Gesamtes Protokol
Guten Tag, liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Da dies die erste Zusammenkunft nach dem Jahres-
wechsel ist, wünsche ich allen Anwesenden ganz herzlich
ein gutes neues Jahr.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Dritter Bericht zur Lage der
älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland:
Alter und Gesellschaft.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend, Frau Dr. Christine Bergmann.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben heute
im Kabinett den Dritten Altenbericht mit einer Stellung-
nahme der Bundesregierung verabschiedet; er wird im
Parlament eine größere Rolle spielen.
Der Dritte Altenbericht ist ein umfassender Bericht
über die Lebenssituation der älteren Menschen in Deutsch-
land. Es ist ein Bericht, der uns sehr viel Auskunft darüber
gibt, wie sich die Entwicklung nach der Einheit unseres
Landes vollzogen hat. Ich danke der Sachverständigen-
kommission dafür, dass sie einen sehr detaillierten, enga-
gierten und umfassenden Bericht vorgelegt hat, der sich
mit der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Lage älte-
rer Menschen, ihren sozialen und familiären Beziehungen
sowie ihren Wohn- und Wohnumfeldbedingungen befasst.
Die Sachverständigenkommission legt sehr viel Wert
auf die Feststellung, dass die Situation der älteren Men-
schen in der Gesellschaft je nach ihren individuellen Res-
sourcen und ihrem Gesundheitszustand sehr differenziert
zu betrachten ist. Wir müssen noch mehr als in anderen
Altersgruppen der Bevölkerung differenzieren. Auch legt
die Kommission sehr viel Wert auf die Feststellung, dass
es hier sowohl um individuelle Ressourcen, die ältere
Menschen für das weitere Leben mitbringen, als auch um
gesellschaftliche Ressourcen geht, also um die Frage: Was
finden ältere Menschen in der Gesellschaft vor, damit sie
selbstbestimmt und selbstständig ihr Leben im Alter
führen können?
Ich will einmal kurz die aktuellen demographischen
Daten nennen, damit wir wissen, vor welchem Hinter-
grund wir diskutieren. Ich beziehe mich auf die Zahlen
des Statistischen Bundesamtes. Die Bevölkerungsentwick-
lung sieht folgendermaßen aus: Bis zum Jahr 2050 wird
sich der Anteil der Jüngeren, der unter 20-Jährigen, von
derzeit 21 Prozent auf 16 Prozent verringern. Der Anteil
der über 60-Jährigen wird von jetzt rund 22 Prozent auf
etwa 37 Prozent steigen. Das bedeutet, dass wir innerhalb
von 100 Jahren eine umgekehrte Entwicklung haben:
Im Gegensatz zu 1950, als wir etwa doppelt so viele un-
ter 20-Jährige wie über 60-Jährige hatten, werden wir im
Jahr 2050 doppelt so viele über 60-Jährige wie unter
20-Jährige haben. Darauf muss sich eine Gesellschaft und
damit auch die Politik natürlich einstellen. Ich will noch
eine Zahl nennen: Die Zahl der Hochbetagten, also der
über 80-Jährigen, steigt sehr deutlich an. Ihr Anteil liegt
im Moment bei 4 Prozent. Er wird nach Prognosen bis
zum Jahr 2050 auf 12 Prozent steigen.
Was bedeutet das nun für die einzelnen Felder, die ich
schon genannt habe? Ich komme zu einigen Daten aus
dem Bereich der Gesundheitsversorgung. Wir können da-
von ausgehen, dass die älteren Menschen heutzutage sehr
viel gesünder als früher sind. Das heißt, 80 Prozent der
Menschen über 70 Jahre führen ein weitgehend selbst-
ständiges Leben ohne fremde Hilfe. 95 Prozent dieser
Menschen leben in ihren eigenen vier Wänden. Auch das
muss man wissen. Das hat natürlich Auswirkungen auf die
Zusammensetzung der Gruppen derjenigen, die in Hei-
men leben: Vor allen Dingen die über 80-Jährigen sind
multimorbid. Unter ihnen befinden sich auch viele De-
menzkranke.
Wir stellen uns auf diese Situation durch sehr unter-
schiedliche gesetzliche Vorhaben und Projekte ein. Ich
will an die Verbesserungen im Bereich der Pflege erinnern
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142. Sitzung
Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Beginn: 13.00 Uhr
und die Stichworte bundeseinheitliche Altenpflegeausbil-
dung, Heimgesetz und Pflegequalitätssicherungsgesetz
nennen. Dies alles sind Maßnahmen, mit denen auf die ge-
nannte Entwicklung Einfluss genommen wird. Wir haben
ein Modellprojekt „Altenhilfestrukturen der Zukunft“,
durch das wir versuchen, wie es uns die Kommission
empfiehlt, die einzelnen Hilfeangebote zusammenzu-
führen. Es geht um die Themen Rehabilitation, Therapie
und Versorgungsleistungen im entsprechenden Umfeld.
Das Ziel muss sein, dass zum einen ältere Menschen aus
einer Hand beraten werden können und zum anderen nicht
jeder Anbieter von Hilfeleistungen für sich arbeitet.
Ich will noch auf die ökonomischen Ressourcen im Al-
ter eingehen. Die Kommission legt uns Zahlen vor, die be-
legen, dass sich die älteren Menschen durchschnittlich in
einer guten materiellen Lage befinden. Das kann man zum
Beispiel an den Durchschnittseinkommen dieser Haus-
halte ablesen. Wichtig dabei ist die Höhe der Rente, aber
hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen Ost und
West. 81 Prozent der ostdeutschen Älteren bestreiten ihr
Leben ausschließlich mit der gesetzlichen Rente, während
es in den alten Bundesländern nur 65 Prozent sind. Ich will
aber ganz klar sagen: Wenn man sich die Lebenssituation
der älteren Menschen ansieht, muss man feststellen, dass
wir in den neuen Bundesländern in den letzten Jahren eine
unwahrscheinliche Verbesserung erreicht haben.
Ältere Menschen verfügen auch in größerem Umfang
über Wohneigentum. In den alten Bundesländern haben
51 Prozent der Älteren Wohneigentum – das ist mehr als
der Durchschnitt der Bevölkerung –, in den neuen Bun-
desländern liegt der Anteil niedriger, ich glaube, bei
28 Prozent. Allerdings ist dort der Anteil Älterer mit
Wohneigentum niedriger als der Anteil Jüngerer mit
Wohneigentum. Daran kann man ablesen, dass sich auch
in den neuen Ländern Wohneigentum aufbaut.
Als Letztes will ich noch etwas zu den sozialen Res-
sourcen sagen. Die Diskussion wird manchmal in einer
Weise geführt, als ob die Generationen nicht miteinander
klarkämen. Wir haben eindeutige Daten vorliegen, die
aufzeigen, wie eng die Bindungen innerhalb der Familien
sind. Man lebt nicht mehr unbedingt in einem Haushalt
zusammen, aber immerhin hat ein sehr hoher Anteil älte-
rer Menschen an dem Ort, an dem sie leben, auch Kinder.
Zum Teil leben sie sogar in einem Haus zusammen. Die
materielle und finanzielle Transferleistung der Älteren an
die Jüngeren ist sehr groß und es gibt sehr viele Hilfeleis-
tungen der Jüngeren gegenüber den Älteren. Dies ist ganz
wichtig für den Zusammenhalt in der Gesellschaft.
Die Hilfeleistungen erstrecken sich nicht nur auf die
Familien. Ältere sind auch – wir haben nun das Interna-
tionale Jahr der Freiwilligen – im bürgerschaftlichen Be-
reich sehr engagiert: Die unter 70-Jährigen sind zu einem
Drittel in einem Ehrenamt tätig, bei den über 70-Jährigen
nimmt der Anteil aus verständlichen Gründen ab. Hieraus
wird deutlich, welche Ressource die älteren Menschen für
die Gesellschaft sind.
Ich will es dabei bewenden lassen. Ich denke, wir ha-
ben noch Gelegenheit, darüber zu diskutieren.
Danke schön. – Ich
bitte zunächst darum, Fragen zu dem Themenbereich zu
stellen, über den soeben berichtet wurde. Ich erteile als
Erstem dem Kollegen Gerald Weiß, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Frau Minis-
terin, Sie erwähnten unter anderem die pflegerische Ver-
sorgung altersverwirrter, demenzkranker Personen. Auf
diesem Feld hat es seitens Ihrer Regierung eine Vielzahl
von Versprechungen und Ankündigungen gegeben. Wann
wird Ihre Regierung konkret mit einem Entwurf zur Än-
derung im Bereich der Pflegeversicherung vorstellig, mit
dem die Versorgung Altersdementer im Hinblick auf das
Leistungsangebot auf eine neue Grundlage gestellt wird?
Bitte schön, Herr
Staatssekretär.
E
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben sich auf die Ankündi-
gung der ehemaligen Ministerin Frau Fischer bezogen,
dass Leistungen für Demenzerkrankte im Rahmen der
Pflegeversicherung verbessert werden sollen. Es handelte
sich zum einen um ein verbessertes Tagespflegeangebot
für die betroffene Personengruppe und zum anderen um
die Förderung von Initiativen durch ein so genanntes Bau-
kastensystem, zum Beispiel im Bereich von Betreuungs-
gruppen.
Sie haben ja sicherlich mitbekommen, dass es einen
Wechsel an der Spitze des Hauses gegeben hat. Die neue
Ministerin wird diese fast bis zur Gesetzesreife gelangten
Arbeiten prüfen und bewerten und dann zu entscheiden ha-
ben, ob sie sich diese Initiative in unveränderter Form zu
Eigen macht oder nicht. Ich rechne damit, dass in Kürze
eine entsprechende Entscheidung getroffen werden wird.
Zusatzfrage, bitte
schön.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Ich stelle
fest: Die Frage nach dem Wann können Sie nicht, zumin-
dest nicht präzise, beantworten.
Ich möchte eine weitere Frage stellen: Was werden Sie,
Frau Ministerin, tun, um dem Grundsatz „Rehabilitation
vor Pflege“ in der Praxis stärkeres Gewicht zu verleihen?
Bitte schön.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: In dem vorliegendenBericht sind sehr ausführliche Aussagen zu den ThemenRehabilitation und Prävention gemacht worden. Ich denke,dass das, was im entsprechenden Sozialgesetzbuch alsRichtschnur festgelegt ist, nämlich dass Rehabilitationeine wichtige Möglichkeit ist, um spätere Pflegebedürf-tigkeit ein Stück weit zu verhindern, nach wie vor gilt.Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir im Rahmen der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann13886
Gesundheitsreform 2000 wieder Möglichkeiten einge-räumt, entsprechende Maßnahmen in stärkerem Maße beiden Krankenkassen abzurechnen. Es ist eine gute Richt-schnur für politisches Handeln, wenn man sowohl diePrävention als auch die Rehabilitation in diesem Bereichstärker ausbaut. Hier gibt es durchaus Handlungs- undVerhandlungsbedarf. Daran möchte ich keinen Zweifellassen.
Das Wort zur nächs-
ten Frage erteile ich dem Kollegen Arne Fuhrmann.
Frau Ministerin, wenn man
sich die demographische Entwicklung, die Sie vorhin an-
gesprochen haben, anschaut und sich das Schlagwort vom
lebenslangen Lernen in Erinnerung ruft, dann stellt man
fest, dass die nachberufliche Phase immer länger wird und
deswegen eine völlig andere Bedeutung bekommt. Inwie-
weit sind neue Aktivitäten im Bereich der Weiterbil-
dungsmaßnahmen gerade für Ältere in Planung und stim-
men sich die Ressorts in diesem Bereich ab?
Frau Ministerin.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Es geht um zwei
Dinge. Sie haben gesagt, dass es eine lange Phase des
nachberuflichen Lebens gibt, die für die meisten Men-
schen eine aktive Phase ist. Ich erlebe immer wieder, dass
die Älteren sehr bildungshungrig sind. Vor diesem Hin-
tergrund kann ich die Entwicklung bei den Senio-
renakademien nur als sehr positiv bezeichnen. Die Zahl
der Seniorenakademien hat sich vergrößert. Entspre-
chende Abstimmungen werden vorgenommen. Die Bil-
dungsministerin unterstützt diese Entwicklung. Wir ver-
suchen zum Beispiel, durch Internetcafés das Thema
„Senioren und Internet“ voranzubringen. Es ist erstaun-
lich, wie gut manche Älteren im Internet surfen können.
Sie können mit ihren Enkeln mittlerweile ganz gut mit-
halten. Alle Angebote, die wir den Älteren in diesem Be-
reich machen, werden genutzt. Deshalb möchte ich die
Bitte äußern, solche Initiativen auf der kommunalen
Ebene mit zu unterstützen. Wir bieten auch eine Daten-
bank an, in der sich die Kommunen informieren können,
welche Aktivitäten sie den Seniorinnen und Senioren
noch anbieten können.
Die Sachverständigenkommission hat aber noch auf ei-
nen weiteren Punkt hingewiesen, der nach meiner Mei-
nung sehr wichtig ist. Sie hat noch einmal darauf hinge-
wiesen, dass es eine große Diskrepanz zwischen der
demographischen Entwicklung – das heißt, wir werden
immer älter – und der Tatsache gibt, dass wir immer weni-
ger über 50-Jährige im Arbeitsmarkt vorfinden, obwohl
wir wissen, dass die über 50-Jährigen noch voll in der Ma-
terie sind und in den Unternehmen durchaus wichtig sind.
Das heißt, bei Rationalisierungen, bei Personalabbau ist
diese Altersgruppe diejenige, die sehr gerne zuerst geht,
im Unterschied zu der Situation, wie wir sie aus den
neuen Ländern kennen, wo sehr viele unfreiwillig und
sehr früh aus dem Erwerbsleben ausscheiden mussten.
Wir wissen jedoch, dass wir – noch nicht im Jahre 2001
oder 2002, aber auf längere Sicht – stärker auf ältere Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer angewiesen sein wer-
den. Daher müssen wir unserer Ansicht nach darauf ach-
ten – das ist ein Stück weit ein Ergebnis der Arbeit der
Kommission –, dass die Weiterbildungsprozesse – wir re-
den alle über lebenslanges Lernen – in den Unternehmen
und außerhalb der Unternehmen so gestaltet werden, dass
die Älteren miteinbezogen werden. Es darf nicht bei den
40-Jährigen Schluss sein nach dem Motto: Es lohnt sich
nicht mehr, weil sie eh nicht mehr lange da sind. Ich
glaube, es ist bei der Planung von Personalmaßnahmen,
von Weiterbildung, von lebenslangem Lernen unter Ein-
beziehung der älteren Gruppe eine ganz andere Richtung
notwendig.
Kollegin Eichhorn,
bitte.
Frau Ministerin, in
dem Bericht wird zu der viel gepriesenen Altenpflege
nach dem neuen Gesetz festgestellt, dass von einer De-
professionalisierung gesprochen werden kann. Tatsache
ist, dass die Ausbildungsstandards gesenkt wurden.
Außerdem ist festzustellen, dass die Umsetzung des Ge-
setzes äußerst problematisch ist. Tatsache ist auch, dass
wir zu wenig Pflegekräfte haben. Ich frage Sie: Was ge-
denken Sie zu tun, damit mehr Menschen als bisher den
Beruf des Altenpflegers bzw. der Altenpflegerin ergrei-
fen?
Zweite Frage. Die Sachverständigen konstatieren auch
eine drohende zunehmende Altersarmut. Sie stellen dazu
in dem Altenbericht lediglich fest, dass der Anteil der So-
zialhilfeempfänger bei älteren Menschen geringer ist als
im Durchschnitt der Bevölkerung. Ich denke, das ist zu
billig; denn auch bei der Rentenreform haben die Fach-
leute ständig festgestellt, dass eine zunehmende Alters-
armut droht. Sie haben im Zuge der Änderung des Ren-
tenreformgesetzes zwar viele Vorschläge gemacht, aber
bezüglich der sozialen Sicherung der Frauen substanziell
überhaupt nichts verbessert. Was gedenken Sie insbeson-
dere im Bereich der Hinterbliebenenrente zu tun, damit
Frauen nicht noch mehr in Altersarmut fallen?
Frau Ministerin.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Sie haben zweiPunkte angesprochen, deren Darstellung nicht ganz demSachverhalt entsprach.Ich fange mit dem ersten Punkt an. Dabei geht es umdie bundeseinheitliche Altenpflegerausbildung. Ich weißnicht, wie Sie auf die Idee kommen, dass hier deprofes-sionalisiert wird oder dass es einen Abbau gibt. Die Aus-bildungs- und Prüfungsverordnung ist noch in Arbeit. Eswäre gut, wenn sich alle kräftig daran beteiligen würden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann13887
Sie haben den Pflegenotstand angesprochen. Ich kannIhnen sagen, woher dieser Pflegenotstand auch kommt,nämlich daher, dass wir keine bundeseinheitliche Ausbil-dung haben und es Länder – unter anderem Bayern – gibt,die keine Ausbildungsvergütung bezahlen.
Das wird sich zum 1. August dieses Jahres ändern. Wirwollen eine Ausbildungsvergütung für alle und bundes-weit die Erstausbildung in diesem Bereich. Wir haben hierberufliche Aufstiegsmöglichkeiten geschaffen. Das heißt,es gibt eine Aufwertung in diesem Beruf, was dazu führenwird – davon gehe ich aus –, dass sich junge Leute für die-sen Beruf entscheiden, sodass das, was an Pflegepersonalbenötigt wird, nicht nur durch Umschulung gewonnenwird.Ich sehe darin einen ganz wesentlichen Fortschritt. Dassehen übrigens auch die Pflegeverbände in Bayern so. Sieselbst haben in Bayern ja auch festgestellt, dass das mitder zweijährigen Ausbildung wohl nicht mehr so ganz dasWahre ist.Dass wir das auf eine ordentliche Basis stellen, durcheine bundeseinheitliche dreijährige Ausbildung und eineAusbildungsvergütung und die Erarbeitung einer ordent-lichen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung, halte ichfür eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass wir in die-sem Bereich wieder Nachwuchs bekommen, Nachwuchs,der auch eine Aufstiegschance hat, und dass auch in derGesellschaft klar wird, dass das eine wichtige Arbeit ist,die man nicht einfach so nebenher macht, weil man viel-leicht schon einmal Erfahrungen bei der Pflege in der Fa-milie gesammelt hat, sondern für die man entsprechendemedizinische Kenntnisse braucht. Wir könnten noch einehalbe Stunde darüber reden. Es handelt sich um ein altesStreitthema zwischen uns.Ich bin froh, dass wir nach zehn Jahren endlich so weitsind, dass wir diesen Beruf – wie wir wissen, ist er in derRegel ein Frauenberuf – aufwerten.
Eine Nachfrage der
Kollegin Eichhorn.
Frau Ministerin, ich
darf feststellen, dass der Standard der Altenpflegeausbil-
dung in Bayern sehr hoch ist. Gerade die Fachverbände
stellen fest, dass die bundeseinheitliche Altenpflege, wie
sie jetzt konzipiert ist, aufgrund der veränderten Ausbil-
dungsbedingungen nicht dazu anregt, dass sich mehr
Menschen für die Altenpflege entscheiden. Darum stelle
ich noch einmal die Frage: Was gedenken Sie zu tun, da-
mit sich mehr Menschen für die Altenpflege entscheiden?
Offensichtlich reicht das, was durch das Gesetz getan
wird, nicht. Im Gegenteil: Es ist kontraproduktiv.
Frau Ministerin.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Das behaupten Sie.
Ich will dazu nur Folgendes sagen: Ich war vor nicht allzu
langer Zeit beim Altenpflegetag in Bayern. Dort hat der
Staatssekretär des zuständigen Ministeriums erklärt, dass
die zweijährige Ausbildung keine Zukunft habe. Man
wolle zwar keine bundeseinheitliche, aber eine drei-
jährige Ausbildung. Es scheint in Bayern gewisse Zweifel
daran zu geben, ob das, was man dort im Moment macht,
der Stein der Weisen ist. Aber ich möchte aus der Angele-
genheit keine Auseinandersetzung zwischen Bayern und
dem Bund machen.
