Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta-
gesordnung um die Beratung der Ergebnisse des Ver-
mittlungsausschusses zum Gesetz zur Einführung einer
Entfernungspauschale, Drucksache 14/4942, und zum
Fünften Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes,
Drucksache 14/4943, zu erweitern. Die Zusatzpunkte
werden im Anschluss an die vereinbarte Debatte zur Steu-
erpolitik aufgerufen.
Interfraktionell ist ebenfalls vereinbart worden, dass
unter Tagesordnungspunkt 18 c statt des Zwischenbe-
richts gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung die mitt-
lerweile vorliegende Beschlussempfehlung und der Be-
richt des Ausschusses auf Drucksache 14/4910 beraten
werden sollen.
Weiterhin mache ich darauf aufmerksam, dass die
zweite und dritte Beratung der VAG-Novelle – Tagesord-
nungspunkt 29 c – nach der Beratung des Antrags zur An-
rufung des Vermittlungsausschusses zum Lebenspartner-
schaftgesetzergänzungsgesetz ohne Debatte beraten
werden soll. Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstan-
den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir
so.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 19 sowie die Zusatzpunkte 9 bis 11 auf:
19. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu dem
Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden
von Bund und Ländern zur Verfassungswi-
drigkeit der „Nationaldemokratischen Partei
Deutschlands“
hier: Entscheidung des Deutschen Bundestages
über die Einleitung eines Verfahrens zur Fest-
stellung der Verfassungswidrigkeit der „Na-
tionaldemokratischen Partei Deutschlands“
m. gemäß Art. 21 Abs. 2 Grundgesetz
i. V. § 13 Nr. 2, §§ 43 ff. Bundesverfassungsge-
richtsgesetz
– Drucksachen 14/4500, 14/4923 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Wiefelspütz
Wolfgang Zeitlmann
Cem Özdemir
Dr. Guido Westerwelle
Ulla Jelpke
ZP 9 Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Verfassungswidrigkeit der „Nationaldemokra-
tischen Partei Deutschlands“
– Drucksache 14/4883 –
ZP 10 Antrag der Fraktion der F.D.P.
Für eine wirksame und nachhaltige Bekämp-
fung des Rechtsextremismus – deshalb gegen
ein NPD-Verbot
– Drucksache 14/4888 –
ZP 11 Antrag der Fraktion der PDS
Bestrebungen zurWiederbelebung national-so-
zialistischen Gedankengutes sind verfassungs-
widrig
– Drucksache 14/4897 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen, wobei die
F.D.P. elf Minuten und die PDS acht Minuten erhalten
soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Michael Bürsch, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag entscheidet
heute über einen Antrag an das Bundesverfassungs-
gericht, die NPD zu verbieten. Es ist das erste Mal, dass
das Parlament über einen eigenen Antrag dieser Art zu
entscheiden hat. Ich meine, der Bundestag sollte die
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141. Sitzung
Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Beginn: 9.00 Uhr
Entscheidung mit Besonnenheit, frei von Hysterie, an
Fakten und nicht an Stimmungen orientiert treffen.
Die NPD hat zurzeit circa 7 000 Mitglieder in fast
200 Kreisverbänden. Ein Drittel der Mitglieder sind junge
Menschen; die Mitgliederzahl steigt offensichtlich gerade
in dieser Altersgruppe. Im Jahre 1999 erhielt die NPD
1,16 Millionen DM Unterstützung aus öffentlichen Kas-
sen. So weit einige wenige Fakten.
Es fragt sich aber, welche Menschen eigentlich hinter
diesen Zahlen stehen. Wer fühlt sich zur NPD und ihrer
Ideologie hingezogen? Nehmen wir beispielhaft zwei
junge Menschen aus Deutschland, über die vor kurzem in
einer Zeitung berichtet wurde.
„Ich war ein Mensch ohne Gewissen“, sagt
– die heute 36-Jährige –
Carla. „Ich bin mit Springerstiefeln und braunem
Hemd pöbelnd durch den Supermarkt gerannt. Kei-
ner hat mich gehindert.“ ... Eine schwierige Kind-
heit..., zwei gescheiterte Ehen und eine Abtreibung
lagen hinter ihr, als sie zusammen mit ihrer 17-jähri-
gen Tochter Kontakt zum Ehepaar Müller, „stadtbe-
kannten Altnazis“, bekam. Hier fühlt sie sich aufge-
hoben, emotional und intellektuell. „Ich nahm deren
Weltanschauung wie ein Schwamm auf.“ In dieser
Zeit lernt sie Hans kennen.
Er war damals Mitglied im Nachwuchskader der NPD.
Sein simples Geschichtsbild:
„Die Wehrmacht war für mich unantastbar, die Mit-
glieder der Waffen-SS waren Helden.“ ... Es sind die
„Saubermänner mit den Scheiteln“, die ihn faszinie-
ren. Am Wochenende fährt Hans zu ... Schulungen
der NPD. Hier lernt er, „wie man Meinung beein-
flusst und Feindbilder schafft“.
Carla und Hans sind inzwischen aus der rechten Szene
ausgestiegen. Heute sagt Hans: „Ich war ein geistiger
Brandstifter.“
Dies sind zwei von mehreren tausend Menschen, die
der NPD nahe standen oder nahe stehen. Solche Berichte
sagen vielleicht ein wenig mehr über das Innenleben der
NPD aus als blanke Statistiken. Sie füllen mit Leben, was
in der über 600 Seiten umfassenden Materialsammlung
vom Verfassungsschutz zusammengetragen worden ist.
Ist die NPD eine verfassungswidrige Partei? Nach
Art. 21 Grundgesetz und den Maßstäben des Bundesver-
fassungsgerichts ist eine Partei zu verbieten, wenn sie ver-
fassungsfeindliche Ziele mit einer aktiv-kämpferischen
Grundhaltung gegen die freiheitlich-demokratische
Grundordnung verfolgt. – Auf die juristische Begründung
dieses Verbotsantrags wird meine Kollegin Erika Simm
später genauer eingehen.
Fest steht: Eine verfassungsfeindliche Zielsetzung
kann der NPD schon seit der Gründung im Jahre 1964
nachgewiesen werden. Seit drei bis vier Jahren hat sich
die Partei darüber hinaus erwiesenermaßen von einer
Altherrenpartei unbelehrbarer Rechter zu einem Sammel-
becken gewaltbereiter Rechtsextremer entwickelt. Sie
sucht gezielt die Zusammenarbeit mit Neonazis, Skin-
heads und anderen gewaltbereiten Gruppen.
Die Partei verfolgt jetzt ein Konzept des Kampfes um
die Straße und will so genannte national befreite Zonen
schaffen, in denen sie ihre Feinde und Abweichler ab-
straft. Solche Zonen der Angst und der Gewalt dürfen wir
in unserem Lande nicht dulden.
Wir dürfen nicht hinnehmen, dass der Rechtsstaat von
Rechtsextremisten mit Springerstiefeln getreten wird.
Die Gefahr, die der freiheitlich-demokratischen
Grundordnung durch die NPD droht, ist gerade in der
Nähe zum gewaltbereiten Spektrum zu sehen. In dieser
aggressiv-kämpferischen Haltung liegt – noch – der ent-
scheidende Unterschied zu anderen Rechtsparteien wie
der DVU und den Republikanern.
Fazit: Die juristischen Voraussetzungen für ein Verbot
der NPD liegen eindeutig vor. Der Verbotsantrag hat aber
nicht nur eine juristische Facette, sondern hat auch eine
politische Dimension. Wir Abgeordnete haben heute po-
litisch zu entscheiden, ob der Bundestag selbst einen Ver-
botsantrag in Karlsruhe stellen will. Manche halten ein
Parteienverbot für ein Relikt der 50er-Jahre: Den partei-
politischen Extremismus müsse man in einer gefestigten
Demokratie mit politischen Mitteln bekämpfen. Ein Ver-
botsantrag würde die rechtsextremen Parteien nur unnötig
aufwerten. – So lautet die Argumentation. Dies mag für
Parteien wie DVU oder Republikaner heute noch richtig
und die zutreffende Strategie sein. Diese Strategie stößt
aber dann an ihre Grenzen, wenn das Parteienprivileg
systematisch dazu missbraucht wird, nicht nur rechter
Ideologie eine Plattform zu bieten, sondern auch rechter
Gewalt.
Der Kampf der Meinungen ist ein Wesensmerkmal der
Demokratie. Wenn dieser Kampf aber mit Baseballschlä-
gern statt mit Argumenten geführt wird, dann muss die In-
frastruktur zerschlagen werden, die diese Gewalt fördert.
Nur ein Verbot schließt die NPD von den zentralen Insti-
tutionen und Möglichkeiten der Demokratie aus: vom
Parlament, aber auch von der staatlichen Finanzierung,
vom Rundfunk, vom Fernsehen und von den kommuna-
len Einrichtungen wie etwa den Stadthallen.
Bei der heutigen Entscheidung muss eines vollkom-
men klar sein – darauf ist von allen Fraktionen schon hin-
gewiesen worden –: Ein Verbot der NPD allein reicht
nicht aus, um Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereit-
schaft zu bekämpfen. Das Verbot ist vielmehr eine Maß-
nahme von vielen, ein Baustein in einem Bollwerk gegen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Dr. Michael Bürsch
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rechts. Über das Verbot der NPD hinaus müssen wir
Rechtsextremismus aus der Mitte der Gesellschaft heraus
bekämpfen. Dies erfordert ein Bündel von Aktivitäten.
Ich meine, ganz entscheidend ist es, gerade vor Ort kom-
munale Aktivitäten und Netzwerke gegen Gewalt und
Fremdenhass zu fördern. Die Arbeit von Schulen, Bür-
gerbündnissen und Initiativgruppen von Polizisten, Sport-
lern, Handwerkern und Einzelhändlern, Eltern und
Schülern gilt es zu unterstützen. Denn: Wer Zivilcourage
fordert, muss sie auch fördern, und zwar insbesondere
durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen zivilge-
sellschaftlichen Engagements.
Die Politik darf sich nicht darauf beschränken, die Bür-
gerinnen und Bürger zu Zivilcourage aufzurufen. Der
Staat muss auch selbst konsequent handeln, wenn gar
nicht anders möglich – als letzte Möglichkeit, als Ultima
Ratio – auch mit dem scharfen Schwert des Parteienver-
bots. Denn es passt nicht zusammen, an das Bürgerenga-
gement gegen rechts zu appellieren, wenn der Staat
gleichzeitig Steuermittel in Millionenhöhe an die Verfas-
sungsfeinde überweist.
Im Übrigen müssen wir unser Bewusstsein dafür schär-
fen, wie viel Rassismus und Fremdenfeindlichkeit unser
tägliches Leben begleiten, ohne dass die Medien davon
groß Notiz nehmen, zum Beispiel durch Hakenkreuz-
schmierereien, durch rechtsextremistische Musik und
durch rassistische E-Mails via Internet. Wir alle sind auf-
gefordert, etwas gegen den Rassismus und Antisemi-
tismus im Alltag zu tun.
Nach all dem bitte ich Sie, dem Antrag auf ein Verbot
der NPD heute zuzustimmen. In den beiden bisherigen
Parteiverbotsverfahren in den 50er-Jahren ist der Bun-
destag nicht als Antragsteller aufgetreten. Aber unser Ver-
fassungsverständnis und unser Selbstverständnis als
Parlament haben sich in den 50 Jahren gewandelt. We-
sentliche Entscheidungen, die von grundsätzlicher ver-
fassungsrechtlicher, normativer Bedeutung sind, gehören
ins Parlament. Darauf hat auch das Verfassungsgericht in-
zwischen schon verschiedentlich hingewiesen. Der Bun-
destag als unmittelbar demokratisch legitimierte Volks-
vertretung sollte und muss hier eine eigene Entscheidung
treffen.
Wir müssen als Bundestag ein Signal setzen, dass wir
die Herausforderung durch den Rechtsradikalismus ernst
nehmen, und zwar nicht durch Aktionismus und Medien-
inszenierungen, sondern unsererseits durch entschlosse-
nes Handeln einer selbstbewussten Demokratie, einer
wehrhaften Demokratie.
Die NPD demonstriert dieser Tage mancherorts mit der
Parole „Argumente statt Verbote“. Die NPD aber ist selbst
dazu übergegangen, ihre Zielsetzung statt mit Worten mit
Gewalt und mit der Verletzung von Menschenrechten zu
verfolgen. Wir als Parlament sollten auf den Zynismus der
NPD in angemessener Weise reagieren, nämlich mit Ar-
gumenten für ein Verbot.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bekämpfung des
politischen Extremismus, ganz gleich, ob von rechts oder
von links, ganz gleich, aus welchen ideologischen Quel-
len er gespeist wird,
die Bekämpfung von Gewalt und Extremismus in jeder
Form hat für meine Fraktion höchste Priorität.
Die Erfahrungen der vergangenen Tage zeigen, dass
wir neben dem Aufstand der Anständigen vor allen Din-
gen die Vernunft der Zuständigen brauchen.
Vorschnelle Festlegungen oder gar Vorverurteilungen
können den Blick auf die Realität verstellen und die Su-
che nach den wahren Tätern erschweren und damit unge-
wollt jene Kräfte stärken, die nun fälschlicherweise be-
haupten könnten, dass von ihnen – entgegen anders
lautenden Behauptungen – in Wahrheit keine Gefahr aus-
gehe.
Politischer Extremismus ist eine Kampfansage gegen
unsere verfassungsmäßige Ordnung und eine zentrale
Herausforderung für die wehrhafte Demokratie. Gerade
aus den bitteren Erfahrungen der Weimarer Republik wis-
sen wir, wie wichtig es ist, dass eine Demokratie ihren
Feinden entschlossen entgegentritt, nicht nur mit Worten,
Demonstrationen und Lichterketten, sondern auch mit Ta-
ten. Der demokratische Verfassungsstaat ist den potenzi-
ellen Opfern politisch motivierter Gewalt, aber auch sich
selber ein Höchstmaß an Schutz schuldig.
Die NPD des Jahres 2000 ist nicht mehr die Altherren-
riege der 60er-Jahre. Sie hat zwar einen großen Teil ihrer
Mitglieder seit jener Zeit verloren; gleichzeitig ist sie aber
noch extremer, noch radikaler und noch gewaltbereiter
geworden. Die Wesensverwandtschaft mit dem National-
sozialismus ist unübersehbar und umfänglich dokumen-
tiert. So hat zum Beispiel die Jugendorganisation der
NPD zum Teil wörtlich das 25-Punkte-Programm der
NSDAP von 1920 übernommen.
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Dr. Michael Bürsch
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Schon seit Jahren wird systematisch eine Radikalisie-
rung der NPD in Richtung Neonationalsozialismus be-
trieben. In dem einschlägigen „NS-Kampfruf“ heißt es
unter anderem wörtlich:
Eines Tages werden diese Politbonzen ihrer absolut
notwendigen Beseitigung hinzugeführt werden! Für
das System keinen Millimeter Boden, sondern 9Mil-
limeter.
Wenn aus den Reihen der NPD gefordert wird, man
müsse die „Kanaken abknallen“ und auch „mit Auslän-
dern verheiratete Deutsche müssten dieses Schicksal er-
leiden“, oder wenn der Pressesprecher der Jungen Natio-
naldemokraten wörtlich sagt:
Dieses verjudete Bonner System ..., manchmal
denke ich mir, eines Tages stehe ich früh auf, ziehe
meine schwarze Uniform an, und dann ist es so, als
ob nichts gewesen ist, und gehe nach Dachau ...
dann kann eine wehrhafte Demokratie nicht alleine mit
dem Hinweis reagieren, man müsse die NPD nicht mit ei-
nem Verbot, sondern mit dem Stimmzettel bekämpfen.
Angesichts der Umstände, dass die politischen Ziele
der NPD mit der freiheitlich-demokratischen Grundord-
nung der Bundesrepublik in keiner Weise vereinbar sind,
dass sie antisemitisch, rassistisch und fremdenfeindlich
ist, dass sie den Parlamentarismus als Grundvorausset-
zung unserer Demokratie in Frage stellt, dass sie in einem
hohen Maße für ein geistiges Klima verantwortlich ist,
das den Boden für gewaltsame Übergriffe von Rechtsex-
tremisten auf Ausländer und andere Minderheiten in
Deutschland schafft, und dass sie darüber hinaus zur
Durchsetzung ihrer politischen Ideologie nicht nur Ge-
walt propagiert, sondern auch Gewalttätern eine politi-
sche Heimat bietet und sie logistisch unterstützt, ist ein
Antrag auf Verbot dieser Partei nicht nur rechtlich mög-
lich, sondern auch politisch geboten.
– Jetzt hoffe ich, dass Sie ebenfalls kräftig applaudie-
ren. – Dies alles wissen wir aufgrund des umfangreichen
Tatsachenmaterials, das uns in erster Linie die Verfas-
sungsschutzbehörden der Länder übermittelt haben.
Nicht wenige von denen, die sich in ihrer Argumentation
heute auf die Informationen der Verfassungsschutzämter
berufen, haben in den vergangenen Jahren wenig dazu
beigetragen, die Arbeitsfähigkeit dieser wichtigen Behör-
den zu verbessern.
Im Gegenteil: So hat es beispielsweise in einem großen
norddeutschen Flächenstaat unter einem Ministerpräsi-
denten, der heute Bundeskanzler ist, eine Stellenreduzie-
rung des Landesamtes für Verfassungsschutz um 40 Pro-
zent gegeben. Andere Mitglieder der Regierungskoalition
haben sogar die Abschaffung des Verfassungsschutzes ge-
fordert.
Wer unsere Demokratie stärken will, die freiheitlichste,
die es auf deutschem Boden je gab, darf die Verfassungs-
schutzbehörden nicht ausdünnen, sondern muss sie perso-
nell und organisatorisch stärken und ihre Arbeit auch po-
litisch wollen und unterstützen.
Nach sorgfältiger Auswertung aller zur Verfügung ste-
henden Tatsachen und nach verfassungsrechtlicher Prü-
fung sind sowohl die Bundesregierung als auch der Bun-
desrat zu der Überzeugung gelangt, dass ein Antrag auf
Verbot der NPD aufgrund der Verfassungsfeindlichkeit
der Partei und wegen ihrer aggressiv-kämpferischen Hal-
tung zur Abwehr von Gefahren für unser Land und zum
Schutz potenzieller Opfer ideologisch motivierter Gewalt
dringend geboten ist und vor dem Bundesverfassungsge-
richt auch Erfolg haben wird.
Vor diesem Hintergrund begrüßen wir es, dass die Bun-
desregierung nach zunächst flächendeckend verkündeter
Ablehnung dann doch noch den Vorschlag des bayeri-
schen Innenministers Günther Beckstein aufgegriffen hat,
die NPD verbieten zu lassen, und dass sie neben dem
Bundesrat ebenfalls einen Verbotsantrag stellen wird.
Aber: Das Begehren der Koalitionsfraktionen, der
Deutsche Bundestag solle neben der Bundesregierung
und dem Bundesrat als dritte Prozesspartei vor dem Bun-
desverfassungsgericht einen eigenen Antrag auf Verbot
der NPD stellen, ist weder rechtlich geboten noch poli-
tisch sinnvoll.
– Er hat vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundes-
tags dem ausdrücklich zugestimmt.
Für ein Parteiverbotsverfahren ist es ausreichend,
wenn entweder die Bundesregierung oder der Bundesrat
einen Antrag stellt. Im konkreten Fall haben sich bereits
Bundesregierung und Bundesrat entschlossen, jeweils ei-
nen eigenen Antrag zu stellen, sodass schon seit geraumer
Zeit feststeht, dass das Bundesverfassungsgericht dem-
nächst mit der ihm eigenen Gründlichkeit sachlich und
rechtlich die Verbotsanträge prüfen wird. Dafür bedarf es
eines Antrages durch den Deutschen Bundestag nicht.
Die Stellung eines Antrages auf Verbot einer verfas-
sungswidrigen Partei ist eine klassische Aufgabe der Exe-
kutive.
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Dies dürfte auch der Grund dafür sein, warum es für den
Antrag der Koalitionsfraktionen in der gesamten 55-jähri-
gen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kein
Vorbild gibt.
Beim Verbotsverfahren gegen die SRP und die KPD war
die Bundesregierung alleinige Antragstellerin. Erst vor
wenigen Jahren wurden der Antrag gegen die Nationale
Liste nicht von der Hamburgischen Bürgerschaft, sondern
vom Hamburger Senat und der Antrag gegen die FAP von
der Bundesregierung und dem Bundesrat gestellt.
Dies geschah aus gutem Grund: Alleine die Regierun-
gen des Bundes und der Länder kennen das gesamte Tat-
sachenmaterial, mit dem die Verbotsanträge begründet
werden sollen. Sie alleine kennen die Beweise und deren
Beweiskraft. Nur derjenige, der alle Tatsachen und alle
Beweismittel sowie deren Beweiswert kennt, ist in der
Lage, unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten die
entscheidenden Fragen zu beantworten, ob ein Parteiver-
botsverfahren geboten ist und ob ein Antrag auf Verbot ei-
ner Partei hinreichende Aussicht auf Erfolg hat.
Dieser Ansicht ist im Übrigen auch der Kollege
Özdemir, der zutreffend darauf hingewiesen hat, der Bun-
destag solle keinen eigenen Antrag stellen, weil er kein
Beweiserhebungsverfahren durchführen könne. Nun
sind wir einmal gespannt, ob er dies auch nach seiner Ein-
bindung in die Koalitionsdisziplin von diesem Pult aus
wiederholt.
Außerdem sei der Hinweis erlaubt, dass sich das Bun-
desverfassungsgericht sicherlich nicht von der Zahl der
Antragsteller, sondern ausschließlich von der Überzeu-
gungskraft der Tatsachen und dem Beweiswert der ange-
botenen Beweismittel beeindrucken lassen wird.
Wir sollten vor dem Bundesverfassungsgericht schon den
Eindruck vermeiden, als wollten wir durch eine ganze
Phalanx von Antragstellern möglicherweise fehlendes
Gewicht von Argumenten kompensieren oder gar das Ge-
richt unter Druck setzen.
Gegen das Parteiverbotsverfahren wurde eingewandt,
die NPD müsse nicht juristisch, sondern stattdessen poli-
tisch bekämpft werden. Diese Argumentation übersieht
jedoch, dass auch eine als verfassungswidrig anerkannte
Partei im öffentlichen Leben so lange als verfassungs-
gemäß behandelt werden muss, wie sie nicht verboten ist.
Jede nicht verbotene politische Partei, ganz gleich, ob
sie verfassungsfeindliche Ziele verfolgt oder nicht, hat
grundsätzlich Anspruch auf staatliche Parteienfinanzie-
rung. Sie hat darüber hinaus auch Anspruch auf staatliche
oder öffentlich-rechtliche Leistungen, von der Zuteilung
von Sendezeiten im öffentlichen Rundfunk bis hin zur Be-
reitstellung von öffentlichen Räumen für Wahlveranstal-
tungen. Die „Bekämpfung der NPD“ durch die Ge-
währung staatlicher Mittel oder durch die Zur-Verfügung-
Stellung kostenloser Sendezeiten dürfte keine Aussicht
auf Erfolg haben. Würden Bundesregierung und Bundes-
rat keinen Antrag stellen, hätte dies schließlich zur Folge,
dass von Staats wegen ein verfassungswidriger Zustand
nicht nur geduldet, sondern durch positives staatliches
Handeln auch noch gefördert würde und nach geltender
Rechtslage auch gefördert werden müsste – ein nicht nur
in sich widersprüchliches, sondern ein von den Müttern
und Vätern der Verfassung ganz sicher nicht gewolltes Er-
gebnis.
Gelegentlich wird auch dahin gehend argumentiert,
dass ein Parteiverbotsverfahren die politische Auseinan-
dersetzung mit der NPD und ihrer Ideologie nicht erset-
zen könne. Karlsruhe könne nur eine Partei, nicht aber
eine rechtsextreme Ideologie verbieten oder deren An-
hänger zur Untätigkeit verurteilen. Auch diese Argumen-
tation ist ebenso selbstverständlich wie nicht überzeu-
gend.
Richtig ist, dass durch die Einleitung des Verbotsver-
fahrens die politische Auseinandersetzung mit der NPD
und anderen links- und rechtsextremen Gruppierungen
und Ideologien nicht in den Hintergrund treten darf.
Auch die NPD müssen wir nach wie vor – wie alle ande-
ren Extremisten auch – politisch bekämpfen. Vor allen
Dingen müssen wir uns mit den Gründen von Fremden-
feindlichkeit, Antisemitismus und Gewaltbereitschaft be-
schäftigen. Für eine erfolgreiche Bekämpfung von politi-
schem Extremismus und Gewalt brauchen wir eine
vernünftige Kombination von sozialer Prävention einer-
seits und staatlicher Repression andererseits. Wir brau-
chen Hilfsangebote, vor allem für gefährdete Kinder und
Jugendliche; viele – gerade aus der rechtsextremistischen
Gewaltszene – sind noch sehr jung.
Gleichzeitig brauchen wir aber auch eine schnelle und
konsequente staatliche Reaktion auf Straftaten. Gut
75 Prozent der rechtsextremistischen, fremdenfeindlichen
Gewalttäter sind jünger als 21 Jahre. Schon diese Zahl
verdeutlicht, welch wichtige Funktion neben der Erzie-
hung auch dem Jugendstrafrecht bei der Bekämpfung des
Extremismus zukommt. Wir alle wissen, dass eine
schnelle Reaktion der Gerichte auf Jugendliche oftmals
mehr Eindruck macht als eine harte Strafe. Wenn der Bun-
desinnenminister in diesen Tagen gesagt hat, wir bräuch-
ten ein Aussteigerprogramm für jene Anhänger der rech-
ten Szene, die sich aus dem Milieu lösen wollen, hat er
Recht. Dann müssen wir im Parlament auch darüber nach-
denken, ob es richtig war, die Möglichkeit zu beseitigen,
Zeugen, die gleichzeitig Straftaten begangen haben, durch
eine Kronzeugenregelung – wie immer man sie ausge-
stalten mag – aus der Szene herauszuholen.
Wir brauchen neben dem Aussteigerprogramm auch eine
Kronzeugenregelung. Bitte verweigern Sie sich nicht die-
ser Diskussion.
Natürlich gibt es im Milieu auch Fälle, bei denen Hop-
fen und Malz verloren ist. Das gilt aber nicht für alle, die
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sich in diesem Milieu bewegen, und das belegen jene Aus-
steiger, die es bereits geschafft haben, die schiefe Bahn zu
verlassen. Für solche Menschen müssen wir Hilfsange-
bote haben. Vor allen Dingen brauchen wir eine Kultur der
Toleranz, der Akzeptanz desjenigen, der anders ist. Wir
brauchen eine Stärkung der Erziehungskraft sowohl der
Familien als auch der Schulen, wohl wissend, dass Schule
nicht die Reparaturwerkstatt für Versäumnisse in Familie,
Gesellschaft und Politik sein kann.
Die NPD propagiert den Kampf um die Köpfe, die Par-
lamente und die Straße. Deshalb dürfen wir Neonazis und
anderen Extremisten nicht auch noch öffentlichkeits- und
medienwirksame Kulissen für ihre Aufzüge bieten. Ich er-
innere an den Aufmarsch der NPD am 29. Januar vor
dem Brandenburger Tor. Solche Aufzüge blamieren nicht
nur die Hauptstadt Berlin; sie diskreditieren Deutschland
insgesamt und schaden unserem Ansehen in der ganzen
Welt. Wir dürfen sie deshalb nicht länger zulassen.
Demonstrationen, deren erkennbares Ziel es ist, unsere
verfassungsmäßigen Werte zu verhöhnen, und die das An-
sehen Deutschlands in der Welt nachdrücklich beschädi-
gen, müssen unter erleichterten Bedingungen verboten
werden können.
Den Gegnern eines Verbotsantrages möchte ich noch
Folgendes sagen: Gerade in den vergangenen Monaten
haben wir auch an dieser Stelle eine Kultur des Wegse-
hens beklagt. Wir haben eine Kultur des Hinsehens und
der Einmischung gefordert. Wir haben die Bürgerinnen
und Bürger zu mehr Zivilcourage aufgefordert, was im
Übrigen viel leichter gesagt als getan ist. Wenn jedoch der
Staat selber die Möglichkeiten nicht nutzt, die er hat, um
sich selber, seine verfassungsmäßige Ordnung und die
Opfer zu schützen, wirkt er nicht besonders glaubwürdig.
Wer Zivilcourage fordert, der muss Staatscourage zeigen.
Ich erteile dem Kolle-
gen Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion hat
sich die Entscheidung über den Verbotsantrag nicht leicht
gemacht. Ich verhehle nicht, dass für uns die grundsätz-
lichen demokratischen Bedenken gegen das Verbot ein
hohes Gewicht haben. Ein Verbotsverfahren kann in einer
Demokratie immer nur die Ultima Ratio sein. Es zeichnet
unser Grundgesetz gerade aus, dass die Entscheidung
über ein Parteienverbot der Exekutive entzogen ist und
an strenge rechtliche Auflagen gebunden ist. Art. 21
Abs. 2 des Grundgesetzes ist die Konsequenz aus der un-
gehinderten Verbreitung des Nationalsozialismus am
Ende der Weimarer Republik, als Hitler sogar noch sein
Legalitätsversprechen abgab. Gerade die Wiederholung
einer solchen Täuschung wollten die Väter und Mütter des
Grundgesetzes verhindern. Ich füge hinzu: Wir werden
dies verhindern!
Wir hätten uns nicht für ein Verbotsverfahren gegen die
NPD entschlossen, wäre es ausschließlich um die Frage
des politischen Wettbewerbs zwischen den Parteien ge-
gangen. Eine Demokratie muss – das wissen wir alle –
auch falsche Lehren und sogar grobe Dummheit aushal-
ten können. Die rote Linie ist aber dann überschritten,
wenn eine Partei unter dem Deckmantel ihrer verfas-
sungsrechtlichen Stellung und mit dem Geld der Steuer-
zahlerinnen und Steuerzahler die Infrastruktur für Neona-
zis bereitstellt. Dies wollen wir nicht. Deshalb haben wir
uns heute hier versammelt.
Es geht nicht etwa um den politischen Meinungskampf,
sondern um den Schutz von Menschen vor ihren Feinden.
Wir sind es den mindestens 93 Opfern rechtsextremer Ge-
walt schuldig, jenseits strafrechtlicher Verantwortung auch
die organisatorische Infrastruktur rechter Gewalt zu zer-
schlagen.
Manche warnen vor der Beschränkung der Demo-
kratie durch den Ausschluss einer Partei aus dem Wett-
bewerb. Wir warnen hingegen vor einer Demokratie, in
der sich Farbige, Mitglieder religiöser Minderheiten und
Schwule abends nicht mehr auf die Straße trauen können.
Wer eingeschüchtert und verängstigt zu Hause bleibt, der
hat Angst, an der Demokratie teilzunehmen. Liegt nicht
gerade in dem Rückzug die viel größere Gefährdung der
Bürgerrechte als in dem entschlossenen Vorgehen gegen
die Verantwortlichen für diesen Rückzug, nämlich die
völkische NPD?
Ralph Giordano schrieb kürzlich:
Allein weil sie Fremde sind, werden Menschen wie
Hasen durch die Straßen deutscher Städte gejagt,
krankenhausreif geschlagen, auf Gleise gestoßen,
schwer verletzt und ermordet, wobei von dem Ver-
brechensmarathon überhaupt öffentlich nur noch
Notiz genommen wird, wenn ein besonders scheuß-
licher Fall aus den übrigen hervorragt. Was heißt: Im
Deutschland des Jahres 2000 ist rechte Gewalt zur
Alltagsnorm geworden.
Er sagt zum Schluss sinngemäß: Wir haben lange Zeit die
NPD und die Rechtsextremen „wie ungezogene Ver-
wandte behandelt“. Damit muss jetzt Schluss sein.
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Wolfgang Bosbach
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Für die Kolleginnen und Kollegen, die an der An-
hörung des Innenausschusses zum Thema Rechtsextre-
mismus nicht teilnehmen konnten, möchte ich Professor
Hajo Funke von der Freien Universität Berlin zitieren, der
bei dieser Anhörung Folgendes ausgeführt hat:
Wir sind seit nun mehr als neun Jahren mit der
Entwicklung und Verfestigung einer gegen Fremde
gerichteten völkischen Gewaltkultur konfrontiert,
die sich ungestraft und ohne angemessene Aufmerk-
samkeit von Öffentlichkeit und Politik hat entfalten
können und nun in internen Sozialisationsprozessen
inzwischen die dritte Generation der heute Zwölf-
bis Vierzehnjährigen erfasst.
Auch dem wird sich das Bundesverfassungsgericht im
Falle eines Verbotsantrages stellen müssen. Auch dies
wird mit in die Beratungen einbezogen werden müssen.
Dass das notwendige öffentliche Interesse an der NPD
und ihrem Charakter zugleich eine Aufwertung der Par-
tei bedeute – dies wird ja häufig von den Kolleginnen und
Kollegen der F.D.P. angeführt –, ist fast schon ein
autoritäres Argument. Es muss uns doch gerade darum ge-
hen, dass große Teile auch der liberalen Öffentlichkeit
endlich das Ausmaß der Gefahr, in der sich potenzielle
Opfer auch heute noch befinden, und damit auch die Aus-
höhlung des Rechtsstaates wahrnehmen.
Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die-
ser Staat die Einhaltung des Gewaltmonopols mit Blick
auf den Bau von Startbahnen und Atomkraftwerken zu
Recht eingefordert hat. Nur, dann müssen wir, wenn wir
glaubwürdig sein wollen, die Einhaltung des Gewaltmo-
nopols auch im Hinblick auf rechts einfordern. Dies muss
einvernehmlich geschehen.
Wir machen allerdings auch deutlich: Wir würden der
Öffentlichkeit etwas vorgaukeln – ich weiß, dass wir alle
unter dem Druck der Öffentlichkeit stehen –, wenn wir
jetzt so tun, als würden wir mit der Verkündung einer ent-
schlossenen Maßnahme den Rechtsradikalismus wegbe-
kommen. Es wäre falsch, den Eindruck im Raum stehen
zu lassen, dass mit dem NPD-Verbot das Problem des
Rechtsradikalismus beseitigt sein wird. Das wird nicht der
Fall sein.
Wir werden uns während des Verfahrens und auch nach
dem Verfahren mit dem Thema Rechtsextremismus be-
schäftigen müssen. Ich bin froh, dass diese Regierung als
Zeichen der Entschlossenheit im Bundeshaushalt 50 Mil-
lionen DM für die Jugendarbeit und für die Stützung der
Zivilgesellschaft bereitgestellt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, man
kann der Meinung sein – das wurde vorher zitiert –, dass
es angemessen ist, eine Unterstützungserklärung abzuge-
ben. Diese Position ist durchaus begründbar. Was ich
nicht verstehe, ist, dass Sie Folgendes nicht begreifen: Sie
wären glaubwürdiger, wenn Sie nicht gleichzeitig dafür
Kritik an der Bundesregierung übten, dass sie die Zivil-
gesellschaft mit diesen 50 Millionen DM unterstützt.
Wenn Sie einerseits keinen Verbotsantrag des Bundesta-
ges wollen und andererseits jede Maßnahme der Bundes-
regierung zur Bekämpfung des Rechtsradikalismus kriti-
sieren, dann machen Sie sich unglaubwürdig.
Sie sollten uns dabei unterstützen, dass wir eine pro-
fessionelle Jugend- und Sozialarbeit aufbauen, dass wir
die Sensibilisierung der Sicherheitsbehörden, die bereits
eingesetzt hat, weiter stärken, dass wir den Abbau von
Diskriminierung gegenüber Nichtdeutschen verstärken,
dass wir eine Bildungsoffensive auch in den Ländern star-
ten und dass wir uns mit dem Thema „Wie können wir
heute, da es immer weniger Menschen gibt, die das Dritte
Reich noch erlebt haben, die Erfahrungen aus dem Natio-
nalsozialismus künftigen Generationen in einer interkul-
turellen Gesellschaft vermitteln?“ beschäftigen. Das sind
Fragen, über die Sie sich mit uns gemeinsam Gedanken
machen sollten.
Ich bin froh darüber, dass das EXIT-Programm, das
Ausstiegsprogramm für Rechtsradikale, von der Bun-
desregierung unterstützt wird. Das ist ein wichtiges Signal
an alle diejenigen, die aus dem Teufelskreislauf Rechtsra-
dikalismus, wie er auch in der NPD vorhanden ist, aus-
steigen wollen. Niemandem von ihnen, der bereit ist, mit
dem Teufelshandwerk Schluss zu machen, ist die Tür ver-
schlossen, zurück in die Gesellschaft zu finden. Die Ge-
sellschaft muss die Möglichkeit geben, dass Rechtsex-
treme in die demokratische Gesellschaft zurückkommen.
Ich komme zum Schluss. Die Union schreibt in ihrem
Antrag, dass es eine klassische Aufgabe der Exekutive ist,
einen Verbotsantrag zu stellen. Ich finde, dass es auch eine
Frage der Demokratie ist. Daher sind die Volksvertrete-
rinnen und Volksvertreter gefragt.
Es reicht eben nicht aus zu sagen: Die Bundesregierung
und der Bundesrat sollen diesen Antrag stellen. Zu mei-
nem Verständnis des Parlamentarismus gehört ein solcher
Antrag. Wir alle hatten die Gelegenheit, das Material zu
sichten. Wenn das stimmt, was wir alle hinsichtlich des
Gefahrenpotenzials in der NPD festgestellt haben, dann
ist die Maßnahme, in Karlsruhe einen Verbotsantrag zu
stellen, richtig. Dafür setzen wir uns ein. Ich hoffe, dass
Karlsruhe diese Entscheidung unterstützen wird.
Lassen Sie uns aber auch mit der Verharmlosung
rechtsextremer Gewalt aufhören. Auch von dieser Stelle
aus wiederhole ich meinen Appell an Herrn Koch, den ich
kürzlich in der Haushaltsberatung geäußert habe: Hören
Sie auf, den Unsinn zu verbreiten, dass der Rechtsextre-
mismus eine Erfindung der Medien sei! Wir wissen alle,
dass dies nicht der Fall ist.
Ich erteile dem Kolle-
gen Guido Westerwelle, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Cem Özdemir
13795
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fraktion der
Freien Demokraten wird einem Antrag auf Verbot der
NPD nicht aus Verfahrensgründen, sondern aufgrund sehr
grundsätzlicher Überlegungen nicht zustimmen. Wir
glauben, dass das Verbotsverfahren die rechtsradikale
Szene am Schluss eher stärken wird, als dass es sie
schwächen könnte.
Wir halten die Erfolgsaussichten eines solchen Antra-
ges für fraglich und seine Nebenwirkungen für gefährlich.
Selbst ein positiver Ausgang des Verbotsverfahrens würde
das eigentliche Problem nicht lösen.
Ein Verbot wäre im Falle einer tatsächlichen Gefährdung
der Demokratie durch eine extremistische Partei das
richtige Mittel. In einer solchen Ausnahmesituation muss
die wehrhafte Demokratie auch vorbeugend zum Mittel
der Auflösung einer Partei greifen. Die Wahlergebnisse
der NPD zeigen aber, dass diese Gefahr nicht besteht und
dass die NPD von allen rechtsextremen Parteien die er-
folgloseste ist.
Tatsächlich geht es – das haben alle bisherigen Redner
aufgezeigt – um die Bedrohung von Menschen durch
rechtsextremistische Gewalt. Diese Kriminalität muss
mit allen Mitteln des Rechtsstaates, das heißt in erster Li-
nie mit Polizei und Strafrecht, bekämpft werden. Nie-
mand ist in Deutschland vor strafrechtlicher Verfolgung
durch irgendein Parteibuch geschützt.
Kein Steinewerfer, kein Ausländerhetzer und kein Schlä-
ger wird durch das Verbotsverfahren bekämpft; schließ-
lich sind solche Menschen von einem NPD-Parteiverbot
nicht betroffen. Das Parteiverbot – das wissen wir – ist
Staatsrecht und nicht Strafrecht, meine sehr geehrten Da-
men und Herren.
Wir müssen die einschlägigen Jugendstrafverfahren
durch eine bessere Ausstattung der Justiz beschleunigen.
Da sind die Defizite. Wir müssen polizeiliche und staats-
anwaltschaftliche Sondereinheiten auf alle Bundesländer
ausdehnen, in denen sich rechtsextremistische Jugendsze-
nen gebildet haben. Vor allem müssen Strafen ausgespro-
chen werden, die den Taten angemessen sind.
Wenn in Deutschland – dieses Urteil ist keine zwei Wo-
chen alt – ein junger Mann von einer Horde rechter Ge-
walttäter zu Tode gehetzt wird und die Täter überwiegend
mit Bewährungsstrafen und Verwarnungen davonkom-
men, dann ist das die falsche Antwort des Rechtsstaates.
Das ist der eigentliche Casus Belli in dieser Auseinander-
setzung.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Ent-
scheidungen zu den Verboten der SRP und der KPD zu
Recht sehr hohe Maßstäbe angelegt. Damals, zu Beginn
und Mitte der 50er-Jahre, stand unsere Demokratie weiß
Gott nicht auf so sicherem Boden. Das hat sich in den letz-
ten 50 Jahren geändert. Deutschland ist seit langem eine
gefestigte Demokratie. Es ist nicht zu erwarten, dass das
Bundesverfassungsgericht die hohen Anforderungen an
ein Parteiverbot herunterschrauben wird. Nach den uns
zur Verfügung stehenden Unterlagen hat das Verbotsver-
fahren ein hohes Prozessrisiko. Das Scheitern einer sol-
chen Klage wäre ein Desaster, weil die NPD gewisser-
maßen mit einem TÜV-Siegel anschließend in die
Wahlkämpfe ziehen wird.
Ein NPD-Verbotsverfahren wird sich über einen länge-
ren Zeitraum erstrecken, über Jahre! Das SRP-Verfahren
hat ein Jahr gedauert, das KPD-Verfahren etwa fünf Jahre.
