geht noch einStückchen weiter: Die Mindestbestandsfrist für die Ehevon zwei Jahren muss unseres Erachtens gestrichen wer-den. Denn nur so haben ausländische Frauen die Chance,das Gewaltschutzgesetz in Anspruch zu nehmen, ohneihre spätere Ausweisung fürchten zu müssen. Die jetzigeRegelung bedeutet, so denke ich, für die Frauen in denersten zwei Ehejahren ein Stück Rechtsunsicherheit.Neuntens und letztens müssen internationale Vereinba-rungen zum Schutz von Frauen vor Gewalt schnell in na-tionales Recht umgesetzt werden. Wir fordern deshalb dieBundesregierung auf, das von der Staatssekretärin EdithNiehuis zitierte Zusatzprotokoll zum Übereinkommen zurBeseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frauen,genannt CEDAW-Zusatzprotokoll, dem Bundestag schnellzur Abstimmung vorzulegen, um eine Ratifizierung zu er-reichen. Darüber ist lange geredet worden; jetzt sollten die-sen Worten auch endlich Taten folgen. Erst dann nämlichhaben Frauen die Möglichkeit, sich gegen Verstöße gegendas Abkommen tatsächlich zur Wehr zu setzen und ihrRecht auf Gleichberechtigung gerichtlich einzuklagen.Ich danke.
Das Worthat jetzt die Bundesministerin Christine Bergmann.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gewalt gegenFrauen ist nach wie vor eines der bedrückendsten Themenin unserem Land. Gewalt verletzt die Integrität vonFrauen und ihr Recht auf Selbstbestimmung auf eklatanteWeise. Deshalb ist es so wichtig, dass wir heute, am In-ternationalen Frauentag, den Entwurf des Gewaltschutz-gesetzes, den die Bundesjustizministerin vorgelegt hat,hier im Deutschen Bundestag diskutieren.
Dieses Gesetz macht ganz unmissverständlich klar, dassGewalt gegen Frauen und Kinder im häuslichen Bereicheben keine Privatsache ist, sondern eine Angelegenheit,um die sich unser Rechtsstaat mehr als bisher kümmernmuss.Auch ich will eine Zahl nennen: Wenn wir uns vor Au-gen halten, dass schätzungsweise jede dritte Frau inDeutschland – man will das immer nicht glauben, aber sosind die Zahlen – von häuslicher Gewalt betroffen ist,dann müssen wir alles dafür tun, dass Täter künftig kon-sequenter zur Rechenschaft gezogen werden und dass Op-fer besser geschützt werden.
Die Bundesregierung hat gehandelt und den nationa-len Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt vorge-legt. Ein ganz wichtiger Teil dieses Planes ist dieses Ge-waltschutzgesetz. Aber darin enthalten sind natürlich nocheine ganze Menge anderer Dinge: Mit dem Aktionsplanliegt erstmals ein umfassendes Gesamtkonzept vor, mitdem wir das Ziel verfolgen, strukturelle Veränderungen inallen Bereichen der Gewaltbekämpfung zu erreichen. Dasgeht von der Prävention über die bessere Vernetzung unddie Täterarbeit bis hin zu rechtlichen Maßnahmen.Ich kann hier sagen – weil dies auch in dem Antrag ge-fordert wurde –: Alle Maßnahmen, die in der Zuständig-keit der Bundesregierung liegen, sind in Umsetzung oderbereits abgeschlossen. Wir haben zwar noch etwas zu tun,aber alles ist bereits auf dem Tisch. Zu einigen dieserPunkte möchte ich etwas sagen.Ein wichtiger Bereich in diesem Plan ist die Koopera-tion zwischen staatlichen Stellen und den verschiedenenInstitutionen und Projekten, die auf dem Gebiet derPrävention und Bekämpfung von Gewalt arbeiten. Wirhaben sehr wichtige Erfahrungen mit dem Berliner Inter-ventionsprojekt gemacht. Es ist nötig, Maßnahmen im po-lizeilichen, straf- und zivilrechtlichen sowie im sozialenBereich aufeinander abzustimmen und zu vernetzen, umeffektiv gegen häusliche Gewalt vorgehen zu können. Sokann den betroffenen Frauen am besten geholfen werden.Wir haben die Erfahrungen aus dem Berliner Interven-tionsprojekt, das jetzt noch ein Stück weiter entwickeltwird, allen Akteurinnen und Akteuren zugänglich ge-macht. Diese Erfahrungen sind vielfach aufgegriffen wor-den. In vielen Kommunen gibt es jetzt entsprechende Ver-netzungen, gibt es runde Tische und versucht man, mitallen gemeinsam an diesem Problem zu arbeiten. Jetztwird ein weiteres Interventionsprojekt, das Projekt inSchleswig-Holstein, von uns unterstützt. Denn es istwichtig, dass wir die Erfahrungen aus dem Berliner Pro-jekt auch in einem Flächenland umsetzen, um zu sehen,wie wir dort wirksame Hilfe für Frauen schaffen können.Es ist auch wichtig, dass wir alle diese Interventionspro-jekte wissenschaftlich begleiten, damit diese Erfahrungennicht verloren gehen, sondern all das, was wir an Erfah-rungen sammeln, genutzt wird.Es ist wichtig, dass sich die Länder und Kommunenvor Ort engagieren und all diese Maßnahmen mit umset-zen. Ich bin sehr froh, dass es schon einige Bundesländergibt, die eigene Landesaktionspläne beschlossen haben,die die Ziele des Bundesaktionsplanes länderspezifischumsetzen. Wir haben in der Frage der Zusammenarbeitzwischen Bund und Ländern eine Menge auf den Weg ge-bracht. Hier sind enge Kooperationen notwendig. Wir ha-ben auch eine andere, eine intensive Form der Zusam-menarbeit gefunden, bei der wir uns gegenseitigunterstützen. Ich nenne hier die Arbeitsgruppe Frauen-handel, die es schon länger gibt. Ich möchte nur einenPunkt erwähnen, an dem gegenwärtig gearbeitet wird.Dabei geht es um konkrete Maßnahmen zum Schutz vonOpfern des Menschenhandels, zum Beispiel eine Härte-
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Petra Bläss15206
fallregelung zur Erlangung einer Arbeitserlaubnis für Op-ferzeuginnen.
Aber auch hier haben wir noch Handlungsbedarf.Ich möchte die Bund-Länder-Arbeitsgruppe nennen,in der auch Nichtregierungsorganisationen und Frauen-häuser vertreten sind, um alles Wissen, das wir haben, ein-zubeziehen und miteinander zu vernetzen. Diese Arbeits-gruppe erarbeitet derzeit Fortbildungskonzepte fürMitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugendämtern, fürFamilienrichter, Staatsanwaltschaften und die Polizei. Alldas, was wir brauchen, um unseren Aktionsplan wir-kungsvoll umzusetzen, wird also in diesen Gremien bear-beitet.Ebenfalls bereits angesprochen wurde das Thema derVernetzung. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass wirdie Vernetzung der Frauenhäuser, der Notrufe und der Be-ratungsstellen gegen Frauenhandel finanzieren. Das istganz wichtig, damit sie wirksam zusammenarbeiten kön-nen.Fortbildung ist in diesem Bereich das A und O, insbe-sondere auch Fortbildung der Polizei. Es entspricht denErfahrungen, die in Berlin gemacht wurden, dass die Po-lizei in der Ausbildung dieses Thema behandeln muss,dass Fortbildungsveranstaltungen stattfinden, damit eskeinen Polizisten und keine Polizistin mehr gibt, die in ei-ner Situation, zu der sie gerufen werden, nicht wissen, wiesie sich zu verhalten haben, sondern wirklich agierenkönnen. Vor Ort müssen entsprechende polizeilicheRichtlinien vorhanden sein.
In Zusammenarbeit mit den Ländern werden wir imApril oder Mai ein Projekt zur Entwicklung, Erprobungund Verbreitung eines Gewaltpräventions- und Fortbil-dungskonzepts für allgemein bildende und berufsbildendeSchulen starten. Ich halte es für ganz wichtig, bereits indiesem Bereich mit der präventiven Arbeit, mit der Infor-mation darüber, welche Rechte Frauen in dieser Situationhaben, anzusetzen.Ich möchte noch auf den Schutz ausländischerFrauen eingehen, der hier schon eine Rolle spielte. Wirhaben es sehr schnell geschafft, das eigenständige Auf-enthaltsrecht von Frauen zu verbessern, sodass wir mitden Verwaltungsvorschriften, die im Bereich der ge-schlechtsspezifischen Verfolgung und zum Schutz derOpfer von Menschenhandel gelten, jetzt etwas in derHand haben – Sie haben es angesprochen, FrauSchewe-Gerigk, ich habe mich auch informiert –, was zuganz eklatanten Verbesserungen in diesem Bereich ge-führt hat. Ich habe seitdem keine Klagen mehr auf denTisch bekommen. In diesem Bereich hat sich auch quali-tativ etwas verändert. Das war enorm wichtig. Das woll-ten wir auch.
Wir haben im letzten Jahr eine Untersuchung in Auf-trag gegeben, die uns ein umfassendes Bild der Lebenssi-tuation und der sozialen Integration der in Deutschland le-benden ausländischen Mädchen und Frauen geben wird.Die Daten, die im Familienbericht stehen, sind wichtig,reichen uns aber nicht. Wir brauchen weiter gehende In-formationen über die Lebenssituation ausländischerFrauen. Diese werden wir damit bekommen.In diesem Zusammenhang wären noch eine ganzeMenge anderer Maßnahmen zu nennen, die wir im Rah-men der Umsetzung des Aktionsplans bereits durchge-führt haben. Ich will nur an die Unterstützung der Bera-tungsstelle für Frauen mit Behinderung sowie an diewissenschaftliche Untersuchung zum Ausmaß und zu Er-scheinungsformen von Gewalt gegen Frauen erinnern. Zumehr reicht die Zeit nicht.Es war ein weiter Weg vom ersten Frauenhaus 1976 inBerlin bis zum heutigen Tag, an dem wir den Entwurf desGewaltschutzgesetzes auf dem Tisch liegen haben. Dieswar nur möglich, weil sich immer wieder sehr engagierteFrauen für Frauen eingesetzt und Frauen Schutz gegebenhaben, immer wieder das dicke Brett gebohrt haben unddas Thema immer wieder aus dem Tabubereich herausge-holt haben. Dies ist ein Erfolg der Arbeit all dieser Frauen.Dafür möchte ich an dieser Stelle einmal ganz herzlichdanken.
Natürlich dürfen wir nicht vor unserer Haustür Haltmachen. Das Thema Gewalt gegen Frauen ist eines, daswir auch im Rahmen internationaler Kooperation bear-beiten müssen. Es ist wichtig, dies heute, am Internatio-nalen Frauentag, noch einmal zu sagen.Ich bin froh, dass es uns in den letzten Tagen offen-sichtlich allen ähnlich ergangen ist, als der Aufschreidurch die Medien ging, was mit den Kulturgütern inAfghanistan passiert. Wir sind alle dafür, dass sie erhal-ten bleiben. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren.Aber wo ist der Aufschrei, wenn wir von den eklatantenMenschenrechtsverletzungen gegen Frauen hören, diedort passieren? Schlimmere als die, die wir dort erleben,sind nicht vorstellbar. Wo bleibt da der Aufschrei? So-lange dieser nicht erfolgt, haben wir noch eine ganzeMenge zu tun. Und das tun wir auch. Frau Lenke, Sie wa-ren mit in New York und wissen, wie wir dort um ent-sprechende Regelungen gerade für die Frauen in anderenLändern, gerade zur Bekämpfung von Gewalt in Ländern,in denen genitale Verstümmelungen und Diskriminierungin ihrer schlimmsten Form an der Tagesordnung sind,gekämpft haben.Frau Bläss, ich brauche zu CEDAW nichts mehr zu sa-gen. Das kriegen wir so schnell hin, wie es geht. Sie wis-sen, die Verfahren sind etwas langwierig. Aber wir wer-den es bald im Ausschuss behandeln können.Ich möchte noch auf einen positiven Punkt hinweisen,und zwar, dass es jetzt endlich beim Kriegsverbrecher-tribunal in Den Haag zu einer Verurteilung von Täterngekommen ist, die Massenvergewaltigungen begangen
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann15207
haben. Es ist endlich gelungen, diese Form der Men-schenrechtsverletzung als Kriegsverbrechen zu ahnden.Das ist auch etwas, was Frauen für Frauen errungen ha-ben. Hier sind viele Frauen, die von diesen Menschen-rechtsverletzungen betroffen waren, über ihren Schattengesprungen und haben etwas getan, damit es anderenFrauen vielleicht besser geht.
Ich denke, dass wir in diesem Bereich der konsequen-ten Verfolgung von Gewaltverbrechen gemeinsam han-deln müssen. Die Debatte verlief bislang in diesem Sinne,auch wenn Frau Lenke einen etwas anderen Ton hinein-gebracht hat.
Vergessen wir das einmal. Am Ende machen Sie mit.Es ist wichtig, dass wir uns hier nicht auseinander divi-dieren lassen, sondern versuchen, gemeinsam weiterzu-machen.Herzlichen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ingrid Fischbach von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Häusliche Gewalt hat gegen-über dem allgemeinen Gewaltphänomen seit jeher ihre ei-gene Dimension. Ging es früher darum – das dürfen wiruns ruhig noch einmal in Erinnerung rufen –, die Zucht-gewalt des Hausherrn gegenüber Frau und Kind zu be-gründen, aber auch zu begrenzen, sehen sich heute die Fa-milienmitglieder als Träger der Menschenrechte mitgleichem Recht auf physische und psychische Unver-sehrtheit. Die Wahrung und Achtung der körperlichen undseelischen Integrität eines jeden Menschen sind durch dieGrund- und Menschenrechte verfassungsrechtlich ver-brieft. Trotzdem nimmt die Zahl an Gewalttaten auch imhäuslichen Umfeld leider zu.Besonders betroffen sind Kinder und Frauen. Natürlichsind ebenfalls Männer betroffen. Auch Männer werdengeschlagen und misshandelt. Die Erfahrungen in Öster-reich, auf die wir heute schon mehrfach zurückgegriffenhaben, gehen von circa 10 Prozent aus. Wenn wir vonjährlich circa 45 000 Frauen sprechen, die in Frauenhäu-sern Zuflucht vor der Gewalt ihres Partners suchen, dannerkennen wir, dass hauptsächlich Frauen und mit ihnendie Kinder die Leidtragenden sind.Gemessen an der Wirklichkeit genügt die derzeitigeRechtslage und Praxis in Deutschland, besonders in ex-tremen Fällen, leider nicht, obwohl das Zivilrecht bereitsin seiner geltenden Fassung Möglichkeiten bietet, aufhäusliche Gewalttaten zu reagieren. Um Frauen ausrei-chend vor häuslicher Gewalt zu schützen, muss die bishe-rige Rechtslage ergänzt und präzisiert werden. Das neueGesetz verbessert die Situation des Opfers. Durch die er-weiterten Möglichkeiten, den Kontakt des Täters mit demOpfer zu unterbinden, erfährt das Opfer eine deutlichepsychische Entlastung und eine erhöhte Sicherheit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CDU/CSU-Frak-tion begrüßt das Bemühen der Bundesregierung, die be-reits von uns in unserer Regierungszeit begonnenen Maß-nahmen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen weiterauszubauen. Unsere damalige FamilienministerinClaudia Nolte hat mit ihrer groß angelegten mehrjährigenKampagne „Gewalt gegen Frauen“ ein wichtiges Ziel er-reicht: die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für dasThema. Sie sehen es heute: Wir sprechen darüber.
Auch das mehrfach gelobte – die Frau Ministerin hatgerade darauf hingewiesen – Berliner Interventionsmo-dell ist eine Sache, die von der alten Regierung initiiertworden ist. Sie haben zwar mitgemischt, aber wir hattendie Regierungsverantwortung. Sie sehen, Frau Ministerin,wie wichtig es ist, in bestimmten Punkten zusammenzu-arbeiten. Das wollen wir auch heute.
Für Gewalt gegen Frauen und Kinder gibt es keine Ent-schuldigung. Diejenigen, die ihren Frauen und/oder Kin-dern Gewalt antun, müssen dafür zur Rechenschaft gezo-gen werden. Es gilt, misshandelte Frauen und Kindereffektiv und schnell zu schützen und die Täter in die Ver-antwortung zu nehmen. Dazu gehört meiner Meinungnach auch die polizeirechtliche Möglichkeit eines Platz-verweises des Täters bei Gewaltanwendung gegen Frauenund deren Kinder in häuslichem Bereich. Bisher warendie betroffenen Frauen gezwungen, die Wohnung zu ver-lassen, um sich und ihre Kinder zu schützen. Der Gewalt-täter blieb weiterhin in der Wohnung.Die Erfolge, die in Österreich mit dem so genanntenWegweiserecht gemacht wurden, sind für uns ein An-sporn, auch in Deutschland Wege und Möglichkeiten zuschaffen, damit Kinder und Frauen – die Opfer – in ihrenWohnungen bleiben können.
Österreich hat aber auch gezeigt, dass die dort praktizierteWegweisung nicht in allen Fällen die Sicherheit von Kin-dern und Frauen garantieren kann. Frauen- und Kinder-schutzhäuser bleiben weiterhin ein notwendiger Bestand-teil des Hilfesystems. Sie sind unverzichtbar; denn, wiegesagt, nicht jede Gewaltsituation lässt sich durch die be-fristete Entfernung des Täters lösen. Daher muss die Zu-kunft der Frauenhäuser und Zufluchtswohnungen gesichertbleiben. Allerdings – auch hier gibt es eine Einschrän-kung –: Schutzwohnungen und Frauenhäuser dürfen nichtzu Langzeitaufenthaltsräumen für Frauen werden.Die Wegweisung ist und bleibt ein klares Signal an denTäter, dass auch im häuslichen Bereich keine Gewalt ge-duldet und zugelassen wird. Die räumliche Trennung des
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann15208
gewalttätigen Mannes von der bedrohten Frau ist zu Rechtdas zentrale Element eines jeden präventiven Konzeptsund unverzichtbare Vorbedingung eines jeden Verständi-gungsprozesses.Wenn betroffene Frauen draußen um Hilfe nachsu-chen, sind sie meist Opfer langjähriger Misshandlungen.Viele Opfer scheuen aus Scham die Öffentlichkeit. Wirhaben die Beispiele gehört: Ich bin die Treppe herunter-gefallen; ich bin gestürzt oder was auch immer. Habensich diese Frauen doch dazu durchgerungen, sich zu weh-ren, stehen sie unter erheblichem Druck. Eine sofortigeund effektive Reaktion ist nötig, damit Frauen nicht in ei-nen Zustand der zunehmenden Hilflosigkeit verfallen, indem sie sich selbst keine Veränderung zutrauen und sichauch keine wirksame Hilfe von außen versprechen. In ei-ner akuten Gefährdungssituation müssen sozusagenrechtliche Erste-Hilfe-Maßnahmen greifen, und zwarunabhängig von der Frage der Trennung oder Trennungs-absicht, um zunächst einen Schutzraum vor Gewalt undBedrohung herzustellen.Der staatliche Schutz von Frauen muss auf die realenLebensverhältnisse einwirken und die Entwicklung derMaßnahmen auf einer sorgfältigen Tatsachenermittlungzu häuslicher Gewalt beruhen. Es ist allerdings nicht al-lein damit getan, Täter lediglich aus den Wohnungen zuweisen. Gewalt beginnt in den Köpfen; daher könnenauch nur psychologische Begleitmaßnahmen in den Köp-fen der gewaltbereiten Männer etwas ändern. Das Un-rechtsbewusstsein der Täter muss geweckt werden. EinVerhaltenstrainingskonzept für gewalttätige Männergehört für mich in ein solches Gesamtkonzept. Eine be-gleitende Täterarbeit muss sichergestellt sein. Ziel musses sein, den Gewalttäter zur subjektiven Übernahme derVerantwortung zu führen. Dabei stellt sich nicht nur dieMotivation der Männer zur Teilnahme an der Beratung alsschwierig dar, sondern auch, sie in der Beratung zu hal-ten. Deshalb könnte eine genaue Abstimmung der Dauereiner Bewährungsauflage auf die Dauer des Programmseine sinnvolle Forderung sein.Meine Damen und Herren, besondere Hilfen benötigenvor allem die Opfer. Die wenigsten Frauen wissen vonihren rechtlichen Möglichkeiten. Die Bundesregierung istaufgefordert, mittels einer breiten Informationskampagnefür Aufklärung bzw. Information zu sorgen. Hinzu kom-men vor allem begleitende Hilfen.Über den physischen Schutz hinaus muss Hilfe bei derBewältigung des Erlebten, aber auch bei der Neugestal-tung des nächsten Lebensabschnitts gewährleistet sein.
Wir dürfen die Opfer nach der Wegweisung nicht alleinlassen. Sie brauchen soziale und psychische Unterstüt-zung.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-legen, der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Schritt indie richtige Richtung. Isoliert und allein ist er allerdingsunwirksam. Es muss ein Gesamtkonzept erstellt werden,das alle Bereiche umfasst und von allen mitgetragen wird.Absichtserklärungen und Unterstützungszusagen müssenkonkretisiert werden. Länder und Kommunen müssen miteingebunden werden.Ich weise noch einmal auf das Land Baden-Württem-berg hin; denn wir haben seit dem letzten Jahr ein Modelllaufen und können schon von positiven Erfahrungen be-richten. Da können Sie sagen, was Sie wollen, es ist nuneinmal ein Bundesland, das CDU-geführt ist. Sie sehen:Auch wir arbeiten daran.
– Dafür werden wir sorgen, Frau Niehuis, aber Sie dürfennoch ein bisschen hoffen.Ich möchte hier noch einmal deutlich machen, wiewichtig der gesamte Bereich der Prävention ist, zum Bei-spiel schulische Präventionsmaßnahmen gegen Gewalt.Aber auch Gewaltpräventions- und Fortbildungskonzeptein den weiterführenden Schulen, in der beruflichen Schuledürfen nicht fehlen.Meine Damen und Herren, wir stehen am Anfang derBeratungen und ich kann Ihnen versichern, dass wir, dieCDU/CSU-Fraktion, an einem Gesamtkonzept mitarbei-ten werden. Projekte und Strategien gegen häusliche Ge-walt müssen sich als Gebot der Vernunft und als Gebot derGerechtigkeit in dieser Gesellschaft etablieren. Es isthöchste Zeit, hier zu handeln. Lassen Sie uns dies ge-meinsam tun!
Das Worthat jetzt die Ministerin der Justiz des Landes Sachsen-An-halt, Karin Schubert.Karin Schubert, Ministerin (vonAbgeordneten der SPD mit Beifall begrüßt): Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Wie viele meiner Kolle-ginnen heute bereits angemerkt haben, ist heute der rich-tige Tag für dieses Gesetz. Ich hoffe, dass der90. Internationale Frauentag es auch den Kritikern desGewaltschutzgesetzes ermöglicht oder vielleicht erleich-tert, hier zuzustimmen.Ich hoffe, dass die Abwesenheit fast aller Männer hierin diesem Parlament
ihre Ursache darin hat, dass Sie vielleicht ausgeschwärmtsind, um uns Rosen zu kaufen.
Meine Herren, ich denke, Rosen sind gut, aber schenkenSie uns nicht nur Rosen, schenken Sie uns auch ein ge-waltfreies Frauenleben.
Meine Damen und Herren, die Ausübung von Gewalt,insbesondere gegenüber Frauen und Kindern, stellt einallgegenwärtiges gesellschaftliches Phänomen dar, ein
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Ingrid Fischbach15209
Problem, das konsequent angegangen werden muss unddas nicht verschwiegen werden darf.Das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachteGesetz ist ein wichtiger Schritt zur Umsetzung des „Bun-desaktionsplans zur Bekämpfung von Gewalt gegenFrauen“ vom Dezember 1999. Der Bundesrat hat diesenAktionsplan begrüßt, insbesondere die darin angekündigteVereinfachung einer befristeten Wohnungszuweisung zu-lasten gewalttätiger Angehöriger einer häuslichen Ge-meinschaft – auch eines gewalttätigen Ehepartners – sowiedie Grundlage für die Schutzanordnungen bei Kontakt-,Belästigungs- und Näherungsverboten. Dies hat der Bun-desrat in seiner Stellungnahme zu dem vorliegenden Ge-setzentwurf nochmals deutlich zum Ausdruck gebracht.Dieser Gesetzentwurf setzt endlich die im Aktionsplanaufgezeigten Ziele im zivilrechtlichen Bereich um.Die physische Gewalt zwischen Partnern kommt leiderin allen sozialen Schichten vor. Es ist von einer hohenDunkelziffer auszugehen; sie liegt bei fast 90 Prozent. Fa-miliäre Gewalt wird noch heute häufig als Privatsachezwischen Eheleuten bzw. Partnern angesehen, sodass miss-handelte Frauen oft auf eine Strafanzeige verzichten. DieAngst vor einem Auseinanderbrechen der Familie, dieSchuldgefühle, die Scham, der Imageverlust oder dieDruckausübung durch den Täter, aber auch Zweifel amErfolg der Strafverfolgung führen oft zum Verzicht aufeine Anzeige.Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass Ge-walthandlungen in der Familie nur selten Einzelfällesind. Meist werden die Opfer wiederholt misshandelt. Sta-tistisch gesehen ist nicht nur jede dritte Frau Opfer einerGewalthandlung im häuslichen Bereich; auch jede siebteFrau ist mindestens einmal in ihrem Leben Opfer einerVergewaltigung oder Nötigung geworden. In der Bundes-republik suchen jährlich circa 45 000 Frauen mit ihrenKindern Zuflucht in einem der vielen Frauenhäuser, diemeisten auf der Flucht vor Gewalttätigkeiten.Durch den heute vorliegenden Entwurf eines Gewalt-schutzgesetzes soll die Öffentlichkeit dafür sensibilisiertwerden, dass Gewalt in jeder Form zu ächten ist. Miss-handelte Frauen, die sich zur Trennung von ihrem Partnerentschließen, bekunden häufig, dass an erster Stelle für sieder Wunsch nach Schutz vor weiterer Gewalt steht, derWunsch nach Bestrafung des Täters zweitrangig ist.Herr Pofalla, ich denke, Sie haben zwar Recht, dass esmöglicherweise Lücken gibt. – Wo ist er denn überhaupt?
– Er schwächelt, gut. – Aber angesichts der 45 000 Frauen,die in der Unwägbarkeit leben, ob sie außerhalb ihrerWohnung, untergebracht in Frauenhäusern, Gerechtigkeiterfahren, stehen Ihre Bedenken im Hinblick auf die weni-gen Männer, die vor Gericht darlegen können, zu Unrechtihrer Wohnung verwiesen worden zu sein, in keinem Ver-hältnis. Ich denke, das Gewaltschutzgesetz sollte in derForm, wie es von der Bundesregierung vorgelegt wordenist, verabschiedet werden.
Wichtig ist zunächst, dass eine räumliche Trennungvollzogen werden kann. Zudem muss gewährleistet sein,dass die Frau und die Kinder nicht zu Hause oder andern-orts aufgesucht und weiterhin bedroht oder misshandeltwerden. Wichtigster Baustein des Gewaltschutzgesetzesist daher das angestrebte Eilverfahren, mit dem betroffeneFrauen den gewalttätigen Ehemann oder Partner aus dergemeinsam bewohnten Wohnung weisen können. Mit derZuweisung der Ehewohnung kann zunächst einmal eineräumliche Distanz zwischen dem Täter und seinem Opferhergestellt werden.Die Regelung, Partner einzubeziehen, ist unverzicht-bar und gegenüber dem bisherigen Zustand neu. Bislanghat die Polizei immer Schwierigkeiten, den Täter aus derWohnung zu weisen. Die Wegweisung ist möglich, soweiteine weitere Straftat unmittelbar bevorsteht oder erhebli-che Gefahr für Leib oder Leben des Opfers besteht. Weraber ist in der Lage, in dem Augenblick, in dem er bedrohtoder geschlagen wird, nachzuweisen, dass eine unmittel-bar bevorstehende erhebliche Gefahr droht? Wer kann soetwas in einer solchen Situation? Es darf nicht sein, dassdas Opfer – wie heute vielfach üblich – mit den Kindernaus der Wohnung ausziehen muss und der Täter in den ei-genen vier Wänden bleibt. Ich denke, hier besteht die Not-wendigkeit, einen entsprechenden Schutz zu bieten.Es kommt noch eines hinzu: Gewalt im familiären Be-reich bezieht sich nicht nur auf Frauen. Eine gewalttätigeAtmosphäre in der Familie hat auch erhebliche Auswir-kungen auf die Kinder. Gewalt gegen Kinder gehört lei-der noch in vielen Familien zum Erziehungsalltag. Etwa80 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschlanderfahren in unterschiedlichem Ausmaß Gewalt in der Er-ziehung. Rund 1,3 Millionen Kinder werden körperlichmisshandelt, darunter 420 000 zum wiederholten Mal.Sachsen-Anhalt hatte deswegen den Vorschlag unter-breitet, den minderjährigen Kindern ein eigenes Antrags-recht einzuräumen. Diese Anregung ist in den Gesetzent-wurf bedauerlicherweise nicht aufgenommen worden.Von dem Anwendungsbereich des Gewaltschutzgesetzessind minderjährige Kinder im Verhältnis zu ihren Elternund anderen sorgeberechtigten Personen noch immer aus-genommen. Für diese gilt daher nur das Vormundschafts-recht. Aber dieses ist als Anspruchsgrundlage für denSchutz der Kinder nicht ausreichend. Es ist nicht auf Si-tuationen von häuslicher Gewalt ausgerichtet, in denenGewalt von nur einem Elternteil ausgeht. Aber das mussauf längere Sicht nicht das letzte Wort sein. Ich halte eineigenständiges Recht des Kindes auf Schutz weiterhin fürerforderlich.Mit dem heutigen Gesetzentwurf wird letztlich – des-halb ist der gewählte Lösungsweg auch zu unterstützen –Gewalt gesellschaftlich geächtet. Das macht den FrauenMut und gibt ihnen Hoffnung auf ein gewaltfreies Leben.Ich bin froh und begrüße es – insoweit ist es mir egal, obes ein CDU-geführtes oder ein von einer anderen Parteigeführtes Land ist –, dass Baden-Württemberg, indem esdie zügige Umsetzung in das Polizeigesetz des Landesvorgenommen hat, einen ersten Schritt gemacht hat. Nur,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Ministerin Karin Schubert
15210
die anderen Länder müssen nachziehen. Es kann nichtsein, dass hier nur ein Land aktiv wird. Ich hoffe, dass hieralle Fraktionen parteiübergreifend ein Gesetz verabschie-den werden. Es ist wirklich die Kraft aller Fraktionen er-forderlich, um das Gesetz zu verabschieden, ein Gesetz,das den Frauen und Kindern endlich Schutz vor Gewaltbietet.Ich danke Ihnen.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ilse Falk von der CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Internationaler Frauentag auf derTagesordnung des Deutschen Bundestages – mehr als nureine Pflichtübung? Gewaltschutzgesetz und Aktionsplangegen Gewalt gegen Frauen – hatten wir so etwas nichtschon tausendmal? Die einen – das ist, wie wir unschwererkennen können, die große Mehrzahl – gehen erst garnicht hin, weil sie wesentlich Wichtigeres zu erledigen ha-ben. Die anderen fühlen sich verpflichtet, freundlich-auf-merksam zuzuhören, während ihre Gedanken eingedenkihrer vielen unerledigten Aufgaben wehmütig abschwei-fen. Das ist das eine Handicap unserer Debatte.Das andere können sicherlich alle schildern, die dieReaktionen auf unser heutiges Thema im Vorfeld erlebthaben: „Haha, Gewalt gegen Frauen! Da hab ich dochneulich gehört ...“, und dann folgen einschlägige Stamm-tischparolen, begleitet von einem breiten Grinsen, oder– heftig und böse –: „Hier werden wir Männer kriminali-siert und niemand sieht, wie vielen Männern ebenfallsGewalt angetan wird.“ Dann gibt es vielleicht noch dieje-nigen, die sich die Mühe gemacht haben, eine Internet-suchmaschine anzuwerfen, und dann im SeniorInnen-Netauf eine Adelheid aus Grafenau gestoßen sind, die anläss-lich des „Weltmarsches der Frauen 2000 – gegen Armutund Gewalt“ eine Mitfahrgelegenheit sucht. Gleich an-schließend verspricht eine „RBH-Online. AnarchistischeBuchhandlung“ weiterführenden Lesestoff zum Thema.„Ach ja, die natürlich“, sind Sie versucht zu sagen, „diehaben Probleme!“Solange aber psychische, körperliche und sexuelle Ge-walt gegen Frauen und Kinder ein bedrückendes Phä-nomen unserer Gesellschaft ist, so lange dürfen wir diesesThema weder ins Lächerliche ziehen noch es herabspielenund auch nicht davon ablenken.
Im Gegenteil: Solange es sie gibt, sind wir aufgefordert,dagegen anzugehen, auch, indem wir sie immer wiederthematisieren. Gewalt gegen Frauen ist noch immer dieam weitesten verbreitete Menschenrechtsverletzung inunserer Welt, die auf ebenso subtile wie infame Weise oftunausgesprochen als sozial adäquat toleriert wird.Heute befassen wir uns vor allem mit der Bekämpfungder häuslichen Gewalt. Wer nach den oben genanntenBeispielen nicht gleich im Internet aufgegeben hat, kannhier – das ist das Gute am Internet – Dokumentationenvon Fachtagungen über Gewalterfahrungen von Frauenund Kindern nachlesen, die einen das Gruseln lehren. Ge-walt in den eigenen vier Wänden, dem Zuhause, ist oft er-schreckender Alltag. Die Familie als Ort und Hort derLiebe und Fürsorge lernen manche nur noch als sozialro-mantisch verklärtes Märchenideal kennen. Daher halteich es für gerechtfertigt, wenn wir uns heute vor allem mitGewalt gegen Frauen und Kinder beschäftigen, ohne zuverkennen, dass es auch Gewalt gegen Männer gibt.Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür zusorgen, dass sich die Hoffnung, sich zu Hause am sichers-ten fühlen zu können, nicht in immer mehr Fällen als trü-gerisch erweist. Daher haben wir, die Opposition, es in derersten Debatte über den Aktionsplan gegen Gewalt gegenFrauen im März des vergangenen Jahres ausdrücklich be-grüßt, dass die Bundesregierung die bereits eingeleitetenguten Maßnahmen der Vorgängerregierung aufgegriffenhat und fortschreibt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Vorbemer-kungen zum Aktionsplan kritisiert die Bundesregierungallerdings – ich zitiere –:Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung
auch zu punktuellen Verbesserungen.Das gestehen Sie großzügig zu.Themen wie auch Projekte wurden oftmals durch diejeweilige öffentliche Diskussion bestimmt und folg-ten keiner langfristig angelegten Strategie. Dies magmit ein Grund dafür sein, dass sich an der Tatsacheder Gewalt gegen Frauen bis heute wenig geänderthat.Sie werden inzwischen die Erfahrung gemacht haben,aus wie vielen Einzelpunkten sich ein solches Gesamt-konzept zusammensetzt und wie mühsam es sein kann, bisjeder Einzelpunkt durchgekämpft ist. Das Gewaltschutz-gesetz ist dafür ein nachdrückliches Beispiel, war es dochvor einem Jahr schon als eigentlich fertig angekündigt.In unserem Antrag vom Januar 2001, der heute auchzur Debatte steht, haben wir deshalb erneut unterstrichen,dass wir die tatsächliche Umsetzung des Gesamtkonzep-tes kritisch verfolgen, vor allem da im Aktionsplan wenigkonkrete Aussagen, unter anderem auch in Bezug auf diemögliche Finanzierung der angekündigten Projekte, ge-macht wurden.Besonders wichtig waren und sind für uns die schuli-schen Präventionsmaßnahmen wie das von Ihnengeplante Projekt zur Entwicklung, Erprobung und Ver-breitung eines an Schülerinnen orientierten Gewaltpräven-tions- und Fortbildungskonzepts. Nach Aussagen von Ih-nen, Frau Dr. Niehuis, soll dieses Projekt in diesem Jahrstarten. Über die Finanzierung wollten Sie uns Anfang die-ses Jahres informieren. Wir warten gespannt darauf.
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Ministerin Karin Schubert
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Prävention ist für uns das zentrale Handlungsgebot, umdie Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Kinder lernen Ge-walt von Eltern, erfahren Gewalt und üben dann oft selbstGewalt aus. Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowieLehrerinnen und Lehrer müssen hier zusammenwirken.Besonders wichtig ist dabei die Stärkung der Erzie-hungsfähigkeit der Eltern und die Wertevermittlung in Fa-milie und Schule.
Familienbildung und Familienberatung, die zielge-nau bei den Problemen ansetzt, müssen ein besonderesGewicht erhalten. Erziehen heißt übrigens auch, Grenzenaufzuzeigen und deutlich zu machen, was man nicht darf.Es sollte uns sehr nachdenklich machen, wenn Jugendli-che zur Rechtfertigung von Gewaltspielen erklären, es seidoch wohl besser, Aggressionen in solchen Spielen aus-zuleben, als sie gegen Menschen zu richten. Aber ichdenke, da gibt es eine weitere Alternative, nämlich Ag-gressionen beherrschen zu lernen.