Ich möchte deutlich sagen: Unserem Vorhaben haben
die Länder und die Verbände ihre Zustimmung gegeben.
Das Gesetz ist noch nicht in Kraft; es wird erst im August
in Kraft treten. Wir brauchen – das sage ich noch einmal –
die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung. Ich gehe da-
von aus, dass wir unter den veränderten Bedingungen
mehr Menschen finden werden, die in diesem Beruf ar-
beiten. Es ist zum Beispiel ein Unding, wenn man keine
Ausbildungsvergütung zahlt. Wie sollen Frauen – das
muss mir einmal jemand erklären – während der drei-
jährigen Ausbildung ihren Lebensunterhalt verdienen?
Ich gehe davon aus, dass wir die Bedingungen dafür ge-
schaffen haben.
Sie haben das Thema Rente angesprochen. Ihre Wahr-
nehmung ist selektiv. In diesem Rentenpaket sind eine
ganze Menge Punkte enthalten, mit denen die Situation
der Frauen stark verbessert wird. Das Problem der Alters-
armut fällt in den Bereich der jetzt anstehenden Renten-
reform. Ich nehme Ihnen ab, dass Ihnen das Thema am
Herzen liegt. Wir wollen, dass diejenigen, denen eigent-
lich ergänzende Sozialhilfe zusteht – ich erinnere an die
verschämte Altersarmut –, diese über die Rentenzahlung
beziehen. Außerdem dürfen die Vermögensverhältnisse
der Kinder bei der Berechnung nicht herangezogen wer-
den. Das sind die Gründe, weswegen viele alte Menschen
keine ergänzende Sozialhilfe beantragen. Ich gehe einmal
davon aus, dass Sie uns in diesen Punkten zustimmen.
Wir haben die Kinderberücksichtigungszeiten ausge-
baut. Wir haben etwas für die Frauen getan, die Teilzeit ar-
beiten. Darüber hinaus haben wir die Situation der
Frauen, die zwei Kinder und mehr erziehen und deshalb
nicht erwerbstätig sind, verbessert. Dadurch, dass die
Kinderberücksichtigungszeiten bis zum zehnten Lebens-
jahr des jüngsten Kindes gelten, werden Beiträge aufge-
stockt und wird eine eigenständige Alterssicherung ein
Stück weit aufgebaut. Wenn das – neben der sozialen Ab-
sicherung – kein Vorteil für die Frauen in der Rentenver-
sicherung ist, dann weiß ich nicht, was wirklich ein Vor-
teil ist.
Zur nächsten Frage
erteile ich der Kollegin Kerstin Griese das Wort.
Frau Ministerin, Sie haben unsdie Auswirkungen der demographischen Entwicklung,wie sie der Sachverständigenbericht darstellt, geschildert.Dort steht, dass der Anteil Älterer in der Bevölkerung inZukunft etwa 37 Prozent betragen wird. Als Jugendpoliti-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann13888
kerin frage ich: Welche Auswirkungen hat das Ihrer Mei-nung nach auf das Verhältnis der Generationen zueinan-der? Welchen Stellenwert, welche Bedeutung wird die äl-tere Generation in der Gesellschaft haben? Wenn dem-nächst in unserer Gesellschaft doppelt so viele über60-Jährige wie unter 20-Jährige leben, dann können beideGroßeltern mit dem Enkel surfen. Das bietet gewisseChancen für das Verhältnis der Generationen zueinander.
Frau Ministerin.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Abgeordnete
Griese, ich hatte schon ganz kurz angesprochen, dass die
in dem Bericht genannten Daten über das Generationen-
verhältnis – die Kommission hat sie vorgestellt – sehr er-
freulich sind. Das Generationenverhältnis ist zurzeit gut.
Man lebt zwar nicht immer in einer Wohnung; aber es ist
trotz äußerer Distanz eine sehr große innere Nähe da. Das
sagen die Sachverständigen. Die Jüngeren helfen den Äl-
teren dort, wo es notwendig ist. Umgekehrt fließt die eine
oder andere Mark von den Eltern in den Haushalt der Kin-
der. Vor allen Dingen zwischen Enkeln und Großeltern
besteht eine sehr enge Beziehung, die für eine Kultur des
Aufwachsens und für einen vernünftigen Umgang der Ge-
nerationen miteinander nötig ist. Auch das, was wir in an-
deren Bereichen tun – wir haben gerade die Rente ange-
sprochen –, macht klar, dass wir den Lebensstandard der
Älteren sichern, aber zugleich die Jüngeren nicht über Ge-
bühr belasten.
Wenn jetzt die Einkommenssituation der Älteren gut
ist, was wir ja sicherlich alle als sehr erfreulich empfin-
den, dann müssen wir auf der anderen Seite natürlich der
Frage nachgehen, wo es Probleme in der Generation der
Jugendlichen gibt. Das, was wir im Rahmen von JUMP,
dem Sofortprogramm zur Bekämpfung von Jugend-
arbeitslosigkeit, tun, ist ja nicht nur ein Signal, sondern es
schafft Chancen für Jugendliche, einen Ausbildungsplatz
zu bekommen, damit sie in den Arbeitsmarkt integriert
werden können. Wenn im Moment relativ viele Ältere
aufgrund der Altersteilzeit früher aus dem Erwerbsleben
ausscheiden, dann bedeutet dies auch ein Stück Genera-
tionensolidarität: Sie machen Arbeitsvolumen frei, weil
sie wissen, dass es eine Generation gibt, die Probleme hat,
in den Arbeitsmarkt hineinzukommen.
Wir sollten an diese gute Kultur, die wir zurzeit im
Lande haben, anknüpfen und dies nicht immer kaputtre-
den. Beim Lesen mancher Veröffentlichungen gewinnt
man ja den Eindruck, wir bekriegten uns untereinander.
Ich erlebe das in meinem Umfeld nicht, Sie hoffentlich
auch nicht. Daran müssen wir in unserem politischen,
aber auch gesellschaftlichen Handeln anknüpfen.
Zur nächsten Frage
erteile ich Kollegin Schewe-Gerigk das Wort.
gewiesen, dass der Bericht ausgewiesen hat, dass ältere
Menschen ein hohes Maß an Familienarbeit und bürger-
schaftlichem Engagement leisten. Sind Sie der Meinung,
dass das auch politisch unterstützt werden müsste, und
wie müsste das unterstützt werden?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Dazu kann ich ganz
klar Ja sagen. Jedes bürgerschaftliche Engagement unter-
stützen wir politisch und, wo es geht, natürlich auch ma-
teriell. Im Bereich der Älteren setzen wir mit einem Pro-
jekt, das wir gerade begonnen haben, ein wichtiges
Signal. Wir suchen und schulen Multiplikatorinnen und
Multiplikatoren, damit deren Erfahrungswissen viel mehr
als bisher in der Gesellschaft nutzbar gemacht wird. Sie
kommen aus unterschiedlichen Bereichen – der Wirt-
schaft, der Kultur, der Politik – und können in unter-
schiedlichen Bereichen ihr Wissen zur Verfügung stellen,
nachdem sie von uns noch ein Stück Qualifizierung dazu
bekommen haben. Wir wissen ja, dass viele Ehrenamtli-
che sich mit Leidenschaft engagieren, aber zuvor um Qua-
lifizierung bitten, weil sie möchten, dass es mit ihnen
noch weitergeht. Auch müssen wir immer wieder deutlich
machen – dies versuchen wir auch mit unserer Kampagne
zum Internationalen Jahr der Freiwilligen –, dass das, was
man kann, unbezahlbar ist.
Ein solches Engagement erbringen die Älteren vielfach
gerade bei Jüngeren. Damit sind wir wieder beim Thema
Generationensolidarität. Wenn Ältere in Schulen gehen,
sich an der Berufsberatung beteiligen und dadurch die
Schüler in diesem schwierigen Prozess begleiten, dann ist
das eine tolle Sache, die zur Generationensolidarität
beiträgt. Wir müssen noch viel mehr herausstellen, wie
gut das in der Gesellschaft funktioniert und dass wir ohne
diesen Zusammenhalt eigentlich gar nicht vernünftig mit-
einander umgehen können.
Zur nächsten Frage
erteile ich dem Kollegen Andreas Storm das Wort.
Frau Ministerin, ichmöchte auf die Beschäftigungschancen älterer Arbeitneh-mer zurückkommen. Wir beurteilt die Bundesregierungdie Tatsache, dass die Erwerbstätigenquote in der Alters-gruppe zwischen 55 und 64 Jahren in Deutschland iminternationalen Vergleich besonders niedrig liegt? Sieliegt bei etwa 39 Prozent, während sie in Norwegen oderder Schweiz bei rund 70 Prozent liegt, also etwa doppeltso hoch ist. Worauf führen Sie es zurück, dass in diesenLändern – auch in anderen skandinavischen Ländern wieDänemark – ein wesentlich höherer Anteil älterer Men-schen erwerbstätig ist?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich werde diesenZwischenruf gleich aufgreifen. – Ich habe schon gesagt,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Kerstin Griese13889
wie die Arbeitsmarktsituation ist. Ich komme aus einemder neuen Länder und war lange Arbeitssenatorin. Ichweiß daher genau, was zum Beispiel in Berlin und seinemUmland abgelaufen ist.Wir haben eine schwierige Arbeitsmarktsituation. Aberwir haben ganz gezielt versucht – hier hat es Generatio-nensolidarität gegeben –, den Einstieg von Jugendlichenin den Arbeitsmarkt an die oberste Stelle zu setzen. Des-wegen ist das System der Altersteilzeit von uns ausgebautworden; denn das ist ein vernünftiges Modell.Sie hätten natürlich in den Jahren davor mehr dazu bei-tragen können, dass die Arbeitsmarktsituation in diesemLand insgesamt besser geworden wäre. In dem Moment,da wir mehr Arbeitskräfte brauchen, verändert sich natür-lich auch die Situation für Ältere. Das ist, denke ich, klar.Wenn Sie diese Situation mit der in den Ländern verglei-chen, die ganz andere Arbeitsmarktzahlen haben, dannliegt die Antwort doch auf der Hand. Sie kennen doch dieAntwort.
Als nächster Rednerin
erteile ich Kollegin Christa Lörcher zu einer Frage das
Wort.
Frau Ministerin, ich hätte Sie
gern nach der Weiterentwicklung der Pflegeberufe ge-
fragt. Aber da die Zeit sehr knapp ist, möchte ich eine ganz
andere Frage stellen, die überhaupt noch nicht angespro-
chen worden ist. Sie betrifft ältere Menschen mit Migra-
tionshintergrund. Das ist die am stärksten wachsende
Gruppe in unserer Gesellschaft. Da sich auch dort die Fa-
milienstrukturen ändern, wird sicherlich ambulante oder
stationäre Hilfe nötig sein. Haben sich die Kommission
oder die Regierung oder beide schon Gedanken gemacht,
welche Anforderungen diese Situation mit sich bringt?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Lörcher, wir ha-
ben gerade eine Studie in Auftrag gegeben, die sich mit
der Situation der nichtdeutschen Frauen in unserem
Lande beschäftigt. Wir haben nämlich sehr wenig Daten-
material. Wir wissen, dass sich einiges verändert hat: Im-
mer mehr Frauen, die zu uns kommen, sind erwerbstätig.
Damit werden bestimmte Leistungen, die vorher in der
Familie erbracht wurden, wie Pflege, auf Einrichtungen
nach außen verlagert.
Dem tragen wir durch Modellprojekte Rechnung, zum
Beispiel durch Wohnprojekte oder durch Heimprojekte
für ältere Menschen. Es gibt vermehrt Beratungsange-
bote. Das ist noch ein sehr offenes Feld. Wir müssen ja
auch beachten, wie wir die Menschen mit den Angeboten
erreichen, damit sie entsprechend genutzt werden. Das
betrifft sowohl den Bereich der Pflege als auch den Be-
reich der gesamten Gesundheitserziehung.
Wir werden natürlich auch Daten aus dem Familienbe-
richt dem politischen Handeln zugrunde legen. Ich denke,
wir bereiten uns auf die Situation vor und wir sind gerüs-
tet. Wir müssen das Geschehen insgesamt besser kennen
lernen, weil wir zum Beispiel über die Remigration, also
über die Frage, wer in welchem Umfang wieder zurück-
geht, noch viel zu wenig wissen. Aber wir sind darauf ein-
gestellt.
Kollege Klaus Haupt,
bitte.
Frau Ministerin, Sie betontenvorhin, dass Sie aus einem der neuen Länder kommen.Gestatten Sie mir als jemandem, der auch aus einem derneuen Länder kommt, eine ganz spezifische Frage. DerBericht geht ja darauf ein, dass die materielle Situation derSenioren, der Rentner in den neuen Bundesländern eineandere ist. Das bezieht sich auf die Alterseinkommen ausder gesetzlichen Rente. Das Ganze wird noch durch dieTatsache verschärft, dass die Rentner in den neuen Bun-desländern aufgrund der vier Jahrzehnte DDR-Vergan-genheit nicht über Kapitaleinkünfte oder über Eigentumverfügen können.Welche konkreten Schlussfolgerungen ziehen Sie inIhrem Haus oder ressortübergreifend angesichts dieserdifferenzierten materiellen Situation, die in dem Berichtdargestellt ist – auch vor dem Hintergrund der Tatsache,dass die ältere Generation eine nicht zu unterschätzendeWirtschaftskraft darstellt?Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr AbgeordneterHaupt, wenn Sie sich die Zahlen genau ansehen, dannstellen Sie fest – ich habe es genannt –: In den neuen Bun-desländern kommen 81 Prozent des Einkommens aus dergesetzlichen Rente. In den alten Bundesländern sind esweniger, nämlich 65 Prozent; dort kommen noch andereEinkommensarten hinzu.Bei den Rentenzahlbeträgen müssen wir natürlich fest-halten, dass die Zahlbeträge heute sowohl bei Männern alsauch bei Frauen in den neuen Ländern höher sind als inden alten. Das hat etwas mit den unterschiedlichen Er-werbsbiografien zu tun. Man war früher und länger er-werbstätig; das gilt insbesondere für Frauen. Diese Zahlmüssen wir auch beachten.Wenn wir uns die Zahlen der Sozialhilfeempfänger an-schauen, dann stellen wir auch fest, dass es weniger Men-schen in den neuen Bundesländern gibt, die ergänzendeSozialhilfe beziehen. Die Einkommenssituation – das sa-gen die Rentner ja auch; auch Sie wissen das aus Ihren Ge-sprächen mit Rentnerinnen und Rentnern – hat sich ganzdrastisch verbessert. Die Situation hat sich auch im Be-reich der Pflege verbessert. Wir beide haben uns intensivdamit beschäftigt und wissen, wie Altersheime in derDDR aussahen: Das war wirklich eine Schande. Was inden letzten zehn Jahren in diesem Bereich geleistet wurde,ist ganz erstaunlich. Ich denke zum Beispiel an Formendes betreuten Wohnens.Selbstverständlich kann man innerhalb von zehn Jah-ren nicht alle Unterschiede beseitigen. Diese bestehenzum Beispiel im Bereich des Wohneigentums. Aber
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann13890
daran, dass bei der jüngeren Bevölkerungsgruppe einhöherer Anteil als bei den Älteren Wohneigentum hat, se-hen Sie, dass es Entwicklungen auf diesem Gebiet gibt.Die gesetzlichen Regelungen, die wir in diesem Bereichauf den Weg bringen und umsetzen, werden dieser Situa-tion durchaus gerecht.
Es verbleiben jetzt
noch knapp drei Minuten. Deshalb möchte ich nun allge-
meine Fragen zulassen, die bereits zu Anfang der Frage-
stunde angemeldet wurden.
Kollege Dirk Niebel, bitte.
Der „Bild“-Zeitung von heute
kann ich entnehmen, dass die Bundesregierung vor eini-
ger Zeit eine Werbekampagne für ihr Rentenkonzept so-
wohl mit großformatigen Anzeigen in den Zeitungen als
auch durch Herausgabe einer Rentenbroschüre, in der
als Kernstück der Rentenreform der so genannte
Ausgleichsfaktor beworben wurde, gestartet hat. Nun
wurde das Rentenkonzept wieder verändert. Der Aus-
gleichsfaktor als Kernstück ist in dem neuen Entwurf so
nicht mehr vorhanden. In der „Bild“-Zeitung steht, dass
300 000 dieser Broschüren für 129 000 DM gedruckt wur-
den und die Restbestände nun eingestampft werden
müssen. Nachdem die Gesetze zu den 630-Mark-Jobs
fünfmal und die Regelungen zur so genannten Schein-
selbstständigkeit dreimal verändert wurden, können wir
wohl feststellen, dass die Bundesregierung öfter ihre Vor-
lagen verändert. Mich würde interessieren, ob die Öffent-
lichkeitsarbeit der Bundesregierung in Zukunft weiter so
wie bisher durchgeführt werden soll
oder ob Sie in Zukunft erst dann Konzepte bewerben wol-
len, wenn sie beschlossen wurden.
Frau Staatssekretärin,
bitte.
U
Herr Niebel, Ihre
Annahme, dass der zentrale Punkt unseres Rentenreform-
konzeptes und des Altersvermögensgesetzes der Aus-
gleichsfaktor ist, ist so nicht richtig.
Die entscheidende Weichenstellung besteht vielmehr
darin, dass wir die Vorsorgemaßnahmen für zusätzliches
Alterseinkommen massiv fördern. Wir sorgen damit für
einen Aufbau von Vermögen, das im Alter zur Verfügung
steht, wodurch die Rente von Alten besser gesichert wird
und sie zugleich für die Jungen bezahlbar bleibt. An die-
sem Altersvorsorgekonzept durch Vermögensaufbau hat
sich nichts geändert.
Darüber hinaus ist ein wichtiger Punkt unserer Reform
der Aufbau einer eigenständigen Alterssicherung von
Frauen. Wir unternehmen ganz erhebliche Anstrengun-
gen, um Frauen die Möglichkeit zu geben, zusätzliche
Rentenanwartschaften zu erwerben, auch wenn sie nur ein
unterdurchschnittliches Einkommen haben.
Ein ganz wesentlicher Bestandteil unseres Rentenre-
formkonzepts – das ist der letzte Punkt – ist der Aufbau
einer sozialen Grundsicherung, um verschämte Armut im
Alter zu vermeiden.
Alle diese Punkte sind nach wie vor Bestandteil unse-
res Konzeptes und nach wie vor richtig. Diese Broschüre
bezieht sich also nicht nur auf den Ausgleichsfaktor. Sie
haben aber Recht, dass wir die Broschüre, da ein Teil-
bereich nicht mehr aktuell ist, in der 51. Kalenderwoche
zurückgezogen haben.
Im Übrigen haben wir genauso gehandelt wie auch die
alte Bundesregierung, indem wir nach einem Kabinetts-
beschluss unser Konzept veröffentlicht haben. Bei dieser
Praxis werden wir auch in Zukunft bleiben.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Damit sind wir am Ende der Befragung der
Bundesregierung. Die vorgesehene Zeit ist vorbei.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksachen 14/5065, 14/5077 –
Zum Ablauf der Fragestunde möchte ich folgende ge-
schäftsleitende Hinweise geben: Wir kommen zunächst
zu den beiden eingereichten dringlichen Fragen aus dem
Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Nach den
Richtlinien für die Fragestunde werden im Anschluss da-
ran die eingebrachten Fragen zum selben Themenkom-
plex aus den Geschäftsbereichen des Auswärtigen Amtes,
des Bundeskanzleramtes, des Bundesministeriums des In-
nern und des Bundesministeriums der Justiz aufgerufen.
Danach fahren wir, soweit wir noch Zeit haben, mit den
weiteren Fragen in der Reihenfolge fort, wie sie in der
Drucksache zu dieser Fragestunde stehen.
Ich rufe zunächst die dringliche Frage des Abgeordne-
ten von Klaeden auf.