In dieser Zeit hat die NPD die Möglichkeit einer er-
heblichen Propaganda gewissermaßen im öffentlichen
Licht. Selbst im – unsicheren – Fall eines Verbotes ver-
schwinden die Anhänger der NPD nicht plötzlich von der
politischen Landschaft; sie werden zu den anderen rechts-
radikalen Parteien gehen, zur DVU und zu den Republika-
nern. Deswegen glaube ich: Selbst ein erfolgreiches Ver-
botsverfahren wird eher zur Stärkung als zur Schwächung
der rechtsradikalen Szene beitragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie beklagen zu
Recht die Sendezeit der NPD in öffentlich-rechtlichen
Medien bei Wahlkämpfen.Wir sollten uns aber einen Au-
genblick Gedanken darüber machen, wie viel Sendezeit
diese schlimme Partei NPD allein durch dieses Verfahren
bekommen wird.
Als ein wesentliches Argument für das Verbot der NPD
wird das Geld genannt. Es stimmt: Die NPD hat etwa
800 000 DM aus staatlichen Mitteln erhalten – die DVU
doppelt so viel, die Republikaner fast das Sechsfache. Die
relative Erfolglosigkeit der NPD gegenüber den anderen
rechtsextremen Parteien wird dadurch noch einmal unter-
strichen.
Das Entscheidende aber ist, dass ein Verbot der NPD rech-
tes Gedankengut nicht beseitigt. Die staatlichen Gelder,
die jetzt die NPD bekommt, kämen dann ja nicht den de-
mokratischen Parteien oder der Zivilgesellschaft zugute,
sondern würden bei den anderen rechtsradikalen Parteien
landen. Dies zöge wiederum eine Stärkung der Szene
nach sich.
Ich möchte auf ein Argument hinweisen, das beispiels-
weise die Vorsitzende des Innenausschusses des Deut-
schen Bundestages, Frau Vogt, die der SPD angehört, in
die Debatte eingeführt hat; denn ich halte dies für richtig:
Schon jetzt nutzen die Republikaner in Baden-Württem-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 200013796
berg das Vorgehen gegen die NPD gewissermaßen als Gü-
tesiegel in eigener Sache, nach dem Motto: Das sind die
schlimmen Rechtsradikalen, gegen die geht man vor. Wir
sind die anständigen Rechtsradikalen, uns könnt ihr ruhig
wählen. – Das rechte Gedankengut in den Köpfen muss
man bekämpfen. Ein Parteiverbotsverfahren hilft uns
nicht weiter, meine Damen und Herren.
Die Konzentration auf ein Verbot der NPD lenkt
schließlich von den eigentlichen Problemen des Rechts-
extremismus ab. Es wird immer wieder gesagt, durch den
Verbotsantrag müsse ein Zeichen gesetzt werden. Wenn
sich ein Verfahren nicht für Symbolik eignet, dann ist es
ein Parteiverbotsverfahren. Das Zeichen-Setzen muss an
anderer Stelle geschehen: zum Beispiel dadurch, dass die
Parteien gemeinsam eine Kundgebung organisieren, zum
Beispiel dadurch, dass die Urteile entsprechende Härte
und Konsequenz zeigen, zum Beispiel dadurch, dass die
Mittel für politische Bildung aufgestockt und nicht abge-
baut werden. Das sind die Zeichen, die gesetzt werden
müssen.
Ein Verbotsverfahren ist die Ultima Ratio in einer par-
lamentarischen Demokratie. Diese Situation ist heute nicht
gegeben. Ein Zeichen muss man anders setzen. Der Bun-
destag muss politische Zeichen setzen, aber nicht ein sol-
ches Verfahren einleiten.
Rechtsextremismus muss politisch bekämpft werden.
Das ist vor allem dort aussichtsreich, wo der Einfluss auf
Menschen, vor allem auf junge Menschen, noch möglich
ist. Die Ursachen für Rechtsextremismus sind – das wis-
sen wir – vielfältig: Es sind die Defizite in Elternhaus,
Ausbildung und Bildung, es ist die fehlende Infrastruktur
für Jugendliche, es ist das soziale Umfeld, es ist die Per-
spektivlosigkeit durch Arbeitslosigkeit und es ist gele-
gentlich auch Mitläuferschaft. In allen diesen Bereichen
müssen die Maßnahmen ansetzen. Entscheidend ist daher,
dass junge Menschen zu mehr Mitmenschlichkeit, Tole-
ranz und demokratischem Verhalten erzogen werden.
Hier hat die Bundesregierung die falschen Signale ge-
setzt. Die Globalzuschüsse für die politischen Stiftungen
sind im Vergleich zu 1998 um 20 Millionen DM auf
167 Millionen DM gekürzt worden und die Bundeszen-
trale für politische Bildung hat für ihre Bildungsarbeit
jetzt mit 30 Millionen DM rund 25 Prozent weniger Gel-
der zur Verfügung als 1998.
Die F.D.P. hatte zum Haushalt dieses Jahres beantragt,
ein Sonderprogramm für „Erziehung zu Mitmenschlich-
keit und Toleranz“ in Höhe von mindestens 300 Milli-
onen DM aufzulegen. Diesen Antrag hat die Mehrheit des
Hauses leider abgelehnt. Ein NPD-Verbot kann solche
Maßnahmen aber nicht ersetzen. Wer die rechte Gesin-
nung rechtzeitig bekämpft, muss sich später nicht gegen
rechte Gewalt wenden, meine Damen und Herren.
Ein Parteienverbot trägt hierzu nicht bei.
Es geht nicht darum, was wir von der NPD halten und
wie wir sie politisch einschätzen. Darüber, dass die NPD
eine widerwärtige und auch verfassungsfeindliche Partei
ist, die mit allen politischen Mitteln bekämpft werden
muss, besteht in diesem Hause Einigkeit. Die Frage, ob
sie damit eine verfassungswidrige Partei im Sinne der
KPD-Verbotsentscheidung von 1956 ist, ist damit über-
haupt nicht beantwortet. Das wissen die Juristen hier ganz
genau.
Auch zum Verfahren möchte ich noch etwas sagen.
Die Bundesregierung hatte ursprünglich angekündigt,
zunächst sorgfältig die von den Verfassungsschutz-
behörden des Bundes und der Länder zusammengetra-
genen Informationen auszuwerten und anschließend eine
rechtliche und politische Beurteilung abzugeben.
Das hat sie aber ohne Not frühzeitig gelassen, indem sie
sich öffentlich auf ein Verbotsverfahren festgelegt hat.
Da ich hier durch viele Zwischenrufe auch Kritik für
meine Ausführungen erfahre, will ich Ihnen sagen: Noch
im Sommer hatte Innenminister Schily
seine Skepsis gegenüber einem NPD-Verbot zum Aus-
druck gebracht. Ich zitiere ihn wörtlich aus dem „Spie-
gel“:
Ich neige
– so sagte der Innenminister –
eher zur Skepsis. Zumal man sich die Frage stellen
muss, wie führe ich dann die Auseinandersetzung
mit einer solchen Partei, wenn sie in den Untergrund
gedrängt wird? Die Gefahr ist groß, dass ich ihre Mi-
litanz noch weiter erhöhe.
Das sagte der Verfassungsminister.
Ich als Freier Demokrat bestreite niemandem das Recht,
seine Meinung zu ändern, aber ich halte es für gänzlich un-
angebracht, denjenigen, die heute noch dieAuffassung des
Bundesinnenministers teilen, vorzuwerfen, sie würden
sich einer gemeinsamen Initiative verweigern.
Es gibt eben kein neues Material. Wir erleben hier die
Neubewertung – und zwar die politische Neubewertung –
alten Materials.
Bis heute haben wir entscheidungserhebliches Material
nicht erhalten, wenn ich zum Beispiel an die Telefonüber-
wachungsmaßnahmen denke. Da alle diese Akten ohnehin
vor Gericht öffentlich werden, kann ich nicht einsehen,
warum nicht dem Deutschen Bundestag als Verfassungs-
organ rechtzeitig alle diese Fakten vorgetragen worden
sind.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Dr. Guido Westerwelle
13797
Vor Gericht bleibt nichts geheim. Hier wird ein Popanz
aufgebaut; das ist ein unangemessener Umgang mit dem
Verfassungsorgan Deutscher Bundestag. Man erwartet
von uns, dass wir eine eigene Entscheidung sui generis
fällen, aber gleichzeitig sagen die Exekutiven: Das Mate-
rial kriegt ihr nur zu einem Teil. So geht man unter Ver-
fassungsorganen nicht miteinander um, meine Damen
und Herren.
Ich will noch eine letzte Bemerkung an Sie, meine
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, richten,
um das noch einmal klar zum Ausdruck zu bringen: Wenn
man sagt, man kenne das Material nicht und könne des-
wegen einen eigenen Antrag nicht unterstützen, dann
kann man auch nicht den Antrag anderer unterstützen.
Herr Kollege
Westerwelle, Ihre Redezeit ist überschritten.
Vielen Dank für den
Hinweis, Herr Präsident; ich komme zum Schluss.
Es gäbe noch viel mehr Argumente vorzutragen. Wir
sind die einzige Partei, die aus grundsätzlichen Überle-
gungen den Antrag und die Initiative im Verbotsverfahren
ablehnt. Nicht aus irgendeiner Sympathie mit der NPD
sind wir gegen dieses Verbotsverfahren, sondern weil wir
glauben: Das Gegenteil von „gut gemacht“ ist meistens
„gut gemeint“.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Das nationalsozialistische Herr-
schaftssystem von 1933 bis 1945 ist und bleibt das dun-
kelste Kapitel in der deutschen Geschichte. Nie vorher
und nie nachher gab es eine Diktatur, die im Wege des
Staatsterrorismus eine solche Vernichtungspolitik, einen
solchen Massenmord organisierte. Diktaturen gab es vor
dem NS-Regime, zeitgleich, nach dem NS-Regime und
wird es leider auch in Zukunft noch geben. Sie alle zeich-
nen sich dadurch aus, dass sie eine Gleichschaltung in der
Gesellschaft anstreben und Widerstand – in der Regel
schon Widerspruch – nicht dulden. Ihren vermeintlichen
oder wirklichen Gegnerinnen und Gegnern nehmen sie
häufig die Freiheit, nicht selten das Leben.
Die NS-Diktatur verfolgte nicht nur ihre vermeintli-
chen oder wirklichen Gegner. So begann sie zwar mit dem
Verbot der KPD und der Verfolgung und Ermordung der
Kommunistinnen und Kommunisten. Kurze Zeit später
folgten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,
linke Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und auch
Frauen und Männer des christlichen und des bürgerlichen
Widerstandes. Sie hatte aber darüber hinaus das einmalige
Ziel, die Juden in ganz Europa zu vernichten. Sie organi-
sierte in Vernichtungslagern den millionenfachen Mas-
senmord an ihnen. Ein gleiches Ziel verfolgte sie hinsicht-
lich der Sinti und Roma. Sie ermordete Menschen mit
Behinderungen als so genanntes unwertes Leben, ver-
folgte Homosexuelle, Zeugen Jehovas und viele andere.
Ihre Rassenideologie erklärte Menschen anderer Natio-
nen, insbesondere Slawen, für minderwertig.
So unterschied sich dann auch der Krieg des NS-Re-
gimes von anderen Kriegen. Im Osten Europas wurde er
als Vernichtungskrieg geführt. Vor allem sowjetische
Kriegsgefangene, aber nicht nur sie, auch andere, wurden
entgegen dem internationalen Recht in Konzentrationsla-
ger eingesperrt und zu Abertausenden ermordet. Die Ver-
brechensliste des NS-Regimes ist lang und einmalig.
Deutschlands Eroberungskrieg endete in einer bedin-
gungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945. Deutschland
war zerstört. 50 Millionen Tote waren das Ergebnis der
NS-Verbrechen und des Aggressionskrieges. Es war ver-
ständlich, dass viele Menschen in Europa davon ausgin-
gen, dass Deutschland von der Landkarte getilgt werden
sollte.
In Anbetracht der Größe der Verbrechen im Zusam-
menhang mit dem Zweiten Weltkrieg, aber auch ohne je-
den Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg ist das
Urteil der Geschichte über uns Deutsche – zumindest aus
heutiger Sicht – relativ milde ausgefallen. Deutschland
selbst war im Ergebnis des Krieges zerstört. Millionen
deutscher Soldaten hatten ihr Leben auf den Schlachtfel-
dern gelassen. Millionen Zivilisten kamen während der
Bombenangriffe auf Deutschland ums Leben. Die meis-
ten verloren Hab und Gut. Im Ergebnis des Krieges wurde
das Territorium Deutschlands verkleinert. Als Folge da-
von wurden die Deutschen aus den dann nicht mehr deut-
schen Territorien vertrieben. Sie haben stellvertretend für
Millionen andere Deutsche besonders gelitten. Deutsch-
land wurde letztlich geteilt – 40 Jahre lang. Aber ohne die
bedingungslose Kapitulation, ohne die militärischen
Siege der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens, Frank-
reichs, Polens und anderer Länder hätte das Nazi-Regime
nicht geendet. Deshalb – wie die Einzelne oder der Ein-
zelne diesen Tag auch erlebt haben mag – war dieser Tag
auch für das deutsche Volk ein Tag der Befreiung von der
barbarischen Nazi-Herrschaft.
Erst recht war dies ein Tag der Befreiung für die ande-
ren europäischen Völker und insbesondere für jene, die
sich bis dahin verstecken mussten, die aus den Konzen-
trationslagern und Gefängnissen befreit werden konnten.
Die deutschen Frauen und Männer, die aktiv Widerstand
gegen das NS-Regime geleistet hatten, die die Verbrechen
des NS-Regimes auf unterschiedliche Art und Weise
bekämpften, die zum Beispiel Jüdinnen und Juden ver-
steckten oder sich zumindest weigerten, sich an den Ver-
brechen zu beteiligen, haben den größten Anteil daran,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Dr. Guido Westerwelle
13798
dass es heute noch Deutschland auf der Landkarte gibt.
Denn mit ihnen verband sich die Hoffnung auf ein ande-
res Deutschland.
Wie unterschiedlich man ihr Wirken vor 1933 und nach
1945 auch einschätzen mag: In der Zeit zwischen 1933
und 1945 ragten sie heraus und signalisierten sie, dass die
NS-Ideologie nicht alle Deutschen erreicht hatte, machten
sie Hoffnung durch ihren Mut, durch ihren Widerspruch.
Deshalb, lieber Herr Westerwelle, wäre es vielleicht
doch besser gewesen, die NSDAP wäre in den 20er-Jah-
ren endgültig verboten worden und hätte nicht die Chance
gehabt, über Wahlen und eine rassistische sowie antise-
mitische Ideologie bis zur Machtübernahme erfolgreich
zu sein – und das auch noch auf legalem Wege.
Allein schon die Gründung der NPD 1964 war eine
Provokation. Von Beginn an versuchte diese Partei, die
Geschichte umzuschreiben, die Verbrechen des NS-Re-
gimes, die ich kurz dargestellt habe, zu leugnen, zumin-
dest zu bagatellisieren. Von Beginn an gab es aus dieser
Partei heraus Rechtfertigungen für Antisemitismus, Ras-
sismus und Fremdenfeindlichkeit. Nach anfänglichen Er-
folgen wurde die Partei immer bedeutungsloser, bis sie in
den letzten Jahren wieder an Gewicht gewann. Sie verfügt
über zahlreiche Verbindungen in die militante Szene und
trägt intellektuelle und zum Teil auch organisatorische
Verantwortung bzw. Mitverantwortung für die Zunahme
rechtsextremistischer Gewalt in Deutschland. Sie hat mit
der im Grundgesetz verankerten freiheitlich-demokrati-
schen Grundordnung nichts am Hut. Sie ist verfassungs-
widrig. Vor allem aber verletzt ihre gesamte Programma-
tik, ihr gesamtes Auftreten Art. 1 des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland. Für sie ist die Würde des
Menschen antastbar – und sie tastet sie täglich an.
Das beginnt schon damit, dass Nichtdeutsche für sie
Menschen zweiter Klasse sind, erst recht Menschen jüdi-
schen Glaubens. In geradezu beispielloser Art und Weise
hetzt sie gegen politische Gegnerinnen und Gegner, insbe-
sondere gegen linke, aber auch gegen bürgerliche. Die
NPD ist ein Feind des Art. 1 des Grundgesetzes der Bun-
desrepublik Deutschland.
Gegen die zunehmende rechtsextremistische Gewalt
hat der Bundeskanzler den Aufstand der Anständigen ge-
fordert. Michel Friedman, Mitglied der CDU und stell-
vertretender Vorsitzender des Zentralrates der Juden in
Deutschland, hat zu Recht gefordert, diesen Aufstand
durch einen Aufstand der Zuständigen zu ergänzen. Jede
Bürgermeisterin, jeder Bürgermeister, jede Landrätin, je-
der Landrat, jeder Ministerpräsident verletzt seine Zu-
ständigkeit, wenn er rechtsextremistische Gewalt im
Interesse des vermeintlichen Ansehens seiner Region ver-
harmlost. Die Zeit der Verharmlosung muss eindeutig
vorüber sein.
Auch wir hier im Bundestag sind Zuständige. Mit einem
Antrag auf Verbot der NPD verhalten wir uns als Zustän-
dige.
Ein Parteienverbot muss natürlich die absolute Aus-
nahme sein. Es darf nicht zur Normalität werden. Daran
sind höchste Anforderungen zu knüpfen; darin stimmen
wir hier wohl alle überein.
Aber im Falle der NPD ist eine solche Ausnahme ge-
geben.
Herr Westerwelle, Sie sagen, gerade die Erfolglosig-
keit der NPD bei Wahlen halte Sie von einem solchen Ver-
bot ab. Meiner Meinung nach wäre es viel problemati-
scher, ein solches Verfahren durchzuführen, wenn die
NPD mit jeweils 20 Prozent in den Landtagen säße, und
zwar nicht nur deshalb, weil es dann vielleicht zu spät
wäre, sondern auch deshalb, weil uns dann unterstellt
würde, wir würden uns auf diese Art und Weise einer un-
liebsamen Konkurrenz entledigen wollen. Das aber kann
uns gegenwärtig glücklicherweise niemand unterstellen.
Dann möchte ich den Aspekt der Zweckmäßigkeit an-
sprechen; denn darüber kann man diskutieren. Dazu sage
ich hier ganz offen und gleichzeitig so neblig, wie ich es
nur formulieren kann: Über Zweckmäßigkeit kann man
hinter verschlossenen Türen diskutieren, solange die For-
derung nach einem Verbot nicht in breiter und öffentlicher
Form erhoben worden ist. In dem Moment, wo dies ge-
schehen ist, bedeutet eine Diskussion über den Grad der
Zweckmäßigkeit eine Aufwertung dieser rassistischen
und antisemitischen Partei.
Genau das können wir uns dann nicht mehr leisten. Das
hätte man vorher tun müssen.
Ich möchte auch an die schwierige Situation von Justiz
und Polizei erinnern. Heute ist die NPD noch eine legale
Partei. Immer wieder versuchen Innensenatoren und viele
andere Verantwortliche, ihre Demonstrationen, in denen
klares rechtsextremistisches Gedankengut ausgetragen
wird, zu verbieten. Sie scheitern in der Justiz am Partei-
enprivileg. Aufgrund dessen ist die Polizei verpflichtet,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Dr. Gregor Gysi
13799
auch solche Demonstrationen zu schützen, weil die dann
Ausdruck der Wahrnehmung eines Grundrechts sind.
Dann kommen nicht selten Linke und beschimpfen die
Polizei. Dabei ist sie dafür überhaupt nicht verantwort-
lich. Wir sind zuständig, dafür zu sorgen, dass so etwas
nicht legal betrieben werden kann.
Herr Kollege Gysi,
Sie müssen zum Ende kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist wahr: Das NPD-Verbot
ist weiß Gott nicht alles. Aber es ist auch nicht nichts.
Dass wir viel im Bereich Bildung und in manchen ande-
ren Bereichen – dazu kann ich jetzt nicht mehr sprechen –
tun müssen, scheint mir klar. Darüber sind wir uns hier
wohl auch einig. Zu Recht haben Sie auch die Bundesre-
gierung hinsichtlich ihrer Geheimniskrämerei kritisiert.
Ich sehe überhaupt nicht ein, weshalb wir hier nicht voll-
ständig informiert worden sind.
Herr Präsident, meine letzte Bemerkung: 40 Jahre lang
war unser Land als Ergebnis der Verbrechen des NS-Re-
gimes und des Zweiten Weltkrieges geteilt. Trotz aller
Leiden, die damit verbunden waren, war das – wie ge-
sagt – ein eher mildes Urteil der Geschichte. Nach dieser
Bewährungszeit entstand wieder ein Deutschland mit
dem Recht auf Gleichberechtigung im Bund der Staaten
und Völker, aber auch mit der Verantwortung, nichts, aber
auch gar nichts zuzulassen, was uns je in solche Verhält-
nisse wie im Jahre 1933 zurückführen könnte. Deshalb,
meine Damen und Herren, gehört die NPD verboten.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Erika Simm, SPD-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich kann es
mir ersparen, hier noch rechtliche Ausführungen zu den
Kriterien zu machen, die das Bundesverfassungsgericht
bei der Prüfung der Frage, ob eine Partei verfassungswid-
rig ist oder nicht, anlegt. Herr Gysi hat zum Schluss
manch Kluges dazu gesagt. Vor allem aber Herr Bosbach
hat diese Aspekte schon breit und zutreffend dargelegt.
Was mich etwas wundert, ist die Volte, die er dann bei der
Frage geschlagen hat, welche Konsequenzen aus der Er-
kenntnis, dass die NPD eine verfassungswidrige Partei ist,
zu ziehen sind.
Die Begründung, die er uns geliefert hat, warum sich
die CDU/CSU trotzdem nicht dem Antrag von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen anschließen möchte, erschöpfte
sich ja eigentlich darin, dass es eine klassische Aufgabe
der Exekutive sei, einen solchen Verbotsantrag zu stel-
len, weil Bund und Länder über ihre Verfassungsschutz-
behörden originäre Erkenntnisse gewinnen könnten.
Ich halte dieses Argument – verzeihen Sie – für ausge-
sprochen schwach. Ich meine, dass damit eigentlich nicht
mehr gesagt wird als: Das haben wir noch nie gemacht;
deswegen machen wir es auch jetzt nicht.
Substanziell steht nichts anderes dahinter.
Ich bin der Meinung, dass der Deutsche Bundestag
einen eigenen Antrag stellen sollte. Die einschlägige
Vorschrift des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes be-
sagt, dass antragsberechtigt der Deutsche Bundestag, der
Bundesrat und die Bundesregierung sind. Sie sind dort in
dieser Reihenfolge genannt. Einen Vorrang der Exekutive
vermag ich in dieser Frage nirgendwo zu erkennen. Er
scheint mir auch objektiv nicht gegeben.
Wir haben Materialien bekommen, und zwar in so ausrei-
chendem Umfange, dass wir uns ein Urteil bilden können.
Wir schauen fern, wir lesen Zeitungen und wir erleben die
Auftritte dieser Partei. Ich denke, das, was wir wissen und
was uns zugänglich ist, reicht dafür aus, dass wir uns ein
eigenes Urteil bilden.
Ich hielte es für sehr gefährlich, wenn nicht auch der
Deutsche Bundestag diesen Antrag stellte, weil eine sol-
che Enthaltsamkeit Anlass zu Missdeutungen geben
könnte. Wir erweckten den Eindruck, wir stünden nicht
wirklich hinter diesem Antrag, wir seien uns unserer Sa-
che nicht sicher und wir seien uns nicht sicher, dass wir
ausreichende Argumente haben; mehr noch: wir würden
uns möglicherweise von den Anträgen der Bundesregie-
rung und des Bundesrates distanzieren. Einen solchen
Eindruck hielte ich für äußerst schädlich. Ich bin der Mei-
nung, die Sache gebietet es, dass alle drei Verfassungsor-
gane gleich lautend und geschlossen diesen Antrag stel-
len. Das halte ich für eine Notwendigkeit, um nach außen
hin überzeugend auftreten zu können.
Nun ein Wort zu der Argumentation, die Herr
Westerwelle für die F.D.P. vertreten hat und die wir aus
dem Antrag der F.D.P. kennen. Die F.D.P. möchte aus an-
geblich grundsätzlichen Erwägungen keinen Antrag
stellen.
Schaut man sich die grundsätzlichen Erwägungen an, so
handelt es sich tatsächlich um Zweckmäßigkeitsüberle-
gungen.
Solche Überlegungen sind zulässig und durchaus legitim.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Dr. Gregor Gysi
13800
Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Auch wenn
die Verfassungswidrigkeit einer Partei feststeht, muss we-
der Bundestag noch Bundesrat noch Bundesregierung ei-
nen Verbotsantrag stellen. Ob dies geschehe oder nicht,
liege vielmehr in ihrem pflichtgemäßen politischen Er-
messen. Dabei können auch Zweckmäßigkeitsüberlegun-
gen angestellt werden. Aber, Herr Westerwelle, ich beant-
worte die von Ihnen aufgeworfenen Fragen anders: Wenn
es sich um die Frage dreht, ob ein Parteiverbot das geeig-
nete Mittel sei, dann stellen Sie diese Frage in einer Art
und Weise, die unterstellt, wir wollten darüber hinaus
nichts tun. Wenn Sie dies behaupten, behaupten Sie es wi-
der besseres Wissen. Denn wir haben – das wissen Sie
ganz genau; ich glaube sogar, noch vor Ihnen – einen um-
fassenden Antrag zur Bekämpfung des Rechtsextremis-
mus eingebracht.
Inzwischen haben dies alle Parteien dieses Hauses getan.
Wir haben uns vorgenommen, über diese Anträge zu dis-
kutieren, sie zu beraten, zu versuchen, eine gemeinsame
Entschließung zu finden und ein gemeinsames
Maßnahmepaket zu schnüren. Ich halte es für erstrebens-
wert, dies zu tun, um deutlich zu machen, dass alle Par-
teien dieses Hauses den Rechtsextremismus an der Wur-
zel bekämpfen und nicht nur die NPD verbieten wollen.
So viel dazu.
Dann befürchten Sie, dass im Falle eines Verbotes der
NPD deren Mitglieder zu anderen rechtsextremen Grup-
pierungen abwandern würden und dies zu einer Vereini-
gung der rechten Gruppierungen und Parteien führen
würde. – Herr Westerwelle, umgekehrt wird ein Schuh da-
raus! Es ist doch zurzeit die NPD, der es gelungen ist, eine
Vielzahl von rechtsextremen Strömungen und Gruppie-
rungen in sich zu vereinigen und ihnen ein ideologisches
Dach und eine politische Heimat zu bieten. Deshalb denke
ich, dass wir, wenn wir die NPD verbieten, wenn wir ihre
Strukturen durch das Verbot und die nachfolgende Auflö-
sung zerschlagen, das rechte Lager schwächen, statt es zu
stärken.
Auch aus diesem Grunde halte ich das Verbot der NPD für
geboten. Denn es macht – es ist schon gesagt worden – ge-
rade den Unterschied zwischen der NPD und anderen
rechtsextremen Parteien aus, dass sie eine relativ or-
ganisationsstarke Partei ist, die über eine stabile Mitglie-
derschaft und auch ausreichende Finanzen verfügt, um
Aktionen tatsächlich durchziehen zu können.
Dann argumentieren Sie, die Wahlergebnisse der
NPD seien schlecht und zeigten ihre politische Bedeu-
tungslosigkeit, sodass sie keine Gefahr für die Demokra-
tie bedeute. – Dazu sage ich: Gott sei Dank ist es so! Gott
sei Dank sind wir eine wehrhafte, stabile Demokratie und
brauchen wegen der NPD keine unmittelbaren Befürch-
tungen zu haben. Aber die Wahlergebnisse bei den Land-
tagswahlen 1998 in Mecklenburg-Vorpommern, 1999 in
Sachsen und heuer in Schleswig-Holstein haben immer-
hin ausgereicht, die NPD wieder in den Genuss staat-
licher Parteienfinanzierung kommen zu lassen, zuletzt
– es ist schon gesagt worden – 1,16 Millionen DM für
1999.
Was bedeutet das? Wir alimentieren aus staatlichen
Mitteln eine als verfassungswidrig erkannte und von uns
so eingeschätzte Partei. Wir finanzieren deren ekelhafte,
widerliche, aggressive Auftritte aus Steuergeldern mit.
Ich bin der Meinung, wir können der großen Mehrzahl un-
serer Bürger, die mit dieser Partei nichts am Hut haben,
aber brav ihre Steuern zahlen, nicht zumuten, dass wir als
demokratisch strukturierter Staat die Aktionen der NPD
weiterhin mit finanzieren.
Was mir zudem große Sorge macht, ist die Tatsache,
dass die NPD es versteht, zumindest in einem bestimmten
Spektrum der Jugend – diese Jugendlichen sind Leute aus
der Skinheadszene, junge Neonazis – für sich zu werben
und diese Jugendlichen zu gewinnen. Sie rühmt sich, dass
das durchschnittliche Beitrittsalter der Neumitglieder
mittlerweile auf etwa 25 Jahre gesunken sei. Sie bietet
diesen Jugendlichen, die in unserer Gesellschaft sonst
eher eine Außenseiterrolle einnehmen, eine politische
Heimat, Anerkennung und die ideologische Rechtferti-
gung ihres menschenverachtenden, gemeinschaftsfeindli-
chen Verhaltens. Das können wir doch nicht weiterhin zu-
lassen!
Natürlich bedarf es, um diese Jugendlichen aus ihrer
Szene herauszuholen und Verhaltensweisen zu ändern, ei-
ner Vielzahl von Maßnahmen im sozialen Bereich und im
Bildungsbereich, internationaler Begegnungsmöglichkei-
ten und natürlich auch konsequenter Strafverfolgungs-
maßnahmen.
Das alles enthalten unsere Anträge, die wir bereits ein-
gebracht haben, enthält auch Ihr Antrag.
Aber daneben bedarf es in meinen Augen des Verbotes
der NPD, die diese Jugendlichen gezielt für sich und ihre
politischen Zwecke instrumentalisiert und in ihren Ver-
haltensweisen bestärkt. Ich bin der Meinung, wir müssen
beides tun: die NPD verbieten bzw. einen Antrag auf ein
Verbot stellen, auch als Deutscher Bundestag, und ein Pa-
ket vielfältiger Maßnahmen schnüren, um Rechtsextre-
mismus und rechtsextremistisch motivierte Gewalt an der
Wurzel zu bekämpfen.
Ich danke Ihnen.
Nun hat der Kollege
Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch die Union
hat sich die Frage eines Verbotsverfahrens und eines ei-
genen Antrags in dieser Richtung bzw. der Zustimmung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Erika Simm
13801
zu einem solchen Antrag mit Sicherheit nicht leicht ge-
macht. In dieser Debatte ist, glaube ich, deutlich gewor-
den: Niemand in diesem Saal hält die NPD in ihrer
derzeitigen Verfassung für eine mit dem Grundgesetz
übereinstimmende Partei. Jeder hier erklärt, die NPD
wolle die Werteordnung des Grundgesetzes beseitigen,
und zwar in aggressiv-kämpferischer Haltung.
Es ist allerdings eine ganz andere Frage, ob man des-
halb gleich einen Verbotsantrag stellen muss. Jeder der
Vorredner hat klar zwischen der Prüfung der Situation die-
ser Partei und der Prüfung der Frage, ob ein Verbotsver-
fahren verhältnismäßig und im Sinne der politischen Aus-
einandersetzung sinnvoll wäre, unterschieden. Aber eines
wird man nicht bestreiten können: Die Zahl der Antrag-
steller beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
macht die NPD mit Sicherheit nicht verfassungsfeindli-
cher. Ob zwei oder drei Verfassungsorgane einen Ver-
botsantrag stellen, hat – mit Sicherheit wird hier niemand
das Gegenteil behaupten – keinen Einfluss auf den Aus-
gang des Verfahrens. Ein eigener Antrag des Bundestages
ist in vorangegangenen Verfahren nie gestellt worden.
Jetzt kann man natürlich sagen, das Grundgesetz teile
allen dreien die Kompetenz zu, einen Verbotsantrag zu
stellen.
Ihr Bundeskanzler hat im Sommer zunächst erklärt, er
gehe nur nach Karlsruhe, wenn das alle Verfassungs-
organe tun. Ich fühle mich aber vorbelastet, wenn mir ge-
genüber öffentlich Erwartungen geäußert werden, bevor
wir diskutieren und Unterlagen einsehen können.
Ich finde, das ist kein guter Umgang mit einem Parlament;
und es gab ja in den Parteien, die jetzt zur Koalition
gehören, ähnliche Bedenken. Herr Westerwelle und Herr
Bosbach haben mit deutlichen Zitaten darauf hingewie-
sen.
Von Mallorca aus hat der Kanzler dann angerufen und
gesagt, die NPD werde bekämpft. Damit hieß es für die
Truppe: Kehrt, marsch, marsch!
Vier Wochen später gab es die Erklärung, man prüfe die
Verbotsfrage durch einen Arbeitsstab. Weitere vier Wo-
chen später war klar: Die, die Bedenken hatten, mussten
widerrufen. So kam es zu diesem Verfahren.
Ich wiederhole: Ich halte einen Verbotsantrag bei Ge-
richt für richtig, und deswegen haben wir uns zu einer Zu-
stimmung zu dem laufenden Verbotsverfahren durchge-
rungen.
Aber ich stelle oder unterstütze – da bitte ich wirklich um
Verständnis – einen eigenen Verbotsantrag des Parlaments
nur, wenn ich im Vollbesitz aller Unterlagen bin. Solange
mir die Exekutive in zig Erklärungen sagt, es gebe fünf-
zig Seiten zusätzliches Material, und wenn ich das kennen
würde, hätte ich eine klarere Sicht,
und zusätzlich gebe es Abhörprotokolle, die ich nicht
kenne, deren Kenntnis zu einer noch deutlicheren Mei-
nung führen würde, sage ich Ihnen:
So kann man mit dem Verfassungsorgan Parlament nicht
umgehen.
Dennoch halte ich in diesem Fall die Zustimmung zu
einem Antrag durchaus für vertretbar.
Aber natürlich ist es eigentlich Sache der Exekutive, ei-
nen Antrag zu stellen und diesen bei Gericht zu vertreten,
wenn sie mehr Unterlagen hat, als sie uns zur Verfügung
stellt.
Ich muss an dieser Stelle aber ganz klar sagen: Wenn
man einen Antrag bei Gericht stellt – auch wenn das Par-
lament das macht –, ist damit nicht automatisch als Er-
gebnis das Verbot der Partei verbunden. Sie tun manchmal
so, als sei ein Verbot schon klar und deutlich abzusehen.
Ich halte das für ein Stück Missachtung des Verfassungs-
gerichts. Wer die Prozesslage kennt, muss öffentlich da-
rauf hinweisen, dass theoretisch durchaus die Gefahr oder
die Chance – je nachdem, wie Sie es nehmen – besteht,
dass diese Partei, die auch ich derzeit für verfassungswid-
rig halte, bis zur letzten Verhandlung durch Klärungs-
oder Reinigungsprozesse – etwa, indem sie die großen
Idioten rausschmeißt oder sich von ihnen distanziert – ei-
nem Verbot „entkommt“. Es gibt also „Zwischentöne“
und ich warne davor, die Entscheidung vorzubelasten.
Sonst heißt es eventuell hinterher – wenn es zur Feststel-
lung der Verfassungswidrigkeit, aber nicht zu einem
Verbot der Partei käme –, dass alle, die einen Antrag ge-
stellt haben, eine Niederlage erlitten hätten. Dazu sage ich
ganz deutlich: Wir wollen eine Klärung der Frage. Ge-
richte sind aber souverän und unabhängig und werden alle
Unterlagen prüfen. Wenn die Exekutive sagt, sie habe
noch einiges in der Hinterhand, dann bitte schön!
Kollege Zeitlmann,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich bitte um
Entschuldigung. Wir haben diese Frage in den Ausschüs-
sen schon so lange diskutiert. Ich bitte um Verständnis.
Ich will eins noch ganz klar sagen: Herr Gysi, es geht
nicht an, dass Sie sich hinstellen und nur einen Teil der
deutschen Geschichte behandeln. Sie waren heute Mor-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Wolfgang Zeitlmann
13802
gen ein typisches Beispiel dafür, wie Blinde auftreten: Sie
haben nur das „Rechtsaußen“ der deutschen Geschichte
dargestellt und haben mit fast keinem Wort auf die zweite
Diktatur in Deutschland verwiesen.
Damit haben Sie den Eindruck erweckt, als seien nur auf
der rechten Seite Radikalität und Extremismus vorhan-
den gewesen.
Meine Damen und Herren, ich sage jetzt etwas, was
ganz links sicher nicht auf Wohlgefallen stößt. Ich be-
haupte, diese Republik hat 1990 den großen Fehler ge-
macht, dass sie die SED und deren Nachfolgeorganisatio-
nen nicht auch verboten hat. Das sage ich ganz offen.
Dann wäre uns manches erspart geblieben.
Wir haben es uns in der Frage eines Verbotsantrages
wirklich schwer gemacht, denn eins ist klar: In diesem
Land gibt es seit diesem Sommer leider eine Form der
Hysterie im Umgang mit Radikalität. Ich verweise nur auf
die Stimmungslage in diesem Land nach den Vorkomm-
nissen in Sebnitz.
Gestern liefen die Feststellungen der Sicherheitsbehörden
zum Angriff auf die Synagoge in Düsseldorf über die
Ticker. Ich bitte all diejenigen, die damals gleich Stim-
mung gemacht und „die Unanständigen in diesem Lande“
– Sie wissen, was ich meine – tituliert haben: Es muss un-
ter Demokraten in diesem Hause bei solchen Themen wie-
der möglich sein, normal miteinander umzugehen und zu
diskutieren. Solche Stimmungsmache kann nicht richtig
sein.
In vielen Veröffentlichungen seit dem Sommer – ich
könnte sie Ihnen vorlegen – habe ich festgestellt, dass in
der Semantik in dem berechtigten Bemühen, gegen
Rechtsextremismus zu kämpfen, versucht wird, die
Grenze zu verschieben. Ich erinnere mich zum Beispiel an
eine Karte der Bundeszentrale für politische Bildung, in
der es heißt: „Kampf gegen Rechts“. Ganz klein gedruckt
steht dahinter noch „Extremismus“. Ich kenne Unterlagen
von SPD-Kollegen, die ganz eindeutig nur noch von
„rechts“ sprechen.
Meine Damen und Herren, ich nehme für mich in An-
spruch, ein Politiker zu sein, der in der Mitte und rechts
steht. Dazu stehe ich. Es gibt eine demokratische Rechte.
Es wird Ihnen nicht gelingen, hier den Eindruck zu ver-
mitteln, als ob man rechts generell – –
– Das war nicht die Frage. Aber es gab in den letzten Mo-
naten genügend Anlass, hierzu ein Wort zu sagen.
Herr Kollege
Zeitlmann, ich muss Sie noch einmal fragen: Gestatten
Sie eine Zwischenfrage?
Ich habe es schon
gesagt: Ich werde heute keine Zwischenfragen zulassen.
Ich möchte nun noch etwas zur Frage der Verhältnis-
mäßigkeit sagen. Natürlich muss ein Staat mit einem Ver-
botsantrag nicht warten, bis eine immanente und über-
mäßig große Gefahr droht und konkrete Existenzgefahr
besteht. Wir haben die Pflicht, vorher zu handeln. Vor Ge-
richt wird das große Problem aber sein, nachzuweisen,
dass 7 000 oder 8 000 Rechtsextreme bei etwa 30 000
BGS-Beamten und etwa 150 000 Länderpolizisten und
Verfassungsschützern eine existenzielle Gefährdung für
diese Republik darstellen. Ich bin für einen Antrag. Aber
man wird doch wohl noch offen über die Risiken eines
Gerichtsverfahrens diskutieren dürfen.
Ich stelle fest: Diese Regierung hat in den Monaten vor
dem Sommer keinerlei Anstalten gemacht, um auf eine
Gefahr hinzuweisen. Es gibt weder ein „Braunbuch“ über
die schweinischen Äußerungen von führenden NPD-Leu-
ten noch eine politische Auseinandersetzung;
es gibt vielmehr nur einen Verbotsantrag, dem wir mit un-
serer Resolution zustimmen. Gleichzeitig möchten wir
aber deutlich machen, dass der Kampf auch auf anderen
Ebenen, unter anderem in der politischen Auseinander-
setzung, stattfinden muss, und zwar mit klar definierten
Zielen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile der Kolle-
gin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Zunächst möchte ich feststellen, dass die Bekämpfung des
Rechtsextremismus ein zentrales Anliegen der Koaliti-
onsfraktionen ist und dieses ganzen Parlaments sein
sollte. Herr Kollege Zeitlmann, ich sehe überhaupt keinen
Grund für eine Entwarnung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Wolfgang Zeitlmann
13803
Seit der Debatte im Sommer haben wir dieses Thema end-
lich in den Blickpunkt gerückt. Es hätte uns alle hier und
die Gesellschaft schon viel länger beschäftigen müssen.
Wie gesagt: Es gibt überhaupt keinen Grund zur Entwar-
nung.
Das Verbot der NPD ist in diesem Zusammenhang ein
notwendiger Schritt zur Bekämpfung des Rechtsextre-
mismus. Es kann aber nur eine Maßnahme unter vielen
sein; das muss klar sein. Ich fürchte, die Fokussierung der
Debatte auf das Verbot in den letzten Monaten hat der Sa-
che eher geschadet als genutzt. Sie hat von einer Ausei-
nandersetzung mit den Ursachen des Rechtsextremis-
mus abgelenkt. Das Hauptproblem liegt nicht außerhalb,
sondern in der Mitte der Gesellschaft und ist nicht allein
durch die markige Demonstration staatlicher Gewalt zu
lösen.