Der Aktionsplan befasst sich richtigerweise auch mitder Rechtsetzung des Bundes. Dies ist ein wichtiger Punktin der Vorgehensweise gegen Gewalt. So sagte der ameri-kanische Jurist Neil Lawsen einmal treffend:Das Gesetz kann niemanden zwingen, seinen Nächs-ten zu lieben. Aber es kann es schwieriger für ihn ma-chen, seinem Hass Ausdruck zu geben.Daher begrüßen wir es, dass nun das Gewaltschutzge-setz vorliegt. Im Einzelnen haben sich die KolleginFischbach und der Kollege Pofalla dazu geäußert. Des-wegen nur noch eine Anmerkung zum Aktionsplan. Ichhabe einen deutlichen Nachfragebedarf in Bezug auf Tä-tertherapien. Ohne diesen Aspekt scheint mir auch die-ses Gesetz nur unzureichend und kein gutes Beispiel fürein schlüssiges Gesamtkonzept zu sein; denn auch für dieTäter, die ja nur allzu oft selbst Opfer sozialer Umständesind, brauchen wir Beratungsangebote und sozialthera-peutische Trainingsprogramme. Die Justizministerin hateben selbst darauf hingewiesen. Sie nehmen in dem Akti-onsplan auch Bezug auf die speziellen Lern- und Trai-ningsprogramme für gewalttätige Partner, die in dem Ber-liner Interventionsprogramm gegen häusliche Gewaltentwickelt werden. Dazu heißt es wörtlich:Das BMFSFJ wird die Berliner Erfahrungen mit denspeziellen Täterkursen Anfang 2001 veröffentlichenund zur Diskussion stellen.Dazu habe ich heute nichts gehört. Es interessiert michnatürlich auch, wie es mit der Finanzierung sozialer Trai-ningskurse aussieht.Ich will den Blick nicht auf den Täter lenken, etwa umihn zu entschuldigen oder zu verharmlosen; denn damitwürde das Opfer ein zweites Mal gedemütigt und ver-höhnt, wie die Leiterin eines Frauenhauses zu Recht sagt.Aber erstens frage ich Sie: Birgt nicht jede Gewalt einElement von Verzweiflung, wie schon Thomas Mann be-merkte, der wir nachgehen müssen? Zweitens. Machenwir uns doch nichts vor: Irgendwann muss auch an dieserStelle die Spirale der Gewalt durchbrochen werden. Sonstwird neben aller Angst über einen viel zu langen ZeitraumSchutz nötig sein.Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist Internatio-naler Frauentag und da müssen wir uns einmal mehr klar-machen, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder weltweitzunimmt und Frauen die Realität von Gewalt in der Inti-mität einer Beziehung ebenso erleben wie in Kriegen, indenen Vergewaltigungen als ein Mittel des Krieges ein-gesetzt werden. Es ist ein gutes Signal – Frau MinisterinBergmann hat gerade darauf hingewiesen –, dass dasKriegsverbrechertribunal der UNO vor zwei Wochen dreibosnische Soldaten wegen Folter und Vergewaltigungmoslemischer Mädchen und Frauen zu langjährigenHaftstrafen zwischen 12 und 28 Jahren verurteilt hat. Die-ser Prozess war der erste Kriegsverbrecherprozess, in demsexuelle Gewalt gegen Frauen als alleiniger Ankla-gepunkt zur Verhandlung anstand. Dies ist eine Genugtu-ung für die betroffenen Frauen. Aber wer von uns kannsich vorstellen, was es heißt, nicht nur mit den dauerhaf-ten Gesundheitsschäden zu leben, sondern wohl auch dieseelischen Verletzungen niemals wieder loszuwerden?Lassen Sie uns alle Kraft darauf verwenden, wenigs-tens da, wo wir selber Einfluss nehmen können, alles zutun, um Kindern und Frauen solche Verletzungen zu er-sparen. Lassen Sie uns über Fraktions- und Aus-schussgrenzen hinweg dieses wichtige Thema beraten.Der Rechtsausschuss ist zwar der federführende Aus-schuss, ich denke aber, auch die Mitglieder des Familien-ausschusses sollten bei diesem Thema die Stimme sehrdeutlich erheben; so werden wir gemeinsam ein gutes Er-gebnis erzielen.
Als nächs-
te Rednerin hat die Kollegin Renate Gradistanac von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! WerteKolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Heute auf den Tag genau vor 90 Jahren for-derte Clara Zetkin anlässlich des Internationalen Frauen-tages für ihre Zeitgenossinnen das Wahlrecht als Grund-lage politischer Teilhabe und damit gesellschaftlicherGestaltungsmacht. Seitdem kämpfen Frauen und intel-ligente, emanzipierte Männer und haben einiges erreicht.
1958 tritt zum Beispiel das Gleichberechtigungsgesetzin Kraft. Das Letztentscheidungsrecht des Ehemanns inallen Eheangelegenheiten wird ersatzlos gestrichen unddas Recht des Ehemanns, ein Dienstverhältnis seiner Fraufristlos zu kündigen, wird aufgehoben. Das war auch eineForm von Gewalt.Wenn das vorliegende Gewaltschutzgesetz verab-schiedet sein wird, haben Frauen, die von häuslicher Ge-
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Ilse Falk15212
walt durch ihre Partner betroffen sind, die Möglichkeit, zuwählen: Sie können mit ihren Kindern in eines von über400 Frauenhäusern gehen oder zu Hause bleiben, denn derGewalttäter wird der Wohnung verwiesen. In Baden-Württemberg wird in verschiedenen Modellstädten dieWegweisung erfolgreich praktiziert. In konservativenKreisen staunt man, dass der „Herr des Hauses“ gehenmuss und Frau und Kinder, die so genannte Restfamilie– ein Unwort –, in ihrem gewohnten Umfeld bleiben kön-nen. Wieso diese Empörung, jedenfalls höre ich sie immerwieder, wenn der Täter gehen muss?Seit mehr als 25 Jahren thematisiert, hat sich an der all-täglichen Gewalt gegen Frauen kaum etwas geändert. Mitdem Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfungvon Gewalt gegen Frauen liegt erstmals ein umfassendesund ressortübergreifendes, nachhaltiges und effektivesGesamtkonzept vor.
Dabei geht es nicht nur um punktuelle Maßnahmen undindividuelle Hilfestellungen wie in der Vergangenheit. Essind strukturelle Veränderungen auf allen Ebenen not-wendig. Seit der Einbringung des Aktionsplans in denDeutschen Bundestag ist nicht nur für mich Entscheiden-des passiert.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, es ist dieAufgabe der Opposition, also auch Ihre Aufgabe, guteIdeen einzubringen, gegebenenfalls Druck zu machenund, wie im vorliegenden Fall, einen Antrag zu stellen.
Ich zitiere aus Ihrem Antrag:Der Deutsche Bundestag begrüßt ein solches Ak-tionsprogramm ...Das freut mich sehr. Wenn es allerdings an die Verab-schiedung und an die Umsetzung von Gesetzen gegen dieGewalt an Frauen und Kindern ging, dann haben Sie,meine Damen und Herren von der CDU/CSU, dagegengestimmt.
Ich höre, dass Sie sich für die Zukunft etwas anderes vor-genommen haben.Erstes Beispiel. Der Aktionsplan legt großen Wert aufpräventive Maßnahmen. Mit dem Gesetz zur Ächtungvon Gewalt in der Erziehung wird unmissverständlichfestgehalten: Gewalt ist kein Mittel der Erziehung; kör-perliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andereentwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.
Es geht darum, Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zustärken.Leider haben Sie, Frau Fischbach von der CDU, alsehemalige Vorsitzende der Kinderkommission mit IhrenKolleginnen und Kollegen diesem wichtigen Gesetz, daszu einer friedfertigeren Gesellschaft hinführen soll, nichtzugestimmt.
Frau Kol-
legin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Geis?
Nein, danke.
Zweites Beispiel. Die Neuregelung des § 19 Auslän-
dergesetz unterstützt Frauen ausländischer Herkunft, die
mit einem deutschen oder ausländischen Mann verheira-
tet und von Gewalt bedroht sind. Für misshandelte Frauen
ist die Mindestdauer der für die Erlangung eines eigen-
ständigen Aufenthaltsrechts erforderlichen Ehejahre von
vier auf zwei Jahre verkürzt worden. Auch diese Verbes-
serung für die ausländischen Frauen haben Sie, meine Da-
men und Herren von der CDU/CSU, abgelehnt.
Lassen Sie mich am heutigen Frauentag abschließend
zusammenfassen: Mein Dank richtet sich an die beiden
Ministerinnen Herta Däubler-Gmelin und Christine
Bergmann. Das Programm „Frau und Beruf“ mit seinem
neuen Elternzeitgesetz und das Aktionsprogramm zur
Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen sind unverzicht-
bare Bausteine, um Clara Zetkins Forderung „Frauen-
rechte sind Menschenrechte“ weiter umzusetzen. Gewalt
ist ein Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke.
Das gilt übrigens auch für verbale Gewalt.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Ingrid
Fischbach das Wort.
Frau KolleginGradistanac – ich hoffe, ich habe Ihren Namen richtig aus-gesprochen; ich habe es geübt –, Sie waren bei der Verab-schiedung des Gesetzes zu gewaltfreier Erziehung dabei.In Ihrer Darstellung haben Sie so getan, als hätten dieCDU/CSU-Fraktion und auch meine Person gegen die ge-waltfreie Erziehung gestimmt, das heißt, wir hätten ei-gentlich dafür gestimmt, dass Kinder mit Gewalt erzogenwerden.Erste Klarstellung. Sie haben dieses Gesetz mit Unter-haltungsregelungen verknüpft. Unsere Kollegen imRechtsausschuss haben deutlich gemacht, wo unsereFraktion diesbezüglich Probleme sieht. Wenn Ihnen derRechtsanspruch so wichtig gewesen wäre, dann hätten Siedazu ein Einzelgesetz vorlegen können.Zweite Klarstellung. Wir haben Ihnen den Vorschlaggemacht, die Formulierung des Bundesrates „Kinder sindgewaltfrei zu erziehen“ zu übernehmen. Ich habe Ihnenin meiner Funktion als Vorsitzende der Kinderkommis-sion bewusst gesagt: Ich kann es für meine Personnicht verantworten, Kindern und Jugendlichen einen
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Renate Gradistanac15213
Rechtsanspruch vorzugaukeln, der überhaupt nicht justi-ziabel ist. Sie haben praktisch kein Recht. Deshalb habeich gesagt: Lasst uns ehrlich sein und festschreiben, dassKinder gewaltfrei zu erziehen sind. – Das möchte ich zurKlarstellung in Bezug auf die damalige Entscheidung sa-gen.
Möchten
Sie erwidern, Frau Gradistanac?
Ja.
Bitte
schön.
Frau Fischbach, nach
meiner Meinung ging es bei dem Gesetz in erster Linie da-
rum, den Wert einer gewaltfreien Erziehung zu dokumen-
tieren. Ich wiederhole: Das Gesetz sollte den Eltern, die
Hilfe brauchen, einen Rechtsanspruch auf Hilfe gewähren
und sie in ihrer Erziehungskompetenz unterstützen. Ich
denke, in diesem Punkt hätten wir gut gemeinsam etwas
tun können.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Anni Brandt-Elsweier von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ Werkennt es nicht, das gern benutzte Nietzsche-Zitat aus demJahre 1884? Wer es heutzutage verwendet, wird Ihnen imgleichen Atemzug sagen, dass es nur ironisch und nichtfrauenfeindlich gemeint sei. Ich frage: Wirklich nicht?Die Realität spricht leider eine andere Sprache.Gewalt an Frauen ist ein uraltes Problem. Gewalt galtin früheren Zeiten ganz allgemein als ein anerkanntes le-gitimes Mittel, sowohl in der Erziehung als auch in derEhe. Noch im Allgemeinen Preußischen Landrecht von1774 war das „Recht der mäßigen Züchtigung“ des Ehe-mannes gegenüber seiner Ehefrau festgeschrieben. Wenndieses Recht auch 1812 per Edikt gestrichen wurde, sonahm man auf juristischer Ebene diese rechtliche Verän-derung kaum zur Kenntnis, sodass das Züchtigungsrechtdes Ehemannes gegenüber seiner Ehefrau erst mit derEinführung des BGB im Jahre 1900 als abgeschafft geltenkann. Bis vor etwa 100 Jahren war es dem Ehemann alsodurchaus erlaubt, seine Frau zu schlagen.Ich würde gerne sagen, das ist Schnee von gestern.Doch leider ist das nicht so. Die gesellschaftliche Realitätsieht nämlich anders aus. Gerade die Ehe und die Familie,die der Hort der Geborgenheit und des Schutzes sein soll-ten, stellen sich immer häufiger als Ort des Schreckensund der Gewalt dar. Die häusliche Gewalt ist in der Tat ei-nes der größten Probleme der Gewaltkriminalität über-haupt. Die überwiegende Zahl der Opfer sind Frauen. Dieentsprechenden Zahlen sind mehrfach genannt worden;ich brauche sie nicht zu wiederholen.Über das tatsächliche Ausmaß der Gewalt in all ihrenErscheinungsformen lassen sich keine gesicherten Aussa-gen machen, unter anderem deshalb – auch das ist bereitsgesagt worden –, weil viele Frauen Gewalttaten innerhalbder Partnerschaft nicht anzeigen. Häufig dominierenSchamgefühl und die Auffassung, dass es sich um einePrivatsache handelt, und auch das Gefühl, die Polizei undder Staat können ohnehin nichts bewirken.All diese Gewaltformen haben letzten Endes die glei-che Ursache. Sie beruhen auf dem Abhängigkeitsverhält-nis, das in unserer Gesellschaft großenteils immer nochdie Beziehung zwischen Mann und Frau beherrscht. Diemännliche Vormachtstellung ist über Jahrhunderte fürviele, auch für Frauen, zu einer solchen Selbstverständ-lichkeit geworden, dass wir sie in ihren subtilen Formenmanchmal fast nicht mehr bemerken. Oft wird sie ver-schleiert und tabuisiert.Hin und wieder kommen diese uralten Rollenvorstel-lungen ganz unverblümt ans Tageslicht. So sagte mir vo-rige Woche ein Besucher einer Veranstaltung, als er vondem Gewaltschutzgesetz hörte: „Wenn mich meine Frauprovoziert, rutscht mir schon mal die Hand aus. Und dannsoll ich auf die Straße? Undenkbar!“ Hinzu kommt auch,dass die Privatsphäre innerhalb der modernen Familiedeutlich Vorrang hat, sodass nahezu jede öffentliche Kon-trolle entfällt. Familienmitglieder und Nachbarn fühlensich nicht mehr zuständig nach dem Motto „Da mischenwir uns nicht ein“.Aber die hinter Wohnungstüren verübte Gewalt ist keinUnglück, sondern ein Unrecht und somit ein Problem desöffentlichen Interesses, dessen sich der Staat anzunehmenhat.
Wo private Schutzmechanismen nicht mehr funktionie-ren, ist der Gesetzgeber gefordert. Ich bin froh, dass wirmit dem vorliegenden Gewaltschutzgesetz endlich einenverbesserten Schutz für die Opfer häuslicher Gewalt ge-währleisten und damit ein Anliegen umsetzen können, daswir bereits in der letzten Legislaturperiode verfolgt haben.Die bereits erwähnte Kampagne der letzten Regierung„Gewalt gegen Frauen“ mag ja zu einem Bewusstseins-wandel geführt haben; sie hat aber nicht zu konkretenMaßnahmen und Gesetzen geführt. Das von der SPD be-reits 1995 in den Bundestag eingebrachte Gesetz über dieerleichterte Zuweisung der Ehewohnung wurde von derMehrheit nicht akzeptiert.
Kampagne ja, konkrete Hilfe nein.
Der uns vorliegende Gesetzentwurf bietet konkreteHilfen an. Ich weise, meine Damen und vor allen Dingenmeine Herren, ausdrücklich darauf hin, dass der Gesetz-
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Ingrid Fischbach15214
entwurf nicht geschlechtsspezifisch formuliert ist. Erschützt nicht nur Frauen, sondern gegebenenfalls auchgeschlagene Männer, die in ihren Familien Opfer vonGewalttaten geworden sind.Aber leider spricht die Statistik eine andere, klareSprache. Es sind eben in der Mehrzahl Frauen, die Opferdieser Gewalt werden. Darum ist es heute, am 8. März,dem Internationalen Frauentag, nicht nur ein symboli-scher Akt, diesen Gesetzentwurf in den Bundestag einzu-bringen. Der 8. März ist traditionell ein Tag, am dem fürdie Rechte der Frauen nicht nur in Deutschland, sondernweltweit gestritten wird. Wir haben in den letzten Jahr-zehnten manches, auch gemeinsam, erreicht, aber wir ha-ben noch vieles vor uns.
Es ist genau der richtige Tag, um auf dem langen Weg zumselbstbestimmten und gleichberechtigten Miteinander ei-nen weiteren Schritt vorwärts zu gehen. Was könnte esheute also Besseres geben als die Einbringung des Ent-wurfs eines Gewaltschutzgesetzes?Ich hätte gerne Herrn Pofalla noch persönlich ange-sprochen. Denn ich denke, die Gefahr des Missbrauchskann kein Gesetz völlig ausschließen. Das ist meine Er-fahrung. Ich habe aber auch das notwendige Vertrauen indie Gerichte, dass sie grundsätzlich Recht sprechen. Dasssie belogen werden, lässt sich nicht ausschließen, auchnicht durch das beste Gesetz.
Wenn zukünftig eine Frau durch den Partner regelrechtgrün und blau geschlagen wird, so kann sie nach derneuen Regelung im Eilverfahren vor den Zivilgerichtenwirksame Schutzmaßnahmen erwirken. Dem Gewalt-tätigen wird bei Strafe verboten, sich der Wohnung oderder Betroffenen selbst zu nähern. Auch kann die misshan-delte Frau leichter durchsetzen, dass ihr die gemeinsameWohnung zeitlich befristet oder dauerhaft zur alleinigenNutzung zugewiesen wird.Besonders wichtig war und ist auch, dass bei Nach-stellungen und erheblichen Belästigungen außerhalb einerPartnerschaft gerichtliche Schutzanordnungen auf klarergesetzlicher Grundlage ermöglicht werden. So können dieZivilgerichte künftig zum Schutz des Opfers wirksam rea-gieren, wenn jemand von einer anderen Person, etwa ausunerwiderter Liebe oder aus Rachegefühlen, durch nächt-liche Telefonanrufe oder eine Flut von E-Mails mit ob-szönem Inhalt terrorisiert oder sogar Tag und Nacht ver-folgt wird. Es gibt dafür genügend Beispiele.Es wäre also schön, wenn als Folge des vorliegendenGesetzentwurfes – ich habe heute gehört, dass wir ge-meinsam daran arbeiten wollen – Frauenhäuser dem-nächst überflüssig würden und eventuell die Männer inMännerhäusern zum Nachdenken über ihre „schlagkräfti-gen“ Argumente gezwungen würden.Danke schön.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5429, 14/5093 und 14/5455 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Norbert Barthle, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Wiederherstellung des umfassenden Rechts auf
Vorsteuerabzug
– Drucksache 14/5223 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Jochen-Konrad Fromme von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir for-dern die Wiederherstellung des umfassenden Rechtes aufVorsteuerabzug, insbesondere bei den Reisekosten undbei den Personenkraftwagen. Sie hatten es als Koalitionim Rahmen des Steuerentlastungsgesetzes 1999 – manmuss sich das auf der Zunge zergehen lassen – abge-schafft. Wir haben Sie von Anfang an vor dieser Regelunggewarnt und aufgrund der Rechtsprechung der Finanzge-richte immer wieder aufgefordert, endlich zu handeln.Lassen Sie mich einmal aus einer Antwort von Ihnenzitieren:Die Frage der Vereinbarkeit der Einschränkung desVorsteuerabzugs mit Art. 17 Abs. 6 der 6. Umsatz-steuer-Richtlinie ... stellt sich somit nicht.So waren Ihre arroganten Antworten, bis dann der Bun-desfinanzhof Ihnen ganz deutlich gesagt hat: Der Vor-steuerabzug ist ein tragendes Element des Mehrwertsteu-errechtes und deshalb kann es grundsätzlich keineEinschränkungen geben. Entsprechende Ausnahmen – esgibt hinsichtlich der Einhaltung der Richtlinie ja keineWahlfreiheit – gibt es auch für die BundesrepublikDeutschland nicht.Die Rechtslage ist so eindeutig, dass es im Urteil desBundesfinanzhofes heißt:Eine Vorlage an den EuGH ... ist nicht geboten, weilkeine Zweifel an der Auslegung des ... Gemein-schaftsrechts bestehen.Sie aber haben in Ihrer arroganten Art und Weise all dasin den Wind geschlagen und haben versucht, sich
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Anni Brandt-Elsweier15215
nachträglich – ich betone: nachträglich – eine Ermächti-gung dazu geben zu lassen.Die Begründungen waren sehr unterschiedlich.Zunächst haben Sie im Gesetzentwurf gesagt, es handelesich um eine Vermischung von privaten und betrieblichenInteressen. Außerdem haben Sie natürlich eine Finan-zierungsmaßnahme für Steuersenkungen gesucht. In demAntrag, den Sie dann an die EU gestellt haben, haben Siegesagt, Sie möchten eine Einschränkung des Vorsteuerab-zugs, um dessen Missbrauch zu bekämpfen. Der EU-Rathat dann in seiner Antwort gesagt, es gehe um eine Ver-einfachung. Was wollen Sie denn nun eigentlich? Das istwidersprüchlich hoch drei. Ich kann Ihnen sagen, was Siewollen: Abzocken, nichts weiter als abzocken.
Der Bundesfinanzhof hat immer eindeutig gesagt:Wenn ein Arbeitnehmer auswärtig tätig werden muss,dann ist der Arbeitgeber für die Unterbringung zustän-dig. Ein persönlicher Vorteil, wenn er denn überhaupt ge-geben ist, ist so nebensächlich, dass es überhaupt keineFrage ist, dass das zur Arbeitgebersphäre gehört und beimVorsteuerabzug auch so behandelt werden muss. Die lapi-dare Begründung, die Sie gegeben haben – Essen undSchlafen seien stets Privatsache –, kann doch hier nichtziehen. Sie verkennen schlicht und einfach die Realitäten:Das Essen zu Hause ist billiger als das Essen unterwegs.Können Sie denn das Schlafzimmer zu Hause in der Zeit,in der Sie nicht zu Hause sind, vermieten? Ich möchte malsehen, was Ihre Ehefrauen bzw. Ehemänner dann sagen.Sie tun doch so, als wäre eine Dienstreise eine vergnü-gungssteuerpflichtige Angelegenheit. Ich warte jedenfallsnur darauf, dass Sie eine Vergnügungsteuer für Dienstrei-sen einführen.
Die Realität sieht doch ganz anders aus. Ich jedenfallsempfinde eine Dienstreise und die Trennung von der Fa-milie als Belastung. Ich muss natürlich zugeben: Mancheiner, der schon drei- oder viermal gewechselt hat, magdas anders empfinden und flüchten wollen. Aber für denNormalfall gilt das nicht.
Ihre Regelung hat zu erheblichen Gewinneinbrüchenim Gastgewerbe geführt. Insbesondere in Kombinationmit der 630-Mark-Regelung hat dies Arbeitsplätze ver-nichtet und nicht geschaffen.Das Gleiche gilt für das Kraftfahrzeuggewerbe.Wir haben immer wieder von den Händlern gehört, dassaufgrund Ihrer Maßnahmen der Absatz zurückgegangenist.
Das Steuerrecht kann keine Arbeitsplätze schaffen; eskann aber Arbeitsplätze in erheblichem Maße vernichten,nämlich wenn man Regelungen schafft, die schädlichsind. Diese Regelung hat eher dazu beigetragen, dassArbeitsplätze vernichtet worden sind, als dazu, dassArbeitsplätze geschaffen worden sind.
Steuerpolitik hat immer zwei Elemente: ein fiskali-sches und ein wirtschaftspolitisches.
Unter dem Deckmantel des Steuerentlastungsgesetzes ha-ben Sie aber keine Entlastung, sondern eine Belastung ge-schaffen. Bei Ihnen hat nichts weiter gezählt als das fis-kalische Interesse; denn wenn man einmal in dasFinanztableau hineinschaut, sieht man dort 1,5 MilliardenDM an Steuermehreinnahmen. Ihr Ziel war also nichtwirtschaftspolitischer Art, sondern Ihr Ziel war Ab-zocken.Sie sagen, Sie wollen die Steuerquote senken, und ma-chen eine Riesensteuerreform. Dann frage ich mich, wiees in den letzten Tagen zu der Meldung kommen konnte:Steuerquote um 0,1 Prozent gestiegen.
Ich denke, Sie haben gerade die größte Steuerreform desJahrhunderts auf den Weg gebracht. Das hätte doch be-deuten müssen, dass die Leute weniger Steuern zahlenstatt mehr. Aber das ist bei Ihnen eben nicht so.Meine Damen und Herren, Sie lassen den Steuerzah-ler wieder einmal alleine. Es ist doch völlig klar, dass beider PKW-Nutzung Privatanteile versteuert werdenmüssen. Dafür gibt es ganz eindeutige und klare Rege-lungen. Was passiert denn jetzt? – Sie lassen die Steuer-pflichtigen im Hinblick auf die PKWs mit dem formalenArgument alleine, der EuGH habe ja auf den Vorlagebe-schluss des Bundesfinanzhofes noch nicht entschieden.Ist Ihnen denn entgangen, dass der EuGH schon einmalzu einer entsprechenden französischen Regelung ganzklar Nein gesagt hat? Damit ist doch völlig klar, was hierkommen wird. Es wird genauso kommen wie bei denReisekosten.
Was geschieht in der Zwischenzeit? Jeder Steuer-pflichtige muss sich doch jetzt sagen, dass er, wenn dieBundesregierung und die Koalition nicht bereit sind, dieGesetzeslage dem materiellen Recht anzupassen, gegenseinen Steuerbescheid Einspruch einlegen muss. Dasheißt, es müssen alle Steuerbescheide, die die Mehrwert-steuer in puncto Reisekosten und in puncto PKW-An-schaffung betreffen, offen gehalten werden. Die An-gehörigen der steuerberatenden Berufe beraten doch auchin diese Richtung. Sie sagen: Bitte legt Einspruch ein, da-mit ihr euch später eure Rechte sichern könnt.
Nach den Erfahrungen, die wir bei der Abwicklung desKindergeldes gemacht haben,
als Sie zunächst sagten, jeder bekomme es, und es dannnicht jeder bekam, weil es Schwierigkeiten bei der Ab-
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Jochen-Konrad Fromme15216
wicklung gab, ist doch zu erwarten, dass jeder Einsprucheinlegt. Meine Damen und Herren, Millionen von Steuer-bescheiden werden nicht rechtskräftig! Wer will eigent-lich am Ende – bei den AfAs haben wir ja genau dieselbeSituation – noch durchsteigen, wenn in der Finanzver-waltung keine Bescheide rechtskräftig abgeschlossenwerden?
Hier wird doch wieder einmal deutlich, wie Sie auchdie einzelnen am Wirtschaftsleben Teilnehmenden un-terschiedlich behandeln. Für die Großbetriebe ist daskein Problem. Sie haben große Steuerabteilungen undkönnen das durchstehen. Aber was ist mit dem kleinenSelbstständigen, mit dem Mittelständler? Er verzweifeltund muss sich fügen. Er kann am Ende die Rechte nichtwahrnehmen, die ihm eigentlich zustehen; denn Sie ent-halten sie ihm vor, obwohl Sie dies mit einem einzigenFederstrich im Gesetzblatt – das ist überhaupt keingroßes Problem – mit breiter Mehrheit sofort ändernkönnten.
Sie halten es in all diesen Fragen so wie mit den Ar-beitnehmern. Da ist Wahlkampf in Baden-Württem-berg. Da lassen Sie Ihren Herrn Spiller mal eben schnellverkünden, die Arbeitnehmerabfindungen und dieHandelsvertreterabfindungen sollen geregelt werden.Der Bundesfinanzminister hat gestern im Finanzaus-schuss gesagt, überhaupt nichts tut sich; das kommeüberhaupt nicht in Frage. Nach vorn wollen Sie popu-listisch Wahlkampf machen und hinterher tun Sie dasVersprochene nicht. Das lassen wir Ihnen nicht durch-gehen.
In all diesen Fragen verhalten Sie sich arbeitnehmer-und insbesondere mittelstandsfeindlich. Das bedeutet,Ihre einzige steuerpolitische Linie ist abzocken, abzockenund nochmals abzocken.
– Ach, Herr Grotthaus, ich wusste ja, dass Sie es nicht ver-stehen und dass Sie nicht zuhören.
Es ist doch ganz einfach. Die Entscheidungen liegen klarauf der Hand. Und weil sie klar auf der Hand liegen, musses auch geändert werden. Wir werden uns hier, wenn derEuGH entschieden hat, noch über die Gesetzesänderungunterhalten. Der große Unterschied ist nur, dass Sie vielVerwaltungsaufwand sparen würden, wenn Sie es gleichmachten, Verwaltungsaufwand, der niemandem etwasnützt, aber viel Frust verursacht.Meine Damen und Herren, auch das Steuerrecht mussdoch Menschen zur Leistung motivieren. Das bedeutet:Wenn Sie unnötigen Druck bei der Reisekostenregelungmachen, dann wird die Qualität der Unterbringung durchdie Betriebe abgesenkt. Das ist doch nicht gerade arbeit-nehmerfreundlich.
Das gerade für die Leistungsträger in der Wirtschaft wirk-lich motivierende Mittel der privaten PKW-Nutzung wirdvon Ihnen auf diese Art und Weise kaputtgemacht. Siewollen mit Ihrer Steuerpolitik doch gar nicht wirklich dieWirtschaft positiv beeinflussen; denn sonst würden Siesich in solchen relativen Kleinigkeiten, die aber psycholo-gisch von ganz großer Wichtigkeit sind, nicht so hart-näckig und so unbelehrbar zeigen, wie Sie das in dieserFrage tun.Meine Damen und Herren, wir werden es ja erleben,wenn dann Millionen von Steuerbescheiden in der Fi-nanzverwaltung nachbearbeitet werden müssen. Dazukommt die Abwicklung der Ökosteuer.
– Natürlich. Sie bekommen das Wort Ökosteuer so oft zuhören, bis Sie es nicht mehr hören wollen.
Denn es ist klar: Auch das wendet sich gegen den kleinenMann und nicht gegen den großen.Mit der Ökosteuer haben Sie doch die Preise angetrie-ben. Warum haben wir denn plötzlich im Monatsvergleicheine Inflationsrate zwischen 2,5 und 3 Prozent? Das tungerade Sie als Sozialdemokraten. Das ist die unsozialsteTat, die es gibt.
Wie blank die Nerven in der Koalition sind, sieht mandaran, dass Sie sich inzwischen offensichtlich in IhrenFraktionssitzungen, wie man der „Bild“-Zeitung entneh-men konnte, mit dem „Autofahrergruß“ begrüßen. Das istkeine vorbildliche Politik. Seien Sie vernünftig! Beseiti-gen Sie eine Bestimmung, die nur hinderlich ist und vonder jeder weiß, dass sie fallen muss!Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Simone
Violka von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrteDamen und Herren Abgeordnete! Als ich den Antrag derCDU/CSU-Fraktion zum ersten Mal gelesen habe, fielmir sofort auf, dass die Opposition wohl doch beginnt,lernfähig zu werden.
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Jochen-Konrad Fromme15217
Denn immerhin geben Sie in Ihrem Antrag zu, dass dieMenschen in diesem Land durch das Steuerentlastungs-gesetz auch tatsächlich entlastet werden.
Bisher ließen Sie doch keine mögliche und auch unmög-liche Gelegenheit verstreichen, genau das zu bestreiten.Ich kann nur hoffen, dass sich da bei Ihnen so langsam dierechte Einsicht durchsetzt – außer vielleicht bei HerrnFromme, der das soeben wieder angesprochen hat.
Herr Fromme, ich kann Ihnen eines sagen:Steuermehreinnahmen haben auch etwas damit zu tun,dass wir zu Beginn der Legislaturperiode über 70 Son-dertatbestände abgeschafft haben und dass Menschen miteinem sehr hohen Einkommen, die bis zu diesem Zeit-punkt ihre Steuerschuld sehr stark herunterrechnen konn-ten, plötzlich Steuern zahlen müssen. Ich verstehe schon,dass derjenige, der ein hohes Einkommen hat und diesesbisher netto wie brutto einstreichen konnte, nicht begeis-tert darüber ist, nun plötzlich dafür Steuern zahlen zumüssen.
Ich habe damit kein Problem. Denn ein Verdiener in derunteren und mittleren Gehaltsklasse konnte das nicht.Warum sollen sich eigentlich die Großen aus dem Steuer-geschehen herauslösen dürfen?
Ihr Antrag richtet sich gegen die im Rahmen desSteuerentlastungsgesetzes beschlossene Gesetzesände-rung zum Vorsteuerabzug. Sie beziehen sich dabei inPunkt 3 auf das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 23. No-vember 2000.
In diesem Urteil bestätigt der Bundesfinanzhof die Ent-scheidung des Landgerichts Hamburg. Dieser Richter-spruch bezieht sich auf den Vorsteueranspruch aus Auf-wendungen des Unternehmers, soweit er im eigenenNamen Übernachtungsleistungen seiner Arbeitnehmerbestellt hat und ihm darüber hinaus eine Rechnung ge-stellt wird. So weit, so gut. Allerdings umfasst dieses Ur-teil eben nicht ausdrücklich die kompletten Reisekosten,wie Sie es in Punkt 3 Ihres Antrages fordern.
Während die Übernachtungen, wie eben beschrieben,vom Unternehmer ausgelöst und beglichen werden kön-nen, ist das im Bereich der Verpflegungskosten anders.Die Verpflegung dient vorrangig der Befriedigung per-sönlicher Bedürfnisse, die ebenso anfallen, wenn sich derMitarbeiter nicht auf Dienstreise befindet. Herr Fromme,eines kann ich Ihnen sagen: Es gibt auch Menschen, diesich auf Dienstreisen nicht in teuren Lokalen sehen lassen,sondern sich von Schokoriegeln oder Milchschnittenernähren.
– Ja, Frau Ehlert, gesund ist das natürlich nicht. Aber esbleibt Entscheidung des Mitarbeiters. Es ist seine Sache,ob er sich an der Ecke eine Roster oder etwas andereskauft oder ob er essen geht. Dies wird nicht vom Chefangeordnet. Insoweit ist dies Privatsache. Da geben Siemir mit Sicherheit Recht.
Soweit es den Vorsteueranspruch aus Übernachtungs-leistungen betrifft, beabsichtigt die Finanzverwaltung,dieses Urteil zu akzeptieren. Dies wurde auch schon ge-meinsam mit den zuständigen Finanzbehörden der Ländererörtert. Allerdings lässt sich daraus nicht automatisch ab-leiten, dass darunter auch der Vorsteueranspruch aus Ver-pflegungskosten fällt. Dieses Thema ist zwar weiterhinauch in den Finanzbehörden der Länder Beratungsgegen-stand; aber es ist eben nur ein Beratungsgegenstand. Dazuschon jetzt eine verbindliche Aussage zu treffen wäre völ-lig verfrüht.Natürlich wird in den jeweils zuständigen Stellen auchdieser Punkt erörtert. Aber ohne eine genaue Untersu-chung sowie Prüfung der Sachlage und der juristischenGegebenheiten wird es keine rechtsgültige Aussage ge-ben. Das ist ein völlig legitimes Verfahren und es kann inniemandes Interesse sein, solche Entscheidungen übersKnie zu brechen.
– Es ist aus meiner Sicht durchaus legitim, etwas abzule-sen. Denn ich habe es vorher selber geschrieben.
Auch wenn Sie vielleicht der Meinung sind: DiesesGesetz ist nicht verfrüht und unausgegoren in Kraft ge-setzt worden. Es kommt aufgrund der Gewaltenteilungdurchaus vor, dass Gerichte zu anderen Auffassungenkommen als der Gesetzgeber. Ich muss Sie, meine Damenund Herren der CDU/CSU-Fraktion, doch sicher nichterst wieder daran erinnern, dass die beiden Entscheidun-gen des Bundesverfassungsgerichts zur Familienbesteue-rung das Versagen der Familienpolitik der alten Koalitionseit 1982 offen gelegt haben.
Dass es erst eines Bundesverfassungsgerichtsurteils be-durfte, kennzeichnet Ihre arrogante Art, Herr Fromme –aber den Familien gegenüber! Und das haben Sie jahre-lang so gemacht.
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Simone Violka15218
Meiner Meinung nach wurden hinsichtlich der Aus-wirkungen des BFH-Urteils bereits die richtigen Schritteeingeleitet. Allerdings müssen wir jetzt auch die Geduldhaben, das Ergebnis abzuwarten.Sie sprechen sich in Ihrem Antrag auch gegen die Be-schränkung des Vorsteuerabzugs aus Anschaffung undBetrieb von gemischt genutzten Fahrzeugen aus. DieEuropäische Kommission hat sich ja mehrmals mit demgesamten Themenkomplex beschäftigt. Allerdings hat dieKommission gegen die Beschränkung des Vorsteuerab-zugs auf 50 Prozent bisher von sich aus keine Einwändeerhoben.Sie ist der Auffassung – und hat dies am Beispiel derVorsteuereinschränkung für die Verwendung eines Miet-wagens sowohl für unternehmerisch bedingte als auch fürprivat bedingte Fahrten eines Unternehmers aufgezeigt –,dass die Vorsteuereinschränkung von der deutschen Rege-lung über die Beschränkung des Vorsteuerabzuges fürFahrzeuge im Allgemeinen abgedeckt ist, die der Rat aufder Grundlage von Art. 27 der 6. Mehrwertsteuer-Richtli-nie genehmigt hat.Man muss in diesem Zusammenhang wissen, dass derAusschluss der hundertprozentigen Abzugsfähigkeit janicht in jedem Fall gilt. Eine geringe private Nutzungschließt diese nämlich nicht automatisch aus. Es geht imAbzugsfall um eindeutig gemischt genutzte Fahrzeuge.Es betrifft also nicht den Taxifahrer mit eigenem Fahr-zeug, der jeden Morgen und Abend von und zu seinerWohnung und von und zu seinem Taxiplatz fährt.