Ist der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer,
während seiner militanten Tätigkeit dem inzwischen verurteilten
Topterroristen Ilich Ramirez Sanchez, genannt Carlos, der Scha-
Bitte schön, Herr Minister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Präsi-dent, gestatten Sie mir, dass ich zu Beginn eine etwasausführlichere Antwort gebe, da alle Fragen in einem
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann13891
Sachzusammenhang stehen. Danach werde ich die einzel-nen Fragen im Detail beantworten.Herr Abgeordneter von Klaeden: ein definitives Nein.Ich möchte, da dies eine Situation ist, in der fast täglichneue, absurde Vorwürfe erhoben werden, hinzufügen – –
– Ich komme gleich darauf zu sprechen. Wenn Sie ein In-teresse an Unterrichtung haben, dann hören Sie sich dasan. Alles andere können wir nachher in der AktuellenStunde debattieren.
Ich habe weder Waffenlager eingerichtet noch unter-halten, noch Waffen transportiert, noch wurden mit mei-ner Kenntnis irgendwelche Waffen mit meinem Autotransportiert. Das weiß die Union übrigens seit 1985, alsich zum ersten Mal Umweltminister wurde. Damalswurde Franz Josef Jung, der Ihnen mittlerweile geläufigist, nach Karlsruhe zur Akteneinsicht bei der Bundesan-waltschaft geschickt. Er war über alles unterrichtet. Den-noch wurde ich von Ihnen in jedem Wahlkampf zumKarry-Mörder erklärt, wider besseres Wissen.
Auch habe ich weder in meiner Wohnung noch in an-deren Wohnungen mit Daniel Cohn-Bendit Waffen, egalvon wem, oder Sprengstoff verborgen. Wir hatten – in die-sem Zusammenhang habe ich das klipp und klar zu sa-gen – auch nicht die Funktion von Herbergsvätern für Ter-roristen, egal welcher Gruppe sie zugehörig waren. – Diessind alles klare und eindeutige Aussagen.Ich habe niemals Molotowcocktails geworfen und ichhabe auch nicht dazu aufgerufen, Molotowcocktails zuwerfen. Auch dies ist eine klare Aussage.Was ich getan habe, will ich Ihnen auch klipp und klarsagen. Ich war militant, ich habe mit Steinen geworfen,
ich war in Prügeleien mit Polizeibeamten verwickelt.
Ich wurde geprügelt, aber ich habe auch Polizeibeamtegeschlagen. Das habe ich jetzt nicht zum ersten Mal ge-sagt und dazu stehe ich. Ich stehe zu meiner Verantwor-tung. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich das jetztrechtfertige.
Ich habe bereits 1977 erkannt, dass der Weg der Gewalt,und sei es nur der limitierten Gewalt mit Prügeln gegenPolizeibeamte und mit Steinewerfen, falsch ist, ein Weg,der auch in seinen moralisch guten Motiven ins Gegenteilverkehrt wird, der die eigenen Gesichtszüge verzerrt. Ichwar damals kein Demokrat, sondern Revolutionär, abermit dem Freiheitsanspruch, dass der – –
– Machen Sie nur so weiter! Ich will Ihnen meine Positionklipp und klar erläutern. Darauf haben Sie einen An-spruch.Ich habe damals – das ist für mich die eigentliche Tren-nung – erkannt, wie Gewalt die eigenen Gesichtszüge ver-zerrt, selbst wenn man meint, diese Gewalt aus gutenGründen einsetzen zu können. Das war für mich die ent-scheidende Erfahrung, die dazu geführt hat, dass ich michabgewandt habe, innerlich und auch in den politischenKonsequenzen.Ich habe damals Unrecht getan und ich habe mich dafürbei allen, die davon betroffen waren, zu entschuldigen.Dies habe ich getan und tue es heute wieder.
Ich stehe seitdem für einen Lebensweg, der auch die Inte-gration jener Teile der Bevölkerung bedeutete, die damalsjung waren. Ich rede hier nicht von Jugendsünden. Dashaben andere getan. Ich war damals bereits im Erwachse-nenalter. Ich stehe seitdem für eine Politik, die nicht nurGewaltfreiheit propagiert und durchsetzt, sondern die vorallen Dingen auch die Hineinentwicklung in die demo-kratische Grundordnung beinhaltet. Ich weiß, was diesesbedeutet; denn im Gegensatz zu all den Gerechten mussteich mich erst dort hineinentwickeln, und zwar aus Grün-den, die ich in dieser Antwort nicht darstellen will. Aberich habe mich wirklich aus Überzeugung zum Demokra-ten gewandelt. Dies entspricht meinem politischen Le-bensweg und dem Weg meiner Partei.
Meine Partei hat es nicht nötig, sich, von wem auch im-mer, zur Gewaltfreiheit aufrufen zu lassen. Denn derSchritt zu den Grünen war für mich ganz entscheidendauch durch das Bekenntnis zur Demokratie und zur Ge-waltfreiheit bedingt.
Was ich in den letzten Tagen erlebe – Herr Präsident,das möchte ich hier nochmals klipp und klar ansprechen –,ist, dass mit viel Geld versucht wird, Leute dazu zu ver-anlassen, aus nichts als ihrer Erinnerung heraus nach über20 Jahren Behauptungen aufzustellen, nach Möglichkeitdiese dann durch eine eidesstattliche Versicherung zu un-termauern und mich in die Situation zu bringen, dass ichmich dazu verhalten und etwas dazu sagen soll.Es wird also gefragt: Was hast du vor 25 Jahren bei die-ser und jener Diskussion gesagt? Ich verstehe ja Ihre po-litische Interessenlage. Aber versuchen Sie selbst einmal,ob es Ihnen gelingt, sich auch nur an wichtige Diskussi-onen zu erinnern und zu sagen, was Sie wo vor 22 oder25 Jahren gesagt haben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Bundesminister Joseph Fischer13892
Es wäre für mich ein Wunder, wenn Sie das könnten. Ichhabe in den letzten 14 Tagen versucht, mich an Einzelhei-ten aus dieser Zeit zu erinnern. Dabei habe ich mein Ge-dächtnis bis an die Grenze der Erinnerungsfähigkeit ge-fordert.Herr Präsident, ich möchte noch folgenden Punkt aus-führen dürfen. Mir liegt mittlerweile ein Briefwechselvor, der zeigt, wie man mit viel Geld die Sache angeht.Einem Zeugen, der Entlastendes aussagte, wurden16 000 DM angeboten. Es wurde ihm gesagt: Denk nocheinmal nach! Wenn du nicht den passenden Täter und denpassenden Tathergang schilderst, dann wird das nichts mitdem Geld.
Diese Erkenntnisse liegen mir vor.
– Das sind nicht die alten Methoden.Für solche Informationen wurden über 1 Million DMverlangt. Ich erwähne diese Tatsache nur, damit Sie dieAussagen richtig einordnen können.Herr von Klaeden, ich habe damit Ihre Frage und alleanderen mich betreffenden Fragen klipp und klar für dasProtokoll beantwortet.
Ich bitte um Verständ-
nis, dass der Minister, wie er es angekündigt hat, etwas
ausführlicher auf die erste Frage eingegangen ist. Ich
denke, dies ist nach der Vorgeschichte verständlich. Ich
bitte aber darum, dass die Beantwortung der weiteren Fra-
gen in kürzerer Form erfolgt.
Wollen Sie eine Zusatzfrage stellen, Kollege von
Klaeden?
Herr Präsident,
vielleicht ist es für die Öffentlichkeit interessant, zu er-
fahren, dass diese weitschweifige Apologie des Herrn
Außenministers auf eine Frage erfolgte, die lediglich zum
Inhalt hat, ob er – wie es in der „Welt“ und in einigen an-
deren internationalen Zeitungen zu lesen war –
dem Terroristen Carlos begegnet ist.
– Frau Kollegin, wir bestimmen immer noch selber, was
uns interessiert.
Da Sie, Herr Minister, erklärt haben, Sie hätten sich
1977 vom Terrorismus und seiner ideologischen Unter-
stützung abgewandt, darf ich Sie fragen:
Ist das Zitat richtig, das in dem Buch von Christian
Schmidt „Wir sind die Wahnsinnigen“ zu finden ist?
Demnach haben Sie noch 1978 in der Zeitschrift „Pflas-
terstrand“ nach der Ermordung von Generalbundesanwalt
Buback, des Bankies Ponto und Hanns-Martin Schleyers
durch die RAF Folgendes erklärt – ich zitiere –:
Bei den drei hohen Herren mag in mir keine rechte
Trauer aufkommen, das sag ich ganz offen, für mich.
Wenn Sie dieses Zitat dementieren sollten, dann möchte
ich Sie jetzt schon fragen, warum Sie gegen diese Be-
hauptung keine juristischen Schritte eingeleitet haben;
denn dieses Buch werden Sie sicherlich gelesen haben.
Herr Minister.
Ich will Ihnen gerne auf diese Frage antworten. Die Be-hauptung, ich hätte mich 1977 von dem Terrorismus undseiner ideologischen Unterstützung losgesagt, ist schlichtfalsch.
Ich musste mich von dem Terrorismus und seiner ideolo-gischen Unterstützung nicht lossagen.Wenn Sie nicht nur ein parteipolitisches Interesse andieser Sache haben – das ist aber durchaus legitim –, son-dern für meine Situation etwas Verständnis aufbringen,dann ist dieser Aspekt wichtig: Wir, Daniel Cohn-Benditund ich, waren damals die entschiedensten Gegner desWegs in den Terrorismus.
Wir waren diejenigen, die andere daran gehindert haben,in den revolutionären Untergrund zu gehen.
– Ich merke, dass Sie kein Interesse an einer Aufklärunghaben.
Ich muss Ihnen sagen, dass Sie dieses Zitat aus demZusammenhang gerissen haben. Bei der Debatte 1978ging es um eine grundsätzlich andere Orientierung, dieauf den Rückzug abstellte. Sie haben das Zitat völlig ausdem Zusammenhang gerissen.
Für mich waren die schockierendsten Erfahrungennach Entebbe die Ermordung von Hanns-Martin Schleyerund die Sprache in dem damaligen so genannten Kom-mando-Kommunique, das den Mord dargestellt hat. Daswar für mich die völlige Verkehrung. Es war die Spracheder Unmenschen, die kalte, zynische Sprache der Nazis.Das war meine damalige Position. Diese habe ich anverschiedenen Stellen artikuliert und klar zum Ausdruckgebracht. Insofern kann ich nur sagen: Sie versuchen hierein Zerrbild des damaligen Joschka Fischer darzustellen,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Bundesminister Joseph Fischer13893
das nichts mit dem zu tun hat, wie ich damals gedachthabe.
Eine zweite Zusatz-
frage des Kollegen von Klaeden.
Herr Minister, ich
will Sie noch einmal fragen: Erstens. Stimmt dieses Zitat
oder stimmt es nicht? Zweitens. Darf ich Sie um die Er-
läuterung des Zusammenhangs bitten, in dem dieses Zitat
einen Sinn macht?
Es tut mir Leid, Herr Kollege von Klaeden, ich müsste
dieses Zitat im Zusammenhang des ganzen Artikels se-
hen.
– Entschuldigung, ich habe Ihnen meine Position erläutert
und ich bin gerne bereit, gemeinsam mit Ihnen den ganzen
Artikel durchzugehen. Dann unterhalten wir uns noch ein-
mal.
Wir kommen zur
dringlichen Frage 2 der Kollegin Sylvia Bonitz:
Wie erklärt der Bundesminister des Auswärtigen und Vize-kanzler, Joseph Fischer, seine Äußerung im Prozess „Ich habe ge-sagt: „Geht weg von den Bomben greift wieder zu den Stei-nen“ vor dem Hintergrund seiner Interviews im „Spiegel“ vom 8. Januar 2001 und im „Stern“ vom 4. Januar 2001, in denen erzumindest den Eindruck erweckt hat, nicht Anstifter zu Gewaltta-ten gewesen zu sein und selbst keine Waffen genutzt zu haben?
Bitte schön, Herr Minister.
Frau Kollegin Bonitz, wie ich gehört habe, waren Sie ges-
tern bei dem Prozess anwesend. Das zeigt ein großes In-
teresse an meiner Zeugenvernehmung.
Bei der von Ihnen hier angeführten Äußerung handelt
es sich nicht um eine Äußerung anlässlich meiner Zeu-
genaussage vom 16. Januar, sondern um ein Zitat aus ei-
ner Rede, die ich, Herr Kollege Klaeden, im Jahre 1976
gehalten habe und über das wir am 16. Januar gesprochen
haben. In meiner Rede 1976 anlässlich des Pfingstkon-
gresses auf dem Römerberg ging es um das genaue Ge-
genteil eines Aufrufs zur Gewalt. Es war der Appell an
jene, die in den Untergrund gegangen waren oder ab-
zugleiten drohten, die Waffen niederzulegen, mit dem
Bomben aufzuhören und zurückzukehren. Es ging 1976
darum, diese noch zu erreichen und anzusprechen, mit
diesem mörderischen Irrsinn Schluss zu machen.
Diese Römerberg-Rede ist für jedermann in ihrer
vollen Länge nachlesbar. Sie werden auch darin sicher
den einen oder anderen Satz finden, bei dem Sie sagen
können: „Aha!“, aber dann wäre das völlig sinnentstellt.
Das war 1976 und darauf habe ich mich bezogen.
Bitte, Ihre Zusatz-
frage, Frau Kollegin Bonitz.
Meine erste Zusatzfrage
lautet: Wie erklären Sie sich, Herr Minister, dann den Wi-
derspruch zu Ihrer gestrigen Prozessaussage in Frankfurt?
Gestern haben Sie gesagt, dass die Spontis damals nie-
mals absichtlich Menschen verletzen oder gar töten woll-
ten. Aber gleichzeitig haben Sie damals – durchaus in dem
Kontext, der mir bekannt ist – zum Steinewerfen aufgeru-
fen. Das Steinewerfen beinhaltet doch ein erhebliches
Verletzungsrisiko, das, wie ich denke, auch Ihnen bekannt
ist. Das heißt, dass Sie damit die Schädigung von Perso-
nen und auch von Sachen gebilligt oder zumindest in Kauf
genommen, wenn nicht sogar dazu angestiftet haben, und
zwar immerhin als „Comandante“ – das ist der Begriff,
der immer wieder auftaucht – der Putzgruppe, die in der
Szene damals den Spitznamen „Proletarische Union für
Terror und Zerstörung“ hatte. Vielleicht können Sie in Ih-
rer Antwort freundlicherweise auch auf diese Namens-
gebung eingehen.
Den Begriff „Proletarische Union für Terror und Zer-störung“ höre ich jetzt zum ersten Mal.
– Es tut mir Leid. Ich habe in den vergangenen Tagenmanches zum ersten Mal gehört.Das ist interessant, weil der Begriff nicht „Proletari-sche Union für Terror und Zerstörung“ war. Wer ein biss-chen Südhessisch kann, weiß genau, woher der „Putz“kommt. Wenn Sie dann noch den italienischen Ursprung,nämlich „Casino“, nehmen, dann haben Sie es. Allein„proletarische Union“ ist eine spontiwidrige Vorstellung.
Sie scheinen uns mit der ML zu verwechseln, Frau Kol-legin.Im Übrigen sehe ich da überhaupt keinen Widerspruch.Ich will es einmal zugespitzt sagen: Hätte mein Aufruf„Legt die Waffen nieder, lasst das Bomben sein, nehmt dieSteine wieder in die Hand“ – der nicht nur in meinem Na-men erfolgt ist, aber ich habe ihn gemacht und verant-worte ihn – doch damals Erfolg gehabt! Wäre es damals,1976, so gekommen, dann wäre uns viel mörderischer Irr-sinn erspart geblieben. Dann wären viele, die ermordetwurden, noch am Leben. Deswegen sehe ich in meinerdamaligen Haltung überhaupt keinen Widerspruch.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Bundesminister Joseph Fischer13894
Eine zweite Zusatz-
frage der Kollegin Bonitz.
Gestatten Sie ganz kurz,
dass ich erläutere, wer diesen Namen überhaupt verwandt
hat: Es war Christian Schmidt in seinem Buch „Wir sind
die Wahnsinnigen“. Dieser Begriff ist daneben immer
wieder in Pressepublikationen aufgetreten.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, warum
Sie dieses Thema so aufregt und Sie so viele Zurufe ma-
chen. Wir wollen diesen Fragenkomplex sachlich abar-
beiten.
Meine zweite Frage bezieht sich darauf, dass Sie unter
dem Wort „Hinlangen“ offensichtlich auch das Steine-
werfen verstehen. Den Begriff „Hinlangen“ verwenden
Sie in einer im Grunde genommen banalisierenden Art
und Weise. Im Terroristenprozess vor dem Frankfurter
Landgericht und in verschiedenen Interviews haben Sie
gesagt: „Wir haben auch kräftig hingelangt“. Was heißt
das eigentlich konkret? Was zählen Sie zu diesem „Hin-
langen“? Das Schlagen von Personen, das Treten von Per-
sonen, das Werfen mit Steinen
oder vielleicht auch das Werfen von Brandsätzen? Wo ist
die Grenze dieses Hinlangens? Ist es das Prügeln?
Ich frage das auch in folgendem Zusammenhang: Wel-
ches Maß an Gewalt hielten Sie damals und auch heute in
welchen Situationen für tolerabel?
Ich denke zum Beispiel daran, dass Sie noch in den
90er-Jahren anlässlich von Castor-Transporten Gewalt
nicht abgelehnt haben.
Frau Kollegin Bonitz,
das ist eine ganze Serie von Fragen. Jetzt müssen Sie dem
Herrn Minister die Chance geben zu antworten.
Frau Kollegin Bonitz, ich habe in den 90er-Jahren anläss-
lich von Castor-Transporten nicht zu Gewalt aufgerufen.
Ich erinnere mich sehr gut daran, dass das Gegenteil der
Fall war.
Damit ich nicht missverstanden werde: Wenn ich die
Position des damaligen Joschka Fischer bezogen auf das
Steinewerfen, wozu ich mich bekenne, benannt habe,
dann nicht affirmativ-bestätigend, sondern unter dem
Gesichtspunkt, dass dies falsch war, dass es aus meiner
Sicht eine enorme Gefahr bedeutet, Gerechtigkeit und
Recht, beginnend im Kopf, zu trennen. Ich will mein da-
maliges Vorgehen nicht rechtfertigen. Ich stehe dazu, weil
es meine Geschichte ist, aber nicht in dem Sinne: Das war
toll. – Das war Teil meiner Erfahrungen. Es gab damals
ohne jeden Zweifel auch gewaltfreie Teile, zu denen ich
nicht gehörte.
In meiner Antwort zur ersten dringlichen Frage bin ich
sehr präzise – mir wurde ja soeben vorgeworfen, dass ich
weitschweifig war – auf alle anderen Punkte eingegangen.
Ich habe dargelegt, was ich getan habe und was ich nicht
getan habe. Ich habe mich mit Polizisten geprügelt. Ich
wurde von ihnen verprügelt und dann und wann habe auch
ich einen Polizisten verprügelt. Aber ich habe nie auf am
Boden Liegende getreten. – Wenn anderes behauptet
wird, weise ich dies zurück. Wer mich kennt, weiß, dass
ich das aus guten Gründen zurückweisen kann. – Das soll-
ten Sie akzeptieren.
Das Wort zu einer Zu-
satzfrage erteile ich dem Kollegen Helmut Lippelt.
Herr Minister, stimmen Sie mir darin zu, dass es für eine
so große Fraktion wie die CDU/CSU, die hier sehr stark
vertreten ist und deren Mitglieder die „FAZ“ bekanntlich
sehr gründlich lesen – hinter der „FAZ“ stecken ja kluge
Köpfe –, ein Armutszeugnis ist, dass sie sich mit Ihrem
Verhältnis zur Gewalt beschäftigt, ohne die reichhaltige
Dokumentation, die in der „FAZ“ abgedruckt wurde und
die Ihren grundsätzlichen Artikel von 1976, in dem Sie
sich mit den damaligen Geschehnissen auseinander setz-
ten, enthält – dieser Artikel liegt vor und ist nachlesbar;
Sie haben sich auf ihn bezogen –, zur Kenntnis zu neh-
men?