Deshalb bin ich froh, dass wir in den Haushaltsbera-
tungen auf der Grundlage eines Antrages der Koalitions-
fraktionen, den wir übrigens schon vor dem Sommer ein-
gebracht haben, Herr Zeitlmann, ein deutliches Zeichen
zur Förderung der Zivilgesellschaft gesetzt haben. Für
Opferschutz, Aufklärung, Beratung und Jugendarbeit sind
50 Millionen DM zusätzlich bereitgestellt worden. Dazu
kommt das Xenos-Programm „Leben und Arbeiten in
Vielfalt“, das bereits in diesem Jahr angelaufen ist, mit
Maßnahmen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung
auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft. Hierfür ste-
hen noch einmal je 25 Millionen DM in den nächsten drei
Jahren aus EU-Mitteln zur Verfügung. Ich glaube, das ist
ein Gesamtprogramm, das sich sehen lassen kann,
ein notwendiger und richtiger Schritt der Koalitionsfrak-
tionen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus, Frem-
denfeindlichkeit und Rassismus.
Aber der Verbotsantrag gegen die NPD ist ein ebenso
notwendiger Schritt, den wir heute auch als Parlament tun
sollten. Ich kann die Kritik der F.D.P. daran überhaupt
nicht nachvollziehen. Sicher lassen sich Meinungen nicht
verbieten, das ist richtig. Über Meinungen und Einstel-
lungen müssen wir uns auseinander setzen. Aber bei Auf-
stachelung zu Antisemitismus, zu Rassismus, zu Hass und
Gewalt endet die Meinungsfreiheit und beginnt das Ver-
brechen.
Das geht doch aus dem über 500-seitigen Material, das
uns allen vorliegt, deutlich hervor. Die NPD nutzt die Pri-
vilegien und den Schutz des Parteiengesetzes für eine in-
tensive Förderung und die Zusammenarbeit mit der offen
gewalttätigen Neonaziszene. Viele Neonazis aus verbote-
nen Organisationen haben in der Partei ein neues Betäti-
gungsfeld gefunden und betrachten sie als Ersatzorgani-
sation. Weder für mich noch für viele andere Bürgerinnen
und Bürger, die wir ja zu Engagement und Zivilcourage
aufgerufen haben, ist es nachvollziehbar, dass über die
Parteienfinanzierung Millionenbeträge in rassistische,
antisemitische und neonazistische Propaganda fließen.
Natürlich, Herr Westerwelle, haben wir in der Bundes-
republik Gesetze gegen Mord und Totschlag, gegen Über-
fälle und rassistische Angriffe und Pöbeleien. Auch ich
wünsche mir, dass sie von Polizei und Justiz flächen-
deckend entsprechend angewendet werden. Ich wünsche
mir Prozesse, wie sie in Dessau geführt worden sind, und
nicht entwürdigende, lange Verfahren wie zum Beispiel in
Guben.
Aber das Strafrecht allein hier als Mittel gegen rechts-
extreme Gewalt ins Feld zu führen, das heißt, die fatale
Wirkung einer offen auftretenden Organisation mit men-
schenverachtender Demagogie und rassistischer Praxis zu
unterschätzen, die, wenn sie denn offen auftreten kann,
anscheinend – das ist ja genau die Wirkung – auch von den
anderen Parteien als Teil der Normalität akzeptiert wird.
Die NPD ist ein Schutzschild für nationalsozialistische
Gewalttäter und in diesem Bereich macht sie auch ihre
Angebote. Sie tritt offen auf und spricht gerade Jugendli-
che an, die eben dadurch an Nazigewalt herangeführt wer-
den.
Das Argument, die NPD-Mitglieder könnten in den
Untergrund abtauchen, das ja immer wieder vorgebracht
wird, verkennt die Realität, dass die Partei schon immer
eine Funktion als Durchlauferhitzer für die gewalttätige
Neonaziszene hatte – bis hin zu Wehrsportgruppen und
terroristischen Ansätzen. Rechtsextreme, die einst in die
offen und öffentlich auftretende NPD eingetreten sind,
haben sich offenbar dort radikalisiert und Kontakte zu ent-
sprechenden Kreisen gefunden.
Deshalb, Herr Westerwelle, ist es eine völlige Fehlein-
schätzung auf Ihrer Seite, dass mit einem Verbot der NPD
die rechtsextreme Gewalt noch zunehmen würde. Das
Gegenteil ist der Fall.
Die NPD zu verbieten ist ein Schritt, keineswegs der ein-
zige, um den Aktionsradius von Rechtsextremisten einzu-
schränken.
Die Gründe für ein Verbot der NPD sind in dem vor-
liegenden Material hinreichend dargelegt und untermau-
ert. Daher verstehe ich überhaupt nicht, warum sich die
CDU/CSU-Fraktion nicht in der Lage sieht – Herr
Zeitlmann, verzeihen Sie mir, aber da finde ich Ihre Ar-
gumentation doch wirklich verworren –, das, was vor-
liegt, auch zu bewerten und daraus Konsequenzen zu zie-
hen.
Ich verstehe Sie auch deshalb nicht, weil ein eigener
Antrag des Bundestages schließlich auch da die Möglich-
keit von Ergänzungen bietet, wo die spezifische Sicht der
Verfassungsschutzämter Lücken gelassen hat. So ist in
dem Material zwar das theoretische Konzept der „natio-
nal befreiten Zonen“ zur Kenntnis genommen worden,
nicht aber die praktische Umsetzung. Dafür müsste zuge-
geben werden, dass es solche Angsträume in der Realität
unserer Republik auch wirklich gibt, in denen sich Men-
schen mit anderer Hautfarbe, Obdachlose, Homosexuelle,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Annelie Buntenbach
13804
alternative Jugendliche oder Menschen jüdischen Glau-
bens nicht mehr frei bewegen können. Mit dieser Er-
kenntnis tun sich die zuständigen Behörden oft schwer.
Ein eigenständiger Verbotsantrag des Bundestages bie-
tet die Möglichkeit – und diese Chance sollten wir nut-
zen –, die vielfach weiter gehenden Kenntnisse von Wis-
senschaft, Initiativen und Fachleuten in das Verfahren mit
einzubeziehen.
Auch deshalb, weil Sie bzw. wir aus der eigenständi-
gen Position des Parlaments heraus gestalten und Einfluss
nehmen können, möchte ich für die Unterstützung unse-
res Antrags werben. Denn dass ein Verbot notwendig ist,
dafür sind heute viele überzeugende Argumente auch aus
den Reihen der Opposition vorgetragen worden. Deshalb
sollten wir diesen Antrag gemeinsam unterstützen.
Ich erteile das Wort
Ludwig Stiegler, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Das Grundgesetz gibt dem Deutschen
Bundestag das Wächteramt über unsere freiheitlich-de-
mokratische Grundordnung. Heute ist ein guter Tag, weil
wir zum Handeln fähig sind. Es ist ein guter Tag für die,
die uns besorgt aus dem Ausland zusehen und sich fragen,
was bei den Deutschen los ist. Es ist ein guter Tag für die,
die in Deutschland an vielen Stellen wieder Angst und
echte Zukunftssorgen haben. Man muss nur einmal zu den
jüdischen Gemeinden gehen, ihnen zuhören und mit ihnen
reden, um zu erfahren, wie hier wieder die Angst umgeht.
Es ist wirklich Zeit geworden zu handeln.
Heute ist für mich aber auch ein beschämender Tag,
weil es in Deutschland wieder so weit gekommen ist, dass
wir handeln müssen,
und weil das, was wir nach der Katastrophe des Natio-
nalsozialismus überwunden glaubten, noch fruchtbar ist.
Wir haben alle miteinander in der Vergangenheit einiges
versäumt. Umso wichtiger ist es, dass wir uns jetzt damit
auseinander setzen.
In diesem Sommer ist der zweite Band von Heinrich
August Winklers Werk: „Der lange Weg nach Westen“ er-
schienen. Ich kann jedem, der sich zu Weihnachten etwas
Gutes tun will, diese beiden Bände von Heinrich August
Winkler, die sich mit der deutschen Geschichte der letz-
ten 200 Jahre befassen, nur empfehlen und darin insbe-
sondere die Kapitel über die Entwicklung der Weimarer
Republik. Wie der Titel schon sagt: Es geht um die trau-
rige Erkenntnis – für mich ist das eine der schlimmsten
Belastungen für das demokratische Selbstgefühl –, dass
die Deutschen allein nicht in der Lage waren, zur Demo-
kratie zu kommen. Vielmehr musste die ganze Welt hel-
fen, um die Deutschen zur Demokratie zu befreien. Aus
diesem Grund sind wir umso mehr gehalten, das, was wir
auf dieser Grundlage aufgebaut haben, mit Leidenschaft
zu verteidigen.
Ich kann zwei weitere Bände, nämlich die von Ian
Kershaw, empfehlen. Es hilft nichts. Denn manches, was
hier nur vordergründig gesehen wird, bekommt seine Be-
deutung erst vor dem Hintergrund der historischen Folie.
Wenn Sie sowohl Heinrich August Winkler als auch die
Kershaw-Biografie über Hitler lesen und sich mit der
Weimarer Zeit beschäftigen, dann können Sie etwas über
die Entwicklung der NSDAP von ihrer anfänglichen Be-
deutungslosigkeit bis zur explosionsartigen Überwindung
der Demokratie erfahren. Sie werden etwas über die Ver-
harmlosung der Nationalsozialisten durch das Bürgertum
in Deutschland lesen. Diesen Hintergrund muss man se-
hen, denn daraus erwächst für uns eine besondere Verant-
wortung.
Vor allem diejenigen, deren Vorfahren Hitler 1933 mit er-
mächtigt haben, sind gehalten, diese Erfahrungen aus der
Geschichte ernst zu nehmen und intensiv zu studieren.
Wer die NSDAP in der Weimarer Zeit und ihre Ent-
wicklung mit der NPD und deren Aktivitäten vergleicht,
sieht, dass wir es hier mit einer Kopie zu tun haben. Ich
meine damit nicht nur die Übernahme des 20-Punkte-Pro-
gramms durch die Jungen Nationaldemokraten. Vielmehr
haben wir es in Stil, in Systemfeindschaft und in Sprache
mit einer Neuauflage der NSDAP zu tun.
Es beginnt mit der Systemfeindschaft. Der NPD geht
es nicht um die Verbesserung des Systems, sondern sie
sagt, das System sei das Problem. Wer Weimar kennt,
weiß, was mit diesem Systembegriff angefangen worden
ist.
Da sind wir als Parlament angesprochen. Auch bei der
NPD geht es um einen Kampf gegen das liberale System,
gegen den Liberalismus, weil die demokratische Tradi-
tion mit der Tradition des Liberalismus eine ganze Menge
zu tun hat. Wer es angreift, greift den „langen Weg nach
Westen“ an, will wieder in die reaktionäre oder gar völki-
sche Ideologie zurück und wählt den Weg von der Demo-
kratie zurück zur Diktatur. Das müssen wir ernst nehmen.
Hier dürfen wir nicht wie bei Max Frischs „Biedermann
und die Brandstifter“ sagen, es sei schon nicht so
schlimm, es werde schon wieder werden, sie hätten gar
keine Zündhölzer dabei. Nein, wer so gebrannte Kinder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Annelie Buntenbach
13805
wie wir in Deutschland hat, der muss besonders wachsam
und aufmerksam sein.
Wenn die NPD mit ihren rechtsradikalen Kamerad-
schaften durch das Brandenburger Tor marschiert, dann
ahmt sie den Marsch der SA in die Diktatur nach. Das ist
ein Symbol der Überwindung der Demokratie durch die
Diktatur. Wenn ich die Hetz- und Hasslieder höre und mir
anschaue, was dort in jungen Menschen vor sich geht,
dann erinnert mich das immer an Annette von Droste-
Hülshoff: des Vorurteils geheimen Seelendieb, der in
junge Brust die zähen Wurzeln trieb.
– Ja, sie hat es hervorragend ausgedrückt. Besser und sen-
sibler kann man einen solchen Sozialisationsvorgang gar
nicht beschreiben.
Wer ständig Hitler, Heß und andere verherrlicht, der steht
in einer anderen Tradition.
Wir haben in der Tat einen breiten Verfassungsbogen,
Herr Zeitlmann. In ihn gehören Sie sicherlich ohne Pro-
bleme mit hinein.
– Er hat doch Angst geäußert und von uns die Bestätigung
gewollt, dass er dort hinein gehört. Ich antworte ja nur auf
ihn. Aber es gibt eben den Art. 79 Abs. 3, den Art. 1 und
den Art. 20 des Grundgesetzes, wonach die Menschen-
würde und die demokratische Ordnung unantastbar sind.
Wer das nicht bejaht, ist nicht im Verfassungsbogen.
Meine Damen und Herren, wir müssen also lernen,
„der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das alles kroch“,
wie Bert Brecht einmal sagte, und diesen Kampf aufneh-
men. Herr Westerwelle, Ihre Abwägung beruht darauf,
dass Sie die Gefahr unterschätzen. Ich erinnere an die Sta-
bilisierung der Weimarer Demokratie, als alle, auch Sozi-
aldemokraten, die Nazis schon abgeschrieben und ge-
dacht hatten, sie seien eine vorübergehende Erscheinung
gewesen. Bei der nächsten Krise aber waren sie explosi-
onsartig wieder da. Hier heißt es wirklich: Principiis
obsta, sero medicina paratur, si mala per longas conva-
luere moras!
Aus dieser Debatte geht aber auch etwas Tröstliches
hervor. Das habe ich kürzlich auch Leuten aus der ameri-
kanischen Botschaft gesagt, die besorgt nachfragten: Der
Unterschied zu Weimar besteht darin, dass sich in der
Weimarer Zeit die wichtigsten und mächtigsten Men-
schen des Landes die Nazis wie flegelhafte Nutztiere hal-
ten wollten und am Ende selbst gehalten worden sind.
Gott sei Dank ist in Wirtschaft und Gesellschaft des heu-
tigen Deutschlands kein vernünftiger Mensch bereit, auf
diese Karte zu setzen. Das ist der Unterschied zu Weimar.
Das haben wir gemeinsam erreicht und das sollten wir der
Welt auch gemeinsam sagen.
Meine Damen und Herren, warum das Parlament?
Warum stellen wir den Antrag? Nicht nur, weil wir ein
Wächteramt haben, sondern weil der zentrale Angriff de-
rer, die auf Volksgemeinschaft, Führerprinzip und völki-
sche Gedanken setzen, gegen das Parlament, gegen die
Vertretung des Volkes und gegen den parlamentarischen
Prozess geht.
Dagegen richtet sich der Angriff und unsere Antwort muss
und wird sein: Wir sagen nicht nur, andere sollten han-
deln, sondern wir handeln selber und sind dazu in der
Lage.
Wir schauen nicht nur zu, ob die anderen möglicherweise
ein Risiko eingehen, um dann hinterher vielleicht ätzende
Kommentierungen abzugeben. Es ist eine manchmal zu
beobachtende bürgerliche Verhaltensweise, erst einmal zu
schauen, ob sich andere den Hals brechen.
Nein, wir sind davon überzeugt: Die NPD hat in unse-
rer Ordnung nichts zu suchen, wir kämpfen miteinander
und werden miteinander Erfolg haben, damit diese Ge-
danken und dieses Handeln aus unserem Land dauerhaft
verschwinden.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Zunächst zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Erkenntnisse der
Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern zur
Verfassungswidrigkeit der ‚Nationaldemokratischen Par-
tei Deutschlands‘“, Drucksachen 14/4500 und 14/4923.
Der Ausschuss empfiehlt dem Bundestag, beim Bundes-
verfassungsgericht die Feststellung der Verfassungswid-
rigkeit der NPD sowie die Folgeentscheidungen dazu zu
beantragen. Weiter wird empfohlen, den Präsidenten des
Bundestages zu beauftragen, einen Prozessbevollmäch-
tigten zu bestellen und die Entscheidungen der Bundesre-
gierung und des Bundesrates, Anträge auf ein Verbot der
NPD zu stellen, zu begrüßen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Ludwig Stiegler
13806
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Innen-
ausschusses auf Drucksache 14/4923? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
damit mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grü-
nen, PDS und einer Stimme der F.D.P. gegen die Stimmen
von CDU/CSU und der restlichen F.D.P. und bei einigen
Enthaltungen bei Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4883 mit dem
Titel „Verfassungswidrigkeit der Nationaldemokratischen
Partei Deutschlands“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den
Stimmen der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen, der F.D.P.
und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/4888 mit dem Ti-
tel „Für eine wirksame und nachhaltige Bekämpfung des
Rechtsextremismus – deshalb gegen ein NPD-Verbot“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist gegen die Stimmen
der F.D.P.-Fraktion und bei einigen Enthaltungen der
CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen des Hauses im
Übrigen abgelehnt worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4897 mit dem Titel
„Bestrebungen zur Wiederbelebung nationalsozialisti-
schen Gedankenguts sind verfassungswidrig“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDS-
Fraktion und gegen einige Stimmen der SPD-Fraktion mit
den Stimmen des Hauses im Übrigen abgelehnt.
Es sind einige Erklärungen zur Abstimmung zu Proto-
koll genommen worden, und zwar von den Kollegen und
Axel Berg und Konrad Gilges5).
Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunkts
angelangt.
Ich möchte mitteilen, dass es heute keine namentlichen
Abstimmungen gibt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Vereinbarte Debatte zur Steuerpolitik
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und bitte diejenigen, die an
der Debatte nicht teilnehmen wollen, den Plenarsaal mög-
lichst geräuschlos zu verlassen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wilhelm Schmidt.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Man hat immer das Gefühl, dass der
Vermittlungsausschuss ein eher trockenes Gremium ist,
ein Gremium, das hinter den Kulissen versucht, die eine
oder andere Position zusammenzubringen, damit Ergeb-
nisse erzielt werden können, die sowohl dem Verfas-
sungsorgan Bundestag als auch dem Verfassungsorgan
Bundesrat am Ende die Zustimmung ermöglichen. Die
gestrige Vermittlungsausschusssitzung hat nicht nur sehr
lange gedauert, sondern ist auch genau diesem Anspruch
gerecht geworden. Man hat sich über die unterschiedli-
chen Positionen ausgetauscht und hat sich sehr stark da-
rum bemüht, einen Kompromiss zu finden. Dass das an-
gesichts der vorliegenden Vermittlungsaufträge nicht
ganz leicht sein würde, war klar. Wir haben deswegen
– ohne die Zeit für die Vorbesprechungen einzurechnen –
siebeneinhalb Stunden gebraucht und sind zu Ergebnissen
gekommen, die heute, so hoffe ich, die Zustimmung des
Hauses, aber auch am 21. Dezember dieses Jahres die Zu-
stimmung des Bundesrates finden werden.
Sie sehen mich als Vertreter der Koalition, insbeson-
dere der SPD, sehr zufrieden, weil wir bei den Entschei-
dungen, die der Vermittlungsausschuss gestern getroffen
hat, weitestgehend unsere Positionen durchgesetzt haben,
ohne dabei, wie ich finde, die andere Seite übermäßig ver-
letzt bzw. die anderen Positionen nicht ausreichend
berücksichtigt zu haben. Ich hoffe deswegen auch darauf,
dass die Opposition dieses Hauses, aber auch die B-Län-
der im Bundesrat die erzielten Ergebnisse entsprechend
würdigen und entsprechend abstimmen werden.
Wir haben zwei der vier Vermittlungsaufträge zunächst
nicht behandelt. Das Verkehrswegeänderungsgesetz wur-
de nicht behandelt, weil es hier noch Abstimmungsbedarf
gibt, und zwar sowohl aufseiten der Bundesregierung als
auch aufseiten der Bundesländer. Das haben wir entspre-
chend gewürdigt und haben deswegen das Gesetzespaket
von der Tagesordnung abgesetzt.
Wir haben auch das Bundeswahlgesetz nicht behan-
delt, obwohl die Dinge dadurch – das gebe ich zu – ein
wenig schwieriger werden; denn die Vorbereitungen für
die nächste Bundestagswahl müssen im administrativen
Bereich nun wirklich langsam in Gang kommen. Aber da
wir auch noch die Wahlkreisreform vor uns haben, schien
es uns gerechtfertigt zu sein, dass wir dem Wunsch der
Bundesländer nachkommen, keine Entscheidung am ges-
trigen Abend herbeizuführen. Das ist insbesondere auch
deswegen wichtig, weil die Frage der Entschädigung für
die Wahlorganisationskosten eine besondere Rolle für die
Gemeinden und Städte spielt. Hier gibt es noch Verhand-
lungsbedarf. Dem wollten wir Rechnung tragen.
Ich komme nun auf den Punkt zu sprechen, den wir ab-
schließend behandelt haben, nämlich die Gefangenenent-
lohnung. Sie wissen, dass es dazu ein Verfassungsge-
richtsurteil gibt, das uns zwingt, jetzt zügig zu handeln. Das
haben wir auch getan: Der Deutsche Bundestag hat vor ei-
niger Zeit mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen die
Änderung des betreffenden Gesetzes beschlossen, die die
Anhebung der Gefangenenentlohnung zum Ziel hatte. Dies
ist nicht auf Zustimmung der Länder gestoßen. Wir wollen
das im Grundsatz durchaus respektieren, weil die Länder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Präsident Wolfgang Thierse
13807
1) Anlage 14
2) Anlage 15
3) Anlage 16
4) Anlage 17
5) Anlage 18
diejenigen sind, die das ganz allein zahlen müssen. Von da-
her ist das Interesse auf der Länderseite naturgemäß größer.
Aber es besteht auch ein prinzipielles Interesse daran,
dass die Gefangenenentlohnung, die bisher 5 Prozent vom
Ecklohn betragen hat, also bei voller Beschäftigung etwa
220 DM im Monat ausmachte, nicht mehr auf diesem
niedrigen Niveau verharrt. Insofern haben wir das Verfas-
sungsgerichtsurteil begrüßt. Wir haben begonnen, die not-
wendigen Veränderungen herbeizuführen.
In den Verhandlungen von gestern Abend ist aber nicht
mehr herausgekommen, als den Ecklohn auf 9 Prozent an-
zuheben. Das ist eine Anhebung um immerhin fast das
Doppelte. Es ist wichtig, das als Ausgangspunkt zu be-
werten; jedenfalls sehen wir es so. Der Bundestagsbe-
schluss von 15 Prozent ist damit nicht im Entferntesten er-
reicht worden; aber unter diesen Umständen war nicht
mehr möglich. Ich sage noch einmal: Wir betrachten das
als Ausgangspunkt.
Der zweite Beschluss in diesem Paket besteht darin,
die Entlassungsmöglichkeit vorzuziehen oder Arbeitsur-
laub, festgesetzt auf sechs Tage, zu gewähren. Auch das
ist ein Faktum, das, auch wenn es keine direkten finanzi-
ellen Auswirkungen hat, den arbeitenden Gefangenen
entgegenkommt.
Schließlich haben wir den Ausgleichsfaktor für die
Zahlungen, die mit diesem Arbeitsbefreiungstatbestand
zusammenhängen, auf 15 Prozent festgesetzt.
Ich glaube, dass dies insgesamt zwar nicht unbedingt
das Gelbe vom Ei ist, aber ein Ergebnis, das wir tragen
können und tragen wollen. Deswegen empfehlen wir Ih-
nen hier die Zustimmung. Im weitesten Sinne hat es diese
Zustimmung gestern im Vermittlungsausschuss gegeben:
Es gab immerhin 23 Stimmen für dieses Paket.
Ich will noch einen kurzen Hinweis auf die Diskussion
über die Entfernungspauschale geben. Wir fühlen uns in
der Koalition darin bestärkt, mit der Entfernungspau-
schale, die gestern als unechter Beschluss zustande ge-
kommen ist, unsere Politiklinie aufrechterhalten zu ha-
ben.
Diese Linie lässt sich mit folgenden Worten skizzieren:
Wir wollen ökologisch vorgehen und der Bevölkerung
klarmachen, dass sie dadurch, dass wir den ÖPNV dem
PKW-Verkehr, was die steuerliche Entlastung angeht,
gleichstellen, eine neue Chance hat, die sie nutzen sollte.
Ich bin sehr zufrieden. Ich empfehle Ihnen, beide Er-
gebnisse des Vermittlungsausschusses anzunehmen.
Ich erteile dem Kolle-
gen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Schmidt,
um es von vornherein klarzustellen: Das Ergebnis der Ver-
handlungen zur Entfernungspauschale, das gestern Abend
im Vermittlungsausschuss erzielt worden ist – Sie haben
es gewollt –, werden wir im Bundestag eindeutig ableh-
nen.
Die ganze Diskussion über eine Entfernungspauschale
und einen Heizkostenzuschuss ist letztlich nur ein plum-
pes Ablenkungsmanöver von der völlig verfehlten Öko-
steuer.
Wir haben von Anfang an gesagt – die Menschen haben
das spätestens im letzten Jahr gemerkt –, dass mit dieser
Steuer allen Bürgern das Geld aus der Tasche gezogen
wird. Mit der Entfernungspauschale geben Sie davon ei-
nem Bruchteil der Bevölkerung etwas zurück.
Als die Verärgerung über die Ökosteuer für die Regie-
rung gefährlich wurde, hat Schröder reagiert. Aber die
nächstliegende Konsequenz, die Abschaffung der Öko-
steuer oder zumindest der Verzicht auf die nächste Er-
höhung ab dem 1. Januar, konnte und wollte der Kanzler
– offenbar aus politisch-taktischen Gründen – nicht zie-
hen. Dem stand die Rücksichtnahme auf die Grünen ent-
gegen, denen er nicht die letzte Trophäe ihrer Regierungs-
verantwortung nehmen wollte. Dem stand auch die
gebetsmühlenhaft wiederholte Behauptung entgegen,
dass die Ökosteuer zur Senkung der Rentenbeiträge ver-
wendet werde. Also musste der Kanzler ein anderes Ka-
ninchen aus dem Zylinder ziehen. Das waren dann die
Entfernungspauschale und der Heizkostenzuschuss. Sie
sollen den Volkszorn beschwichtigen, ohne die Grünen zu
demütigen und ohne dass die Regierung eingestehen
muss, dass die Ökosteuer im Kern gescheitert ist.
Aber wie das „Handelsblatt“ treffend schrieb: Wer es
allen recht machen will, macht alles falsch.
Genau das ist bei der Entfernungspauschale der Fall. Sie
ist der Ausdruck einer Politik, die sich nicht an sachlichen
Notwendigkeiten orientiert,
sondern den einzigen Zweck der Machtausübung im
Machterhalt sieht.
Das Gesetzgebungsverfahren zur Entfernungspau-
schale ist ein Modellfall dafür, wie der Bundeskanzler
reagiert. Erst geht er großspurig mit dem Versprechen an
die Öffentlichkeit: 80 Pfennig Entfernungspauschale für
alle, unabhängig von den Verkehrsmitteln. – Dann be-
kommt er Druck von den Ländern, weil die nicht mit fi-
nanzieren wollen, und so werden aus den 80 Pfennig für
die Bahn-, Bus- und Radfahrer 60 Pfennig und oben wird
noch ein Deckel eingezogen. Dann laufen die Grünen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Wilhelm Schmidt
13808
Sturm und von den groß angekündigten 80 Pfennig blei-
ben noch 70 Pfennig für alle. Erst ab 11 Kilometer blei-
ben die ursprünglich von Schröder versprochenen
80 Pfennig, unabhängig vom Verkehrsmittel. Der einge-
zogene Deckel bewirkt, dass das Ganze schön bürokra-
tisch die Probleme erschwert und die Finanzämter noch
mehr Arbeit haben.
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz erfreut nicht
einmal mehr die Steuerberater, denn sie haben schon mit
der Steuerreform genug zusätzliche Arbeit bekommen.
Das ist ein Regierungsstil nach dem Motto: Mal sehen,
was dabei herauskommt, Hauptsache, es ist falsch.
Kollege Rauen, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwalbe?
Ja, bitte.
Herr Kollege
Rauen, Sie haben gerade davon gesprochen, dass ein obe-
rer Deckel eingezogen wird. Können Sie vielleicht einmal
erklären, wie eine Verkäuferin entlastet wird, die in Mer-
seburg oder in Weißenfels im Saalepark – um ein Beispiel
aus meinem Wahlkreis zu nehmen – mit einem Gering-
verdienervertrag, einem 630-Mark-Vertrag, arbeitet und
jeden Tag 15 bis 20 Kilometer zur Arbeit fahren muss?
Das ist eine sehr interes-
sante Frage.
– Ich will das in aller Ruhe beantworten, denn das ist eine
sehr solide Frage. Genau die, die am meisten leiden, näm-
lich die Autofahrer, die ihr Auto dringend brauchen, um
überhaupt zur Arbeit zu kommen, werden überhaupt nicht
entlastet. Bei dieser Verkäuferin ist der Fall gegeben – da
sie den Grundfreibetrag ohnehin nicht erreicht –, dass
8 Kilometer wirksam werden. Davon hat sie einen Gro-
schen mehr – 80 Pfennig täglich – und sie fährt zwanzig-
mal im Monat hin und her. Das heißt, 20 mal 80 Pfennig
kann sie steuerlich geltend machen.
– Ich weiß ja, Sie wollen das Beispiel nicht hören. Ich
habe es ja gestern auch gemerkt. Sie wissen genau, dass
es wahr ist. Sie wollen nicht hören,
dass die deutsche Öffentlichkeit erfährt, wie gering die
Entlastung für diejenigen ist, die wirklich belastet wer-
den.
Ich bleibe bei der Antwort: Sie kann also 80 Pfennig
pro Tag steuerlich absetzen. Das sind bei 20 Fahrten im
Monat 16 DM. Ich unterstelle einmal, sie hat eine Steuer-
progression von 35 Prozent, dann sind das 5,60 DM.
Sie muss aber im Monat 20 mal 40 Kilometer fahren, das
sind 800 Kilometer.
Wenn sie 10 Liter pro 100 Kilometer braucht, sind das
80 Liter im Monat. Das macht genau 5,60 DM im Monat,
die sie aufgrund der 7 Pfennig Erhöhung durch die nächste
Stufe der Ökosteuerreform mehr zahlen muss. Das heißt,
es ist ein völliges Nullsummenspiel. Sie hat keine Entlas-
tung, sie bekommt lediglich das zurück, was sie aufgrund
der Erhöhung im nächsten Jahr mehr zahlen muss.
Kollege Rauen, der
Kollege Schwalbe will noch einmal nachfragen, und dann
möchte Ihnen die Kollegin Hendricks noch eine Zwi-
schenfrage stellen.
Ja, bitte schön.
Erst Kollege
Schwalbe, weil er noch nachfragen möchte.
Herr Kollege
Rauen, ich wollte eigentlich nicht hören, was sie eventu-
ell absetzen könnte. Vielmehr geht es mir darum: Wenn
eine Arbeitskraft nur einen 630-Mark-Job hat, zahlt sie
meines Wissens überhaupt keine Steuern. Wie soll sie
steuerlich etwas geltend machen, wenn sie überhaupt
keine Steuern zahlt?
Bei einem 630-Mark-Job
kann sie in der Tat nichts absetzen.
Sie hat aber die Chance, dass ihr Arbeitgeber ihr die
80 Pfennig pro Kilometer Entfernung steuerfrei zahlt,
wenn er eine pauschale Lohnsteuer von 15 Prozent dazu-
bezahlt.
Herr Kollege,
gestatten Sie auch eine Zwischenfrage der Kollegin
Hendricks?
Ja.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Peter Rauen
13809
Herr Kollege Rauen,
der Kollege Schwalbe ist mir mit seiner Zusatzfrage in ge-
wisser Weise zuvorgekommen. Ich wollte Sie nämlich
fragen, ob Sie bereit sind, zu bestätigen, dass jemand, der
ohnehin steuerfrei ist, auch nicht steuerlich entlastet wer-
den kann.
Und sind Sie auch bereit, mir zu bestätigen, dass jemand,
der einen Geringverdienerarbeitsvertrag mit 630 DM im
Monat hat, jedenfalls ziemlich ausgebeutet sein muss,
wenn er dafür zwanzigmal zur Arbeit fahren muss, also je-
den Arbeitstag im Monat?
Sind Sie schließlich auch bereit, mir zu bestätigen, dass
dann, wenn jemand schon auf diese Weise so ausgebeutet
wird, der Arbeitgeber eben diesem Arbeitnehmer höchst-
wahrscheinlich auch keine pauschal versteuerte Fahrkarte
zur Verfügung stellen wird – leider Gottes?
Den Menschen geht es nicht wegen der steuerlichen
Bedingungen schlecht, sondern wegen der Arbeitsmarkt-
bedingungen, die in manchen Gegenden dieses Landes
leider herrschen.
Frau Hendricks, das ist ja
eine wunderschöne klassenkämpferische Frage, die Sie da
stellen. Aber vielleicht können Sie sich vorstellen, dass
diese Verkäuferin, von der gesprochen wurde, froh ist, die
630-Mark-Arbeitsstelle überhaupt zu haben, und deshalb
auch gerne zu der Arbeitsstelle fährt.
Sie wollen ja nur von der Tatsache ablenken, dass mit
dem, was Sie zur Entfernungspauschale vorschlagen, mit
dieser Erhöhung um 10 Pfennig für die Menschen auf dem
flachen Land, die keine Alternative zu ihrem Auto haben,
um zur Arbeit zu kommen, in der Tat gerade nur die Mehr-
kosten abgedeckt werden, die durch die Ökosteuerer-
höhung ab nächstem Januar auf sie zukommen.
Meine Damen und Herren, wir haben ja mitbekommen,
wie sich die Ergebnisse durch die Diskussionen in der Ko-
alition täglich geändert haben. Dass dieses Verfahren Me-
thode hat, zeigt ein anderes Beispiel aus den letzten Ta-
gen; ich meine die Auseinandersetzung um die Neu-
fassung der AfA-Tabellen. Die Bundesregierung hat im-
mer wieder beteuert, dass die Verlängerung der Abschrei-
bungsfristen für die Wirtschaft zu Mehrbelastungen von
nicht mehr als 3,4 Milliarden DM führen soll. Das stand
nicht nur im Finanztableau des Steuersenkungsgesetzes,
das hat nicht nur der Bundesfinanzminister gesagt, son-
dern das hat auch Bundeskanzler Schröder in den jüngsten
Tagen der Wirtschaft mehrmals sehr deutlich verspro-
chen.
Weil auch der zweite Entwurf des Bundesfinanzminis-
teriums weit über das gesetzte Ziel hinausschießt, be-
schließen die Finanzminister des Bundesfinanzministeri-
ums und der Länder eine öffentliche Anhörung. In dieser
Anhörung am 30. November 2000 führt sich der Steuer-
abteilungsleiter des Bundes dann so arrogant oder provo-
zierend auf, dass die Veranstaltung in einem allgemeinen
Tumult endet und sich die Vertreter der Wirtschaft fragen,
warum sie überhaupt dort hingekommen sind. Obwohl
danach selbst Frau Scheel von den Grünen anmahnt, die
Sorgen und Einwände der Wirtschaft ernst zu nehmen,
obwohl die Finanzminister der von der Union regierten
Länder ebenso wie der Wirtschaftsausschuss des Bundes-
rates mit guten Gründen eine förmliche Beteiligung des
Bundesrates fordern und der Einführung der neuen Tabel-
len ausdrücklich widersprechen – so wie gestern im Bun-
desrat geschehen –, will das Bundesfinanzministerium
diese Tabellen jetzt einfach durchsetzen und ab 1. Januar
in Kraft treten lassen. Das ist wiederum ein schwerer An-
schlag gegen die Wirtschaft, der insbesondere zur Be-
nachteiligung des Mittelstandes führt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
War die Anhörung
vom 30. November 2000 nur eine Alibiveranstaltung?
Waren Ihre Zusagen an die Wirtschaft nur leere Verspre-
chungen oder entscheidet jetzt gar der Steuerabteilungs-
leiter des Bundesfinanzministeriums, wo es mit den Steu-
ertabellen langgeht?
Wenn die Ökosteuer gegen alle Vernunft dennoch
nicht abgeschafft wird, sind auch wir der Meinung, dass
die Pendler entlastet werden müssen. Aber wir wollen vor
allen Dingen diejenigen entlasten, die keine Alternative
zum Auto haben, um zur Arbeit zu kommen. Bei denen
reicht, um es zu wiederholen, die Entlastung gerade aus,
um die Erhöhung der Ökosteuer in der nächsten Stufe zu
finanzieren. Die einzige Möglichkeit, die Folgen des mas-
siven Energiepreisanstiegs abzufedern, ist der Verzicht
auf die Ökosteuer. Das sagen nicht nur wir, das hat auch
die öffentliche Anhörung des Finanzausschusses zu unse-
ren Gesetzentwürfen ergeben.
Der Verzicht auf die Ökosteuer ist aber nicht nur ein
Gebot der wirtschaftlichen Vernunft. Er wird sich wahr-
scheinlich auch aus Rechtsgründen gar nicht vermeiden
lassen. Wir alle haben gehört, dass der Bundesfinanzhof
in einer Stellungnahme gegenüber dem Bundesverfas-
sungsgericht wesentliche Teile des Ökosteuergesetzes als
verfassungswidrig bezeichnet hat. Die Kritik des Bundes-
finanzhofes gilt den Vergünstigungen, die für energiein-
tensive Betriebe des produzierenden Gewerbes vorgese-
hen sind. Diese sollen Nachteile für Unternehmen, die im
internationalen Wettbewerb stehen, vermeiden. Das führt
zu solchen Blüten, dass zum Beispiel die Brotfabrik bei
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 200013810
der Ökosteuer entlastet wird, der Bäckermeister aber die
volle Ökosteuer bezahlen muss.
Natürlich stehen nicht nur die Betriebe des produzie-
renden Gewerbes im internationalen Wettbewerb. Auch
dienstleistende Unternehmen müssen sich gegenüber aus-
ländischen Konkurrenten behaupten. Die Logik, die den
Ermäßigungen für das produzierende Gewerbe zugrunde
liegt, würde doch fordern, auch die deutschen Transport-
unternehmen von der Ökosteuer auszunehmen. Oder
braucht man diese nur deshalb nicht zu berücksichtigen,
weil es sich bei ihnen zum großen Teil um kleine oder
kleinste Betriebe handelt?
Auch Ihre Behauptung, dass die Bürger das, was Sie
ihnen durch die Ökosteuer abnehmen, über niedri-
gere Rentenversicherungsbeiträge zurückbekämen, wird
durch die gebetsmühlenhafte Wiederholung nicht richti-
ger. Bei der Einführung der Ökosteuer Anfang 1999 ha-
ben Sie sich noch bemüht, den Schein zu wahren. Die
Senkung der Rentenversicherungsbeiträge entsprach da-
mals genau dem Betrag, den Sie mit der ersten Stufe der
Steuerreform eingenommen haben. Dieses Junktim war
im Gesetz damals, Anfang 1999, auch exakt formuliert. In
der Begründung des Gesetzes zur Fortführung der ökolo-
gischen Steuerreform Ende 1999 war von einer solchen
Entsprechung schon nicht mehr die Rede. Da heißt es nur
noch unverbindlich: Das Aufkommen ermöglicht, die
Beiträge zur Rentenversicherung in den weiteren Stufen
zu senken.
Tatsache ist: Mit der Ökosteuer werden Sie bis zum
Jahr 2003, wenn alle fünf Stufen gegriffen haben, ein-
schließlich Mehrwertsteuer 37 Milliarden DM einneh-
men. Im Rentenbericht der Regierung steht, dass der Bei-
trag von 1998 bis 2003 um ganze 1,2 Prozent fallen wird.
Das sind aber bei 16 Milliarden DM pro Prozentpunkt
Rentenversicherungsbeitrag ganze 19 Milliarden DM.
Wo bleiben die restlichen circa 19 Milliarden DM, die Sie
in Form von Beitragssenkungen den Bürgern wieder
zurückgeben wollen? So haben Sie es versprochen.
Herr Bundeskanzler, ziehen Sie den Schlussstrich un-
ter diese verfehlte Politik!
Verzichten Sie auf die Flickschusterei mit der Entfer-
nungspauschale und dem Heizkostenzuschuss. Sie errei-
chen damit 2 Millionen Haushalte. Wir haben 39 Milli-
onen Haushalte in Deutschland, die durch die Erhöhung
der Energiekosten genauso belastet sind und die durch die
Mehrkosten oft an die Grenze kommen, bis zu der sie sich
noch selbst helfen können. An all diese Haushalte wird
nicht gedacht. Es wird ein kleiner Teil ausgenommen; der
Rest hat letztlich nur die Kosten zu tragen.
Machen Sie Nägel mit Köpfen! Schaffen Sie die Öko-
steuer ab! Alles andere ist weiße Salbe und Flickschuste-
rei.
Das Wort hat
jetzt die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grü-
nen, Kerstin Müller.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsaus-
schuss hat gestern unter anderem die Erhöhung der Ent-
fernungspauschale beschlossen. Ich kann für meine
Fraktion sagen: Wir finden dieses Ergebnis sehr gut; denn
damit wird nach jahrelangen Diskussionen endlich mit
der einseitigen steuerlichen Bevorzugung des Autos, auch
durch die Kilometerpauschale, Schluss gemacht.
Diese einheitliche Entfernungspauschale stellt erstmals
Fußgänger, Radfahrer und eben auch die Nutzer von Bus
und Bahn den Autopendlern gleich. Das ist ein großer Er-
folg der Koalition und ein riesiger Fortschritt im Vergleich
zur bisherigen Situation.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, eigent-
lich würden Sie ja gerne zustimmen. Deshalb haben Sie
hier einen solch quälenden Redebeitrag abgeliefert. Auch
Sie haben nämlich dies alles in Ihrem Programm stehen.
Ich will die Gründe nennen, warum es vernünftig ist,
eine einheitliche Entfernungspauschale einzuführen: Ers-
tens ist es gerecht. Denn es wird endlich kein Verkehrs-
mittel mehr einseitig steuerlich privilegiert. Wir schaffen
damit endlich die jahrzehntelange Autovorrangpolitik, die
wir im Steuerrecht hatten, ab und stellen Wettbewerbsge-
rechtigkeit für Busse und Bahnen her.
Zweitens. Die Entfernungspauschale, die wir jetzt be-
schlossen haben, ist unbürokratisch und transparent. Bis
zum zehnten Kilometer sind 70 Pfennig und ab dem
elften Kilometer sind 80 Pfennig anzusetzen. Damit ma-
chen wir endlich Schluss mit der bisherigen Verführung
zur Steuerhinterziehung.