Obwohl diese Fahrten als privat angesehen werden, sindsie so geringfügig, dass einem hundertprozentigen Abzugnichts im Wege steht.Anders schaut es aus, wenn derselbe Taxifahrer außer-dem noch regelmäßig mit dem Fahrzeug in den Urlaubfährt oder das Auto regelmäßig in seiner Freizeit privatnutzt.
Wenn das der Fall ist, muss es zu einem verminderten Ab-zug der Vorsteuer kommen. Es ist selbstverständlich auchim Sinne der SPD, dass der Unternehmer, welcher einensolchen Fuhrpark aus betrieblichen Gründen betreibt,auch voll in den Genuss des Vorsteuerabzuges kommt– aber eben nur, wenn es sich um eine tatsächliche be-triebliche Nutzung handelt.Wenn Sie, meine Damen und Herren von derCDU/CSU-Fraktion, in dieser Frage anderer Meinungsind, dann bitte ich Sie, den vielen Menschen draußen, dienicht selbstständig sind, zu erklären, warum ihr Chef fürsein Auto keine Mehrwertsteuer zu bezahlen braucht, ob-wohl er es genauso privat nutzt.
Ich glaube nicht, dass Sie viele Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer finden werden, die da mit Ihnen einer Mei-nung sind. Natürlich bleibt abzuwarten, wie sich der Bun-desfinanzhof bzw. der Europäische Gerichtshof zu dieserFrage äußern werden.Im Übrigen ist auch das nichts Neues. Von Ihnen wurdedieses Thema schon ziemlich oft auf die Tagesordnunggebracht, unter anderem auch in Fragestunden; das letzteMal am 7. Februar dieses Jahres.
Obwohl die Staatssekretärin Frau Barbara HendricksIhrem Fragesteller, Herrn Michelbach, ausführlich erklärthat, dass der Bundesfinanzhof gegenüber dem Europä-ischen Gerichtshof lediglich Zweifel an der Vereinbarkeitder Ratsentscheidung mit dem Gemeinschaftsrechtgeäußert hat, weil dem deutschen Gesetzgeber durch dieRatsentscheidung eine rückwirkende Genehmigung ge-geben worden ist, stellen Sie in Ihrem Antrag die Gesetz-lichkeit der Beschränkung des Vorsteuerabzuges an sichwieder infrage.Der Bundesfinanzhof hat aber überhaupt nicht vonUnverhältnismäßigkeit gesprochen. Es ging lediglich umden Zeitpunkt der Ratsentscheidung. Aber auch das ist Ih-nen bekannt, weil Sie es in der angesprochenen Frage-stunde genau erläutert bekommen haben. Da frage ichmich schon, wieso Sie Ihr parlamentarisches Recht aufFragen wahrnehmen, wenn Sie überhaupt nicht gewilltsind, die Antworten zu akzeptieren.
Aber auch diesbezüglich scheint Ihre Arbeitsweiserecht konfus zu sein. Denn als das Thema am 24. Januardieses Jahres als Punkt 14 der Tagesordnung im Finanz-ausschuss behandelt wurde, hat nicht einer aus Ihren Rei-hen dazu etwas gesagt.
Diese EU-Vorlage wurde von Ihnen lediglich zur Kennt-nis genommen. Ich habe mir extra das Protokoll zu die-sem Tagesordnungspunkt angeschaut, um mich zu verge-wissern, dass Sie tatsächlich nichts dazu gesagt haben.
Wenn Sie noch nicht einmal im Ausschuss darüber disku-tieren wollen, frage ich mich, wie wichtig Ihnen diesesThema tatsächlich ist. Im Hinblick auf eine noch ausste-hende endgültige Entscheidung in dieser Frage halte ich esfür derzeit überhaupt nicht nötig, weiter über dieses Themazu diskutieren. Um in der Sache vernünftig weiter voran-zukommen, müssen wir abwarten und uns danach Gedan-ken machen, wie wir im Sinne der Entscheidung verfahren.
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Simone Violka15219
Sollte es ein Urteil gegen das bestehende Gesetz geben,werden wir selbstverständlich aktiv werden.
Aber bis dahin bleibt die richterliche Entscheidung abzu-warten. Allerdings bin ich zuversichtlich, dass unser gül-tiges Gesetz keinen Verstoß beinhaltet.
Als
nächster Redner hat der Kollege Gerhard Schüßler von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Der heute von der
Union vorgelegte Antrag ist die logische Konsequenz aus
einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs – damit das
einmal klar ist.
Nicht zum ersten Mal hat ein Gericht rechtliche Be-
denken gegenüber der hektischen und unsystematischen
Steuerpolitik der Koalition angemeldet. Diesmal hält der
Bundesfinanzhof die im letzten Jahr vorgenommenen
Einschränkungen beim Vorsteuerabzug aus Reisekosten
für EG-rechtswidrig. Herr Minister Eichel wurde gestern
im Finanzausschuss gebeten, dazu Stellung zu nehmen. Er
hat sich geweigert und gesagt, das werde Frau Hendricks
machen.
– Ja, er hatte gestern einen schwachen Tag.
Frau Hendricks hat das aber auch mit einer Handbewe-
gung vom Tisch gewischt.
Einschränkungen beim Vorsteuerabzug gehen zulasten
der Unternehmer. Für den Vorsteuerabzug gibt es klare
Regeln, gerade im EG-Recht. Das müssten Sie auch mit-
bekommen haben. Aber die rot-grüne Koalition ist mit
dem Ausschluss des Vorsteuerabzugs aus Reisekosten
wieder einmal klar über das Ziel hinausgeschossen. Die
damals geäußerte massive Kritik der Betroffenen hat Sie
nicht interessiert, und sie war Ihnen, wenn sie Sie interes-
siert hat, völlig egal, weil Sie einzig und allein Gegenfi-
nanzierungspotenzial für Steuersenkungen erschließen
wollten.
Grundsätzlich ist die Verbreiterung einer Bemessungs-
grundlage zu begrüßen, wenn im Gegenzug Steuern ge-
senkt werden. Das darf aber nicht dazu führen, dass in die
Systematik des Steuerrechts eingegriffen wird.
Die Koalition hat zwar eine Steuerreform in Gang ge-
setzt. Das ist auch im Grundsatz richtig, weil nach jahre-
langer Blockierung durch Rot-Grün
endlich mit Steuersenkungen begonnen worden ist. Es ist
aber auch eine Binsenweisheit, dass es an vielen Stellen
ganz erheblichen Nachbesserungsbedarf gibt. Das gilt in
besonderer Weise für den Mittelstand,
den die Koalition mit dem Abzugsverbot für Vorsteuern
aus Reisekosten erneut getroffen hat.
Es bedarf dringend erheblicher Korrekturen der bishe-
rigen rot-grünen Steuerpolitik. Da hilft auch die Aussage
von Herrn Eichel, dass das bis zum Jahr 2006 nicht not-
wendig sei, überhaupt nicht. Es bedarf erheblicher Kor-
rekturen. Ein ganzer Katalog könnte jetzt vorgetragen
werden, aber ich tue das nicht.
Es geht ganz wesentlich auch um die Gleichbehand-
lung bei der Besteuerung. Die deutsche Wirtschaft ist mit-
telständisch geprägt. Personengesellschaften und Einzel-
unternehmen im Handwerk sowie im gewerblichen und
industriellen Mittelstand bilden das Rückgrat unserer
Volkswirtschaft und stellen die meisten Arbeitsplätze.
Dem widerspricht die starke Spreizung der Steuersätze.
Sie muss wesentlich schneller abgebaut werden, um die
rechtsformneutrale Besteuerung zu erreichen. Ich könnte
diese Aufzählung beliebig erweitern. Rot-Grün sollte end-
lich die ideologische Brille abnehmen und endlich eine
Steuerpolitik für alle machen.
Die Entlastung des Unternehmens bei Beibehaltung
hoher Steuerlast für die Unternehmer ist der Hauptkri-
tikpunkt der F.D.P. Es nützt dem Mittelstand gar nichts,
wenn Herr Eichel weitere Steuersenkungen auf Jahre hin
ausschließt. Wenn die Politik nicht handelt, werden wie-
der einmal die Gerichte korrigieren müssen. Der heute
vorliegende Antrag ist nur ein Beispiel dafür.
Die Rede
der Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen,
nehmen wir zu Protokoll.*)
Damit kommen wir zur Rede der Kollegin Heidemarie
Ehlert von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen vonder CDU, ich muss mich schon sehr wundern, dass Sie fürdiesen Antrag zwei Jahre gebraucht haben. Wir haben vorgenau zwei Jahren die Gesetzesänderung beschlossen.
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Simone Violka15220
*) Anlage 2Ich freue mich trotz alledem, dass auch Sie noch lernfähigsind.Die Begründung, das Gastgewerbe werde erheblich be-nachteiligt, finde ich aber schon bemerkenswert. Erst ges-tern wurde in diesem Hohen Hause nachgewiesen, dassdie Umsätze für Übernachtungen usw. im letzten Jahr er-heblich angestiegen sind. Irgendwelche Aussagen stim-men da nicht.Sie sprechen von einer mittelstandsfeindlichen Rege-lung. Da frage ich Sie: Von welchen Größenordnungen re-den wir hier überhaupt? Welchen Anteil an den Betriebs-ausgaben haben Übernachtungs- und Reisekosten? Ichkomme noch auf Ihren Antrag zurück.Schlimm finde ich, Frau Violka, wenn Sie jetzt denDienstreisenden vorschreiben wollen, sich nur noch vonSchokoriegeln und Rostern zu ernähren.
Dass das familienfreundlich ist, möchte ich bezweifeln.
Jetzt aber zu dem Antrag.
Frau
Ehlert, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Violka?
Aber sicher doch. Sie hat
das ja empfohlen.
Bitte
schön, Frau Violka.
Frau Ehlert, sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass ich nicht den Leuten empfoh-
len haben, das zu tun, sondern lediglich festgestellt habe,
dass das Sache eines jeden Einzelnen ist und dass es Men-
schen gibt, die abends in Gaststätten gehen und sich dort
ernähren, und andere, die es vorziehen, sich von Schoko-
riegeln und anderen Dingen zu ernähren, dass es also in
der Entscheidung des Mitarbeiters liegt, was er tut? Ich
habe das nicht empfohlen. Sind Sie bereit, das zur Kennt-
nis zu nehmen?
Ich denke, essen ist ein
Menschenrecht. Das müssen wir den Menschen lassen,
auch den Arbeitnehmern.
Ich zitiere aus dem dritten Bericht des Finanzaus-
schusses vom 3. März 1999:
Nach der Philosophie der meisten EU-Mitgliedstaa-
ten dienen Verpflegung und Übernachtung in erster
Linie der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse
– das haben wir eben noch einmal gehört –
und sind erst in zweiter Linie unternehmerisch ver-
anlasst. Aus diesem Grund gewähren die meisten
EU-Mitgliedstaaten keinen Vorsteuerabzug aus Ver-
pflegungs- und Übernachtungskosten. Dieser Philo-
sophie schließt sich der deutsche Gesetzgeber durch
die Streichung des Vorsteuerabzugs aus bestimmten
Reisekosten nunmehr an.
Philosophie ist aber nicht gleich Richtlinie. Insofern lohnt
es sich schon, einmal über bestimmte Entscheidungen im
Steuerentlastungsgesetz nachzudenken. Fehler sind ja
dazu da, dass man sie korrigiert.
Nachdenken kann man zum Beispiel darüber, ob eine
Wiederherstellung des Vorsteuerabzuges für Hotelrechnun-
gen oder Fahrscheine doch ermöglicht wird. Allerdings
kann ich einen Vorsteuerabzug aus Pauschbeträgen, wie er
früher möglich war, nicht befürworten. Das wäre einfach
ein Systembruch. Denn in § 15 des Umsatzsteuergesetzes
steht ausdrücklich, dass nur die offen auf Rechnungen aus-
gewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer abzugsfähig ist.
Zur Kappung des Vorsteuerabzugs bei PKW hat Frau
Violka zugegeben, dass es unterschiedliche Nutzungen
gibt. Ich möchte hier ein Beispiel bringen: Zum Teil ha-
ben wir betriebliche Nutzungen bis zu 90 Prozent; den-
noch ist nur ein Vorsteuerabzug von 50 Prozent zulässig.
Darüber sollten wir meines Erachtens nachdenken. Es
gibt Möglichkeiten, die tatsächliche betriebliche Nutzung
nachzuweisen. Der Vorsteuerabzug für tatsächliche be-
triebliche Nutzungen sollte von uns allen ermöglicht wer-
den.
Ich danke Ihnen.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/5223 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen derSPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurBekämpfung der illegalen Beschäftigung im ge-werblichen Güterkraftverkehr
– Drucksache 14/5446 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Sozialordnungb) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
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Heidemarie Ehlert15221
Wohnungswesen zu dem Antragder Abgeordneten Angelika Mertens, AngelikaGraf , Hans-Werner Bertl, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowie derAbgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig,Kerstin Müller , Albert Schmidt (Hitz-hofen), weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENBekämpfung der illegalen Kabotage und desSozialdumpings im Transportgewerbe– Drucksachen 14/3702, 14/4669 –Berichterstattung:Abgeordneter Wilhelm-Josef SebastianNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat dieKollegin Angelika Graf von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Problem ist denFachleuten – ich sehe hier nur Fachleute – bekannt und hatuns im letzten Jahr schon mehrfach beschäftigt.Dennoch, so meine ich, sollte man eine kurze Be-schreibung des Problems geben: Das deutsche mittelstän-dische Fuhrgewerbe leidet unter einem starken, teilweiseruinösen Wettbewerbsdruck.
Dies hat eine Reihe von Gründen. Neben Harmonisie-rungsdefiziten in der EU, insbesondere in steuerlicherHinsicht, aber auch in anderen Bereichen, ist eine ganzwichtige Ursache in der Tatsache zu sehen, dass eineReihe der großen, international agierenden Fuhrunterneh-men auf Fahrzeugen, die im EU-Ausland zugelassen sind,illegales Fahrpersonal aus den MOE-Staaten einsetzen.Immerhin werden laut Schätzungen des Bundesver-bandes für Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung,BGL, 15 Prozent aller Straßengütertransporte in der Bun-desrepublik zurzeit von EU-ausländischen Fahrzeugenund von Fahrzeugen aus Drittländern durchgeführt. In derBundesrepublik schlagen die Löhne für die Fahrer nor-malerweise mit über 30 Prozent der Gesamttransportkos-ten zu Buche. Durch den Einsatz von illegalen Billigfah-rern kommt es zu erheblichen Preisunterbietungen,welche nach einem Bericht des Europäischen Parlamentsvom 12. Februar 2001 – er ist also ganz frisch und neu –bis zu 30 Prozent des üblichen Marktpreises für die ent-sprechende Transportleistung ausmachen können. Das istkein Wunder, weil diese Fahrer einen Stundenlohn vonetwa 5 Mark bekommen.
Regelungen der EU – inzwischen sind sich übrigensdie EU-Länder Österreich, Deutschland, Frankreich, dieNiederlande, Belgien und Dänemark des Problems durch-aus bewusst – werden nicht in allernächster Zeit erwartet.Dass dieser Missstand deshalb, soweit möglich, nationalbekämpft werden muss, darüber waren wir uns bei denBeratungen in dieser Angelegenheit bei den letzten De-batten in diesem Haus ziemlich einig.
Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung ha-ben nun den vorliegenden Gesetzentwurf auf den Weg ge-bracht, der einerseits die Pflicht jedes Fuhrunternehmers,der auf deutschen Straßen unterwegs ist, festschreibt, nurFahrer mit den entsprechenden Arbeitsgenehmigungeneinzusetzen. Andererseits wird nach dem neuen § 7 c desGüterkraftverkehrsgesetzes die Verpflichtung auch aufdie Verlader ausgedehnt.
Die Kontrolle des Fahrpersonals obliegt dem Bundesamtfür Güterverkehr. Bei Verstößen sollen die Bußgelderdeutlich erhöht werden.
In den letzten Tagen und Wochen ist nun von der Indus-trie, aber auch von einzelnen Bundesländern die so ge-nannte Verladerhaftung strittig diskutiert worden. LassenSie mich deshalb dazu noch einige Sätze sagen. Bei einemPreisvorteil von 30 Prozent durch illegale Beschäftigunggehört auch die verladende Wirtschaft, die die Dienste desFuhrunternehmers in Anspruch nimmt, zu den Nutz-nießern und damit zu den Förderern dieser Praxis.
Deshalb halten wir diesen neuen § 7 c des Güterkraftver-kehrsgesetzes für sehr sinnvoll und richtig.
Deshalb sind wir guten Mutes, dass sich die A-Ländertrotz einiger Bedenken unserer Argumentation anschlie-ßen werden.Die Philosophie, die hinter dieser vorgeschlagenenRegelung steht, ist übrigens dieselbe, die zum § 404Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgesetzbuches III geführt hat. DerAuftraggeber von Leistungen soll nicht von den Leistun-gen profitieren, die durch den Einsatz illegaler Arbeitneh-mer billig angeboten werden. Das fahrlässige Nichtwis-sen – auch das schreibt der Gesetzentwurf fest – kannkeine Entschuldigung sein.
Denn von einem Betrieb, der Transportleistungen bestellt,kann man verlangen, dass er sich einen Überblick über diePreise und auch über die Preisgrundlagen verschafft. DiePreisgrundlagen sind leicht zu durchschauen, wenn manweiß, was für einen Fahrer usw. gezahlt wird.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms15222
Das SGB III benennt bei den Bußgeldvorschriften denUnternehmer, der einen anderen Unternehmer mit illega-len Arbeitskräften für sich arbeiten lässt, übrigens an ers-ter Stelle, also in Absatz 1, und erst danach – in Absatz 2 –den ausführenden Unternehmer. Ich glaube, dass das eineganz wichtige Wertung ist, auch um darzustellen, welcheZusammenhänge in diesen Bereichen bestehen.
In Anbetracht der durch illegale Beschäftigung imFuhrbereich erwirtschafteten Gewinne und des gesell-schaftlichen Schadens, den ich in meiner letzten Rede zumselben Thema durch ein Beispiel aus den Ermittlungsaktendes Hauptzollamtes Rosenheim belegt habe, ist es sehr zubegrüßen, dass die Bußgeldandrohung für beide Fälle – inAnlehnung an die Regelungen im SGB III übrigens, diedieselbe Höhe vorschreiben – auf bis zu 500 000 DM fest-gelegt wurde. Ich hoffe, dass das eine Möglichkeit ist, dieHerrschaften, die solche Praktiken betreiben, davon zuüberzeugen, dies vielleicht doch nicht zu tun.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Koaliti-onsfraktionen und die Bundesregierung haben mit diesemGesetzentwurf einen wichtigen Schritt gegen die Wettbe-werbsverzerrungen, die in dieser Branche herrschen, ge-tan. Wir würden uns freuen, wenn Sie dem Antrag heutezustimmen könnten und auch den vorgelegten Gesetzent-wurf entsprechend unterstützen würden.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Renate Blank von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Die Wettbewerbssituation im deut-schen Transportgewerbe, das mittelständisch geprägt ist,hat sich dramatisch verschärft. Gründe sind zum Beispieldie seit Öffnung des Binnenmarktes fehlende bzw. nichtabgeschlossene Harmonisierung im Verkehrsbereich, derverstärkte Druck ausländischer Konkurrenz und der zu-nehmende Einsatz von Fahrern aus Billiglohnländern.Ein deutscher Fahrer kostet circa 8 000 bis 9 000 DM imMonat, ein Fahrer aus Billiglohnländern höchstens1 500 DM.Aber es gibt auch hausgemachte Belastungen, zumBeispiel die Ökosteuer.
Die Probleme der illegalen Kabotage und Beschäfti-gung haben in der letzten Zeit zugenommen. Wenn in-und ausländische Transportunternehmer bei der Beschäf-tigung von ausländischem Fahrpersonal Regelungen desArbeits-, Sozialversicherungs- und Aufenthaltsrechts um-gehen, ergeben sich daraus ein ruinöser Lohn-Preis-Druck für Fahrer und Transportgewerbe sowie Ausfällebei Steuern und Sozialbeiträgen. Das ist Fakt.Illegale Beschäftigung von Fahrpersonal aus MOE-Drittländern zu deren Heimat-Lohnbedingungen und dieunberechtigte Teilnahme am deutschen und am EU-Bin-nenmarkt führen zu einer völligen Zerrüttung des Mark-tes und zu Wettbewerbsverzerrungen. Wir wissen alle,dass die Rechtslage zwar den unerlaubten Einsatz vonFahrpersonal aus Nicht-EU-Staaten im binnenländischenKabotageverkehr verbietet, dass jedoch die unterschiedli-chen Bedingungen und rechtlichen Spielräume sowieHandhabungen in den EU-Mitgliedstaaten dazu führen,dass es bisher sehr schwer oder kaum möglich ist, uner-laubte Praktiken zu erkennen bzw. zu verhindern oder garwirksam zu ahnden. Deshalb müssen verschärft Kontrol-len in ausreichender Dichte, verbunden mit entsprechen-den Sanktionen, durchgeführt und die Kontrollbefugnisdes Bundesamtes entsprechend erweitert werden.
Gerade der grenzüberschreitende Güterverkehr mitden mittel- und osteuropäischen Staaten hat stark zuge-nommen und wird in den nächsten Jahren weiter zuneh-men.Bezüglich meiner bisherigen Ausführungen bestehtwahrscheinlich allgemeiner Konsens – bis auf die Öko-steuer natürlich. Das nun vorliegende Gesetz ist aus unse-rer Sicht aber nur ein erster Schritt, um das deutsche Ge-werbe wettbewerbsfähig zu erhalten und zu sichern. BDIund DIHT kritisieren den Gesetzentwurf.
Die Beratungen in den Ausschüssen werden ergeben,welcher Weg richtig, rechtlich haltbar und zielführendsein wird.
Wie gesagt: Der Gesetzentwurf ist nur ein ersterSchritt, aber nicht der entscheidende, so wie es der Ver-kehrsminister behauptet hat, um den ruinösen Wettbewerbim Transportgewerbe zu bekämpfen. Es gibt noch mehr zutun. Genauso wichtig wären die Abschaffung der Öko-steuer und die Gewährung fiskalischer Hilfen, wie das inanderen europäischen Ländern praktiziert wird. Diedurchschnittlichen Belastungen für einen LKW liegen inDeutschland bei 43 000DM, in Frankreich bei 30 000DMund in den Niederlanden bei 28 000 DM.
Ich sage es immer wieder: Wenn Firmen ausflaggen,wird kein einziger LKWweniger auf unseren Straßen fah-ren. Es ändern sich nur die Kennzeichen und unserem
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Angelika Graf
15223
Fiskus gehen circa 120 000 DM pro LKW an Einnahmenverloren.
Auch das ist Tatsache.
Die EU-Kommission beabsichtigt die Einführung ei-ner so genannten Fahrerlizenz zum Nachweis eines lega-len Beschäftigungsverhältnisses im Mitgliedstaat des Un-ternehmenssitzes. Mit der Ausstellung eines solchenAusweises an den Fahrer soll bescheinigt werden, dassdieser legal arbeitet.
In Ihrem Gesetzentwurf führen Sie aus, dass mit der EU-weiten Einführung einer solchen Fahrerbescheinigung inabsehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Wir fordern die Bun-desregierung mit Nachdruck auf, darauf hinzuwirken,dass eine EU-Fahrerlizenz schnellstens eingeführt wird.Sie wollten doch alles besser machen. Das können Sie da-durch beweisen, dass Sie in diesem Punkt etwas schnellerreagieren. Wenn ich in Ihrem Entwurf lese, dass die Ein-führung „in absehbarer Zeit“ geschehen soll, kann dasauch auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben sein.
– Sie haben durchaus Einfluss, Entscheidungen der Euro-päischen Union zu beschleunigen. Sie haben ja großgetönt.Der nun vorliegende Gesetzentwurf berührt einen Be-reich unseres Antrags vom 26. September 2000, der da-rauf abzielt, die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Gü-terkraftverkehrsgewerbes zu erhalten und zu sichern, dersechs konkrete Forderungen hat und wesentlich umfang-reichere Maßnahmen für das Gewerbe beinhaltet. Wirhoffen, dass Sie nach dem Gesetzentwurf, der das allge-meine Anliegen aller in diesem Hause ist, im Interesse desdeutschen Transportgewerbes mit seinen rund 380 000Beschäftigten schnell handeln und nicht die Hände in denSchoß legen. Solange wir Joghurt nicht per E-Mail ver-senden können, müssen wir uns um das deutscheTransportgewerbe kümmern. Wir fordern Sie auf, nochmehr für dieses Gewerbe zu tun.
Ich erteilejetzt dem Kollegen Albert Schmidt vom Bündnis 90/DieGrünen das Wort.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Ich stimme im Wesentlichen den Ausführungenmeiner beiden Vorrednerinnen ausdrücklich zu. Es ist inder Tat so, dass wir im Bereich des Güterkraftverkehrs,über den wir heute reden, einen hohen Regelungsbedarfhaben. Ich füge aber auch hinzu: nicht erst seit heute odergestern, sondern im Grunde schon seit Jahren. Ich binfroh, dass die jetzige Bundesregierung den Handlungsbe-darf sieht, das Thema aufgreift und entsprechende Maß-nahmen umsetzt.
Die illegale Kabotage im LKW-Gewerbe auf den deut-schen Straßen ist ein Musterbeispiel dafür, dass Liberali-sierung ohne gleichzeitige Harmonisierung der Wettbe-werbsbedingungen schief gehen muss. Deswegen begrüßtes unsere Fraktion ausdrücklich, dass das Bundesver-kehrsministerium – natürlich im Benehmen mit den Sozi-alpolitikern der Ministerien und der Fraktionen – einennach meiner Meinung guten und notwendigen Gesetzes-vorschlag vorgelegt hat.Wir haben es mit Harmonisierungsdefiziten im Steuer-bereich zu tun. Die Kollegin Blank hat das zu Recht aus-geführt. Ich möchte allerdings, Frau Kollegin Blank, da-rauf hinweisen: Wenn man die Situationen der LKW inden verschiedenen Ländern miteinander vergleicht, darfman nicht unterschlagen – was in bestimmten Vergleichs-rechnungen, die Sie heute auch zitiert haben, immer wie-der geschieht –, dass es in vielen Ländern, zum Beispielin Frankreich, aber nicht in Deutschland, eine Zulas-sungssteuer für LKW gibt, um das Fahrzeug überhauptkaufen und auf die Straße bringen zu dürfen. Man darfauch die Autobahnmaut nicht unterschlagen, die es in vie-len Ländern, gerade in Westeuropa, in einer Größenord-nung von 25 oder 30 oder mehr Pfennig gibt. Bei uns gibtes sie im Augenblick noch nicht; wir sind dabei, sie ein-zuführen. Wenn man Vergleiche anstellt, muss man diegesamte Kostensituation vergleichen.Das Problem, mit dem wir uns heute beschäftigen, istaber nicht das Steuerrecht, sondern in der Tat der zuneh-mende Einsatz von Fahrern aus so genannten Billiglohn-ländern, vor allem aus dem mittleren und östlichen Eu-ropa. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass einFuhrunternehmer, der seinem Fahrer 8 000 bis 9 000 DMan Lohn pro Monat zahlen muss, niemals mit einem Fuhr-unternehmer konkurrieren kann, der seinem Fahrer ge-rade einmal 1 500 DM zahlt. Ein solcher Wettbewerb istruinös. Er kann nicht funktionieren.
Es ist auch zu Recht darauf hingewiesen worden, dassdie Europäische Kommission dieses Problem wohl er-kannt hat und dass sie inzwischen einen Ver-ordnungsentwurf vorgelegt hat, der die EU-weite Ein-führung einer einheitlichen Lizenz für Fahrer ausDrittstaaten vorsieht. Mit dieser Lizenz soll in erster Liniesichergestellt werden, dass den Unternehmen, die ihrenSitz in der Europäischen Gemeinschaft haben, die Mög-lichkeit genommen wird, Fahrer aus Drittstaaten, aus sogenannten Billiglohnländern, ohne Arbeitsgenehmigungin der Gemeinschaft einzusetzen. Wir wissen auch, dassder EU-Verkehrsministerrat in seiner am 20./21. Dezem-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Renate Blank15224
ber beschlossenen Absichtserklärung entsprechendeSchlussfolgerungen gezogen hat. Nur, zurzeit ist leidernicht absehbar, ab wann mit einer EU-weiten Einführungeiner einheitlichen Fahrerlizenz gerechnet werden kann.
Es hängt leider, Frau Kollegin Blank, eben nicht nur vonder deutschen Seite ab, wie schnell das möglich ist. Daswissen wir alle. Aber wir können und wollen nicht solange warten, bis sich alle einig geworden sind. Deshalbist hier die Vorreiterrolle Deutschlands gefragt. Im Vor-griff auf eine europäische Regelung werden wir für dasdeutsche Transportgewerbe eine entsprechende Regelungumsetzen. Das ist gut so.
Die Regelungen im Gesetzentwurf sehen vor, dass derUnternehmer künftig verpflichtet ist, nur noch Fahrer ein-zusetzen, die ihre Arbeitsgenehmigung im Original undeine amtlich beglaubigte Übersetzung dieser Genehmi-gung mit sich führen. Diese Verpflichtung wird – das ist§ 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes, den schon die Kol-legin Blank angesprochen hat – auch auf die Verlader aus-gedehnt. Sie dürfen künftig nur noch Unternehmer ein-setzen, die Inhaber einer Einzelerlaubnis oder einerGemeinschaftslizenz sind. Damit ist die gesamte Logis-tikkette in die Verpflichtung einbezogen. Dies halten wirausdrücklich für richtig.
Ich begrüße es auch, dass die Kontrollzuständigkeitbeim Bundesamt für Güterverkehr angesiedelt wird unddass dort Stellen dafür geschaffen werden. Es wird 13 zu-sätzliche Stellen geben und es werden so genannte Büro-kraftfahrzeuge angeschafft werden, mit denen die Umset-zung der Kontrollen sichergestellt werden soll. Das kostetnochmals etwa 1,7 bis 1,8 Millionen DM. Ich meine, dassdas Geld des Steuerzahlers hier gut angelegt ist, weildurch die Kontrollen sozialer Missbrauch verhindert wirdund letztlich die ordnungsgemäße Abführung von Sozial-abgaben und Steuern gewährleistet wird. Das hier inves-tierte Geld wird sich mit Sicherheit doppelt und dreifachrefinanzieren.
Ich möchte abschließend darum bitten, dass wir alle imanstehenden Beratungsverfahren, in den Ausschüssen undirgendwann auch im Bundesrat, möglichst an einemStrang ziehen und dafür sorgen, dass die Vorgriffsrege-lung der deutschen Bundesregierung für das deutscheSpeditionsgewerbe auch möglichst astrein umgesetztwird und nicht durch Einflüsse Dritter, die schon jetztwieder Alarm rufen, verwässert und wirkungslos gemachtwird. In diesem Sinne bitte ich herzlich um Ihre Unter-stützung.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage, die sichbei dem heute vorliegenden Gesetzentwurf stellt, ist: Hilftdas tatsächlich kurzfristig dem deutschen Transportge-werbe oder ist das bis zum Ende Ihrer Regierungszeit2002 das Einzige, was Sie zu bieten haben, um das deut-sche Transportgewerbe zu beruhigen? Denn Fakt ist, dasssich die Kostenbelastung des deutschen Transportgewer-bes im Bereich des Fernverkehrs seit Januar 1999, also inIhrer Regierungszeit, um sage und schreibe 18,5 Prozenterhöht hat, und zwar trotz Ihrer angeblich sozial ausge-wogenen Kostenreduzierung.
Einer der Hauptgründe dafür ist und bleibt die Ökosteuer.
– Ich habe die offizielle Statistik des BGL vorliegen.
Bevor Sie dazwischenrufen, sollten Sie diese einmal le-sen. Dort steht alles drin.Sie werden mit diesem Gesetz zu kurz springen, weilSie wiederum nur die Auswirkungen kurieren wollen undnicht an die Ursachen gehen. Die konkrete Tatsache ist– das ist schon dargestellt worden – die Differenz, was dieKostensituation angeht. Darauf haben Sie noch einmaldraufgepackt, indem Sie den nationalen AlleingängenFrankreichs, Belgiens, Italiens und der Niederlande nichtwidersprochen haben. Sie haben sie jetzt im Ecofin-Ratsogar noch bis Ende 2002 bestätigt. Bis zu diesem Zeit-punkt wird das deutsche Gewerbe Kostennachteile haben.
Jetzt setzen Sie den Vorschlag zur Bekämpfung der il-legalen Beschäftigung obendrauf. Der Grundansatz istrichtig. Womit ich Probleme habe, ist zunächst einmal dieBehauptung, es seien 10 bis 15 Prozent. Es gibt keine ein-zige Institution in Deutschland, die diese Zahl seriöser-weise belastbar nachprüfen kann.
– Auch der BGL hat keine belastbaren Zahlen. Er rechnetsie hoch bzw. schätzt sie.
Das Bundesamt für Güterverkehr bestätigt dies.Der nächste Punkt: In § 7 c Ihres Gesetzentwurfsgeht es darum, Kontrolltätigkeiten, die eigentlich im
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Albert Schmidt
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Interesse der Polizei oder des Bundesamtes für Güterver-kehr liegen, auf einen Privaten zu übertragen, nämlich aufden Verlader. Der Verlader ist nach Ihrem Gesetzentwurfverpflichtet, sich zu vergewissern, dass der Transporteur,den er vielleicht gar nicht kennt, mit dem er überhauptkeine Rechtsbeziehung hat,
über eine entsprechende Erlaubnis verfügt.Ich erinnere mich daran, was die Länder für einen Auf-stand gemacht haben, als wir bei der letzten Änderung desGüKG dem Bundesamt für Güterverkehr mehr Kontroll-rechte einräumen wollten. Nun aber erhebt die Länder-seite überhaupt keinen Einspruch dagegen, dass be-stimmte Kontrolltätigkeiten auf Private übertragenwerden sollen. Angesichts dessen muss man sich schonfragen, wohin wir eigentlich gekommen sind.
Es stellt sich auch die Frage, ob das überhaupt greift.
Wie kann es in diesem Bereich zu einer Vereinheitli-chung innerhalb Europas kommen, Herr KollegeSchmidt? In Frankreich zum Beispiel sind algerische Fah-rer, die von französischen Unternehmern eingesetzt wer-den, überhaupt nicht verpflichtet, einen Beleg bei sich zuführen.
Glauben Sie denn ernsthaft, dass ein französisches Unter-nehmen, das seinen Zug mit einem algerischen Fahrernach Deutschland schickt, diesem, obwohl es dazu über-haupt nicht verpflichtet ist, eine Bescheinigung über dieNichtfreistellung oder Freistellung – noch dazu inDeutsch – mitgibt?
Ich habe den Eindruck, der Gesetzentwurf ist noch nichtin letzter Konsequenz durchdacht, schon gar nicht in eu-ropäischer Hinsicht. Deswegen wird es Zeit, dass wir imAusschuss über dieses Thema nachdenken.
Die Firma Betz, die Sie immer anführen, werden Siemit dieser Regelung nicht erfassen. Betz hat nämlichdurch die bulgarische Flotte, die er aufgekauft hat, alleCEMT-Lizenzen aufgekauft. Die Fahrer aus dem Be-reich – das ist die eigentliche Konkurrenz – fahren be-rechtigt in Deutschland. Das ist das eigentliche Problem.Ich sage Ihnen voraus: Dieses Gesetz ist zum Teil not-wendig. Aber Sie springen zu kurz, wenn Sie es nicht er-gänzen. Das werden wir in den Ausschussberatungen mit-einander zu diskutieren haben. Was wir dann im Endeffektmachen, wird letztendlich die Abstimmung hier im Bun-destag zeigen.Danke sehr.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Über-schriften der Vorlagen zu dieser Debatte zum Gesetz zurillegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftver-kehr klingen sehr gut. Tatsächlich – das ist hier deutlichgeworden – geht es nur um einen kleinen Ausschnitt desProblems, nämlich darum, dass Fahrer aus Drittstaatenauf LKW, die in der Europäischen Union zugelassen sind,daraufhin kontrolliert werden sollen, ob sie über arbeits-rechtliche Genehmigungen verfügen. Damit ist schonklar: Es geht nicht um schwarze Schafe irgendwo in Ost-europa, sondern darum, dass Unternehmen in der Europä-ischen Union, zu einem erheblichen Teil auch deutscheUnternehmen, Fahrer ohne arbeitsrechtliche Genehmi-gungen beschäftigen.
Der Vorschlag ist an sich sinnvoll. Ähnlich wie bei ei-nem Flächentarifvertrag, beim Mindestlohn, kann es sinn-voll sein, EU-Lizenzen und die Pflicht einzuführen, eineArbeitserlaubnis mit deutscher Übersetzung mitzuführen.Ich glaube aber – ausnahmsweise gebe ich dem KollegenFriedrich teilweise Recht –, dass der Teufel im Detailsteckt.