– Ich frage, ob der Minister Ihr Verhalten nicht auch für
politisch sehr begründet, inhaltlich aber wirklich für ein
Armutszeugnis hält. Es werden 16 Fragen gestellt, ohne
die Dokumente der grundsätzlichen Auseinandersetzung
des Außenministers in seiner Jugend mit dem Problem der
Gewalt zur Kenntnis zu nehmen. Ich meine die Artikel
von 1976 und von 1978.
Herr Minister, Sie ha-
ben das Wort.
Herr Kollege Lippelt, als Beantwortung Ihrer Frage: Ich
begreife dies nicht als einen Prozess der Wahrheitsfin-
dung, sondern als eine völlig legitime politische Ausei-
nandersetzung, und so findet sie auch hier statt.
Herr KollegeHohmann, eine Zusatzfrage.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001 13895
Herr Minister, Sie
haben soeben zugestanden, dass Sie Steine geworfen ha-
ben. Können Sie ausschließen, dass Sie mit Ihren Stein-
würfen Menschen getroffen und verletzt haben?
Nach meinen Erkenntnissen ja.
Sie können also aus-
schließen, dass Sie Menschen bei den Steinwürfen getrof-
fen und verletzt haben?
Mir ist davon nichts bekannt. Es müsste mir bekannt sein,
wenn ich es bejahen sollte.
Warum haben Sie
denn dann die Steine geworfen?
Haben Sie die einfach in die Luft geworfen?
Ich habe die Steine einfach in die Luft geworfen, ja.
Das Wort zu einer
weiteren Zusatzfrage erteile ich Herrn Kollegen Pflüger.
Herr Bundesmi-
nister, ich möchte Sie fragen, wann Sie aufhören wollen,
uns Gewalt gegen Polizisten, das Verprügeln von Polizis-
ten und das Treten nach Polizisten als Gegengewalt gegen
Polizisten, die prügeln, darzustellen.
Ich möchte Sie zweitens fragen: Wo beginnt für Sie ei-
gentlich genau Terrorismus? Wo beginnt für Sie – –
– Dann stelle ich eine Zusatzfrage und warte, bis ich die
nächste stellen kann.
Herr Minister, bitte.
Herr Kollege Pflüger, ich bin permanent in der Situation,
etwas erklären zu sollen, ohne es zu rechtfertigen. Aber
ich muss es erklären, wenn wir über das damalige Verhal-
ten sprechen. Das werden gerade Sie verstehen. Ich
möchte jetzt nicht noch einmal die ganze Situation vor
Ihren Augen entstehen lassen, was es bedeutet, wenn man
selbst einmal Opfer eines Übermaßes an staatlicher Ge-
walt geworden ist.
– Entschuldigung, es mag sein, dass Sie das nie erfahren
haben.
Ich möchte jetzt nicht den ehemaligen Polizeipräsiden-
ten von Frankfurt, Müller, der damals für uns eine – ich
sage es nochmals – Hassfigur war – im Rückblick auch
dies eine Verblendung –, zitieren. Ich könnte jetzt zitieren,
wie er gegenüber AP die damalige Situation dargestellt
hat. Nur geht es mir nicht darum, das zu rechtfertigen. Aus
heutiger Sicht oder schon aus der Sicht nach 1977 war
dies etwas, was wir nicht hätten tun sollen und tun dürfen.
Insofern müssen Sie nicht annehmen, mich an diesem
Punkt mit dem Nachgang von fast 30 Jahren noch auf den
Pfad der Gewaltfreiheit bringen zu müssen. Ich meine,
das hat mein bisheriges politisches Leben klargemacht.
Herr Kollege Pflüger, wenn ich in Kommentaren se-
riöser Blätter lese, dass 1968 und der Frankfurter Häuser-
kampf, bei dem es um den Erhalt des Westends ging, mit
der Noltedebatte oder gar mit dem Nationalsozialismus
vergleichbar seien, muss ich Ihnen allerdings sagen: Hier
scheinen die Proportionen völlig verloren gegangen zu
sein.
Bei allem, was wir falsch gemacht haben, bei allem, wofür
wir Verantwortung zu übernehmen haben, wofür wir uns
zu entschuldigen haben und wovon wir uns zu trennen
hatten, war es doch letztendlich eine Freiheitsrevolte mit
Elementen totalitärer Gewalt.
An diesem Punkt, Herr Kollege Pflüger, bin ich dann an-
derer Meinung. Es hatte totalitäre Elemente, es hatte ge-
walttätige Elemente, zu denen ich persönlich auch zu ste-
hen habe; aber 1968 und das Folgende hat zu mehr
Freiheit und nicht zu weniger Freiheit in diesem Lande
geführt. Das ist meine Haltung bis heute.
Kollege Pflüger, ich
erlaube Ihnen noch eine Zusatzfrage.
Herr Bundesmi-nister, Sie haben eben gesagt, dass Sie sich vom Terroris-mus nicht nur distanziert, sondern ihn immer bekämpfthaben. Ich zweifle gar nicht daran, dass Sie Leute aufge-fordert haben, nicht Terroristen zu werden. Herr KollegeLippelt hat eben von der Dokumentation in der „FAZ“ ge-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 200113896
sprochen. Dort wird folgende Äußerung von JoschkaFischer auf dem Pfingstkongress des SozialistischenBüros aus dem Jahr 1976 zitiert:Gerade weil unsere Solidarität den Genossen imUntergrund gehört, weil wir uns so eng mit ihnenverbunden fühlen, fordern wir sie auf, Schluss zumachen, die Bomben wegzulegen und die Steinewieder aufzunehmen. Aber wir können uns nicht ein-fach von der Stadtguerilla distanzieren, weil wir un-ter demselben Widerspruch leiden.War die Distanzierung vom Terrorismus eine grundsätzli-che oder war sie nicht vielmehr eine taktische,
weil die revolutionäre Situation für den Terrorismus nichtreif gewesen ist?
Kollege Pflüger, ich will hier zu der Frage, ob eine revo-
lutionäre Situation da gewesen ist, eine sehr ernste, nach-
denkliche Antwort versuchen, auch wenn ich weiß, dass
auch das wieder entsprechende Reaktionen mit sich brin-
gen wird: Ja, Teile der neuen Linken damals haben eine
revolutionäre – das heißt auch: eine gewalttätige, eine
nicht demokratische – Politik nicht grundsätzlich ausge-
schlossen. Das war der eigentliche politische Fehler, den
ich mir selbst vorwerfe. Das ist der eigentliche Kern. Als
ich die Schriften etwa von Manès Sperber oder
Solschenizyn Anfang der 70er-Jahre zum ersten Mal in
den Händen hatte, habe ich sie sofort wieder weggelegt
– ab Mitte der 70er-Jahre habe ich sie verschlungen –; das
ist der eigentliche politische Vorwurf, den ich mir selbst
mache, bis heute. Daraus ist das entstanden. Ich bin gerne
bereit, darüber sehr ernsthaft zu diskutieren. Ich sage das
hier in aller Offenheit.
Aber was Sie ansprechen, ist etwas völlig anderes:
Diese Rede ist sehr genau überlegt worden. Es war der
Versuch, Leute daran zu hindern, in den Untergrund zu
gehen, und es war der Versuch, die im Untergrund zu
überzeugen. Dass sie teilweise darüber gelacht haben, ist
das eine; dass andere darüber diskutiert haben, ob man
Cohn-Bendit und Fischer nicht eliminieren muss, habe ich
vor einer Woche erfahren.
– Nein, ich werde nicht zum Opfer. – Gerade in dieser
Antwort habe ich versucht, klar zu machen, wo ich den
Kernfehler sehe: in der Entscheidung – nicht nur meiner,
sondern der politischen Entscheidung –, auf Gewalt zu
setzen unter dem Signum der Revolution, gegen die ent-
stehende Demokratie der Bundesrepublik Deutschland.
Ich stelle mich zu dieser Verantwortung, weil das für mich
bis heute den Kern des Problems ausmacht. Das hat nichts
mit einer Rechtfertigung zu tun.
Das Wort zu einer Zu-
satzfrage erteile ich Kollegin Antje Vollmer.
Herr Minister, da ich – wie auch Sie – finde, dass der, der
zu den 68ern gehörte, auch die Pflicht und die Verantwor-
tung hatte, sich mit Terrorismus und dieser Form der Ge-
walt auseinander zu setzen: Darf ich Sie daran erinnern,
dass es aus unserer Fraktion heraus einen Versuch ge-
geben hat, den Terrorismus zu beenden – der im Übrigen
erfolgreich war –, der darin bestand, den Dialog mit Ter-
roristen zu führen? Auch ich persönlich habe viele Ge-
spräche mit denen geführt und habe für diese Gespräche
auch andere Personen aus unserer Fraktion angeboten. Es
war so, dass den Terroristen zwei Namen am verhasstes-
ten waren, nämlich Dany Cohn-Bendit und Joschka
Fischer, und zwar genau wegen dieser Absage während
der Römerberg-Gespräche. Ist Ihnen das noch in Erinne-
rung?
Mir ist das im Detail in Erinnerung. Ich hätte mir ge-
wünscht, dass ähnlich wie in Italien die Bemühungen,
diesen sinnlosen, mörderischen Terrorismus, den wir
noch zu Beginn unserer parteipolitischen Existenzen als
parlamentarische Fraktion mitbekommen haben, zu be-
enden, früher erfolgreich gewesen wären. Im Übrigen
habe ich dazu aus meiner Sicht schon alles gesagt.
Eine letzte Zusatz-
frage zu dieser Frage, Herr Kollege von Klaeden.
Ich möchte die
Frage der Kollegin Vollmer zum Anlass nehmen, zunächst
einmal festzustellen, dass an meiner Aussage, Sie hätten
dem Terrorismus eine Absage erteilt, wohl so viel nicht
falsch gewesen sein kann, wenn, wie ich gerade gehört
habe, das dazu geführt hat, dass Sie so verhasst gewesen
seien.
Weil die Initiative der Fraktion zur Bekämpfung des
Terrorismus angesprochen worden ist, will ich Sie etwas
fragen: Ihr Freund Daniel Cohn-Bendit hat gestern in n-tv
gesagt, dass er den Terroristen Hans-Joachim Klein bei
seiner Flucht und in seinem Versteck finanziell unterstützt
hat.
Ich frage Sie erstens, ob auch Sie eine solche oder an-
dere Unterstützung geleistet haben, und zweitens: Wuss-
ten Sie, dass Daniel Cohn-Bendit diese Unterstützung leis-
tet, und haben Sie von dem Aufenthaltsort Kleins
gewusst?
Ich habe gestern vor Gericht diesbezüglich – wie IhnenIhre dort anwesende Kollegin sicherlich berichtet hat –klar und eindeutig, ohne danach gefragt worden zu sein,Stellung genommen. Ich will dies aber auch für Sie hiertun: Nein, an mich wurde nicht herangetreten. Insofernhabe ich auch nichts davon gewusst. Allerdings, wäreman an mich herangetreten – diese Frage haben Sie nicht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Dr. Friedbert Pflüger13897
gestellt, ich beantworte sie dennoch –, hätte ich ihm auchgeholfen, aus der Terrorszene auszusteigen.Ich nehme an, Sie wissen, dass Dany Cohn-Bendit inAbsprache mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz al-les versucht hat, Herrn Klein dazu zu bringen, dass er sichstellt. Ihm werden schwerste Taten vorgeworfen. Dafürwird er ein Urteil bekommen, das er akzeptieren muss. Esist aber etwas völlig anderes, sich dann von dem Men-schen zu distanzieren, nicht von dem, was er getan hat,sondern von dem Menschen, der auch nach dem Urteil ei-nen Anspruch auf Achtung seiner Menschlichkeit hat.Dies gilt vor allen Dingen dann, wenn es darum geht, dasser aussteigt.Von der damaligen Situation Ende der 70er-Jahre weißich: Dany Cohn-Bendit wurde teilweise physisch ange-griffen. Der „Pflasterstrand“, den Sie heute zitieren,wurde unter anderem wegen bestimmter Artikel direkt an-gegriffen. Dany Cohn-Bendit – ein politischer Freund,dem ich sehr viel verdanke, weil ich nicht weiß, wo ich,der junge Joschka Fischer, und viele andere in Frankfurtohne ihn gelandet wären – hat weiß Gott unter anderemauch durch das, was er für Hans-Joachim Klein gemachthat, viel dazu beigetragen, diesen mörderischen Irrsinnwirklich zu beenden. Dass er am Ende nicht erfolgreichwar, ist eine Tragödie, die er mit sich selbst herumträgt.
Wir kommen damit
zur Frage 13 des Abgeordneten Volker Kauder:
In welcher konkreten Art und Weise war der Bundesminister
des Auswärtigen und Stellvertreter des Bundeskanzlers, Joseph
Fischer, an der Vorbereitung und Ausführung einer militanten De-
monstration am 10. Mai 1976 in Frankfurt am Main beteiligt, bei
der ein gezielt geworfener Brandsatz den Polizeibeamten J. W. in
seinem Einsatzfahrzeug am Rossmarkt entflammte, und trifft es
zu, dass der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer, sich
am Vorabend dieser „Schlacht“ für den Einsatz von Brandsätzen
ausgesprochen hat ?
Herr Kollege Kauder, nein, ich habe damals weder ein
Strategietreffen geleitet noch hatte ich die von Ihnen un-
terstellte Einstellung.
Zusatzfrage.
Herr Außenminister, ha-
ben Sie an diesem Treffen am 9. Mai 1976, am Vorabend
dieser Großdemonstration, bei der die Molotowcocktails
geflogen sind, teilgenommen, wenn Sie jetzt schon be-
haupten, Sie hätten die Sitzung nicht geleitet?
Aus meiner Erinnerung habe ich daran teilgenommen.
Aber ich habe eine völlig andere Erinnerung an dieses
Treffen, als das, was 1998 dargestellt wurde. Insofern
muss ich das entschieden zurückweisen.
Eine zweite Zusatz-
frage.
Ich habe nicht behaup-
tet, dass Sie dabei waren. Ich habe auch nichts zum Inhalt
gesagt.
Ich habe Sie in meiner Zusatzfrage nur gefragt, ob Sie an
diesem Treffen teilgenommen haben,
in dem nach Auskünften von Teilnehmern über den Ein-
satz von Molotowcocktails gesprochen wurde.
Aber nun zu meiner zweiten Zusatzfrage: Herr Außen-
minister, ist es richtig, dass in den 90er-Jahren in der Frak-
tion Bündnis 90/Grüne eine Gewaltdebatte im Zusam-
menhang mit Castortransporten geführt worden ist und
dass Sie sich zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich auch für
den Einsatz von Gewalt in der Demokratie ausgesprochen
haben?
Herr Kollege Kauder, man bekommt ja einiges mit. Wirsind eine offene Gesellschaft, ein offenes Parlament undoffene Fraktionen. Dass sich die Informantin nicht traut,diese Frage im Angesicht ihrer ehemaligen Fraktions-kollegen selbst zu stellen, sondern Sie vorschickt, findeich traurig.
Zur Sache kann ich Ihnen nur sagen, dass ich es von derpolitischen Haltung her erbärmlich finde. Die Grünen ha-ben der CDU/CSU keine Rechenschaft abzulegen.
Ich muss Ihnen sagen, dass ich mich wirklich sehrzurückhalten muss.
Meine Damen und Herren von der Union, wir reden nichtüber das, was ich mir aus meiner Vergangenheit in den70er-Jahren zu Recht vorhalten lassen muss, sondern wirreden ganz offensichtlich über eine Information einer ehe-maligen Kollegin, die Ihnen zugespielt wurde. Diese In-formation ist schlicht falsch. Die Kollegin hat wohl nichtden Mut, selbst zu fragen.Sie verdächtigen meine Fraktion, dass wir uns damals,als ich noch Fraktionsvorsitzender war, für Gewalt einge-setzt haben. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Das gilt we-der für mich noch für meine Fraktion. Es ist erbärmlich,
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Bundesminister Joseph Fischer13898
was Sie hier machen, Herr Kollege Kauder. Das ist dochdas Allerletzte!
Kollege Kauder, nach
der Geschäftsordnung hat jeder Fragesteller zwei Zusatz-
fragen, die Sie schon verbraucht haben.
Herr Präsident – –
Herr Kauder, schil-
dern Sie uns ganz kurz, warum Sie noch eine dritte Frage
haben wollen.
Ich wollte nur sagen:
Die Art und Weise, wie der Herr Außenminister versucht,
nicht auf Fragen einzugehen, ist unerträglich.
Kollege Kauder, was
Sie gemacht haben, ist außerhalb der Geschäftsordnung.
Sie können in einer politischen Debatte jeden Kommen-
tar abgeben, aber in der Fragestunde muss man sich an das
Frage-und-Antwort-Spiel halten. Das heißt, der Antwor-
tende hat das Recht, so zu antworten, wie er es für richtig
hält. Sie können kommentieren, wo immer Sie wollen,
aber nicht in einer neuen Frage.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Bonitz.
Herr Minister, aus der Er-
regung bei Ihrer Antwort schließe ich, dass Sie fürchten,
Ihnen könnte heute ein immer noch nicht ganz differen-
ziertes Verhältnis zur Gewalt unterstellt werden, wie es in
Ihrem Amt erforderlich ist.
Um dies zu verdeutlichen, werde ich dazu eine kon-
krete Frage stellen, die sich auf die jüngste Zeit bezieht.
Es geht nicht nur um Vorgänge von vor 25 oder 30 Jahren.
Ist es zutreffend, wie in der „Welt am Sonntag“ vom
vergangenen Wochenende zu lesen war, dass Sie noch
1998, und zwar in einem Interview am 4. März 1998, Fol-
gendes gesagt haben:
Ich war nie gewaltfrei. Ich bin es heute noch nicht in
meinen Überzeugungen. Ich war nie gewaltfrei und
in dieser Zeit schon gar nicht.
Haben Sie dies so gesagt?
Als Nächstes kommt sicherlich die Frage: Schlagen Sie
Ihre Frau?
Ich muss Ihnen sagen: Meine Position habe ich mehr
als sehr klar erläutert. Ich habe gesagt: Für mich ist auf-
grund meiner Erfahrung Gewalt verabscheuungswürdig.
– Gewalt im Allgemeinen. Die Differenzierung zwischen
Sachen oder Personen ist mit mir nicht zu machen. Ich bin
gegen Gewalt.
– Ich komme gleich auf 1998 zu sprechen.
Ich bin aufgrund meiner Erfahrungen ein überzeugter
Anhänger des staatlichen Gewaltmonopols geworden,
weil ich erlebt habe, wohin nicht staatliche Gewalt führen
kann und was es bei der eigenen Person bewirken kann.
Ich komme jetzt auf das Jahr 1998 zu sprechen. Wenn
nichts mehr hilft, kann ich allerdings Gewalt als allerletz-
tes Mittel nicht ausschließen; denn sonst hätte ich doch
zurücktreten müssen,
bevor der Kosovo-Einsatz – –
– Ja, ich habe mich auf die Staatsgewalt bezogen. Sie kön-
nen mir vieles unterstellen, aber doch nicht, dass ich 1998
gesagt habe: Eigentlich bin ich dafür, dass man ordentlich
draufhauen sollte, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Das
mag bei der CDU/CSU die Sicht von Fischer sein. Aber
das ist doch grotesk und das wissen Sie ganz genau.
Gerade bei Frau Merkel wundert mich das: Wir haben
am 9. November doch zusammen demonstriert, wo es
sehr eng wurde.
– Nicht gehauen, sondern ganz im Gegenteil: aneinander
gehangen!
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Hohmann.
Herr Minister, Sie ha-ben eben gesagt, dass Sie an dem bewussten Treffen am9. Mai,
bei dem es darum ging, ob Brandflaschen eingesetzt wer-den sollten oder nicht, zumindest dabei gewesen sind. Ichmöchte konkret fragen: Haben Sie jemals Brandflaschenhergestellt oder waren Sie an der Herstellung von Brand-flaschen beteiligt?