Seien wir doch einmal ehrlich: Bisher war es so – das ha-
ben auch Sie von der Opposition in den Debatten bemän-
gelt –, dass diejenigen, die mit dem öffentlichen Nahver-
kehr gefahren sind, in der Regel dennoch steuerlich den
PKW abgerechnet haben. Damit machen wir jetzt
Schluss; denn wir sehen eine einheitliche Behandlung
aller Verkehrsmittel vor. Das ist ein großer Erfolg. Es gibt
keine Bevorzugung mehr.
An dieser unbürokratischen Regelung ändert auch die
von uns vorgesehene Nachweisgrenze von 10 000 DM
nichts. Das bedeutet nämlich, dass 97 Prozent aller
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Peter Rauen
13811
Pendler ihre Kosten pauschal angeben können und dass
nur 3 Prozent ihre Fahrten individuell nachweisen müs-
sen. Denn 97 Prozent der Pendler fahren weniger als
58 Kilometer. Das heißt, mit dieser Nachweisgrenze ver-
hindern wir Missbrauch. Dies ist auch vernünftig. Wir ha-
ben also auch an diesem Punkt im Vermittlungsausschuss
eine gute Regelung gefunden.
Drittens. Die Entfernungspauschale ist ökologisch.
Weil mit ihr endlich alle Verkehrsmittel gleich behandelt
werden, schafft sie nicht nur den Anreiz, genau abzurech-
nen, wie man fährt, sondern auch den Anreiz, auf öffent-
liche Verkehrsmittel umzusteigen. Damit ist sie ein wich-
tiger Beitrag zum Klimaschutz.
Außerdem kommen zwei Drittel dieser zusätzlich von
uns beschlossenen Förderung in Höhe von 1 Milli-
arde DM – so hoch ist nur noch das Finanzrisiko von Bund
und Ländern – den Nutzern des öffentlichen Nah- und
Fernverkehrs zugute und ein Drittel den PKW-Pendlern.
Das heißt, gerade für die Nutzer des öffentlichen Nah- und
Fernverkehrs ist diese Vereinbarung ein echter Fortschritt.
Ich will deshalb gerade mit Blick auf den Bundesrat, zum
Beispiel auf Hamburg und Berlin, deutlich sagen: Wir un-
terstützen mit diesem Vorschlag nicht nur die Pendler in
der Fläche, sondern gerade auch die Menschen, die tag-
täglich millionenfach den öffentlichen Nahverkehr in den
Metropolen nutzen.
Ich kann deshalb an die Länder Berlin und Hamburg nur
appellieren, diesem Vorschlag zuzustimmen. Denn dies
ist eine echte Entlastung für die Menschen in den Städten
und nicht nur für die Menschen auf dem Land.
Das Ganze zeigt, dass die Entfernungspauschale alles
andere als ein Widerspruch zum Konzept der Ökosteuer
ist. Im Gegenteil: Sie ist eine absolut sinnvolle Ergän-
zung.
Die Vorteile der Entfernungspauschale im Vergleich
zur bisherigen Kilometerpauschale liegen auf der Hand.
Deshalb haben Sie, meine Damen und Herren von der Op-
position, und zwar sowohl Sie von der F.D.P. als auch Sie
von der CDU/CSU, inzwischen längst das Konzept einer
verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale der
Grünen und der SPD übernommen. In den Petersberger
Beschlüssen von 1998 forderten Sie von der Union zum
Beispiel eine Pauschale von 40 Pfennig.
Ich habe mir heute das aktuelle steuerpolitische Konzept
der CDU, das im Internet zu finden ist, genauer angese-
hen. Noch kann man es im Internet nachlesen; vielleicht
kommt Frau Merkel jetzt auf die Idee, es zu löschen. Die-
ses Konzept ist überschrieben mit: „Die bessere Alterna-
tive“. Was ist nun gerade in diesem Punkt Ihre „bessere
Alternative“? Die sollte man einmal vortragen; denn ich
finde, die Menschen sollten sie kennen. Sie fordern in die-
sem Konzept – Herr Rauen, hören Sie einmal zu – „eine
Pauschale von 50 Pfennig“,
und zwar erst dann – das ist wichtig –, wenn „die Ar-
beitsstätte weiter als 15 Kilometer von der Wohnung ent-
fernt ist.“
Außerdem wollen Sie einen „auf 1 500 DM verminderten
Arbeitnehmerpauschbetrag“ einführen.
– Ich habe also richtig verstanden.
Erstens wollen Sie für alle, die einen Arbeitsweg von
weniger als 15 Kilometern haben, die Pauschale komplett
streichen,
während wir bis zum zehnten Kilometer eine Pauschale
von 70 Pfennig vorsehen. Diese Tatsache sollten alle Bür-
ger kennen. Immerhin ist davon die Hälfte aller Pendler
betroffen, weil sie einen Arbeitsweg unter 15 Kilometern
haben.
Zweitens wollen Sie für alle anderen Pendler eine Ki-
lometerpauschale einführen, die 30 Pfennig unter unserer
Pauschale liegt.
Außerdem wollen sie für alle Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer so ganz nebenbei noch die Werbungskosten-
pauschale um 500 DM kürzen. Das soll Ihre so genannte
bessere Alternative sein? Mit Ihren Vorschlägen hätten
Sie alle Pendler um ein Vielfaches zusätzlich belastet. Ich
kann nur sagen: Unser Vorschlag ist besser.
Unsere Maßnahme ist eine gute Ergänzung zum Kon-
zept der ökologischen Steuerreform. Diesen Punkt will
ich noch näher ausführen. Vor zwei Jahren, im Wahlkampf
1998, hat die gesamte Republik – also nicht nur wir und
die SPD – die Senkung der Lohnnebenkosten gefordert.
Wir haben das umgesetzt. Das Aufkommen aus der öko-
logischen Steuerreform wird in vollem Umfang für die
Senkung des Rentenversicherungsbeitrages genutzt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Kerstin Müller
13812
Damit konnten wir die versicherungsfremden Leistungen
aus der gesetzlichen Rentenversicherung sozusagen aus-
lagern. Das haben nicht nur wir, sondern auch Sie gefor-
dert.
Wir entlasten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer sowie die Unternehmen im kommenden Jahr um ins-
gesamt 22 Milliarden DM. Sie sollten angesichts dieser
Entlastung aufhören, falsche Behauptungen aufzustellen.
Die Forderung nach Aussetzung der Ökosteuer macht
überhaupt keinen Sinn. Wer das fordert, muss auch gleich-
zeitig zugeben – da sollte er ehrlich sein –, dass er damit
eigentlich auch die Erhöhung des Rentenbeitrags fordert.
Der Beitrag würde nämlich steigen, wenn das Aufkom-
men aus der Ökosteuer nicht mehr in die Rentenversiche-
rung fließen würde.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben, weil mich Ihre Vor-
würfe wirklich nerven.
Ein Ehepaar mit einem durchschnittlichen Einkommen
von 5 000 DM im Monat fährt mit einem Achtliterauto
15 000 Kilometer im Jahr. Was würde diese Familie spa-
ren, wenn wir die Ökosteuer aussetzen? Wenn wir die Ent-
lastung einbeziehen, die die Senkung des Rentenversi-
cherungsbeitrages mit sich bringt, dann kommt man auf
einen Betrag von sage und schreibe 20 Pfennig, die diese
Familie im Monat spart.
Da wir uns in einer steuerpolitischen Debatte befinden,
muss ich noch Folgendes hinzufügen: Die gleiche Fami-
lie entlasten wir mit unserer Steuerreform im nächsten
Jahr um 163 DM im Monat. Was soll also die Debatte um
20 Pfennig im Monat, wenn wir mit unserer Steuerreform
eine Entlastung um 163 DM für diese Familie schaffen?
Das ist Steuerpolitik à la Rot-Grün: Wir entlasten die Fa-
milien.
Wir steuern außerdem ökologisch um.
Das war absolut überfällig, nachdem Sie 16 Jahre lang
nichts für den Klimaschutz und fast gar nichts für die Fa-
milien getan haben.
Ich komme jetzt zu der Frage der Finanzierung. Wir
haben das Finanzvolumen auf 1 Milliarde DM reduziert.
Nach meiner Meinung kann es keinen Hinderungsgrund
für die Länder mehr geben, diesem Vermittlungsergebnis
zuzustimmen. Ich möchte in diesem Zusammenhang da-
ran erinnern, dass es gerade die Ministerpräsidenten der
Länder waren – auch die Ministerpräsidenten der von Ih-
nen regierten Länder –,
die nach einem sozialen Ausgleich für die gestiegenen
Energiekosten – nicht aufgrund der Ökosteuer, sondern
aufgrund der höheren Energiepreise – gerufen haben. Ich
meine: Wer die Musik bestellt, der sollte sich wenigstens
an der Finanzierung beteiligen.
Ich möchte für den Bund deutlich sagen: Man kann nun
wirklich nicht behaupten – das haben die Länder gestern
eindeutig zugegeben –, der Bund sei den Ländern nicht
entgegengekommen. 75 Prozent der Kosten des gesamten
Entlastungspaketes trägt der Bund. Die restlichen 25 Pro-
zent sollen sich Länder und Gemeinden teilen. Ich meine,
dass wir ein sehr faires Angebot bezüglich der Finanzie-
rung vorgelegt haben. Ich kann von dieser Stelle aus nur
noch einmal an alle Länder appellieren, diesem ökolo-
gisch und sozial vernünftigen Ergebnis, dessen Lasten fi-
nanziell gerecht verteilt werden, im Bundesrat am 21. De-
zember zuzustimmen.
Für meine Fraktion handelt es sich um ein in jeder Hin-
sicht gutes Ergebnis: die Gleichbehandlung aller Ver-
kehrsteilnehmer, die Unterstützung für Pendler, die nur ei-
nen kurzen Arbeitsweg haben, und die Entlastung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir werden dem
Ergebnis deshalb gerne zustimmen.
Ich möchte noch einmal an Sie appellieren. Auch Ihr
Programm beinhaltet eine Entfernungspauschale. Sie ist
sogar niedriger als die, die wir vorsehen. Ich hielte es für
ein gutes Zeichen, wenn wir diese Entlastung für die Bür-
gerinnen und Bürger gemeinsam beschließen würden.
Vielleicht können Sie heute – was Sie gestern Nacht
nach zweieinhalb Stunden nicht geschafft haben – Ihrem
Herzen folgen und über die Hürde springen und dem
Ergebnis des Vermittlungsausschusses zustimmen. Ich
– und ich glaube, auch die Menschen in unserem Land –
hielte das für vernünftig.
Danke schön.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Kerstin Müller
13813
Jetzt folgt eine
Kurzintervention des Kollegen Rauen.
Frau Müller, Sie haben
mich eben auf die Entfernungspauschale angesprochen,
die im Steueränderungsgesetz von 1997 enthalten war.
Sie haben richtig gesagt, dass dies eine Fernpendlerpau-
schale in Höhe von 50 Pfennig pro Kilometer für alle, un-
abhängig vom Verkehrsmittel, war, die eine tägliche
Strecke von mindestens 15 Kilometern zum Arbeitsplatz
zurücklegen mussten. Dieser Betrag sollte unabhängig
von dem Arbeitnehmerpauschbetrag gezahlt werden, der
zurzeit immer noch verrechnet wird.
Erst muss jemand den Pauschbetrag erreichen, bevor er
die Entfernungspauschale überhaupt angerechnet wird.
Ist Ihnen bekannt, dass dieser damalige Vorschlag
im Gesamtkontext mit einem Reformkonzept mit einem
Eingangssteuersatz von 15 Prozent und einem Ausgangs-
steuersatz von 39 Prozent, einem flachen Tarif, stand,
nach dem die Arbeitnehmer bereits ab 1998 massiv ent-
lastet worden wären? Dieser Tarif kommt erst im Jahre
2005. Jetzt werden die Arbeitnehmer zunächst nicht ent-
lastet und haben zusätzlich diese Belastung.
Ist Ihnen bekannt, dass wir damals keine Probleme mit
dem Energiepreis hatten und dieses Gesetz damals erst
recht nicht mit einem solchen Irrsinn von Ökosteuergesetz
gekoppelt war, wie wir ihn zurzeit in Deutschland haben?
Frau Müller, Sie
können erwidern, müssen es aber nicht.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Da ich eher selten dazu Gelegenheit habe, möchte
ich etwas erwidern.
Ich spreche nicht von Ihrem Konzept von 1997, son-
dern von dem, das ich mir heute aus dem Internet gezogen
habe. Das ist Ihr aktuelles Konzept.
In diesem aktuellen Konzept schlagen Sie die Regelun-
gen vor, die ich eben genannt habe, das heißt, eine
Pauschale, die erst bei einer Strecke von 15 Kilometern
greift und sich auf 50 Pfennig und eben nicht auf 70 oder
80 Pfennig beläuft. Ich finde, das sollten die Menschen
wissen.
– Das ist keine gefälschte Wiedergabe. – Wenn Sie etwas
anderes wollen, müssen Sie Ihr Konzept ändern. Entwe-
der Sie stehen zu Ihrem Steuerkonzept oder nicht. Ich
habe Ihr aktuelles Steuerkonzept vorgelesen, mehr nicht.
Jetzt hat Herr
Kollege Hermann Otto Solms das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die F.D.P. hat
seit vielen Jahren die Umwandlung der Kilometerpau-
schale in eine verkehrsmittelunabhängige Entfernungs-
pauschale gefordert.
So war es auch im Koalitionsbeschluss zu den Petersber-
ger Beschlüssen vereinbart, allerdings im Rahmen eines
völlig anders gestalteten Gesamtkonzeptes. Deswegen ist
der Vergleich so nicht zulässig.
Wir haben noch vor wenigen Monaten dieses Konzept im
Bundestag zur Abstimmung gestellt. SPD und Grüne ha-
ben es mit ihrer Mehrheit abgelehnt.
Noch im Juni hat Frau Staatssekretärin Dr. Hendricks
im Rahmen der Beantwortung einer Frage gesagt: „Die
Bundesregierung ist gegen kurzfristige aktionistische
steuerliche Maßnahmen; vielmehr wird sie die Entwick-
lung der Benzinpreise sorgfältig beobachten.“
Interessant ist – mit den gestiegenen Energiepreisen be-
gründen Sie auch Ihren Gesetzentwurf –, dass Sie in dem
Moment, in dem die Energiepreise wieder drastisch sin-
ken und der Euro steigt, doch zu kurzfristig wirkenden
Maßnahmen bereit sind. Es scheint also mit der Begrün-
dung nicht weit her zu sein.
Es scheint doch darum zu gehen, die fehlerhafte
Entwicklung und insbesondere die schädlichen Aus-
wirkungen der Ökosteuer auf die Wählerschaft ausglei-
chen und tarnen zu wollen, weil Sie Angst vor der nächs-
ten Erhöhung und deren Folgen, insbesondere im
Zusammenhang mit den bevorstehenden Wahlen, haben.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 200013814
Wir sind für die Entfernungspauschale. Aber weil Sie
diese auch jetzt wieder falsch machen – dazu werde ich
gleich etwas sagen –, werden wir ihr nicht zustimmen.
Wir werden uns enthalten. Ich will auch erklären, warum.
Das Interessante ist, dass es einen heftigen – wie in der
Presse berichtet wurde – Streit zwischen Grünen und SPD
darüber gegeben hat, wie diese ausgestaltet werden soll.
Wie immer ist ein fauler Kompromiss herausgekommen.
Die SPD wollte – so interpretiere ich das – vorwiegend
eine Entlastung der Pendler erreichen. Nur, mit dieser
Entlastung von 80 Pfennig bei mehr als 10 Kilometern
Entfernung entlasten Sie die Pendler nicht ausreichend.
Die Entlastung eines durchschnittlichen Pendlers mit
20 Kilometern Entfernung und 9 Litern Benzinverbrauch
auf 100 Kilometern liegt bei etwa 55 DM, die Belastung
aber bei 277 DM.
Das ist also nur eine teilweise Entlastung.
Was mir wichtiger ist: Ökologisch ist dies das völlig
falsche Instrument. Deswegen verstehe ich die Begrün-
dung von Frau Müller überhaupt nicht.
Wenn sich die Grünen für eine ökologische Steuerreform
eingesetzt hätten, hätten sie natürlich eine Erhöhung der
Pauschale verhindern müssen; denn die Erhöhung der
Pauschale führt dazu, dass die so genannte Lenkungs-
wirkung der Ökosteuer – die ja ohnehin nicht vorhanden
ist – noch einmal geschwächt wird.
Aus diesem Grunde war unser Konzept, das wir auf
dem Petersberg beschlossen haben, ökologisch stimmig.
Wir haben gesagt, wir müssen die ökologische Wirkung
erhöhen und deshalb die Entfernungspauschale etwas
niedriger ansetzen. Deswegen hatten wir 50 Pfennig
beschlossen. Es wird doch ökologisch erst ein Schuh da-
raus, wenn damit eine Lenkungswirkung erzielt wird,
wenn man versucht, die Leute dazu zu bewegen, von den
privaten Verkehrsmitteln etwas weniger Gebrauch zu
machen.
Deswegen ist diese Maßnahme in sich widersprüch-
lich, wie überhaupt die ganze ökologische Steuerreform
in sich widersprüchlich ist. Das ist auch mehrfach
bestätigt worden, jüngst vom Sachverständigenrat, der
gesagt hat, dass diese Unstimmigkeit Anlass geben sollte,
den bisher verfolgten Ansatz aufzugeben. Das ist die alte
Diskussion.
Bei der Ökosteuer haben Sie die Betriebe, die beson-
ders energieintensiv arbeiten, geschont, indem Sie sie
ausgenommen oder deren Belastung niedrig gehalten
haben. Sie haben das Aufkommen aus der Ökosteuer
genutzt, um die Rente zu finanzieren, damit eine Renten-
steuer verhindert und so dazu beigetragen, dass eine völ-
lige Verwirrung eingetreten ist und kein Mensch mehr
den Eindruck hat, dass etwas ökologisch Vernünftiges
geschieht.
Das ist in meinen Augen das große Dilemma bei dieser
Diskussion: dass hier das gute Argument, eine vernünftige
ökologische Politik zu machen – das wir alle unterstüt-
zen –, mit einer völlig verfehlten Maßnahme ad absurdum
geführt wird
und dass die Menschen draußen im Lande den Eindruck
gewinnen, die ökologische Argumentation sei nur eine
vorgeschobene, eine Scheinargumentation zur Durchset-
zung ganz anderer Ziele.
Das haben Sie mit dieser Diskussion bewirkt und das ist
schädlich.
Es ist nun einmal so: Wenn man eine Sache falsch an-
fängt, schafft man es nie mehr, sie wieder stimmig zu
machen.
Das hat schon Johann Wolfgang von Goethe festgestellt,
indem er sagte: „Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt
mit dem Zuknöpfen nicht zurande.“
So ist es geschehen. Sie haben mit Ihrer Ökosteuer ein
falsches, nicht stimmiges Konzept auf den Tisch gelegt,
was daran liegt, dass es unterschiedliche Vorstellungen
zwischen der SPD und den Grünen gibt. Das Ergebnis ist
eine totale Verwirrung und Enttäuschung bei den Betrof-
fenen. Mit der fehlangelegten Maßnahme, die Sie jetzt
durchsetzen wollen, wird die Situation nicht bereinigt,
sondern noch schlimmer. Deswegen können Sie von uns
keine Zustimmung erwarten.
Vielen Dank.
Die heutige De-
batte zeigt, dass es im Deutschen Bundestag gute Litera-
turkenntnisse gibt.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die PDS wird dem Vermittlungs-
ergebnis bezüglich der Änderung des Strafvollzugsgeset-
zes zustimmen. Obwohl wir die Lösung nicht für optimal
halten, finden wir, dass das zumindest ein Schritt in die
richtige Richtung ist.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Dr. Hermann Otto Solms
13815
Nun zur Frage der Entfernungspauschale, der
verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale. Ich
denke, sowohl das unechte Vermittlungsergebnis als auch
das Gezerre auf dem Weg dahin zeigt noch einmal die
Verkorkstheit der rot-grünen Ökosteuer
der Seite der F.D.P.!)
– Herr Schmidt, halten Sie sich noch etwas zurück und
warten Sie auf die Begründung –, einer Steuer, die weder
eine ausreichende ökologische Lenkungswirkung entfal-
tet noch sozial gerecht ist. Wir meinen, dass das Ver-
mittlungsergebnis, das jetzt erzielt wurde, zumindest ei-
nen gewissen sozialen Ausgleich schafft. Aber es zeigt im
Nachhinein auch das Eingeständnis, dass es notwendig
war, bei Ihrer Ökosteuer einen sozialen Ausgleich herzu-
stellen.
Wir alle in diesem Haus wissen sicherlich, dass die Ursa-
che für die gestiegenen Mineralölpreise nicht in erster Li-
nie bei der OPEC liegt und nicht in erster Linie auf die
Ökosteuer zurückzuführen ist. Vielmehr haben insbeson-
dere die Mineralölkonzerne einen riesigen Reibach ge-
macht.
Trotzdem sind wir als Politikerinnen und Politiker für den
Teil der Verteuerung, den wir geschaffen haben, verant-
wortlich. Das ist nun einmal die Ökosteuer.
Frau Müller hat versucht, zu beweisen, wie gut jetzt der
soziale Ausgleich sei. Sie haben als Beispiel eine berufs-
tätige Familie herausgegriffen – natürlich, weil nur dann
Einkommensteuer gezahlt wird, wenn jemand berufstätig
ist. Es ist und bleibt aber so, dass weder die Rentnerin und
der Rentner noch die Studentin und der Student, noch die
von der Sozialhilfe abhängigen Familien einen sozialen
Ausgleich bekommen – auch nicht durch die Entfer-
nungspauschale. Diese Menschen sind aber die durch die
Ökosteuer wirklich Gekniffenen.
Denn sie haben mehr Belastungen, aber keinerlei sozialen
Ausgleich.
Vor diesem Hintergrund müssen Sie verstehen, dass
unsere Begeisterung sich etwas in Grenzen hält. Zumin-
dest ist das nun gefundene Ergebnis aber ein Schritt in die
richtige Richtung. Allerdings kann ich mir nicht verknei-
fen, Sie noch einmal daran zu erinnern, dass wir es waren
– in diesem Jahr in der ersten Lesung zum Haushalt wa-
ren es mindestens drei Rednerinnen und Redner von der
PDS –, die gefordert haben, die verkehrsmittelunabhän-
gige Entfernungspauschale als eine mögliche Nachbesse-
rung zur Ökosteuer einzuführen. Das wurde damals von
Rot-Grün noch abgelehnt. Wir freuen uns, das der PDS-
Vorschlag jetzt eine solche Mehrheit findet.
– Natürlich hat das mit der Ökosteuer zu tun; das wissen
wir auch alle.
Wir freuen uns, dass es endlich gelungen ist, Fußgän-
ger, Radfahrer, Benutzer und Benutzerinnen des ÖPNV
den Autopendlern gleichzustellen. Unzulänglichkeiten
sind aber geblieben. Es ist klar, dass sich bei einem Betrag
von 70 Pfennig pro Entfernungskilometer für die große
Masse der Autopendler – die durchschnittliche Entfer-
nung zwischen Arbeits- und Wohnort beträgt 10,7 Kilo-
meter – nichts ändern wird.
Im Zusammenhang mit der Einführung und Erhöhung
der Entfernungspauschale wird häufig über die Gefahr
der Zersiedlung gesprochen. Ich finde, man sollte nicht
aus dem Auge verlieren – das möchte ich noch einmal
hervorheben –, dass sehr viele Menschen aus den Stadt-
kernen heraus in Gewerbegebiete, die außerhalb der
Wohngebiete liegen, fahren müssen. Lange Pendelwege
entstehen eben nicht ausschließlich, weil die Menschen
ins Grüne ziehen wollen, sondern weil die Gewerbege-
biete auf der grünen Wiese entstanden sind und weil – das
ist die Hauptursache – eine Vielzahl von Menschen über-
haupt keine Chance hat, vom Auto auf andere Verkehrs-
mittel umzusteigen.
Damit sind wir wieder bei der Ökosteuer. Es bleibt nun
einmal ein Grundfehler der Ökosteuer, dass man die Mehr-
einnahmen in die Rentenkassen gibt, anstatt sie für den
ökologischen Umbau der Gesellschaft zu verwenden.
Wir können einen ökologischen Umbau der Gesellschaft
mit den Menschen gemeinsam nur erreichen, wenn sie
vernünftige Chancen haben, ihr persönliches Verhalten zu
ändern, zum Beispiel indem sie die Möglichkeit bekom-
men, vom Auto auf andere Verkehrsmittel umzusteigen.
Bislang ist es aber nicht zu einer Verkehrswende ge-
kommen. Wir brauchen den Ausbau der Bahn; wir brau-
chen eine Senkung der Tarife im Personennahverkehr; wir
brauchen die Verbesserung des Angebotes des ÖPNV. Die
Diskussionen der letzten Wochen zeigen aber, dass genau
der gegenteilige Prozess einsetzt. Die Bahn zieht sich
massiv aus der Fläche zurück und ganze Regionen – zum
Beispiel im Schwarzwald, in Ostfriesland oder im Um-
land von Berlin – werden vom Schienenverkehr abgekop-
pelt. Das kann nicht sein. Wir müssen das Geld aus der
Ökosteuer gezielt für den ökologischen Umbau einsetzen.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft
einen weiteren Fehler der Ökosteuer – übrigens ist dieser
Fehler der Grund dafür, dass Sie heute Nacht so lange dis-
kutieren mussten –: Der Bund nimmt die Mehreinnahmen
aus der mit Ihrer Mehrheit verabschiedeten Ökosteuer zur
Gänze. Jetzt aber, wenn es einen ersten sozialen Ausgleich
gibt, sollen sich die Länder und die Kommunen an der Fi-
nanzierung des sozialen Ausgleiches beteiligen. Das ist
ganz einfach ein Grundfehler in der Konstruktion.
Ich denke, es ist mehr als verständlich, dass die Länder an
diesem Punkt erst einmal protestiert haben.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Dr. Barbara Höll
13816
Frau Müller hat angemahnt, die Länder sollten sich be-
teiligen. Ich finde, wir müssen die Ermahnung erweitern:
Die Länder dürfen ihre Belastungen nicht ihrerseits auf
die Kommunen abwälzen, denn die Kommunen sind
durch die Ökosteuer schon genug belastet. Wenn die Län-
der und Kommunen diesen sozialen Ausgleich im Ergeb-
nis zu über 50 Prozent gegenfinanzieren sollen, dann ist
das für sie schon ein Problem.
Abschließend möchte ich feststellen: Die PDS wird
dem Vermittlungsergebnis zustimmen, obwohl die Ver-
korkstheit der Ökosteuer dadurch nicht aufgehoben wird.
Die Verkehrsmittelunabhängigkeit ist aber ein Schritt in
die richtige Richtung. Und es erfolgt ein gewisser sozia-
ler Ausgleich. Den unterstützen wir mit ganzer Kraft.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Joachim Poß.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! So sehr man Literaturkenntnisse in
diesem Hohen Hause begrüßen sollte, wie die Präsidentin
das gemacht hat, so sehr muss man doch bemängeln,
wenn die Kenntnis der eigenen Parteiprogramme nicht in
gleicher Weise ausgeprägt ist.
Ich hatte den Eindruck, dass sich Herr Rauen schon des
eigenen Konzeptes schämt. Wir reden nicht von den Pe-
tersberger Beschlüssen, sondern – erinnern Sie sich an
den Anfang dieses Jahres – von der „besseren Alternative
der CDU/CSU“, erarbeitet in einem sehr mühsamen Pro-
zess von den Herren Faltlhauser und Merz.
In diesem Vorschlag steht – das müssen die Pendlerinnen
und Pendler wissen –: Bis zum 15. Kilometer soll jede
Pauschale wegfallen. Ab dem 16. Kilometer gibt es dann
nur noch eine einheitliche, verkehrsmittelunabhängige
Entfernungspauschale auf der Basis von 50 Pfennig. Da-
mit errechnete die CDU/CSU sich ein Volumen von
5,1 Milliarden DM, mit dem sie im Wesentlichen die Ab-
senkung des Spitzensteuersatzes auf 35 Prozent gegenfi-
nanzieren wollte. Für die Spitzenverdiener sollten die
Pendler also abkassiert werden! Das ist Ihr Konzept.
Das werden wir den Bürgerinnen und Bürgern in den
nächsten Wochen bis zum 21. Dezember noch einmal
deutlich vor Augen führen.
Heute ist der letzte Sitzungstag des Deutschen Bun-
destages in diesem Jahr. Wir stehen kurz vor Weihnach-
ten. Wir können feststellen: Es war für die Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland steuerpolitisch ein gutes Jahr.
Die Koalition hat für sie Steuerentlastungen in einer
Höhe beschlossen, die es in der Geschichte der Bundesre-
publik Deutschland noch nicht gegeben hat.
– Das ist nicht falsch. Ich kenne die Steuergeschichte der
80er-Jahre etwas besser als Sie. Ich will mich hier aber
nicht in Details verlieren.
Ob ein großer Teil der Steuerzahler, nämlich Pendle-
rinnen und Pendler sowie die Benutzer der öffentlichen
Verkehrsmittel, eine zusätzliche steuerpolitische Gabe auf
ihrem Tisch wiederfinden, hängt vom Verhalten der
CDU/CSU und der von ihr geführten Länder am 21. De-
zember dieses Jahres ab. Denn mit dem Ergebnis, das wir
gestern mit diesem so genannten unechten Vermitt-
lungsergebnis erzielt haben, werden die Bürgerinnen und
Bürger zusätzlich zu den 45Milliarden DM, die wir schon
an Entlastung beschlossen haben, im nächsten Jahr um
eine weitere Milliarde DM entlastet.
– Wir haben doch gemerkt, wie „leicht“ es Ihnen fiel, zu
einem Ergebnis zu kommen. Weshalb haben Sie denn
dann bei den Beratungen eine Auszeit von zwei Stunden
genommen? Sie haben sie gebraucht, weil Sie die Pro-
bleme sehen, vor denen Sie stehen. Ihre Länder müssen
doch begründen, warum die Pendler und die Benutzer des
öffentlichen Nahverkehrs nicht entlastet werden sollen.
Herr Kollege
Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Rössel?
Ja, gerne.
Herr Kollege Poß, ich
nehme Bezug auf Ihre Bemerkung zu dem „erfolgreichen
Jahr in der Steuerpolitik“. Nehmen Sie diese Bewertung
auch angesichts der Entwicklung der Aktienkurse der
Versicherungsunternehmen vor? Ich frage vor dem Hin-
tergrund der Tatsache, dass nach Bekanntwerden der
Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne an Beteiligungen
die Aktienkurse der Allianz und der Münchner Rückver-
sicherung von einem Tag auf den anderen um 20 Prozent
gestiegen sind. Können Sie bestätigen, dass ein Ergebnis
der Steuerpolitik der Bundesregierung darin besteht, diese
Entwicklung maßgeblich befördert zu haben?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Dr. Barbara Höll
13817
Ich will ja nicht persönlich wer-
den, sondern bleibe ganz sachlich.
Ich kann Ihnen bestätigen, Herr Kollege Rössel, dass
wenige Tage nach Bekanntwerden dieser Konzeption an
den Börsen die von Ihnen beschriebene Reaktion einge-
treten ist. Im Übrigen hatten wir kurz darauf, eine Woche
später, schon wieder eine andere Entwicklung. Ich wäre
also vorsichtig mit solchen Belegen. Aber richtig ist, das
haben wir gesagt: Wir wollen Verkrustungen aufbrechen.
Und das scheint uns eine geeignete Maßnahme zu sein,
diese Verkrustungen aufzubrechen, Herr Rössel. Deswe-
gen stehe ich auch zu dem, was wir beschlossen haben.
Ich bin gespannt darauf, wie Ihre Länder sich am
21. dieses Monats verhalten werden. Es gibt nämlich kei-
nen vernünftigen Grund, den von unserer Seite vorgeleg-
ten Kompromiss im Bundesrat endgültig scheitern zu las-
sen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht die
Zustimmung der unionsgeführten Länder zu der von uns
vorgeschlagenen Entlastung für alle Pendler.
Frau Kollegin Müller hat schon die Vorteile dieser Ent-
fernungspauschale dargestellt: dass damit erstmals alle
Verkehrsmittel gleich behandelt werden. Der öffentliche
Verkehr wird dem Individualverkehr gleichgestellt. Das
ist ein Durchbruch für die Bundesrepublik Deutschland,
meine Damen und Herren.
Künftig können alle Pendler ohne Nachweis einen Be-
trag von bis zu 10 000 DM jährlich von der Steuer abset-
zen. Das entspricht einer Entfernung von der Wohnung
zur Arbeitsstätte von circa 56 Kilometern. Einen längeren
Weg haben nur drei Prozent aller Pendler. Diese Lang-
pendler können einen höheren steuerlichen Abzug geltend
machen, wenn sie nachweisen, dass sie mit ihrem eigenen
PKW oder mit einem zur Nutzung überlassenen PKW
eine größere Wegstrecke zur Arbeit zurückgelegt haben.
Wenn Sie jetzt kritisieren, das sei bürokratisch, müssen
Sie doch ehrlicherweise den Menschen auch sagen, dass
Sie gestern Abend eine Grenze von 6 500 DM vorgeschla-
gen haben. Damit würden Sie Bürokratie produzieren,
Herr Rauen, nicht mit unserem Vorschlag. Jeder Fach-
kundige weiß, dass wir keine Bürokratie produzieren.
Das müssen sie im Übrigen einmal weitergeben an Ihren
CDU-Generalsekretär Meyer. Der kennt nicht einmal das
eigene Programm, wie seine heutige Stellungnahme be-
wiesen hat. Er hat nämlich gesagt, das sei ein Programm
für Steuerberater. Das ist kein Programm für Steuerbera-
ter. Offenbar weiß Herr Meyer nicht einmal, dass auch in
Ihrem Programm die Entfernungspauschale als Instru-
ment vorgeschlagen wird. Es wird Zeit, dass der Mann da-
zulernt; diese Inkompetenz fällt doch langsam auf.
Die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel werden durch
die vorgeschlagene Regelung gegenüber dem geltenden
Recht sämtlich begünstigt. Wir haben als Nachweisgrenze
einen Betrag von rund 10 000 DM gewählt. Dieser Betrag
entspricht dem Preis einer Jahresnetzkarte der Deutschen
Bahn in der ersten Klasse. Das Ergebnis ist ein deutliches
Signal und ein großer Anreiz für die Benutzung der öf-
fentlichen Verkehrsmittel und damit eine wichtige um-
welt- und verkehrspolitische Weichenstellung.
Sie haben diesen Kompromiss mit fadenscheinigen
Gründen abgelehnt, zum Beispiel mit dem Grund, dass
wir darauf bestehen, dass die Finanzverfassung eingehal-
ten wird. Ja, wollen wir denn, dass wir bei der Gelegen-
heit Verfassungsbruch begehen? Was haben Sie denn
überhaupt für Vorstellungen?
– Herr Fromme, Sie haben ja sogar eine gewisse formale
Ausbildung. Sie sollten mit solchen Behauptungen vor-
sichtig sein.
Das muss man Ihnen, glaube ich, sagen, weil Sie nicht
Unkenntnis für sich in Anspruch nehmen können.
Die Wählerinnen und Wähler werden sehr schnell er-
kennen, welch eine obstruktive Haltung Sie hier einge-
nommen haben. Ich bin mir deshalb ganz sicher: Wir wer-
den uns am 21. Dezember so durchsetzen, wie wir uns am
14. Juli durchgesetzt haben.
Das gilt auch für eine weitere Entlastung der Landwirte
mit einem noch einmal ermäßigten Steuersatz fürAgrar-
diesel.Wir haben uns bereit erklärt, bei einer Zustimmung
der Unionsseite zur Entfernungspauschale auch hier eine
entsprechende Initiative zu ergreifen.
Im Sommer wurde eine Steuerreform – mit Stimmen
auch aus dem Lager der von der Union geführten oder
mitregierten Bundesländer – beschlossen, wie es sie in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht
gegeben hat.
Das Steuersenkungsgesetz allein hat ein Entlastungsvolu-
men von 63 Milliarden DM.
Das Bundesfinanzministerium hat am Mittwoch damit
begonnen, die Bürger in den letzten Wochen vor dem Jah-
reswechsel über die Reformschritte zu informieren. Das
ist wichtig, denn jeder soll wissen, was Bundestag und
Bundesrat beschlossen haben. Jeder soll mitbekommen,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 200013818
dass CDU/CSU und F.D.P. jahrelang von Entlastung im-
mer nur geredet, aber nie finanzierbare Konzepte vorge-
legt haben.
Wir machen die Entlastung praktisch. Großer Gewin-
ner dieser Steuerpolitik ist neben den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern und den Familien mit Kindern der
Mittelstand.
Ich hebe das hervor, weil Sie wahrheitswidrig immer noch
anderes behaupten. Der Vorwurf, dass wir Politik für die
Großkonzerne machten, ist schlichtweg falsch. Die Zah-
len belegen das Gegenteil. Die Informationskampagne
des Finanzministeriums wird dazu beitragen, diese Be-
hauptung der Opposition ad absurdum zu führen.
– Ich kann ja verstehen, Herr Fromme, dass Parteien, die
es 16 Jahre lang nicht geschafft haben, den Mittelstand zu
entlasten, jetzt nicht begeistert „Hurra!“ schreien.
Ein bisschen mehr Wahrheitsliebe wäre allerdings gebo-
ten.
Um in diesem Zusammenhang nur einen einzigen
Punkt herauszugreifen: Wir haben es geschafft, die Perso-
nenunternehmen, von denen ein Großteil dem Mittelstand
zuzurechnen ist, faktisch von der Gewerbesteuer zu be-
freien. Das ist eine Forderung, die jahrzehntelang von den
Verbänden erhoben worden ist. Wir haben das geschafft –
und nicht Sie!
Wir haben es so gemacht, dass die Gewerbesteuer als
Hauptfinanzierungsquelle der Kommunen erhalten bleibt.
Das war übrigens im Konzept der Union anders: Sie woll-
ten den Kommunen ans Leder. Aber das ist mit uns nicht
zu machen.
Unsere steuerpolitische Bilanz ist eindrucksvoll.
Gleichzeitig gefährden wir damit nicht unser Konsolidie-
rungsziel. Also: Ohne Gefährdung des Konsolidierungs-
ziels realisieren wir die größte Steuerentlastung in der Ge-
schichte der Bundesrepublik Deutschland und leisten
damit sichtbare Beiträge zu mehr Gerechtigkeit und mehr
sozialer Ausgewogenheit, zur Förderung eines nachhalti-
gen Aufschwungs, zur Entlastung des Mittelstands, des
Motors der deutschen Wirtschaft, zu international wettbe-
werbsfähigen Steuersätzen und zu strukturellen Verbesse-
rungen bei der Besteuerung der Unternehmen sowie zum
konsequenten Abbau fragwürdiger Sonderregelungen und
ungerechtfertigter Steuervergünstigungen – und das alles,
nachdem CDU/CSU und F.D.P. das deutsche Steuerrecht
verwüstet hatten und Millionäre in vielen Fällen über-
haupt keine Steuern gezahlt haben.
Wir setzen den Verfassungsgrundsatz der Besteuerung
nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch. Wir
haben mit unserer Politik zu einer verbesserten Umwelt-
effizienz des Steuersystems und zur Entlastung des Fak-
tors Arbeit beigetragen – nicht mehr und nicht weniger.
Das ist die Bilanz, mit der wir vor Weihnachten in diesem
Jahr den Bürgern gegenübertreten.
Ein wichtiges Standbein unserer Steuerpolitik ist die
sozialökologische Steuerreform; landläufig wird sie als
Ökosteuer bezeichnet. Sie nennen sie Abzockersteuer und
wollen sich damit beliebt machen. Ruprecht Polenz wollte
dieses perfide Spiel offensichtlich nicht mehr mitspielen.
Er wollte sich bei der nächsten Ökosteuerkampagne nicht
mehr auf ein Kickboard stellen lassen
und die Leute glauben machen, bald müssten sie alle Rol-
ler fahren, weil die Sozis das Benzin verteuern.
Ruprecht Polenz hat die Reißleine gezogen und damit ei-
ner Oppositionspolitik, die nur diskreditiert, verleumdet
und auf Stimmungen setzt, eine klare Absage erteilt. Das
gilt übrigens auch für die Sozialdemagogie der PDS, um
das noch einmal hinzuzufügen.
Ich will deshalb auf diesen Punkt der Ökosteuer nicht
eingehen. Ich will nur noch einmal an Folgendes erinnern:
Sie werfen uns vor, wir „tanken für die Rente“. Sie haben
aber in der Vergangenheit dann nach dem Motto gehan-
delt: Wir tanken, um Löcher zu stopfen. Das kommt für
uns nicht in Frage.
– Ich bin überhaupt nicht verbittert. Ich bin voller Freude,
dass wir kurz vor Weihnachten eine solch eindrucksvolle
steuerpolitische Bilanz hier im Bundestag diskutieren
können.
Wir haben bereits jetzt – durch das Steuerentlastungs-
gesetz und das Familienförderungsgesetz – dafür gesorgt,
dass die Familien mit Kindern jetzt zu Weihnachten wie-
der stärker zu ihrem Recht kommen. Etwas pathetisch ge-
sprochen: Sie können wieder etwas mehr auf den Gaben-
tisch legen. Das gilt auch für die Durchschnittsverdiener,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Joachim Poß
13819
die bei Ihnen jahrelang die Lastesel der Nation waren. Das
haben wir geändert.
Diese Politik setzen wir überzeugend fort. Deswegen:
Es war ein gutes Jahr, nicht nur für diese Koalition, son-
dern für die Bürgerinnen und Bürger, für Arbeitnehmer,
für Familien und für den Mittelstand.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Gerda Hasselfeldt.
Gerda Hasselfeldt (von der CDU/CSU
mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Herr Poß, Sie tun ja gerade so, als würden Sie
heute über die größte Wohltat aller Zeiten
– das schönste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten – ent-
scheiden. Aber nun wollen wir einmal das Ganze wieder
auf die Realität zurückführen.