Egal, wie das Gesetz umgesetzt wird: Hierbei handelt essich auf alle Fälle um einen nationalen Alleingang.Erstens glaube ich schon, Frau Graf, dass die Europä-ische Union sehr schnell auf Ihre Initiative reagiert hat, in-dem sie schon im März vergangenen Jahres eine An-hörung durchgeführt hat.Zweitens sehe ich als Nichtjurist ein juristisches Pro-blem darin, wenn man sagt, der Verlader sei mitverant-wortlich, sogar dann, wenn er „fahrlässig handelt“, alsonicht weiß, dass ein Fahrer beschäftigt wird, der diese Ar-beitserlaubnis nicht mit sich führt.Drittens und letztens sagt ja sogar der BGL als Ratge-ber bei diesem Gesetzesantrag, dass eine Regelung ausseiner Sicht materiell nichts bringen würde, solange wei-terhin zum Beispiel Luxemburg, Österreich, Frankreichund die Niederlande großzügig Arbeitserlaubnisse aus-geben, egal, in welcher Form.Hier stellt sich die Frage, warum sie sie ausgeben. ZurBeantwortung dieser Frage muss man ein wenig weiter-gehen und tiefer schürfen. Dann kommt man zu dem Er-gebnis: Sie verteilen sie auch deswegen so großzügig,weil die Bedingungen im gesamten Gewerbe ruinös ge-
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Horst Friedrich
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worden sind und nicht nur in einzelnen Fällen, sondernmassenhaft Sozialdumping betrieben wird. So hat zumBeispiel bei einer Umfrage der Internationalen Transport-arbeiterföderation ein Drittel der befragten LKW-Fahrerzugegeben, in den letzten 30 Tagen einmal am Steuer ein-geschlafen zu sein. Bei diesem Drittel der Fahrer handeltes sich wohlgemerkt nicht um MOE-Fahrer, sondern umin den einzelnen Ländern ansässige Fahrer.
Wir glauben also, dass das Problem flächendeckendangegangen werden muss. Wir stimmen mit dem Kolle-gen Schmidt darin überein, dass Liberalisierung ohneHarmonisierung im Grunde nur in die Hose gehen kann.Dieses geschieht hier ganz eindeutig seit mindestens20 Jahren. Außerdem glauben wir, dass solch eine enormeZunahme des Güterverkehrs nicht sein müsste.
Ich habe in die Statistik geschaut und festgestellt, dasssich zum Beispiel die Zahl der finnischen LKW, die in denletzten 10 Jahren die Grenze überfahren haben, verfünf-facht hat. Das ist nicht darauf zurückzuführen, dass wirfünfmal so viel Handel mit Finnland betreiben würden,sondern darauf, dass es irgendwelche Rahmenbedingun-gen gibt, die es sinnvoll erscheinen lassen, Wagen in Finn-land anzumelden und damit über die Grenze zu fahren.
Letztendlich dürfte klar sein – hoffentlich sehen dasalle so –, dass die Art und Weise, wie die Schiene im Gü-terverkehr aufs Abstellgleis geschoben wurde, einenwichtigen Grund mit dafür darstellt, dass immer mehrVerkehr zu diesen ruinösen Bedingungen auf die Straßengelenkt wird.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika
Mertens.
A
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Blank hattedie große Sorge, dass wir die Hände in den Schoß legenwerden. Frau Blank, Sie können beruhigt sein, wir sind daein wenig anders gestrickt als Sie früher.
Horst Friedrich sorgte sich sehr darum, dass die Aus-nahmeregelungen auf EU-Ebene weiter zunehmen wer-den. Ich denke, dass Sie während Ihrer Regierungszeit– Sie haben ja viele Jahrzehnte mitregiert – eine MengeAusnahmeregelungen mitgetragen haben. Insofern könn-ten Sie fast unter die Kronzeugenregelung fallen.
Wir beraten heute in erster Lesung unseren Gesetzent-wurf zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im ge-werblichen Güterkraftverkehr. Die Dringlichkeit dieserFrage verdeutlicht auch der Bericht des federführendenAusschusses vom November letzten Jahres.
– Genau, aber vielleicht wollen die sich untereinander un-terhalten. – Darin wird die Bundesregierung aufgefordert,sich für die Einführung einer EU-Fahrerlizenz für Fahreraus Drittstaaten einzusetzen, die rechtlichen Vorausset-zungen dafür zu schaffen, dass durch Sozialdumping ein-gesparte Gelder bei Kontrollen wieder einzufordern sind,und die Wirkungsmöglichkeiten der Kontrollen zu stei-gern. Der Ausschuss hat auch gefordert, weitere flankie-rende Maßnahmen zu ergreifen.In allen Ausschüssen, in denen dieser Antrag beratenwurde, bestand großer Konsens darüber, dass die Verhält-nisse im Transportgewerbe verbessert und europaweitfaire Wettbewerbsbedingungen hergestellt werdenmüssen. Wenn die CDU/CSU und die F.D.P. nicht in je-dem mitberatenden Ausschuss eine grundsätzliche Ab-stimmungslinie verfolgt haben, mag das vielleicht ein we-nig an den in der Vergangenheit vertretenen Positionenzur Liberalisierung und Harmonisierung gelegen haben.
Ich erinnere auch an die Rede des Kollegen Sebastianvor zwei Jahren
– ich weiß – zur Reform des Güterkraftverkehrsrechts. Erhat damals die Reform als weiteren bedeutenden Libera-lisierungsschritt im europäischen Straßenverkehr begrüßt.Dem Thema Harmonisierung hat er jedoch keine größereAufmerksamkeit geschenkt.Sie wissen aber nur zu gut, dass seit der Liberalisie-rung im Jahre 1998 die Probleme durch illegale oder miss-bräuchliche Beschäftigung von Arbeitnehmern ausNicht-EU-Staaten in Deutschland größer geworden sind.Neben den bereits genannten Punkten ist es eine immerhäufiger anzutreffende Praxis – das ist hier schon mehr-mals betont worden –, dass Unternehmen mit Sitz inanderen EU- oder EWR-Staaten für ihre dort zugelasse-nen Fahrzeuge Fahrer aus Osteuropa beschäftigen. DieseFahrer werden zu extrem niedrigen Löhnen eingesetzt.
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Dr. Winfried Wolf15227
Die Folgen sind ein ruinöser Preisdruck für das ge-samte Transportgewerbe. Darüber hinaus gibt es einen ge-meinwirtschaftlichen Schaden durch Wettbewerbsverzer-rungen und Ausfälle bei Steuern bzw. Sozialbeiträgensowie negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Die-ses Problem ist eine weitere Altlast unserer Vorgängerre-gierung. Mir ist keine Initiative und vor allem kein Er-gebnis in dieser Sache bekannt, obwohl das Gewerbeschon sehr lange auf die Notwendigkeit einer entspre-chenden Regelung hingewiesen hat. Deshalb ist es umsowichtiger, dass wir dieses Thema angehen und lange be-stehende Defizite beseitigen.Die EU-Kommission hat Ende des Jahres 2000 einenVorschlag für die Einführung einer Fahrerlizenz vorge-legt. Die Bundesregierung unterstützt die Kommissionbei ihren Arbeiten. Die Probleme erfordern aus Sicht derBundesregierung – darin sind wir uns letztlich alle einig –aber bereits jetzt eine nationale deutsche Lösung.
Deshalb haben wir im Vorgriff auf die beabsichtigte Ein-führung der EU-Fahrerlizenz den vorliegenden Gesetz-entwurf zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung imgewerblichen Güterverkehr erarbeitet und den parla-mentarischen Gremien zur Bearbeitung zugeleitet.Mit diesem Gesetz soll der ruinöse Preis- und Wettbe-werbsdruck, der zulasten der Spediteure, aber auch zulas-ten der Fahrer aus dem In- und Ausland praktiziert wird,zurückgedrängt und die illegale Beschäftigung verhindertwerden. Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass Fahrperso-nal aus Nicht-EU-Staaten eine Arbeitsgenehmigung mit-führen und den Kontrollbeamten vorzeigen muss. DieseArbeitsgenehmigung muss von dem Land ausgestelltsein, in dem das Unternehmen, bei dem der Fahrer be-schäftigt ist, niedergelassen ist.Der Gesetzentwurf sieht zugleich vor, die Kontroll-tätigkeit zu verbessern. Herr Schmidt hat eben schon da-rüber berichtet, dass es neue Stellen gibt. Neben den ansich zuständigen Behörden wird jetzt das Bundesamt fürGüterverkehr zuständig sein, um die Einhaltung von Vor-schriften zur Arbeitsgenehmigung zu kontrollieren. Wer-den nach In-Kraft-Treten des Gesetzes Verstöße gegen dieEinhaltung der Arbeitserlaubnisvorschriften festgestellt,kann den Unternehmern nach den schon jetzt bestehendenVorschriften die Erlaubnis zur Ausübung des Gewerbesentzogen werden.Mit den Regelungen des Gesetzentwurfes kann derAuftrag aus dem Beschluss des Deutschen Bundestagesbereits als in Angriff genommen betrachtet werden. Wirbegrüßen sowohl die Aktivitäten der EU wie auch den An-trag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen; denn beidesunterstützt unsere bisherige Arbeit und die Zielrichtungdes Gesetzentwurfes in vollem Umfang.Wir werden dem Transportgewerbe dort helfen, wo diewirkliche Wurzel des Übels liegt. Es ist in unser aller In-teresse, dass im Straßengüterverkehr mittelständischeUnternehmen eine echte Überlebenschance haben. Dafürwerden die notwendigen Rahmenbedingungen geschaf-fen, und zwar völlig unabhängig von unserem Ziel, mög-lichst hohe Straßengüterverkehrsanteile auf die Schienezu verlagern.Dieser Gesetzentwurf dokumentiert jedenfalls einessehr deutlich: Eine Verdrängung von deutschen Transpor-teuren durch Transporteure aus europäischen Partnerstaa-ten oder aus Drittländern durch illegale Beschäftigungwird von uns nicht mehr hingenommen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wilhelm Sebastian.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! FrauStaatssekretärin, Sie haben gesagt, dass Sie nicht dieHände in den Schoß legen werden. Ich könnte Ihnen einelange Liste mit Punkten vortragen, bei denen noch jedeMenge Nachholbedarf besteht.
Ich habe das bereits im Herbst vorgetragen; vielleichtkomme ich darauf noch zurück.Sie sind nur Weltmeister im Ankündigen. Man mussschon fragen: Wo bleiben die Taten?
Aber eines haben Sie getan – ich kann das an dieser Stellenur wiederholen –: Sie haben die Ökosteuer eingeführt,die das Transportgewerbe in großem Maße belastet.
Diese Tatsache kann man nicht oft genug wiederholen.Ich fordere Sie wie so viele in diesen Tagen auf, die Öko-steuer endlich abzuschaffen.
Alle Redner haben festgestellt, dass der Gesetzentwurfder richtige Weg ist und dass damit ein wichtiger Schrittgegangen wird. Es gilt nämlich, die Wettbewerbsfähigkeitdes deutschen Güterkraftverkehrs in Europa zu erhalten.Die Bedrohung durch illegale Praktiken nimmt zu. Es istgut, dass hier schnell und entschlossen gehandelt wird.Seit der Öffnung des Binnenmarktes im Verkehrs-bereich vor einigen Jahren macht sich das Dilemma derverschiedenen nationalstaatlichen Regelungen in Europafür das deutsche Transportgewerbe sehr unangenehm be-merkbar. Der Einsatz von Fahrern aus Billiglohnländerndurch Spediteure, die ihren Sitz innerhalb der EU haben,führt zu einem Wettbewerbsnachteil der deutschen Spedi-teure, die diesem unerlaubt erreichten Preisvorteil derMitbewerber aus anderen Ländern vergeblich hinterher-laufen.
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Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens15228
Angesichts dessen muss man sagen, dass in nicht ak-zeptabler Weise mit Menschen umgegangen wird, wennsie für Billiglöhne Schwerstarbeit unter Missachtung jeg-licher Arbeitszeitregelung leisten müssen.
Es ist auch noch festzustellen, dass dies zu einer großenVerkehrsgefährdung auf deutschen Straßen führt.
Herr Friedrich hat angezweifelt, ob die hochgerechnetenZahlen stimmen. Wie bei jeder Statistik kann man an derRichtigkeit zweifeln. Aber wenn man der BerechnungGlauben schenkt, dann gibt es eine horrende Zahl vonMissständen.Wir wollen diesen Missständen begegnen und bietenunsere Mitarbeit an, dass hier geeignete Maßnahmen er-griffen werden. Weil Deutschland das Haupttransitland inEuropa ist, weil wir das größte Aufkommen an Transport-leistungen auf unseren Straßen haben, ist eine Regelungüberfällig. Die Tatsache, dass die Bundesregierung jetztzugunsten der deutschen Spediteure einer europäischenMaßnahme vorgreift, ist positiv hervorzuheben. UnsereAufforderung gerade in den letzten Monaten und unserentsprechender Antrag vom letzten Herbst, in dieser Rich-tung tätig zu werden, wurden dankenswerterweise aufge-griffen. Endlich wird gehandelt und nicht gewartet, bis dielangsamen Mühlen der Euro-Bürokratie mahlen.
Ich muss aber unterstreichen: Dies sollte Anlass sein,auch in anderen Bereichen aktiv zu werden; denn unserTransportgewerbe leidet erheblich unter den Wettbewerbs-unterschieden. Von meiner Kollegin sind die entsprechen-den Zahlen vorgetragen worden, die belegen, dass es er-hebliche steuerliche Unterschiede in den verschiedenenLändern gibt, auch wenn der Kollege Schmidt sagt, dassman hier alle Faktoren einbeziehen müsse. Das machenwir natürlich. Trotzdem denke ich, dass ein großer Har-monisierungsbedarf gegeben ist.In unserem im Herbst eingebrachten Antrag haben wiralle Forderungen aufgelistet. Ich könnte sie jetzt wieder-holen, ich will aber aufgrund der fehlenden Zeit daraufverzichten.Ich will zum Schluss die Bundesregierung und insbe-sondere den Verkehrsminister auffordern, jetzt entspre-chende Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Handeln Sieauch in anderen Bereichen im Interesse des deutschen ge-werblichen Güterkraftverkehrs! Lassen Sie es nicht bei die-sem Gesetz bewenden, das Sie uns heute vorgelegt haben!Vielen Dank.
Ich danke auch
und schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5446 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
zur Bekämpfung der illegalen Kabotage und des Sozial-
dumpings im Transportgewerbe. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/3702 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gibt es Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:
a) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts-
ordnung zu dem von den Abgeordneten Jörg van
Essen, Rainer Funke, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P.
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Siche-
rung der Pressefreiheit
– Drucksachen 14/1602, 14/5458 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Ände-
rung der Strafprozessordnung
– Drucksache 14/5166 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Zur Frage der Ausweitung des Zeugnisver-
weigerungsrechtes für Journalisten
– Drucksachen 14/2083, 14/3864 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Kein
Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete van Essen.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Pressefreiheit – und vor allen Dingen die Sicherungder Pressefreiheit – ist für die Demokratie unabdingbar.Ich denke, dass wir gerade in der letzten Zeit gesehen ha-ben, welche Bedeutung unabhängige Medien in unseremLand haben. Was auch immer an Skandalen hochgekom-men ist, wäre ohne die Aufklärungsarbeit der Medienund der Presse nicht möglich gewesen. Die Presse hat uns
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Wilhelm Josef Sebastian15229
viele Einzelheiten vermittelt. Deshalb bedarf die Pressenatürlich des Schutzes. Sie bedarf deshalb des Schutzes,weil sie auf Informanten angewiesen ist, weil sie auf Re-cherche angewiesen ist. Es gibt immer wieder Versuchemeiner staatsanwaltschaftlichen Kollegen, diesen Schutzder Presse aufzubohren. Es sind Vorfälle an die Öffent-lichkeit gelangt, die einen nachdenklich machen müssen,selbst dann, wenn das Herz für die Staatsanwaltschaft undfür die Strafverfolgung schlägt.Insbesondere aufgrund dieser Erfahrung, aber auchaufgrund des Drucks, den die Organisationen der Presseund der Medien gemacht haben, haben wir als F.D.P.-Bun-destagsfraktion sehr früh einen Gesetzentwurf vorgelegt,der alle wesentlichen Forderungen der Interessenvertre-tungen der Medien berücksichtigt
und deshalb gerade bei diesen Interessenvertretungen sehrviel Zustimmung gefunden hat.Wir haben dazu eine Anhörung des Rechtsausschus-ses des Deutschen Bundestages durchgeführt und Anre-gungen bekommen. Aber für uns als F.D.P. war insbeson-dere wichtig, dass die wesentlichen Weichenstellungen,die wir vorgenommen haben, dort von den Sachverstän-digen nachdrücklich unterstützt worden sind.
Deshalb bedaure ich sehr, dass so viel Zeit ins Land ge-gangen ist und dass wir zu dem Mittel eines Berichtesnach § 62 der Geschäftsordnung des Deutschen Bun-destages greifen mussten, um die Diskussion voranzu-bringen.
Es ist notwendig, dass wir hier endlich zu Entscheidungenkommen.
Sie haben gesagt, „selbst schuld“. Nein, wir sind nichtselbst schuld. Denn Sie haben immer wieder angekündigt,dass es auch einen Gesetzentwurf der Bundesregierunggeben wird.
Leider haben wir erst heute die erste Beratung dieses Ge-setzentwurfes. Uns bestätigt das: Wenn wir diesen Antragnach § 62 der Geschäftsordnung nicht gestellt hätten,wäre es heute nicht zur ersten Lesung gekommen. Von da-her ist es deutlich, dass es des Druckes bedurfte. Wir wer-den auch weiterhin Druck machen.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eine ein-zige Enttäuschung, insbesondere deshalb, weil die Be-schlagnahme bereits bei einfachem Tatverdacht möglichist. Damit sind all die Umgehungen, die von Journalistenzu Recht kritisiert werden, nach meiner Auffassung leiderauch in Zukunft möglich.
Wir haben deshalb ganz bewusst die Tatverdachts-schwelle nach oben verschoben und einen dringendenTatverdacht zur Grundlage eines solchen Beschlagnah-meversuches gemacht. Ich denke, wir müssen auch beiden Beratungen im Rechtsausschuss wieder zum dringen-den Tatverdacht kommen. Wir werden dabei, wie gesagt,auch von den Interessenvertretungen der Journalisten un-terstützt.Das Zweite: Wann ist das Zeugnisverweigerungsrechtausgeschlossen? Die Bundesregierung hat vorgesehen,dass das ausschließlich bei Verbrechen der Fall sein soll.Wir halten das nicht für ausreichend. Ich erinnere daran,dass zum Beispiel Sexualdelikte gegenüber Kindern nachdem Strafgesetzbuch nicht als Verbrechen ausgestaltetsind. Deshalb wäre hier ein solcher Schutz durchaus mög-lich. Wir wollen das bewusst nicht. Ich denke, wir solltenüber die Frage, ob ein Straftatenkatalog nicht der bessereWeg ist, deshalb noch einmal im Rechtsausschuss disku-tieren.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Ja, selbstverständlich.
Straftatbestände in den Katalog aufgenommen werden,
und weisen mit einer gewissen Berechtigung darauf hin,
dass es auch um gravierende andere Delikte geht. Wäre es
dann nicht richtiger, sie allgemein im Strafgesetzbuch
schwerer zu gewichten und sie zu Verbrechen zu machen?
Kann man sie denn im Strafmaß weiter unten ansiedeln
und gleichzeitig sagen: Diese Straftatbestände sind so be-
deutend, dass sie es rechtfertigen, das Zeugnisverweige-
rungsrecht für Journalisten in diesen Fällen wegfallen zu
lassen?
Ich denke, dass man daskann. Sie sehen das an dem Katalog, den wir vorgesehenhaben; wir haben nämlich bei jedem einzelnen Delikt einesolche Abwägung vorgenommen. Ich denke, dass das dervernünftige Weg ist.Sie haben die Möglichkeit angedeutet, zum BeispielStraftaten gegenüber Kindern zum Verbrechen aufzustu-fen. Sie wissen, dass wir uns damit im Rechtsausschussbefassen. Wir haben aber aus guten Gründen diese Auf-stufung zu einem Verbrechen nicht vorgenommen. Ich binauch weiterhin der Auffassung, dass das richtig ist; dennes gibt eine ganze Fülle von Straftaten, die die Stufe desVerbrechens noch nicht erreicht haben. Deshalb, so denkeich, sollten wir zu einer Lösung kommen, bei der wir ein-zelne Tatbestände nach ihrer Gewichtung, insbesonderewas das Zeugnisverweigerungsrecht der Presse angeht, inden Katalog aufnehmen oder nicht. Das wird weiterhindie Position der F.D.P. bleiben, weil wir der Auffassungsind, dass nur so eine vernünftige und sachgerechte Ab-wägung vorgenommen werden kann, nicht aber mit einerPauschalisierung, wie sie im Gesetzentwurf der Bundes-regierung vorgesehen ist.
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Jörg van Essen15230
Das Entscheidende aber ist, dass wir jetzt schnell zuLösungen kommen müssen. Der Gesetzentwurf der Bun-desregierung liegt auf dem Tisch. Die F.D.P. wird sich in-tensiv für einen besseren Schutz der Pressefreiheit einset-zen. Dazu bedarf es einer gesetzlichen Neuregelung,insbesondere auch des Schutzes des selbst recherchiertenMaterials. Ich denke und hoffe, dass wir sehr schnell zuErgebnissen kommen werden. Wir werden den nötigenDruck machen.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Meyer.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit ihrem heute in ers-ter Lesung zu beratenden Gesetzentwurf entspricht dieBundesregierung einer Reformforderung, die den Deut-schen Bundestag seit drei Legislaturperioden beschäftigt.Damit wird nach dem Regierungswechsel von 1998 einweiterer Beitrag zur Auflösung eines von der alten Regie-rung zu verantwortenden Reformstaus geleistet.
Es geht dabei um den besseren Schutz der Presse- undRundfunkfreiheit, die bekanntlich vom Bundesverfas-sungsgericht in vielen Entscheidungen als schlechthinkonstituierend für die freiheitlich-demokratische Grund-ordnung eingestuft worden ist.Der Schutz dieses Grundrechtes soll nunmehr auch beiselbst recherchiertem Material, ähnlich wie bisher schonbei von dritten Personen stammenden, dem Journalistenanvertrauten Unterlagen, durch ein weit reichendes Zeug-nisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot ge-währleistet werden. Außerdem wird der Schutz über peri-odische Druckwerke und Rundfunksendungen hinausauch auf andere Medienerzeugnisse, wie insbesonderenicht periodische Druckwerke und Filmberichte, ausge-dehnt.Die erste in diese Richtung zielende Initiative stammtevon der SPD-Bundestagsfraktion, die in der vorletzten,also der 12. Legislaturperiode einen entsprechenden Ge-setzentwurf vorgelegt hat. Es folgten in der letzten Legis-laturperiode Gesetzentwürfe des Bundesrates und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen. Erst in dieser Legisla-turperiode – das hätte ich dem Kollegen van Essen gernauch persönlich gesagt – hat die F.D.P., nachdem sie vonden Fesseln der Regierungsverantwortung und des größe-ren Koalitionspartners befreit war,
einen entsprechenden Entwurf vorgelegt.
Zu diesem heute noch einmal auf der Tagesordnungstehenden F.D.P.-Entwurf habe ich in der Debatte vomOktober 1999 ausführlich Stellung genommen. Gleich-zeitig habe ich angekündigt, dass der demnächst in ersterLesung auf der Tagesordnung stehende Entwurf der Bun-desregierung so evident besser sein werde, dass wir ihngemeinsam zur Beratungsgrundlage machen könnten.
Aus dem „demnächst“ sind dann leider 17 Monate ge-worden, vor allem deshalb, weil der Bundesrat – oder ge-nauer: die derzeitige Mehrheit des Bundesrates – das Ver-fahren durch Änderungsvorschläge, von denen leider keineinziger überzeugen konnte, aufgehalten hat. Daraufwerde ich noch eingehen.
Die CDU/CSU-Fraktion scheint sich ausweislich dereinleitenden Bemerkungen zu ihrer Großen Anfrage, dieheute ebenfalls auf der Tagesordnung steht, nach wie vorablehnend zu dem Reformvorschlag zu verhalten.
Vielleicht ist sie aber auch durch die Antworten der Bun-desregierung und durch die auf hohem Niveau stehendeSachverständigenanhörung
vom September vergangenen Jahres eines Besseren be-lehrt worden.
Bei dieser Anhörung, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder Opposition,
hat sich die weit überwiegende Zahl der Sachverständigenmit überzeugender Begründung für den stärkeren Schutzder Presse- und Rundfunkfreiheit ausgesprochen.
Zur Klarstellung der praktischen Bedeutung des Vor-habens hat beispielsweise der Justiziar des DeutschenJournalisten-Verbandes von 69 Fällen mit Durchsu-chungsanordnungen in den Jahren von 1987 bis 1998allein das ZDF betreffend berichtet,
darunter nur 19 in Verbrechenssachen, hingegen acht al-lein wegen Beleidigungsverfahren. In den meisten Fällensei das angeforderte Filmmaterial nach dem Durchsu-chungsbeschluss herausgegeben worden, um der mit einerDurchsuchung verbundenen massiven Beeinträchtigungder Arbeit der Rundfunkanstalt zuvorzukommen.Leichtsinnigerweise, verehrte Kollegen von derCDU/CSU, berufen Sie sich in der Begründung Ihrer ab-lehnenden Haltung in Ihrer Großen Anfrage auf ein fürdas Bundesministerium der Justiz im Jahre 1988
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Jörg van Essen15231
beim Freiburger Max-Planck-Institut für ausländischesund internationales Strafrecht eingeholtes rechtsverglei-chendes Gutachten. Dieses Gutachten
ist – das ist richtig – seinerzeit unter meiner Verantwor-tung entstanden. Der rechtsvergleichende Querschnitt,auf den Sie sich meinen berufen zu können, ist von mirverfasst und in der Festschrift für Tröndle veröffentlichtworden.Darin habe ich nun aber ausdrücklich festgestellt, dassdie geltende gesetzliche Regelung im Einzelfall unbefrie-digend sein könne
und die Lösung dieser Fälle in der unmittelbaren Anwen-dung von Art. 5 Grundgesetz unter Beachtung des Grund-satzes der Verhältnismäßigkeit zu suchen sei.
Das war ein Appell und ich hatte eine Hoffnung,
die sich leider nicht erfüllt hat.Darauf habe ich bereits in der Bundestagsdebatte imDezember 1996 hingewiesen und festgestellt:
Die Hoffnung auf eine der Pressefreiheit Rechnungtragende Kasuistik der Praxis hat sich also leidernicht erfüllt.
Offenbar geht die Praxis davon aus, dass die gebo-tene Abwägung zwischen Pressefreiheit und rechts-staatlicher Effektivität der Strafrechtspflege vomGesetzgeber, also von uns, vorzunehmen ist. Dieserschwierigen Aufgabe müssen wir uns nunmehr stel-len.Also, verehrte Kollegen von der Opposition: Wenn Siemich schon freundlicherweise zitieren, dann bitte voll-ständig.
Auf die Mängel des F.D.P.-Entwurfes muss ich heutenicht noch einmal eingehen. So kann ich in der verblei-benden Redezeit deutlich machen, warum die Ände-rungsvorschläge der Mehrheit des Bundesrates von derBundesregierung in ihrer Gegenäußerung mit Recht ab-gelehnt worden sind.Nach unserem Gesetzentwurf soll der Schutz von Ma-terial und Erkenntnissen, die auf eigener Recherche desJournalisten beruhen, nur dann eingeschränkt werdenoder entfallen, wenn ein Verbrechen aufgeklärt werdensoll. Damit soll an die Stelle überwiegend einzelfallbezo-gener und dem Druck von Tagesemotionen ausgesetzterGüterabwägung die Wertentscheidung des Gesetzgeberstreten, wonach bestimmte Delikte eben als Verbrechen,also als schwere Straftaten mit einer angedrohten Min-destfreiheitsstrafe von einem Jahr, einzuordnen sind. Nurin diesen Fällen, also nicht etwa in Beleidigungsverfah-ren, tritt der Schutz von Art. 5 Grundgesetz zurück. DerBundesrat will stattdessen – insoweit, wie wir eben hör-ten, in Übereinstimmung mit der F.D.P. – die Ausnahmendurch einen umfassenden Straftatenkatalog regeln, derauch Vergehen enthält. Insoweit kann ich auf die Sach-verständigen verweisen, die sich fast alle gegen einen der-artig starren, völlig unklaren Kriterien folgenden Katalogausgesprochen haben. Dies war neben Professor Eser bei-spielsweise auch der von der CDU/CSU-Fraktion be-nannte Leitende Oberstaatsanwalt aus Augsburg.Völlig unverständlich ist aber der schon in der Bun-destagsdebatte von 1996 einhellig abgelehnte Vorschlagdes Bundesrates, darüber hinaus Ausnahmen für den Fallvorzusehen, dass Gegenstand der Ermittlung eine Straftatist, wegen der eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahrzu erwarten ist. Welcher Richter oder Staatsanwalt soll ei-gentlich eine zuverlässige Prognose über die zu erwar-tende Strafe abgeben können, wenn über die Beschlag-nahme oder Nichtbeschlagnahme von journalistischemMaterial zu entscheiden ist, das Ermittlungsverfahrenaber erst am Anfang steht? Die Wiederholung des altenBundesratsvorschlages ist wohl nur durch ein relativ un-reflektiertes Wiedervorlageverfahren erklärbar – und dasbei einem Gesetz, das nicht der Zustimmung des Bundes-rates bedarf und bei dem auch deshalb ein besonders sorg-fältiges Eingehen auf die Argumente des Bundestages zuerwarten gewesen wäre.Ebenso wenig überzeugend ist die Kritik des Bundes-rates an dem vorgesehenen Beweiserhebungsverbot zuAussagen in anderen gerichtlichen Verfahren. Denn dasVerbot ist an die doppelte Voraussetzung geknüpft, dassder Journalist zum einen im Strafverfahren von seinemberuflichen Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machtund dass er zum anderen im außerstrafrechtlichen Verfah-ren kein Zeugnisverweigerungsrecht hatte. Die über die-sen Punkt, der auch im F.D.P.-Entwurf noch klärungsbe-dürftig ist, im Oktober 1999 geführte Bundestagsdebattehaben die Verfasser der Stellungnahme des Bundesratesoffenbar noch nicht einmal zur Kenntnis genommen.
Geradezu erstaunlich ist schließlich der dritte Vor-schlag des Bundesrates, die präzisen Vorgaben für dienach § 97 StPO durchzuführende Verhältnismäßigkeits-prüfung deshalb zu streichen, weil die Justizminister-konferenz 1997 in Nr. 73 a der RiStBV ausdrücklich eineVerhältnismäßigkeitsprüfung vorgeschrieben habe. Abge-sehen von der unscharfen Fassung jener Richtlinie müsstees eigentlich inzwischen eine verfassungsrechtliche Bin-senweisheit sein, dass die Festlegung der Abwägungskri-terien, ob und inwieweit die Presse- und Rundfunkfreiheitim Einzelfall Vorrang gegenüber den Bedürfnissen der
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Strafrechtspflege haben kann, Sache des Gesetzgebersund nicht irgendwelcher Richtlinien ist.
Die Schwäche der Argumentation wird auch nichtdurch den sonderbaren Satz behoben, wonach Art. 5 desGrundgesetzes es nicht gebiete – ich zitiere aus der Stel-lungnahme des Bundesrates –, „Medien quasi als Depo-nie für deliktsverstrickte Gegenstände fungieren zu las-sen“. Da hat wohl ein Landesjustizminister oder dessenSachbearbeiter seiner tiefen Abneigung gegenüber denMedien freien Lauf gelassen und aus seinem Herzen keineMördergrube gemacht.
– Ich bin ziemlich sicher, dass die Mehrheit des Bundes-rates dies zu verantworten hat.
Ich hoffe, dass unsere Beratungen des Entwurfes einesGesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung imRechtsausschuss und im Ausschuss für Kultur und Me-dien im Vergleich dazu in einem rationalen und demGrundrecht der Presse- und Rundfunkfreiheit angemesse-nen Klima durchgeführt werden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Norbert Geis.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich meine, wir könnendiese Sitzung, die fast unter Ausschluss der Öffentlichkeitstattfindet, in einer ruhigen Atmosphäre fortsetzen. Inso-fern war der eben gehörte Beitrag durchaus beachtens-wert. Aber es gibt, lieber Herr Meyer, auch Gegenargu-mente.
– Seien Sie ruhig gespannt, Herr Ströbele!Zweifellos ist die Feststellung richtig, dass die Presse-freiheit ein ganz hohes Gut ist und dass der Staat ver-pflichtet ist, die Pressefreiheit zu schützen, wo immer erkann. Ohne Pressefreiheit kann eine lebendige Demokra-tie nicht existieren. Dies ist unbestritten.Durch die Erweiterung des Zeugnisverweigerungs-rechtes – es geht hier um eine Erweiterung des Zeugnis-verweigerungsrechtes! – für Journalisten soll die Presse-freiheit im Strafverfahren in einer besonderen Weisegeschützt werden. Dies kann zu Konflikten mit der ande-ren Pflicht des Staates führen, nämlich für eine ordentli-che Strafverfolgung zu sorgen. Dies ist ein ebenso hohesGut, wie das Bundesverfassungsgericht in vielen Ent-scheidungen festgestellt hat.Wir wissen, welche Funktion die Strafverfolgung inunserem Staat hat: Sie hat die Funktion erstens derBekämpfung von Kriminalität, zweitens der Wahrung un-serer Rechtsordnung und drittens der Wahrung undDurchsetzung der Gerechtigkeit nicht nur gegenüber demOpfer der Kriminalität, sondern auch gegenüber dem Be-treffenden selbst, der alle Beweismittel ausschöpfen kön-nen muss, um die gegen ihn gerichteten Vorwürfe ent-kräften zu können.Hier sehen wir die Abwägungsschwierigkeit. Wir mei-nen, dass diese Abwägung weder in dem einen noch indem anderen Gesetzentwurf richtig vorgenommen wor-den ist, und haben deshalb unsere Bedenken.Zweifellos ist richtig – darin werden wir alle miteinan-der übereinstimmen –, dass die innere Sicherheit, alsodie Bekämpfung der Kriminalität, eine der vordringlichs-ten Aufgaben des Staates ist. Das wird gerade jetzt deut-lich, da dieses Kind in Brandenburg verschwunden ist undbislang noch jede Spur fehlt. Das weckt Ängste, das wirftsofort Fragen an die Polizei, an die Staatsanwaltschaft undan die Gerichte, aber auch an den Gesetzgeber auf, obdenn in der Vergangenheit alles unternommen worden ist,um die innere Sicherheit zu garantieren. Wenn wir keineSicherheit mehr auf den Straßen, auf den Plätzen, im Zug,in der U-Bahn und vielleicht nicht einmal mehr in der ei-genen Wohnung haben, dann wird das Leben zum Alb-traum.Dieses hohe Gut der Strafverfolgung soll mit dazu bei-tragen, dass die innere Sicherheit in einem großen Maßegesichert werden kann. Deswegen haben wir unsere Be-denken. Denn jedes Zeugnisverweigerungsrecht führt da-zu, dass die Strafverfolgung beeinträchtigt werden kann.Das muss man einfach so sehen.
– Nun kommt es darauf an, lieber Herr Ströbele, wie weitich in einem solchen Fall gehe. Jedes Zeugnisverweige-rungsrecht und das damit verbundene Beschlagnahme-verbot kann im konkreten Einzelfall die Strafverfolgunghindern, kann den Staat hindern, einer wichtigen Pflichtnachzukommen. Das ist die Grundüberlegung.Es besteht kein Zweifel – ich wiederhole das –, dass diePressefreiheit einen hohen Rang in unserem Staat einneh-men muss. Aber einen ebenso hohen Rang muss die Straf-verfolgung haben. Deswegen ist es dem Staat auch nichterlaubt, das Zeugnisverweigerungsrecht beliebig auszu-dehnen. Ansonsten verletzt er eine wichtige verfassungs-mäßige Pflicht, nämlich sicherzustellen, dass in einemStrafverfahren die Wahrheit in größtmöglichem Umfangfestgestellt werden kann. Diese Feststellung der Wahrheitsoll nicht nur zugunsten der Strafverfolgung erfolgen,sondern – ich habe es schon gesagt – auch zugunsten desBetroffenen selbst, letztendlich zugunsten der Gerechtig-keit. Wenn nun das Zeugnisverweigerungsrecht in einemzu starken Maße ausgeweitet wird, geht die Abwägungzulasten der Strafverfolgung. Ich glaube, dass dies nichtnotwendig ist.
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Wir haben nach unserer Auffassung schon einen aus-reichenden Schutz der Journalisten im Strafverfahren. Esgibt ja das Zeugnisverweigerungsrecht hinsichtlich desnicht selbst recherchierten, sondern von Informanten er-haltenen Materials. Diesbezüglich braucht der Journalistvor dem Gericht keine Aussage zu machen. Dies hat sei-nen Grund darin, dass zwischen Journalisten und Infor-manten ein Vertrauensverhältnis bestehen muss. Wenndieses Vertrauensverhältnis nicht besteht, fließen keineInformationen. Dann können die Presse und die anderenMedien ihre Pflicht nicht erfüllen, die Bevölkerung um-fänglich zu informieren. Deswegen haben wir diesen In-formantenschutz – wie ich meine, mit Recht – in dasZeugnisverweigerungsrecht hineingenommen. Insoferngenießt der Journalist im Gerichtsverfahren ausreichen-den Schutz.Nun wollen Sie von der Regierungskoalition und vonder F.D.P. das Zeugnisverweigerungsrecht über das vomInformanten bekommene Informationsmaterial hinausauch auf das selbst recherchierte Material ausdehnen. Wirmeinen, hier gehen Sie einen Schritt zu weit. Ich möchtedas begründen. Ich glaube – und das sagt das Verfas-sungsgericht in seiner Entscheidung von 1997 auch –,dass der Eingriff in die Pressefreiheit dann nicht rechtensist, wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht ge-wahrt ist.Nun sagen Sie zu Recht, Herr Meyer, dass dies im kon-kreten Einzelfall oft nicht beachtet worden ist. Aber Siewerden immer Ausreißer haben, Sie werden immer Ge-richte und immer Staatsanwaltschaften haben, die die Ge-setze nicht genau beachten.