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Bundesminister Joseph Fischer13899
Ich verweise auf meine Antwort zu Frage 1. Ich habe das
klar und definitiv verneint.
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Wilhelm.
Herr
Minister, Christian Schmidt hat in seinem Buch zu der
Frage Ihres Einsatzes an diesem Abend eine andere Dar-
stellung als Sie gegeben. Er hat ausgeführt, dass Sie ve-
hement für die – wie er formuliert – „Wunderwaffe“ plä-
diert hätten. Nur einer kann Recht haben: er oder Sie.
Wenn er Unrecht hat, warum sind Sie dann gegen die
Behauptungen in seinem Buch nicht gerichtlich vorge-
gangen? Beabsichtigen Sie, vor dem Hintergrund der ak-
tuellen Diskussion dies noch zu tun?
Ich bin auch nicht gerichtlich gegen die Behauptungen der
hessischen CDU und anderer, ich wäre der Karry-Mörder,
vorgegangen. Andere behaupten, ich wäre ein Polizeispit-
zel gewesen. Die Tatsache, dass ich nicht dem Haftrichter
vorgeführt wurde, wird ja mitnichten als entlastend inter-
pretiert. Es wurde gefragt: Warum wurde der nicht dem
Haftrichter vorgeführt? Eine Antwort könnte sein, dass
nichts Gewichtiges gegen mich vorlag. Der damals ver-
antwortliche Polizeipräsident hat dies vor zwei Tagen ge-
nau so gesagt. Es wird behauptet, es fehlten Akten beim
Staatsschutz, und dabei wird sofort unterstellt, Fischers
langer Arm hätte die Akten verschwinden lassen. Es wird
behauptet, ich wäre ein Polizeispitzel gewesen, weil ich
beim Staatsschutz in die Mangel genommen wurde und
dann ausgepackt hätte. Deswegen seien auch die Akten
verschwunden. Ich habe das zum ersten Mal gehört und
werde auch dagegen nicht vorgehen.
Heute habe ich auf dem Wege hierher einen Anruf be-
kommen, in dem mir mitgeteilt wurde, dass behauptet
wird, westliche Geheimdienste hätten noch Akten über
mich, nach denen ich mit ihnen kooperiert hätte. Die
nächste Stufe werden östliche Geheimdienste sein.
Gegen all das werde ich nicht vorgehen, weil das Spiel
völlig klar ist: Es werden Behauptungen aufgestellt, die
sich auf Erinnerungen gründen. Herr Schmidt hat solche
Behauptungen 1998 – also 22 Jahre nach den Vorfällen –
zum ersten Mal formuliert. Es werden Behauptungen aus
dem Gedächtnis aufgestellt und wir erleben doch gegen-
wärtig im Zusammenhang mit Herrn Schäuble und Frau
Baumeister, was Behauptungen aus dem Gedächtnis be-
wirken.
Soweit ich es mitbekomme, ist es doch in der hessi-
schen CDU schwierig, sich an die vergangenen Wochen
oder Monate zu erinnern.
Tun Sie doch nicht so, als ob das bei Ihnen eine Chorkna-
ben- oder Chormädchenveranstaltung wäre. Wenn ich mir
in diesem Zusammenhang die Gedächtnislücken bzw. Ge-
dächtnisleistungen ansehe, muss ich Ihnen sagen: Ich
habe Ihnen hier klipp und klar Antwort gegeben. Im Übri-
gen können Sie im „Spiegel“ schon wieder eine andere
Version lesen.
Jetzt werden Sie mich gleich wieder fragen: Haben Sie
gesagt: „Sei es drum“? Ich werde also 25 Jahre danach ge-
fragt, ob ich „Sei es drum“ gesagt hätte. Herr Wilhelm:
Was haben Sie vor 5 Jahren auf einer CDU-Kreisver-
sammlung gesagt? Es wird behauptet, ich hätte die Ver-
sammlung geleitet. Die meisten Sponti-Versammlungen
wurden überhaupt nicht geleitet.
Es gibt über mich einen Artikel, den Sie gerne nachlesen
können. Darin wird ausgeführt, dass ich, als ich 1983 zum
ersten Mal in den Bundestag gewählt wurde, über das for-
melle Sitzungsgebaren kulturell schockiert war, weil ich
das überhaupt nicht gewöhnt war. Es wird weitergehen
und plötzlich behauptet werden: „Herr Carlos: Cohn-
Bendit und Fischer waren unser Waffendepot.“ Was wird
der nächste Vorwurf sein?
Das Wort zu einer Zu-
satzfrage erteile ich der Kollegin Vollmer.
Herr Minister, Sie haben mir schon teilweise das Stich-
wort geliefert. Im Hinblick auf das besagte Treffen am
9. Mai möchte ich Sie fragen: Könnte es schlichtweg sein,
dass die Kollegen von der CDU/CSU – das kann man mi-
lieu- und altersmäßig sehr gut verstehen – einfach keine
Ahnung haben, wie ein Sponti-Treffen aussah,
dass sie sich ein Sponti-Treffen ungefähr wie eine Partei-
versammlung mit Vorsitz, Tagesordnung, Wortführern
und Beschlussfassung am Ende vorstellen?
Herr Minister.
Frau Kollegin Vollmer, Sie haben ja weiß Gott erlebt, wel-che Schwierigkeiten ich in der Anfangsphase der Grünenmit dem formellen Sitzungsgebaren, der Geschäftsord-nung, den Geschäftsordnungsanträgen, der Sitzungslei-tung und Ähnlichem hatte.
– Ja, auch das hat sich geändert. – Sie haben Recht: Mitsolchen Dingen habe ich generell ein Problem. Das gebeich ganz offen zu.Politisch und intentional ist der Sinn der Fragen nachmeiner Vergangenheit klar. Das habe ich nicht zu kritisie-
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ren. Aber man kann die damalige Situation nicht wirklichbewerten, wenn man sie nicht konkret kennt.
– Darum geht es doch gar nicht. Ich habe hier nun weißGott klargemacht, ab wann es in meiner Position zur Ge-walt einen Bruch gab, ich mich von der Gewalt distanzierthabe. Wie oft soll ich es noch wiederholen?
Zu einer Zusatzfrage
erteile ich dem Kollegen Siemann das Wort.
Herr Minister, Sie ha-
ben eingeräumt, militant gewesen zu sein und sich straf-
rechtlich relevant verhalten zu haben. Sie haben sich dafür
entschuldigt und erwecken hier den Eindruck, dass es da-
mit für Sie erledigt sei. Billigen Sie die gleichen Entlas-
tungs- und Bagatellisierungsmöglichkeiten den Tätern zu,
die sich, links- und rechtsextremistisch motiviert, heute
genauso verhalten wie Sie damals?
Ich muss zurückweisen, dass ich hier irgendetwas baga-
tellisiert habe. Das muss ich klar sagen.
Ich habe – Sie haben das angesprochen – es immer für
verachtenswert gefunden – ich finde das bis heute so –,
Schwächere zu schlagen und zu treten. Wir haben uns da-
mals nicht gegen die Bewohnerinnen und Bewohner, die
teilweise auf übelste Art und Weise malträtiert und trak-
tiert wurden, gewandt. Wir haben damals versucht, Fami-
lien von so genannten Gastarbeitern und Arbeitsemi-
granten zu beschützen.
– Oh ja! Das kann ich Ihnen sagen: zum Beispiel vor
Trupps, die versuchten, Häuser auf illegale Art und Weise
mieterfrei zu bekommen, weil sie im Sanierungsgebiet la-
gen und abgerissen werden sollten. Das rechtfertigt
nicht – ich sage das ausdrücklich, damit ich gleich nicht
wieder missverstanden werde – den Schritt zur Gewalt.
Aber Sie müssen den Unterschied zwischen heute und da-
mals sehen. Darauf lege ich sehr großen Wert.
Ich erteile der Kolle-
gin Buntenbach das Wort zur letzten Zusatzfrage zu die-
ser Frage.
riges Zeugnis von mangelnder Auseinandersetzung mit
der neueren und neuesten Geschichte und der politischen
Kultur, wenn man sich wie die CDU/CSU so sehr in lieb
gewonnene Ideologien verbissen hat, dass man trotz all
der erschreckenden Bilder von rassistischer und rechtex-
tremer Gewalt den Rechtsextremismus mit dem Linksex-
tremismus gleichsetzt und jetzt die Lücke, die mangels
aktueller Bilder von linksextremer Gewalt entstanden ist,
mit einem historischen Rückgriff füllt, weil einem alte
und falsche Ideologien wichtiger sind als die gesell-
schaftliche Realität, und teilen Sie die Auffassung, dass
eine solche Gleichsetzung nicht nur sachlich völlig ver-
fehlt ist, sondern allzu oft auch dem Zweck dient, sich aus
der Verantwortung für die Bekämpfung des Rechtsextre-
mismus zu stehlen?
Frau Kollegin Buntenbach, was den Zwischenruf „LinkerMord ist besser als rechter Mord“ betrifft, so sehe ich imwiedervereinigten Deutschland einen Riesenfortschritt.Dieser besteht darin, dass das – hoffentlich – in unsererGeschichte, und zwar hauptsächlich die Linken und nichtdie Rechten betreffend, nie wieder eine Rolle spielt. Ichdenke, das ist einer der ganz großen Fortschritte. Dazuhaben namhafte Christdemokraten – ich darf an Richardvon Weizsäcker mit seiner Rede 1985, aber auch anHelmut Kohl mit seiner Europapolitik und andere er-innern – wesentlich beigetragen.
Ich möchte an Sie appellieren, dass wir das Denken„Linker Mord ist besser als rechter Mord“ oder „RechterMord ist besser als linker Mord“
– lassen Sie mich das einmal erläutern – lassen.
Ich will Ihnen auch an dieser Stelle noch einmal sagen:Das, was Linke in den 70er-Jahren getan haben, nämlichMenschen zu Schweinen zu erklären und zu meinen, sieermorden zu dürfen, und dieses als revolutionäre Tat zufeiern, ist das Schlimmste, was sich die Linke, die damalszur Gewalt gegriffen hat, die terroristische Linke, vorzu-werfen hat. Ich verabscheue dies.
Aber genauso sollten wir das auch für rechts gelten lassen.
Wenn ich eine Konsequenz zu ziehen habe, dann ist esfolgende – ich sage das nochmals –: Ich werde in be-stimmten Situationen – nicht in rechtsstaatlichen Situa-tionen, aber dort, wo Menschen unterdrückt werden undwo sie keine andere Alternative haben, als sich spontan zuwehren – immer auf der Seite der Unterdrückten stehen,die sich wehren. Ich habe dies schon gemeinsam mitCDU- und CSU-Abgeordneten erlebt: Als damals der
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Bundesminister Joseph Fischer13901
Putsch in Moskau war, waren wir im Landtag gemeinsamfroh, als die Putschisten gewaltsam niedergeschlagenwurden und Jelzin auf dem Panzer schließlich gesiegt hat.Aber jenseits der Fälle, in denen Gewalt als letztes Mit-tel für Freiheit und Leben eingesetzt wird, ist sie kein Mit-tel der Politik. Ich bitte Sie, dabei nicht wieder zwischenlinks und rechts zu unterscheiden; vielmehr muss dieKonsequenz sein, dass dies ausgeschlossen ist
und dass diejenigen, die die Mehrheit haben – ob es dieLinken oder die Rechten sind –, nie wieder so die Ohrenverschließen sollten, wie das unter anderem Ende der60er-Jahre historisch bedingt gegenüber der jüngeren Ge-neration der Fall war. Auch das sollte man nicht tun.
Wir kommen damit
zur Frage 14 des Kollegen Kauder:
Wenn nein, hatte der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph
Fischer, positive Kenntnis – zum Beispiel durch seine Leitung des
„Strategietreffens“ am Vorabend der Demonstration –, dass andere
Teilnehmer im Vorfeld Brandsätze hergestellt und zum gezielten
Werfen auf Polizeibeamte aufgerufen haben?
Bitte sehr, Herr Minister.
Herr Abgeordneter Kauder, die Frage bezieht sich im
Grunde genommen auf all das, was hier über Spontitref-
fen schon gesagt worden ist. Ich habe damals weder ein
Strategietreffen geleitet noch hatte ich die von Ihnen un-
terstellten Erkenntnisse.
Gibt es dazu
Zusatzfragen? – Kollegin Lengsfeld, bitte.
Herr Minister, möchten
Sie erstens bitte zur Kenntnis nehmen, dass die Frage, die
der Kollege Kauder vorhin gestellt hat, nicht mit mir
abgestimmt war und dass ich auch nicht dahinter stand?
Herr Minister, möchten Sie als Zweites zur Kenntnis
nehmen,
dass ich mich, weil Sie bei meinem Parteiübertritt von den
Grünen zur CDU sehr fair gewesen sind, was man nicht
von allen Kollegen aus der grünen Partei, besonders den
Thüringern, sagen kann, nicht in der Öffentlichkeit gegen
Sie äußern wollte?
Ich möchte aber über den Sachverhalt sprechen, den
ich in einer Fraktionsvorstandssitzung mitgeteilt hatte.
War es nicht so, dass in einer Diskussion der grünen Bun-
destagsfraktion anlässlich der Blockade der Castor-
transporte von mir und anderen Kollegen aus der Fraktion
gefordert wurde, dass sich die grüne Fraktion von den ge-
waltsamen Vorgängen während des Castortransports dis-
tanziert, und war es nicht so, dass Sie als Fraktionsvorsit-
zender damals verhindert haben, dass dieser Antrag oder
diese Bitte der Fraktionskollegen von der Fraktion über-
nommen worden ist?
Gar nicht „Hört! Hört!“ – es war nicht so!
– Nicht „lebhafte Änderungen“. – Ich sage Ihnen, Frau
Kollegin Lengsfeld: Es war nicht so! Im Gegenteil, Sie
werden öffentliche Äußerungen von mir in der damaligen
Situation finden, die definitiv und klar besagen: friedli-
cher Protest – ja! Verkehrsblockaden, Transportgefähr-
dungen etc. – nein! Das können Sie nachlesen.
– Sicherlich können Sie das nachlesen.
Frau Kollegin Lengsfeld, ich muss ganz ehrlich sagen
– seien Sie mir nicht böse –: Ich habe von dem, was ich
vorhin gesagt habe, wirklich gar nichts wegzulassen. Ich
bin heute um eine menschliche Enttäuschung reicher ge-
worden. Das muss ich Ihnen sagen.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, mir ist mitgeteilt worden, dass die weiteren
Fragen zu diesem Themenkomplex nicht und die Fragen
zu den übrigen Geschäftsbereichen schriftlich beant-
wortet werden sollen.1)
Gemäß Nr. 1 b der Richtlinien in Anlage 5 unserer Ge-
schäftsordnung hat die Fraktion der CDU/CSU eine Ak-
tuelle Stunde beantragt.
Ich rufe auf:
Aktuelle Stunde
Ich erteile als Erstem dem Kollegen Bosbach,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr BundesministerFischer, um es gleich auf den Punkt zu bringen: Sie warenin den Jahren und Jahrzehnten, über die wir heutesprechen, nicht Opfer, sondern Täter.
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Bundesminister Joseph Fischer13902
1) Nicht beantwortet bzw. zurückgezogen: Fragen 6, 12, 15 bis 25, 33,36 und 37.Sie mussten sich nicht gegen eine brutale, repressiveStaatsmacht zur Wehr setzen. Sie wollten diesen Staat– die parlamentarische Demokratie und die freiheitlichsteVerfassung, die wir jemals hatten – angreifen. Sie wolltenunschuldige Menschen angreifen.
Sie haben angegriffen und sich nicht, wie Sie hier glaubenmachen wollen, verteidigt. Sie haben in einer Antwortheute lapidar gesagt, Sie hätten Steine motivlos in die Luftgeworfen. Das ist nicht lustig.
Frau Kollegin Vollmer, bei allem Respekt vor IhremAmt und Ihrer persönlichen Leistung: Wenn Sie hier ineiner persönlichen Bewertung ein Spontitreffen vom9. Mai 1976 als eine Art Karnevalsveranstaltung
mit politischem Touch charakterisieren – wohl wissend,dass am nächsten Tag ein Polizeibeamter fast zu Tode ge-kommen ist –, dann ist das in jeder Hinsicht inakzeptabel.
Ihre Vergangenheit, Herr Minister, ist heute einmalmehr nicht zuletzt deshalb Thema, weil Sie Ihre – imwahrsten Sinne des Wortes – fragwürdige Vergangenheitnicht einfach wie eine alte Jeans oder einen Motorradhelmentsorgen können. Auch mit staatsmännischer Attitüdekönnen Sie Ihre Vergangenheit und Ihre heutige Haltungzu Ihrem damaligen Treiben nicht vergessen machen. Siewollen sich mit dem Hinweis rechtfertigen, Sie stünden zuIhren Taten, sie seien schließlich Bestandteil Ihrer Bio-grafie. – Die Tat eines jeden Täters ist Bestandteil seinerBiografie! Was soll sie anderes sein?
Sie haben bis zur Stunde ohnehin nur das zugegeben,was man Ihnen längst nachgewiesen hat und was Sieernsthaft nicht bestreiten können.
Ihre Rechtfertigungsversuche machen die Sache nichtbesser, eher schlimmer.
Ihre Verteidiger sagen: Es handelt sich um Jugendsünden.Wollen Sie ernsthaft den Angriff eines 25-Jährigen auf ei-nen Polizeibeamten mit der Schwarzfahrt eines 15-Jähri-gen vergleichen? Es ist doch albern, überhaupt eine sol-che Erklärung abzugeben!
Originalzitat unseres Außenministers:Ich habe nie bestritten, dass ich fast zehn Jahre langauch unter Einsatz von Gewalt die verfassungs-mäßige Ordnung in der Bundesrepublik umstürzenwollte. ... Wir haben uns nicht an die Regeln desStrafgesetzbuches gehalten.Wie sollen die Menschen folgenden Satz aus Ihrem„Stern“-Interview verstehen?Zuerst wurde man geschlagen, dann hat man sichgewehrt und zurückgeschlagen. Dann begann auchdie Faszination revolutionärer Gewalt.Wollen Sie den Menschen ernsthaft einreden,
Sie seien selber völlig schuldlos von Polizeibeamtengrundlos niedergeknüppelt worden und hätten sich dannzehn Jahre lang in einer Art Notwehrsituation gegen die-sen Staat verteidigen müssen?Ihre Argumentation passt zu Ihrer neuen Hoffnungsträ-gerin Claudia Roth – dieses Zitat muss man sich auf derZunge zergehen lassen –, die in N-TV Folgendes gesagthat:Der Staat hat damals Fehler gemacht, war hochgerüstet, es gab systematische Entrechtung, Berufs-verbote, viel Hysterie.
Vielleicht hätte es keine RAF gegeben und UlrikeMeinhof wäre Familienministerin geworden, wennder Staat anders reagiert hätte.
Im Klartext: Nicht Herr Fischer oder die RAF-Terroris-ten tragen Schuld, sondern der angeblich hoch gerüsteteStaat. Schuld am Terror waren nicht die Terroristen,schuld am Terror war der Staat.
Schuld waren nicht die Täter, schuld waren die Umstände.Wie oft haben wir das schon von anderen gehört!
Wo bleibt eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen,die flächendeckende Empörung bei der SPD angesichtsdieser Geschichtsfälschung? Gemeint ist doch der Staatvon Helmut Schmidt und Willy Brandt.
Alle Attacken, die hier gefahren werden, richten sich imKern gegen die damalige Bundesregierung. Willy Brandthatte seinerzeit gesagt: „Wir wollen mehr Demokratie wa-gen.“
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Wolfgang Bosbach13903
Kollege Bosbach, Sie
haben Ihre Redezeit überschritten.
Ich komme gleich
zum Schluss.
Wenn Frau Künast sagt, Joschka Fischer repräsentiere
das Schicksal einer ganzen Generation, dann zeigt dies
das Ausmaß der Verblendung und Anmaßung und es ist
eine Beleidigung dieser Generation.