Was tun Sie denn? Sie zocken die Bürger durch fünf-
malige Steuererhöhungen auf brutale Weise ab.
Sie haben sie geprügelt und Sie prügeln sie auch in Zu-
kunft durch weitere drei Steuererhöhungen.
Anschließend versuchen Sie, die Verwundungen, die Sie
damit angerichtet haben, mit einem kleinen Heftpflaster
zu heilen. Meine Damen und Herren, so geht es nicht. Wir
sind der Meinung, wenn man die Leute erst gar nicht prü-
gelt, braucht man auch kein Heftpflaster.
Das Ganze wird jetzt aber noch etwas pikant gewürzt;
hier zeigt sich – das will ich nicht verschweigen – eine ge-
wisse Raffinesse des Finanzministers. Der Bundesfinanz-
minister kassiert die Ökosteuer ganz allein, sorgt aber
dafür, dass für das Heftpflaster, also den Ausgleich der
Ökosteuer, den größten Teil die Länder zahlen müssen.
Meine Damen und Herren, so geht es natürlich auch nicht.
Ich habe sehr wohl Verständnis für die Kritik der Län-
der, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Berechnun-
gen von Bayern und Nordrhein-Westfalen – auch dies ist
gestern deutlich zum Ausdruck gekommen und heute
noch einmal bestätigt worden – andere als die vom Bund
vorgelegten sind.
Von vornherein besser wäre es gewesen und wäre es
immer noch, wenn Sie das Grundübel beseitigten, wenn
Sie also die Ökosteuer abschafften oder zumindest die
weiteren Stufen ab dem 1. Januar 2001 aussetzten.
Vorhin ist behauptet worden, dass dann die Beiträge
zur Rentenversicherung steigen müssten. Ich will Ihnen
dazu einmal etwas sagen: Zum 1. Januar erhöhen Sie er-
neut die Ökosteuer; die Erhöhung macht in einem Jahr
fast 6 Milliarden DM aus. Der Rentenversicherungsbei-
trag sinkt jedoch nicht im gleichen Maße. Die zukünftige
Beitragssenkung bei der Rentenversicherung macht ge-
rade einmal 3,2 Milliarden DM aus. Angesichts dessen
können Sie doch nicht ständig behaupten, die Ökosteuer
werde zur Senkung der Beitragssätze in der Rentenversi-
cherung verwendet. Dem ist nicht so und das muss man
auch deutlich zum Ausdruck bringen.
Nun möchte ich aber auch ein paar Sätze darauf ver-
wenden, was nun tatsächlich an konkreten Auswirkungen
für die Bürger im Beschluss des Vermittlungsausschusses
enthalten ist. Ist die Entfernungspauschale wirklich ein
Ausgleich für die gestiegenen Benzinkosten und für das,
was Sie mit Ihrer Ökosteuer angerichtet haben? Ich ver-
deutliche Ihnen das an einem Beispiel: Bei einer Fahrt-
strecke von 20 Kilometern und einem Durchschnittsver-
brauch von 10 Litern pro 100 Kilometer
beträgt der Mehraufwand bei einer Benzinpreiserhöhung
von 35 Pfennigen – das ist genau der Preisanstieg, den Sie
allein durch die Ökosteuererhöhungen verursachen –
280 DM im Jahr. Nun betonen Sie, ab 10 Kilometern
werde die Pauschale für Autofahrer um 10 Pfennige er-
höht. Das bringt bei einem Grenzsteuersatz von 35 Pro-
zent nicht etwa eine Steuerersparnis von 280 DM – dies
entspräche den Mehrkosten –, sondern nur von ganzen
70 DM. Hier kann man nicht von Entlastung der Autofah-
rer sprechen, sondern das ist, wie ich vorhin sagte, ein
kleines Heftpflaster auf die große Wunde, die Sie den
Menschen zunächst einmal zugefügt haben.
Ich füge ein Zweites hinzu – Frau Müller hat es vorhin
selbst gesagt –: Der Großteil der Entlastungen in diesem
Paket landet eben nicht bei den Autofahrern, die durch die
Ökosteuer zusätzlich belastet sind, sondern bei denen, die
zum Beispiel die Bahn benutzen. Genau hier wird in ei-
nem wesentlich höheren Maße entlastet – letztlich sub-
ventioniert –, obwohl keine entsprechende Belastung vor-
handen ist. Frau Müller hat gesagt, 75 Prozent des
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Joachim Poß
13820
gesamten Volumens lande bei den Bahnbenutzern und nur
25 Prozent bei den Autofahrern.
– Natürlich hat sie das gesagt, sie hat von drei Viertel und
ein Viertel gesprochen, das sind nach Adam Riese 75 bzw.
25 Prozent.
Angesichts dessen wird deutlich: Nicht der Personen-
kreis, von dem Sie ständig reden, wird entlastet; entlastet
wird vielmehr ein ganz anderer Personenkreis, der aber
durch die Belastungen nicht so stark in Anspruch genom-
men wird.
Ein Weiteres zu den konkreten Auswirkungen: Die Ge-
ringverdiener – Peter Rauen hat in seinem Beitrag das
Beispiel einer Verkäuferin gebracht –, diejenigen, die
steuerlich kaum etwas oder gar nichts geltend machen
können, aber doch auf das Auto angewiesen sind, werden
durch die Ökosteuer zwar belastet, aber durch keine Ihrer
Maßnahmen entlastet.
Ich will jetzt noch auf das eingehen, was in der Debatte
eben eine Rolle gespielt hat, nämlich auf den Vorschlag
seinerzeit in unserem Steuerkonzept, die Entfernungspau-
schale zu reduzieren. Ich finde, es ist schon fast ein biss-
chen unverschämt, dass dies immer wieder erwähnt wird,
ohne den Gesamtzusammenhang zu sehen.
Deshalb will ich die zwei Punkte, die für eine Gesamtbe-
trachtung wesentlich sind – wesentlich auch für die
Beurteilung dessen, was Sie im Unterschied dazu vorse-
hen –, herausstellen:
Erstens. Im Zusammenhang mit der Senkung der Pau-
schale war bei uns ein Steuersatz von 15 bis 35 Prozent
vorgesehen, und zwar nicht erst im Jahr 2005, sondern
schon wesentlich früher.
Zweitens. Wir hatten all dies ohne Mehreinnahmen
durch eine Ökosteuer geplant. Sie dagegen veranstalten
den ganzen Zirkus nur deshalb, weil Sie die Ökosteuer
eingeführt und erhöht haben.
Ansonsten würden Sie ja weder die Entfernungspauschale
einführen noch die Kilometersätze erhöhen. Den Zusam-
menhang mit der Ökosteuer können Sie nicht auflösen; er
ist vorhanden und der entscheidende Punkt.
Was Sie jetzt machen, ist eine massive Steuererhöhung
in fünf Schritten. Sie sind nicht bereit, trotz unserer stän-
digen Anträge und trotz der Argumentation von Fachleu-
ten, wenigstens auf die weiteren Stufen der Ökosteuer
zu verzichten. Sie sehen nicht einmal eine vollständige
Entlastung der Pendler vor,
sondern belasten stattdessen einseitig die Geringverdiener
und bevorzugen letztlich diejenigen, die durch die Öko-
steuer nicht so sehr belastet sind, nämlich die Bahnfahrer.
All dies macht deutlich: Sie betreiben eine riesengroße
Flickschusterei, weil Sie nicht in der Lage sind, Ihre ideo-
logischen Scheuklappen endlich abzustreifen und etwas
Vernünftiges zu machen.
Wir haben unsere Bereitschaft zum Kompromiss heute
Nacht gezeigt. Wir haben sehr lange verhandelt, weil wir
der Meinung sind, wir sollten uns nicht verschließen,
wenn es irgendwo eine Möglichkeit gibt, zu Verbesserun-
gen für die Betroffenen zu kommen. Aber nachdem Sie
keine Bereitschaft gezeigt haben, auf die berechtigten Fi-
nanzierungsprobleme der Länder einzugehen, nach-
dem Sie keine Bereitschaft gezeigt haben, die einseitige
Bevorzugung derjenigen, die durch die Ökosteuer nicht
belastet werden, zu beseitigen und auch nicht bereit wa-
ren, andere Probleme im Zusammenhang mit der Öko-
steuer zu lösen, ist eine Zustimmung unsererseits nicht
möglich gewesen und wird auch heute nicht möglich sein.
Die richtige Entscheidung kann nur sein, das Übel an
der Wurzel zu packen und die Ökosteuer wieder abzu-
schaffen. Ich will in diesem Zusammenhang noch einmal
auf das hinweisen, was Sie in Ihrer Koalitionsvereinba-
rung geschrieben haben. Dort hieß es noch, Entscheidun-
gen über die Ökosteuer seien immer im Lichte der Preis-
entwicklung auf dem Energiemarkt und der konjunk-
turellen Entwicklung zu sehen. Wenn Sie wenigstens das
ernst nehmen würden, was Sie selbst in Ihrer Koalitions-
vereinbarung geschrieben haben, wären wir schon ein
Stück weiter. Sie müssten dann die Konsequenz ziehen
und wenigstens die weiteren Stufen der Ökosteuer ausset-
zen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Mehl.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Ich habe einmal gehört, dass man ei-
nen Lerninhalt, den man vermitteln muss, etwa 40 Mal
wiederholen muss, damit er haften bleibt. Ich glaube, das
haben wir in den letzten Wochen gemacht. Aber bei Ihnen
bleibt nichts haften. Ich verstehe das nicht.
Vor allen Dingen sollten Sie einmal über Ihre eigene Ar-
gumentation nachdenken, die vorne und hinten nicht
stimmt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Gerda Hasselfeldt
13821
Ich halte es für einen richtig guten Erfolg, dass es jetzt
eine Entfernungspauschale gibt. Das passt auch zum
Konzept der Ökosteuer.
Zum ersten Mal wird der öffentliche Personennahverkehr
mit begünstigt, und zwar nicht aus Gründen des Selbst-
zwecks, sondern aus Klimaschutzgründen. Wer Klima-
schutz will, der darf nicht heiße Luft produzieren, so wie
Sie das tun, sondern muss Entscheidungen treffen. Wir ha-
ben sie getroffen, und zwar die richtigen.
Der Sachverständigenrat, Herr Solms, hat eine ganze
Reihe von Gutachten vorgelegt. Ich kann mich an viele
Debatten erinnern, die wir über diese Gutachten geführt
haben. Ich weiß inzwischen, dass man vorsichtig sein
muss, wenn man bestimmte Teile aus solchen Gutachten
zur Unterstützung der eigenen Argumentation heranzieht.
Aber zur Ökosteuer hat sich der Sachverständigenrat ganz
klar geäußert: Sie ist notwendig und richtig; man hätte
zwar auch einen anderen Ansatz wählen können; aber die
Einführung der Ökosteuer ist gut. Der Sachverständigen-
rat hat auch schon in früheren Gutachten einen Benzin-
preis von 4,50 DM pro Liter empfohlen. Wenn Sie sich
diese Position zu Eigen machten, dann könnten Sie etwas
erleben. Ich empfehle Ihnen das nicht. Deswegen lassen
wir die Energiepreise in maßvollen, planbaren und über-
schaubaren Stufen ansteigen. Dies ist auch in weiten Tei-
len der Wirtschaft auf positive Resonanz gestoßen.
Frau Kollegin
Mehl, der Kollege Seifert und der Kollege Solms haben
den Wunsch, Zwischenfragen zu stellen.
Ich lasse jetzt keine zu, sorry.
Es wird immer behauptet, dass die Ökosteuer schuld an
den vergleichsweise hohen Benzinpreisen in Deutschland
sei. Das ist nicht wahr. Die Ökosteuer hat an den Benzin-
preiserhöhungen, die es jetzt gegeben hat, nur einen ver-
schwindend geringen Anteil.
Entscheidend war, dass der Erdölpreis weltweit gestiegen
ist und dass der Dollarkurs eine entsprechende Wirkung
hatte. Darauf und nicht auf die Ökosteuer haben wir mit
der Einführung der Entfernungspauschale reagiert. Die
Ökosteuer wird komplett zurückgegeben, nicht aber die
Kosten des Benzinpreisanstiegs.
Sie haben in den Debatten über die Ökosteuer immer
behauptet, Deutschland mache mit der Einführung einer
solchen Steuer einen Alleingang. Dem ist nicht so. Eine
ganze Reihe anderer europäischer Staaten hat längst die
Ökosteuer eingeführt, allen voran Dänemark. In einer Stu-
die der Forschungsstelle der Universität Berlin – man
kann zwar nicht alles miteinander vergleichen; Dänemark
ist anders strukturiert als Deutschland und hat eine andere
Form der Ökosteuer gewählt; aber vom Prinzip her ist es
ähnlich – wurde Dänemark bescheinigt, dass es mit seiner
Klimaschutzpolitik beispielgebend ist, insbesondere we-
gen seiner Konstruktion der Ökosteuer.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich – ich möchte das
noch einmal sagen, obwohl wir schon viele Male darauf
hingewiesen haben – klar machen, wie Sie argumentieren.
Die CDU hat in ihrem Zukunftsprogramm 1998 Folgen-
des formuliert:
Unser Steuer- und Abgabensystem macht gerade das
teuer, was wir am dringendsten brauchen: Arbeits-
plätze. Dagegen ist das, woran wir sparen müssen,
eher zu billig zu haben: Energie und Rohstoffeinsatz.
Dieses Ungleichgewicht müssen wir wieder stärker
ins Lot bringen, wenn wir unseren beiden Hauptzie-
len, mehr Beschäftigung und weniger Umweltbelas-
tung, näher kommen wollen.
Dem kann man nur zustimmen.
Die ehemalige Bundesumweltministerin Angela Merkel
hat 1995 gesagt:
Als Umweltministerin halte ich es für erforderlich,
die Energiepreise schrittweise anzuheben und so ein
deutliches Signal zum Energiesparen zu geben.
Ich frage mich, wie Ihre Sinneswandlung zustande ge-
kommen ist; denn an den Fakten selbst hat sich nichts
geändert, sieht man einmal davon ab, dass Sie auf den Op-
positionsbänken sitzen.
– Ich habe noch mehr Zitate.
Zum Schluss möchte ich noch auf etwas anderes zu
sprechen kommen. Es gibt eine von Ihnen eingerichtete
Internetseite, deren Adresse „www.weg-mit-der-oeko-
steuer.de“ lautet. Auf dieser Seite kann man sich, indem
man die entsprechenden Zahlen eingibt, ausrechnen, wie
hoch die Steuerbelastung am Ende ist. Bei einem Benzin-
preis von 2,07 DM, 15 000 gefahrenen Kilometern und
einem Verbrauch von 6,7 Liter auf 100 Kilometern kommt
man auf folgendes Ergebnis: 1 289,38 DM Ökosteuer, Mi-
neralölsteuer und Mehrwertsteuer. Sie verschweigen da-
bei, dass mindestens 50 Pfennig der Mineralölsteuer ent-
standen sind, als Sie noch an der Regierung waren.
Das wird natürlich schön verheimlicht.
Im Übrigen kann man auf dieser Internetseite noch
nicht einmal den eigentlichen Ökosteueranteil dieses Be-
trags ausrechnen. Legt man eine Erhöhung der Ökosteuer
um drei mal 6 Pfennig zugrunde, dann beträgt die Belas-
tung durch die Ökosteuer 180 DM im Jahr; pro Tag sind
das 50 Pfennig. Dennoch sprechen Sie von Abzockerei
und vom Untergang der Republik. Das nenne ich Heu-
chelei.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Ulrike Mehl
13822
Zu einer Kurz-
intervention erteile ich dem Abgeordneten Seifert das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Hätte die Kollegin Mehl eine Zwi-
schenfrage zugelassen, dann hätten wir diesen Tagesord-
nungspunkt schneller abschließen können. Das sage ich
auch an die Adresse derjenigen, die soeben ein bisschen
herumgenölt haben.
Ich möchte darauf hinweisen, dass der von Ihnen so-
eben beschriebene große Erfolg nur für einen Teil der Be-
völkerung zutrifft. Bestimmte Teile der Bevölkerung,
zum Beispiel Behinderte, die auf ihr Auto angewiesen
sind, haben von der Entfernungspauschale nichts, da ihr
ausschließlich berufliche Zwecke zugrunde gelegt wer-
den.
Es gibt aber Personen, die müssen das Auto benutzen,
wenn sie einmal ins Theater, zum Arzt oder woandershin
wollen bzw. wenn sie einfach nur am Leben teilhaben
möchten.
Es ist in Ihrer Regierungszeit nicht das erste, nicht das
zweite und nicht das fünfte Mal, dass Menschen mit Be-
hinderungen von bestimmten sozialen Maßnahmen aus-
geschlossen werden. Das muss zumindest gesagt werden
dürfen. Beim nächsten Mal sollte man berücksichtigen,
dass es so nicht weitergehen kann.
Danke schön.
Herr Kollege, Sie haben Recht,
wenn Sie sagen, dass man natürlich auch solche Dinge
berücksichtigen soll. Ich sage dazu nur einen Satz: Man
darf das eine gegen das andere nicht ausspielen; vielmehr
muss man schauen, an welcher Stelle ein solches Anlie-
gen zu regeln ist.
Ich schließe die
Aussprache.
Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
Entfernungspauschale
– Drucksachen 14/4242, 14/4435, 14/4631,
14/4899, 14/4942 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Joachim Poß
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Das
ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung ge-
wünscht? – Auch das ist nicht der Fall.
Wir kommen also zur Abstimmung. Der Vermittlungs-
ausschuss hat gemäß § 10Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäfts-
ordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über
die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschus-
ses auf Drucksache 14/4942? – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen
der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
des Strafvollzugsgesetzes
– Drucksachen 14/3763, 14/4452, 14/4622,
14/4943 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
Der Berichterstatter, Ludwig Stiegler, wünscht kurz
das Wort zur Berichterstattung.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen jetzt einen
Moment aufpassen, weil es um eine Korrektur geht. Das
müssen Sie schon zur Kenntnis nehmen.
Bitte schön, Herr Stiegler.
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Dem Sekretariat ist in langer Nachtar-
beit ein kleiner Fehler unterlaufen. In der Drucksa-
che 14/4943 habe ich zwei Änderungen anzubringen.
In Art. 1 Nr. 8 ist in § 47 Abs. 1 des Strafvollzugsgeset-
zes der zweite Satz zu streichen. Dieser Satz ist überflüs-
sig, weil bei Untersuchungsgefangenen keine Aufteilung
zwischen Hausgeld, Eigengeld und Überbrückungsgeld
stattfindet.
Außerdem müssen in Art. 1 Nr. 9 in § 200 die Wörter
„Die Bemessungen“ durch die Wörter „Der Bemessung“
ersetzt werden.
Ich bitte Sie, über die Beschlussempfehlung nach Maß-
gabe dieser Korrekturen abzustimmen.
Vielen Dank.
Ich danke
auch. – Wird noch das Wort zur Erklärung gewünscht? –
Das ist nicht der Fall. Dann können wir jetzt abstimmen.
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass über
die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschus-
ses? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bis
auf die F.D.P., die sich enthalten hat, angenommen wor-
den.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000 13823
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes
Singhammer, Karl-Josef Laumann, Mario Eichhorn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Die Auswirkungen der demographischen Ent-
wicklung auf die sozialen Sicherungssysteme
öffentlich machen
– Drucksache 14/4645 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
b) Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche
Rentenversicherung, insbesondere über die Ent-
wicklung der Einnahmen und Ausgaben, der
Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderli-
chen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalender-
jahren gemäß 154 SGB VI
und
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenver-
sicherungsbericht 2000
– Drucksache 14/4730 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozial-
ordnung zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dirk Niebel, Ernst Burgbacher,
Hildebrecht Braun , weitere Abgeord-
neter und der Fraktion der F.D.P.
Jährliche Vorlage einer Generationenbilanz
und Aufnahme der Daten in die Haushaltssta-
tistik des Bundes
– Drucksachen 14/1758, 14/4910 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Lotz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Es gibt
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Erika Lotz.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen! Liebe Kollegen! Die CDU legt heute einen Antrag
vor, in dem es sinngemäß heißt, dass die Reformen der
sozialen Sicherungssysteme, also auch der Rentenversi-
cherung, nur mit einer zukunftsgerichteten Familienpoli-
tik sinnvoll sind. Da kann ich Ihnen nur voll zustim-
men – zum einen aus meiner innersten Überzeugung he-
raus, zum anderen aber vor allem deshalb, weil das genau
unsere Politik ist.
Wenn Sie auf die vergangenen beiden Jahre zurück-
blicken, in denen wir regieren, dann werden Sie sicher
feststellen, dass wir gerade in der Familienpolitik viel ge-
tan haben, um die finanzielle Situation der Familien zu
verbessern.
In diesem Zusammenhang kann ich nicht umhin, da-
rauf hinzuweisen, dass viele der Maßnahmen überfällig
waren, weil CDU/CSU-F.D.P.-Regierungen in dieser Hin-
sicht jahrelang untätig waren.
Das kann ich Ihnen gern an einigen Beispielen erläutern.
Familienpolitik kann ja nicht losgelöst von den allge-
meinen politischen Rahmenbedingungen gestaltet wer-
den. Gerade die Zukunft unserer Kinder setzt konsoli-
dierte Haushalte in Bund, Ländern und Kommunen
voraus. Bei Regierungsantritt haben wir eine Situation
vorgefunden, in der fast jede vierte Steuermark für Zinsen
an die Banken ausgegeben werden musste und nicht für
Bürgerinnen und Bürger sowie für Familien ausgegeben
werden konnte. Eine solche Situation ist nicht tragbar und
in hohem Maße zukunftsgefährdend. Deshalb haben wir
als Erstes ein Zukunftsprogramm aufgelegt – wie wir in-
zwischen feststellen können, mit gutem Erfolg. Dies war
die Voraussetzung, um die Handlungsfähigkeit der Regie-
rung wieder herzustellen.
Ich muss auch an das Familienurteil erinnern – das
kann ich Ihnen nicht ersparen –: Die Beschlüsse des
Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998
sind gefasst worden, weil es bei der Familienförderung
eklatante Versäumnisse gab, Versäumnisse von Ihnen und
nicht von Rot-Grün.
Das Bundesverfassungsgericht hat damals unter anderem
entschieden, dass in den Jahren 1985, 1987 und 1988
Kindergeld und Kinderfreibeträge nicht in allen Fällen
ausreichten, ein Mindestmaß an Sachbedarf von Kindern
steuerfrei zu stellen. Wer hat denn in diesen Jahren re-
giert?
Infolge der verfehlten Familienpolitik der CDU be-
schäftigen sich jetzt die Finanzämter mit offenen Altfällen.
Alle noch nicht bestandskräftigen Einkommensteuerfest-
setzungen der zwischen 1983 und 1995 liegenden Jahre
müssen überprüft werden. Sofern entsprechend den Vorga-
ben des Bundesverfassungsgerichts ein Nachbesserungs-
bedarf besteht, kann mit einer Steuererstattung gerechnet
werden. Das erfolgt zurzeit.
Auch möchte ich noch daran erinnern, dass wirkliche
familienpolitische Maßnahmen, wie beispielsweise die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
13824
Erhöhung des Kinderfreibetrages und des Kindergeldes
im Jahre 1996, nur auf Drängen der SPD in Kraft traten.
Bereits ein Jahr später, als die zweite Anhebung in Kraft
treten sollte, bekam die Union kalte Füße und wollte die
ein Jahr zuvor geplante weitere Erhöhung zur Förderung
der Familien um ein Jahr verschieben. Allein dem damals
drohenden Widerstand der SPD im Bundesrat gegen die-
ses Ansinnen war es zu verdanken, dass dieses Vorhaben
noch vor der Beratung im Bundesrat zurückgezogen
wurde. Auch in dem Petersberger Steuerkonzept von
1998/1999 war weder eine Erhöhung des Kindergeldes
noch des -freibetrages vorgesehen. Mittelfristig war dies
schon aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar.
Die Quittung hat uns das Bundesverfassungsgericht
prompt präsentiert. Wir mussten darauf natürlich reagieren
und wir haben darauf reagiert. Aber wir haben – das
möchte ich ausdrücklich betonen – nicht nur die Forderun-
gen des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt, sondern
wir sind auf der Grundlage unseres Verständnisses von ei-
ner sozial gerechten Familienpolitik entsprechend weit
über die Vorgaben hinausgegangen. Das Familienurteil
zielte lediglich auf die Herstellung der horizontalen Steu-
ergerechtigkeit ab. Das führte jedoch dazu, dass Familien
mit hohem Einkommen erhebliche Verbesserungen ihrer
Einkommenssituation erfuhren, bei Familien mit geringe-
rem Einkommen aber keine oder nur geringfügige Verbes-
serungen spürbar wurden.
Da unser Ziel die bedarfsgerechte Förderung der Fa-
milien war, haben wir nicht nur die Kinderfreibeträge,
sondern auch das Kindergeld erhöht, um zu einer mög-
lichst gleichmäßigen Verbesserung der Einkommenssi-
tuation der Familien zu kommen. Im Rahmen des Geset-
zes zur Familienförderung hat die Bundesregierung in der
ersten Stufe ab 2000 zusätzlich zum Kinderfreibetrag in
Höhe von gegenwärtig 6 912 DM einen einheitlichen
Freibetrag für Kinderbetreuung in Höhe von 3 024 DM
für alle Kinder bis zu 16 Jahren eingeführt. Nachdem das
Kindergeld bereits zum 1. Januar 1999 von 220 DM auf
250 DM erhöht wurde, ist es zum Jahresbeginn 2000 noch
einmal um weitere 20 DM auf 270 DM im Monat erhöht
worden.
Die ab 1. Januar 2000 verbesserte Familienförderung
erreicht auch Familien, die Sozialhilfe beziehen. Das war
bisher nicht der Fall. Bislang bewirkten Kindergeldzah-
lungen bei Sozialhilfeempfängern eine entsprechend ver-
minderte Sozialhilfe. Das erhöhte Kindergeld kommt da-
mit den einkommensschwachen Familien in voller Höhe
zugute.
Das zweistufig angelegte Paket zur Familienförderung
wird die jahrzehntelange, von der früheren Koalition zu
verantwortende verfassungswidrige Benachteiligung von
Familien mit Kindern im Steuerrecht beenden. Bereits mit
dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 hat die
Bundesregierung deutlich gemacht, dass sie in der Entlas-
tung von Familien insbesondere mit geringen oder mittle-
ren Einkommen einen wichtigen steuerpolitischen
Schwerpunkt sieht. Diese Politik wird nun konsequent
fortgeführt.
Einher geht damit ein Beitrag zur Steuervereinfa-
chung, weil mehrere bisher gesonderte steuerliche Rege-
lungen zur Berücksichtigung kindbedingter Aufwendun-
gen in den neuen Tatbeständen aufgehen und damit
entbehrlich werden. Insgesamt führt die jetzt geltende
erste Stufe der Neuregelung einschließlich der Erhöhung
des Kindergeldes für erste und zweite Kinder von monat-
lich 250 DM auf 270 DM im Entstehungsjahr zu Minder-
einnahmen von rund 5,5 Milliarden DM. Im Umkehr-
schluss will ich damit betonen, dass 5,5Milliarden DM an
zusätzlicher Förderung für die Familien jetzt bereitstehen.
Im Jahr 2001 wird die Bundesregierung entscheiden,
wie ab dem Jahr 2002 auch die steuerliche Berücksichti-
gung des Erziehungsbedarfs neu zu regeln ist. Diese
Entscheidung wird im Einklang mit den dann gegebenen
familien- und finanzpolitischen Rahmenbedingungen ge-
troffen.
Die Maßnahme soll mit einer Reform der Ausbil-
dungsförderung verzahnt werden. In dem in der letzten
Woche vom Bundestag verabschiedeten Haushalt für das
kommende Jahr stehen für die BAföG-Reform rund
400 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung. Wir werden
mit dieser Strukturreform erreichen, dass circa 80 000 Ju-
gendliche BAföG-berechtigt sind. Auch diese Maßnahme
entlastet die Familien und ermöglicht auch Kindern von
Eltern mit geringem Einkommen, ein Studium zu absol-
vieren.
Wir haben aber nicht nur mit finanziellen Mitteln ver-
sucht, die Lage der Familien zu verbessern, sondern ha-
ben bei der Gesetzesnovelle zum Erziehungsgeld vor al-
lem Wert darauf gelegt, dass Eltern bei der Gestaltung der
Aufgabenverteilung in der Familie mehr Wahlfreiheit er-
halten. Beide Eltern können jetzt gleichzeitig Erzie-
hungsurlaub – Elternzeit – in Anspruch nehmen und
während des Erziehungsurlaubs bis zu 30 Stunden in der
Woche einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Vätern wird
durch den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit erstmals
eine realistische Chance eröffnet, sich an den Erziehungs-
aufgaben zu beteiligen.
Gleichzeitig erhalten Frauen damit bessere Möglichkei-
ten, durch eine Teilzeitbeschäftigung den Kontakt zum
Beruf aufrechtzuerhalten. Das ist zukunftsfähige Famili-
enpolitik.
Insgesamt können wir schon jetzt eine Bilanz vorwei-
sen, die sich sehen lassen kann. Wir wollen aber natürlich
nicht auf der Stelle stehen bleiben. Wenn Sie den Entwurf
des Altersvermögensgesetzes aufmerksam gelesen haben,
dann ist Ihnen sicherlich aufgefallen, dass dort viele Ele-
mente enthalten sind, die die Situation der Familien wei-
ter verbessern und Paare ermutigen sollen, sich für Kin-
der zu entscheiden.
Nicht unwesentlich ist für Frauen bei der Entscheidung
für Kinder die Tatsache, dass durch Kindererziehung
Lücken im Erwerbsleben entstehen bzw. durch Teilzeit-
beschäftigung unterdurchschnittliche Löhne in diesen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Erika Lotz
13825
Zeiten zu niedrigen Renten führen. Deshalb wollen wir
kindbezogene Lücken durch Höherbewertung der ent-
sprechenden Versicherungszeiten schließen. Niedrige
Entgelte in den so genannten Kinderberücksichtigungs-
zeiten werden nach den Grundsätzen der Rente nach Min-
desteinkommen aufgewertet. Dabei werden die individu-
ellen Entgeltpunkte um bis zu 50 Prozent auf maximal
100 Prozent des Durchschnittseinkommens erhöht. Diese
Regelung kommt auch Alleinerziehenden zugute, die von
den bisherigen Regelungen der Rente nach Mindestein-
kommen vielfach nicht begünstigt wurden, weil sie ge-
zwungen waren, einer Vollzeitbeschäftigung nachzuge-
hen.
Für die Frauen, die wegen gleichzeitiger Erziehung
von zwei oder mehr Kindern nicht erwerbstätig sein kön-
nen, werden zusätzlich zu den Kindererziehungszeiten
– dies sind drei Jahre je Kind – die verbleibenden Jahre
der Kinderberücksichtigungszeit mit 33 Prozent des
Durchschnittseinkommens bewertet.
Auch der Rentenversicherungsbericht 2000 ist Ge-
genstand der Tagesordnung.
Ich möchte auch dazu noch ein paar Worte sagen: Der
Rentenversicherungsbericht legt noch einmal detailliert
die Notwendigkeit unserer angestrebten Rentenreform
dar. Die Berechnungen über die künftige Entwicklung
aller relevanten Daten geben uns Recht. Zu diesem Er-
gebnis kommt auch der Sozialbeirat in seinem Gutachten.
Er stellt fest, dass das von der Bundesregierung ange-
strebte Beitragsniveau von etwa 22 Prozent im Jahre 2030
erreicht werden kann. Dies ist ein Ziel, das uns im Inte-
resse der Arbeitnehmer sowie möglichst geringer Lohn-
nebenkosten besonders am Herzen liegt. Denn hohe
Lohnnebenkosten – das wissen Sie – wirken sich negativ
auf die Konkurrenzfähigkeit unserer Produkte aus. Da-
runter leiden auch die Arbeitnehmer, weil dies zum Abbau
von Arbeitsplätzen führt. Ich bin stolz darauf, dass es uns
gelungen ist, schon zweimal den Rentenversicherungs-
beitrag zu senken. Eine dritte Absenkung steht vor der
Tür. Das erleben die Menschen seit 16 Jahren zum ersten
Mal.
Weiterhin stellt der Sozialbeirat fest, dass die aktuellen
Rentenwerte – dies sind bessere Indikatoren für das Leis-
tungsniveau als das Rentenniveau – in den kommenden
vier Jahren um 8,5 Prozent steigen werden: um 8,2 Pro-
zent in den neuen Ländern, um 9,8 Prozent in den alten
Ländern. Das hängt damit zusammen, dass im Vergleich
zu früheren Prognosen die Beschäftigungsentwicklung
der Zukunft wesentlich günstiger eingeschätzt wird. Dies
ist sicher nicht zuletzt auf die positive Steuerpolitik der
Regierung und auf die Begrenzung der Lohnnebenkosten
zurückzuführen, die erst mit diesem Rentenkonzept mög-
lich wird.
Darüber hinaus bewertet der Sozialbeirat das vorgese-
hene Rentenanpassungsverfahren positiv, da diskre-
tionäre Eingriffe zur Eliminierung unerwünschter Effekte
von vornherein vermieden werden und dem Gesetzgeber
insbesondere durch die Entkopplung von steuerpoliti-
schen Entscheidungen einerseits und Entscheidungen zur
Gestaltung der Leistungen der Rentenversicherung ande-
rerseits größere Handlungsfreiheit in den verschiedenen
Bereichen verschafft und gleichzeitig die Zielgenauigkeit
der Maßnahmen erhöht wird.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Der vorgelegte
Rentenversicherungsbericht bestätigt, dass mit der im No-
vember dieses Jahres verabschiedeten Reform der Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und mit dem Al-
tersvermögensgesetz die Grundlage für eine zukunfts-
fähige Altersversicherung gelegt wurde, eine Altersversi-
cherung, die den demographischen und gesellschaftlichen
Veränderungen entspricht.
Nun noch ein paar Worte zu dem Antrag der F.D.P.,
jährlich eine Generationenbilanz vorzulegen. Natürlich
möchten alle wissen, wie die Zukunft aussieht, welche
Belastungen den kommenden Generationen entstehen.
Aber, diese Bilanz muss seriös sein. Mit den Modellen,
die jetzt vorliegen, ist dies nicht möglich. Der Manipula-
tion können Tür und Tor geöffnet werden.
Kritisch ist schon die Wahl des Basisjahres. Dabei
muss berücksichtigt werden, wie gut oder wie schlecht die
Konjunktur ist. Trotz dieser Unsicherheiten werden Be-
rechnungen hinsichtlich der zukünftigen Situation ange-
stellt. Man muss daher sagen, dass es einfach zu viele
Möglichkeiten der Manipulation gibt.
Ich schließe nicht aus, dass dieses Instrument weiter-
entwickelt werden kann. Zurzeit ist dies aber nicht der
Fall. Deswegen ist der Vorschlag, der im Haushaltsaus-
schuss gemacht und der im Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung beraten wurde, richtig, nämlich den Wis-
senschaftlichen Beirat des Bundesfinanzministeriums
zu bitten,
die Anwendbarkeit des Konzeptes im Hinblick auf die
Haushaltsbilanz zu prüfen.
Wir sorgen dafür, dass weder die heutigen noch die
zukünftigen Beitragszahler überfordert werden. Gleich-
zeitig sorgen wir dafür, dass das Leistungsniveau einen
angemessenen Standard behält.
Wir geben mit unserer Reform insbesondere den jüngeren
Generationen eine Perspektive für die Alterssicherung.
Die Opposition ist nach wie vor eingeladen, daran mitzu-
wirken.
Danke schön.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Erika Lotz
13826
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Andreas Storm.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Der demographische Wandel
stellt in der Tat eine große Herausforderung für unsere ge-
samte Gesellschaft dar. Kein Geringerer als unser Kollege
und frühere Bundestagsvizepräsident, Hans-Ulrich Klose,
hat ihn sogar als eine „Revolution auf leisen Sohlen“ be-
zeichnet.
Die nackten Tatsachen sind, dass heute etwa drei Er-
werbstätige auf einen Rentner kommen. In 30 Jahren wer-
den auf drei Erwerbstätige zwei Rentner kommen. Das
heißt, wir müssen in den nächsten drei Jahrzehnten mit ei-
ner Verdoppelung des Anteils älterer Menschen, bezogen
auf die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter, rech-
nen. Hinter diesen statistischen Zahlen verbirgt sich eine
Veränderung unserer Gesellschaft, die ihresgleichen
sucht. Nicht nur die sozialen Sicherungssysteme, aber
eben auch diese, werden vor dramatischen Herausforde-
rungen stehen.
Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben schon seit ei-
nigen Jahren die Konsequenzen untersucht. Das Deutsche
Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin kam in diesem
Sommer zu dem Ergebnis, dass ohne weitere Reformen
der Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung bis zum Jahr 2030 von heute 13,6 Prozent über die
20-Prozent-Marke steigen würde. Bis zum Jahr 2040
würde er sogar auf über 23 Prozent steigen. Für die Pfle-
geversicherung wird bis zum Jahr 2030 eine Verdoppe-
lung des Beitragssatzes erwartet.
Welche Konsequenzen zieht die Koalition aus diesen
Prognosen? Diese Frage ist gerade in Bezug auf das
Thema Rentenreform sehr spannend; denn steigende
Beiträge in der Kranken- und der Pflegeversicherung ha-
ben gravierende Auswirkungen auf die Rentenfinanzen.
Die Rentenkassen haben nämlich die Hälfte des Anstiegs
der Beitragsbelastung zu tragen; die andere Hälfte schmä-
lert das Alterseinkommen der Rentner.
Wenn man sich nun anschaut, mit welchen Annahmen
Sie bei der Vorlage Ihrer Rentenreform gerechnet haben,
stellt man fest, dass Sie davon ausgehen, dass bis zum Jahr
2029, also fast drei Jahrzehnte lang, der Krankenver-
sicherungsbeitrag unverändert auf dem heutigen Niveau
bleibt. Das ist aber eine Annahme, die möglicherweise
schon nächstes Jahr zu Ostern überholt ist.
Die Wissenschaftler sagen uns – ich wiederhole dies –:
Ohne Reformen steigt der Krankenversicherungsbeitrag
über die 20-Prozent-Marke. Sie unterstellen aber, er
bliebe konstant bei 13,6 Prozent. Allein der Anstieg des
Krankenversicherungsbeitrags hätte zur Folge, dass der
Beitragssatz für die Rentenversicherung um weit über ei-
nen halben Prozentpunkt höher liegen würde, als dies
nach Ihren Berechnungen der Fall wäre.
Die Sachverständigen, die ihr Jahresgutachten Mitte
November abgegeben haben, haben außerdem kritisiert,
dass bei der Annahme in Bezug auf den Anstieg der Le-
benserwartung mit viel zu günstigen Prognosen gerech-
net worden ist. Im Jahresgutachten des Sachverständigen-
rates wurde darauf hingewiesen, dass der gegenüber den
bisherigen Annahmen in den nächsten drei Jahrzehnten zu
erwartende um ein Jahr höhere Anstieg der Lebenserwar-
tung, wie ihn führende Bevölkerungsforscher in Deutsch-
land annehmen, auch einen nachhaltigen Einfluss auf den
Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung hat,
nämlich einen Anstieg um weitere 0,4 Prozent.
Diese beiden Beispiele zeigen zunächst einmal, dass
bisher mit Annahmen, die massiv schönrechnen, operiert
worden ist
und dass die Zielsetzung, lieber Kollege Dreßen, den Bei-
tragsatz in der gesetzlichen Rentenversicherung bei
22 Prozent zu stabilisieren, nicht zu erreichen ist.
Diese Beispiele zeigen aber ein Zweites, nämlich dass
alle sozialen Sicherungssysteme massiv vom demogra-
phischen Wandel betroffen sein werden, dass es erhebli-
che Rückwirkungen auf die einzelnen sozialen Siche-
rungssysteme geben wird. Aus diesem Grunde ist es
höchste Zeit, der Öffentlichkeit diese Dramatik bewusst
zu machen. Es ist unumgänglich, unverzüglich ausrei-
chende Reformmaßnahmen durchzuführen, für die die
Regierung Vorschläge vorlegen muss.
Genau darauf zielt unser Antrag ab.
Die Bundesregierung hätte eigentlich schon längst Be-
rechnungen und einen umfangreichen Bericht vorlegen
müssen, welche Auswirkungen der demographische Wan-
del auf die sozialen Sicherungssysteme hat.
Deshalb fordern wir von Ihnen, dass Sie spätestens im
kommenden Jahr – früher geht es natürlich nicht; denn das
Jahr ist zu Ende – einen Bericht über die Auswirkungen
des demographischen Wandels auf die Renten-, Kran-
ken- und Pflegeversicherung sowie die anderen öffentli-
chen Alterssicherungssysteme vorlegen.
Dann müssen Konsequenzen daraus gezogen werden.
Dabei muss es darum gehen, die durch die Veränderung
der Alterspyramide entstehenden Belastungen gerecht
zwischen den Generationen zu verteilen. Hierzu sind Sie
nicht in der Lage.
Herzstück Ihrer Rentenreform ist ein so genannter Aus-
gleichsfaktor,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000 13827
der in Wirklichkeit nichts anderes als ein willkürlicher
Kürzungsfaktor ist, durch den einseitig die jüngere Gene-
ration belastet wird.
Ich darf Ihnen kurz das Fazit vortragen, das der Sach-
verständigenrat zu Ihrem Ausgleichsfaktor zieht:
Unstrittig ist dennoch, dass die Vermittelbarkeit und
damit die Akzeptanz der Reform unter den asymme-
trischen Verteilungswirkungen des Ausgleichsfak-
tors leidet, zumal es für diesen Faktor, anders als für
einen demographischen Faktor, keine systematisch-
analytische Begründung gibt, sondern nur eine fis-
kalische.
Soweit der Sachverständigenrat.
Ein vernichtenderes Urteil über eine Rentenreform als
das, dass Ihnen jede systematische und analytische
Grundlage für die von Ihnen vorgeschlagene Rentenfor-
mel fehlt, hat bisher kaum ein Expertengremium gefällt.