Deswegen gibt es Freisprüche und Fehlurteile. Aber derGrundsatz, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu wah-ren ist, bleibt.Nach diesem Grundsatz ist es verboten, den Eingriff indas selbst recherchierte Material vorzunehmen, wenn diesin keinem vernünftigen Verhältnis zum Interesse an derAufklärung der Straftat steht, weil die Straftat zu gering-fügig ist. Hier ist die Pressefreiheit das höhere Gut. Dannmuss dieser Eingriff unterbleiben. Deswegen meine ich,dass aufgrund unserer Verfassungsprinzipien der Verhält-nismäßigkeit und der größtmöglichen Schonung im Ein-zelfall das selbst recherchierte Material hinreichend ge-schützt ist.Aber nun gehen Sie noch einen Schritt weiter. Sie wol-len das Zeugnisverweigerungsrecht nicht nur auf dasselbst recherchierte Material ausdehnen, sondern wollenauch die nicht periodisch erscheinenden Druckwerkeund die dafür gesammelten Materialien in das Zeugnis-verweigerungsrecht einbeziehen. Hier gehen Sie nachmeiner Meinung wiederum einen Schritt zu weit undschaffen damit unnötige Konflikte, weil Sie jetzt nichtmehr unterscheiden können, wer Journalist ist und wernicht. Jemand, der bei einer Zeitung arbeitet, gilt als Jour-nalist, selbst wenn das Berufsbild des Journalisten ge-setzlich nicht genau festgeschrieben ist. Aber ist jeder, dergerade ein Buch schreibt oder einen Film macht – wermag ihm das verwehren oder wer mag das bestreiten? –Journalist? Wenn sich dieser auch auf das Zeugnisverwei-gerungsrecht berufen kann, hat der Staat nicht mehr dieMöglichkeit der Ermittlung der Wahrheit.
Diese Verpflichtung hat er aber. Dann ist der Staat ge-zwungen stillzuhalten und darf nicht weitergehen. Ichmeine, Sie gehen in Ihrem Bestreben, die Pressefreiheit zuschützen, zu weit.Sie sagen auch, dass in den Fällen, in denen sich einJournalist durch den Erwerb des Informationsmaterialsselbst strafbar gemacht hat oder einen anderen deckt, derZugriff des Staates nicht erlaubt ist, wenn der Verhältnis-mäßigkeitsgrundsatz nicht gewahrt ist.
Sie schreiben dies ausdrücklich in das Gesetz hinein.
– Ja, lieber Herr Ströbele. Dadurch aber besteht die Ge-fahr, dass der ermittelnde Beamte seiner Verpflichtung,im konkreten Fall zu ermitteln, aus Angst, er könne gegendas Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen, nicht nach-kommt. Ich glaube, Herr Meyer,
dass es ausreicht, dass dieses Prinzip in § 73 der Richtli-nien für Strafverfahren und Bußgeldverfahren festgelegtist. Es muss nicht eigens ins Gesetz hineingeschriebenwerden.Aber noch aus einem weiteren Grund meine ich, dassSie in diesen Fällen zu weit gehen. Sie sagen: Die Be-schlagnahme hat zu unterbleiben, wenn nicht feststeht– das ist das Problem –, dass der konkrete Sachverhaltnicht auch auf andere Weise ermittelt werden kann. Sowerden Sie jeden Polizeibeamten, jeden Staatsanwalt ineinen Rechtfertigungszwang bringen. Weil er vermeidenwill, in einen solchen Rechtfertigungszwang zu geraten,wird er erst gar nicht ermitteln.
Das ist das Problem. Deswegen, lieber Herr Ströbele,habe ich Bedenken. Ich will ja nicht sagen, dass das allesverkehrt ist, was Sie machen. Aber ich habe hier ernst-hafte Bedenken.Auch bei dem Beweiserhebungsverbot habe ich Be-denken. Ich sehe eigentlich nicht ein, warum die Aussageeines Journalisten vor einem anderen Gericht – diese Aus-sage ist damit objektiviert, im Protokoll festgehalten –nicht in einem Strafverfahren verwendet werden kann.Das ist für mich nicht mehr einsichtig. Hier gehen Sienach meiner Auffassung zu weit. Mir kommt das Bild vonder Justitia in den Sinn, deren Augen verbunden sind, abernicht, weil sie ohne Ansehen der Person zu richten hat,sondern ganz offensichtlich deshalb, weil sie ihre Augen
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vor der Erkenntnis der Wahrheit verschließen muss. Das,meine ich, sollte nicht der Fall sein. Deswegen teile ichdie Bedenken des Bundesrates. Ich teile die Bedenken derJustizministerkonferenz. Ich teile auch die Bedenken desJuristentages von 1998.Ich glaube, dass wir, alles in allem gesehen, im Augen-blick eine Gesetzeslage haben, die durchaus dem An-spruch der Pressefreiheit gerecht wird. Ich meine, dass esnicht notwendig ist, das Gesetz zu ändern. Sie haben dasGutachten des Max-Planck-Instituts zitiert. In ihm stehtnicht, dass die Presse in einem anderen Land eine bessereStellung hätte. Das war die eigentliche Frage, die wir ge-stellt hatten. In der Antwort der Bundesregierung, in derauch das Gutachten des Max-Planck-Instituts zitiert wird,wird ausgeführt, dass es keine ausreichenden rechts-tatsächlichen Untersuchungen gibt, aus denen folgte, dassdas bestehende Zeugnisverweigerungsrecht für Journalis-ten nicht ausreichte. Auch das Verfassungsgericht hat inseinem Urteil von 1987 erklärt: Wir haben eine ausrei-chende Gesetzeslage; wir brauchen sie nicht zu ändern.Meine Damen und Herren, Sie müssen sich schon dieFrage stellen, ob es nicht gewichtige Argumente gegen dieGesetzgebungsvorhaben sowohl der F.D.P. als auch derRegierungskoalition gibt. Ich bitte Sie, auch diese Gegen-argumente bei der Beratung hinreichend zu beachten.Danke schön.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.
legen! In einem Punkt gebe ich dem lieben Kollegen GeisRecht:
Dieses Gesetz ist so gut, dass es in einer früheren Stundein diesem Haus hätte verhandelt werden müssen und esauch verdient hätte, von mehr Abgeordneten behandeltund diskutiert zu werden.
In dem Punkte haben Sie Recht.Dies ist nämlich ein guter Tag nicht nur für Journalis-ten, sondern für die vierte Gewalt im Staate insgesamt, fürdie Rechtskultur und für die Presse und die Medien in die-sem Lande. Denn es geht nicht nur um Journalisten undauch nicht nur um die Informanten, um die Gewährsleutevon Journalisten, sondern auch darum, die Presse – dazugehören natürlich die gedruckte Presse und die Jour-nalisten, die ihr zuarbeiten, aber auch die anderen Medienwie Rundfunk und Fernsehen – in die Lage zu versetzen,ihr Wächteramt in diesem Staate wirksam auszuüben.Dazu müssen sie sicher sein, dass sie frei von jeglicherstaatlicher Repression sind. Sie dürfen nicht fürchtenmüssen, dass sie etwa einen Informanten preisgeben müs-sen. Das ist heute schon geregelt. Aber auch das, was sichein Journalist aufschreibt, notiert oder mit der Kameraaufnimmt, darf nicht nachher von der Staatsanwaltschaftbeschlagnahmt werden können. Der Journalist darf nichtgezwungen werden können, vor Gericht darüber Zeugnisabzulegen. Die Informationen, die er zu Hause verwahrt,dürfen nicht gegen einen Angeklagten in einem Strafver-fahren benutzt werden.Nur wenn sichergestellt ist – dazu hat sich dasBundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungenklar geäußert –, dass die Quellen der Information für alleJournalisten und Medien im Verborgenen sprudeln kön-nen, können die Journalisten, die Presse und die Medienihr Wächteramt in diesem Staate wirksam ausüben.Um den unsinnigen Streit darüber zu beenden, wasselbst recherchiertes Material und was von einem Infor-manten zur Verfügung gestelltes Material ist, und ihn ob-solet zu machen, haben wir diesen Gesetzentwurf vor-gelegt. Danach können in Zukunft Journalisten grund-sätzlich für sich dasselbe Recht in Anspruch nehmen, dasauch die Abgeordneten, die Rechtsanwälte, die Ärzte unddie Geistlichen für sich in Anspruch nehmen: Sie brau-chen zu dem, was sie erfahren oder selbst herausgefundenhaben, vor Gericht keinerlei Aussage zu machen.Herr Kollege Geis, es ist nicht so, dass die Journalistennicht aussagen dürfen, aber sie müssen nicht. Das heißt,der Journalist muss verantwortlich abwägen, wie er sichin einem Strafverfahren verhält. Obwohl er das Recht zurAussageverweigerung hat, kann er im Interesse des An-geklagten, im Interesse der Wahrheitsfindung oder um zuverhindern, dass das Gericht einen falschen Kurs ein-schlägt, trotzdem eine Aussage machen. Es geht nicht da-rum, die Quelle völlig zu verschließen, sondern dem Jour-nalisten soll die Sicherheit gegeben werden, dass es alleinvon ihm abhängt, ob er Informationen, die er bei sich zuHause gesammelt hat – sei es von einem Informanten, seies von ihm selbst –, preisgibt.Ein Geistlicher darf über das, was er im Rahmen desBeichtgeheimnisses, im Rahmen von Gesprächen oder alsGeistlicher sonst erfahren hat, vollständig die Aussageverweigern.
– Ich bin dafür, dass dies erhalten bleibt.
Auch die freie Ausübung der Religion soll gesichert sein.Das ist der Hintergrund, warum der Staat dem Geistlichendieses Recht zugesteht.
Genauso wichtig ist für uns aber auch ein Funktionierender Presse und des Journalismus in diesem Staate.
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Deshalb wollen wir dieses umfassende Zeugnisverweige-rungsrecht auch für Journalisten einführen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Herr Ströbele, würden Sie
mir zustimmen, dass der Geistliche, der etwas ihm im
Beichtstuhl Anvertrautes nicht weitergeben kann, genau
dasselbe Recht wie der Journalist hat, der von einem
Informanten eine Information bekommen hat? Auch ihn
schützen wir. Deshalb genießt der Geistliche genau den-
selben Schutz. Mehr beanspruchen wir für den Geistli-
chen gar nicht.
weil auch beim Geistlichen nicht nur das geschützt ist, was
er im Beichtstuhl erfährt oder was ihm von einem Gläubi-
gen zugetragen wird, sondern auch das, was er selber in
diesem Zusammenhang in Erfahrung bringt. All das, was
er in seiner Tätigkeit als Geistlicher erfährt, ist geschützt.
Deshalb ist es richtig, hier eine Gleichsetzung vorzuneh-
men.
Herr Kollege Geis, es geht bei dem umfassenden
Zeugnisverweigerungsrecht – ich wende mich auch an
den abwesenden Kollegen van Essen –
vor allen Dingen um die „kleineren“ Fälle, nicht um
schwere oder schwerste Straftaten oder Verbrechen, sondern
nur um Vergehen oder Übertretungen. Dabei ist es von ganz
entscheidender Bedeutung, dass wir die Strafmaßstäbe, die
das Strafgesetzbuch heute vorsieht, für das Zeugnisver-
weigerungsrecht übernehmen. Wir wollen nicht, dass der je-
weilige Gesetzgeber immer wieder neu überlegen muss,
warum die eine oder andere Straftat zwar kein Verbrechen,
aber doch so schwerwiegend ist, dass ein Zeugnisverweige-
rungsrecht dabei nicht in Betracht kommt.
Außerdem wollen wir – und das aus gutem Grunde –
das Zeugnisverweigerungsrecht auch dann zubilligen,
wenn der Journalist für nicht periodische Druckwerke ar-
beitet. Das betrifft gerade jene, die an einem Film oder ei-
nem Buch mitarbeiten. Wir wollen keinen Unterschied
machen zwischen dem einen und dem anderen, wollen
hier nicht die Abwägung vornehmen müssen, ob nun das
periodische Druckerzeugnis wichtiger und wertvoller ist
als das einmalig erscheinende. Wenn ein Journalist
ein Buch über Fakten, Tatsachen, beispielsweise jetzt über
bestimmte Affären, die das Land beschäftigen, schreibt,
dann soll er genauso geschützt sein, als wenn er einen Ar-
tikel in einer Zeitung, einer Zeitschrift oder im Rundfunk
veröffentlichen würde. Deshalb ist es richtig und wichtig,
das Zeugnisverweigerungsrecht darüber hinaus auszu-
dehnen. Es soll jetzt für alle berufsmäßig als Journalisten
arbeitende Personen gelten. Das ist die Einschränkung,
Herr Kollege Geis. Insofern stimmt Ihr Argument nicht,
dass wir jedem dieses Zeugnisverweigerungsrecht zubil-
ligen. Vielmehr kommt es auf das berufsmäßige Ausüben
an.
Ich verhehle nicht, dass ich in der Anhörung zusätzli-
che Argumente von Sachverständigen vernommen habe,
die wir in die Diskussion im Rechtsausschuss einfließen
lassen sollten, etwa jenes, dass ein Verwertungsverbot
dann nicht gelten sollte, wenn Gegenstände beschlag-
nahmt worden sind, weil ein Journalist im Verdacht stand,
an einer Straftat beteiligt gewesen zu sein. Anders ist es,
wenn aber der Tatverdacht später entfällt, wenn er bei-
spielsweise freigesprochen oder das Verfahren eingestellt
wird.
Herr Kollege!
für Durchsuchungen von einem Einzelrichter vorgenom-
men werden kann oder ob es nicht richtiger und wichtiger
ist, dass dies Strafkammern tun.
Letztlich will ich den Gedanken aufnehmen, der schon
im F.D.P.-Entwurf enthalten ist, ob für die Beschlag-
nahme nicht tatsächlich ein dringender Verdacht, der Ver-
dacht der Teilnahme des Journalisten an einer Straftat, ge-
geben sein muss.
Herr Kollege,
Ihre Redezeit ist vorbei.
gen anstellen.
Ich möchte einen bekannten Ausspruch des Fraktions-
vorsitzenden der SPD aufnehmen und hoffe: Ein Gesetz
geht in den Bundestag, kommt aber nicht so heraus, wie
es hineingekommen ist. Ich wünsche uns allen gute Bera-
tung.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir haben hier schon einmalüber den F.D.P.-Entwurf diskutiert. Schon bei dieser Ge-legenheit habe ich zum Ausdruck gebracht, dass ich die
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Hans-Christian Ströbele15236
Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechtes durchausbegrüße, dass aber der umfangreiche Ausnahmekatalog,den Sie angehängt haben, Ihren Gesetzentwurf ein biss-chen ad absurdum führt, weil es natürlich nur in schwerenFällen zur Hausdurchsuchung oder auch zur Beschlag-nahme kommt. Es geht nicht um Schwarzfahren oder Be-leidigung, sondern immer um Verbrechen, nämlich umTerrorismus, Mord, Bestechung und auch Hochverrat.Jetzt liegt der Regierungsentwurf vor. Ich hatte da-mals meiner Hoffnung Ausdruck gegeben, dass er besserwird. Aber ich will Ihre Freude doch ein wenig dämpfen,weil auch hierin Dinge enthalten sind, die – wie auch inder Anhörung zum Ausdruck kam – durchaus Fragen of-fen lassen. Ich finde nicht, dass er besser ist. Eine Synopseaus beiden Entwürfen könnte sicherlich etwas Gutes brin-gen. Es geht ja jetzt in die Beratung.Sie haben statt eines umfangreichen Ausnahmekatalo-ges in Ihrem Gesetzentwurf den kleinen, unauffälligenSatz, dass Ausnahmen vom Zeugnisverweigerungs-recht dann möglich sind, wenn sich die polizeilichen Er-mittlungen um ein Verbrechen drehen, das heißt um einDelikt mit einer Strafandrohung von einem Jahr und mehr.Es stimmt, dass Kataloge – wie bei der F.D.P. – mehr Will-kür bedeuten als die eindeutige Regelung in Ihrem Ent-wurf, aber in der Praxis wird das kaum einen Unterschiedmachen. Herr Ströbele, das muss ich Ihnen sicherlichnicht sagen. Ich möchte Sie zitieren:Machen Sie den Journalisten einmal klar, dass dasMaterial, das sie in wirklich wichtigen Fällen, in de-nen es um Spionage, um kriminelle Vereinigungenoder um schwere Straftaten geht, erarbeitet und inihrem Schreibtisch liegen haben, nicht frei von Be-schlagnahme ist. Ich denke – so haben Sie damals ge-sagt –, dass sie gerade in diesen Fällen geschütztwerden müssen.Das denke ich auch. Allerdings denke ich, dass siedurch Ihren Entwurf nicht geschützt sind. Spionage undschwere Straftaten gemäß § 129 Strafgesetzbuch fielenauch nach Ihrem Gesetzentwurf unter die Ausnahmerege-lung, denn hier handelt es sich um Verbrechen. Deswegenerschließt sich für mich der Vorteil dieses Entwurfs nicht.In einem anderen Punkt ist der Regierungsentwurf inmeinen Augen sogar schlechter als der der F.D.P. Das isthier im Zusammenhang mit dem einfachen und dem drin-genden Tatverdacht schon angeklungen, denn bekannt-lich sind schon heute Beschlagnahmen bei Journalistenmöglich, wenn der betroffene Journalist selbst der Tat ver-dächtigt wird. Nach dem Regierungsentwurf soll schonder einfache Tatverdacht ausreichen. Das scheint in mei-nen Augen – Sie haben selbst etwas dazu gesagt – sehr be-denklich.Die Anhörung im Rechtsausschuss hat gezeigt, dassVertreter der Medien und Wissenschaftler in diesemPunkt allesamt dem F.D.P.-Entwurf den Vorrang geben.Ich denke, diese Meinungen sind nicht unbedeutend. DerJustitiar des Deutschen Journalisten-Verbandes bezeich-nete in diesem Punkt den F.D.P.-Entwurf als erheblichbesser. Auch der Bundesverband Deutscher Zeitungs-verleger hat den Regierungsentwurf als nicht weitgehendgenug kritisiert. Ich denke, man kann sich diesem Urteilder Experten durchaus anschließen. Beide Vorlagen, diewir heute beraten, gehen nicht weit genug.Gerade auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeitwird immer wieder hingewiesen; er ist auch im Regie-rungsentwurf erwähnt. Es ist bereits jetzt so, dass die Ver-hältnismäßigkeit zu beachten ist. Die Erfahrung hat abergezeigt, dass sich die Strafverfolger darum nicht unbe-dingt scheren. Im Grunde genommen wissen wir alle, dassder Anspruch der Verhältnismäßigkeit immer verhältnis-mäßig unverbindlich ist. Das ist das Problem an der Sa-che.Dennoch bin ich der Meinung, dass beide Gesetzent-würfe in die richtige Richtung gehen. Die Ausdehnungdes Zeugnisverweigerungsrechts auf selbst recherchiertesMaterial, auf nicht periodische Druckwerke und auf elek-tronische Publikationen ist in meinen Augen überfälligund ich bin froh, dass es in dieser Frage endlich Bewe-gung gibt. Ich hoffe, dass in den Ausschüssen noch dieeine oder andere Änderung vorgenommen wird. Wir wer-den das sehen. Was aber auf gar keinen Fall sein darf – dasklang bei Ihnen, Herr Geis, ein bisschen an –: Journalistensind keine Helferinnen und Helfer der Polizei.
Sie passen auf und achten auf die Exekutive und die Le-gislative. Es ist ihr Auftrag, etwas öffentlich zu machen,und nicht, anderen bei ihren Ermittlungen zu helfen. Wirhaben in der Bundesrepublik eine Gewaltentrennung.Wenn dieser Gesetzentwurf nach ein paar Änderungen gutwird, ist das ein guter Tag für die Gewaltenteilung.
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Pick.
D
Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Ich denke, es besteht ein hohes Maß an Überein-stimmung in der Beurteilung der Aufgabe unserer Presseund der damit verbundenen Pressefreiheit nach Art. 5 un-serer Verfassung. Es ist auch richtig, dass die Freiheit derBerichterstattung durch Rundfunk und Medien für unsereDemokratie schlechthin konstitutiv oder konstituierendist, wie es Herr Meyer vorhin gesagt hat. Das hat auchdas Bundesverfassungsgericht so ausgedrückt, und zwaraus gutem Grund: Allein unabhängige, von staatlichemZwang freie Medien garantieren ein breites Spektrum ver-öffentlichter Meinungen und davon lebt die politischeWillensbildung.Nicht weniger wichtig – auch das ist angesprochenworden – ist die Wächterfunktion der Medien. Häufigist es Journalistinnen und Journalisten zu verdanken, dassverborgenes, zum Teil rechtswidriges oder gar kriminelles
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Handeln an das Licht der Öffentlichkeit dringt. Insofernschützt Art. 5 des Grundgesetzes die Freiheit von Presseund Rundfunk umfassend, und zwar von der Beschaffungvon Informationen bis zur Verbreitung von Nachrichtenund Meinungen.
– Geschützt, lieber Herr Geis, ist somit neben dem Ver-trauensverhältnis zwischen dem Journalisten und seinemInformanten auch die Vertraulichkeit der Redaktionsar-beit, einschließlich des Ergebnisses eigener Recherche.Das ist für die Verwirklichung dieses Grundrechts unab-dingbar. Diese Freiheit darf auch aus Gründen der Straf-verfolgung nicht ausgehöhlt werden.Auf der Ebene des einfachen Rechts räumt die Straf-prozessordnung den Journalisten bislang ein Zeugnisver-weigerungsrecht nur für die von Dritten zugetragenen In-formationen ein. Dieses Recht ist darüber hinaus bisherauf die Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung ganzbestimmter Medienerzeugnisse beschränkt: nur auf peri-odisch erscheinende Druckwerke, zum Beispiel Zeitun-gen, und Rundfunksendungen. Das ist nach unserer Auf-fassung einfach zu eng.Weil die Beschlagnahmeverbote vom Umfang desZeugnisverweigerungsrechts abhängig sind, kann deshalbgrundsätzlich auch selbst recherchiertes Material beschlag-nahmt werden. Informationen, die für ein Buch von Be-deutung sind oder die einer Veröffentlichung in den elek-tronischen Medien dienen, können sogar voll umfänglich,das heißt auch dann, wenn es sich um von einem Infor-mationsdienst oder Informanten zugetragene Erkennt-nisse handelt, sichergestellt werden. Diesen Zustandwollen wir angesichts des verfassungsrechtlichen Stellen-wertes und im Sinne eines umfassenden Schutzes der Me-dienfreiheit ändern. Er führt heute zu Unsicherheiten beider Rechtsanwendung durch die Staatsanwaltschaftenund die Gerichte.Dazu hat übrigens auch die Rechtsprechung des Bun-desverfassungsgerichts beigetragen. Es hat festgestellt,dass sich ein Beschlagnahmeverbot im Einzelfall unmit-telbar aus der Verfassung ergibt, und zwar über die Be-stimmung der Strafprozessordnung hinaus. Deshalb ist eswichtig, dass wir die Voraussetzungen, unter denen sichein solches Recht ergibt, definieren, weil sie von denStrafverfolgungsbehörden nicht immer sicher bestimmtwerden können.
Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-rung stärkt das Zeugnisverweigerungsrecht von Journalis-ten, ohne dass dadurch die Wirksamkeit der Kriminalitäts-bekämpfung Schaden nehmen würde. Er schafft – dashabe ich schon gesagt – ein Mehr an Rechtssicherheit undRechtsklarheit und legt gleichzeitig fest, wann der Jour-nalist zur Aufklärung schwerer Straftaten trotz des ver-fassungsrechtlich geschützten Redaktionsgeheimnissesbeitragen muss.Erstmals wird ein Recht auf Zeugnisverweigerungauch den Journalisten eingeräumt, die bei nicht periodischerscheinenden Druckwerken mitwirken, also zum Bei-spiel bei Büchern, bei Filmberichten oder bei Informati-ons- und Kommunikationsdiensten, die der Unterrichtungund der Meinungsbildung dienen, und zwar berufsmäßig,wie ich hervorheben möchte. Mit dieser Erweiterung wirdendlich der Ungleichbehandlung gleichwertiger Medien-erzeugnisse ein Ende gesetzt. Zugleich wird mit derEinbeziehung von Informations- und Kommunikations-diensten neuen Formen der Informationsvermittlung undder Meinungsbildung Rechnung getragen. Presse- undRundfunkfreiheit werden somit auch in der hoch techno-logisierten Mediengesellschaft der Zukunft effektiv ge-schützt bleiben.Ein weiterer wichtiger Punkt: In Zukunft wird dasselbst recherchierte Material grundsätzlich nicht mehrdem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden unterliegen.Allerdings zieht der Gesetzentwurf auch hier eine klareGrenze: Ein Journalist, der aufgrund selbst recherchierterErkenntnisse zur Aufklärung eines Verbrechens, also ei-ner Straftat, die mit einer Mindeststrafe von einem JahrFreiheitsentzug bedroht ist, beitragen kann, muss diesesWissen als Zeuge den Strafverfolgungsbehörden zur Ver-fügung stellen.
Ich finde, dass dies eine ebenso praxistaugliche wie nach-vollziehbare Abwägung zwischen der Pressefreiheit undden Belangen einer effektiven Strafverfolgung darstellt.In der Tat ist es so, dass man diese Abwägung sehr sorg-fältig vornehmen muss. Ich bin überzeugt, dass wir in denBeratungen in den zuständigen Ausschüssen auf dieseFragen noch ausführlich zu sprechen kommen werden.Ich möchte zum Schluss noch einen Blick – das istschon vorhin kurz angedeutet worden – auf unsere euro-päischen Nachbarn werfen, von denen einige in letzterZeit den Schutz des Redaktionsgeheimnisses im Inte-resse freier Medien gestärkt haben. Ich denke hier insbe-sondere an die Schweiz mit ihrem Strafverfahrensrechtaus dem Jahre 1998. Auch in den Niederlanden ist dieRechtsprechung seit kurzem dazu übergegangen, die Un-terscheidung zwischen zugetragenen und selbst recher-chierten Erkenntnissen grundsätzlich aufzugeben. Ichkann also sagen, dass wir uns mit dem Gesetzentwurf aufeinem weithin anerkannten europäischen Standard bewe-gen. Die Stärkung des Zeugnisverweigerungsrechts vonJournalisten ist nicht zuletzt in diesem europäischen Kon-text ein wichtiges rechtspolitisches Reformvorhaben.Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf setzt die Frei-heitsgarantien des Grundgesetzes für Rundfunk undPresse in das Strafverfahrensrecht um. Er trägt aber auchdem berechtigten Anspruch der Menschen auf wirksameVerbrechensbekämpfung Rechnung.Vielen Dank.
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Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick15238
Ich schließe da-
mit die Aussprache zu diesem Punkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5166 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Einverstanden? – Das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 sowie die Zusatzpunkte
7 und 8 auf:
9. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz
– Drucksachen 14/4884, 14/5462 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Rudolf Bindig
Hermann Gröhe
Claudia Roth
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Carsten Hübner
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut
Haussmann, Hildebrecht Braun ,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Stärkeres deutsches Engagement auf der 57. Sit-
zung der Menschenrechtskommission der Ver-
einten Nationen
– Drucksache 14/5452 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Ulrich Irmer, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der F.D.P.
Deutsche Initiative zum Schutz der Binnenver-
triebenen
– Drucksache 14/5453 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine
halbe Stunde für die Aussprache vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Lilo Friedrich.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Am heutigen Internationalen Frauentag gibt es einenbesonderen Grund zu feiern. Der Internationale Frauentagwird 90 Jahre alt. Seit neun Jahrzehnten begehen Frauenin aller Welt am 8. März einen frauenpolitischen Aktions-tag, um ihren Forderungen nach Gleichstellung öffent-lichkeitswirksam Nachdruck zu verleihen und ihr Enga-gement für internationale Solidarität zu bekunden.
Der heutige Tag ist aber kein Anlass zu feiern, wennwir unser Augenmerk auf die Situation der Flüchtlingerichten; denn in vielen Ländern der Welt bleiben Frauendie Rechte und Chancen, die wir in den Industrieländernerkämpft haben, noch immer versagt. Sie fliehen, weilLeib und Leben in Gefahr sind. Sie fliehen, weil sie poli-tisch verfolgt werden oder weil sie Opfer von ge-schlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungensind. Sie fliehen vor nichtstaatlichen Akteuren und auszerfallenen Staaten.Unsere Aufgabe ist es, Flüchtlingen Schutz zu ge-währen. Hierzu wollen wir mit unserem Antrag, den wirheute beraten, einen wichtigen Beitrag leisten.
Er resultiert nicht zuletzt aus den Folgerungen, die wirdurch die Anhörung des Menschenrechtsausschusses zurnichtstaatlichen Verfolgung gewinnen konnten.Die Vorsitzende des Ausschusses wird heute zum letz-ten Mal in dieser Funktion im Deutschen Bundestag re-den. Liebe Claudia, für dein engagiertes und mutiges Ein-treten für die Belange der Menschenrechtspolitik möchteich dir stellvertretend für den Ausschuss heute herzlichdanken.
Wir alle wünschen dir für deine zukünftigen Aufgabenviel Glück. Ich bin sicher, wir werden heute nicht dasletzte Mal für gemeinsame Ziele streiten.Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz, so lautetdie Kernaussage unseres Antrages. Um dieser Anforde-rung gerecht werden zu können, sind uns mehrere Punktewichtig. Bei der Definition des Flüchtlingsbegriffs hatsich in Deutschland eine Rechtsprechung entwickelt,nach der die Verfolgung vom Staat ausgehen oder ihm zu-rechenbar sein muss. Aber immer mehr Menschen auf derWelt flüchten vor nichtstaatlicher Verfolgung. In eini-gen Ländern haben sich zentralstaatliche Strukturen auf-gelöst. An ihre Stelle sind völkerrechtlich nicht aner-kannte, quasistaatliche Strukturen getreten.Ein Beispiel hierfür ist Afghanistan. Zurzeit richtetsich das Augenmerk der Weltöffentlichkeit vor allem aufdie sinnlose Zerstörung der Kulturschätze dieses Landes.Wir dürfen darüber aber nicht vergessen, dass es vor al-lem Menschen sind, die in diesem Land leiden müssen.Menschen, die das Taliban-Regime als politisch und reli-giös Andersdenkende einordnet, werden verfolgt undmüssen um Leib und Leben fürchten. In besonderemMaße sind hiervon Frauen betroffen. Sie haben keineMöglichkeit, arbeiten zu gehen, werden ins Haus gesperrtund sind häufig Opfer von gesellschaftlich bedingtergeschlechtsspezifischer Verfolgung. Oft sehen FrauenFlucht als einzige Möglichkeit an, diesen Qualen zuentgehen. Sie fliehen dann aber vor Verfolgungen, die
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nicht unmittelbar vom Staat ausgehen. Um Menschen wiesie geht es, wenn wir von nichtstaatlich Verfolgten sprechen.Nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist der Schutzeines Flüchtlings oberstes Ziel. Sie besagt, dass keinFlüchtling in ein Land zurückgeschickt werden darf, indem sein Leben oder seine Freiheit bedroht sind. Nachdieser Schutztheorie ist es unerheblich, ob der Urheberder Verfolgung staatlich oder nichtstaatlich ist. Es kommtallein auf den fehlenden Schutz an.
In Deutschland erhalten nichtstaatlich Verfolgte bis-lang allenfalls den Status der Duldung; das heißt, sie wer-den nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. Dasheißt aber auch: Ein solcher Status bietet keine planbareZukunftsperspektive. Aus menschenrechtlicher Sicht hal-ten wir es deshalb für notwendig, dass auch diesen Flücht-lingen Schutz vor Abschiebung gewährt wird und dassgeduldete Flüchtlinge, für die eine Rückkehr in ihr Her-kunftsland eine besondere Härte darstellen würde, leich-ter eine Aufenthaltsbefugnis erhalten sollen.
Bei den Entscheidungen über Abschiebehindernissenach § 53 Ausländergesetz sollte unserer Meinung nachauch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofsfür Menschenrechte stärker berücksichtigt werden. Einenentscheidenden Schritt hin zu einer verbesserten Situationder Flüchtlinge in unserem Land haben wir bereits mit derstärkeren Berücksichtigung der geschlechtsspezifischenVerfolgung durch die Änderung der Verwaltungsvor-schriften erreicht. In der Praxis geht das hin bis zu Rege-lungen in Dienstvorschriften.Meine Damen und Herren, seit Amtsbeginn der rot-grünen Regierung hat sich in der Flüchtlings- und Aus-länderpolitik schon vieles positiv bewegt. Das zeigt sichnicht nur auf politischer Ebene. Auch der Beschluss desBundesverfassungsgerichts zur politischen Verfolgungvom August letzten Jahres hat eine wichtige Fortentwick-lung der deutschen Rechtsprechung eingeleitet. Erst vorwenigen Tagen ist das Bundesverwaltungsgericht dieserAuffassung gefolgt. Damit wird zukünftig für Bürger-kriegsflüchtlinge die Anerkennung von Asyl nicht mehrvon vornherein – mangels staatlicher Strukturen – ausge-schlossen. Neben Afghanistan könnte diese neue Recht-sprechung auch Fälle aus Nordirak und Somalia betreffen.Allerdings bedeutet das nicht, dass generell ein Anspruchauf Asyl besteht. Die Verfolgung ist auch weiterhin imEinzelfall nachzuweisen.Es wird nun darauf ankommen, die Möglichkeiten zuprüfen, die durch den Beschluss eröffnet wurden. Ermuti-gend ist, dass sich insbesondere durch die neue Leitungdes Bundesamtes für die Anerkennung ausländischerFlüchtlinge unter dem neuen Präsidenten, HerrnDr. Schmid, eine positive Entwicklung abzeichnet.
Die Tendenz zu mehr Offenheit gegenüber nichtstaatlichoder geschlechtsspezifisch verfolgten Flüchtlingen be-grüßen wir ausdrücklich.Wir dürfen nicht vergessen, dass auch für Kriegs- undBürgerkriegsflüchtlinge ein dringender Schutzbedarf be-steht. Die Innenministerkonferenz hat den interfraktionel-len Antrag zu den humanitären Grundsätzen der Flücht-lingspolitik, den wir im Juli einstimmig verabschiedethaben, im November vergangenen Jahres positiv aufge-griffen, und zwar insofern, als nun schwer traumatisierteBosnier und Bosnierinnen weiter in Deutschland bleibendürfen. Fortgeführt wurde diese richtungsweisende Ent-scheidung vor drei Wochen. Die Innenministerkonferenzhat am 15. Februar beschlossen, bosnischen Flüchtlin-gen unter bestimmten Voraussetzungen ein dauerhaftesBleiberecht in Deutschland einzuräumen. Damit wird un-serem Anliegen entsprochen, eine seit langem geforderteLösung für die bosnischen Flüchtlinge zu finden. Dies istmeiner Meinung nach eine gute Lösung, denn sie berück-sichtigt humanitäre Gesichtspunkte.
Wir begrüßen ausdrücklich die Initiativen von Bun-desinnenminister Otto Schily und die nun erzielte Eini-gung mit den Innenministern und mit den Senatoren derLänder.
Es ist sehr zu hoffen, dass auf der nächsten Innenminis-terkonferenz im Mai eine ähnlich gute Lösung für Flücht-linge aus dem Kosovo beschlossen werden kann.
Lassen Sie mich abschließend den Blick noch einmal aufdie konkrete Situation in unserem eigenen Land lenken:Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Rechtsradikalismusin der Bundesrepublik Deutschland treffen jene Menschenbesonders schmerzlich, die als Flüchtlinge hierher gekom-men sind, auf der Suche nach Schutz. Ein Leben in Angstvor Diskriminierung und gewalttätigen Attacken ist unwür-dig. Ob Deutschland seinem Anspruch als ein menschlichesund weltoffenes Land dauerhaft gerecht wird, hängt we-sentlich auch davon ab, ob es gelingt, Flüchtlinge und Ein-wanderer sozial zu integrieren. Dies ist eine der großen ge-sellschaftspolitischen Aufgaben unserer Zukunft.
Daher kann ich als waschechte Rheinländerin
die jüngsten Äußerungen des CDU/CSU-Fraktionsvorsit-zenden, Friedrich Merz, nur als schlechten Karnevals-scherz werten,
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Lilo Friedrich
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der ein Verbot der politischen Betätigung von Asylbe-werbern gefordert hat. Dies bedeutet im Klartext, dassAugenzeugen von Völkermord und Verbrechen gegen dieMenschlichkeit mundtot gemacht werden sollen.
Flüchtlinge, die ihr Leben mit knapper Not retten konn-ten, sollen nach dem Willen von Merz schweigend zuse-hen, wie ihre Angehörigen und Freunde ermordet, bom-bardiert, vergewaltigt und vertrieben werden. Das istunzumutbar.