Ich erteile dem Kolle-
gen Peter Struck, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Die Beiträge, die ich
eben in der Fragestunde von den Kolleginnen und Kolle-
gen aus der Unionsfraktion gehört habe, lassen mich zu
dem Ergebnis kommen: Ihnen geht es nicht um die Sache,
sondern Ihnen geht es darum, einen Menschen wegen
seiner politischen Vergangenheit zu vernichten, ihn poli-
tisch zu beschädigen.
Ich sage Ihnen klipp und klar: Wir lassen das nicht zu. Der
Außenminister der Bundesrepublik Deutschland hat die
volle Solidarität der SPD-Bundestagsfraktion.
Sie wollen nur davon ablenken, dass Sie keine inhalt-
lichen Alternativen zu unserer Politik haben, und deshalb
versuchen Sie es über die Person.
Was Sie machen, ist unanständig.
Es wird jemand aus der Fraktion als Prozessbeobachter
geschickt, um aufzupassen, was der Zeuge sagt. Offenbar
ist Ihre ganze Fraktion verpflichtet worden, ein Buch von
jemandem zu kaufen, der Joschka Fischers Vergangenheit
diskriminieren will. Was ist das denn für eine Art und
Weise der politischen Auseinandersetzung? Das hat doch
mit Seriosität nichts mehr zu tun!
Viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hal-
ten den Weg, den Joschka Fischer gegangen ist, nicht für
richtig.
– Ich habe es nicht für richtig gehalten – viele meiner
Parteifreundinnen und Parteifreunde auch nicht –, mit Ge-
walt gegen Menschen oder Sachen diesen Staat bekämp-
fen zu wollen.
Das, was Joschka Fischer und seine politischen
Freunde damals aus ihrer politischen Situation heraus ge-
macht und zu verantworten haben, war eine Folge ihrer al-
leinigen Entscheidung. Wenn der Außenminister der Bun-
desrepublik Deutschland heute sagt, dass er diese
Entscheidung bedauert, und sich für das, was er getan hat,
entschuldigt,
dann sollten Sie so viel Anstand haben, das anzuerkennen,
und ihm daraus nicht einen Strick drehen.
Jeder hat seine Vergangenheit und jeder hat Brüche in
seiner Vergangenheit. Kollege Merz hat ja auch von sei-
ner eigenen Vergangenheit gesprochen. Da gibt es offen-
bar ebenfalls einige Brüche.
Er hat sich mit tapferen Taten als Motorradfahrer gebrüs-
tet und so weiter – darüber will ich gar nicht reden. Ich
finde nur: Sie sollten sich nicht zum Handlanger von Pres-
sekonzernen machen, die versuchen wollen, diese Regie-
rung auf so unanständige Weise aus dem Amt zu bringen.
Das wird Ihnen nicht gelingen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Ich kann mich über manchesGelächter bei dieser Debatte nur sehr wundern. Es gibtbestimmte Grundsätze, die wir nicht bereit sind, irgend-einem Amüsierbetrieb preiszugeben.
Um gleich darauf zu sprechen zu kommen: Egal, ob imZusammenhang oder aus dem Zusammenhang – HerrBundesaußenminister, ich beziehe mich auf Ihre Rück-frage zum Kollegen von Klaeden, man möge Ihnen den
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Zusammenhang darstellen und Sie seien bereit, den ge-samten Artikel im „Pflasterstrand“ nachzulesen –; auchein Zusammenhang legitimiert nicht den Gedankengang,nach der Ermordung von Ponto, Buback und Schleyer zusagen: Bei den drei hohen Herren mag bei mir keinerechte Trauer aufkommen.
Ich sage das ganz offen. Das rechtfertigt kein Zusammen-hang; dafür gibt es keinen Grund. Ein Demokrat darf nichteinmal in die Nähe eines solchen Gedankenganges kom-men.
Zum zweiten Sachverhalt. Ihre Entschuldigungen sindin so manche Koketterie mit Ihrer Biografie eingestreut.
Es handelt sich nicht um Jugendsünden. Der Mann war inder zweiten Hälfte seiner 20er-Jahre; er war voll ge-schäftsfähig.
Das war kein 15- oder 16-Jähriger. Wie nett ist es, dass erhier zugibt, er habe niemals auf einen am Boden liegen-den Polizisten eingeprügelt! Das sagt mir gar nichts. MitGewalt auf einen Polizisten so einzuschlagen, wie es dasBild zeigt – er steht mit der Mehrheit einem Einzelnen ge-genüber –, ist unakzeptabel. Darüber muss man nicht wei-ter reden.
Herr Kollege Fischer, Sie sind ja nicht jemand, der ei-nen politischen Gegner je mit Glacéhandschuhen ange-fasst hätte. Deshalb darf ich mir schon erlauben, einigesdeutlich zu sagen. Ich weiß, was Sie gegenüber Kollegengesagt haben, die in Untersuchungsausschüssen sagten,sie könnten sich nicht mehr so erinnern.
Sie sind mit massivem öffentlichem Getöse auf diese ein-gestiegen. Deshalb darf ich Ihnen heute sagen: Ich res-pektiere Ihre Erinnerungslücken nur sehr begrenzt; dennsie treten an ganz entscheidenden Stellen auf, die für Siewichtig sind.
Denn wenn diese nicht da wären und Sie sich erinnernkönnten, müssten Sie das hier debattieren und Sie hättenkeine Gelegenheit, eine feinsinnige Unterscheidung zwi-schen Gewalt und Gewalt zu machen. Sagen Sie ja nicht– ich will Ihnen auf die Sprünge helfen –, das sei irgend-wann beendet gewesen. Ich habe hier eine Meldung derAssociated Press, die bestätigt, was ich mit „kokettieren“meine. Sie sind dabei nicht klar zu fassen, aber ich tragesie hier trotzdem vor. 1997 sagte Ihre Kollegin KerstinMüller zu den Castortransporten, sie werde sich an Aktio-nen in Gorleben wohl beteiligen. Daraufhin sagten Sie, essei noch offen, ob Sie dorthin reisten oder ob Sie in Frank-furt Bahnschienen blockieren würden. Das ist diese Fein-sinnigkeit, die unakzeptabel ist. Sie ist eine Koketterie mitVerletzung des Rechts.
Den Sozialdemokraten sage ich: So einfach entkom-men Sie nicht!
Ihr Bundeskanzler Helmut Schmidt hat sehr genau ge-wusst, was er 1975 im Deutschen Bundestag gesagt hat.
Damals ging es um diese ganzen feinsinnigen Kreise, diesich zum Teil mit dem Terror nicht identifizierten, sonderngegen ihn kämpften, indem sie sagten: Schmeißt keineMolotowcocktails, werft lieber Steine! So möchte ich daseinmal vereinfachend darstellen.
Helmut Schmidt hat noch klar gewusst, wo Grenzen zuziehen sind. Er hat erklärt:Dies muss auch denjenigen gesagt werden, die es jaauch gibt – es sind nicht ganz so viele Menschen inunserem Lande –, die immer noch glauben, dass dieTerroristen eigentlich einen politischen Anspruch er-heben könnten. Dass sie nur leider die falschen Mit-tel wählten. Es muss Schluss sein mit solcher Art vonversteckter Sympathie. Wer da liebäugelt, macht sichmitschuldig.Ich habe dem gar nichts hinzuzufügen.
Wenn wir über Zeitumstände reden, dann über die da-maligen Zeitumstände. Es handelte sich um den einzigar-tigen Versuch, die Freiheit im Namen der Freiheit groß-flächig zu bekämpfen, diesen Staat in einen anderen Staatzu verwandeln. Wer dabei in diesem Abschnitt seines Le-bens Gewalt angewandt hat, der darf damit heute nichtnoch kokettieren, kleinere Entschuldigungen streuen unduns größere Erinnerungslücken auftischen. Das ist nichtakzeptabel, meine Damen und Herren.
Kollege Gerhardt,
Ihre Redezeit ist überschritten.
Es genügt auch völ-lig, was ich hier vorgetragen habe.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Dr. Wolfgang Gerhardt13905
Mir geht es nicht um eine kleinkarierte Kritik,
mir geht es darum, nicht zuzulassen, dass sich der Bun-desaußenminister heute, anders gekleidet, seiner eigenenBiografie mit Koketterie entledigt. In dieser Biografiesteckt ein Stück Überschreiten jeglicher Grenzen einesdemokratischen Rechtstaates. Das muss hier offen be-sprochen werden.
Ich erteile dem Kolle-
gen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich
während der Fragestunde, ihres frühzeitigen Abbruchs
und des Übergangs in die Aktuelle Stunde gefragt, um was
es Ihnen eigentlich geht.
Wenn Sie die Antworten des Außenministers in den letz-
ten zwei Wochen in den Printmedien, im Fernsehen, ges-
tern im Zeugenstand und heute hier nicht zur Kenntnis
nehmen wollen, dann kann ich nur feststellen: Es geht Ih-
nen offensichtlich nur noch darum, ein verlorenes Feind-
bild neu aufleben zu lassen, weil Sie keines mehr haben.
Es geht nicht nur um den Außenminister Fischer, sondern
es geht darum,
dass Sie einer ganzen politischen Generation den Prozess
machen und sie auf die Anklagebank setzen wollen.
Es handelt sich um eine Generation, die den Staat in sei-
ner damaligen Verfasstheit zugegebenermaßen mit Ge-
walt bekämpfen wollte. Man sprach damals von der for-
malen Demokratie. Es ist richtig: Gewaltanwendung war
weit verbreitet, nicht nur unmittelbare Gewaltanwendung.
Gewalt ist tausendfach von vielen von uns auch öffentlich
gerechtfertigt worden. Das war so und das war falsch.
Die Gewalt ist uns aber nicht in die Wiege gelegt wor-
den und uns nicht in unseren Elternhäusern anerzogen
worden und ist nicht in der Schule gelehrt worden. An die-
sem Punkt blenden Sie einen gesamten Part der Ge-
schichte vollständig aus. Sie tun so, Herr Gerhardt, als ob
wir schon damals ein liberales, ein weltoffenes, ein tole-
rantes Land gewesen seien. Das war mitnichten so.
– War es liberal, war es tolerant, wenn ein Senatsrat Prill
gesagt hat: „Die Demonstranten sollen nur kommen, dann
kriegen sie eins mit dem Knüppel auf den Kopf; das ist ein
gutes Übungsfeld für unsere Polizeibeamten.“?
An diesem Punkt verstehe ich die Debatte nicht. Wir
reden hier gemeinsam über eine demokratische Erfolgs-
geschichte, über die Geschichte des Erfolges unserer De-
mokratie,
an dem Sie Ihren Anteil hatten, an dem aber auch wir un-
seren Anteil hatten. Damals war von keinem Polizeipräsi-
denten bei einer Demonstration der Begriff der Deeskala-
tion angewendet worden. Sie wird heute im Vorfeld jeder
Demonstration angewendet. Lesen Sie die Ausführungen
des damaligen Frankfurter Polizeipräsidenten nach, der
gesagt hat: Auch das, was wir zum Teil gemacht haben,
auf am Boden liegende Demonstranten einzuprügeln, war
nicht richtig. – Das müssen Sie doch einmal gegeneinan-
der halten.
Wir haben die Möglichkeit, über die Anteile an der Er-
folgsgeschichte der deutschen Demokratie zu diskutieren,
und das sollten wir auch tun. Sie haben einen Anteil und
wir haben einen Anteil. Meine Damen und Herren Kolle-
gen, Sie haben dabei wiederum zwei Möglichkeiten. Sie
können sich Ihren Anteil offensiv aneignen. Dann gehen
wir wieder in die politische Diskussion zurück und dann
führen Sie die Opposition. Sie haben aber auch die Mög-
lichkeit, Ihren Anteil sozusagen zu verleugnen und virtu-
ell in die Zeit vor 1968 zurückzukehren nach dem Motto:
Wer hat denn Recht gehabt? Wir werden die vergangenen
Schlachten mit Ihnen jedenfalls nicht schlagen. Wir sind
unseren Weg gegangen. Wir haben uns in diesem Land de-
mokratisch engagiert, zum Wohle dieses Landes. Das
werden wir fortsetzen. Sie haben die Möglichkeit, sich da-
ran zu beteiligen oder in eine Uropposition von vor 1968
zurückzufallen.
Ich erteile der Kolle-
gin Heidi Knake-Werner, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Steine, Knüppel,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Dr. Wolfgang Gerhardt13906
Fußtritte gegen Menschen habe ich früher ebensoabgelehnt wie heute, auch und vor allem als Mittel derpolitischen Auseinandersetzung.
Dies sage ich zu Anfang ausdrücklich, weil ich, liebe Kol-leginnen und Kollegen von den Konservativen, einenVerdacht nicht loswerde: Der CDU und allen, die in denvergangenen beiden Wochen so etwas wie eine öffentlicheEmpörung über ein Jugendfoto des Außenministers orga-nisiert haben,
geht es zuallererst nicht um den Nachweis einer Gewalt-straftat oder um den Außenminister persönlich; es geht ih-nen in der Tat vielmehr um die nachträgliche Krimi-nalisierung einer ganzen Bewegung.
Es interessiert sie zwar auch, ob Minister Fischer einestrafbare Handlung nachzuweisen ist. Aber es geht ihnenbesonders darum, dass er nach ihrer Meinung politischsträflichen Haltungen und Überzeugungen anhing.Thomas Schmid brachte es am 5. Januar in der „FAZ“auf den Punkt. Er schrieb:Der Joschka Fischer, der heute Außenminister ist, hatauf dem Weg dahin buchstäblich alle Überzeugungenablegen müssen,
die ihn einst zum politischen Tier machten.Ich wiederhole: „Überzeugungen..., die ihn einst zum po-litischen Tier machten“. Wenn also jemand in der Sacheauf die Anklagebank gesetzt werden soll, dann ist es nichtder inzwischen zum Minister gewordene HausbesetzerJoschka Fischer, sondern dann sind es die politischen Hal-tungen und Überzeugungen der 68er-Bewegung insge-samt.
Wir debattieren heute nicht über irgendeine im Frank-furter Häuserkampf begangene Jugendsünde. DieseDebatte dient vielmehr der Geschichtsinterpretation: Essollen Überzeugungen und Ideale der Protestbewegungentsorgt werden. Mich macht besonders betroffen – auchdas will ich offen sagen –, dass viele der damals Aktivenselbst zur Entsorgung und zur Geschichtsklitterung ihrereigenen politischen Vergangenheit beitragen.
Es ist absurd: Da wird nachgekartet und uminterpre-tiert und da werden die abenteuerlichsten Vergleiche ge-zogen, um die 68er-Bewegung auf eine Stufe mit ihrerfaschistischen Vätergeneration zu stellen. Ich weiß nicht,was an den Parallelen, die in den vergangenen Tagengezogen wurden, unappetitlicher ist: die Verharmlosungdes Faschismus oder die Verteufelung der 68er-Bewe-gung.
Mir scheint beides für das politische Klima in diesemLand bedrohlich zu sein.
Als eine, die sich der 68er-Bewegung zurechnet unddort entscheidende politische Schritte gemacht hat, willich deutlich sagen – ich habe es eingangs schon betont –,dass Gewaltfreiheit zu meiner damaligen wie auch zumeiner heutigen Überzeugung gehört. Ich sage aber auchgenauso deutlich, dass diese Überzeugung weder kon-fliktfrei noch leicht in meiner politischen Biografie durch-zuhalten war: weder in der Anti-Notstands-Kampagnenoch in den Rote-Punkt-Aktionen, noch bei den Demons-trationen gegen den Vietnamkrieg oder gegen die Berufs-verbote.Ohnmächtige Wut hat viele von uns ergriffen ange-sichts der demonstrativ zur Schau gestellten staatlichenGewaltbereitschaft. Die Todesschüsse auf Benno Ohnesorghaben bittere Spuren hinterlassen.
Wer hat sich eigentlich jemals dafür entschuldigt? Es warHeinrich Albertz als Privatmann.
Dafür gebührt ihm auch heute noch Respekt.Das Klima von Hetze und Hass, von politischem Muffund von Intellektuellenfeindlichkeit sieht man auf denBildern von damals. Welche Wechselwirkungen damalsbestanden haben, haben Sie bis heute nicht begriffen. Ichglaube, Sie werden es auch nicht begreifen.
Die PDS-Fraktion beschäftigt nicht vorrangig die Ver-gangenheit von Joschka Fischer.
Es ist die Vergangenheit einer sehr unterschiedlich rebel-lischen Generation. Sie darf weder von Joseph Fischernoch von seinen politischen Gegnern insgesamt in Haf-tung genommen werden. Es ist die Aufgabe vieler in die-sem Parlament, diese Vergangenheit endlich einmal diffe-renziert aufzuarbeiten.
Dabei dürfen die Anstöße der 68er-Protestbewegungfür die demokratische Entwicklung in diesem Land, fürEmanzipation und für ein friedliches Zusammenleben derVölker nicht der Auseinandersetzung um Steinewerfer,um Molotowcocktails und um Militanz zum Opfer fallen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Dr. Heidi Knake-Werner13907
Ich sage ausdrücklich: Die PDS ist weit mehr um die Ge-genwart als um die Vergangenheit von Joschka Fischer be-sorgt. Sein heutiges Bekenntnis zur Gewaltfreiheit ist un-glaubwürdig, solange von ihm Krieg als Mittel der Politiknicht nur akzeptiert, sondern auch aktiv eingesetzt wird.
Frau Kol-
legin Knake-Werner, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich hatte leider
keine Uhr, Herr Präsident. – Durch die Zustimmung zu ei-
nem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, zu den Bomben
im Kosovo und zur Gewalt gegen die Zivilbevölkerung
hat Außenminister Joschka Fischer sich endgültig von sei-
ner Vergangenheit verabschiedet.
Als
nächster Redner hat der Kollege Gernot Erler von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Die Außenpolitik ist ein Erfolgsthema derrot-grünen Regierung. Der Mann Joschka Fischer undseine Politik haben in der Öffentlichkeit Popularitäts-werte, von denen Sie nur träumen können, und das wirdauch so bleiben.
Jetzt wird eine Geschichte ausgegraben – keine neue,sondern eine, mit der sich Joseph Fischer längst intensivund schmerzlich auseinander gesetzt hat –, die Sie über-haupt nicht interessiert. Sie interessiert weder die Fragevon Gewalt in den 70er-Jahren noch das Wechselverhält-nis von Provokation und Eskalation. Selbst die Opfer in-teressieren Sie nicht, die es übrigens auf beiden Seiten, beiden Polizisten, aber auch bei den Demonstranten und beiunbeteiligten Passanten, gegeben hat. Das alles interes-siert Sie überhaupt nicht.
Sie interessiert nur, wie Sie bestimmte Bilder, die Sie mitbestimmten falschen Konnotationen in die Öffentlichkeitbringen, politisch ausnutzen und instrumentalisieren kön-nen.
Sie sind auf Beute aus. Auf der rechten Seite desHauses sitzt eine ehrenwerte Jagdgesellschaft. Sie habenvergessen, die Jagdhörner mitzubringen; aber hier drin-nen und auch draußen kann man ihren Klang hören.
Dabei werden Sie keinen Erfolg haben, denn Sie machendas alles zu offensichtlich. Ihre Treibjagd ist durchschaut;das Publikum ist nicht so blöd, wie Sie denken.
Ihre Methode ist, gegen die real existierende Biografiedes Außenministers eine hypothetische Biografie zu set-zen.
– Das ist die Logik. – Sie argumentieren: Was ist das ei-gentlich für ein etablierter Politiker, der in seinem Lebeneinen Abschnitt hat, in dem er sich eingemischt hat, indem er sich aufgeregt hat, in dem er auf die Straße gegan-gen ist, in dem er polemisch geworden ist, in dem er radi-kal geworden ist, in dem er sich geirrt hat, in dem er sichgeprügelt hat, in dem er sich dann mit den eigenen Leutenangelegt hat und schließlich aus dem eigenen Ausstiegausgestiegen ist? Sie fragen sich: Was ist das überhauptfür ein Leben? Wo bleibt da die Übersicht? Warum ist ernicht in die Jugendorganisation einer etablierten Partei, indie Junge Union oder wenigstens bei den Jungsozialisten,eingetreten?