Deshalb rufe ich Sie an dieser Stelle noch einmal auf:
Lassen Sie die Finger von dieser willkürlichen Kürzung
der Renten für die junge Generation!
– Kollege Dreßen, wie Sie eben gehört haben, ist die Ein-
führung eines Demographiefaktors nach Einschätzung
der Sachverständigen ein Vorschlag, der systematisch und
analytisch begründet und eben nicht willkürlich ist. Durch
ihn werden die Lasten zwischen den Generationen ge-
recht verteilt.
Aber es gibt ja noch einen weiteren Vorschlag, nämlich
den der Rentenversicherungsträger. Dieser Vorschlag
wäre eine Lösung. Er würde alle Nachteile Ihrer Renten-
formel ausschließen und zu einer gerechten Lastenver-
teilung zwischen den Generationen führen. Er würde
dazu führen, dass das Rentenniveau auch noch nach drei
Jahrzehnten für alle akzeptable ist.
Laufen Sie nicht wie mit Scheuklappen durch die Ge-
gend! Geben Sie sich endlich einen Ruck und machen Sie
den Weg frei für eine Rentenreform, die auch auf lange
Sicht Bestand haben kann!
Ihre bisherigen Vorschläge sind nicht geeignet, das
Vertrauen der älteren Generation, aber auch der jüngeren
Generation in die Handlungsfähigkeit der Sozialpolitik
wieder herzustellen. Es ist wirklich Zeit für einen Neube-
ginn – nicht nur in der Rentenpolitik, sondern in der ge-
samten Sozialpolitik.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stehen
heute ein paar Tage vor dem Einstieg in eine sehr an-
strengende, differenzierte, tief gehende Debatte um eine
notwendige grundsätzliche Rentenreform.
Wir befinden uns an der Schwelle einer sehr großen Re-
form und werden am Montag mit den Anhörungen dazu
beginnen. Deswegen ist es gut, bereits heute den Renten-
bericht und insbesondere die Anmerkungen des Sozial-
beirates dazu sowie die Würdigung durch den Sachver-
ständigenrat zu diskutieren, Herr Storm.
Denn sowohl der Rentenbericht als auch der Sachver-
ständigenrat, der sich mit vielen Punkten der Reform aus-
einander setzt, und der Sozialbeirat kommen übereinstim-
mend zu dem Ergebnis, dass eine große Rentenreform
absolut notwendig ist, unter anderem wegen der verän-
derten demographischen Entwicklung, des veränderten
Altersaufbaus in der Bundesrepublik Deutschland. Sie
kommen ebenso übereinstimmend zu der Einschätzung,
dass die Konsequenzen, die wir daraus ziehen, nämlich
die private und die betriebliche Vorsorge als zusätzliche
Säulen neben die gesetzliche Rentenversicherung zu stel-
len,
der richtige Schritt sind, um ein zukunftssicherndes Ren-
tensystem aufzubauen, das auch für die jungen Genera-
tionen eine sichere Altersversorgung schaffen wird.
Genau dies ist der Unterschied zu dem, was wir hier
vorgefunden haben. Wir haben in der Tat den Versuch ei-
ner Rentenreform vorgefunden. Aber die blümsche Re-
form hat an dieser Stelle versagt,
da sie sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht
hat, wie den Schwierigkeiten in der gesetzlichen Alters-
vorsorge durch zusätzliche Konzepte, durch eine zusätz-
liche Stütze in Form der privaten Altersvorsorge entge-
gengetreten werden kann.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Andreas Storm
13828
Der Sachverständigenrat bestätigt uns, dass wir hier
große Schritte in die richtige Richtung machen, dass wir
mit dieser Rentenreform sozusagen einen doppelten Para-
digmenwechsel eingeleitet haben, den der Sachverständi-
genrat positiv bewertet. Da muss ich schon sagen, Herr
Storm: Sie haben den Bericht des Sachverständigenrates
offenbar mit einer völlig falschen Brille gelesen.
– Wirklich, Herr Storm, im Ernst! Der Sachverständigen-
rat ist ja nun wirklich kein Gremium, das man in irgend-
einer Weise grüner oder roter Positionen verdächtigen
könnte. Neben den Einschätzungen des Sozialbeirates be-
wertet gerade dieser Bericht die Eckpfeiler der Rentenre-
form, über die wir ab der nächsten Woche, auch in den An-
hörungen, diskutieren werden, in hohem Maße positiv.
Es wird ausdrücklich gelobt, dass die private Vorsorge,
und zwar in der von uns vorgesehenen Struktur, aufgebaut
wird. Es wird ausdrücklich auch die Kinderkomponente
bei dieser privaten Vorsorge gelobt.
Darüber hinaus wird vom Sozialbeirat – selbstverständ-
lich, weil er sie selber vorgeschlagen hat –, aber ebenso
vom Sachverständigenrat die modifizierte Nettolohnan-
passung gelobt.
Der Rentenbericht und diese beiden Gutachten zeigen
deutlich, dass wir ohne die Ökosteuer und ohne die modi-
fizierte Nettolohnanpassung in der Zukunft eine Beitrags-
entwicklung haben würden, die volkswirtschaftlich und
unter den Aspekten der Generationengerechtigkeit nicht
hinzunehmen sein würde. Beide Gremien und der Ren-
tenbericht machen absolut deutlich, dass sowohl die Öko-
steuer wie auch die modifizierte Nettolohnanpassung
wichtige Elemente sind, um für die Zukunft eine vernünf-
tige Rentenentwicklung zu sichern. Sie zeigen uns, dass
es auf diese Weise mit großer Wahrscheinlichkeit gelingt,
die 22-Prozent-Marke bei den Beiträgen bis 2030 nicht zu
überschreiten. Ebenso zeigen sie uns, dass die Beiträge in
den nächsten 20 Jahren mit Sicherheit unter 20 Prozent
bleiben werden, große Strecken sogar unter 19 Prozent.
Man sollte die Beiträge als einen wichtigen Faktor zur
Herstellung eines gerechten Ausgleiches zwischen den
Generationen betrachten. Insofern haben wir noch einmal
gutachterlich bescheinigt bekommen, dass wir bei der
Rentenreform auf dem richtigen Weg sind.
Meine Damen und Herren, auch die anderen Aspekte
der Rentenreform wie beispielsweise die Hinter-
bliebenenversorgung oder auch die –
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Storm?
– Ja, wenn ich meinen Satz zu Ende gebracht habe; dann
gerne, Herr Storm. – Unterstützung von Frauen, die allein
erziehend sind, sind wesentlich und zukunftsweisend.
Herr Storm, bitte schön.
Frau Kollegin Dückert,
Sie haben gesagt, Sie fühlen sich in Ihrer Auffassung be-
stätigt, dass die 22-Prozent-Marke erreicht werde. Haben
Sie zur Kenntnis genommen, dass die Sachverständigen
– wie ich schon ausgeführt habe – in ihrem Gutachten
diese Berechnungen infrage gestellt haben und zu dem Er-
gebnis gekommen sind, dass durch Anpassungsformel,
Ausgleichsfaktor usw. diese Beitragsentwicklung wohl
nicht erreicht werden könne und dass deshalb die Ver-
pflichtung bestehe, zu anderen geeigneten Maßnahmen zu
greifen, dass also aus Sicht des Sachverständigenrates die
Reform – unabhängig von der Bewertung der Einzelmaß-
nahmen – nicht ausreicht, um das Beitragsziel zu errei-
chen?
Herr Storm, ich weiß ja, dass Sie nächtens sehr gerne
rechnen.
Deshalb ist Ihnen bestimmt nicht entgangen, dass den Be-
rechnungen neun verschiedene Modelle sowie drei unter-
schiedliche Entwicklungspfade bezüglich Beschäfti-
gungs- und Beitragssatzentwicklung zugrunde gelegt sind
und dass bei verschiedenen Kombinationen in der Tat un-
terschiedliche Ergebnisse herauskommen. Alle Wissen-
schaftler, auch der Sachverständigenrat und der Sozial-
beirat, sagen, dass man das nicht über einen Zeitraum von
15 Jahren – auf den der Bericht angelegt ist – und schon
gar nicht über einen Zeitraum von 30 Jahren hundertpro-
zentig berechnen kann. Diese Bundesregierung ist aber
– auch das sagen Sachverständigenrat und Sozialbeirat –
bereit – und das ist bislang einmalig; Sie haben das zum
Beispiel nicht gemacht –, in diesen Gesetzentwurf zur
Rentenreform die Selbstverpflichtung aufzunehmen, die
22-Prozent-Marke mit gesetzlichen Maßnahmen zu si-
chern, wenn sie anders nicht gehalten werden kann. Ab-
seits von allen Modellrechnungen, an denen man sich er-
freuen kann oder auch nicht, haben wir die Verantwortung
dafür übernommen, dass diese Marke eingehalten wird,
weil wir sie im Sinne der Generationengerechtigkeit für
wichtig halten.
Meine Damen und Herren, insgesamt sind die uns vor-
liegenden Gutachten eine gute Ausgangsbasis. Es gibt kri-
tische Anmerkungen und das finde ich auch richtig. Da-
rüber werden wir diskutieren müssen. Der zentrale Aspekt
sind die Fragen, die sich um den Ausgleichsfaktor ranken:
Was ist gerecht? Was ist generationengerecht? Gibt es ge-
rechtere Formen? Diese Debatte dreht sich allein um die
Fragen: Ist es richtig, diejenigen, die aufgrund ihres fort-
geschrittenen Alters nicht mehr ausreichend privat vor-
sorgen können, in der Phase der Rentenauszahlung mittels
eines Abschlagsfaktors nicht zu sehr zu belasten? Ist
es richtig, diejenigen stärker zu belasten, die heute jung
sind und mit staatlicher Förderung die private Vorsorge
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Dr. Thea Dückert
13829
aufbauen können? Die Argumente zu diesen Fragen muss
man ernsthaft gegeneinander abwägen.
Wir halten unseren Vorschlag für gerecht. Weil die
Rentenreform in der Bevölkerung Unterstützung finden
muss, muss man – das weiß ich wohl – über Gerechtig-
keitsvorstellungen auch streiten. Das werden wir in der
Zukunft tun. Ich freue mich darauf, mit Ihnen diese De-
batte im Ausschuss führen zu können.
Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Es ist bezeichnend, dass die
Kollegin Dückert den Antrag zur Generationenbilanz mit
keinem Wort erwähnt hat. Aber auf die Grünen komme
ich gleich noch zu sprechen.
In der 58. Sitzung des 14. Deutschen Bundestages am
30. September 1999 hat der Arbeitsminister Walter
Riester gesagt – ich zitiere –:
Zunächst komme ich zu der ... Forderung ... eine
Generationenbilanz vorzulegen. Diese Grundlinie
halte ich für spannend und wichtig.
Riester sagte weiter, er wolle diese Überlegung aufneh-
men. Wörtlich:
Ich wäre sehr daran interessiert, wenn wir an dieser
Frage einer Generationenbilanz arbeiten könnten.
Der Bundesarbeitsminister ist hier heute leider nicht
anwesend. Seit der Antrag, eine Generationenbilanz in
die Haushaltsgesetzgebung aufzunehmen, an den Aus-
schuss überwiesen wurde, sind 36 Wochen vergangen,
ohne dass irgendetwas geschehen ist. Wir waren geduldig
und wollten auf die Zusammenarbeit warten. Wir hatten
gedacht, dass wenigstens mit der Vorlage des Ren-
tenreformgesetzes die Frage der Generationengerechtig-
keit aufgegriffen würde. Aber nichts ist passiert. Es ist
Aufgabe des Ausschussvorsitzes, wichtige Dinge zu bear-
beiten. Wenn man signalisiert, dass man bereit ist, etwas
gemeinsam auf den Weg zu bringen, dann hätten wir von-
seiten der Regierungskoalition mehr Engagement erwar-
tet.
Nicht einmal in der Rentendebatte haben Sie dieses
Thema aufgenommen. Hätten wir nicht gemeckert, wäre
es auch heute nicht zur Sprache gekommen. Das ist also
Generationengerechtigkeit, wie Sie sie verstehen.
Seit Sie regieren, meine Damen und Herren, wird in
diesem Land weniger erwirtschaftet. Dennoch wird der
Umfang der Leistungen ausgeweitet; es wird immer mehr
verteilt. Das haben wir beim Gesetz zur Neuregelung der
Einmalzahlungen gerade wieder gesehen. Sie verfrüh-
stücken die Zukunft unserer Kinder, wenn Sie diesen für
die Handlungsfähigkeit und die finanziellen Spielräume
der Republik wichtigen Indikator nicht aufnehmen und in
Zukunft bei politischen Entscheidungen nicht berücksich-
tigen wollen.
Gerade die Grünen, die hier vor Selbstgerechtigkeit
triefen und sich immer wieder als Rächer der Enterbten
aufführen, machen überhaupt nichts für die kommenden
Generationen, sondern wollen den Rentenversicherungs-
beitrag auf insgesamt 26 Prozent nur für die Altersvor-
sorge erhöhen. Das ist absolut nicht das, was wir uns als
Liberale unter Generationengerechtigkeit vorstellen.
Eine Generationenbilanz ist eine Entscheidungshilfe
für die Politik. Sie soll Brücken bauen zwischen den Ge-
nerationen; denn nur Fairness bei der Belastung jeder ein-
zelnen Generation kann dazu führen, dass die jungen
Menschen in diesem Land den Generationenvertrag
nicht von sich aus kündigen werden.
Die demographische Entwicklung zeigt, dass wir poli-
tisch handeln müssen. Die F.D.P. versteht sich als die Par-
tei der sozialen Verantwortung.
Wir fordern Sie deshalb auf, diese Gefälligkeitspolitik
endlich zu beenden! Wir fordern Sie auf, die Bilanz-
ergebnisse bei Ihren politischen Handlungen zu be-
rücksichtigen! An dem Umfang der Umsetzung der Er-
gebnisse der Generationenbilanz wird man Erfolg und
Misserfolg Ihrer Regierungsarbeit messen können.
Der Haushaltsausschuss hat im ersten Satz eines Ent-
schließungsantrages, der Ihnen vorliegt, gesagt – ich zi-
tiere –:
Eine Zuordnung der Abgaben an den Staat und der
Leistungen des Staates zu einzelnen Altersgruppen
der Bevölkerung kann wichtige Hinweise für die
Ausrichtung der Finanzpolitik liefern und Reform-
bedarf verdeutlichen.
Genauso ist das. Es gibt überhaupt keine Veranlassung,
dieses wichtige Thema wieder einmal in einen Arbeits-
kreis abzuschieben. Ihre Tatenlosigkeit geht den Men-
schen in diesem Land auf die Nerven! Es ist in der Öf-
fentlichkeit einfach nicht mehr erklärbar, wieso, weshalb
und warum Sie versuchen, eine Generation gegen die an-
dere Generation auszuspielen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Dr. Thea Dückert
13830
Es geht nicht nur darum, dass die Jungen keine Rente
mehr bekommen werden, wenn Sie so weitermachen. Es
geht auch darum, dass sich die Älteren Gedanken und Sor-
gen über die Zukunft ihrer Kinder machen. Ich sage Ihnen
offen und ehrlich: Das ist keine Fairness und keine gleich-
mäßige Belastung unterschiedlicher Generationen.
Wenn ich mir den Antrag der Union ansehe, dann muss
ich feststellen: Es ist selbstverständlich richtig, dieses
Thema zu bearbeiten. Er ist aber auch der Beweis dafür,
dass es dringend notwendig ist, in naher Zukunft, noch in
dieser Legislaturperiode und deutlich vor der Bundes-
tagswahl, die Zuwanderung in diesem Land gesetzlich
zu regeln.
Die F.D.P. hat hierzu mittlerweile zwei Vorschläge in die
Beratungen des Deutschen Bundestages eingebracht. Wir
werden uns auf der Basis dieser Vorschläge bestimmt mit
Ihnen verständigen können. Sie sind die Grundlage dafür,
dass sich die Liberalen wie bei so vielen Gesetzesvorha-
ben durchsetzen werden.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:
Generationenbilanz, Transparenz, F.D.P. – mehr davon.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Pia Maier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Was wir hier gerade von der CDU und von der
F.D.P. gehört haben, klang schon dramatisch: Herr Storm
hat die Zukunft furchtbar schwarz gemalt; Herr Niebel
sieht die Zukunft seiner Kinder „verfrühstückt“.
Was Sie mit Ihren Anträgen erzeugen wollen, ist Panik
vor jeder Rentenreform, vor dieser wie vor einer alterna-
tiven, die durchaus möglich wäre. Das ist wirklich nicht
die richtige Zeit dafür.
Herr Storm hat freundlicherweise schon ein paar Zah-
len zum Verhältnis Beitragszahler–Rentner zitiert. Ich
möchte noch eine Zahl hinzufügen und fange der Voll-
ständigkeit halber von vorne an: 1965 haben 4,6 Beitrags-
zahler einen Rentner finanziert. Heute sind es 2,4. 2030
werden es 1,7 sein. Eine Halbierung des Verhältnisses von
Beitragszahlern zu Rentnern haben wir in den letzten
35 Jahren schon erlebt. Ich sehe nicht ein, warum eine ge-
ringere Verschiebung des Verhältnisses in den nächsten
30 Jahren eine Rentenreform, wie sie die derzeitige Re-
gierungskoalition plant, wirklich rechtfertigen soll.
Eine Rentenreform geht auch anders. Es geht nämlich
nicht nur um das Verhältnis von Alten zu Jungen, sondern
auch um das Verhältnis von Einnahmen zu Ausgaben, die
für die Rente verwandt werden. Es geht um eine Auswei-
tung der Beitragspflicht, mit der man auch die Beiträge
zur Rentenversicherung erhöhen könnte, mit der man
dafür sorgen könnte, dass es eine Rente von allen für alle
bleibt.
Es geht auch nicht nur um die Frage der Belastung mit
Steuern und Abgaben, wie sie die F.D.P. bis auf Heller und
Pfennig genau ausgerechnet haben möchte, sondern es
geht um die Frage der Bemessungsgrundlage für die Bei-
träge, nicht nur für die Arbeitnehmer und Arbeitnehme-
rinnen, sondern auch für die Unternehmen.
Der technische Fortschritt, den sich vor der Einführung
der sozialen Sicherungssysteme ja auch keiner vorstellen
konnte, wird weitergehen und die Sozialversicherungen
haben sich angepasst. Heute ist mit immer weniger
Arbeitskräften immer mehr Wertschöpfung möglich. Die
Produktivität ist enorm gestiegen. Deswegen ging auch
die Veränderung der sozialen Sicherungssysteme bis
heute gut.
Auf diese Belastungen und Veränderungen müssen wir
reagieren. Eine Wertschöpfungsabgabe, bei der die
Beiträge zur sozialen Sicherung nicht mehr nach Arbeits-
kräften, sondern nach der Wertschöpfung des Betriebes
festgelegt werden, wäre wirklich eine Alternative, um die
Beitragslast der Unternehmer zeitnah und modern zu ge-
stalten.
Der Panikmache kann also weder mit dem Konzept der
CDU/CSU wirksam begegenet werden noch mit der Ge-
nerationenbilanz der F.D.P., noch mit der aktuellen Re-
form, wie die Regierungskoalition sie vorschlägt.
Ein Systembruch hin zu einer zwangsweisen privaten
Vorsorge ist, wenn man nicht nur die Zahlen zur Ent-
wicklung der Rente und der sozialen Sicherung von heute
bis 2030, sondern auch die Entwicklung in den letzten
30 Jahren berücksichtigt, nicht nötig. Eine Alternative ist
wirklich möglich. Es gibt eine andere Rentenreform, die
sowohl den jetzigen Rentnern und Rentnerinnen als auch
meiner Generation und zukünftigen Generationen ihre
Rente sichert.
Meine Damen und Herren, es ist der letzte Plenarsit-
zungstag vor Weihnachten. Es ist bereits gestern Abend
hier etwas lockerer zugegangen. Ich möchte meine letzte
Rede vor Weihnachten auch dazu nutzen, noch ein kleines
Geschenk zu überreichen. Mein Geschenk soll an Herrn
Bundeskanzler Schröder gehen. Ich hoffe, Frau Mascher
übergibt es ihm im Kabinett.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Dirk Niebel
13831
Ich hoffe, dass Herr Schröder an dem „Basta“, das er
geäußert hat, noch lange zu knabbern haben wird und dass
er dieses Lebkuchenherz solidarisch mit dem ganzen Ka-
binett teilt.
Es ist Weihnachten. Ich wünsche noch einen schönen
Tag.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Johannes Singhammer.
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nichts wird die
sozialen Grundlagen in den kommenden Jahren in
Deutschland so sehr beeinflussen wie der Verlust des
Gleichgewichts zwischen den Generationen. Wenn sich
der freie Fall der Geburtenzahlen in Deutschland so fort-
setzt, dann werden weder die Rentenversicherung noch
die Krankenversicherung noch die Pflegeversicherung
dauerhaft auf einem sicheren und festen Fundament wei-
terentwickelt werden können.
Um gleich zu Beginn jedes Missverständnis auszu-
schließen, sage ich: Wenn wir diese Thematik hier ernst-
haft und seriös diskutieren, geht es nicht darum, die Zahl
der Deutschen zu erhöhen. Die Berechenbarkeit der so-
zialen Sicherungssysteme in Deutschland hängt nicht da-
von ab, ob 70, 80 oder 85 Millionen Einwohner in der
Bundesrepublik leben. Die Sicherheit der Rente und die
Finanzierbarkeit der Kranken- und Pflegeversicherung
hängen aber sehr wohl davon ab, dass das Gleichgewicht
zwischen den Generationen nicht weiter aus der Balance
gerät.
Derzeit stehen zehn Personen im erwerbsfähigen Alter
ungefähr vier Personen gegenüber, die über 60 Jahre alt
sind. In den kommenden Jahren, bis 2030, wird sich das
Verhältnis dramatisch ändern: Dann werden zehn er-
werbsfähigen Personen rund acht Rentner gegenüberste-
hen. Der bisherige Generationenvertrag wird damit fak-
tisch aufgekündigt.
Eine gleiche Entwicklung sehen wir in unseren euro-
päischen Nachbarländern, gerade in Italien, Griechenland
oder Spanien. Diese Länder galten in der Vergangenheit
immer als besonders familien- und kinderfreundlich. Dort
ist jetzt eine ähnliche Entwicklung und eine gleiche Pro-
blematik feststellbar; für Deutschland ist sie allerdings
besonders gravierend.
Schauen wir uns nur den Arbeitsmarkt an! Jahr für
Jahr scheiden 230 000 Menschen mehr aus dem Erwerbs-
leben aus, als neu hinzukommen. Das bedeutet natürlich
auch, dass 230 000 Beitragszahler für die Sozialversiche-
rungssysteme fehlen. Die Zahl der Arbeitslosen wird
selbstverständlich entsprechend sinken. Das ist eine
kleine Rechenoperation, die jeder nachvollziehen kann.
Bei den Krankenversicherungen steigen die Behand-
lungskosten naturgemäß mit dem Alter an. Eine DIW-
Studie prognostiziert allein aufgrund der Alterung der
deutschen Bevölkerung bei konstanter Medizintechnik im
Jahr 2040 einen Beitragssatz von etwa 15,5 Prozent. Bei
zunehmendem medizinischen Fortschritt könnte er leicht
über 23 Prozent liegen.
Von der Pflegeversicherung erhalten heute etwa
1,7 Millionen Menschen Leistungen. Durch die demogra-
phische Entwicklung rechnet man bis zum Jahr 2010, in
also nicht einmal mehr neun Jahren, mit weiteren 350 000
Pflegebedürftigen.
Diese einschneidende demographische Entwicklung,
die die Grundlagen unseres Zusammenlebens dramatisch
ändern wird, bedarf einer eingehenden Erläuterung im
Deutschen Bundestag. Es bedarf entsprechend klarer Ent-
scheidungsgrundlagen. Deshalb haben wir diesen Antrag
eingebracht und wir hoffen, einen Bericht zu erhalten.
Die Zuwanderung, die gerne als Antwort auf die de-
mographischen Probleme gesehen wird, wird diese
Schwierigkeiten weder in Deutschland noch in Europa
insgesamt lösen können.
Um die Balance zwischen den Generationen zu halten,
wäre nach einer Modellrechnung der Vereinten Nationen
eine jährliche Zuwanderung nach Deutschland von sage
und schreibe 3,5Millionen Menschen nötig. Nur so würde
die Relation der 15- bis 64-Jährigen zu den über 64-Jähri-
gen konstant bleiben. Es geht also um das Generationen-
verhältnis. Wenn wir tatsächlich 3,5 Millionen Menschen
einwandern lassen würden, was von niemandem in die-
sem Hause ernsthaft vertreten wird – ich kenne jedenfalls
keine Stimme in dieser Richtung –, entspräche das pro
Jahr einer Zuwanderungsrate in Höhe der Bevölkerungs-
dichte von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vor-
pommern. Das würde die Menschen in Deutschland über-
fordern.
Was wir in Deutschland brauchen – daran führt kein
Weg vorbei –, ist eine dauerhafte Änderung des demogra-
phischen Verhaltens. Das heißt, wir brauchen wieder mehr
Kinder in unserem Land.
Deshalb müssen wir eine zukunftsgerichtete Familien-
politik betreiben, die diesen Namen verdient: kein staat-
licher Druck zu mehr Kindern, aber Hilfe und Unterstüt-
zung für die jungen Paare, die sich Kinder wünschen.
Ich nenne Ihnen drei Beispiele. Erstens. Es ist ein
Skandal, dass Kinder in Deutschland in vielen Fällen zum
Armutsrisiko werden, dass Familien mit Kindern im rei-
chen Deutschland immer mehr auf der Schattenseite leben.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Pia Maier
13832
Wir können sicherlich nicht alle finanziellen Aufwendun-
gen für Kinder ausgleichen, aber wir müssen einen großen
Schritt in Richtung mehr Gerechtigkeit gehen.
Wir haben deshalb vonseiten der CSU vorgeschlagen,
zunächst ein Familiengeld von 1 000 DM pro Kind und
Monat zu vereinbaren und dabei die bisherigen Leistun-
gen wie Erziehungsgeld und Kindergeld zusammenzufas-
sen.
– Sie brauchen hier nicht so laut zu schreien. Sie müssen
nur einfach diesen Vorschlag aufgreifen. Das wäre besser.
Zweitens brauchen wir eine bessere Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Das betrifft vor allem junge Frauen
mit einer langer Ausbildung, die ihren Beruf ausüben und
nicht vor die Entscheidung „Beruf und Karriere oder Kin-
der“ gestellt werden wollen.
Drittens brauchen wir auch wieder – das ist vielleicht
das Wichtigste – eine Aufwertung der Erziehungsleistun-
gen in der Öffentlichkeit. Kinder zu erziehen, Kraft, Mühe
und auch Freude in die Sozialisation von Kindern einzu-
bringen, ist eine Aufgabe, die bei uns zu gering geschätzt
wird. Auf der anderen Seite kann keine andere Institution
diese Aufgabe so gut wie die Familie lösen.
Meine Damen und Herren, ein Land ohne Kinder ist
ein Land ohne Zukunft. Wir wollen, dass unser Land eine
Zukunft hat. Deshalb sind wir für eine Familienpolitik,
die diesen Namen verdient. Ich fordere Sie auf, mitzuma-
chen und unsere Vorschläge aufzugreifen; dann sind Sie
auf der richtigen Seite.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4645 und 14/4730 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur jährlichen
Vorlage einer Generationenbilanz und Aufnahme der
Daten in die Haushaltsstatistik des Bundes, Druck-
sache 14/4910. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksa-
che 14/1758 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Die Gegenprobe! – Enthaltun-
gen? – Gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ist
die Beschlussempfehlung angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/4910 die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Gegen die Stimmen von CDU/CSU ist die
Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunktpunkt 13 auf:
Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Anrufung des Vermittlungsausschusses zu dem
Gesetz zur Ergänzung des Lebenspartner-
– Drucksachen 14/3751, 14/4545, 14/4550,
14/4875, 14/4878 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit
einverstanden? – Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Margot von Renesse, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die CDU will eine Debatte zur
Anrufung des Vermittlungsausschusses. Sie können sie
haben. Ich halte es für eine Selbstverständlichkeit, dass
ein Parlament, das ein Gesetz verabschiedet hat, dem die
Zustimmung des Bundesrates verweigert wurde, auch
wenn es zustimmungspflichtig ist, an der Durchsetzung
des von ihm verabschiedeten Gesetzes automatisch inte-
ressiert ist. Eigentlich hätte es keiner Debatte zu dieser
Selbstverständlichkeit bedurft. Aber bitte sehr, Sie be-
kommen sie.
Was ist in diesem Gesetz enthalten? Ich bin sehr ge-
spannt, wie die CDU sich verhalten wird, da sie nach
ihrem kleinen Parteitag vor gut einem Jahr erklärt hat, sie
sei zwar im Prinzip gegen das familienrechtliche Institut
– das ist Ihnen unbenommen–, aber für Lebenserleichte-
rungen sei sie sehr. Nun geht es in diesem zustimmungs-
pflichtigen Gesetz zentral um Lebenserleichterungen. Es
ist mir daher unklar, wie Sie sich argumentativ verhalten
wollen; aber wir werden es abwarten. Ich erwarte jeden-
falls, dass sich in der Diskussion, die hoffentlich anders
als in der zweiten und dritten Lesung verlaufen wird, die
ich noch lebhaft in Erinnerung habe, Kompromisse so-
wohl mit der F.D.P. als auch mit der CDU/CSU finden las-
sen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Johannes Singhammer
13833
– Bitte jetzt keine Zwischenrufe! Ich bin es inzwischen
ein bisschen leid, wenn Sie erlauben.
– Danke schön.
Fangen wir einmal mit der F.D.P. an. Die F.D.P. hat in
ihrem Gesetzentwurf erbschaftsteuerrechtliche Regelun-
gen, die wir auch haben. Ich denke daher, dass es relativ
einfach sein wird, sich mit Ihnen zumindest in diesem
Punkt zu einigen. Was Sie nicht haben, sind Regelungen
im Einkommensteuerrecht. Das ist insofern verblüffend,
als auch Sie gesetzliche Unterhaltspflichten – wenn
auch in geringerem Maße als wir – in Ihrem Gesetzent-
wurf vorsehen. Wir werden sicherlich darüber zu reden
haben, dass unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 Grund-
gesetz, der die Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen
fordert, jedenfalls – wenn wir die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zu diesem Themenkreis ernst
nehmen – unvermeidliche Abzüge von der Bemessungs-
grundlage zu berücksichtigen sind.
Über dieses Problem wird auch mit der CDU/CSU auf-
grund von durch die Verfassung gebotenen Regelungen,
die sie akzeptieren muss, weil sie den Grund dieser Rege-
lung, nämlich das Bestehen einer Unterhaltspflicht, nun
einmal hinzunehmen hat, zu reden sein. Herr Geis, wir
werden uns sicherlich bei Philippi, das heißt in Karlsruhe,
wiedersehen. Ich mache nur darauf aufmerksam, dass von
den von Ihnen benannten Sachverständigen nicht ein Ein-
ziger das von Ihnen viel gebrauchte Argument wiederholt
hat, bereits die Existenz eines familienrechtlichen Insti-
tuts für gleichgeschlechtliche Paare sei ein Angriff auf
Art. 6 Grundgesetz, weil die Einzigartigkeit der Stellung
der Ehe dadurch gefährdet werde.
Die Argumente, die auf diesem Gebiet von zwei Sach-
verständigen geäußert wurden, waren eher etwas apo-
kryph: Der eine beklagte das Fehlen der Eheschließungs-
freiheit für den Fall, dass man in einer solchen
Lebenspartnerschaft lebe – daraufhin ergab sich ein ge-
wisses Wogen in der Runde, weil dieses Argument wirk-
lich etwas eigentümlich war – und der Zweite sagte, die
Existenz eines solchen Instituts könne möglicherweise
ambivalente Personen zur Homosexualität verführen.
Dieses Argument unterstellt, dass die Homosexualität von
Verfassung wegen gegenüber der Heterosexualität min-
derwertig sei. Ich denke, dass davon in der Verfassung
nichts zu lesen ist, wie im Übrigen in der Verfassung auch
nicht zu lesen ist, dass Ehelosigkeit etwas Schlechteres
sei als die Ehe. Das wäre nämlich die negative Kehrseite
der Eheschließungsfreiheit, die ich zumindest nicht hin-
nähme.
Ich denke, dass wir uns darüber unterhalten müssen,
und zwar ohne Schaum vor dem Mund und unter Akzep-
tanz dessen, dass wir den ersten Teil dieses Gesetzes be-
reits verabschiedet haben. Wir mussten gewisse Hürden
hinnehmen – das gebe ich zu –, die aber nicht in unserem
Verantwortungsbereich lagen. Sie müssen diese Tatsache
hinnehmen, bis Karlsruhe möglicherweise etwas anderes
sagt, was wir alle nicht wissen. Nach einem Spruch von
Karlsruhe können die entsprechenden Schlussfolgerun-
gen gezogen werden.
Das gilt übrigens auch für das Beihilferecht, das keine
Konsequenz aus Art. 6 Grundgesetz ist, sondern das sich
auf die berühmten hergebrachten Grundsätze des Berufs-
beamtentums gründet, die den Dienstherrn zur Fürsorge
gegenüber seinen Beamten verpflichten. Der Beamte er-
hält Beihilfe nicht nur für seine unterhaltsberechtigten na-
hen Angehörigen, sondern zum Beispiel auch für Umzüge
oder – wie uns in einem sehr berühmten Fall klar gemacht
worden ist – sogar für Prozesskosten, die mit Art. 6
Grundgesetz nun wirklich nichts zu tun haben. Ich denke
also, dass die Unterhaltspflicht bzw. das Unterhaltsrecht
die Basis des Beihilferechts bildet. Wenn wir in der ge-
setzlichen Krankenkasse eine Familienmitversicherung
haben, erscheint es mir schwer vertretbar, wenn irgend-
wann ein beamtenrechtlicher Dienstherr sagen sollte, in
Bezug auf seine Beamten ginge ihn das nichts an.
Dass wir bei der Regelung des BSHG die Länder, wie
ich hoffe, auf unserer Seite haben, steht auf einem ganz
anderen Blatt. Es kann doch wohl nicht ernsthaft sein,
dass ein heterosexuelles Paar, das verheiratet oder unver-
heiratet zusammenlebt, im Rahmen der Sozialhilfe eine
vorhandene Unterhaltsleistung angerechnet bekommt,
während ein homosexuelles Paar, das in einer ebensol-
chen Beistandsgemeinschaft lebt, davon verschont bleibt.
Ich habe immer gesagt, die gleichgeschlechtlichen Paare
stehen meinem Herzen nicht so nahe, dass ich deswegen
heterosexuelle Paare schlechter behandelt sehen möchte.
Ich denke, das wird bei Ihnen nicht anders sein; das ver-
mute ich zumindest. Ich hoffe daher, dass wir auch in die-
sem Punkt zu einem Ergebnis kommen werden.
Übrig bleibt die Frage der Eheschließung vor dem
Standesamt.Die sakramentale Funktion des Standesamts
verblüfft mich, weil ich aus dem Geschichtsunterricht
noch gut weiß, dass dies die Konsequenz aus dem Kul-
turkampf war. Ich wage mir kaum auszumalen, was der
selige Bismarck zu dem sagen würde, was heute daraus
gemacht wird. Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, in
Geschichte gelernt zu haben, dass eine Reihe katholischer
Bischöfe im Zusammenhang mit der Aussage, der Stan-
desbeamte habe mit der Ehe nichts zu tun, ins Gefängnis
gingen. Wenn Sie aber doch der Auffassung sind, dass ein
gleichgeschlechtliches Paar es nicht wert sei, einem deut-
schen Standesbeamten ins Auge zu blicken, dann sei es
drum. Dann machen Sie es eben beim Einwohnermelde-
amt oder von mir aus beim Handelsregister. Darüber wer-
den wir uns einigen können.
Ich glaube, es gibt gute Gründe, von einer Einigung
auszugehen, gerade wegen des kleinen Parteitags der
CDU. Weil ich mich zusammen mit Herrn Beck schon seit
vielen Jahren mit diesem Thema beschäftige, mache ich
Sie jedenfalls auf eines aufmerksam: Ich wäre niemals be-
reit gewesen – das hätte niemand erwarten dürfen –, etwas
am Gewicht des Art. 6 des Grundgesetzes – kein Jota, kein
Gramm – zu ändern; denn ich gehöre zu den Leuten, de-
ren Familienbiographie Kardinal Meisner nur Freude ma-
chen würde. Deswegen kann ich mit gutem Recht sagen:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Margot von Renesse
13834
Ich erwarte einen Kompromiss. Ich denke, dass wir alle
inzwischen gelassen genug sind, um ihn zu finden.
Danke sehr.
Jetzt hat das Wort der
Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe hier dazu
Stellung zu nehmen, weshalb die CDU/CSU-Fraktion das
Vermittlungsbegehren der SPD und der Grünen ablehnen
wird.
Die Koalitionsparteien haben den Entwurf des Lebens-
partnerschaftsgesetzes im Frühsommer in den Bundes-
tag eingebracht. Darüber haben wir Anfang Juli in erster
Lesung beraten. Von Anfang an war sichtbar, dass sich die
Unionsparteien ganz entschieden gegen dieses Gesetz
wenden. Das galt nicht nur für die CDU/CSU-Fraktion im
Bundestag, sondern auch für die Bundesländer, in denen
die CDU oder die CSU an der Landesregierung beteiligt
ist. Damit war auch von Anfang an klar, dass dieses Ge-
setz den Bundesrat nicht als ein Gesetz passieren würde,
jedenfalls nicht in der damaligen Form, in der der gesamte
Sachverhalt geregelt wird; denn dieser Gesetzentwurf ent-
hielt bekanntermaßen sowohl zustimmungspflichtige als
auch zustimmungsfreie Teile.
Deshalb war es für uns unverständlich, weshalb die
Koalitionsparteien die Aufspaltung dieses Gesetzes erst
auf den letzten Drücker vorgenommen haben. Ein Groß-
teil der Ausschussmitglieder hat die beiden Gesetzent-
würfe, die früher ein Gesetzentwurf gewesen waren,
äußerst kurzfristig erhalten. Eine vernünftige Beratung in
der Fraktion und ihren Gremien über die Frage, ob die
Aufspaltung gelungen sei, ob nicht doch zustimmungs-
pflichtige Teile in dem einen oder anderen Gesetzentwurf
enthalten seien, war nicht mehr möglich. Deshalb haben
wir am Mittwoch, den 8. November, also an dem Tag, an
dem der Ausschuss getagt hat, darum gebeten, die Bera-
tungen um acht Tage zu verschieben; denn wir wollten uns
erst einmal über die eben genannten Fragen klar werden.
Aber sowohl unsere Anregung, dazu erst einmal Experten
anzuhören, als auch unsere Bitte, die Beratungen um acht
Tage zu verschieben, wurde einfach abgebügelt. Dieses
Verhalten der Koalition ist für mich nach wie vor unver-
ständlich, zumal es dafür überhaupt keinen Grund gab.
Hier hat man einfach mit den Muskeln gespielt. Es hat
sich jetzt erwiesen, dass das falsch war; denn die Auf-
spaltung ist nach unserer Meinung nicht gelungen.
Die Aufspaltung ist nach unserer Auffassung nicht ge-
lungen, weil es Ihnen aufgrund der Hast und der Schnel-
ligkeit, mit der dieses Gesetz durch den Ausschuss und
das Parlament geboxt werden musste, nicht möglich war,
wichtige Elemente aus dem angeblich zustimmungsfreien
Teil herauszunehmen, zum Beispiel den Standesbeam-
ten. Diesen wollten Sie ursprünglich herausnehmen. Das
sei Ihnen zugestanden und dazu liegt auch ein entspre-
chender Antrag mit Datum vom 3. November vor. Aber
zum Schluss tauchte der Standesbeamte in der Beschluss-
empfehlung des Rechtsausschusses wieder auf. Dies ging
auch so durch den Bundestag und den Bundesrat und ist
nun im Gesetz enthalten. Damit ist dieses Gesetz vom
äußeren Anschein her zunächst einmal zustimmungs-
pflichtig. Insoweit ist die Aufspaltung nicht gelungen.
Das Bundesjustizministerium hat zwar inzwischen ein
Berichtigungsverfahren nach der Gemeinsamen Ge-
schäftsordnung von Bundestag und Bundesrat eingeleitet.
Ich weiß nicht, ob der Bundestagspräsident und der
Bundesratspräsident der Berichtigung zustimmen wer-
den. Peinlich ist die Sache allemal, und zwar in höchstem
Maße. Die interessante Frage ist – zumindest für das Bun-
desverfassungsgericht –, ob eine solche nachträgliche Be-
richtigung überhaupt zulässig ist. Angesichts der Tatsa-
che, dass in diesem angeblich zustimmungsfreien Gesetz
noch immer Bezug auf das Namensrecht genommen wird,
wodurch der Standesbeamte wieder ins Spiel gebracht
wird und unter Umständen im Gesetz bleibt, sind die
Zweifel berechtigt, ob die Aufspaltung wirklich gelungen
ist.
Zudem enthält dieses angeblich zustimmungsfreie Ge-
setz, so sagt jedenfalls der Innenausschuss des Bundesra-
tes, nach wie vor ausländerrechtliche Regelungen und
damit auch Ausführungsregelungen. Deshalb ist der In-
nenausschuss des Bundesrates der Auffassung, das Gesetz
sei nach wie vor zustimmungspflichtig. – Über die Frage,
ob die Aufspaltung gelungen ist, besteht also Streit.
Die Aufspaltung ist nach unserer Meinung auch un-
zulässig, weil beide Gesetzesteile – Frau von Renesse, Sie
benutzten dieses Wort vorhin zu Recht; es handelt sich um
Teile einer Gesamtregelung – zusammengehören. Auch
ich weiß, dass der Bundestag aufgrund seiner gesetzgebe-
rischen Freiheit Gesetzentwürfe so gestalten kann, dass
ein Teil zustimmungsfrei und der andere zustimmungs-
pflichtig ist. Aber diese Freiheit hat immer dort ihre
Grenze, wo Willkür im Spiel ist. Willkür ist immer dann
im Spiel, wenn beide Gesetzesteile unabdingbar aufei-
nander angewiesen sind.