Politische Beteiligung ist ein Grundrecht in der Demo-kratie, auch für Flüchtlinge, Herr Merz. Stellen Sie sichvor, Thomas Mann und mit ihm vielen anderen Schrift-stellern, die während des Nationalsozialismus ins Exilgingen, wäre es verboten gewesen, ihre Kritik an Hitlerund am Dritten Reich zu äußern.Die Erfahrungen aus der Geschichte haben uns gelehrt,dass das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl einkostbares Gut ist, das auch in Zukunft gewährleistet wer-den muss. Es ist aber auch unsere Aufgabe, sämtliche For-men von Fremdenfeindlichkeit entschlossen zu bekämp-fen. Wir müssen für Verständnis und Toleranz gegenüberFlüchtlingen werben und wir müssen für einen humanenFlüchtlingsschutz eintreten. Um den Weg dahin beschrei-ten zu können, appelliere ich an alle Fraktionen des Deut-schen Bundestags, unserem Antrag zuzustimmen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der heute zurEntscheidung anstehende Antrag der Regierungsfrak-tionen „Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“wurde aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Amtesdes Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Natio-nen, UNHCR, eingebracht. Die Arbeit des UNHCR wirdin diesem Antrag dargestellt und gewürdigt; dem UNHCRwird für seine Leistung höchster Respekt bezeugt. DieserWertschätzung des UNHCR möchte ich mich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich anschließen.Der stellvertretende Vorsitzende unseres Ausschussesfür Menschenrechte und humanitäre Hilfe, ChristianSchwarz-Schilling, hat am 7. Dezember in einer Debattedieses Hauses die Arbeit des UNHCR, insbesondere dieder früheren Hochkommissarin Ogata, mit Worten ge-würdigt, die Ihrer aller Zustimmung gefunden haben. Wirwünschen auch ihrem Nachfolger, dem niederländischenChristdemokraten Ruud Lubbers, allen nur erdenklichenErfolg bei seiner Arbeit zur Linderung der Not vonFlüchtlingen in aller Welt.
In einem gemeinsamen Antrag der Regierungsfraktio-nen und der Oppositionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P.„Die Vereinten Nationen an der Schwelle zum neuen Jahr-tausend“ wird die Bundesregierung ausdrücklich aufge-fordert, sich für eine Stärkung des UNHCR einzusetzen.Geht es um Flüchtlingspolitik – Sie, Frau KolleginFriedrich, haben darauf hingewiesen –, besteht auch An-lass, an den hier seinerzeit einstimmig verabschiedetenGruppenantrag „Humanitäre Grundsätze in der Flücht-lingspolitik beachten“ zu erinnern und den Initiatoren zudanken. Indem die Innenminister dem damaligen Appell,gerade Traumatisierten und anderen hier ein Bleiberechteinzuräumen, gefolgt sind, hat, wie es der deutsche Ver-treter des UNHCR zu Recht ausdrückte, „die beein-druckende Geschichte der Aufnahme und Rückkehr derbosnischen Flüchtlinge ihren würdigen Abschluss gefun-den“.Trotz dieser von mir bewusst an den Anfang gestelltenGemeinsamkeiten besteht unseres Erachtens dennochkein Anlass, Ihrem heute vorliegenden Antrag „Flücht-lingsschutz ist Menschenrechtsschutz“ zuzustimmen.Dieser Antrag bleibt in wichtigen konkreten Fragen derFlüchtlingspolitik bewusst schwammig, um Gegensätzein der Koalition wie auch zwischen den Koali-tionsfraktionen und der Bundesregierung zu übertünchen.Grundlegende Meinungsverschiedenheiten zwischender Bundesregierung und den Antragstellern gibt es schonbei der Beurteilung zentraler Sachverhalte. Dies zeigtesich auch im anlässlich der gestrigen Beratung im feder-führenden Ausschuss für Menschenrechte und humanitäreHilfe stattfindenden Gespräch mit Ihnen, Frau Staatsse-kretärin Dr. Sonntag-Wolgast.Lassen Sie mich dies konkretisieren – Stichwort„nichtstaatliche Verfolgung“ –: Am 29. November 1999fand zu diesem Thema eine öffentliche Anhörung desMenschenrechtsausschusses statt. Mehr als ein Jahr da-nach ziehen die Koalitionsfraktionen nun die Konsequen-zen und stellen fest, dass nichtstaatlich Verfolgten allen-falls der Status der Duldung zugesprochen werde, derihnen aber keine planbare Zukunftsperspektive biete. Da-gegen stellte Presseberichten zufolge Bundesinnenminis-ter Schily erst im Februar anlässlich eines Treffens derEU-Innen- und -Justizminister in Stockholm fest, er lehnees ab, auch nichtstaatliche Verfolgung als Asylgrund an-zuerkennen. Sie, Frau Staatssekretärin, bestritten aber inder gestrigen Sitzung, dass es eine Schutzlücke gibt, undwiesen darauf hin, dass auch bei Opfern nichtstaatlicherVerfolgung eine Verfestigung ihres Aufenthaltsrechts da-hin gehend möglich sei, dass ihnen eine Befugnis nach§ 30 des Ausländergesetzes erteilt wird. Damit erklärtenSie die zitierte Aussage des Antrags für schlicht unzutref-fend.So vage im Antrag die Beschreibung des gegenwärti-gen Zustandes ist, so unklar bleibt die als Auffassung
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Lilo Friedrich
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– nicht etwa als Forderung; denn dann könnte man es janachprüfen – vorgetragene Meinung, es solle den Opfernnichtstaatlicher Verfolgung Abschiebeschutz gewährtwerden. Ein solcher Abschiebeschutz wird den Opfernnichtstaatlicher Verfolgung auch heute schon nach § 53Abs. 6 des Ausländergesetzes gewährt, wobei die Recht-sprechung ein zwingendes Abschiebehindernis jedenfallsdann annimmt, wenn andernfalls den Betroffenen eine un-mittelbar bevorstehende Gefahr für Leib oder Lebendroht.Wenn Sie für die Opfer nichtstaatlicher Verfolgungeine Anwendung des § 51 des Ausländergesetzes, das sogenannte kleine Asyl, wollen, dann müssen Sie dies sa-gen. Wenn Sie darüber hinaus für eine derartige Anwen-dung des § 51 des Ausländergesetzes eine Gesetzesände-rung für notwendig halten, wie es gestern in einerPressemitteilung des UNHCR in Deutschland für erfor-derlich erklärt wurde, dann müssen Sie auch dies klar sa-gen.
Beispiel: geschlechtsspezifische Verfolgung. Sie for-dern, geschlechtsspezifische Menschenrechtsverletzun-gen – an diesem Tag besteht aller Anlass, gerade daran zuerinnern –, für die es in der Tat schreckliche Beispiele inwahrlich großer Zahl gibt, stärker zu berücksichtigen,
ohne aber zu erläutern, wo Sie nach der Veränderung derallgemeinen Verwaltungsvorschriften zu § 53 des Auslän-dergesetzes heute noch einen konkreten Mangel sehen.Nach der gestern im Menschenrechtsausschuss vorgetra-genen Auffassung der Bundesregierung stellen die geän-derten Verwaltungsvorschriften und die sicherlich vonuns allen zu begrüßenden entsprechenden und fort-laufenden Fortbildungsmaßnahmen für die Entscheide-rinnen und Entscheider insgesamt ein Maßnahmebündeldar, das ausreicht. Wenn Sie darüber hinaus etwas tunwollen, dann sagen Sie, was getan werden soll.Beispiel: Berücksichtigung der Rechtsprechung desEuropäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.WieSie selbstverständlich wissen, wirkt diese Rechtspre-chung nur unter den Verfahrensbeteiligten. Angesichts ei-ner gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungs-gerichts, die eine restriktivere Auslegung der GenferFlüchtlingskonvention zum Inhalt hat, müssen Sie sagen,wie Sie diese Berücksichtigung anstreben wollen; dennaus gutem Grunde geht das nicht per „Dienstanweisung“durch Parlament und Regierung. Wenn Sie die Rechtspre-chung durch eine andere Gesetzesgrundlage ändern wol-len, dann sagen Sie, welche gesetzliche Grundlage Sie fürdiese neue Rechtsprechung ändern wollen.
– Werden Sie konkret bei dem, was Sie ändern wollen.Dann können wir uns über Ihre Vorschläge streiten.Beispiel: Vorbehalte bei der UN-Kinderrechtskon-vention. Erneut tragen Sie als Auffassung vor, dass dieVorbehalte gegenüber dieser Konvention zurückgenom-men werden sollen. Die Bundesregierung erklärte dage-gen im Dezember, dass für sie eine derartige Rücknahmeder Erklärung nicht in Betracht komme. Überrascht undquasi nebenbei erfuhren die meisten Mitglieder des Men-schenrechtsausschusses gestern, dass das Bemühen, unterden Bundesländern einen Konsens für eine solche Aufhe-bung zu finden, im Herbst eingestellt wurde.
– Dann sagen Sie konkret, was Sie fordern. – Bedenkennicht zuletzt der Stadtstaaten, darunter das rot-grüneHamburg, haben diesen Konsens bisher verhindert.Beispiel: Zugang von Asylsuchenden zu fairen,rechtsstaatlichen Verfahren als Kernpunkte einer Har-monisierung der Asylverfahren in der EuropäischenUnion. Ist dies angesichts der Rechtslage in Deutschlandwie in den anderen EU-Staaten nicht eine pure Selbstver-ständlichkeit? Oder verbirgt sich dahinter die Forderungdes UNHCR, dem Asylberechtigten Zugang zu einem fai-ren, rechtsstaatlichen Verfahren in einem Land seinerWahl einzuräumen? Dies wäre Aufgabe jener Drittstaa-tenregelung, die auch das Bundesinnenministerium füreinen unverzichtbaren Bestandteil des deutschen Asyl-rechts hält. Wollen Sie an dieser Regelung festhalten odernicht? Werden Sie konkret!So viel Unklarheit wird den schwierigen und wichtigenFragen des Flüchtlings- und Asylrechts in keiner Weisegerecht. Die mangelnde Qualität Ihres Antrages wird sichübrigens auch darin zeigen, dass der heutigen Be-schlussfassung durch die Regierungsmehrheit keine kon-krete Änderung in den gerichtlichen oder politischen Ent-scheidungen folgen wird.Im Zuge – dies ist meine Hoffnung – der zukünftigenZuwanderungsregelung und der Harmonisierung desAsylrechts auf europäischer Ebene werden uns die inIhrem Antrag unzureichend behandelten Themen weiterbeschäftigen. Wir hoffen, dass diese Fragen dann einersachgerechten und angemessenen Lösung zugeführt wer-den können. Dazu werden dann auch andere wichtige Fra-gen der Flüchtlingspolitik gehören, etwa der Zugang vonjungen Ausländern, die lediglich den Rechtsstatus derDuldung haben, zum Ausbildungsmarkt und zu öffentlichgeförderten Ausbildungsmaßnahmen. Ich denke, geradeüber dieses Thema sollten wir alle erneut nachdenken undhier zu einem Fortschreiten kommen.
Die heutige Debatte – Frau Kollegin Friedrich hat esgesagt – ist zugleich die letzte Bundestagsdebatte, an derdie Vorsitzende unseres Ausschusses, Claudia Roth, indieser Funktion teilnehmen wird, wobei ich mir die nichtganz unernst gemeinte Äußerung schon erlauben möchte,dass man einmal darüber nachdenken sollte, ob Regelun-gen, die zu einem solchen Mandatsverzicht zwingen, ei-
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gentlich noch mit der Berufsfreiheit und der Freiheit desMandats vereinbar sind.
Nun will ich aber weder das für einen Oppositionsver-treter zulässige Maß des Lobes überschreiten noch durchzu viel Lob ihr Wahlergebnis auf dem Parteitag der Grü-nen vermindern.
Danken will ich ihr allerdings für ein ausgesprochen fai-res Miteinander im Ausschuss, das bei manchem Streit ineinzelnen Fragen von dem gemeinsamen Bemühen be-stimmt war, für die Menschenrechtsidee, für die Vermei-dung von Menschenrechtsverletzungen und die Solida-rität mit den Opfern einzutreten.Ihrer Freude am fröhlichen Streit in der Sache werdenwir auch angesichts ihrer künftigen Funktion gerne ge-recht werden, zumal wir sicher sind, dass sie uns dazuimmer wieder Gelegenheit geben wird.Vielen Dank.
Die vielfach Ge-ehrte hat jetzt das Wort: Claudia Roth.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Liebe Lilo Friedrich, lieber Hermann Gröhe, herzli-chen Dank für die guten Wünsche. Nur, bei unsentscheidet die Bundesdelegiertenkonferenz, ob eineBundesvorsitzende gewählt wird oder nicht.
In circa 24 Stunden wissen Sie und weiß ich hoffentlich,ob ich heute Abend tatsächlich zum letzten Mal in derFunktion der Vorsitzenden des Menschenrechtsaus-schusses gesprochen habe. Ich danke Ihnen aber auf jedenFall für Ihre schönen Worte. Das tut ja auch gut.Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz. WeilMenschenrechte immer zu Hause anfangen, hat es viel mitunserer Glaubwürdigkeit zu tun, zu überprüfen, wie stabildas Fundament für die Menschenrechte in unserem Landist und ob humanitäre Grundsätze im Umgang mit Flücht-lingen bei uns eingehalten werden, sowie, wenn estatsächlich Schutzlücken gibt, diese auch zu schließen. Esist ein gutes und wichtiges Zeichen, dass der Antrag„Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“ feder-führend vom Menschenrechtsausschuss des DeutschenBundestages diskutiert und bearbeitet wurde. Dies zeigtdie Bedeutung, die wir Menschenrechten bei uns undaußerhalb unseres Landes beimessen.Hermann Gröhe hat gefragt, wie wir es mit den Vor-behalten gegenüber der Kinderrechtskonvention hal-ten. Lieber Hermann: So, wie es im Antrag steht. Wir for-dern die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass dieVorbehalte gegenüber der Kinderrechtskonvention zurück-genommen werden.
Ich hoffe, dass das klar genug ist, sodass auch die Oppo-sition dieser richtigen Forderung zustimmen kann.Lilo Friedrich hat gesagt, dass diese Debatte am Inter-nationalen Frauentag ein wichtiges Zeichen ist. Richtig,denn unter dem Deckmantel von Tradition, Kultur, Reli-gion oder so genannter Moral werden weltweit Millionenvon Frauen zwangsverheiratet, als Witwen verbrannt, we-gen der Familienehre getötet, zwangssterilisiert, werdenweibliche Föten abgetrieben, werden Mädchen und jungeFrauen an ihren Genitalien verstümmelt, erleiden siegrausame und unmenschliche Strafen, werden Frauen inKriegen und Bürgerkriegen Opfer sexueller Gewalt. DasCharakteristische an dieser Gewalt, an dieser ge-schlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzung ist, dassdie Opfer gerade in ihrem Frausein, in ihrer persönlichenIntegrität und der mit ihrem Geschlecht verbundenen ge-sellschaftlichen Rolle getroffen werden sollen.Wir haben in den letzten Tagen zu Recht empört auf dieZerstörungen unschätzbarer Kulturgüter in Afghanistanreagiert. Vielleicht schafft dies eine Vorstellung über diebarbarische Verfolgung von Frauen in Afghanistan undüber die umfassende Entrechtung, die Frauen dort er-leiden. Nach der Delegationsreise des Menschenrechts-ausschusses nach Afghanistan in die Hölle des Taliban-Regimes ist mir klar geworden, was umfassendeEntrechtung bedeutet, was die Verweigerung der Rechteauf Arbeit, auf Gesundheit, auf Erziehung und auf Bil-dung sowie des damit verbundenen Rechts bedeutet, über-haupt eine Zukunft zu haben. Für mich ist das politischeVerfolgung. Die Nichtgewährung eines entsprechendenAsylstatus bei uns hat nichts mit der Realität dieserFrauen und ihrer umfassenden Entrechtung zu tun, son-dern ist von einer innenpolitischen Flüchtlingsabwehrper-spektive geprägt. Das wollen und müssen wir ändern.
Der moralische Imperativ unseres Rechtsstaats, Art. 1unseres Grundgesetzes, lautet:Die Würde des Menschen ist unantastbar. ...Frauen sind auch Menschen und Frauenrechte sind auchMenschenrechte. Die Würde all dieser Frauen wird ange-tastet. Deswegen haben sie Anspruch auf volle Schutzge-währung in unserem Land. Auch dies will dieser Antragausdrücken.Amnesty berichtet über Folter und Misshandlung vonFrauen und belegt, was geschlechtsspezifische Verfol-gung bedeutet. Es ist Zeit, dass dies in den Asylverfahrenstärker berücksichtigt wird. Wie Lilo Friedrich möchte ichmich sehr positiv über die deutlichen Veränderungen imBundesamt für die Anerkennung ausländischer
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Flüchtlinge äußern, die ohne Zweifel die Handschrift desneuen Präsidenten Dr. Schmidt tragen. Vielen Dank,Dr. Schmidt. Die qualifizierte Schulung von Einzelent-scheidern und Dolmetschern ist ein erster wichtigerSchritt in die Richtung, Flüchtlinge nicht als Bedrohung,sondern als schutzwürdige Menschen zu empfinden.
Geschlechtsspezifische Verfolgung ist sehr oft nicht-staatliche Verfolgung. Auch dazu nimmt unser AntragStellung. Er ist für den besseren Schutz von Menschenrichtungsweisend, die Opfer von nichtsstaatlicher Verfol-gung in unserem Land werden.Lieber Hermann, ich bin sehr gespannt auf eure klarenund präzisen Vorschläge, wie mit nichtstaatlicher Verfol-gung zukünftig umgegangen werden soll. In diesem Zu-sammenhang hat das Urteil des Bundesverwaltungsge-richts zur Asylerheblichkeit der Verfolgung inAfghanistan eine Bedeutung und ist zu begrüßen, denn esmacht den Weg für die Anerkennung afghanischer Flücht-linge frei, die ihnen bisher mit dem Argument verweigertwurde, die Taliban würden über keine staatliche Autoritätverfügen.Wir konnten uns – ob einem das nun gefällt oder nicht –vom Gegenteil überzeugen. Es gibt de facto staatlicheStrukturen, und es reicht nicht aus, eine nichtstaatlicheVerfolgung aus der Tatsache abzuleiten, dass dieBundesrepublik Deutschland aus gutem Grund die Tali-ban völkerrechtlich nicht anerkennt.
Unser Festhalten am Grundrecht auf Asyl ist ein Be-kenntnis zu unserer historischen Verantwortung. DerArt. 16 a des Grundgesetzes ist für uns keine „Verfas-sungsfolklore“, sondern Ausdruck einer klaren Wertori-entierung deutscher Asylpolitik, denn der verfassungs-rechtlich abgesicherte Flüchtlingsschutz stellt klar:Asylrecht ist Menschenrecht. Es ist Opportunitätserwä-gungen der Politik entzogen. Über grundsätzliche Fragenim Bereich des Asylrechts kann und soll auch zukünftignur mit einer verfassungsändernden Mehrheit entschiedenwerden können.Was wir in diesem Land brauchen, ist die Umkehr derLogik der Debatte. Flüchtlinge sind keine Bedrohung,über die man redet wie über Naturkatastrophen. Nie-mand verlässt seine Heimat ohne Grund. Was wir brau-chen – das sagen Menschen wie Dr. Schwarz-Schillingoder Heiner Geißler in unserem Ausschuss, dem Men-schenrechtssausschuss, und das ist zu unterstützen –, istdas Ende der Diskreditierung und Kriminalisierung vonFlüchtlingen und ein Ende des Missbrauchs der Spra-che.
Wer von „Asylmissbrauch“ redet, wenn jemand einGrundrecht in Anspruch nehmen will, der missbraucht dieSprache.Es ist viel von der Zukunftsfähigkeit, vom Standort,von der Modernisierung Deutschlands die Rede. LiebeKolleginnen und Kollegen, ich bin felsenfest davon über-zeugt, dass die Zukunftsfähigkeit dieses Landes auch undgerade davon abhängt, welcher Wert demokratischenRechten beigemessen wird, wie stark das Fundament fürdie Grundrechte in unserem Land ist.In diesem Sinn brauchen wir eine Renaissance derGrundrechte, eine Renaissance der Menschenrechte, da-mit sich in Köpfe und Herzen vermittelt, dass das Aller-modernste, was wir haben, diese Rechte sind, dass sie unsunglaublich reich machen, dass sie uns etwas nützen, dasssie unserer Demokratie nützen. Ich hoffe, das kommt auchbeim bayerischen Innenminister an. Das gilt in besonde-rem Maße für das individuelle Grundrecht auf Asyl. Es istunantastbar und muss in seiner Auslegung an einen mo-dernen Begriff des Flüchtlings angepasst werden.Vielen Dank, liebe Kollegen! Jetzt werde ich doch einbisschen wehmütig, aber wir sehen uns ganz sicher wie-der.
Liebe Claudia
Roth, ich glaube, der Beifall hat gezeigt – wir wollen
natürlich alle nicht beschwören, was da nun in 24 Stunden
passiert –, dass dir alle Mitglieder des Hohen Hauses für
deine Arbeit danken und für die Zukunft alles Gute wün-
schen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich darf mit dem Dank an die Noch-Vorsitzende desAusschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfebeginnen, für die hervorragende Zusammenarbeit danken,ebenso für das Aufgreifen vieler sehr interessanter Anlie-gen aus der Mitte des Ausschusses und für das Anstoßenvieler Themen, auch gerade der Themen, die verdeutli-chen, dass Flüchtlingsfragen und die Situation vonFlüchtlingen in Deutschland auch eine Aufgabe im Rah-men des Menschenrechtsschutzes sind. Dass das zu Ver-wirrungen führen kann, haben wir ja in der Vorbereitungauf unsere letzte Sitzung erlebt. Auch ich wünsche Ihnenalles Gute für das, was ab morgen Abend mit großer Wahr-scheinlichkeit auf Sie zukommt.Meine Damen und Herren, wir hatten einstimmig eineninterfraktionellen Antrag zu den humanitären Grundsät-zen in der Flüchtlingspolitik beschlossen. Der hat Aus-wirkungen gehabt. An die Bundesregierung wurden kon-krete Aufforderungen gerichtet. Dann ist – dies war
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Claudia Roth
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mühsam, weil immer wieder nachgefasst werden musste –tatsächlich etwas passiert.Frau Friedrich, Frau Roth, genau das sehe ich in demAntrag, der den Titel „Flüchtlingsschutz ist Menschen-rechtsschutz“ hat und den Sie uns vorgelegt haben, nicht.In diesem Antrag ist keine einzige Aufforderung an dieBundesregierung enthalten. Er ist eine Bestätigung derAuffassung des Bundestages. Natürlich ist es mit Sicher-heit für die Bundesregierung sehr beeindruckend, wennwir hier einen solchen Antrag beschließen würden. Aberdieser Antrag enthält noch nicht einmal die Aufforderungan die Bundesregierung, nach einem gewissen ZeitraumRechenschaft darüber abzulegen, was sie in diesem Zu-sammenhang getan hat. Das ist meine erste große Kritik.
Er ist letztendlich mehr Schein als Sein, als das, was da-mit tatsächlich nach außen bezweckt werden soll.Zum Zweiten sind in ihm sehr viele Unbestimmthei-ten enthalten. Wo sind zum Beispiel Forderungen nach ei-nem besseren Zugang zum Arbeitsmarkt? Dies ist drin-gend notwendig, wie wir von der Ausländerbeauftragtenin der letzten Sitzung des Menschenrechtsausschusses de-zidiert vorgetragen bekommen haben. Wo sind denn dieVerbesserungen im Flughafenverfahren, über die seitzwei Jahren beraten wird? Wo sind denn die Regelungen,mit denen die bekannt gewordenen Schwierigkeiten unddie Unzulänglichkeiten in der Abschiebehaft beseitigtwerden sollen? Davon ist doch in Deutschland die Situa-tion der Flüchtlinge, um die es geht, geprägt.
– Sie räumen mit diesem Antrag – das muss ich Ihnen ein-mal deutlich sagen – überhaupt nichts auf.
Sie räumen noch nicht einmal mit dem Vorbehalt gegen-über der Kinderkonvention auf, was Sie in der Oppositionimmer gefordert haben. Sie schreiben in den vorliegendenAntrag nur das hinein, was sowieso schon einstimmigeBeschlusslage des Hauses ist. Darauf ist einmal deutlichhinzuweisen.
Das ist keine Verbesserung des Flüchtlingsschutzes,auch wenn Sie versuchen, diesen Eindruck zu erwecken.Wir können sehr viel über Dinge sprechen, über die wireiner Meinung sind. Aber mit diesem Antrag, den Sie nachunseren intensiven Beratungen im Ausschuss und anläss-lich von Anhörungen letztes Jahr nicht so, wie Sie dies ge-tan haben, hätten „aus der Hüfte“ ziehen dürfen und derkeine Aufforderung an die Bundesregierung enthält, be-wirken Sie leider nichts.Ich darf einen Punkt zu den Anträgen erwähnen, die dieF.D.P.-Fraktion eingebracht hat und über die nicht abge-stimmt wird, nämlich zum Antrag auf Verbesserung derSituation der Binnenvertriebenen. Das ist eine Forde-rung, die auch Nichtregierungsorganisationen erheben.Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass die finanziellen undorganisatorischen Voraussetzungen des UNHCR verbes-sert werden. Deshalb haben wir unsere Vorschläge in Auf-forderungen an die Bundesregierung gekleidet. Es solltein Form einer Konvention bzw. einer Vereinbarung der in-ternationalen Staatengemeinschaft, die es bis heute, wo-rüber der UNHCR sehr klagt, nicht gibt, eine Grundlagefür den Umgang mit Binnenvertriebenen geschaffen wer-den.Ich wollte natürlich gerne noch sehr viel mehr anspre-chen.
Aber gerade angesichts der Äußerungen von KolleginKerstin Müller, dass die Grünen ihre Programmatik sehrviel stärker in den Vordergrund stellen sollten, möchte ichnoch einen Punkt erwähnen: Herr Fischer hat zum Bei-spiel in seinen Einlassungen zum Verhalten Amerikas imRahmen der Militärschläge gegen den Irak gesagt, hierwürden deutsche Interessen wahrgenommen – so ist es inder „Frankfurter Rundschau“ von gestern nachzulesen –,und hat in diesem Zusammenhang keinerlei Bewertungabgegeben. Er macht im Gegenteil nur deutlich, hier habeDeutschland nicht zu kritisieren.
– Dazu kann ich Ihnen nur sagen, dass früher ganz andersverhandelt worden ist. – Im Zusammenhang mit demNMD-Programm möchte ich Sie fragen: Wer hat denn da-mals die Auseinandersetzung über SDI angeführt?
Frau Kollegin,
achten Sie bitte auf die Zeit!
Unterwürfigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten war
früher nie Gegenstand der Außenpolitik. Wenn man ein-
mal eine solche Position bezogen hat, dann kann man
nicht die Position vertreten, die richtig und notwendig
wäre. Von daher ist meiner Ansicht nach wichtig, dass die
Haltungen der Grünen, –
Frau Kollegin!
– also die des Außenministers, die der Fraktion und die
der Partei, künftig mehr übereinstimmen, als es derzeit
der Fall ist.
Frau Kollegin,
Sie waren einerseits über der Redezeit, andererseits wollte
ich Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen; das
hätte Ihnen erlaubt weiterzureden. Möchten Sie diese
Zwischenfrage auch jetzt noch zulassen?
Bitte.
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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger15245
Es tut mir
Leid, dass meine Frage jetzt so nachgeschoben erscheint.
Ich habe mich lange genug gemeldet, aber es wurde nicht
gesehen.
Ich habe folgende kurze Frage, Frau Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger: Können Sie mir sagen,
welche Bemühungen Sie in den Jahren, in denen Sie in der
Regierungskoalition waren und zeitweise mit dem dama-
ligen Innenminister Kanther am Kabinettstisch saßen,
unternommen haben, um all die Thesen und Forderungen,
die Sie heute vorbringen, durchzusetzen?
Frau Sonntag-Wolgast, ich kann Ihnen eines ganz klar sa-
gen: Sie sind in Regierungsverantwortung; Sie setzen die
Maßstäbe an, an denen Sie gemessen werden. Genau das
habe ich zum Gegenstand meiner Ausführungen gemacht.
Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, ich möchte jetzt den nächsten Redner
aufrufen. Das ist der Abgeordnete Carsten Hübner.
Liebe Kolleginnen und Kol-
legen, die Sonne steht im Zenit, der Saal ist brechend voll,
die Besuchertribünen auch – es ist Menschenrechtszeit im
Deutschen Bundestag!
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses! Die
PDS-Bundestagsfraktion teilt die Auffassung, dass der
UNHCR in den vergangenen 50 Jahren eine wirklich
wichtige, wertvolle und zu seiner Gründungszeit noch gar
nicht absehbare Arbeit geleistet hat und dass seine Be-
deutung gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Kon-
flikte weltweit eher steigen als sinken wird. Dafür bedarf
es allerdings, nicht zuletzt vonseiten der Bundesrepublik
Deutschland, einer entsprechenden finanziellen Ausstat-
tung. Ich hoffe sehr, dass dieser Bewertung in den weite-
ren zu erwartenden Schrumpfhaushalten entsprechend
Rechnung getragen wird.
Die PDS-Fraktion hat zunächst besonders gefreut, dass
dieser Würdigungsantrag ganz im Sinne einer verant-
wortlichen Menschenrechts- und Flüchtlingspolitik er-
weitert wurde und wichtige aktuelle Aspekte auch der
deutschen Asylpolitik aufgreift, nämlich die Anerken-
nung geschlechtsspezifischer Fluchtgründe, die Anerken-
nung nicht staatlicher Verfolgung, das Spannungsfeld
Entwicklungszusammenarbeit und Verpflichtung zur
Rücknahme von Flüchtlingen sowie die Implementierung
von Härtfallregelungen in der deutschen Asylpolitik. Das
sind Aspekte, die in der Debatte heftig umstritten sind, und
zwar nicht nur bei CDU und CSU, bei denen das Asylrecht
von Einzelnen inzwischen sogar gänzlich infrage gestellt
wird, sondern auch im sozialdemokratisch geführten In-
nenministerium Otto Schilys. Dort wird eher nach Res-
triktion denn nach Liberalisierung gerufen.
Umso bedauerlicher ist es, dass der Antrag – wohl mit
Rücksicht auf das Bundesinnenministerium – äußerst un-
konkret geblieben ist, statt deutliche Signale zu setzen.
Wenn man es genau nimmt, enthält er nicht eine einzige
konkrete Forderung; darauf ist schon mehrmals hinge-
wiesen worden. Statt dessen heißt es lediglich: „Der Bun-
destag ist der Auffassung ...“ Passiver ist es kaum zu for-
mulieren.
Wenn man an die gestrige Sitzung des Menschen-
rechtsausschusses denkt, in der SPD und Grüne, die zuvor
noch frauenspezifische Fluchtgründe in diesen Antrag
aufgenommen hatten, dann aber unseren Antrag zu dieser
Frage abgelehnt haben, so merkt man, wie groß in dieser
Frage die Furcht vor konkreten Forderungen – oder soll
ich sagen: vor dem Innenminister – offenbar ist.
– Sehr gut! – Denn inhaltlich – das haben Sie in der ges-
trigen Sitzung bestätigt – teilen Sie die Aussagen unseres
Antrags. Sie werden also verstehen, dass ich große Zwei-
fel an der Umsetzung des Antrages „Flüchtlingsschutz ist
Menschenrechtsschutz“ habe. Das gilt umso mehr, seit ich
gestern im Menschenrechtsausschuss erfahren durfte,
dass sich die Bundesregierung bereits seit Herbst letzten
Jahres nicht mehr bei den Ländern um die Aufhebung des
Vorbehalts gegenüber der Kinderrechtskonvention bemüht,
obwohl sie vom ganzen Haus, mit den Stimmen aller
Fraktionen, dahin gehend aufgefordert worden war. Nicht
einmal eine zeitnahe und konkrete diesbezügliche Infor-
mation an die zuständigen Ausschüsse hat das Bundesin-
nenministerium für nötig befunden.
Dennoch wird meine Fraktion dem Antrag zustimmen –
nicht jedoch ohne anzukündigen, dass wir in vertretbarer
Zeit einen Bericht beantragen werden, um zu prüfen, in-
wieweit die Bundesregierung dem Antrag auch Taten hat
folgen lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Claudia, ich
möchte zum Abschluss nicht darauf verzichten, zu beto-
nen, wie sehr ich politisch und persönlich dein zu erwar-
tendes Ausscheiden als Kollegin, Menschenrechtlerin und
als Vorsitzende des ersten eigenständigen Menschen-
rechtsausschusses des Bundestages bedaure. Denn bei dir
waren Menschenrechtsthemen immer Erste-Klasse-The-
men, selbst wenn wir oft nur Dritte-Klasse-Debattenzei-
ten zur Verfügung hatten. Und als neuer Parlamentarier
möchte ich sagen, dass ich von deiner Geradlinigkeit, dei-
ner Unbändigkeit und deiner Toleranz und Offenheit eine
Menge lernen konnte. Liebe Claudia, du wirst uns fehlen.
Ich schließe da-mit die Aussprache zu diesem Punkt.
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Wir kommen zur Abstimmung und zu den Überwei-sungen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Men-schenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag derFraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünenmit dem Titel „Flüchtlingsschutz ist Menschenrechts-schutz“, Drucksache 14/5462. Der Ausschuss empfiehlt,den Antrag auf Drucksache 14/4884 anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Ent-haltung der F.D.P. angenommen.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/5452 und 14/5453 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnung 10 sowie Zusatzpunkt 9 auf:10. Beratung des Antrags der Abgeordneten WolfgangBörnsen , Gunnar Uldall, HansjürgenDoss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUHerstellung fairerWettbewerbsbedingungen fürdie deutsche und europäische Werftenindustrie– Drucksache 14/5137 –
Die Kernfrage bleibt: Welche Zukunft haben deutscheund europäische Schiffbauer nach diesem Zwischenhoch?Ein isländisches Sprichwort sagt: „Die Unwissenheit istein Meer, das Wissen ein Floß darauf.“ Die deutsche unddie europäische Werftindustrie sowie ihre Zuliefererblicken auf dieses Meer und segeln in eine ungewisse Zu-kunft. Das Floß des Wissens, wie Schiffe gebaut werden,steuern sie; doch fahren ihnen die Koreaner auf einem Su-pertanker aus Subventionen davon. 1998 lag der Welt-marktanteil Europas im Schiffbau bei 26 Prozent, derKoreas bei 25 Prozent, aber sprunghaft steigend.Brüssel, durch Berichte über Dumpingpreise aus Fern-ost beunruhigt, reagierte im November 1999 mit einerersten Dokumentation. Nachgewiesen wurde in diesemPapier: Südkorea betreibt eine eklatante Wettbewerbs-verzerrung durch Staatshilfen. Der Ministerrat reagierteauf diese Meldung geradezu lustlos gelassen. Es gab keineernsthafte politische Reaktion, weder von der Bundes-regierung noch von den anderen EU-Partnern.
1999 sank Europas Weltmarktanteil im Schiffbau auf17 Prozent, der von Korea stieg auf 33 Prozent. Brüsseldokumentierte die anhaltenden Beschwerden über dieMarktverzerrungen im Mai 2000 in einem zweiten Be-richt. Weder der Missstand, dass die Koreaner ihre Schiffebis zu 40 Prozent unter den eigenen Herstellungskostenverkaufen, noch der Tatbestand, dass der InternationaleWährungsfonds durch die Stützung des koreanischenWon indirekt die Regierung vor Ort in die Lage versetzte,den Großwerften weiter zu helfen, hat zu einer kraftvol-len Reaktion der Kommission geführt.Am IWF-Großkredit war Deutschland mit fast 6 Pro-zent beteiligt. Bundesdeutsches Geld hat zur Wiederer-starkung der koreanischen Konkurrenz beigetragen. DieIG Metall hat diesen Sachverhalt mit dem Hinweis auf
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer15247
den Punkt gebracht: Wir mästen unsere eigenen Schläch-ter. – Damals war aus Gründen der internationalenWährungsstabilität die Initiative des IWF notwendig.Doch den Kredit ohne Auflagen zu geben war, gelinde ge-sagt, grob fahrlässig.Im vergangenen Jahr erreichten Europas Werften ge-rade noch einen Anteil von 15 Prozent. Deutschlands An-teil betrug 5,5 Prozent. Für beide ist das der geringsteWeltmarktanteil der vergangenen 50 Jahre. Korea kam auf40 Prozent.Die hier vorgelegten Daten und Fakten fußen auf demDritten Bericht, den Brüssel jetzt vorgelegt hat. Er ver-deutlicht noch einmal den Sachverhalt: Die Schiffbau-nation Nummer eins, Südkorea, fördert den Bootsbau mitunlauteren Mitteln.Endlich, drei Jahre nach dem ersten Beweis diesesSachverhaltes reagierte auch der Ministerrat – doch völ-lig anders, als die Betroffenen es erwartet haben. DieWerftenhilfe, 30 Jahre bewährt als bestes Mittel gegen dieweltweite Wettbewerbsverzerrung, wurde zum 1. Janu-ar 2001 abgeschafft. Was die ganze Hilflosigkeit der EUkennzeichnet: Es wurde gleichzeitig keine Maßnahme ge-gen die einseitige koreanische Schiffbauoffensive be-schlossen, keine Handelsauflage gegen koreanische Gütergefordert, keine Strategie entwickelt, um ein weltweitesPreisdumping zu verhindern. Der Stier Europa hat seineHörner eingebüßt. Deutschlands Schiffbauer und die deranderen Länder bleiben mit ihren Existenzsorgen allein.
Noch vor einem Jahr hat der Bundeskanzler auf dergroßen maritimen Konferenz in Emden versprochen:Wir lassen unsere Werften nicht im Stich und – das hörenGewerkschafter besonders gerne – wir werden konkrethandeln. Chefsache wurde die maritime Politik.