Hat er überhaupt gedient? Warum hat er nicht irgendwanneinmal einen Dr. jur. oder Dr. rer. pol. gemacht, damit eretwas in seinem Briefkopf hat? Wann hat er überhaupt sei-nen ersten Briefkopf gehabt?Das alles fragen Sie hier und setzen damit die schein-bare Normalität eines Politikerlebens gegen diese realexistierende Biografie. Sie merken aber nicht, dass dieÖffentlichkeit dabei gar nicht Beifall klatscht.
Es haben noch viel mehr Menschen eine eigene Lebens-erfahrung, eine andere als Sie.Ich möchte Ihnen einmal eine Situation schildern, beider ich selber beteiligt war. 1975 wurde am Kaiserstuhlder Bauplatz für ein Atomkraftwerk besetzt.
– Ich war dabei, jawohl. – Da waren Bauern, Winzer, ganznormale Bürger, die es als Gewalt empfunden haben, dassvor ihre Nase, in ihre Lebenswelt ein Kernkraftwerk ge-setzt werden sollte. Wissen Sie, was die Landesregierunggemacht hat? – Sie hat von weit her Polizisten geholt undgesagt, den Bauplatz hätten Spontis besetzt. Dann habendie Polizisten auf die Bauern und auf die Winzer draufge-hauen.
– Sie sind von weit her angekarrt worden, damit sie nichtwissen, was da los ist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Dr. Heidi Knake-Werner13908
Das sind Erfahrungen, die wir gemacht haben. Wasmeinen Sie, welche Diskussion es da gegeben hat! DieBauern und Winzer waren auf der Kippe, selber Gewaltanzuwenden. Das hätte anders ausgesehen, als wenn einSponti einen Stein wirft. Sie hätten ihre schweren Geräteeingesetzt. Diese Diskussionen sind geführt worden, undzwar nicht nur dort, sondern an vielen Orten dieser Repu-blik. Wer davon nichts weiß, der sollte hier über dieseJahre nichts sagen, der hat keine Ahnung.
Deswegen sage ich Ihnen voraus: Ihre Treibjagd ist sodurchschaubar, dass sie keinen Erfolg haben wird. Denndie deutsche Gesellschaft des Jahres 2001 ist eine mün-dige Gesellschaft. Die Gesellschaft durchschaut IhreTaktik, Ihre Nichtbetroffenheit und Ihr artifizielles Kes-seltreiben. Unser bester Verbündeter in dieser Auseinan-dersetzung ist der mündige Bürger, die mündige Ge-sellschaft, die eine eigene reiche Lebenserfahrung hat, diesie nicht nachträglich aufregender machen muss, als sieist.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Alsnächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. AngelaMerkel von der CDU/CSU-Fraktion.Dr. Angela Merkel (von der CDU/CSUmit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Je länger diese Debatte dauert, umso mehr ver-stärkt sich mein Eindruck, dass wir wieder einmal dieGrundzüge unserer Demokratie miteinander besprechensollten.
In unserem Lande ist das Gewaltmonopol des Staates – unddas seit Existenz des Grundgesetzes – aus gutem Grundeein fest verankertes Prinzip. Das ist gut so!
Der Herr Bundesaußenminister hat in einem Interviewim „Stern“ den Journalisten gefragt: „Sind Sie sicher, dassSie noch nie einen Stein geworfen haben?“ Dieser ant-wortete: „Ja.“ Daraufhin stellte der Bundesaußenministerfest: Dann fragen Sie einmal im Deutschen Bundestagund in Ihrer Redaktion herum. – Auf diese Art und Weisemacht der Bundesaußenminister sein Verhalten zu einemganz normalen Vorgang. Ich sage Ihnen: Die Mehrheitdieses Landes hat weder 1949 noch 1959, noch 1969,noch 1979 mit Steinen geworfen. Das ist die Realität.
Herr Schlauch, es geht doch nicht darum, einer ganzenpolitischen Generation den Garaus zu machen, sondern esgeht um die Frage, ob die damalige Republik, die vonBundeskanzler Willy Brandt regiert wurde, ein liberalesLand war oder ob sie eine Diktatur war. Ich sage: Sie warein liberales Land, obwohl wir nicht regiert haben. Für dieRegierungszeit von Helmut Schmidt gilt das Gleiche.
Wenn ich es recht verstanden habe, dann waren derHerr Bundesaußenminister und der Herr Bundeskanzlerunglaublich stolz darauf, dass vor wenigen Wochen einPlatz in Warschau nach Willy Brandt benannt wurde.Denn Willy Brandt stand für Aussöhnung und hat damalsgesagt: Deutsche, ihr könnt stolz auf euer Land sein. – Dasist die Wahrheit und zu der haben wir alle miteinanderheute zu stehen.
Ich bin aber nicht bereit – und darum geht es –, zu kon-zedieren, dass diejenigen, die Steine geworfen haben, unddiejenigen, die zu den RAF-Terroristen gehörten, einenBeitrag zur Freiheit in der Bundesrepublik Deutschlandgeleistet haben.
Herr Vizekanzler, ich erwarte von Ihnen nicht nur, dassSie sich für das Werfen von Steinen auf einen konkretenMenschen entschuldigen. Ich erwarte von Ihnen viel mehrauch, dass Sie sagen: Ich hatte in der damaligen Zeit einetotal verquere Sicht von der Bundesrepublik Deutschland.
Ich habe mich geirrt. Ich habe eine falsche Sicht gehabt.Dies war nicht die richtige Sicht und ich habe deshalbBuße zu tun und das anzuerkennen.
– Nein. Er hat sich nur für das Steinewerfen entschuldigtund ist der Meinung, die 68er hätten einen Beitrag zur Be-freiung geleistet.
Darin hat er sich selbst gleich mit eingeschlossen.
Herr Bundeskanzler, dass Ihr Vizekanzler das nicht tut,ist deshalb so schlimm – nicht, weil er eine verquere Ge-schichtssicht hat; das könnte uns allen egal sein –,
weil wir es heute wieder mit Gewalt von Jugendlichen zutun haben, mit politisch und nicht politisch motivierterGewalt. Wenn wir glaubwürdig gegen diese Gewalt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Gernot Erler13909
vorgehen wollen – das wollen und das müssen wir ge-meinsam tun –, müssen wir sagen: Gewalt war zu keinerZeit gerechtfertigt und unsere Sicht auf die Geschichtewar falsch;
es gab zu keiner Zeit in der Bundesrepublik Deutschlanddie Notwendigkeit, den Staat so zu verändern, dass manGewalt gebrauchen musste. –
Nur so lässt sich das legitimieren.Deshalb ist das nicht richtig, was Ihre zukünftige Par-teivorsitzende sagt: „Der Staat hat damals den Fehler ge-macht...“ Nicht der Staat hat den Fehler gemacht, sonderndiejenigen, die Gewalt angewendet haben, haben denFehler gemacht! Das ist der Unterschied.
Wenn Fehler im Rechtsstaat gemacht werden – das gilt fürPolizisten heute und das galt für Polizisten damals –, hatsich der Rechtsstaat mit diesen Fehlern auseinander zusetzen.
Aber generell zu sagen, der Staat habe Fehler gemachtund Ulrike Meinhof wäre Familienministerin, wenn derStaat nicht Fehler gemacht hätte, zeigt eine falsche Sicht.
– Das hat Claudia Roth in N-TV gesagt. Und jetzt lassenSie mich zum Schluss kommen und schreien Sie nicht so!
Meine Damen und Herren, wir haben vor zehn Jahreneine Veränderung in Deutschland erlebt. Damals sind dieMenschen in einer Diktatur friedlich auf die Straße ge-gangen. Damals haben wir mit Kerzen friedlich demons-triert und haben es geschafft, eine Diktatur zum Einsturzzu bringen.
Wenn Brüche im Leben von Menschen dazu beitragensollen, dass sie Vorbilder für Jugendliche werden, möchteich, dass dies Menschen betrifft, die eine Veränderungfriedlich herbeigeführt haben. Auf diese Teile der deut-schen Geschichte können wir stolz sein. Alle anderenmüssen kritisiert werden. Unser Staat, die BundesrepublikDeutschland, ist seit 1949 ununterbrochen eine freiheitli-che, solidarische, weltoffene Republik, auf die wir stolzsein können. Mit dieser Sicht können wir gemeinsam wei-ter arbeiten, aber nicht mit Ihrem Geschichtsbild. Das istdie Wahrheit.
Das Wort hat jetzt der
Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Merkel,ich weiß nicht, was größer ist, Ihre Selbstgerechtigkeitoder Ihr Jagdfieber.
Sie haben Willy Brandt erwähnt – und vor allem aus die-sem Grunde habe ich das Wort genommen – und Sie sindVorsitzende der Christlich-Demokratischen Union. Siehaben in dieser Erwähnung Bezug auf die OstpolitikWilly Brandts und die damit verbundene Aussöhnung ge-nommen.Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie damals nicht dabeisein konnten, als die Auseinandersetzung im DeutschenBundestag stattfand;
niemand kann Ihnen das vorwerfen. Aber ich muss Ihnenvorwerfen, dass Sie sich mit der Historie Ihrer Partei nichtzureichend auseinander gesetzt haben.
Viele von uns – Frau Merkel, hören Sie einmal einen Mo-ment zu – waren Zeitzeugen und haben noch im Ohr, mitwelcher Unversöhnlichkeit Sie diese Ostpolitik bekämpfthaben und in welcher hämischen Art und Weise Sie WillyBrandt bekämpft haben. Sie können sich nicht auf ihn be-rufen!
Wir Sozialdemokraten haben genau im Ohr, mit welchhämischer Zustimmung der äußersten Rechten diesesLandes – es gab durchaus Verbindungen hinein in Ihre da-malige Partei –, mit welch hämischer Unversöhnlichkeitdieser Kampf geführt worden ist. Dies ging bis hin zuLeuten, die – man mag es ja gar nicht wiederholen: daswaren nicht Unionspolitiker, jedenfalls nicht Unionspoli-tiker aus dem Deutschen Bundestag – diese verräterischenSätze sagten wie „Brandt an die Wand!“ Wir haben das nievergessen.
– Wo stehen Sie denn historisch?
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Dr. Angela Merkel13910
In dieser Auseinandersetzung hat die Union keinerleiRecht, sich auf Willy Brandt zu berufen. Das kann nichtgestattet werden.
Jetzt reden wir einmal über das, was hier wirklich losist. In dieser Auseinandersetzung, die Sie angefangen ha-ben, meine Damen und Herren,
ist doch auch die Frage nach der Qualität unserer Gesell-schaft zu beantworten: Was für eine Gesellschaft wollenwir eigentlich? Man könnte dies auch auf die heutigejunge Generation beziehen. Wollen wir eine Gesellschaft,die gegenüber politischen Irrtümern – sie waren schwer-wiegend genug und sie werden ja auch zugestanden – er-barmungslos ist,
oder wollen wir eine Gesellschaft, die politische Irrtümerdiskutiert und die daraus resultierenden Konsequenzen,die in einem langen Werdegang beschrieben sind, akzep-tiert?
Angesichts einiger Reden, die hier heute gehalten wur-den, ist für mich nur der Schluss nahe liegend: Sie wollennicht urteilen – wozu Sie ein Recht haben; auch Sie wol-len das nicht, Herr Gerhardt –, sondern verdammen.
Sie wollen damit nicht einen politischen Irrtum kenn-zeichnen – den der Bundesaußenminister zugegebenhat –, sondern seine politische Existenz vernichten. Dasist Ihr Ziel. Nur: Sie werden es nicht erreichen.
Ich fand das, was Sie, Frau Knake-Werner, gesagt ha-ben – bis auf den Schluss Ihrer Rede –, genauso wie das,was Sie, Herr Erler, gesagt haben, bemerkenswert, wich-tig und richtig: Hier spielt auch eine Rolle, dass Sie eineganze Generation, nämlich die, die man „68er“ nennt– ich kann das sagen, weil ich das miterlebt habe –, pau-schal verdammen wollen. Sie wollen doch gar nicht ein-zelne politische Irrtümer – und seien sie noch so schwer-wiegend – diskutieren.
Sonst hätten Sie hier anders geredet. Nein, Sie wollen dieGeneration, die einen politischen Aufbruch wollte, die indieser Gesellschaft etwas bewegt hat – auch diejenigen,die sich nicht die geringste, gar strafrechtlich zurechen-bare, Schuld haben zukommen lassen –, diffamieren. Dasgeht doch nicht.
Meine Damen und Herren von der Opposition, imGrunde ist das, was Sie hier versuchen, ebenso lächerlichwie erfolglos.
Was Sie nämlich versuchen, ist, einen Politikbegriff zudefinieren, der so verengt ist wie Ihrer, und diesen für alleverbindlich zu machen.
Sie versuchen, eine Politikergeneration wie die Ihre alsbeispielhaft hinzustellen – die mit Ihrem Werdegang undmit Ihrem politischen Scharfsinn ausgestattet ist. Auchdas will die Mehrheit der Deutschen nicht. Sie will schoneine plurale Gesellschaft.
In einer pluralen Gesellschaft müssen auch unterschiedli-che Biografien akzeptiert werden.Wenn diese Art von Selbstgerechtigkeit, von unhistori-schem Umgang mit unserer eigenen jüngeren Vergangen-heit hier wirklich Platz greift, wenn diese Art von Erbar-mungslosigkeit in Bezug auf politische Irrtümer
die Basis unseres politischen Verhaltens wird, weiß ichnicht mehr, wie man national und international erklärensoll, dass zur Zivilisation und zu zivilisierten Gesell-schaften auch immer gehört,
dass man Integration erlaubt, nachdem jemand Irrtümereingestanden hat. Dieses Fähigkeit zur Integration machtdie Qualität einer freien, einer offenen Gesellschaft aus.Seien Sie sicher: Diese Qualität einer offenen Gesell-schaft werden wir gegen Ihre Versuche, hier ein vorder-gründiges Spiel zu spielen, nicht wirklich etwas zu klären,sondern den Bundesaußenminister zu diffamieren, vertei-digen, und dies – da seien Sie ganz beruhigt – mit großemErfolg.
Alsnächster Redner hat der Fraktionsvorsitzende derCDU/CSU-Fraktion, Friedrich Merz, das Wort.Friedrich Merz (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Herr Bundeskanzler, die Zeit einer sol-chen Aktuellen Stunde reicht nicht aus, um die gesamten60er- und 70er-Jahre angemessen zu besprechen. Aber
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Bundeskanzler Gerhard Schröder13911
eine Feststellung möchte ich zu Beginn treffen. In den70er-Jahren hat es in Deutschland eine harte Auseinan-dersetzung um die Ostpolitik von Willy Brandt gegeben.Ich bin in dieser Zeit in die CDU eingetreten, weil ichdiese Politik für falsch gehalten habe. Aber ich bin in einePartei eingetreten, in der nicht ein einziger maßgeblicherRepräsentant gegen die für falsch gehaltene Politik in die-sem Land Steine geworfen hat. Darum geht es.
Herr Bundeskanzler, Sie müssen sich natürlich vorIhren Außenminister stellen. Ich möchte deswegen nocheinmal feststellen: Nicht eine Initiative der Opposition,sondern ein Interview des Bundesaußenministers, in demer versucht hat, seine Vergangenheit zu erklären, ist derAuslöser einer lang anhaltenden Debatte in Deutschlandgewesen,
ein Interview des Betroffenen selbst.Nun maße ich mir kein Urteil darüber an, was damalswar. Ich bin in der Zeit, als Sie, Herr Fischer, politisch so-zialisiert worden sind,
und wie Sie heute zur Anwendung von politischer Gewaltstehen.Dazu will ich Ihnen zwei Dinge nennen, die mit IhremAmt unvereinbar sind: In keiner einzigen Ihrer Aus-führungen – wenn ich sie richtig und vollständig nach-verfolgt habe –, auch nicht in dieser Debatte heute, ist einklares und unmissverständliches Bekenntnis zum Gewalt-monopol des Staates über Ihre Lippen gekommen.
Herr Außenminister, Sie haben sich immer, Sie habensich zu jedem Zeitpunkt ein Hintertürchen offen gehalten,um dann, wenn es die politische Opportunität erlaubt,eben doch wieder Gewalt anzuwenden. Das widersprichtzutiefst dem, was eine Demokratie ausmacht. Eine De-mokratie verträgt nicht die von eigener Moral geprägteAnwendung von Gewalt
gegen demokratisch zustande gekommene Entscheidun-gen. Das ist der entscheidende Punkt.
Ich nenne einen zweiten Punkt. Sie mögen aufgrund Ih-rer tiefen und festen Freundschaft zu Daniel Cohn-Benditdarauf vertrauen, dass es vieles gibt, was niemals ansLicht der Öffentlichkeit gelangt. Ich glaube Ihnen nicht,dass Sie bei dieser tiefen persönlichen Freundschaft nichtwussten, dass Ihr damaliger enger Freund und Wegbe-gleiter Hans-Joachim Klein durch Ihren engsten persönli-chen Freund in Frankreich der deutschen Strafverfolgungüber eine lange Zeit entzogen worden ist. Ich glaube Ih-nen nicht, Herr Fischer, dass das so war.
Es widerspricht jeder Lebenserfahrung, Herr Fischer,dass Sie bei einer so engen Freundschaft zwischen Ihnenund Herrn Cohn-Bendit diesen Sachverhalt nicht kannten.Sie müssen es mir schon zugestehen, dass ich Ihnen sage:Das glauben wir nicht. Aber dies ist eine subjektive Beur-teilung.Eine wirkliche Distanzierung von dem, was Sie poli-tisch zu verantworten haben, ist bis jetzt nicht über IhreLippen gekommen. Deswegen will ich Ihnen vortragen,was vor wenigen Tagen wirklich distanziert zu dem, waswar, in einer großen Zeitung geschrieben worden ist, dieuns nicht nahe steht und uns oft kritisiert. Joachim Kaiserschreibt in der „Süddeutschen Zeitung“:In Wahrheit – so kommt es mir beim Betrachten derFotos wieder hoch – ist der damalige APO-Fanatis-mus kaum ein von der Geschichte, gar dem „Weltge-richt“ beglaubigter, idealischer Kampf gewesen,sondern in seiner exzessiven Form ein Verrat an dem,was wir nach 1945 endlich und endgültig begriffenzu haben glaubten: nämlich: dass der parlamentari-
– Sie haben das selbst so zum Ausdruck gebracht –jene politische Zivilisation darstellt, die Deutschlandendlich hätte lernen, verinnerlichen können undmüssen.Diese Worte haben Sie nicht zum Ausdruck gebracht.In Ihrer Biografie, lieber Herr Fischer, sind wesentlichweniger Brüche, als Sie versuchen darzustellen,
und ist wesentlich mehr Kontinuität, als Sie selbst offen-sichtlich glauben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001
Friedrich Merz13912
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Antje Vollmer von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! LiebeFrau Merkel, lieber Herr Merz, ich glaube, wenn es umAuseinandersetzungen mit Joschka Fischer geht, kann iches fast mit jedem in diesem Saal aufnehmen.
Wir haben immer um Sachverhalte und Einschätzun-gen gestritten. Wir haben auch oft um politische Positio-nen gestritten. Im Übrigen ist die Auseinandersetzung umdie Militanz bei den 68ern eine ungeschriebene Ge-schichte. Aber gerade weil ich weiß, dass vieles auch über68 zu diskutieren ist, frage ich mich zunehmend irritiert,worum es jetzt hier geht.Es geht nicht um die Professionalität des Außenminis-ters, nicht um Versagen im Amt, nicht um Missbrauch imAmt und auch nicht um Untaten, die nicht bekannt wären.Es geht auch nicht nur um 68. Vielmehr geht es um einenhochmoralisch aufgeladenen Kulturkampf. Deswegen er-innert mich in dieser Diskussion, obwohl es um ganz an-dere Sujets geht, vieles an die Clinton-Debatte in denUSA.