Dass genau das in diesem Fall zutrifft, haben Sie sehr
plausibel vorgetragen: Das so genannte Ergänzungsge-
setz kann ohne das Lebenspartnerschaftsgesetz gar nicht
existieren; dies macht keinen Sinn. Das so genannte Er-
gänzungsgesetz kann schlecht im Bundesgesetzblatt ste-
hen, wenn das angeblich zustimmungsfreie Lebenspart-
nerschaftsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht
keinen Bestand hat. Schon aufgrund dieser Überlegung
sind beide Gesetze zweifellos aufeinander angewiesen.
– Vielleicht machen auch Sie jetzt keine Zwischenrufe.
Wie sehr die beiden Gesetze aufeinander angewiesen
sind, zeigt sich noch in vielen anderen Punkten, zum Bei-
spiel in der Unterhaltsregelung, einer Kernregelung des
Gesetzesvorhabens als Ganzem. Wir wissen, dass, wie
bei Eheleuten, die Unterhaltsregelung gleichgeschlecht-
licher Partner im Lebenspartnerschaftsgesetz verankert
ist. Dagegen sind Fragen des Steuerrechts oder des Be-
amtenrechts – ich erinnere an das Beihilferecht –, die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Margot von Renesse
13835
Partnerschaften dieser Art betreffen, im Ergänzungsge-
setz geregelt. Da Unterhaltsregelung und steuerrechtliche
Fragen aber unmittelbar zusammenhängen, können sie ei-
gentlich nicht in unterschiedlichen Gesetzen behandelt
werden.
Dasselbe gilt für das Erbrecht. Das so genannte
Stammgesetz enthält die erbrechtliche Regelung. Die
steuerlichen Folgen der erbrechtlichen Regelung befinden
sich allerdings im Ergänzungsgesetz. Wiederum hängt
beides eng zusammen. Ich meine, dass verfassungsrecht-
liche Zweifel an der Zulässigkeit der Aufspaltung dieses
Gesetzes sehr wohl berechtigt sind.
Wir sind aus einem weiteren Grund – dieser Punkt ist
schon vorhin genannt worden – der Auffassung, dass die-
ses Gesetz abgelehnt werden sollte. Wir teilen die Ansicht
des Innenministers, dass sowohl der zustimmungsfreie
Hauptteil als auch der zustimmungspflichtige Teil Art. 3
unserer Verfassung, des Grundgesetzes, nicht entspricht.
Wir glauben, dass es nicht richtig ist, gleichgeschlechtli-
che Gemeinschaften gegenüber anderen Verantwortungs-
gemeinschaften bevorzugt zu behandeln. Frau von
Renesse, hier handelt es sich um ein verfassungsrechtli-
ches Problem. Das sagt auch der Innenminister.
Über Art. 14Abs. 1 des Grundgesetzes kommt die Fra-
ge ins Spiel, ob nicht das Erbrecht stärker zu schützen ist.
Das ist die Auffassung des Innenministers, der ich mich
anschließe.
dem, der noch nicht gestorben ist?)
– Sie missverstehen das, was ich gesagt habe, ganz ein-
deutig. Sie sollten ein bisschen länger darüber nachden-
ken, was durch Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes ge-
schützt werden soll. Vielleicht fragen Sie einmal bei
Ihrem Parteifreund Schily nach; er wird es Ihnen mögli-
cherweise privatissime et gratis sagen. Die Zeit ist heute
zu kurz, um darauf weiter einzugehen.
Ich bin natürlich der Auffassung, dass Art. 6 des
Grundgesetzes verletzt ist. Es bestehen in höchstem
Maße verfassungsrechtliche Bedenken. Daher macht das
Gesetz insgesamt keinen Sinn. Man muss beide Teile vor
das Bundesverfassungsgericht bringen. Das Vermitt-
lungsverfahren selbst macht keinerlei Sinn; denn der eine
Teil kann nicht ohne den anderen bestehen. Es hat keinen
Sinn, jetzt bei einem Teil nach einem Kompromiss zu su-
chen, den anderen Teil aber so stehen zu lassen. Sie hät-
ten beide Teile zusammenlassen sollen. Dann hätten wir
vielleicht zu beiden Teilen im Vermittlungsausschuss, mit
den Kollegen aus Bundestag und Bundesrat eine Rege-
lung finden können. Aber Sie haben den ursprünglichen
Gesetzentwurf aufgespalten. Der eine Teil steht jetzt im
Raum, hilflos ohne den anderen, ein Ungeheuer gewis-
sermaßen, ein Unikum, eine Luftblase, wenn Sie so wol-
len.
Aber lassen wir diese Qualifizierungen heute und blei-
ben wir bei rein juristischen Erwägungen. Ich meine, dass
erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen.
Deshalb sind wir der Auffassung, dass das Vermitt-
lungsbegehren nichts bringen wird. Wir wenden uns da-
her dagegen.
Jetzt hat das Wort der
Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Ende
dieser langen Sitzungswoche scheinen auch die Meta-
phern langsam auszugehen, zumindest humpeln die Bil-
der jetzt durch das Parlament.
Herr Geis, was Sie hier zum Verfahren gesagt haben,
bedarf einer Richtigstellung. Wir haben Sie zweieinhalb
Wochen vor der entscheidenden Rechtsausschusssitzung
in Berichterstattergesprächen informiert, wie wir verfah-
ren werden. Wir haben Ihnen auch gesagt, an welchem
Tag Sie die redaktionell überarbeiteten Entwürfe bekom-
men werden, die nur technisch auseinander genommen
wurden wie ein Reißverschluss. In der Sache war Ihnen
bekannt, was in ihnen steht. Fünf Tage vor der Rechts-
ausschusssitzung – und ich meine, das muss zum Lesen
reichen – haben Sie die Entwürfe per E-Mail in Ihren
Büros gehabt.
Wenn Sie nicht in Ihren Büros arbeiten und diese Dinge
nicht abrufen, ist das Ihr Problem. Ihnen sind die Ent-
würfe sogar vom Bundesjustizministerium in den Wahl-
kreis geschickt worden, Herr Geis.
Da kann man sich wirklich nicht beschweren.
Das Lebenspartnerschaftsgesetz ist am 10. November
vom Bundestag verabschiedet worden und hat den Bun-
desrat am 1. Dezember passiert. Dabei war eine so ge-
nannte offensichtliche Unrichtigkeit in der Vorlage, die
Sie gerade aufgegriffen haben. Die hat aber weder die Ko-
alition noch die Bundesregierung zu verantworten. Wir
haben einen korrekten Änderungsantrag in den Ausschuss
eingebracht. Wir wissen nicht, wie es passierte, aber im
Ausschusssekretariat wurde der Beschluss falsch proto-
kolliert und dem Plenum und damit auch dem Bundesrat
in zwei Punkten redaktionell falsch übermittelt. Die Ver-
antwortung für diesen Ausschuss trägt Herr Scholz von
der CDU, der heute nicht da ist und das nicht erklären
kann.
Wir sollten hier nicht mit Vorwürfen arbeiten. Ihr Ob-
mann, Herr Geis, hat ja auch zugestimmt, dass diese of-
fensichtliche Unrichtigkeit berichtigt wird. Deshalb soll-
ten wir das, nachdem wir so etwas vereinbart haben, hier
nicht noch einmal im Plenum scheinbar vor der Öffent-
lichkeit strittig stellen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Norbert Geis
13836
Nun zur Sache. Das Lebenspartnerschaftsgesetz ist
verabschiedet. Es werden damit viele Probleme gelöst
und es findet ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel in
unserem Land statt. Erstmals erkennt unsere Rechtsord-
nung homosexuelle Partnerschaften rechtlich an und
respektiert sie. Das ist ein entscheidender Schritt. Wir ha-
ben über 60 Gesetze geändert und deshalb auch die ganz
große Zahl von Problemen – auch in dem zustimmungs-
freien Teil – gelöst. Daher steht das Gesetz für sich auch
nicht hilflos in der Landschaft, sondern es ist ein gutes
Fundament für weitere rechtliche Entwicklungen.
Meine Damen und Herren, es ist nun entschieden: Das
Lebenspartnerschaftsgesetz, das familienrechtliche Insti-
tut, kommt ins Bundesgesetzblatt. Jetzt stellen sich nur ei-
nige Fragen, die sich darauf beziehen, ob allgemein gel-
tende Rechtsgrundsätze unserer Rechtsordnung auch für
die eingetragene Lebenspartnerschaft gelten. Die Frage
des Ob haben wir entschieden. Jetzt geht es nur noch in ei-
nigen Details um das Wie. Hier geht es darum, ob es zu ei-
ner parteipolitischen Blockade oder zu einer fachlichen,
sachgerechten Diskussion kommt. Ich hoffe, dass sich alle
Oppositionsparteien, die im Vermittlungsausschuss ver-
treten sind, für die offene Diskussion entscheiden und mit
uns in der Sache reden, vielleicht auch streiten, sodass wir
zu einem guten Kompromiss kommen.
Um welche Fragen geht es, Herr Geis? Beim Steuer-
recht geht es um die Grundsatzfragen: Gilt weiterhin, dass
man nur nach seiner steuerlichen Leistungsfähigkeit be-
steuert werden darf? Und kann der Steuergesetzgeber da-
von absehen, dass der Familienrechtgesetzgeber gesetzli-
che Unterhaltsverpflichtungen geschaffen hat?
Das kann er nicht. Wenn wir es als Bundestag und als
Bundesrat nicht tun, dann werden das die Gerichte korri-
gieren. Wir können nicht aus rein parteipolitischer Taktik
bestimmte Rechtsgrundsätze aushebeln.
Das Gleiche gilt für das Sozialrecht. Bei der Bedürf-
tigkeitsprüfung können wir doch nicht davon absehen,
dass der Familienrechtsgesetzgeber gesetzliche Unter-
haltspflichten und -rechte geschaffen hat. Deshalb müs-
sen selbstverständlich – genau wie in der Ehe – das Ver-
mögen und das Einkommen des eingetragenen Lebens-
partners herangezogen werden,
bevor der Staat Sozialhilfe oder Wohngeld zahlen muss.
Das Gleiche gilt für das Beamtenrecht und das Ali-
mentationsprinzip. Selbstverständlich muss dabei auch
berücksichtigt werden, welche gesetzliche Unterhaltsver-
pflichtungen der zu alimentierende Beamte hat. Damit ist
auch die entsprechende Beihilfeberechtigung verfas-
sungsrechtlich zwingend einzuschließen.
Ein anderer, eher verwaltungsrechtlicher Grundsatz
gilt ebenfalls in diesem Land: Für Personenstandsfragen
ist nun einmal das Standesamt zuständig, nicht die Kfz-
Stelle oder das Grünflächenamt;
deshalb ist es vernünftig, dies auch in das Gesetz zu
schreiben.
Meine Damen und Herren, öffnen Sie sich, führen Sie
keinen Kulturkampf gegen die Rechte von Lesben und
Schwulen, sondern helfen Sie, mit uns eine sachgerechte
Lösung zu finden. Wir wollen uns gern gemeinsam mit Ih-
nen im Vermittlungsausschuss die dafür notwendige Be-
ratungszeit nehmen. Ich glaube, wenn der Rauch der
Schlacht der letzten Wochen verzogen und der Theater-
donner verhallt ist, können wir alle miteinander vielleicht
auch in der Sache vernünftig und ruhig ins Gespräch
kommen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der
Kollege Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Beck, wir werden keinen Kul-
turkampf miteinander auszutragen haben. Die F.D.P.-
Bundestagsfraktion begrüßt die Anrufung des Vermitt-
lungsausschusses zum Lebenspartnerschaftsgesetz. Es
besteht damit noch Hoffnung, insgesamt zu einer trag-
fähigen und praktikablen Lösung zu kommen.
Nach der Abstimmung im Bundesrat blieb von dem ur-
sprünglichen Reformwerk nur noch ein Torso übrig. Es
gibt einen Überhang an Pflichten, aber keinen Ausgleich
an Rechten. Dies ist zweifellos ein untragbarer Zustand,
der den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen in
keiner Weise gerecht wird. Mit der dilettantischen Taktik,
mit der Rot-Grün das Gesetz durch die Gremien des Bun-
destages und auch den Rechtsausschuss gepaukt hat – –
– Ich bringe überhaupt keine Schärfe hinein. Es war
wirklich dilettantisch – Sie waren ja nicht dabei, Herr
Schmidt –, wie das im Bundestag und vor allem im
Rechtssausschuss durchgepaukt worden ist. Das hätten
Sie einmal erleben sollen.
Da hätten Sie als Demokrat schon Ihre Zweifel bekom-
men.
Die Entscheidung des Bundesrates war von vornherein
absehbar. Wenn Sie, meine Damen und Herren von den
Regierungsfraktionen, frühzeitig das Gespräch auch mit
der F.D.P. und der Opposition insgesamt gesucht und die
Bereitschaft und den Willen zum Kompromiss gezeigt
hätten,
wäre uns dieses Schauspiel erspart geblieben.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Volker Beck
13837
Die gestrige Erklärung des Bundestages zur Rehabili-
tierung von homosexuellen NS-Unrechtsopfern zeigt
doch, dass eine parteiübergreifende Einigung möglich ist,
wenn nur der Wille dazu vorhanden ist.
Bei diesem Gesetz war er leider nicht vorhanden.
Die F.D.P. wird in dem anstehenden Vermittlungsver-
fahren ihre Ideen erneut einbringen. Wir haben einen Ge-
setzentwurf vorgelegt. An diesem F.D.P.-Gesetzentwurf
werden wir uns zu orientieren haben. Wir werden erneut
für ein neues und modernes Rechtsinstitut für gleichge-
schlechtliche Paare werben. Wir wollen eine eingetragene
Lebenspartnerschaft, die nicht nur auf starren Verordnun-
gen und Reglementierungen beruht, sondern wir wollen
ein Institut, das offen ist für neue Wege. Wir werben für
mehr Freiheit und für mehr Flexibilität.
Gemeinsam und in Absprache mit den Landesregierun-
gen, an denen die F.D.P. beteiligt ist, wird sich die F.D.P.
in die Beratungen einbringen. Wir werden sehr genau da-
rauf achten, ob die Koalitionsparteien wirklich an einer
Zusammenarbeit interessiert sind oder ob es nur um die
Inszenierung eines Medienspektakels geht. Letzteres
wäre der Sache in keiner Weise angemessen.
An der F.D.P. wird eine vernünftige, verfassungsfeste
und von der breiten Gesellschaft getragene Lösung nicht
scheitern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Christina Schenk, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Selbstverständlich wird die PDS-
Fraktion dem Antrag auf Anrufung des Vermittlungsaus-
schusses zustimmen; denn wie sollte etwas besser werden
als dadurch, dass man miteinander redet.
Aus meiner Sicht wird immer deutlicher: Die Regie-
rungsfraktionen, namentlich die Grünen, haben sich ver-
kämpft. Sie haben sich in einem Projekt verkämpft, das
zum einen rechtssystematisch eine Fehlkonstruktion ist
und zum anderen an den Regelungsbedürfnissen derjeni-
gen, für die es vorgeblich gedacht ist, vorbeigeht.
SPD und Grüne haben den Gesetzentwurf in einen zu-
stimmungsfreien und einen zustimmungspflichtigen Teil
aufgesplittet. Dieses durchaus nicht unübliche Verfahren
ist im Fall der eingetragenen Lebenspartnerschaft hand-
werklich ein Unding. Nach der nun wahrlich nicht über-
raschenden Ablehnung durch den Bundesrat bleibt ein
Rechtsinstitut übrig, das grundlegende rechtliche Zusam-
menhänge in unüberbrückbare Widersprüche verwandelt.
Das führt zu Absurditäten, von denen ich hier nur einige
nennen möchte:
Die Lebenspartner sind während und nach der Partner-
schaft einander unterhaltsverpflichtet, ohne dass sie dies
wie Eheleute steuerlich geltend machen können; das ha-
ben andere hier auch schon angeführt. Ein zweites Bei-
spiel: Die Unterhaltsverpflichtung findet laut Gesetz zwar
bei der Gewährung von Arbeitslosenhilfe, nicht aber bei
der Sozialhilfe Berücksichtigung. Ein weiteres Beispiel:
Eingetragene Lebenspartner können nach dem Tod des
Partners zwar dessen Milchladen, nicht aber die Gaststätte
oder den Handwerksbetrieb weiterführen. Viertes und
letztes Beispiel: Während infolge einer Eheschließung der
Anspruch auf Unterhaltsvorschuss für die Kinder entfällt,
ist dies bei der eingetragenen Lebenspartnerschaft nicht
der Fall, obwohl auch hier der Lebenspartner für die Kin-
der seiner Partnerin bzw. seines Partners unterhaltspflich-
tig wird.
Diese Reihe von Beispielen könnte noch eine Weile fort-
geführt werden. Ich will in Anbetracht der Zeit darauf ver-
zichten.
Ich möchte hier noch einmal mit Nachdruck sagen:
Selbst wenn das Ergänzungsgesetz in Kraft treten würde,
blieben lesbischen und schwulen Paaren wesentliche
Eherechte versagt. Das hier von der Koalition postulierte
Abstandsgebot ist aus Sicht der PDS in keiner Weise sach-
gerecht und widerspricht zudem dem Gleichheitsgebot
des Art. 3 des Grundgesetzes.
Eine Regelung mit deutlichem Abstand zur Ehe wird
im Übrigen von der überwiegenden Mehrheit der Lesben
und Schwulen abgelehnt. Das ist zumindest das Ergebnis
der vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebenen
Studie des SOFOS-Instituts der Universität Bamberg.
Leider kennt kaum jemand diese Studie, obwohl sie be-
reits im Januar an das BMJ übergeben wurde. Ich meine,
das ist kein Zufall; denn das Konzept der eingetragenen
Lebenspartnerschaft passt nicht zu den Ergebnissen die-
ser Erhebung. In der Studie – das ist eine repräsentative
Studie, darauf möchte ich hinweisen – heißt es: Etwa zwei
Drittel der Befragten befürworten eine Regelung, die ih-
nen die Möglichkeit der flexiblen Ausgestaltung ihrer Be-
ziehungen gibt. Insofern finde ich den Ansatz der F.D.P.
in Teilen tatsächlich sehr modern; es lohnt sich also, hier
weiter über ihn zu diskutieren.
Die zwei Drittel der Befragten, von denen ich sprach, for-
dern eine Reform des Familienrechts,
die die Vielfalt an familiären Lebensformen endlich zur
Kenntnis nimmt und diese nicht in das Korsett von an-
tiquiertem Eheballast und ungerechtfertigten Privilegien
presst.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Rainer Funke
13838
Abschließend möchte ich sagen: Es freut mich sehr,
dass auch im Bundesrat über Alternativen zur eingetra-
genen Lebenspartnerschaft nachgedacht und auf den fran-
zösischen Zivilpakt verwiesen wurde. Eine solche Rege-
lung nämlich wäre zukunftsfähig, weil sie für Homo- und
Heterosexuelle offen wäre und somit nicht eine diskrimi-
nierende Sondergesetzgebung für Lesben und Schwule
zur Folge hätte.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf An-
rufung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Er-
gänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer
Gesetze. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache
14/4878? – Gegenprobe! – Der Antrag ist gegen die Stim-
men von CDU/CSU angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 c auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zurÄnderung des Versicherungsaufsichtsgeset-
zes, insbesondere zur Durchführung der EG-
Richtlinie 98/78/EGvom 27. Oktober 1998 über
die zusätzliche Beaufsichtigung der einer Versi-
cherungsgruppe angehörenden Versicherungs-
unternehmen sowie zur Umstellung von Vor-
schriften auf Euro
– Drucksache 14/4453 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses – Drucksache 14/4921 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Lennartz
Hansgeorg Hauser
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen da-
her gleich zur Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des
Versicherungsaufsichtsgesetzes, Drucksachen 14/4453
und 14/4921. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstim-
mig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit wenigen Enthaltungen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung des Wirtschaftsplans des
– Drucksache 14/4299 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/4930 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu dem Antrag der Abgeord-
neten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Ursula
Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
ERP-Sondervermögen für Mittelstandsförde-
rung erhöhen
–Drucksachen 14/4556, 14/4931 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Margareta Wolf
Es ist zwar eine Aussprache vorgesehen; aber alle Re-
den, nämlich die der Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
und der Kollegen Otto Bernhardt, Hans-Josef Fell, Rainer
Funke und Rolf Kutzmutz, sind zu Protokoll gegeben
worden.1) Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines ERP-Wirt-
schaftsplangesetzes 2001, Drucksachen 14/4299 und
14/4930. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist ange-
nommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit
dem Titel „ERP-Sondervermögen für Mittelstandsförde-
rung erhöhen“, Drucksache 14/4931. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4556 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Gegen die Stimmen der PDS ist
die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Doris
Barnett, Silvia Schmidt , Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der Frak-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Christina Schenk
13839
1) Anlage 19
tion der SPD sowie der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Volker Beck , Grietje
Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Teilhabe von Gehörlosen und Ertaubten an
der Informationsgesellschaft – Gleichbe-
rechtigten Zugang zum Fernsehen sichern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Renate
Diemers, Karl-Josef Laumann, Bernd
Neumann , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion CDU/CSU/
Verbesserung des Programmangebots für
Schwerhörige, Gehörlose, Sehbehinderte
und Blinde im Fernsehen und den neuen
Medien
– Drucksachen 14/3382, 14/4385,14/4917 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Nolte
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. – Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst bekommt die
Kollegin Doris Barnett für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Unser Antrag, den wir heute be-
handeln, hat seine Geschichte: Nicht der Weltbehinder-
tentag war Auslöser, nein, es war ein Betroffener, der sich
bei mir beschwerte, dass es im Fernsehen viel zu wenig
Sendungen für Hörgeschädigte und Ertaubte gebe. Diesen
Menschen ist ebenso wie den Sehbehinderten und Blin-
den die Teilhabe an der Informationsgesellschaft, so wie
wir sie kennen, weitgehend verwehrt – und das, obwohl
wir im Grundgesetz festgelegt haben, dass niemand we-
gen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Unser
aller Ziel – da sind sich die Fraktionen ja einig – ist nicht
die Ausgrenzung von Minderheiten, sondern deren selbst-
verständliche Teilhabe an der Informationsgesellschaft.
Also muss sich dies auch beim gleichberechtigten Zugang
zu den Medien abbilden.
Der heutige Stand der Technik bietet dafür gute Mög-
lichkeiten. Das Internet ist gerade für Gehörlose und Er-
taubte das ideale Medium zur Teilhabe an der Informati-
onsvielfalt, die über diesen Verbreitungsweg angeboten
wird. Das gilt dank der vorhandenen Softwareprogramme
auch für die Sehbehinderten und die Blinden, wobei ich
nicht verschweigen will, dass die Kosten für die Son-
derausstattung der PCs vorerst noch erheblich sind.
Ich meine hier das klassische elektronische Medium,
das Fernsehen. Der Zugang für den betroffenen Perso-
nenkreis ist mangelhaft. Das liegt vielleicht auch daran,
dass wir viel zu lange taub und blind für die Bedürfnisse
unserer Mitbürger waren, die beim Hören und Sehen De-
fizite haben.
Vielen Menschen, sicherlich auch Kolleginnen und
Kollegen hier im Hause, kommt es gar nicht in den Sinn,
dass Fernseher ein wichtiges Teilhabeinstrument auch für
die Menschen sind, die nicht oder nur schlecht hören oder
sehen können. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass
kaum einer von den inzwischen 14 Millionen Hörbehin-
derten und circa 700 000 Sehbehinderten einen Fernseher
besitzt. Der Bayerische Blinden- und Sehbehinderten-
bund hat 1996 eine Umfrage bei seinen Mitgliedern
durchgeführt und festgestellt, dass rund 97 Prozent der
Befragten ein Fernsehgerät besitzen und davon wieder
über 81 Prozent regelmäßig fernsehen.
Natürlich stehen Nachrichtensendungen auf der Be-
liebtheitsskala ganz oben, aber auch nur deshalb, weil
– bislang nur wenige – Sendungen mit Audiodeskrip-
tion – das ist eine besonders ausführliche Bildbeschrei-
bung auf der zweiten Tonspur – unterlegt sind. Zwar hat
sich die Zahl der Filme mit Audiodeskription von 1999 bis
2000 von 80 auf 140 Sendungen im öffentlich-rechtli-
chen Rundfunk, also bei ARD und ZDF, fast verdoppelt.
Auch Arte, 3sat und die dritten Programme der ARD
strahlen diese Audiodeskriptionsprogramme in Wieder-
holung aus. Aber von der Erfüllung des Wunsches der Be-
troffenen, nämlich einen Film pro Tag, sind wir noch weit
entfernt.
Das Kostenargument ist für mich an dieser Stelle nicht
überzeugend. Ein 90-Minuten-Film mit dieser besonde-
ren Bildbeschreibung verursacht lediglich Zusatzkosten
in Höhe von 8 000 bis 10 000 DM. Diese fallen aber, be-
trachtet man die Gesamtproduktionskosten, kaum ins Ge-
wicht.
Für hörgeschädigte und gehörlose Zuschauer sind die
öffentlich-rechtlichen Sender bereits aktiver. Seit 1997
untertitelt der WDR jährlich 12 000 Sendeminuten neu.
Das sind 200 Stunden. Der Bayerische Rundfunk unterti-
telt 150 Stunden pro Jahr und andere Sender, auch das
ZDF, leisten einen Beitrag entsprechend ihrer Größe. Die
Kosten für die Untertitelung sind wirklich gering. Einen
„Tatort“ zu produzieren kostet 30 000 DM pro Sendemi-
nute, die Untertitelung aber nur 40 DM pro Minute. Es
kostet also gerade einmal 3 600 DM, einen 90-Minuten-
Film zu untertiteln.
Auf die Gebärdensprache sind in Deutschland etwa
80 000 bis maximal 180 000 Menschen angewiesen. Nach
Meinung des rheinland-pfälzischen Landesverbandes der
Gehörlosen ist sie eine wichtige Verständigungshilfe bei
aktuellen Sendungen wie Live-Berichten, politischen Ge-
sprächsrunden und Talkshows, weil hier ganz schnell
übersetzt werden muss. Bei Filmen wird Untertitelung be-
vorzugt. Phoenix bietet Gebärdendolmetscher bei Nach-
richtensendungen an. Diese Dienstleistung, also das
Übersetzen durch Gebärdendolmetscher, ist zwar deutlich
teurer als die Untertitelung. Aber sollte uns die Teilhabe
von Seh- und Hörbehinderten das nicht wert sein?
Wenn es darum geht, neue Technologien einzuführen,
gönnen wir uns oft einen Blick über den großen Teich.
Wenn es darum geht, Menschen mit Behinderungen den
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Vizepräsidentin Anke Fuchs
13840
Zugang zum Medium Fernsehen zu gewährleisten, lohnt
es sich erst recht, in die USA zu blicken. Obwohl in den
USA öffentlich-rechtlicher Rundfunk so gut wie unbe-
kannt ist, gibt es dort hervorragende gesetzliche Re-
gelungen, um Gehörlose und Ertaubte, Sehbehinderte und
Blinde am alltäglichen Leben und somit auch am Fernse-
hen teilnehmen zu lassen. So wenig es dort denkbar ist, für
Rollstuhlfahrer keine Rampe zur öffentlichen Bibliothek
zu haben, so wenig ist es dort denkbar, keine Untertitelung
bzw. Audiodeskription zu haben.
Hören Sie bitte gut zu: 1990 wurde mit einer Über-
gangsfrist von drei Jahren gesetzlich geregelt, dass jedes
Fernsehgerät, das eine Bildschirmdiagonale von mehr als
33 cm hat, einen eingebauten Decoder für die Untertite-
lung haben muss, um den Millionen von Hörgeschädigten
die Teilhabe am aktuellen Leben zu ermöglichen. Ab 2002
müssen alle großen Fernsehanstalten – und die sind
privat – und die fünf größten Kabelbetreiber sicherstellen,
dass pro Quartal mindestens 50 Sendestunden neu mit Au-
diodeskription unterlegt sind, damit auch Sehbehinderte
nicht ausgeschlossen bleiben.
Auch in England wird für seh- und hörbehinderte
Menschen sehr viel getan. Mindestens 15 Programmstun-
den pro Woche müssen pro Sender mit Audiodeskription
für Sehbehinderte unterlegt sein. Was die Gehörlosen
anbelangt: Bei BBC 1 sind zurzeit 70 Prozent aller Pro-
gramme untertitelt. Bis 2008 soll das gesamte Programm-
angebot untertitelt sein. Dann ist dort das Fernseh-
programm für Gehörlose diskriminierungsfrei.
Mit Blick auf das, was für seh- und hörgeschädigte Men-
schen getan werden kann, müssen wir auch hier endlich
aufwachen und handeln.
Sicher, der Bundestag kann nicht in die Rundfunkho-
heit der Länder eingreifen. Aber als der für das SGB IX
zuständige Gesetzgeber haben wir die Pflicht, auf Defizite
aufmerksam zu machen und deren Beseitigung anzumah-
nen, wenn dies vonseiten der Verantwortlichen nicht ge-
schieht.
Wir meinen, der Grundversorgungsauftrag, den die
öffentlich-rechtlichen Sender zu erfüllen haben, hat auch
den Zugang zum Medium Fernsehen für Menschen mit
Seh- oder Hörbehinderungen zu beinhalten.
Er muss diskriminierungsfrei, vielfältig, ausgewogen und
flächendeckend auch für Behinderte und Minderheiten er-
folgen. Dies ist schließlich auch der Grund, warum öf-
fentlich-rechtliches Fernsehen gebührenfinanziert ist.
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Ja.
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Frau Kollegin Barnett, warum
bestehen Sie auf den öffentlichen-rechtlichen Sendern?
Zu den privaten komme ich
noch.
Gut, denn das ist noch wichti-
ger. Sie haben gerade die positiven Beispiele genannt. Ich
finde, der Bundesgesetzgeber muss doch die Möglichkeit
haben, gesetzliche Rahmenbedingungen dafür zu schaf-
fen, dass auch die privaten Sender ihrer Verpflichtung,
Menschen mit Behinderungen nicht zu benachteiligen,
nachkommen, und zwar möglichst bald.
Herr Kollege Seifert, schön
wäre es. Ich bin mir auch sicher, dass der Kulturstaatsmi-
nister sehr gerne die Gesetzgebungshoheit für eine ein-
heitliche Regelung hätte. Bei uns aber haben die 16 Län-
der die Gesetzgebungshoheit und können auch Re-
gelungen für die Privaten treffen. Wir haben keine
Gesetzgebungskompetenz, appellieren aber an die Län-
der, auch etwas bei den Privaten zu tun.
– Wenn Sie mich jetzt bitte fortfahren lassen. Ich komme
gleich auf die Privaten.
Nur weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk gebühren-
finanziert ist und sehr wenig Werbezeit hat, kann sich das
private Fernsehen nicht aus der Verantwortung stehlen,
Sendungen für hör- oder sehbehinderte Menschen anzu-
bieten.
Von den Privaten wird zwar argumentiert, dass sie sich
über Werbeeinnahmen finanzieren müssten und dass der
betroffene Personenkreis eher älter sei und gar kein Pri-
vatfernsehen sehe, aber dies halte ich für Unsinn und der
Lebenswirklichkeit nicht entsprechend. Behinderte Men-
schen müssen wie wir den vollen Kaufpreis für Produkte
zahlen, für die im privaten Fernsehen geworben wird.
Also finanzieren sie dann, wenn sie die Produkte kaufen,
die privaten Sender mit.
Auch ist es dreist, zu unterstellen, seh- oder hörbehin-
derte Menschen seien grundsätzlich alt und an Sendungen
der Privaten nicht interessiert. Zwar haben RTL und Pro 7
erste Versuche gestartet, aber so wenig, wie sich die öf-
fentlich-rechtlichen Sender zufrieden zurücklehnen dür-
fen, dürfen sich die Privaten mit Hinweis auf ihre Werbe-
finanzierung aus der Verantwortung für seh- oder
hörgeschädigte Menschen verabschieden.
Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes ist nicht beliebig
interpretierbar. Er gilt in allen Lebensbereichen. Auch pri-
vate Fernsehsender müssen alles Notwendige unterneh-
men, um ihr Programm seh- oder hörgeschädigten Zu-
schauern zugänglich zu machen.
Deshalb haben wir auch den Prüfantrag in unseren An-
trag geschrieben, dass im Falle der Verweigerung vonsei-
ten der Privaten eine Quote zu überlegen ist. Ich verweise
hier nochmals ausdrücklich auf die Regulierungsdichte in
den USA, die allen größeren Fernsehanstalten vorschrei-
ben, in ständig wachsendem Umfang Sendungen zu
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Doris Barnett
13841
untertiteln und mit Audiodeskription zu unterlegen. Nie-
mand hier im Hause – das glaube ich wenigstens – würde
behaupten, die USA seien im Medienbereich überregu-
liert.
Das, was von Gesetzes wegen in den USA und in Eng-
land möglich ist, muss doch auch bei uns möglich sein.
Denn – und da komme ich nochmals auf unser Grundge-
setz zurück – niemand darf wegen seiner Behinderung be-
nachteiligt werden. Also muss der gleichberechtigte Zu-
gang von Gehörlosen und Ertaubten, von Sehbehinderten
und Blinden zum Informationsmedium Fernsehen auch
tatsächlich möglich sein.
Es ist bedauerlich, dass sich die CDU/CSU weigerte,
bei einem so wichtigen Thema einen gemeinsamen An-
trag mit uns zu formulieren. Deswegen werden wir unse-
rem Antrag in der geänderten Fassung zustimmen und den
Antrag der CDU/CSU ablehnen.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Renate Diemers, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Barnett, schon vor
Beginn der Debatte waren wir uns in der Tat fraktions-
übergreifend über die prinzipielle Zielsetzung unserer Ini-
tiativen einig.
Bevor ich zu den Unterschieden zwischen unseren Anträ-
gen komme, möchte ich aber grundsätzliche Ausführun-
gen machen, da sich viele Menschen zu wenig mit diesem
Thema auseinander setzen bzw. ihnen die Problematik zu
wenig bewusst ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Internationale
Raumstation wurde vor wenigen Tagen um gigantische
Sonnensegel erweitert. Das ist eine technische Meisterleis-
tung, der Inbegriff der technischen Entwicklung. Stellen
Sie sich einmal kurz vor, Sie sehen diese faszinierenden
Fernsehberichte über derartige technische Meisterleistun-
gen: Raumstation, Bilder vom Mars oder Grenzen spren-
gende Forschungsergebnisse. Sie sind jedoch gehörlos
oder schwerhörig, und Sie sind sich bewusst, dass Sie in
einem der reichsten Länder der Welt bei einem der mäch-
tigsten Fernsehsender Europas diese Meldungen sehen.
Einfache technische Hilfen wie zum Beispiel Untertitel
werden nicht eingesetzt. Auch das Geld für einen Gebär-
dendolmetscher wird gespart.
Andere, aber vergleichbare Probleme haben Blinde
und Sehbehinderte. Auch hier gibt es inzwischen techni-
sche Möglichkeiten, zum Beispiel akustische Untertitel
für die Bildbeschreibung. Aus diesem Grunde haben wir
in unserem Antrag von Anfang an auch die Blinden und
Sehbehinderten berücksichtigt.
Mit dem Beispiel der Raumstation möchte ich Ihnen
deutlich machen, dass technische Entwicklungen alte
Grenzen immer wieder überschreiten und permanent neue
Wege aufzeigen. Nur bei relativ einfach zu lösenden
Problemen stagnieren wir, obwohl diese Probleme durch-
aus technisch lösbar sind und dazu lediglich eine große
Portion guter Wille gehört.
Aber es handelt sich bei den Behinderten, um die es
heute geht, um eine Gruppe von Menschen ohne ausrei-
chende Lobby. Sie haben aber berechtigte Ansprüche auf
Lebensqualität wie jeder von uns.
Gehörlose und Blinde möchten nicht nur einige wenige
spezielle Sendungen, sondern das ganze komplette Fern-
sehprogramm.
Wem nützen eigentlich Festreden zum Weltbehinderten-
tag am 3. Dezember, und wem nützen Hochglanzbro-
schüren über eine vorbildliche Behindertenarbeit?
Gehen wir doch bitte nicht wieder zur Tagesordnung
über und verweisen wir nicht immer nur auf die allabend-
lichen Nachrichtensendungen mit Gebärdendolmetscher
zum Beispiel bei Phoenix. Dafür haben viele von uns al-
len, das heißt fraktionsübergreifend, lange gekämpft. Ich
selbst habe vor etlichen Jahren dieses Thema parteiintern
immer wieder aufgegriffen. Aber der Ausbau des Ange-
botes für Schwerhörige und Sehbehinderte in der deut-
schen Fernsehlandschaft lässt nach wie vor zu wünschen
übrig. Das Programmangebot ist im internationalen Ver-
gleich peinlich gering.
Es reicht eben nicht aus, ein paar Sendungen oder auch
Sendereihen anzubieten, die sich speziell an diese Men-
schen wenden. Warum nicht auch Olympische Spiele, Un-
terhaltungshits am Samstagabend oder Sonderbericht-
erstattungen? Auch Gehörlose sind daran interessiert, zu
erfahren, warum ein schreckliches Unglück passiert ist,
warum es immer noch keinen neuen US-Präsidenten gibt.
Sie wollen nicht immer nur auf die Zusammenfassung am
Abend warten.
Gehörlose und Blinde wollen und müssen sicher sein,
dass auch sie wichtige, eventuell sogar lebensrettende
Meldungen – ich nenne plakativ eine Naturkatastro-
phenwarnung oder Nachrichten über einen Chemieun-
fall – schlichtweg verstehen können.
In der Diskussion über das Programmangebot für
Gehörlose und Blinde sollten auch folgende Punkte ange-
sprochen werden: erstens die Unterscheidung zwischen
den öffentlich-rechtlichen und den privaten Fernseh-
anstalten. Die öffentlich-rechtlichen werden über Ge-
bühren finanziert, und sie sollten auch aus diesem Grunde
die Verbesserung des Programmangebotes als Aufgabe
der Grundversorgung ansehen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Doris Barnett
13842
Die privaten Fernsehanstalten sind seit jeher aufgerufen,
eine Selbstverpflichtung einzugehen. Es gibt inzwischen
auch einige wenige gute Beispiele der Umsetzung. Den-
noch sollten wir darauf drängen, dass sich die privaten
Sender offiziell zu dieser freiwilligen Selbstverpflichtung
bekennen und dementsprechend eine gewisse Erfolgs-
kontrolle durch die Öffentlichkeit ermöglichen.
Zweitens. Dazu gehört eine freiwillige Selbstver-
pflichtung, deren Umsetzung nicht an Kosten scheitern
sollte. Wir sehen einmal davon ab, dass es sich im Ver-
gleich zu anderen Maßnahmen – zum Beispiel milliar-
denschweren Übertragungsrechten – um eine relativ ge-
ringe Summe handelt, die für Untertitel – sei es visueller,
sei es akustischer Art; darauf ist schon hingewiesen wor-
den – oder für Gebärdendolmetscher aufgewendet werden
muss. Wir bewerten es an dieser Stelle auch nicht, dass
sich gerade die privaten Sender derartige Kosten über
Werbepartner sogar mit zusätzlichen Gewinnen zurück-
zahlen lassen. Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass es
durchaus legitim ist, beispielsweise behinderte Kinder als
Zielgruppe zu entdecken und Kindersendungen, die für
gehörlose und blinde Kinder verständlich sind, über Wer-
bepartner zu finanzieren.
Werbung ist nichts Anstößiges – schon gar nicht, wenn
diese Kinder davon direkt profitieren können.
Drittens. Die Integration Behinderter in die Gesell-
schaft ist eine im Grundgesetz von uns allen geforderte
Aufgabe. Diese wird aber von punktuell wirksamen Maß-
nahmen nicht erbracht. Notwendig sind ein grundsätz-
liches Bekenntnis und möglichst grundsätzlich einzuset-
zende Hilfen. Die Integration kann nur verbessert werden,
wenn der Zugang zu Informationen prinzipiell gewährleis-
tet ist. Dazu gehören – das betone ich noch einmal –
Informationen jeglicher Art für alle Altersgruppen: Nach-
richten, Unterhaltung, Sport oder auch politische Sendun-
gen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vernachlässigen dür-
fen wir auf keinen Fall den Aspekt der Wissensgesell-
schaft und die Bedeutung dieser Frage für die Arbeits-
welt. Auch die Berufswelt von Behinderten, ihre
Berufswahl und ihre Berufsausübung sind von ihrem
Wissensstand abhängig. Eine geringere Teilhabe an Infor-
mationen koppelt Behinderte derzeit von der Berufswelt
ab – zusätzlich zu ihrer Behinderung. Festzuhalten bleibt,
dass es bei der Informationsbeschaffung keine Barrieren
geben darf.
Ich freue mich, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der SPD, Ihren ursprünglichen Antrag um einige
wesentliche Punkte ergänzt haben. Unserer Auffassung
nach geht er aber leider immer noch nicht weit genug.
Insofern kommt einer der Punkte unseres Antrags zum
Tragen, die entscheidend über Ihren Antrag hinausgehen.
Ich nenne die Rolle der neuen Medien. Sie klammern
diese komplett aus und begründen das damit, das Inter-
net sei sowieso schon das klassische Medium der Gehör-
losen. Aber die neuen Medien bedeuten doch viel mehr als
nur das Internet.
Ich nenne das Stichwort Konvergenz, das heißt die Ver-
einheitlichung der Medien. In diesem Zusammenhang be-
deutet es, dass es in Zukunft durch die ständige Annähe-
rung der verschiedenen Medienformen und die technische
Fortentwicklung eine Verknüpfung des Angebotes geben
könnte. Beispielhaft und verkürzt ausgedrückt: Fernseh-
empfang mit der grundsätzlichen Möglichkeit, sich per
Datennetz individuelle Zusatzinformationen akustischer
oder visueller Art auf das eigene Gerät zu laden. Daher ha-
ben wir in unserem Antrag explizit auf diesen Punkt hin-
gewiesen und fordern zugleich die Unternehmen auf, an
der technischen Entwicklung und an der Software inten-
siv zu arbeiten.