Nur, der Chef setzte Deutschlands Interessen in Brüsselnicht durch. Er und der Wirtschaftsminister erlitten trotzder Tüchtigkeit ihrer Mitarbeiter in diesem Politikfeldeine bittere Niederlage.Eine letzte Chance, das Ruder herumzureißen, gibt esnoch. Im Mai will der EU-Ministerrat noch einmal dieWettbewerbsverzerrungen im Schiffbau aufgreifen. Dochder Spielraum ist eng. Die Zeit läuft dem Rat, der dreiJahre nicht gehandelt hat, davon.Die koreanische Schiffbauoffensive schafft Tatsa-chen. Bei den Post-Panamax-Containerschiffen, die 1988in Europa entwickelt wurden, gingen im vergangenenJahr 82 Prozent der Aufträge nach Fernost, 4 Prozent nachJapan. Zum ersten Mal ging kein Auftrag mehr nach Eu-ropa. Auch bei den Kreuzfahrtschiffen, deren Herstellerbisher in Europa zu Hause waren, gingen die ersten Auf-träge nach Fernost. Deutschland gibt auch in diesem Sek-tor Marktanteile ab. Jeder zweite Neubauauftrag gehtheute nach Korea, Tendenz steigend. Im Windschattenfolgt die Volksrepublik China mit 7 Prozent Marktanteil.Beide bauen ihre Kapazitäten aus. Die EU dagegen för-dert mit Prämien die Stilllegung von Werften – eine Poli-tik des Widersinns. Die Lage der kleinen und mittlerenWerften ist besonders problematisch.Das Verständnis der Nichtschiffbaustaaten in der EUfür neue Werftenhilfen nimmt ab. Die Beihilfen erreich-ten im letzten Jahr 22 Prozent der Wertschöpfung. Dasbedeutet: Pro Beschäftigten im Schiffbau zahlt man28 000 Euro. Also stützen wir einen Werftarbeiterplatz imJahr mit 55 000 DM. Die Möglichkeiten, den Marktmiss-brauch Südkoreas im Schiffbau zu beenden, nehmen ra-pide ab. Die Kommission ist in Korea gescheitert. Der eu-ropäische Schiffbauverband klagt zwar, hat aber wenigChancen, sich bei der WTO durchzusetzen.Einen Gesichtspunkt sollte die Maikonferenz noch auf-nehmen, und zwar den, dass das Transportmittel Schiffbeispielhafte Umweltdaten aufzeigt. So liegen die CO2-Emissionen im Seeverkehr bei nur zwei Gramm pro Ki-lometer transportierter Tonne. Bei der Schiene liegt dieserWert 15-mal und beim LKW-Transport 95-mal so hoch.Auch beim Energieaufwand ist das Boot vor Bahn undStraße mit Abstand führend.Außerdem – auch das sollte bei der Maikonferenz be-achtet werden – wäre nachhaltige Umweltpolitik auchdurch bessere internationale Umweltstandards im See-verkehr möglich.
24 Jahre beträgt derzeit das Durchschnittsalter der Schiffeauf unseren Meeren. Tausende instabile Rostlauben sinddarunter. Von 8 500 weltweit eingesetzten Tankern besit-zen nur 1 400 eine Doppelhülle. Meereskatastrophen sindtäglich möglich. Umwelt- wie wirtschaftspolitisch gäbees einen Sinn, bei Alter und Sicherheit der Boote anzuset-zen und zu neuen Standards zu kommen, um dem Schiff-bau einen neuen Drive zu geben. Wir sind dafür.
Das Maitreffen der Wirtschaftsminister sollte auch aufden Aspekt eingehen, die Kapazitätsbeschränkungen,die es für die Werften in Mecklenburg-Vorpommern nochimmer gibt, auszusetzen;
denn sie nehmen den Werften in Wismar, Rostock, Stral-sund und Wolgast jede Luft und Flexibilität und beein-trächtigen ihre Wettbewerbsfähigkeit.Die EU-Kommission ist grundsätzlich gegen Subven-tionen. Viele Experten meinen, dass die Maikonferenz nurnoch eine Alibiveranstaltung werden wird. Der möglicheSchiffbauboom unserer Werften wird eventuell auchdurch die Maikonferenz behindert. Trotz dieser Skepsisersuchen wir das Parlament, den vorliegenden Antrag zuunterstützen, und zwar in Sorge um über 100 000 Arbeits-plätze und in Verantwortung für die Zukunft einer erst-klassigen, traditionsreichen Industrie. Es ist ein Gebot derStunde, jetzt in Brüssel die Regierung zu unterstützen.Dieser Appell geht besonders an die Kollegen derBündnisgrünen, die gegen Schiffbauhilfen sind. Aber wiewollen Sie die Werften in Europa flottmachen, wenn nicht
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Wolfgang Börnsen
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durch Förderung, so lange sich die Konkurrenz staatlicherMithilfe bedient? Nach unserer Auffassung wäre eine bal-dige Verabschiedung der OECD-Regelung der Königs-weg, um endlich aus dem Wettlauf der Subventionen imSchiffbau auszusteigen.
Ziel muss der Abbau aller Staatsförderung sein. Un-sere Werften können trotz hoher Produktkosten der Kon-kurrenz standhalten, so deren eigene Aussage. Japan undKorea sind, wie die meisten der Schiffbauländer für einsolches Abkommen. Nur die USA, die es einmal selbst an-geboten haben, sperren sich. Warum greifen wir nicht– Herr Staatssekretär, Sie werden ja gleich sprechen – Ja-pans Angebot auf, ohne Amerika zu einer Einigung zukommen?Wir von der Union erwarten, dass der Bundeskanzlerdas Thema „Wegfall der Subventionen im Schiffbau“ aufdie Tagesordnung des kommenden G-7/G-8-Gipfels set-zen lässt. Wir erwarten, dass damit nicht weiter gezögertwird. Der augenblickliche Auftragsbestand auf deutschenWerften ist in 24 Monaten abgearbeitet. Sollen die Schiff-bauer kein Waterloo erleben, ist es zum Handeln fünf Mi-nuten vor zwölf.
Vergessen wir nicht: Südkorea will seine Marktmachtnoch weiter ausbauen und China holt rasant auf. Wassagte ein Schiffbauer – damit komme ich zum Schluss –bei meinem letzten Werftbesuch in Flensburg: „Wir inDeutschland benötigen keine Subventionen, aber einenfairen Wettbewerb.“
Das Wort
hat nun der Parlamentarische Staatssekretär beim Bun-
desminister für Wirtschaft und Technologie, Siegmar
Mosdorf.
S
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte erstensfeststellen, dass die deutschen Schiffbauer einen erst-klassigen Ruf haben und erstklassige Schiffe bauen – dasmuss man auch einmal hier im Parlament sagen – und sichdeshalb trotz des schwierigen Wettbewerbs auf dem Welt-markt sehr gut behaupten.
Zweitens will ich ausdrücklich sagen, dass die Schiff-bauer Anwälte auch hier im Parlament haben: MargritWetzel, Wolfgang Börnsen und Annette Faße sind die-jenigen, die immer für die Schiffbauer kämpfen.
– Alle anderen auch. Sie haben also verlässliche Anwälteim Parlament.Ich habe sehr genau zugehört, wie Herr Börnsen sicheben mit der Kommission auseinander gesetzt, sich abersehr differenziert zur Regierung geäußert hat; denn erweiß, dass wir uns sehr engagiert haben.
– Das sage ich ja ausdrücklich.Wenn es im Mai im Ministerrat zu einem Monitoringkommt, dann ist dies ausschließlich auf unsere Initiativeim letzten Ministerrat zurückzuführen, als es um die Frageging: Was machen wir, wenn die Koreaner sich nicht be-wegen? Was die Aktivitäten im Mai angeht, habe ichkeine Illusionen und will auch keine in die Welt setzen;aber wir haben gekämpft. Wir wissen alle, dass dieserPunkt für uns deshalb von großer Bedeutung ist, weil diekoreanischen Werften bei neuen Aufträgen für Contai-nerschiffe inzwischen einen Weltmarktanteil von 60 Pro-zent, bei Großcontainerschiffen sogar von 80 Prozent ha-ben.Betrachtet man die Entwicklung, stellt man fest – dasbesagen inzwischen auch alle Kommissionsberichte –,dass die koreanischen Werften mit Preisen auf dem Welt-markt operieren, die 20 Prozent unter den Einstandsprei-sen liegen.
– Ich gehe von den Kommissionberichten aus; wir wolleneinmal ganz vorsichtig an das Ganze herangehen.Ich will hinzufügen: Ich habe die Sorge, dass sich dieLage noch verschärft, wenn die Chinesen auf den Marktkommen. Die Koreaner befinden sich in genau dieser Er-wartungshaltung, weil sie wissen, was sich dann abspielt:Die Lage wird sich weiter verschärfen. Umso wichtigerist, dass wir das, was wir als OECD-Plattform angestrebthaben, auch durchsetzen. Leider haben wir in Europa, wieSie wissen, dafür im Moment noch keine Mehrheit.Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschlandeinen guten und modernen Schiffbau aufgebaut. Das giltfür die Werften, die wir alle kennen, in besonderer Weise.Die auf der Basis nicht kostendeckender Preise erreichtenhohen koreanischen Marktanteile bei Aufträgen für dieJahre 2001 bis 2003 resultieren nicht etwa daraus, dassunsere Modernisierungsanstrengungen nicht erfolgreichgewesen wären, sondern nur daraus, dass die Koreanermit Unter-Kosten-Angeboten, mit Dumping, versuchen,unsere Schiffbauer auf dem Weltmarkt auszubooten.Zwar ist es den deutschen Werften ab Ende 1999 ge-lungen, technisch – das gilt übrigens auch für die Meck-lenburger Werften – enorm aufzuholen und im Markt-segment der Fähr- und Passagierschiffe sowie derSpezialschiffe beachtliche Erfolge zu erzielen, jedoch wardies in erster Linie aufgrund der WährungsrelationDM/Dollar und anderer günstiger Bedingungen, aberauch infolge umfangreicher Rationalisierungsmaßnah-men möglich.Allein mit Nischenprodukten kann man jedoch – nochdazu unter dem Druck der Dumpingsituation – in Zukunftnicht gegen mögliche Wechselkursänderungen ankämp-fen.
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Wolfgang Börnsen
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Meine Damen und Herren, aufgrund dieser schwieri-gen Situation hat die Bundesregierung – auch mit Unter-stützung des Haushaltsausschusses – eine Aufstockungder Bundesmittel der bis zum 31. Dezember 2000 zuläs-sigen Wettbewerbsbeihilfen von 240 auf 320 Millio-nen DM vorgenommen. Das war eine wichtige, wennauch schwierige Entscheidung; Frau Hermenau kann sichnoch daran erinnern.
– Ja, das wollte ich sagen.
Die Bundesregierung hat das initiiert und der Haushalts-ausschuss hat es einstimmig beschlossen.
– Wie, umgekehrt? Die Bundesregierung ist immer ein-stimmig. Vorsicht, bitte!
Zusammen mit der üblichen Kofinanzierung haben dieKüstenländer jetzt Mittel in Höhe von 960 Millionen DMzur Verfügung. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, weil siedamit auf Jahre vorhandene Aufträge abarbeiten und einAuftragsvolumen von 14 bis 15 Milliarden DM akquirie-ren können. Das ist eine ganze Menge.Meine Damen und Herren, ein Ende der von koreani-schen Werften verursachten Wettbewerbsverzerrungenist leider nicht in Sicht. Ich habe auch keine Hoffnung,dass das sehr schnell der Fall sein wird. Wir werden andiesem Thema sehr genau weiter arbeiten müssen. Wirdrängen die Kommission, das genau zu untersuchen undauch Einzelfälle darzulegen. Bei Marktanteilen von bis zu80 Prozent in bestimmten Segmenten wird der Letzte hell-hörig; das ist völlig klar. Das kann man aus eigener Kraftnicht schaffen.Auf der 98. Sitzung der OECD-SchiffsbaugruppeMitte Dezember vorigen Jahres hat die koreanische Dele-gation eingestanden, dass Preisveränderungen nicht beab-sichtigt sind. Auch vereinbarte Einblicke in Verträge willKorea nicht gewähren. Mit dieser Position wird ganz klar,dass man durch eine Hinhaltetaktik versucht, etwas zuverdecken, was man offensichtlich meint verdecken zumüssen, weil man sich im Wettbewerb nicht behauptenkann.Wir als Bundesregierung werden alles tun – in den letz-ten Tagen haben Gespräche zwischen unserem Bundes-wirtschaftsminister und Kommissar Lamy zu diesemThema stattgefunden –, um unsere Position auf diesemSektor klar zu machen und zu verdeutlichen, dass wirdrängen werden, auch Herrn Lamy drängen werden, inSeoul diese Tatbestände aufzugreifen. Auch wir selbstwerden in Korea vorstellig werden. Wir werden sehr ge-nau untersuchen, wie die Kommission den einzelnen Fäl-len nachgeht. Wir jedenfalls glauben, alles tun zu müssen,um auf dem Weltmarkt Wettbewerb herzustellen; dennsonst haben wir Nachteile, die wir auch dann nicht kom-pensieren können, wenn wir die besten und modernstenAnlagen haben.Dabei werden sicherlich bei vielen Fragen Aspekte,wie zum Beispiel die Schiffssicherheit oder die Koopera-tion, eine Rolle spielen. Ich kann hier vorab nur so vielsagen: Wir haben die Absicht, beim Thema Kapazitäts-beschränkungen der ostdeutschen Werften erneut initia-tiv zu werden. Sie wissen, dass die Landesregierung vonMecklenburg-Vorpommern auf diesem Feld engagiertwar. Wir haben dabei klare Bedingungen, wollen eineInitiative starten und haben dabei vor, die Kommissionmit entsprechenden Vorschlägen anzugehen, um zusam-men mit ihr nach Möglichkeit eine Regelung zu finden.Allerdings ist klar: Die Bedingungen sind hart und wirmüssen versuchen, die gegenwärtig guten Auftragspolsterin die Zukunft zu verlängern.Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir sollten alsParlament gemeinsam – auch über Fraktionsgrenzen hin-weg – alles tun, um die Schiffbauer zu unterstützen, undzwar nicht im Sinne eines Subventionswettlaufs. Wirbestehen vielmehr auf fairen Wettbewerbsbedingun-gen, und zwar in jeder Situation. Unter fairen Wettbe-werbsbedingungen stellen wir uns auch den Herausforde-rungen anderer Wettbewerber. Voraussetzung ist aber,dass die Bedingungen fair sind und sich der Markt ent-sprechend fair verhält. Solange das nicht der Fall ist, wer-den wir weiterhin darauf drängen, dass solche Wett-bewerbsbedingungen hergestellt werden.Vielen Dank.
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Michael Goldmann.
Sehr geehrterHerr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrStaatssekretär, es war die maritime Allianz, die parlamen-tarische Gemeinsamkeit, die dafür gesorgt hat, dass Endedes letzten Jahres 98 Millionen DM zusätzlich zur Verfü-gung gestellt wurden, damit deutsche Werften zum Endedieses Jahres nochmals Aufträge akquirieren konnten.Insofern stellen sich deutsche Werften heute als besondersleistungsfähig dar.Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die süd-koreanischen Werften im Welthandelsschiffbau durchäußerst unkorrekte Methoden nach wie vor riesige Markt-anteile erobern, indem sie sie den europäischen und deut-schen Werften, wie man fast sagen kann, stehlen.Vor diesem Hintergrund sind die Leistungen der deut-schen Schiffbauindustrie, die im letzten Jahr Aufträge inHöhe von immerhin 11,8 Milliarden DM einwerben unddamit ihren Auftragsbestand zum Jahresende auf 22 Mil-liarden DM erhöhen konnte, außerordentlich bemerkens-wert. Sie sind ein wirklich großartiger Beitrag zur Siche-
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Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf15250
rung von Arbeitsplätzen in der Hochtechnologie desSchiffbaus.
Es ist erfreulich, dass nicht nur die Jade-Werft in Wil-helmshaven, die Werften des Thyssen-Krupp-Konzernsoder die Meyer-Werft in Papenburg mit vollen Auftrags-büchern in die kommenden Jahre gehen. Es ist aucherfreulich, dass die Küstenländer wenigstens zum Teil ih-rer Verpflichtung nachkommen, die Beihilfeergänzungzu leisten. In diesem Zusammenhang möchte ich das LandSchleswig-Holstein loben. Diese Stärkung der Marktposi-tion ist allerdings dringend nötig, weil die Südkoreaner imSchiffbaumarkt nach wie vor bösartig foulen.Der Dritte Bericht der EU-Kommission an den Rat zurLage des Weltmarkts im Schiffbausektor macht deutlich,dass die Südkoreaner für Preisverfall und Wettbewerbs-verzerrungen zum Nachteil der Arbeitsplätze und zumNachteil des deutschen Schiffbaus verantwortlich sind.Koreanische Werften nehmen Verluste bis zu 40 Prozentder tatsächlichen Baukosten hin, um mit DumpingpreisenMarktanteile zu erobern. Der Bericht der Kommissionzeigt deutlich, dass koreanische Werften weiterhin Auf-träge zu Preisen annehmen, die bei weitem nicht die Kos-ten decken. Das haben neben dem Dritten auch bereits derErste und der Zweite Kommissionsbericht in beein-druckender Weise dargelegt.Leider – das muss man sehr kritisch anmerken – hat dieEU-Kommission bis jetzt nichts erreicht. Während dieSüdkoreaner deutschen Schiffbauern auf der Nase herum-tanzen, beobachtet die EU-Kommission den Markt. DerSchluss, den die EU-Kommission aus ihren Berichten,gerade aus dem dritten, zieht, dass Betriebsbeihilfen daskoreanische Problem nicht gelöst hätten und man deshalbruhig auf diese verzichten könne, ist geradezu abenteuer-lich. Es war ein schwerer Fehler, dass die Wettbewerbs-hilfen gegen Ende 2000 abgeschafft wurden,
ohne vorher mit den Koreanern eine Lösung der anste-henden Probleme zu erreichen.Die Abschiebung der Verantwortung auf den europä-ischen Schiffbauverband CESA war falsch. Wie FrauStaatssekretärin Mertens gestern im Ausschuss ausführte,wird sich das von CESA eingeleitete Untersuchungsver-fahren möglicherweise bis zu zwei Jahre hinziehen, undsomit wird es überhaupt keine Grundlage für schnelleLösungen bieten, die aber angesichts der Situation aufdem internationalen Schiffbaumarkt absolut notwendigwären.Wenn es keine Lösungen gibt, dann sind unsere Werftenin ihrer Existenz massiv bedroht und dann werden wir indiesem Bereich wieder einmal Tausende von Arbeitsplät-zen verlieren. Ich denke, wir alle sind hier aufgefordert, dieBundesregierung mit größtem Nachdruck darauf hinzu-weisen, dass sofort effektive Maßnahmen bei der EU-Kom-mission in Brüssel erreicht werden müssen. In dem im Maianstehenden Beratungsgespräch muss eine Anschlussrege-lung für die Ende 2000 ausgelaufene Verordnung des Rateszur Beihilfegewährung für Neu- und Umbauten von Schif-fen innerhalb der EU bis zur Herstellung fairer Wettbe-werbsbedingungen gefunden werden. Aber die Bundesre-gierung sollte sich auf der EU-Ebene nicht nur durch denMaritimen Koordinator, dessen Arbeit ich grundsätzlichsehr begrüße, vertreten lassen, sondern muss hochkarätigan das Ganze herangehen.Bei meinem Gespräch mit dem koreanischen Bot-schafter in Berlin konnte ich in der Sache überhauptkeine Bewegung erreichen. Als ich auf die Probleme hin-wies, fragte er mich, in welchem Bereich die Meyer-Werftdenn tätig sei, und als ich erklärte, dass sie im Wesentli-chen im Passagierschiffbau tätig sei, meinte er: „Da kon-kurrieren wir doch gar nicht miteinander“, so, als ob eseinen separaten Markt in diesem Bereich geben würde, alsob nicht jeder wüsste, dass das Einkassieren undSchlucken von großen Aufträgen natürlich die deutschenWerften in ihrem Bestand gefährdet. Hier ist dieBundesregierung auch vor dem Hintergrund der Aussa-gen, die auf maritimen Konferenzen gemacht wordensind, aufgefordert, etwas zu tun. Hier ist der Kanzler inder Pflicht. Die Bundesregierung, der Bundeskanzler, wiralle müssen uns geschlossen und schützend vor dieArbeitsplätze in der deutschen Werftindustrie stellen. Vordiesem Hintergrund unterstützen wir die Anträge, dieheute hier zur Erstberatung anstehen.Herzlichen Dank.
Für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht die Kol-
legin Antje Hermenau.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle stim-men darin überein, dass die Dumpingpreise der Koreanerzu Wettbewerbsverzerrungen führen. Aber unabhängigdavon, Herr Börnsen, dass es einen erbost, auf welche Artund Weise diese Dumpingpreise erzielt werden, zum Bei-spiel auch mit IWF-Krediten, muss man ein bisschenAugenmaß behalten. Das ist eigentlich der Sinn und Zweckder heutigen Debatte. Wir werden das in den Ausschüssenvertiefen.Ich bin nicht bereit, zu akzeptieren, dass wir ständigund schicksalsergeben über Plan B diskutieren, indem wirsagen: Wir brauchen eine Anschlussregelung für die Zins-subventionierung. Das ist mir zu schwach. Ich bin derAuffassung, dass wir versuchen sollten, die anderen In-strumente, die uns zur Verfügung stehen – darauf kommeich noch zu sprechen –, stärker zu nutzen und mit ihnenunsere Interessen durchzusetzen. Auf der einen Seite kannman immer die Untätigkeit der Europäischen Kommis-sion anprangern. Auf der anderen Seite muss man sichaber fragen, wie man die Kommission in Bewegung set-zen kann. Wir werden in Deutschland zunehmend davonabhängig sein, dass die EU-Kommission in der Lage ist,Dinge in Angriff zu nehmen. Ich kann nur davor warnen,sich schon jetzt sozusagen apathisch zurückzuziehen undso zu tun, als ob es keine Chance mehr gebe, irgendetwas
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Hans-Michael Goldmann15251
zu bewirken. Ich kann nur sagen: Vorsicht, schauen wirmal!
Es gibt sicherlich den einen oder anderen, der der Mei-nung ist: Die innenpolitische Lage in Korea ist so schwie-rig, dass man Verständnis für das Vorgehen der Koreanerim Bereich des Schiffbaus haben muss. Ich sage ehrlich:Ich habe nicht so viel Verständnis. Ich bin der Auffassung,dass es dann, wenn sich die Koreaner nicht an vernünftigeNormen halten – eigentlich ist die WTO hier der An-sprechpartner; an sie müsste nach unserem Verständnisdie Klage gerichtet werden –, nicht damit getan ist, Ver-ständnis für die schwierige innenpolitische Lage in Koreaaufzubringen. In allen Ländern gibt es manchmal mehroder weniger schwierige innenpolitische Situationen. Wirdürfen also den Koreanern die von ihnen verursachtenWettbewerbsverzerrungen nicht einfach durchgehen las-sen. Aber das hat auch niemand getan. Wir haben dieWettbewerbsverzerrungen nicht einfach hingenommen;vielmehr haben wir – das wissen Sie selber; an dieserStelle war Ihr melodramatischer Unterton, Herr Börnsen,vielleicht nicht ganz gerechtfertigt – im Haushaltsaus-schuss dafür gesorgt, dass die Werften für die nächstendrei Jahre ein ordentliches Polster haben. Sie haben biszum Jahresende 2000 noch einmal Akquise machen kön-nen. Die Auftragsbücher der deutschen Werften sind prop-pevoll.
Vor dem Hintergrund kann man die gesamte Diskus-sion meiner Ansicht nach jetzt in aller Ruhe führen. Wirkönnen uns überlegen, wie wir das legitime Ziel errei-chen, dass die Wettbewerbsbedingungen im Schiffbauweltweit fair sind. Ich bin ganz sicher, die deutschenWerften hätten es eigentlich viel lieber, sie hätten statt derDauersubventionen eine faire Wettbewerbssituation.Dauersubventionen sind, wenn wir einmal ehrlich sind,auch kein fairer Wettbewerb. Ich glaube auch nicht, dasses sinnvoll ist, diesen unfairen Wettbewerb in Form vonDauersubventionierung auf Dauer zu zementieren, indemwir im Prinzip, weil wir bei den Dumpingpreisen nichtmithalten können, unsere Subventionierung fortführen.Für mich ist das ein ewiger Kreislauf, den wir durchbre-chen müssen. Wir haben da keine andere Wahl; denn manmuss sich vor Augen führen, dass die Subventionshöhe imdeutschen Schiffbau pro Arbeitsplatz fast die der deut-schen Steinkohle erreicht hat.
Angesichts dessen weiß ich ganz genau, was auf uns zu-kommt, wenn wir einfach nur apathisch sagen: Wir wer-den die Zinssubventionierung verlängern; wir könnennichts anderes machen.
– Es sind die Zahlen, die da sprechen. Das wissen Sie ge-nau, Herr Goldmann.
Niedersachsen kommt mit der Kofinanzierung geradenoch hin; sie haben es im Haushalt noch geschafft. Schles-wig-Holstein hat haushaltspolitisch Augenmaß bewiesenund die Mittel nicht ganz ausgeschöpft; das hat seineGründe gehabt. Mecklenburg-Vorpommern hingegen ver-schuldet sich schamlos über beide roten Ohren. MeinerMeinung nach besteht für Mecklenburg-Vorpommerneher das Problem, dass es eine Kapazitätsbeschränkunggibt. Jedenfalls können wir nicht weiterhin mit der Dauer-subventionierung im Zinsbereich arbeiten. Aber das sindProbleme, die in den Ländern differenziert zu betrachtensind.Insgesamt stehen den deutschen Werften mit den Kofi-nanzierungen der Länder für die nächsten drei Jahre mehrals 700Millionen DM zur Verfügung. Das ist eine enormeSumme. Damit lässt sich schon so manches zusammen-packen.Ich bin erstaunt darüber, dass Sie von der CDU/CSU esnicht fertig bringen, sich ordnungspolitisch zu sortieren.Ich weiß nicht, was Sie von den Reden des Herrn Merzhalten. Aber Herr Merz hat hier, ohne müde zu werden,ständig davon gesprochen, wie wichtig eine wirklicheHaushaltskonsolidierung und ein wirklicher Subventions-abbau seien. Er hat dazu fast schwadroniert. Offensicht-lich meint er es nicht ernst; denn die Mitnahmeeffekte beider Dauersubventionierung in Form von Zinsverbilligun-gen sind allen bekannt, die sich den deutschen Schiffbauein bisschen näher anschauen. Das wissen Sie auch.Gleichwohl setzen Sie sich für eine Fortsetzung der Dau-ersubventionierung ein.
Da ist es kein Wunder, dass die F.D.P. ihr Heil in derFlucht suchen muss. Wir können die Absetzbewegungenalle beobachten.
Ich bin der Auffassung, wir können den Prozess biszum Mai in Ruhe abwarten. Bis dahin brennt nichts an.
– Nein, da brennt überhaupt nichts an. – Die Auftrags-bücher sind voll. Wir können sehen, wie weit sich das dortentwickelt.
Ich greife noch einen Punkt auf, von dem Sie heutenoch gar nicht gesprochen haben. Sie tun immer so, alshätte der deutsche Schiffbau allein das Problem. Inzwi-schen ist jedoch klar geworden, dass selbst die Japaner
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nicht mehr zurecht kommen, dass auch sie nicht mehr inder Lage sind, mit den Dumpingpreisen der Koreaner zukonkurrieren. Das heißt, meiner Meinung nach wird derDruck auf die WTO schon ein etwas anderer sein, wennsich diese Länder bei ihren Bemühungen zusammentun.Auch der Druck auf den IWF wird ein anderer sein, alswenn Deutschland alleine versucht, sich da durch-zukämpfen. Wenn wir es nicht schaffen, auf diese Instru-mente zurückzugreifen, dann sind diese Instrumente eineFarce. Dann können wir gleich sagen: Wir machen nurnoch Nationalökonomie und versuchen damit unserGlück.
Das halte ich allerdings für einen völlig verkehrten Stand-punkt.Ich danke Ihnen.
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Rolf Kutzmutz für die Fraktion der
PDS.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Natürlich lehnt auch die PDS-Fraktion dieexistenzbedrohenden Beutezüge der südkoreanischenWerften auf dem Weltschiffbaumarkt ab. Auch wir plä-dieren für handelspolitische Sanktionen, wenn sich Süd-koreas Regierung weiterhin weigert, ihrer Unterschrift– diese haben sie ja geleistet – unter vertragliche Abma-chungen tatsächlich Taten folgen zu lassen; denn nur Ver-tragstreue kann das Fundament einer friedlich zusam-menlebenden, demokratisch und sozial organisiertenWeltgemeinschaft sein, die wir als Sozialisten anstreben.Aber wir sollten uns auch nichts vormachen: Wirk-same Handelssanktionen, die Südkorea tatsächlich mehrtreffen als die EU selbst, werden nur schwer umsetzbarsein.
Mit einem Einlenken beim Schiffbaudumping ist dem-nach kaum zu rechnen.Wir sollten auch redlich bleiben in unserer Argumenta-tion. Angesichts der derzeit laufenden Auseinanderset-zungen in den südkoreanischen Autokonzernen ist festzu-stellen, dass es letztlich die 1997 vom IWF festgelegtenBedingungen waren, die Südkorea erst zum Freibeuter aufden Meeren machten; denn dazu gehörten die Absenkungder Löhne und die Entlassung von Arbeitern. Das ist allesgesagt worden.
– Missbraucht? Wenn man solche Beschränkungen aufer-legt bekommt, muss man reagieren. Wer keine andereChance mehr hat, Geld zu verdienen, der greift nach je-dem Mittel. Wir dürfen uns darüber nicht wundern, wirmüssen etwas dagegen tun. Das ist richtig. Aber wir müs-sen auch die Ursache dafür sehen.
Deshalb sollten wir nicht nur auf WTO- oder OECD-Schiffbau-Abkommen schielen, sondern auch im eigenenHaus all das wegräumen, was einen zukunftsfähigenSchiffbau in Europa behindert. Was hindert zum Beispieldie EU daran, nur nach dem jeweiligen Stand der Techniksichere Tanker und Frachter in ihre Gewässer zu lassen?Das führte nicht nur zu einem erstklassigen Arbeits-beschaffungsprogramm für moderne europäische Werf-ten, sondern wäre auch vorteilhaft für die Umwelt.
Unstrittig dürfte deshalb sein, dass die Bundesrepublikim vergangenen Jahrzehnt, gemessen an anderen wich-tigen Schiffbaunationen, vergleichsweise wenig in dieFortentwicklung einer zukunftsfähigen maritimen Indus-trie investiert hat. Das gilt für Forschungs- und Entwick-lungsmittel, für die Entfaltung regionaler Netzwerke undauch für die ingenieurtechnische Aus- und Weiterbildung,auch wenn mit dem Regierungswechsel zweifellos eini-ges in Gang gesetzt worden ist.Wir schätzen das Engagement des Koordinators für diemaritime Wirtschaft, Herrn Dr. Gerlach, und hoffen, dasser den nötigen langen Atem und auch die nötige politischeRückendeckung für seine Arbeit bekommt. Das gilt ins-besondere auch für die Modifizierung der Ende 2005 aus-laufenden Kapazitätsbeschränkungen für die WerftenMecklenburg-Vorpommerns. Fakt ist: Damit wird mittler-weile nicht mehr der westeuropäische Markt, sondern ein-zig und allein die südkoreanische Konkurrenz geschützt.
Es ist Unsinn, so etwas zu machen. Bisher wurde nämlichtraditionell in Wismar und Warnemünde, jetzt zunehmendauch in Stralsund, in Marktsegmenten produziert, die Fern-ost derzeit allein zu bedienen versucht. In Ostdeutschlandstecken wir wegen dieser Beschränkungen in einer Pro-duktivitätsfalle.
Die erreichte Rationalisierung schlägt sich nicht in Dollaroder Euro nieder, weil die Fixkosten nicht auf mehr Auf-träge zu verteilen sind.
Ich möchte noch etwas zu den Hilfen sagen: Wenn esweiterhin staatliche Wettbewerbs- und Werfthilfen gebensoll, müssten sie solidarischer als bisher getragen werden.Es kann nicht länger sein, dass neben dem Bund allein dieNordlichter dafür Landesmittel aufbringen müssen, indiesem Jahr immerhin 478 Millionen DM.
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Damit werden schließlich weniger die Arbeitsplätze aufden Werften als vielmehr vor allem diejenigen bei den Zu-lieferern subventioniert, auf die immerhin zwei Drittel derWertschöpfung beim Schiffbau entfallen.
Ein letzter Satz hierzu: Diese Firmen befinden sich vor al-lem in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-West-falen.
Wem die Aufschlüsselung zu schwierig erscheint, dersollte all dies wenigstens beim Länderfinanzausgleichberücksichtigen.Danke schön.
Nun gebe
ich das Wort der Kollegin Dr. Margrit Wetzel für die Frak-
tion der SPD.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Frau Hermenau hat eben schon zuRecht darauf hingewiesen: Die Auftragsbücher der Werf-ten, zumindest die der großen Werften, sind prall gefüllt.Das ist völlig richtig und das verdanken wir der Tatsache,dass der Bund und die Länder die möglichen Beihilfennoch drastisch aufgestockt haben. Nichtsdestotrotz darfuns das aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir jetztschon seit Jahren Probleme mit Korea haben. Mir machtes ganz große Sorge – ich will jetzt nichts wiederholen,was schon über Marktanteile von Korea usw. gesagtwurde –, dass Korea inzwischen über 80 Prozent beimGroßcontainerschiffbau akquiriert. Diese Schiffe werdenzukünftig den weltweiten Liniendienst bestimmen. Hierliegt der Schiffbaumarkt der Zukunft.
Vor diesem Problem stehen wir.Bedenken wir, dass die Schleusen des Panamakanalsauf 12 000 TEU-Schiffe erweitert werden sollen, dann se-hen wir, wohin die zukünftige Entwicklung geht. Ich habeeinfach ganz große Sorge, ob unsere Werften hierbei nochmithalten können, wenn wir nicht dafür sorgen, dass siealle die entsprechende Auslastung behalten. Deshalb kannman sich nicht darauf ausruhen, dass hier in den nächstendrei Jahren Sicherheit besteht. Insbesondere die kleinenund mittleren Werften haben ganz große Probleme, weilüberhaupt keine Aufträge für Standardtanker und Mas-sengutfrachter mehr nach Deutschland gehen. SolcheAufträge sichern aber die Auslastung bei den kleinenWerften. Nur so kann verhindert werden, dass das Know-how der Mitarbeiter, das sie in langjähriger Qualifizierunggewonnen haben, verloren geht. Nur bei entsprechenderAuslastung können diese gehalten werden. Diesem Pro-blem muss unsere Sorge gelten.Bei den durchaus versöhnlichen Ausführungen zurSchiffbaupolitik der Regierung vonseiten der CDU/CSUund F.D.P. wurde, wie ich glaube, ein Punkt übersehen:Die Maritime Konferenz in Emden ist von der gesamtenmaritimen Verbundwirtschaft mit ganz großer Freude auf-genommen worden. Gerhard Schröder war nämlich dererste Bundeskanzler, der das Thema maritime Industriezur Chefsache gemacht hat.
Das ist in der Öffentlichkeit gebührend gewürdigt worden.
– Bei den Taten sind wir. Nur können wir die Erfolge nichterzwingen; denn wir sind ein Rädchen im Getriebe, so-wohl im Bereich der EU wie auch des IWF.
– Auch national. Sie haben doch gerade von HerrnMosdorf gehört: Der Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie hat vor kurzem mit EU-Kommissar Lamyverhandelt. Lamy war unmittelbar zuvor in Korea, wo erzum Beispiel einen durchschnittlichen Preisanstieg von20 Prozent angemahnt hat. Das waren völlig richtige Si-gnale.
– Dort hatten wir mehr Themen als nur den Schiffbau.
Aber auch der Schiffbau ist in Emden thematisiert worden.Wichtig ist doch, dass Sie selber in Ihrem Antrag for-dern, dass die Verhandlungen mit Korea sowohl auf EU-Ebene als auch bilateral weitergeführt werden. Das isteine völlig korrekte Forderung. Man muss aber einfachanerkennen – Herr Mosdorf hat das deutlich gemacht –,dass die Regierung damit nahezu wöchentlich beschäftigtist.Das ist überhaupt keine Kritik an Ihrem Antrag. Ichfinde es absolut anerkennenswert, dass Sie mit Ihrem An-trag diese Debatte im Parlament herbeiführen; denn es istunser aller Aufgabe, durch Debatten und durch unserdeutliches Bemühen, die Regierung zu unterstützen, klar-zumachen: Das gesamte deutsche Parlament und die Re-gierung stehen hinter dem Bemühen, die Wettbewerbs-fähigkeit unserer Werften zu sichern.
– Ich denke, darin sind wir völlig einig.Das heißt, wir müssen durchsetzen, dass Korea inter-nationale Bilanzierungsregeln und Rechnungsstellungenakzeptiert. Wir müssen durchsetzen, dass Länder, dieIWF-Kredite in Anspruch nehmen, auch Kapazitäts-beschränkungen akzeptieren; sonst dürfen wir ihnenkeine Kredite geben. Der IWF-Fonds hat auf diesem Ge-biet Fehler gemacht. Das nächste Problem besteht darin,
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Rolf Kutzmutz15254
dass der IWF nicht einmal ein Mandat hat, die Einhaltungder Kriterien durch sektorale Untersuchungen zu über-prüfen. Das ist im Grunde genommen ein Skandal. Daswird uns überhaupt erst jetzt deutlich. Nun erkennen wirunseren Handlungsbedarf auf allen Ebenen.Auch die Klage vor der WTO, die durchaus immer alsetwas sehr Fragwürdiges angesehen wird, ist im Momenteines unserer Mittel, um politischen Druck auf Korea aus-zuüben. Deshalb muss diese Klage durchgezogen werdenund deshalb muss die EU diese Klage zügig bearbeiten.Vor allen Dingen muss die EU handelspolitische Sanktio-nen vorschlagen. Es führt überhaupt kein Weg daran vor-bei, dass wir Sanktionen brauchen.