– Genau daran erinnert es mich.Es scheint eine Generationendebatte zu sein, aber imKern ist es eine Auseinandersetzung um das, was Politikist und was Politiker sind. Da sage ich: Vorsicht vor Pha-risäertum, Vorsicht vor Puritanismus!
Politiker haben Politik zu betreiben und die Kirchen sindfür die Moral zuständig. Das ist ein feiner und sehr wich-tiger Unterschied.
Wehe, wenn wir nur Politiker nach dem Bild puritanischerund pharisäischer Debatten bekommen. Wir hätten in die-sem Land keinen Theodor Heuss, keinen Herbert Wehnerund keinen Willy Brandt gehabt. Wir hätten übrigens auchFranz Josef Strauß nicht länger als ein paar Monate ge-habt. Das müssen Sie sich ganz genau überlegen.
Nun will ich auch etwas zu 68 sagen. 68 ist ein Mythos.Ich finde, es ist sehr wichtig und interessant, über diesenMythos zu reden, und zwar nicht nur über seine heroische,sondern auch über seine belastende Seite. 68 war für diedamals politisch Verantwortlichen – das gehört zur Tragö-die dieses Landes – tatsächlich ein unglaublicher Schock.Dieser Schock hielt noch länger an: 68 ist eine Bleilast fürdie Generationen, die nach uns gekommen sind; das weißich wohl. Deswegen ist es vielleicht wichtig, 68 ein klei-nes bisschen vom Sockel zu heben.
Allerdings: Nicht zu begreifen, was 68 war, und kein In-teresse dafür zu entwickeln, ist bodenlos naiv, und zwarnaiver, als Politiker sein dürfen.
Wenn ich in diesem Land etwas hasse, dann sind das zuspäte Siege, die gefeiert werden, wenn die Kämpfe sehrbillig werden. Auch in diesem Punkt gibt es eine unseligeTradition.
Sie sollten sich die damaligen Gegner zum Vorbild neh-men. Zum Beispiel hat Herr Boenisch, der sich 68 wirk-lich fürchten musste, in der „Bild“-Zeitung mit großemRespekt von diesen Auseinandersetzungen gesprochenund gesagt, sie hätten auch ihn verändert. Horst Herold– Claudia Roth hat das Zitat gebracht – war es, der gefragthat, ob Ulrike Meinhof nicht unter anderen Umständenhätte Gesundheitspolitikerin werden können. HorstHerold war einer, der damals um sein Leben fürchtenmusste.Ich möchte Hans-Jochen Vogel – damals auch ein Geg-ner – zitieren. Er hat Folgendes gesagt – ich bitte Sie, dieTonlage dieses Zitates zur Kenntnis zu nehmen und viel-leicht ein bisschen in Ihre Herzen aufzunehmen –:Was bedeutet die Causa Fischer für unsere Demo-kratie und unser Gemeinwesen insgesamt? Stärkt eroder schwächt er sie?– Das ist doch die entscheidende Frage. –Ich meine, er stellt beiden ein gutes Zeugnis aus undstärkt sie deshalb.Er stärkt beide: sowohl Demokratie als auch Gemeinwe-sen.
Liebe Frau Merkel und lieber Herr von Klaeden, Siekönnen sich an 68 abarbeiten, aber Sie sollten ziemlichfroh sein, dass es uns gegeben hat. Die Republik sähenämlich anders aus,
wenn dieses Kapitel deutscher Geschichte ausgefallenwäre. Frau Merkel, wenn wir schon über die Grundlagender Demokratie reden, muss ich Ihnen sagen: Zu denGrundlagen der Demokratie gehören nicht nur Regelnund Institutionen, sondern immer auch die unverwechsel-bare Geschichte dieser Demokratie.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 142. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Januar 2001 13913
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Friedbert Pflüger von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau KolleginVollmer, es geht nicht um selbstgerechtes Feiern späterTriumphe und Siege.
Es geht darum, eine Klärung herbeizuführen.
Es geht darum, eine Klärung über die politische Vergan-genheit und über die Art und Weise, wie heute mit dieserVergangenheit umgegangen wird, herbeizuführen.Es gibt einen Außenminister, der Steine geworfen hatund der erklärt – so zumindest die „Welt“ –, das sei ihmaber nicht unangenehm. Ich kann nur sagen: Wer sich sodisstanziert, wer sagt, er stehe zu dem, was er gemachthabe und es sei ihm nicht unangenehm, das gehöre zur Bi-ografie des Joschka Fischer, muss sich wirklich fragen, ober an dem Platz, an den er gesetzt ist, für unser Landrichtig ist.
Der Herr Bundeskanzler hat gesagt, die Demokratiefreue sich über jeden, der in ihren Schoß zurückkehre. Esist klar, dass wir darum werben. Es ist auch richtig, was inder Bibel steht: Über einen, der Sünder ist und umkehrt,freut sich der Himmel mehr als über 99 Gerechte. Aber essteht nicht in der Bibel, dass derjenige auch gleich Vize-kanzler eines Landes werden muss.
Sie sollten daran denken, was einer der Weggefährtenvon Joschka Fischer, Thomas Schmid, gesagt hat:Trotz seiner Entschuldigung spricht Fischer überseine militante Vergangenheit in einer Mischung ausnachdenklicher Zerknirschtheit und geheimemStolz.
Genau diesen geheimen Stolz, den Sie, Herr Bundesmi-nister, eben auch in der Regierungsbefragung wieder ge-zeigt haben, nehme ich Ihnen übel. Sie haben zwar zuge-geben: „Die Gewalt war falsch.“, aber letztlich diente sieder Erreichung eines heroischen Zieles, nämlich des Zie-les, diese Republik endlich liberal zu machen. Wenn IhreHaltung zu den damaligen Geschehnissen so aussieht,dass es 1969 und danach notwendig war, Steine zu wer-fen, um diese Republik zu reformieren, dass diese Ein-stellung zumindest verständlich ist, dann kann ich Ihnennur sagen, dass Sie in der Tat nichts von dem, was damalsvorgegangen ist, verarbeitet haben.
Sie machen Folgendes: Einerseits entschuldigen Siesich. Sie wissen, dass Sie das machen müssen, um in Ih-rer jetzigen Position bleiben zu können und Anerkennungzu bekommen.
Andererseits tun Sie alles, um Ihren früheren Weggefähr-ten zu signalisieren: Ich stehe zu meiner Biografie. Da-mals schlug man zurück. So war das. Ich sage Ihnen– auch Sie dürften die ersten Kommentare in den interna-tionalen Medien zur Kenntnis genommen haben –: WennSie in einem so wichtigen Amt wie dem des Außenminis-ters bleiben wollen, dann kommen Sie mit dieser Wi-schiwaschiposition nicht durch. Sie müssen entweder sa-gen: Ich stehe zu den Sachen, oder: Ich bereue dieseSachen. Beides zusammen geht nicht, Herr KollegeFischer.
1973 bin ich in den RCDS eingetreten,
also zu der Zeit, als Fischer mit seiner Putzgruppe begann,radikal und gewalttätig zu werden. Wir sind damals aus-gegrenzt, isoliert und manchmal sogar verprügelt worden.
Wir haben unter der manifesten Gewalt von Teilen derStudentenbewegung bzw. der Ausläufer der Studenten-bewegung gelitten.
Damals ist abgestimmt worden, Herr Kollege Schlauch,ob wir vom RCDS überhaupt reden dürfen. Ich bin aus derUniversität Bremen mit der Begründung herausgetragenworden, Faschisten hätten hier nichts zu suchen. Ichmöchte Ihnen, Herr Kollege Schlauch, sagen: In dieserZeit haben wir vom RCDS erkannt, dass Faschismus nichtnur von rechts, sondern auch von links kommen kann.
Wenn Sie uns jetzt Herrn Fischer als einen Gewinn fürdie Republik präsentieren – es sei doch schön, wenn je-mand Brüche in seiner Biografie habe; denn das zeige,dass er sich weiterentwickelt habe, dass er sich nach ei-nem langen selbstquälerischen Prozess zur Demokratiebekannt habe –, dann sage ich Ihnen: Ich freue mich undbin stolz darauf, dass ich auf meinem Weg in den Bun-
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destag und in die politische Verantwortung keine Poli-zisten verprügelt habe.
Natürlich gab es damals den „Muff unter den Talaren“.Natürlich gab es Strukturen, die verändert und moderni-siert werden mussten. Wer wollte das bestreiten? Natür-lich hat auch die Studentenbewegung viel in diesem Landbewirkt. Die Frage ist nur, ob es in den 70er-Jahren not-wendig war, Gewalt anzuwenden, nachdem es schon ei-nen Regierungswechsel in der Bundesrepublik gegebenhatte und Willy Brandt am Warschauer Mahnmal nieder-gekniet war. Fraglich ist auch, ob dies in den 60er-Jahrennotwendig war. Sicher, die Studentenbewegung hat auchmanches in diesem Lande bewirkt, aber nicht die Gewalt-täter. Ich muss den SDS und große Teile der Studentenbe-wegung vor dieser Art der nachträglichen Gewaltrecht-fertigung in Schutz nehmen.
Kommen Sie bitte
zum Schluss, Herr Kollege.
Joschka Fischer
selbst ist es, der hohe moralische Messlatten an alle an-
legt, der immer wieder großartig Rücktritte gefordert hat,
der sich aufgrund seiner angeblichen Tugendhaftigkeit
immer wieder das Recht herausnimmt, andere zu zensie-
ren, und der sich immer wieder in einer entsprechenden
Pose präsentiert. Das fällt jetzt auf Sie, Herr Kollege
Fischer, ein bisschen zurück. Auch wenn Sie in Ihrem Amt
bleiben sollten,
sollten Sie in Zukunft ein bisschen demütiger im Umgang
mit dem politischen Gegner werden und nicht mehr diese
unerträgliche Arroganz an den Tag legen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Ludwig Stiegler von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Der Kollege Pflüger hat eben die Bibelzitiert. Darin steht auch der Satz: Oh Herr, wie danke ichdir, dass ich nicht so bin wie diese. – Ich glaube, das wardie Stelle vom Pharisäer.
Herzlichen Glückwunsch!Ich spreche hier für die Sozialdemokratie. Die Ge-schichte unserer Partei ist die Geschichte der friedlichenReformen vom ersten Tag an, der Auseinandersetzungenohne Gewalt und der Erreichung ihrer Ziele mit friedli-chen Mitteln von 1863 an. Wir haben deshalb keine Ver-anlassung, das, was war, irgendwo zu rechtfertigen. wirhaben vielmehr Veranlassung, dankbar zu sein, dass je-mand vom Weg der Gewalt zum Weg der friedlichen Re-formen gefunden hat.
Ich kann das von Konservativen und Liberalen inDeutschland nicht immer sagen. Ich erinnere an die So-zialistengesetze, als sie ungeniert zur Gewalt gegriffenhaben. Ich erinnere daran, dass sie eines Tages Hitler er-mächtigt und damit auch die Gewalt dieser Banden un-terstützt haben.
– Ja, 1933 haben Konservative und Liberale Hitler zurMehrheit für das Ermächtigungsgesetz verholfen. Ichbitte Sie: Schauen Sie sich Ihre eigene Geschichte an.Schauen Sie sich das an, was Sie alles gemacht haben.
Zweitens. Sie tragen ja das hohe C vor. Gehen Sie einmaldie Kirchengeschichte durch. Ich empfehle Augustinus’„Confessiones“ und viele andere. Da werden Sie sehen,was Heilige in ihrer Jugendzeit alles angestellt haben, umendlich ans Ziel zu gelangen.
– Man muss das einmal deutlich sagen. Ich spreche denAußenminister nicht heilig; damit da keine Missverständ-nisse entstehen. Aber ich sage: Die Unbarmherzigkeit, mitder Sie Bekenntnis, Reue und Veränderung verurteilen, istzutiefst unchristlich.
So wie sich Herr Merz hier hingestellt hat, ist er mirvorgekommen wie der Großinquisitor in „Der Name derRose“. Er hat vorher immer schon das Feuer brennen se-hen. Der Betreffende konnte sagen, was er wollte; keinArgument zählte. Wer Herrn Fischer zugehört hat, kannnicht so reden wie Sie, Herr Merz, wenn er nicht die Oh-ren verstopft hat oder ein vorgefertigtes Urteil hat.
Wer so auf Fischer zeigt, auf den – so sagte GustavHeinemann – zeigen drei Finger zurück. Dies veranlasstmich, einmal daran zu erinnern, woher denn der ganzeProtest kam, was eine ganze Generation in den Protesttrieb: Das war das, was wir 68er CDU-Staat nannten.
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Dr. Friedbert Pflüger13915
Das waren die alten Nazis, ob Globke oder Oberländer.Das waren die getarnten Braunen an den Universitäten.Das war die Sympathie von Strauß für Salazar, für diegriechischen Obristen und für Franco. Das war die Situa-tion.
Das war der Umgang mit den Intellektuellen. Ich erinneredaran, wie Intellektuelle als „Pinscher“ und „Ratten“ be-zeichnet worden sind. Das war Ihre Auseinandersetzungmit der Vergangenheit. Davon ist das gekommen.Dann kam Willy Brandt mit Walter Scheel und hatdiese Generation mit dem Wort „Mehr Demokratie wa-gen“ wieder geholt für diesen demokratischen Staat.
Ich war damals Student und habe in Bonn miterlebt,wie Sie von der CDU/CSU sich alle über den Satz: „Wirsind nicht am Ende der Demokratie, wir fangen erst an.“aufgeregt haben. So hat es begonnen: Sie haben gegen denMarsch der Linken durch die Institutionen gehetzt. Siewollten die anderen aussperren. Das war Ihre Reaktion.Während Brandt und Scheel damals um jede Seelegekämpft haben, haben Sie diejenigen, die sich, wie FrauVollmer oder andere, um die Verirrten gekümmert haben,als „Sympathisanten“ beschimpft. So war die Situation.
Ich verurteile die Art und Weise, wie Sie hier versu-chen, von Ihrer eigenen Geschichte abzulenken. Ihre Vor-gänger sind eine der Hauptursachen für die entstandenenProbleme. Wir können dafür dankbar sein, dass wir es ge-meinsam geschafft haben, in dieser offenen Demokratieleben zu können.Ich schließe mit der Bibel. Dort heißt es, dass im Hausedes Vaters über einen reuigen Sünder mehr Freude alsüber 100 Gerechte besteht.
Von Freude ist da die Rede; deshalb kann Herr FischerAußenminister sein. Im Himmel herrscht Missvergnügenüber Selbstgerechte, Scheinheilige, Pharisäer. Lassen Siesich das gesagt sein!
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir habenheute den Versuch Joschka Fischers erlebt, sich als ge-reifter Überzeugungstäter von einst staatstragend inSzene zu setzen. Doch, Herr Außenminister, dieser Ver-such ist Ihnen gründlich misslungen.
Fabelhaft staatsmännisch, in saturierter Bonhomie,fein angezogen im Dreiteiler von Luxusschneiderhand –so zeigt er sich uns. Ich zitiere hierbei die „SüddeutscheZeitung“. Heute putzt er sich nicht mehr mit einer Putz-truppe auf den Straßen Frankfurts, sondern mit einem fei-nen Siegelring am Finger.
Herr Fischer, so geht es nicht.
Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie heute – ich habeIhnen zugehört – mit frivolem Pathos hier erklären: Ichwar ein Revolutionär mit Freiheitsanspruch. Herr Fischer,Sie machen sich mit solchen Äußerungen doch lächerlich.
Dann faselt er noch weiter: Es sei eine Freiheitsrevoltegewesen, an der er sich beteiligt habe. Herr Fischer, wasfür ein groteskes Zerrbild vom damaligen Deutschlandhaben Sie? Glauben Sie, Sie könnten uns alle hier fürdumm verkaufen? Wir sind doch fast alle Zeitzeugen die-ses Deutschlands gewesen. Wo war das Terrorregime, indem wir angeblich gelebt haben? In welchem Unter-drückungsstaat sollen wir gelebt haben? Sie reden wirresZeug, wenn Sie behaupten, dass Sie sich als Freiheitsre-volutionär haben aufspielen müssen. Das ist doch uner-träglich!Wir wollen wissen, ob sich Ihre Überzeugung gewan-delt hat. Wir wissen, Ihre Taten waren keine Jugendsün-den. Sie waren weder jung noch sündig; sie waren krimi-nell und erwachsen.
In Wahrheit war der APO-Fanatismus kein Kampf vonIdealisten. Es war ein Verrat an der Demokratie. Sie wa-ren ein Feind der Demokratie.
– Ja, das war er. – Die erste deutsche Demokratie wurdevon den Nazis vernichtet. Der Reichstag wurde vonGoebbels als „Quasselbude“ bezeichnet. Sie und Ihre Ge-nossen sind mit der gleichen Impertinenz und mit dergleichen verwerflichen Gesinnung ans Werk gegangen.Sie und die APO wollten die zweite deutsche Demokratie,die Nachkriegsdemokratie, vernichten.
Die Parallelen sind unverkennbar. Der gewalttätige po-litische Straßenkampf findet immer nach den gleichenSpielregeln statt.
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Ludwig Stiegler13916
Die Spielregeln der SA sind uns bekannt:. Die SA alsSturmabteilung der NSDAP hat sich in Saalschlachtenund in Straßenschlachten hervorgetan.
Die SA war ein Machtinstrument der Nazis. Ihr Macht-instrument, Herr Fischer, war Ihre Putztruppe.
Sie hatten mit Ihrer Putztruppe natürlich nicht denselbenmilitanten Erfolg wie die SA-Schläger, aber Sie wünsch-ten sich einen ähnlichen Erfolg. Daran sehen wir, dass dieFranzosen mit dem Wort „Les extrêmes se touchent“Recht haben: Die Linksextremen und die Rechtsextremenbedienen sich immer derselben Instrumentarien.
Fischer war ein wortgewaltiger Agitator, er war einScharfmacher, er war ein Anstifter, er war ein Rädelsfüh-rer.
Jetzt wollen Sie nichts mehr davon wissen.Was ist es eigentlich für eine Entschuldigung, wennman einen Polizisten zusammenschlägt und dann 25 Jahreverstreichen lässt, bis man unter massivem politischenDruck ein Telefongespräch führt? Herr Fischer, das istdoch unerträglich.
Nein, wir wollen wissen, ob sich Ihre Gesinnung wirk-lich geändert hat.
Wir werden hier nicht nachgeben. Man kann nicht oftgenug wiederholen, dass Sie nach der Ermordung vonBuback, Ponto und Schleyer nicht in Rage, sondernschriftlich geäußert haben:Bei den drei hohen Herren mag mir keine rechteTrauer aufkommen.Das ist das Gedankengut der Sympathisanten der Terro-risten.
Dieses Gedankengut ist Ihr Gedankengut gewesen.Dazu fällt Ihnen nur ein, dass Sie den Artikel einmal imZusammenhang sehen wollten, weil Sie sich nicht an al-les erinnern könnten. Dabei halten Sie uns vor, ob wir unsan jede Kreisvorstandssitzung erinnern könnten. Das istdoch eine Frechheit. Die damalige Situation nach demSelbstmord von Ulrike Meinhof in der Zelle, nachdem einSchock durch Ihre Szene ging und nachdem Sie bei einerDemonstration eine führende Rolle eingenommen haben,vergleichen Sie mit einer Kreisvorstandssitzung einerPartei. Und Sie können sich an nichts mehr erinnern, ob-wohl Sie immer dabei waren!
Wir werden Ihnen helfen, sich zu erinnern, HerrFischer,
weil wir wissen – Sie wissen es auch –, dass der Terroris-mus in Deutschland ohne diese Sympathisantenszene nie-mals möglich gewesen wäre.
Deswegen wollen wir wissen – die deutsche Öffentlich-keit hat ein Recht darauf, es zu erfahren –, welche RolleFischer wirklich gespielt hat.
Die Aktu-
elle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 18. Januar 2001,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.