– Aber die EU muss die Klagevoraussetzungen prüfenund die Klage an die WTO weitergeben.Unabhängig von Formalien sind wir uns in der Sachevöllig einig: Der politische Druck ist nötig und die EU-Kommission muss sich anstrengen, etwas zu tun, damitKorea begreift, dass es uns ernst ist.Sie haben auch mit der Forderung völlig Recht, dasswir bei der nächsten Sitzung des EU-Industrieministerra-tes dazu kommen müssen, neue wirksame Regelungen zurSicherung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Werften zuvereinbaren. Diese Regelungen müssen, unabhängig vondem, was im Mai geschieht, beschlossen werden; das istvöllig klar. Ich selber setze ganz große Hoffnungen da-rauf, dass über das neue Weltschiffbauabkommen wirk-lich zügig verhandelt wird. Mein Appell an die Regierunggeht dahin, diese Angelegenheit möglichst aktiv voranzu-treiben.Dass Japan und Korea im Moment erklären, sie akzep-tierten das alte OECD-Abkommen, ist der reine Hohn.Wir haben gerade durch die Koreakrise erkannt, dass dasalte OECD-Abkommen überhaupt nicht wirksam ist.
Dass die USA nicht zustimmen, ist etwas anderes. Aberdass Korea diesem Abkommen zustimmen will, ist derreine Hohn; denn es enthält bei Verstößen gegen das Ver-bot von Dumpingpreisen genau diese Sanktionen nichtund es enthält keine Vorschriften für Bilanzierungen undRechnungsstellungen. Wir haben erkannt, wie notwendigsolche Vorschriften sind. Das heißt, wir brauchen ein ab-solut neues Weltschiffbauabkommen, das von den ent-scheidenden Nationen akzeptiert wird. Dass dies zustandekommt, ist die Hoffnung, auf die sowohl wir Parlamenta-rier wie auch die Werften setzen.Mit einem haben sie unisono Recht gehabt: Die Werf-ten wollen keine Dauersubventionen, sondern faire Wett-bewerbsbedingungen. Unsere politische Aufgabe ist es,ihnen dazu zu verhelfen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksache 14/5137 und 14/5457 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 14/5137 soll zusätzlich an den
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder über-
wiesen werden. – Das Haus ist damit einverstanden. Die
Überweisungen sind somit beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard
Jüttemann, Rolf Kutzmutz, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Arbeitsplatzabbau bei Förderung von Produk-
tionsverlagerungen ausschließen
– Drucksache 14/5248 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Vereinbart ist eine Aussprache von einer halben Stunde.
– Ich höre keinen Widerspruch. Das Haus ist also damit
einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kol-
legen Gerhard Jüttemann für die antragstellende Fraktion
der PDS.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Eine Geschichte zum Thema Wirtschafts-förderung: Im niedersächsischen Bad Lauterberg gibt es seitlangem eine Blechwarenfabrik namens Hemeyer-Verpa-ckungen GmbH. Der Chef, Herr Hemeyer, ist ein kühlerRechner. Er hat deshalb schon vor Jahren im Raum Bitter-feld in Sachsen-Anhalt sehr billig ein großes Gelände er-worben und 1998 dort einen Teilbetrieb angesiedelt.Die Einzelheiten sahen so aus: Herr Hemeyer entließ inBad Lauterberg 54 Beschäftigte, die bis dahin tariflich ent-lohnt worden waren. In Bitterfeld wurden überwiegendLangzeitarbeitslose eingestellt, deren Löhne in Höhe zwi-schen 9 und 15 DM bis zu 70 Prozent vom Arbeitsamtübernommen worden sind.
– Ja, den kenne ich. – Nur 20 Tage Urlaub sind die Regel;einen Betriebsrat gibt es nicht. Aus all diesen Gründen hatHerr Hemeyer einmal gesagt, er fühle sich im Osten wieauf Rosen gebettet.
Deshalb will er nun im kommenden Jahr auch den Rest sei-nes Betriebes nach Bitterfeld bringen. Das wird in BadLauterberg erneut knapp 50 tarifliche Arbeitsplätze kosten.Der Fall Hemeyer ist kein Einzelfall. Wenn zum Bei-spiel die Zwiebackfirma Brandt ihren Standort im westfä-lischen Hagen verlässt, um im thüringischen Ohrdrufwie Phönix aus der Asche neu zu entstehen, dann mag daszunächst für den Aufbau Ost gut klingen.
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Dr. Margrit Wetzel15255
Wenn dabei aber 330 Arbeitsplätze auf Nimmerwie-dersehen verschwinden, weil 430 Kündigungen nur100 Neueinstellungen gegenüberstehen, und wenn dieseEntwicklung vom Staat mit Millionensummen gefördertwird, dann nenne ich das einen Skandal. Diese Art derWirtschaftsförderung bezahlen die Menschen im Westen,die ihren Arbeitsplatz verlieren, und die Menschen imOsten, die schlecht bezahlt werden.Die Regierung Schröder will nach eigenen Aussagenan nichts anderem gemessen werden als am Abbau derArbeitslosigkeit. In Wirklichkeit fördert sie aber, wiediese Beispiele zeigen, nicht den Abbau der Arbeitslosig-keit, sondern deren Ausweitung. Wo ist da die Logik? Siekönnen es doch nicht als Aufbau Ost und als gewünschteRichtung der Entwicklung bezeichnen, wenn Firmen inden alten Bundesländern schließen und ihre Beschäftigtenentlassen – Beschäftigte mit existenzsichernden Arbeits-plätzen, tarifvertraglich abgesichert und gewerkschaftlichorganisiert mit funktionierenden Betriebsräten –, dannaber auf Staatskosten in den Osten ziehen, um dort aufDauer sehr viel weniger Arbeitsplätze zweiter und dritterKlasse zu schaffen.Merken Sie denn nicht, dass hier gesellschaftlicheStandards, die ja nicht vom Himmel gefallen sind, in Ostund West mit dauerhafter Wirkung abgebaut werden?
Diesen Abbau fördern wir mit Steuergeldern in Millio-nenhöhe. Das ist kein Aufbau Ost; das ist die schamloseAusnutzung des Ostens für den sozialen Kahlschlag inganz Deutschland.Gelegentlich hört man als Gegenargument: Es ist jaklar, dass ein Betrieb, der im Westen schließt und imOsten neu aufmacht, nicht mehr so viel Arbeitsplätzebenötigt wie vordem; denn die neuen Anlagen sind ja inder Regel viel produktiver. Natürlich hat diese Argumen-tation ihren Reiz. Dazu passt nur nicht, dass die Beschäf-tigten im Osten dann nur 70 Prozent oder noch wenigerdes Lohnes ihrer Westkollegen bekommen, obwohl siedoch so viel effektiver produzieren.
Die Zeitungen sind ja voll davon, dass im Osten end-lich die Lohnerhöhungen gestoppt werden müssen, wennder wirtschaftliche Aufschwung nicht gefährdet werdensoll. Ich sage Ihnen: Ohne schnellstmögliche Anglei-chung vor allem der Löhne – das heißt auch: unverzügli-che Angleichung der sozialen Standards der Beschäftigtenin Ost und West – wird es keinen wirtschaftlichen Auf-schwung geben. Ohne diese Angleichung wird der Ostenweiter ausbluten, sodass er dann in nicht allzu ferner Zu-kunft endgültig von Thierses Kippe fällt, mit den entspre-chenden negativen sozialen Folgen auch im Westen.Es kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen,dass dieser Prozess den gesamtgesellschaftlichen Interes-sen zuwiderläuft. Die PDS fordert die Regierung deshalbauf, die finanzielle Förderung des Abbaus von Beschäfti-gung und von sozialen Standards in Deutschland soforteinzustellen.
Im Osten ist schon heute nur noch jeder zweite Arbeit-nehmer in einem Unternehmen beschäftigt, das an Tarif-löhne gebunden ist, was noch lange nicht heißt, dass auchjeder zweite diesen Tariflohn tatsächlich erhält. Wir müs-sen diese Entwicklung nicht noch mit Millionensummenfördern.Im Osten fehlen 1,5 Millionen Arbeitsplätze. AberTurnschuhjobs haben wir schon zu viele. Was wirklichfehlt, sind solide, zukunftsfähige, existenzsichernde undan Tarifverträgen orientiere Arbeitsplätze in Unterneh-men, in denen Mitbestimmung, Gewerkschaftsleben undBetriebsräte keine Fremdworte sind. Geben Sie dafür dasGeld aus! Im anderen Fall werden Sie den Menschen inden alten Bundesländern niemals erklären können, dasssie für weitere Hilfen für den Aufbau Ost, die noch langenötig sein werden, ihre Zustimmung geben sollen. Damüssen wir anfangen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die
Fraktion der SPD spricht die Kollegin Jelena Hoffmann.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS ist die stärks-te Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen. – Das istkein Versprechen, sondern das sind offensichtlich Ihrekühnsten Träume, liebe Kollegen von der PDS, lieberHerr Jüttemann. Auf jeden Fall spricht Ihr Antrag deutlichdiese Sprache. Ich möchte mich ja nicht in Ihre stra-tegischen Überlegungen einmischen. Aber es muss docherlaubt sein, Zweifel anzumelden, ob Ihre Strategie auf-gehen wird und ob Ihnen die Westwähler scharenweise indie Arme laufen werden, wenn Sie solche populistischenAnträge schreiben.Worum geht es hier? Es kann passieren, dass ein Un-ternehmen feststellt, dass sich seine Produktion mit sei-nen Maschinen nicht mehr lohnt. Aus betriebswirtschaft-lichen Gründen kann sich der Unternehmer entscheiden,seinen Betrieb zu schließen. Wenn die Produkte gefragtsind und der Markt da ist, kann er seinen Betrieb auchverlagern,
vielleicht an einen neuen Standort im Ausland oder dochirgendwo in Deutschland.
Die Entscheidung kann dabei auch für Thüringen oder fürSachsen fallen.
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Gerhard Jüttemann15256
Wirtschaftlich gesehen ist dieser Vorgang eine ganznormale Sache. Entscheidungshilfen für die Standortwahlfüllen die Bibliotheken von Wissenschaft und Managern,von Theoretikern und Praktikern. Es ist meine feste Über-zeugung, dass es die Aufgabe und sogar die Pflicht jedesUnternehmens ist, seine Produktionsbedingungen so gutwie möglich zu gestalten. Das ist die eine Seite.Die andere Seite ist selbstverständlich die persönlicheKatastrophe, die so ein Umzug für jeden einzelnen Ar-beitnehmer mit sich bringen kann. „Kann“ sage ich ganzausdrücklich, denn es gibt umfangreiche Rechte des Be-triebsrates, bei eventuellen Standortverlagerungen tätigzu werden. Mancher ist sehr mobil und packt gerne seineKoffer und zieht mit der ganzen Familie um. Andere hän-gen an ihrer Heimat und nehmen die Arbeitslosigkeit inKauf. Oder es sind rein wirtschaftliche Überlegungen ei-ner Familie. Meistens sind es leider immer noch dieFrauen, die den Kürzeren ziehen, weil sie noch immer we-niger verdienen.Um jedes Missverständnis von Anfang an zu vermei-den, möchte ich ganz ausdrücklich sagen: Es tut mir in derSeele weh und Leid um jeden einzelnen Arbeitsplatz inDeutschland, der verloren geht. Dabei ist es völlig egal,ob diese Stelle in Hagen, in Chemnitz, in Bremen oder inRegensburg verloren geht, mit anderen Worten: ob das imWesten oder im Osten passiert.Aber warum reden wir nun im Bundestag darüber, wasdie Verlagerung einer Produktion bedeutet? Die Firmen,die im Antrag der PDS aufgezählt sind, ziehen in dieneuen Bundesländer um. Weil viele Regionen im Ostenleider noch immer eine Förderung durch die Gemein-schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt-schaftsstruktur“ brauchen, können auch besagte Firmenvon der Förderung profitieren. Das war politisch so ge-wollt und das brauchen wir im Osten noch immer.
Aber dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von derPDS, nur einige Einzelfälle aufgreifen und das bewährteFörderinstrumentarium der GA infrage stellen, kann ichnun wirklich nicht verstehen. Sie benutzen die von der Ar-beitslosigkeit Betroffenen für Ihre eigenen politischenZwecke und rühren im Westen mit populistischen Mittelndie Werbetrommel.
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jüttemann?
Ja.
Frau Hoffmann, haben
Sie mich vielleicht falsch verstanden?
Ich will nicht verhindern, dass sich Unternehmen im
Osten ansiedeln. Ich bin für jeden Arbeitsplatz dankbar.
Aber wir können doch nicht zusehen, wenn Unternehmen
mehr Arbeitsplätze abbauen – egal ob in Ost oder West;
in unseren Referenzbeispielen ging es von West nach
Ost –,
als sie an neuen schaffen, und sich das noch mit Millionen
honorieren lassen. Das kann doch wohl keine Wirt-
schaftsförderung sein. Oder haben Sie das missverstan-
den? Es geht nur um solche Beispiele, nicht um die gene-
relle Verlagerung.
HerrJüttemann, ich habe Sie eindeutig verstanden und auchganz genau Ihren Antrag gelesen. Ich kann Ihnen nur ei-nes sagen: Sie vertiefen die Gräben zwischen Ost undWest weiter. Das geht so nicht.
Das ist, wie Frau Hermenau eben völlig zu Recht zugeru-fen hat, eine wirtschaftliche Entscheidung. Wir alle müs-sen dafür sorgen, dass die Arbeitsplätze in Deutschlandbleiben. Zum Teil werden sie auch nach Ostdeutschlandverlagert.
Tatsache ist doch Folgendes – das gehört auch noch zurAntwort auf Ihre Frage, Herr Jüttemann –: Ein Betriebdenkt in der Regel dann über eine Standortverlagerungnach, wenn die Produktion am alten Standort nicht mehrrentabel ist oder aus anderen Gründen nicht mehr fortge-setzt werden kann. Das ist also eine unternehmerischeEntscheidung. Man kann die neuen Kapazitäten im Aus-land aufbauen. Dann gehen die Arbeitsplätze für Deutsch-land ganz verloren. Im Interesse von uns allen ist es aberdoch, Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten,
und zwar auch dann, wenn sie in eine strukturschwacheRegion in einem anderen Bundesland gehen. Selbst dann,wenn wie im Falle der Firma Brandt am Ende wenigerArbeitsplätze als vorher erhalten bzw. geschaffen werden,ist eine Förderung nach Ansicht von Bund und Länderngerechtfertigt und notwendig. Die Erfahrungen zeigen,dass die Entscheidung des Unternehmers, den Standort zuschließen oder zu verlagern, in der Regel nicht aufgrundder Fördergelder getroffen wird.Was Sie, sehr geehrte Damen und Herren von der PDS,ebenfalls nicht berücksichtigt haben, ist die Tatsache, dassnicht der Bund die letzte Entscheidung bei der GA-För-derung trifft. Die Bundesländer sind für die Durch-führung, das heißt für die Prüfung der Förderanträge, fürdie Entscheidung über die Höhe der gewährten Zuschüsseund für die Kontrolle, allein zuständig und verantwort-lich.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Jelena Hoffmann
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Leider gibt es bei dieser Förderung der strukturschwa-chen Regionen auch Mitnahmeeffekte und Fälle vonMissbrauch. Die Länder sind dazu verpflichtet, die Inves-titionen zu prüfen. Sollte tatsächlich etwas nicht recht-mäßig sein, dann müssen die Fördergelder zurückgezahltwerden. Aber auch mithilfe intensiver Kontrollen kannman solche Fälle von Missbrauch nicht völlig aus-schließen. Schwarze Schafe gibt es überall. Man darf abernicht nur von solchen Fällen reden. Das ist also nochlange kein Grund dafür, das Instrument der Gemein-schaftsaufgabe infrage zu stellen Es ist einfach nicht kor-rekt, sehr geehrte Kollegen von der PDS, den Aufbau Ostgegen einzelne Fälle in Westdeutschland auszuspielen.Sie aber machen das mit Ihrem Antrag.
Wie ich bereits sagte, tut es mir um jeden einzelnen Ar-beitsplatz in Ost- und Westdeutschland Leid. Aber wennSie jetzt hergehen und den Betroffenen einreden, der Auf-bau Ost sei an ihrer Situation schuld, dann argumentierenSie demagogisch und reißen sinnlos neue Gräben auf. Da-bei sind wir ein Land, das mit voller Kraft darangehenmuss, Arbeitsplätze im Land zu halten und neue zu schaf-fen. Das ist die politische Zielgerade, die wir erreichenmüssen. Ihr Flickwerk führt dagegen, wenn es überhauptirgendwohin führt, in die Irre.Vielen Dank.
Ich gebe dem
Kollegen Jochen-Konrad Fromme für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der An-trag der PDS beinhaltet in klassenkämpferischer Art undWeise Unterstellungen. Er reißt wieder Gräben auf, des-halb kann man ihm nicht zustimmen.Herr Kollege Jüttemann, Sie verkennen einfach be-triebswirtschaftliche Notwendigkeiten. Häufig ist es dochso, dass man vor der Frage „Weniger oder nichts?“ steht.Dann ist doch das Weniger immer noch besser als garnichts.
Meine Damen und Herren, wir wollen keine neuen Grä-ben, wir wollen nicht Ost gegen West ausspielen. Wirmüssen die Probleme gemeinsam lösen, und zwar emoti-onsfrei und ohne Klassenkampf.
Dieser Antrag gibt mir aber Gelegenheit, ein Problemaufzuzeigen, das wir auch in umgekehrter Richtung ha-ben. Ich vertrete hier einen Wahlkreis, der im ehemaligenZonenrandgebiet liegt. Da sagen mir die Handwerker: Wirbekommen keinen einzigen öffentlichen Auftrag mehr,weil alle diese Aufträge an die Firmen gehen, die ihrenSitz wenige Kilometer weiter in den neuen Bun-desländern haben.
– Es ist nicht die Frage, wer da rübergegangen ist.Wir haben in zweifacher Hinsicht Probleme an denSchnittstellen. Ich spreche das auch deshalb so ausführ-lich an, weil wir darauf achten müssen, dass wir nicht ander nächsten Schnittstelle, wenn es um die Osterweite-rung der EU geht, diese Probleme erneut bekommen. Des-wegen müssen wir darüber nachdenken.
Beipiele Löhne: Wir haben im Westen ein durch-schnittliches Lohnniveau von 24 DM, im Osten eindurchschnittliches Lohnniveau von 17 DM.
Ich habe das einmal durchgerechnet: Für einen Installati-onsbetrieb mit 15 Mitarbeitern bedeutet das einen Kos-tenunterschied von fast 250 000 DM. Wenn dieser Betriebmit diesen Mehrkosten anbieten muss, dann hat er natür-lich keine Chance im Wettbewerb. Da nützen auch die Ta-riftreueerklärung und das Entsendegesetz nichts, wenndas nicht scharf kontrolliert wird. Bundesanstalt für Ar-beit und Zollämter, die dafür zuständig sind, dürfen dieErklärung nicht nur entgegennehmen und abheften, son-dern müssen in die Betriebsunterlagen gucken und auchnachprüfen, was denn wirklich gezahlt wird. Die Tarif-verträge gibt es nämlich aus guten Gründen. Dass wir dasnicht allein so sehen, zeigt auch die Tatsache, dass dieSPD-Landtagsfraktion in Hannover darüber nachdenkt,ein entsprechendes Gesetz einzubringen.Es geht aber noch um einen weiteren Punkt, nämlichum die Frage, wie sich Investitionsförderung eigentlichauswirkt. Natürlich wollen wir, dass die entsprechendenBetriebe auf die Beine kommen. Deswegen brauchen sieInvestitionsförderung. Ich habe da ganz konkret einen Be-trieb vor Augen – 200Millionen DM Umsatz –, der bei ei-ner Investitionssumme von 200 Millionen DM in Magde-burg 43 Prozent und im ehemaligen Zonenrandgebiet8 Prozent Förderung bekommt. Das macht, herunterge-rechnet auf den Endpreis, 2 Prozent des Angebotspreisesaus, die er nicht abschreiben und verzinsen muss. EineDifferenz von 2 Prozent führt in einem scharf umkämpf-ten Markt schlicht und einfach dazu, dass man keine Auf-träge mehr bekommt. Das ist das Problem.
Wir müssen auf der einen Seite dafür sorgen, dass dieFörderung gezielt dort eingesetzt wird, wo sie notwendig ist.Wir müssen aber auf der anderen Seite versuchen,Verwerfungen, die dadurch im Wettbewerb entstehen, inden Griff zu bekommen. Es geht nicht darum, ob das jemandzum Beispiel dazu missbraucht, den Lohn zu drücken. Dasist eine Frage, mit der sich die Tarifparteien, mit der sich dieGewerkschaften auseinander setzen müssen.Es geht darum, dass wir Wettbewerbsverzerrungen anden Schnittstellen verhindern müssen, um so zu verhin-
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Jelena Hoffmann
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dern, dass Betriebe, die eigentlich eine gute Existenz hät-ten, zerstört werden oder gezwungen werden, mit zusätz-lichen Kosten ihren Standort zu verlagern, um dann wie-der wettbewerbsfähig zu werden. Das, meine Damen undHerren, ist die Aufgabe. Darum sollten wir uns kümmern.Schönen Dank.
Ich will
doch bekannt machen, dass der Redner auf sieben Minu-
ten seiner Redezeit verzichtet hat.
Kollege Werner Schulz vom Bündnis 90/Die Grünen
hat erklärt, – ich gehe davon aus, dass auch dies die volle
Zustimmung des Hauses findet –, dass er seine Rede zu
Protokoll gibt.1)
Für die F.D.P. gebe ich dem Kollegen Hans-Michael
Goldmann das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe soeben im
Kürschner nachgeschaut, welchen Beruf Sie, Herr
Jüttemann, haben. Denn ich konnte gar nicht glauben,
dass das, was Sie von sich gegeben haben, ernst gemeint
sein kann. Ich habe gelesen, dass Sie Zerspanungsfachar-
beiter sind. Auf jeden Fall wissen Sie, wie ich annehme,
wie richtig gearbeitet wird. Ich muss Ihnen ganz ehrlich
sagen: Eigentlich müsste doch einem wie Ihnen der Wert
eines Arbeitsplatzes ganz besonders klar sein.
Vor diesem Hintergrund bin ich sehr über das über-
rascht, was Sie gesagt haben. Nebenbei gesagt, ich werde
Ihre Anregungen in all den Gesprächen, die ich bei mir
vor Ort führe, nicht aufgreifen. Denn es gibt in meiner Re-
gion, in der die Arbeitslosigkeit in manchen Bereichen
immerhin 15 Prozent beträgt, eine Menge Leute, die nicht
nur jubeln, wenn es darum geht, neue bzw. zusätzliche
Programme dafür aufzulegen, dass es den Menschen in
den neuen Ländern ein Stück besser geht; was ich per-
sönlich für absolut notwendig halte.
Zu Herrn Kollegen Kutzmutz, der soeben anmerkte:
„Aber nicht mit staatlichen Mitteln!“, kann ich nur sagen:
Eine Entwicklung der Innenstädte, die Beseitigung des
Wohnungsleerstandes und Schaffung von Arbeitsplätzen,
ohne staatliche Mittel? Na, dann Prost! Das sollten Sie
einmal Ihrer Kollegin Ostrowski sagen
– jetzt hören Sie einmal zu! –,
die in jeder Ausschusssitzung Anträge in Milliardenhöhe
zur Bereitstellung öffentlicher Mittel für Ostdeutschland
stellt. Wenn Sie Ihren Antrag auch nur andeutungsweise
ernst gemeint haben, dann haben Sie ihm durch Ihre
Ausführungen, die Sie hier vorhin gemacht haben, einen
Bärendienst erwiesen.
Nun möchte ich etwas zu dem ganz konkreten Fall sa-
gen, der Sie ja gar nicht interessiert. Ich habe dem Kolle-
gen aus Hagen gerade gesagt, dass ich hier sagen werde:
Ich finde es richtig, dass die Firma Brandt Zwieback
GmbH nach Thüringen wechselt. Ich will Ihnen auch sa-
gen, warum.
– Das stimmt überhaupt nicht. Die Firma hatte am Stand-
ort Hagen keine Entwicklungsmöglichkeiten. Das wis-
sen Sie genauso gut wie ich.
Ebenso wissen Sie genauso gut wie ich, dass das Land
Nordrhein-Westfalen einen Arbeitgeber, der Arbeitsplätze
vorhält, nicht ohne Weiteres gehen lässt.
Nein, die Rahmenbedingungen in Hagen waren für ei-
nen zukunftsfähigen Betrieb nicht geeignet.
– Ich war schon einmal da. Ich kenne Hagen ziemlich gut,
vielleicht besser als Sie.
– Geschätzter Kollege, hören Sie wenigstens zu, wenn Sie
schon einen Zuruf machen! Wollen Sie etwa behaupten,
dass die Kollegen von der PDS soeben richtige Aus-
führungen gemacht haben, oder wollen Sie vielleicht
nicht doch zur Kenntnis nehmen, dass nach Auffassung
der Firma Brandt der Standort, den sie jetzt im Thüringi-
schen findet, der einzig mögliche zukunftsfähige Standort
in der Bundesrepublik Deutschland ist? Wissen Sie denn
nicht, dass die Firma Brandt weitreichende Angebote aus
Polen und Tschechien bekommen hat?
Seien Sie von der PDS doch froh darüber, dass in dem
Gewerbegebiet mit seiner Infrastruktur, das mit umfang-
reichen öffentlichen Mitteln entstanden ist und in das die
Firma Brandt ihre Produktion verlagert, und für die Men-
schen, die an mit öffentlichen Mitteln geförderten Pro-
grammen teilnehmen, Arbeitsplätze geschaffen und gesi-
chert werden.
Das, was Sie hier gesagt haben, finde ich skandalös im
Vergleich zu dem Anspruch, den Sie als sozialistische Par-
tei ansonsten erheben, indem Sie sich für die Menschen
bzw. für die Schaffung von Arbeitsplätzen einsetzen. Was
Sie hier getan haben, ist eine echte Beleidigung der Men-
schen in Ihrer Region. Das können wir absolut nicht hin-
nehmen.
Das Worthat nun der Kollege René Röspel für die SPD-Fraktion.
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1) Anlage 3René Röspel (von der SPD mit Beifall be-grüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! 1912 gründet Carl Brandt die Märkische Zwie-backfabrik in Hagen-Haspe. Der Betrieb wächst rasch, dieZwiebacktüte mit dem Kindergesicht – Sie kennen siewahrscheinlich; ich habe Ihnen ein Exemplar mitge-bracht – wird schnell zu einem Markenzeichen auch fürdie Stadt Hagen. 1984 übernimmt der Sohn des Gründers,Carl-Jürgen Brandt, das traditionsreiche Unternehmen, indem zu diesem Zeitpunkt 2 500 Menschen arbeiten. ZehnJahre später arbeiten nur noch 1 300 Menschen in Haspe,1999 schließlich nur noch 632.Herr Goldmann, als jemand, der mit dem Zwiebackge-ruch groß geworden ist, kann ich Ihnen nur sagen, dass dieRahmenbedingungen nicht so schlecht waren, wie Sie dasdargestellt haben, und dass die Stadt Hagen viel dafür ge-tan hat, dieses Unternehmen zu halten. Aber dies hat an-dere Gründe.
– Weil die Subventionen lockten; aber darauf gehe ichgleich ein.Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte im Deut-schen Bundestag? – Weil ich deutlich machen will, dassHagen mit Brandt Zwieback mehr als Arbeitsplätze ver-liert. Ein Stück Identität und Geschichte geht in einer Stadtverloren, die in den letzten dreißig Jahren über 12 000Stahlarbeitsplätze hat verlieren müssen. Als vor einemJahr die Hagener Zeitungen erstmals meldeten, dass Carl-Jürgen Brandt das Unternehmen nach Ohrdruf in Thürin-gen verlagern will, ging ein Aufschrei der Empörung, aberauch der Solidarität, durch die Bevölkerung.Bei einer Investition von insgesamt etwa 80 Milli-onen DM zahlen Bund und Land 30 Millionen DM anSubventionen in Thüringen. 430 Arbeitsplätze in Hagengehen verloren; etwas über 100 werden in Ohrdruf ge-schaffen. Statt kreditfinanziert endlich sein Unternehmenin Hagen zu modernisieren und seine Pflicht zu tun, kas-siert ein Unternehmer Steuersubventionen und baut inThüringen neu. „Wir finanzieren mit unserem Solida-ritätsbeitrag den Abbau unseres eigenen Arbeitsplatzes“,sagen die Beschäftigten. Ich kann diese Reaktion verste-hen, denn als Hagener kann man den Sinn diesesSubventionssystems kaum begreifen. „Aber Nordrhein-Westfalen hätte es umgekehrt genauso gemacht“, sagteeine Vertreterin des Wirtschaftsministeriums NRWehrlicherweise. Das ist in der Tat das Problem.Umso mehr ärgert mich wieder einmal das Vorgehender PDS. Durch Ihre Äußerungen haben Sie der Beleg-schaft im letzten Jahr Hoffnungen gemacht, die einfachnicht realistisch sind. Wir dürfen nicht mit den Nöten undÄngsten der betroffenen Arbeitnehmer und ihrer Familienspielen. Es ist unverantwortlich, auf dem Rücken der Be-troffenen ein politisches Süppchen zu kochen. Damit ver-brennen Sie sich auf Dauer die Finger.
Als Hagener Abgeordneter ist es meine Aufgabe, mitden Sorgen der Menschen verantwortungsvoll umzuge-hen und keine Versprechungen zu machen, die ich nichthalten kann. Die Forderungen in Ihrem Antrag sind ansich sympathisch, aber sie wecken falsche Hoffnungen.Das System ist nämlich komplizierter, als Sie es wahrha-ben wollen. Die Kriterien in Ihrem Antrag sind kaum zuverwenden, denn das Lohnniveau in Ostdeutschland istnun einmal niedriger als im Westen. Das bedauern wirebenfalls; aber das Betriebsverfassungsgesetz – und daswird demnächst sogar noch besser werden – gibt es auchim Osten.
Sie fordern, der Bund möge im Einvernehmen mit denBundesländern Kriterien festlegen. Das wollen wir versu-chen. Bund und Länder diskutieren nämlich bereits, wiedas Fördersystem nach 2004 aussehen kann. Aber mandarf sich nicht täuschen, wie schwierig solche Verhand-lungen sind. Eine Einvernehmensregelung gibt es – derKollege von der CDU hat das bereits gesagt – bereits invergleichbaren Verlagerungsfällen in den Gebieten derehemaligen Zonenrandförderung, zum Beispiel, wenn einUnternehmen von Helmstedt zwanzig Kilometer nachOsten zieht oder – oft genug der Fall – von Bayern überdie Grenze nach Thüringen abwandert. Doch selbst unterLandesregierungen gleicher politischer Couleur ist dieHerstellung eines Einvernehmens sehr schwierig; esherrscht ein harter Konkurrenzkampf. Es ist daher dieFrage, inwieweit dieses Modell auf die Bundesebeneübertragbar ist. Die schwachen Regionen, gerade die imOsten des Landes, werden verständlicherweise stets aufihre großen Probleme und auf die Nähe zu Polen undTschechien, die als Alternativstandorte immer wieder ge-nannt werden, verweisen.Für die Förderpolitik gilt es, realistische Modelle zudiskutieren, die von allen Ländern getragen werden. DerBelegschaft von Brandt gilt unsere Solidarität und unserEngagement. Das können Sie glauben; und da reicht esnun einmal nicht, als PDS-Abgeordneter einzufliegen undfalsche Versprechungen zu machen.
Zusammen mit dem in dieser Frage sehr engagiertennordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten WolfgangClement und der Stadt Hagen müssen wir versuchen, denBeschäftigten in Hagen eine Perspektive zu geben. Meinpersönlicher Dank geht an den Betriebsrat – stellvertre-tend sei der Kollege Bernd Bisterfeld genannt –, an dasBürgerbündnis und an alle Hasper und Hagener Bürgerfür ihre Solidarität.Glück auf! Den Zwieback gebe ich Ihnen, Herr Präsi-dent – sozusagen zu Protokoll.
Den Zwie-back haben wir uns verdient. Der Kollege hat nämlichseine Redezeit deswegen überschritten, weil er mit derZwiebackpackung das optische Signal des Präsidentenverdeckt hat.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 200115260
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird dieÜberweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5248 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. – Das Haus ist einverstanden. Die Überweisungist so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis c auf:12. a) – Zweite und dritte Beratungs des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes über die Anpassung von Dienst- und Ver-sorgungsbezügen in Bund und Ländern 2000
– Drucksache 14/5198 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Wolfgang Bosbach, ErwinMarschewski , Meinrad Belle,weiteren Abgeordneten und der Fraktion derCDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes über die Anpassung von Dienst- und Ver-sorgungsbezügen in Bund und Ländern2000/2001
– Drucksache 14/4247 –
– Drucksache 14/4134
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-ausschusses
– Drucksache 14/5476 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Peter KemperMeinhard BelleCem ÖzdemirDr. Max StadlerPetra Pau
– Drucksachen 14/5477, 14/5478Berichterstattung:Abgeordnete Gunter WeißgerberDietrich AustermannOswald MetzgerDr. Werner Hoyerb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zu demAntrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach,Erwin Marschewski , MeinradBelle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUGleichbehandlung im öffentlichen Dienst – Ta-rifergebnis auf Beamte übertragen– Drucksachen 14/3772, 14/5476 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Peter KemperMeinrad BelleCem ÖzdemirDr. Max StadlerPetra Pauc) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski
, Meinrad Belle, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion der CDU/CSU einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortent-wicklung der beamtenrechtlichen Altersteilzeit– Drucksache 14/3777 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 144594 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Peter KemperMeinhard BelleAnnelie BuntenbachDr. Max StadlerPetra PauDie Kollegen Hans-Peter Kemper, SPD, MeinradBelle, CDU/CSU, Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grü-nen, Dr. Max Stadler, F.D.P., Petra Pau, PDS, und für dieBundesregierung der Parlamentarische StaatssekretärFritz Rudolf Körper geben – ich sehe Ihr Einver-ständnis – ihre Reden zu Protokoll.1)
Wir kommen unter Tagesordnungspunkt 12 a zur Be-schlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache14/5476. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-ner Beschlussempfehlung die Annahme des von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurfs zur Anpas-sung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund undLändern 2000, . Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Wie war das Abstimmungs-verhalten der F.D.P.?
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen dieStimmen von F.D.P. und PDS bei Stimmenthaltung derCDU/CSU angenommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters15261
1) Anlage 4Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Lesungangenommen.Weiter zu Tagesordnungspunkt 12 a: Unter Buchsta-be b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus-schuss die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktionder CDU/CSU zur Anpassung von Dienst- und Versor-gungsbezügen in Bund und Ländern 2000/2001 aufDrucksache 14/4247. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim-men von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen dieStimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS abgelehnt. Da-mit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitereBeratung.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Gesetz-entwurfs der Fraktion der F.D.P. zur Anpassung vonDienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern2000 auf Drucksache 14/4134. Wer diesem Gesetzent-wurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzei-chen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPDund Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der an-deren Fraktionen abgelehnt. Auch hier entfällt nach derGeschäftsordnung die weitere Beratung.Tagesordnungspunkt 12 b: Schließlich empfiehlt derAusschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfeh-lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion derCDU/CSU mit dem Titel „Gleichbehandlung im öffent-lichen Dienst – Tarifergebnis auf Beamte übertragen“,Drucksache 14/3772. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tion gegen die übrigen Stimmen des Hauses angenom-men.Tagesordnungspunkt 12 c: Wir kommen zur Abstim-mung über den Gesetzentwurf der Fraktion derCDU/CSU zur Fortentwicklung der beamtenrechtlichenAltersteilzeit auf Drucksache 14/3777. Der Innenaus-schuss empfiehlt auf Drucksache 14/4594, den Gesetz-entwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegendie Stimmen der anderen Fraktionen abgelehnt. Die wei-tere Beratung entfällt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten KlausRiegert, Ilse Aigner, Marie-Luise Dött, weiterenAbgeordneten und der Fraktion der CDU/CSUeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-kung ehrenamtlicher Tätigkeiten in Vereinenund Organisationen– Drucksache 14/5224 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
SportausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienDie Kollegen Dieter Grasediek SPD, Klaus Riegert,CDU/CSU, Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grünen,Gerhard Schüßler, F.D.P. und Dr. Klaus Grehn, PDS ge-ben ihre Reden zu Protokoll.1)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/5224 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Die Überweisung ist so be-schlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis c auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Staatsangehörigkeitsgesetzes– Drucksache 14/5335 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Staats-angehörigkeitsgesetzes und des Ausländer-gesetzes– Drucksache 14/4537 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. GuidoWesterwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. MaxStadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder F.D.P.„Schlussoffensive“ für erleichterte Einbürge-rung von Kindern– Drucksache 14/4416 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendDie Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Bürsch,SPD, Thomas Strobl, CDU/CSU, Marie-Luise Beck,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters15262
1) Anlage 5Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Max Stadler, F.D.P., UllaJelpke, PDS, und die Parlamentarische StaatssekretärinSonntag-Wolgast geben ihre Reden zu Protokoll.1)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/5335, 14/4537 und 14/4416 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, am Endeunserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen nocheinen schönen Abend.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages auf morgen, Freitag, den 9. März, 9 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.