– Herr Tauss, Sie wissen, dass dies ein wesentliches
Thema ist, das ich bearbeite. Dazu muss ich nichts vorle-
sen, das habe ich mir selbst erarbeitet.
Ein anderer bedeutender Unterschied zwischen unse-
ren Anträgen betrifft die Androhung einer Quote. Die
Androhung einer solchen Maßnahme fordert nahezu he-
raus, dass freiwillige Selbstverpflichtungen nicht einge-
gangen werden.
Sie zerstört eine Atmosphäre des Aufbruchs zu neuen
Möglichkeiten. Daher lehnen wir die Androhung einer
Quote ab.
Selbstverständlich bleibt eine gesetzliche Regelung im-
mer eine Option. Zunächst aber muss einmal die Chance
gegeben werden, zu reagieren – freiwillig und unter Be-
obachtung der Öffentlichkeit, die wir heute verstärkt her-
stellen wollen.
Aus diesen Gründen werden wir uns bei Ihrem Antrag
enthalten und bitten um Zustimmung zu unserer Initiative.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchte
ich Sie daran erinnern, dass auch unsere Parlamentsde-
batten nicht durch Gebärdendolmetscher übersetzt wer-
den. Vielleicht können wir gemeinsam dazu heute hier die
Anregung geben.
Nun wünsche ich Ihnen eine besinnliche Advents- und
Weihnachtszeit. Wir sollten einmal darüber nachdenken,
ob wir in der Vergangenheit immer fair miteinander um-
gegangen sind und ob wir das für die Zukunft nicht etwas
besser bewerkstelligen können. Ich wünsche Ihnen ein
frohes Weihnachtsfest.
Danke.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Renate Diemers
13843
Für Bündnis 90/Die
Grünen sollte jetzt eigentlich die Kollegin Grietje Bettin
sprechen. Sie ist plötzlich erkrankt und hat deswegen ihre
Rede zu Protokoll gegeben1). Wir wünschen ihr von die-
ser Stelle gute Besserung.
Ich erteile nun dem Kollegen Dirk Niebel für die
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Dirk Niebel (von der Abg. Angela Marquardt
[PDS] mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Marquardt,
vielen herzlichen Dank, über Ihren Applaus freue ich
mich besonders. Auch Staatssekretär Pick hat gesagt, dass
er nur wegen meiner Rede gekommen ist. Ich hätte mir al-
lerdings gewünscht, dass auch ein Vertreter des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Sozialordnung, das ja im-
merhin federführend ist, bei der Debatte zu diesem Thema
anwesend gewesen wäre.
– Er kommt spät, aber er kommt.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat in der letzten Sit-
zungswoche eine Gruppe von Menschen mit den unter-
schiedlichsten Behinderungen aus dem gesamten Bun-
desgebiet hier nach Berlin eingeladen, um die
spezifischen Probleme dieser Bevölkerungsgruppe zu be-
sprechen. Es ist immer wieder klar geworden, dass das
zentrale Thema die Barrierefreiheit ist. Barrierefreiheit
muss man in einem umfassenden Sinn verstehen, und
zwar nicht nur im Sinne einer Absenkung von Bordstei-
nen, sondern insbesondere im Sinne einer Teilhabe an der
Gesellschaft. Für einige Menschen ist das Betrachten ei-
ner Nachrichtensendung oder einer komplexeren Inter-
netseite nämlich mit enormen Zugangshürden versehen.
Diese Menschen sind deshalb bei der politischen Willens-
bildung ausgegrenzt.
Wir wollen diese Hürden überwinden. Aus diesem
Grund habe ich mich im Juni 1999 an Bundestagspräsi-
dent Thierse mit der Frage gewandt, ob es nicht möglich
wäre, die Debatten des Deutschen Bundestages durch
Gebärdendolmetscher zu begleiten. Er fand die Idee
sehr gut, hat leider allerdings viele technische Probleme
gesehen. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ver-
weisen in der Regel auf den Sender Phoenix. Ich habe vor-
hin geklärt, dass die Debatten dort zwar übertragen wer-
den, aber dass selbst diese Debatte nicht mit
Gebärdendolmetschern begleitet wird. Das finde ich
natürlich fatal.
Wir begrüßen grundsätzlich diese Anträge, weil sie der
informationellen Integration behinderter Menschen in
diesem Land dienen. Wir sind allerdings der Ansicht, dass
es schade ist, dass Rot-Grün mit der Quote eine Zustim-
mung fast unmöglich macht. Dazu kommt: Allein die
Union berücksichtigt die neuen Medien. Allerdings gehen
beide Anträge von altbekannten oder herkömmlichen
Mitteln aus, also von Untertiteln, Übersetzungen durch
Gebärdendolmetscher und Ähnlichem.
Wir denken, dass wir einen weiter gehenden Ansatz
brauchen. Wir müssen behindertengerechte Programme
und Sendungen über Behinderte in das normale Pro-
gramm integrieren, auch in die dritten Programme, bei de-
nen wir oftmals mit Sendungen aus der Konserve leben
müssen. Es wäre natürlich wünschenswert, eine behin-
dertengerechte Spiegelung des laufenden Programms
über Satellit auf einem anderen Kanal empfangen zu kön-
nen. Wir wollen auf gar keinen Fall einen reinen Sparten-
kanal mit Sendungen für Behinderte. Das würde dazu
führen, dass sich Nichtbehinderte diese in aller Regel
nicht ansehen würden. Dadurch würden Behinderte noch
weiter aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Das ist
mit Sicherheit nicht zielführend.
Guido Westerwelle hat am 4. Juli Bundestagspräsident
Thierse mit der Bitte angeschrieben, zu prüfen, ob wir,
wenn wir Private auffordern, mehr für Behinderte zu tun,
nicht mit gutem Beispiel vorangehen sollten. Wir sollten
zumindest dafür sorgen, unsere eigene Internetseite
„www.bundestag.de“ behindertengerecht zu gestalten.
Herr Thierse hat das positiv und mit großem Wohlwollen
aufgenommen. Passiert ist leider nichts. Dabei ist es gar
nicht so schwierig, eine Internetseite behindertengerecht
zu gestalten. Ich denke, wir sollten als Allererstes vor der
eigenen Haustür kehren und zusehen, dass wir dort vor-
ankommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich Sie
zum Schluss meiner Rede mit freundlichen Weihnachts-
grüßen nach Hause schicke, möchte ich Sie darauf hin-
weisen, was wir in Zukunft in diesem Bereich brauchen:
Wir brauchen Barrierefreiheit, Teilhabemöglichkeiten
und wir brauchen mehr F.D.P.
Vielen Dank.
Nun hat die Kollegin
Angela Marquardt für die PDS-Fraktion das Wort.
Angela Marquardt (von Abg. Dirk Niebel
[F.D.P] mit Beifall begrüßt): Vielen Dank, Herr Niebel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, wir sind uns alle einig, dass Gehörlose, Sehbehin-
derte und Menschen mit eingeschränkter Mobilität nicht
irgendeine Zielgruppe der elektronischen Medien sind
wie jede andere. Sie sind eine besonders wichtige Ziel-
gruppe, gerade weil für sie die elektronischen Informati-
ons- und Kommunikationsmittel eine Möglichkeit bieten,
an der Gesellschaft teilzuhaben, eine Möglichkeit, die sie
sonst nicht haben – egal, ob es das Telefon ist, das Inter-
net oder auch das Fernsehen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 200013844
1) Anlage 20
Wer will, dass Menschen mit Behinderungen dem
Grundgesetz entsprechend nicht benachteiligt werden,
der sollte gerade auf die Medien achten, die für diese Per-
sonengruppe wichtig sind, und sollte sie überprüfen.
Die PDS unterstützt beide hier vorliegenden Anträge,
auch wenn Unterschiede deutlich geworden sind. Eigent-
lich sind sie unwesentlich und es ist bedauerlich, dass ge-
rade zu diesem Thema kein gemeinsamer Antrag vorge-
legt worden ist.
Wir unterstützen den Appell, dass die öffentlich-recht-
lichen sowie die privaten Rundfunkanstalten den Anteil
der Sendeminuten mit Untertiteln und Audiodeskription
erhöhen sollen. Doch leider bleibt es bei Ihnen beim Ap-
pell. Rechtliche Regelungen werden nicht eingefordert.
Wir wissen, dass damit die praktische Wirkung dieser An-
träge gleich null ist. Es entsteht der Eindruck, dass recht-
liche Konsequenzen nicht erwünscht sind, dass sie nicht
eingefordert werden sollen.
Seit Jahren fordern Behindertenverbände, insbeson-
dere die Gehörlosen, die gesetzliche Anerkennung der
deutschen Gebärdensprache. Wir alle in diesem Hause
sollten das unterstützen, nicht nur die PDS.
Darüber hinaus fordern wir auch aus diesen Gründen ein
bundesweites Gleichstellungsgesetz.
Ich möchte kurz die Gelegenheit nutzen, um auf die
Bedeutung der neuen Medien einzugehen. Eine Kleine
Anfrage der PDS hat ergeben, dass die gesamte Förderung
von Behinderten und Senioren fast vollständig auf Wirt-
schaftssponsoring baut, das also in Abhängigkeit von der
Industrie geschieht. Gleichzeitig gibt es keine Pro-
gramme, die Menschen mit Behinderungen und Senioren
– neben den großen Chancen, die ihnen das Netz bie-
tet – auf die Gefahren hinsichtlich der Sicherheit ihrer Da-
ten aufmerksam machen. Es liegt auf der Hand, dass hier
ein Zusammenhang besteht. Natürlich, Kollegin Diemers,
ist Sponsoring gut, auch Werbung; aber Behinderte dürfen
genauso wenig wie andere Menschen in dieser Gesell-
schaft zum Spielball der IuK-Branche gemacht werden.
Wichtig ist: Aufklärung, Bildung und Zugangssicherung
müssen auch Aufgaben des Staates sein.
Der Zugang zu den Medien, zu den neuen wie zu den
konventionellen, ist ein Recht aller Bürgerinnen und Bür-
ger. Der Zugang muss für alle finanzierbar sein. Die Men-
schen müssen die Möglichkeit haben, Kompetenz im Um-
gang mit diesen Medien zu erlangen.
Der Zugang muss für alle Bevölkerungsgruppen glei-
chermaßen gesichert werden.
Dazu gehören natürlich auch die technischen Vorausset-
zungen, behindertengerechte Hard- und Software bei-
spielsweise, an deren Entwicklung die Wirtschaft nur
geringes Interesse hat, weil ihre Hauptzielgruppe nun ein-
mal der junge, dynamische, entwicklungsstarke Mensch
ohne körperliches Handicap ist. Dieser Entwicklung müs-
sen wir etwas entgegensetzen.
Deswegen möchte ich kurz auf die Videotheken einge-
hen. Es sollte Standard sein, dass in den Videotheken De-
coder zum Ausleihen bereitgehalten werden, damit für
Hörgeschädigte die Untertitel bei Spielfilmen sichtbar ge-
macht werden können. Das zum Beispiel wird in den vor-
liegenden Anträgen ausgespart. Da steht einfach nur: Die
Videotheken sollen angehalten werden. Ich frage mich:
Warum können wir es nicht fordern, warum können wir
sie nicht dazu verpflichten, diese Decoder zum Ausleihen
zur Verfügung zu stellen?
Das ist nur ein kleines Beispiel dafür, dass es bei Ap-
pellen bleibt und man sich um wirklich praktische Kon-
sequenzen herumdrücken will. Deswegen lassen Sie mich
an Sie appellieren: Belassen Sie es nicht bei diesen schö-
nen Vorweihnachtsreden.
In diesem Sinne wünsche ich allen hier noch Anwe-
senden ein schönes Weihnachtsfest.
Ich erfahre, dass
Phoenix diese Debatte mit Gebärdendolmetscher über-
trägt. Das finden wir alle sehr gut, meine Damen und Her-
ren.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache
14/4917. Zunächst stimmen wir ab über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen,
Drucksache 14/3382, mit dem Titel „Teilhabe von Ge-
hörlosen und Ertaubten an der Informationsgesellschaft –
Gleichberechtigten Zugang zum Fernsehen sichern“. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 die Annahme des Antra-
ges in der Ausschussfassung. Wer stimmt dem zu? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Bei Enthaltung von
CDU/CSU und F.D.P. ist die Beschlussempfehlung an-
genommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/4385 zur Verbesserung des
Programmangebots für Schwerhörige, Gehörlose, Sehbe-
hinderte und Blinde im Fernsehen und in den neuen Me-
dien. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der SPD und vom Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Ge-
setzes zur Änderung des Gesetzes zurVerbesse-
rung der betrieblichen Altersversorgung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Angela Marquardt
13845
– Drucksache 14/4363 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 14/4918 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Enders
Meinrad Belle
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll gegeben
werden. Ich lese die Namen der Redner vor: Peter Enders,
Meinrad Belle, Helmut Wilhelm, Dr. Max Stadler, Ulla
Jelpke1) und Fritz Rudolf Körper2).
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Alters-
versorgung, Drucksachen 14/4363 und 14/4918. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-
probe! – Stimmenthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig
in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Ich danke Ihnen, dass Sie
den Gesetzentwurf einstimmig angenommen haben.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Bekämpfung gefährlicher Hunde
– Drucksache 14/4451 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 14/4920 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst Bahr
Günter Baumann
Cem Özdemir
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulla Jelpke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle,
Ulrich Heinrich, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Bevölkerung wirksam vor „Kampfhunden“
schützen
– Drucksachen 14/3785, 14/4919 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst Bahr
Günter Baumann
Cem Özdemir
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulla Jelpke
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Alfred Hartenbach,
Margot von Renesse, Hans-Joachim Hacker, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Volker Beck ,
Hans-Christian Ströbele, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Obligatorische Haftpflichtversicherung für
Hunde
– Drucksache 14/3825, 14/4916 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Brinkmann
Margot von Renesse
Dr. Jürgen Gehb
Jörg van Essen
Sabine Jünger
Interfraktionell ist vereinbart worden, auch hier die Re-
debeiträge zu Protokoll zu geben. Es sind dies: Ernst Bahr,
Günter Baumann, Ulrike Höfken, Hildebrecht Braun, Eva
Bulling-Schröter und Fritz Rudolf Körper3). Wir kommen
also gleich zur Abstimmung.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Bekämpfung gefährlicher
Hunde, Drucksachen 14/4451 und 14/4920. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Gegen die Stimmen der
F.D.P. und bei einigen Enthaltungen der PDS ist der Ge-
setzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist gegen
die Stimmen der F.D.P. und bei Enthaltung der PDS an-
genommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussem-
pfehlung des Innenausschusses zum Antrag der Fraktion
der F.D.P. mit dem Titel „Bevölkerung wirksam vor
Kampfhunden schützen“, Drucksache 14/4919. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3785
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
– Gegenprobe! – Enthaltungen? Die Beschlussempfeh-
lung ist gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem Antrag der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen zu einer obligatorischen Haft-
pflichtversicherung für Hunde, Drucksache 14/4916. Der
Ausschuss empfiehlt die Annahme des Antrages auf
Drucksache 14/3825 in der Ausschussfassung. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Vizepräsidentin Anke Fuchs
13846
1) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor.
2) Anlage 21 3) Anlage 22
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
ordneten Dr. Dietmar Bartsch, Petra Bläss,
Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS zu der vereinbarten Debatte
zur aktuellen Situation in Nahost
– Drucksachen 14/4398, 14/4847 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Moosbauer
Joachim Hörster
Dr. Helmut Lippelt
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Günther Friedrich Nolting, Ulrich
Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Für eine Konferenz für Sicherheit und Zusam-
menarbeit im Nahen Osten
– Drucksachen 14/4392, 14/4848 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Moosbauer
Joachim Hörster
Dr. Helmut Lippelt
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich bitte Sie
um Aufmerksamkeit, weil wir die Rednerfolge ein biss-
chen geändert haben, da auch die F.D.P. Antragstellerin
ist. Das Präsidium schlägt Ihnen daher vor, dass zuerst der
Kollege Gehrcke redet, dann der Kollege Irmer, der Kol-
lege Moosbauer, der Kollege Hörster und schließlich für
die Bundesregierung Dr. Volmer. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der
Kollege Wolfgang Gehrcke für die PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Friedensprozess im Na-
hen Osten liegt in Trümmern. Das Leid der Opfer ist
furchtbar. Die soziale Not nimmt vor allem unter den
Palästinensern dramatisch zu. Ich frage mich, ob sich der
Nahe Osten bereits in einem neuen Krieg befindet. We-
nigstens ist jener schmale Grat erreicht, jene zerbrechli-
che Grenze, die zwischen Nichtkrieg und Krieg liegt,
wenn sie nicht schon überschritten ist.
Wer Frieden will, muss für Frieden Einfluss nehmen.
Das fordere ich vom Deutschen Bundestag, von der Bun-
desregierung und von der Europäischen Union. Sich für
den Frieden im Nahen Osten einzusetzen, dazu ermuntere
ich die Zivilgesellschaft, die Öffentlichkeit, alle Initiati-
ven und Gruppen und auch die Kirchen.
Israel hat das Recht auf sichere Grenzen und gute
Nachbarschaft zu den arabischen Staaten. Damit das
Wirklichkeit wird, muss es Frieden und Sicherheit in der
ganzen Region geben. Auch für den Nahen Osten gilt:
gleiche Sicherheit. Ohne gleiche Sicherheit hat keine
Seite Sicherheit. Anders gesagt: Es wird keinen Frieden
für Israel geben, wenn die Palästinenser nicht in Frieden
leben können. Das Recht der Palästinenser auf ihren eige-
nen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt ist derzeit der
wichtigste Baustein für den Frieden Israels.
In dieser Frage muss sich vor allem Israel bewegen.
Dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen. Israel muss
sich bewegen, weil es alles besitzt: Boden, Wasser, wirt-
schaftliche und militärische Stärke. Israel besitzt auch,
was den Palästinensern und der ganzen arabischen Welt
heilig ist: den Tempelberg und Ostjerusalem.
Diese Beschreibung wird von vielen im Deutschen
Bundestag – so ist mein Eindruck aus den Debatten –
geteilt. Strittig ist jedoch, ob wir offen darüber reden und
auch gegenüber Israel eine solche Position einnehmen
sollen. Das wichtigste Gegenargument ist das beson-
dere deutsch-israelische Verhältnis, wonach Deutschland
keine Forderungen an den Staat Israel stellen darf oder
stellen soll. Die deutsche Schuld an der Schoah bleibt.
Deutschland wird mit Rassenwahn und millionenfachem
Mord an Juden verbunden bleiben.
Was bedeutet das aber für unser politisches Verhalten?
Aus meiner Sicht leisten wir Israel einen schlechten
Dienst, wenn wir der Regierung und den Menschen in die-
ser gefährlichen Situation das verweigern, was wir ihnen
gerade geben müssen: Solidarität durch Wahrhaftigkeit.
Aus deutscher Schuld darf keine Sprachlosigkeit entste-
hen. Bescheidenheit ja, aber keine Sprachlosigkeit! Wir
müssen vielmehr Mitverantwortung übernehmen. Das be-
sondere deutsch-israelische Verhältnis verlangt von uns
politische Initiativen, die dem Ernst der Lage gerecht wer-
den. Unsere geschichtliche Schuld und unsere Mitverant-
wortung für die Sicherheit Israels können wir nicht auf
dem Rücken der Palästinenser abladen, indem wir zu
ihren Rechten, zu ihren Nöten und zu ihren Ansprüchen
schweigen.
Auch aus eigenem Interesse ist Israel aufgefordert, zu
den Osloer Vereinbarungen zurückzukehren. Das heißt,
Israel muss den gefährlichen und provokativen Sied-
lungsbau im Herzen des arabischen Lebens stoppen.
Israel muss die Bereitschaft entwickeln, über die drama-
tische Flüchtlingsfrage zu sprechen.
Die deutsche Politik muss die Courage aufbringen, in
diese Richtung Druck auf Israel auszuüben. Auch das sind
wir unserem besonderen Verhältnis zum Staat Israel
schuldig. Vor der Konsequenz des Druckausübens mag
man zurückschrecken. Aber Politik ist auch immer Druck
und Druck in Richtung Frieden ist vernünftig. Gerade die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Vizepräsidentin Anke Fuchs
13847
israelische Friedensbewegung, etwa der Friedenspreisträ-
ger Uri Avnery, hat uns gebeten, zu diesem Druck auf
Israel beizutragen.
Nicht der Konflikt, sondern seine Lösung verlangt
nach Internationalisierung. Eine internationale Untersu-
chungskommission ist ein erster wichtiger Schritt. Hilf-
reich könnten darüber hinaus UN-Beobachter sein, die in
den von Israel besetzten Gebieten tätig werden. Die USA
dürfen nicht weiter UN-Initiativen zum Nahen Osten
blockieren.
Neben den USA und Russland sollte die Europäische
Union zu einem Faktor werden, der sich im Nahen Osten
aktiv um Vermittlung bemüht. Viele europäische Staaten
sind bereit, deutlicher Position zu beziehen, die Bundes-
regierung aber blockiert eine noch aktivere Nahostpolitik
der Europäischen Union.
Was ich hier vorgetragen habe, wird sowohl in der isra-
elischen Friedensbewegung als auch in der palästinen-
sischen Freiheitsbewegung akzeptiert. Es ist sowohl im
Interesse Israels als auch Palästinas, aber auch im Inte-
resse der deutschen Politik, alles zu tun, damit sich kein
neuer Nahostkrieg ausbreitet.
Vor Weihnachten hat jeder meiner Vorredner seine
Weihnachtsbotschaft verkündet. Gestatten Sie auch einem
praktizierenden Atheisten, an die Weihnachtsverkündi-
gung zu erinnern: Frieden auf Erden und den Menschen
ein Wohlgefallen.
Weder herrscht Friede noch können die Menschen Wohl-
gefallen an dem Zustand der Erde finden. Lassen Sie uns
ein Stück weit dazu beitragen, dass etwas mehr Friede
herrscht und sich etwas mehr Wohlgefallen ausbreiten
kann.
Herzlichen Dank.
Nun hat das Wort der
Kollege Ulrich Irmer, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sie waren ge-
rade so freundlich, den Text der Rede einer Kollegin zu
Protokoll zu nehmen, die erkrankt ist. Ich muss leider be-
kennen, dass auch ich von einer Grippe gebeutelt werde.
Man sollte mich heute vorsichtshalber nicht einmal mit
der Zange anfassen; sonst bin ich ja recht appetitlich, aber
heute empfehle ich das niemandem.
Sollte meine Stimme versagen, mache ich das wie ein ech-
ter Liberaler, der immer seine Zweitstimme fertig in der
Tasche hat und diese dann zum Einsatz bringt.
Meine Damen und Herren! Die Situation im Nahen
Osten ist vom Kollegen Gehrcke eindrucksvoll und rich-
tig geschildert worden. Es ist beklagenswert, dass es dort
den Scharfmachern auf beiden Seiten immer wieder ge-
lingt, den Friedensprozess ins Stocken zu bringen und der
Gefahr des Scheiterns auszusetzen. Wir von der F.D.P.-
Fraktion haben vorgeschlagen, die deutsche Bundesregie-
rung solle die Initiative zu einer Konferenz für Sicher-
heit und Zusammenarbeit im Nahen Osten ergreifen.
Beispiel dafür ist die Konferenz für Sicherheit und Zu-
sammenarbeit in Europa, die ja bekanntlich vor einem
Vierteljahrhundert dazu geführt hat, dass die Teilung Eu-
ropas überwunden werden konnte, die Blöcke aufgelöst
wurden, sich nicht mehr feindlich gegenüber standen und
konstruktive Friedenslösungen gefunden werden konnten.
Als wir dies vorgeschlagen haben, ist uns der Bundes-
außenminister mit zwei Einwänden entgegengetreten: Er
hat zum einen gesagt, wir hätten bereits den Prozess von
Barcelona. Allerdings ist der Prozess von Barcelona weit
davon entfernt – dies hat sich Mitte November bei der ge-
scheiterten Außenministerkonferenz gezeigt –, irgendet-
was ausrichten zu können. Er ist nicht einmal in der Lage,
sein eigentliches Ziel zu erreichen,
nämlich die Stabilisierung der wirtschaftlichen und sozia-
len Strukturen, geschweige denn auf eine Friedenslösung
für die ganze Region zwischen Israel und Palästina hin-
zuwirken. Zum Zweiten hat uns der Bundesaußenminister
entgegengehalten, die Situation im Nahen Osten sei mit
der in Europa nicht zu vergleichen und deshalb solle eine
solche Konferenz nicht stattfinden.
Es ist schon dramatisch zu beobachten, wie Joseph
Fischer vom strahlenden Friedensapostel zum drögen Ak-
tenschieber abgestürzt ist.
Er hat nichts als bürokratische Einwände und lässt jede
Vision vermissen. Leider haben mir auch die Kollegen
von der CDU/CSU im Auswärtigen Ausschuss entgegen-
gehalten, unsere Vorschläge seien eher ein Traum und zu
visionär. Aber: wenn wir in der Politik keinen Träumen
mehr nachhängen und keine Visionen mehr entwickeln
dürften – gerade und auch in der Außenpolitik –, können
wir die Politik gleich bleiben lassen!
Alle großen Entwicklungen sind durch Vorstellungen
eingeleitet worden, die zu dem Zeitpunkt, an dem sie ent-
wickelt wurden, eher unrealistisch wirkten. Ich fordere
die Bundesregierung auf, auf dem europäischen Gipfel in
Nizza die Gelegenheit zu nutzen, den Europäern vorzu-
schlagen, diese Konferenz für Sicherheit und Zusammen-
arbeit im Nahen Osten einzuberufen. Es ist mit Recht ge-
sagt worden, dass die Deutschen gegenüber Israel eine
ganz besondere Verantwortung tragen. Einer solchen Ver-
antwortung müssen wir uns stellen und der können wir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Wolfgang Gehrcke
13848
uns am besten dadurch stellen, dass wir aktiv zu einer
Friedenslösung beitragen.
Ich habe in der Vorweihnachtszeit – Weihnachten ist ja
das Fest der Kinder – einen kleinen Traum: Die Kinder in
Israel und Palästina sollen nächstes Jahr den Frieden erle-
ben.
Ich möchte, dass Sarah und Schimon genauso wie Amal
und Achmed den Frieden so erleben und genießen kön-
nen, wie das glücklicherweise Christoph, Maria, René,
Anna und Thomas – und wie sie sonst noch alle heißen
mögen – in Europa können. In diesem Sinne: Fröhliche
Weihnachten!
Der Kollege
Christoph Moosbauer ist unerwartet verhindert und gibt
seine Rede zu Protokoll.1)
Jetzt hat das Wort der Kollege Joachim Hörster für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wenn man sich den PDS-An-
trag und seine Begründung anschaut, dann muss man fest-
stellen, dass uns dies als Vermittlungspartner im Nahost-
konflikt absolut untauglich machen würde; denn dieser
Antrag ist so einseitig, dass es sich Israel von vornherein
verbeten würde, uns als Vermittler zu akzeptieren.
Darüber hinaus möchte ich festhalten, dass die Ver-
hältnisse ein bisschen komplizierter sind, als sie in dem
Antrag dargestellt werden. Das Kernproblem für uns
Deutsche ist, eine Leitlinie zu finden, mit deren Hilfe wir
im Nahostkonflikt überhaupt vermittelnd tätig werden
können. Es gibt im Grunde genommen nur eine Leitlinie:
Erstens. Wir wollen Frieden. Zweitens. Wir wollen, dass
die Menschenrechte eingehalten werden. Die Einhaltung
der Menschenrechte gilt für beide Seiten.
Hinzu kommt, dass Israel der einzige Staat ist, der den
Maßstäben, die wir an eine Zivilgesellschaft stellen, am
nächsten kommt.
Auch dieser Gesichtspunkt ist in der Debatte zu berück-
sichtigen.
Ich finde, dass die Bundesrepublik Deutschland inner-
halb der Europäischen Union bisher eine sehr kluge und
gute Rolle im Nahostkonflikt gespielt hat. Das sage ich
ausdrücklich als Oppositionspolitiker, zumal es im Ver-
gleich zur Nahostpolitik früherer Bundesregierungen,
wenn man genau hinschaut, keinen Bruch gibt.
Die Deutschen sind nur innerhalb des europäischen
Kontextes fähig, mäßigend auf die Verhältnisse im Nahen
Osten einzuwirken. Es finden dort Ausbrüche statt, die
mit unserem Verständnis von politischer Auseinan-
dersetzung nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Die
Mahnung, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu be-
folgen, findet weder auf der einen noch auf der anderen
Seite Gehör. Dass immer gleich geschossen werden muss,
wenn sich die Gemüter erhitzen, gehört in unserer Region
– Gott sei Dank – der Vergangenheit an. Aber die dort be-
teiligten Parteien machen regelmäßig und rücksichtslos
von der Waffe Gebrauch, und zwar beide Seiten.
Ich sage auch als Vorsitzender der Deutsch-Arabischen
Parlamentariergruppe Folgendes ganz bewusst: Auch auf
der Seite der Steine werfenden palästinensischen Kinder
gibt es ausgesprochene Experten. Von solchen Geschos-
sen möchte ich nicht getroffen werden.
Ich muss auch zugeben, dass die Art und Weise, wie die
Israelis gegen die Palästinenser vorgehen, durch nichts
gerechtfertigt ist und dass dadurch Menschenrechte in er-
heblichem Maße verletzt werden. Wer einmal neben dem
Zelt einer palästinensischen Familie gestanden hat, deren
Haus von den israelischen Militärs einfach abgerissen
worden ist, nur weil ein Mitglied dieser palästinensischen
Familie als ein der Hamas-Bewegung Angehörender
verdächtigt wird, der weiß, mit welcher Brutalität man
dort miteinander umgeht.
Lieber Herr Irmer, bei aller Sympathie für den Antrag
der Freien Demokraten: Es gibt gegenwärtig überhaupt
keinen realistischen Anknüpfungspunkt dafür, dass es zu
einer solchen Konferenz kommen könnte. Dagegen
spricht die archaische Art und Weise, wie die beiden Kon-
fliktparteien aufeinander losgehen. Wir erleben heute,
dass der Konflikt ein Teil der israelischen Innenpolitik
hinsichtlich der Regierungsbildung, möglicher Neuwah-
len und was auch immer geworden ist. Dieser Zustand
lässt kaum Spielraum, einen Ausgleich zwischen den Par-
teien herzustellen.
Es handelt sich dabei im Übrigen nicht um eine Frage
des Geldes. Ich möchte daran erinnern, dass allein die Eu-
ropäische Union zwischen 1993 und 1998 mit 1,8 Milli-
arden Euro der größte Geldgeber Palästinas gewesen ist.
Wenn wir hinsichtlich der israelischen Seite feststellen,
dass sich die Parteien des Landes nicht in der Lage sehen,
auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten und sich auf eine
gemeinsame Linie im Hinblick auf mögliche Ergebnisse
des Friedensprozesses zu verständigen, dann müssen wir
genauso sehen, dass ein großer Teil der 1,8 Milliar-
den Euro, an denen die Bundesrepublik nicht unmaß-
geblich beteiligt ist, nicht unbedingt dort ankommt, wo er
hinkommen soll.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Ulrich Irmer
13849
1) Anlage 23
Um das zu belegen, brauche ich gar keine europäische
Quelle, sondern nur den Rechnungshof der Palästinensi-
schen Autonomiebehörde zu zitieren, der der eigenen Re-
gierung einen schlampigen Umgang mit Geld vorwirft.
Der Rechnungshof beklagt Korruption, Unterschlagung
und vieles andere mehr.
Schon Israel und die Palästinensische Autonomie-
behörde, die unmittelbar nebeneinander leben, haben so
viele innenpolitische Probleme, dass sie noch nicht ein-
mal in der Lage sind, zu definieren, worüber sie mitei-
nander letztendlich verhandeln wollen, und zwar so, dass
sich der Verhandlungspartner auf die Verhandlungslinie
des anderen verlassen kann.
Schaut man sich das arabische Umfeld an, stellt man
fest, dass die Interessen Syriens und Iraks nicht die glei-
chen sind. Auch die Interessen der Golfstaaten und der be-
völkerungsreichen Länder der Region, zum Beispiel Je-
men oder Ägypten, sind nicht identisch. Das heißt, die
arabische Welt müsste ebenfalls einmal zu einer Defini-
tion gemeinsamer Interessen kommen, damit eine solche
Konferenz überhaupt einen Gegenstand hat, über den sie
verhandeln kann.
– Herr Kollege Irmer, ich respektiere, dass Sie gesund-
heitlich nicht voll auf der Höhe sind. Ich verbuche diese
Bemerkung unter „lässliche Sünde“ und erteile sofort Ab-
solution.
Wenn wir die Sache realistisch betrachten, dann erken-
nen wir, dass in der arabischen Welt überhaupt keine
Chance besteht, eine Grundlage zu finden, auf der man
eine solche Konferenz einberufen und solche Verhand-
lungen führen könnte. In der gegenwärtigen Situation
bleibt uns in der Europäischen Union daher nichts ande-
res übrig, als mit den vorhandenen diplomatischen Mög-
lichkeiten durch Unterstützung der Vereinigten Staaten
und durch bilaterale, möglichst nicht auf offenem Markt
ausgetragene Gespräche auf die Parteien einzuwirken,
zunächst einmal den Ausbruch von Gewalt zurückzu-
drängen und wieder zu einigermaßen normalen Verhält-
nissen zu kommen. Wenn das geschehen ist, kann man
hoffen, dass die Beteiligten an den Verhandlungstisch
zurückkehren, weil es in der Tat keine Alternative dazu
gibt.
In diesem Zusammenhang richte ich den Appell an den
Staat Israel, der etwas Großzügigere zu sein; denn er ist in
der Region der Stärkste. Israel hat die Europäische Union
und die Vereinigten Staaten von Amerika im Rücken.
Niemand bestreitet das Existenzrecht dieses Staates und
niemand will es gefährden. Israel ist die größte Militär-
macht in der Region und hat den besten Überblick. Des-
wegen müsste man von Israel eher ein vernünftiges
Entgegenkommen erwarten können, als dies von der zer-
splitterten arabischen Landschaft zu erwarten ist. Darauf
setzen wir unsere Hoffnung. Wir hoffen, dass die Bun-
desregierung in diesem Sinne ihre Kontakte zu den Par-
teien nutzt und das fortsetzt, was beim Nahostbesuch des
Bundeskanzlers praktiziert worden ist, nämlich befrie-
dend auf die Menschen einzuwirken.
In diesem Sinne sehen wir uns nicht in der Lage, die
Anträge von PDS und F.D.P. zu unterstützen. Wir lehnen
sie beide ab.
Ich erteile das Wort
dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Ludger
Volmer.
D
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Bundestag hat im Oktober über die Lage im Nahen
Osten debattiert, damals im Hinblick auf die Reise des
Bundeskanzlers in die Region. Die Reise ist von allen Ge-
sprächspartnern in der Region in schwierigen Zeiten als
ein Zeichen besonderer Solidarität verstanden und be-
grüßt worden. Insoweit war die Reise erfolgreich. Den-
noch sind die Kernforderungen des Kanzlers, nämlich ein
Ende der Gewalt und die Rückkehr an den Verhand-
lungstisch, bis heute nicht umgesetzt worden.
Die Situation ist nach wie vor besorgniserregend. Tage
mit relativer Ruhe wechseln sich ab mit verschärften Aus-
einandersetzungen. Zahlreiche Opfer unter der Zivilbe-
völkerung sowie die Zerstörung eines großen Teils der In-
frastruktur in besetzten Gebieten lassen Beobachtern das
Ausbleiben einer Friedenslösung unerträglich erscheinen,
auch wenn sich die Sicherheitslage in jüngster Zeit und in
den letzten Tagen leicht verbessert hat und es kleine ermu-
tigende Zeichen gibt. Es gibt zwischen Israel und Paläs-
tina erstmals wieder Gesprächskanäle und Kontakte,
beide Seiten signalisieren grundsätzlich Verhandlungs-
bereitschaft. Wir hoffen, dass sie in Dialog und Verhand-
lungen münden werden.
Israel hat in den letzten Tagen mit einer Reihe von
Maßnahmen zu einer Entspannung der Situation beigetra-
gen und auch die palästinensische Seite hat angesichts der
großen Leiden der Bevölkerung große Geduld bewiesen.
Insgesamt wird die gegenwärtige Lage geprägt von der
innenpolitischen Unsicherheit in Israel, der zu Ende ge-
henden Clinton-Administration sowie internationalen
Friedensbemühungen. Wir unterstützen die engagierten
Bemühungen des US-Präsidenten, zu einer Friedenslö-
sung beizutragen.
Elemente für eine Lösung liegen auf dem Tisch. Es ist
über alles gesprochen worden. Offen ist jedoch, wie weit
die Positionen voneinander entfernt sind. Das größte Pro-
blem ist zurzeit das mangelnde Vertrauen; denn ohne den
Willen beider Seiten des Konfliktes können weder ameri-
kanische noch russische noch europäische Vermittler ei-
nen wesentlichen Fortschritt erreichen.
Meine Damen und Herren, zeitgleich zu unserer De-
batte tagt in Nizza der Rat der Staats- und Regierungs-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Joachim Hörster
13850
chefs der EU. Neben den allgemeinen Schlussfolgerun-
gen werden die Staats- und Regierungschefs eine geson-
derte Erklärung zum Nahen Osten verabschieden, in
der die Parteien angesichts des Leidens der Bevölkerun-
gen, der Gewalt und des Hasses genau dazu, zur Rückkehr
zu Friedensverhandlungen, aufgefordert werden. Die
Staats- und Regierungschefs bieten darin die Unterstüt-
zung der EU für den Verhandlungsprozess an. Sie appel-
lieren an die beiden politischen Führer, Premierminister
Barak und Präsident Arafat, sich persönlich stärker zu en-
gagieren, die Abkommen von Scharm el-Scheich und
Gaza umzusetzen und konkrete Schritte einzuleiten.
Schon in der so genannten Berliner Erklärung vom
25.März 1999 haben die Staats- und Regierungschefs, da-
mals unter der deutschen EU-Präsidentschaft, in klarer
Sprache an die Konfliktparteien formuliert, – ich zitiere –:
Die Europäische Union ruft beide Parteien nach-
drücklich dazu auf, alle Handlungen zu unterlassen,
die dem Ergebnis der Verhandlungen über deren end-
gültigen Status vorgreifen, und jede Handlung zu un-
terlassen, die gegen das Völkerrecht verstößt,
einschließlich jeder Siedlungstätigkeit, sowie gegen
Aufwiegelung und Gewalt vorzugehen.
Als Schlüsselproblem taucht immer wieder die Sied-
lungspolitik auf. Diesen Faktor haben die EU-Außenmi-
nister auch in der Erklärung des Allgemeinen Rates vom
20. November 2000 als Ursache unter anderem für – ich
zitiere – „die Frustration ... der palästinensischen Bevöl-
kerung“ unterstrichen. Die Bundesregierung ist besorgt,
dass mehrere VN-Sicherheitsratsresolutionen, die sich
mit dieser Frage beschäftigt haben, bis heute nicht umge-
setzt sind.
Unser Appell, meine Damen und Herren, ist deshalb
ein doppelter: Die Bundesregierung fordert die israelische
Regierung auf: Stoppen Sie den Siedlungsbau! Überden-
ken Sie die Siedlungspolitik insgesamt!
Dies ist in Israels unmittelbarem eigenen Interesse. Ohne
einen Frieden Israels mit der palästinensischen Seite gibt
es keine friedvolle Zukunft für die junge Generation in Is-
rael und der Region. Einseitige Maßnahmen schaffen
vollendete Tatsachen, die die Friedensverhandlungen we-
sentlich erschweren.
Die Bundesregierung fordert aber genauso nachdrück-
lich die palästinensische Führung auf: Geben Sie nicht nur
den Sicherheitskräften strikte Anweisung, für die Einstel-
lung der Schüsse auf Israel zu sorgen – wie dies Präsident
Arafat angekündigt hat –, sondern sorgen Sie mit allen
Ihren Mitteln dafür, dass von Einzelnen keine Gewalt ge-
gen israelische Bürger ausgeht und ausgeübt wird!
Nur eine Sicherheitsgarantie für den Staat Israel und seine
Menschen wird auch dem palästinensischen Volk ein Le-
ben in Frieden in einem eigenen Staat sichern. Nur so be-
steht eine Chance, im Interesse der nächsten Generationen
den Teufelskreis von Hass und Gewalt zu durchbrechen.
Unser Ziel muss ein gerechter, umfassender und dau-
erhafter Frieden in der gesamten Region sein. Dazu gehört
auch ein Frieden mit Syrien und Libanon. Wir appellieren
deshalb auch an die Regierungen dieser Länder, alles zu
tun, damit der Rückzug Israels aus dem Südlibanon und
die Erfüllung der Sicherheitsratsresolution 425 als
Chance zu weiterer Deeskalation genutzt wird. Deeskala-
tion und Gewaltverzicht sind das Gebot der Stunde. Dafür
plädieren wir.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst über die
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Entschließungsantrag der Fraktion der PDS zu der
vereinbarten Debatte zur aktuellen Situation in Nahost,
Drucksache 14/4847. Der Ausschuss empfiehlt, den Ent-
schließungsantrag auf Drucksache 14/4398 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Gegen die Stimmen der PDS ist
die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich stelle jetzt die Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P.
mit dem Titel „Für eine Konferenz für Sicherheit und Zu-
sammenarbeit im Nahen Osten “, Drucksa-
che 14/4848, zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt
auf Drucksache 14/4392, den Antrag abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Gegen die Stimmen von PDS und F.D.P.
ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf:
25 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung des Gerichtsvollzieherkosten-
rechts – GvKostRNeuOG –
– Drucksache 14/3432 –
Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses
– Drucksache 14/4913 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Wolfgang Freiherr v. Stetten
Volker Beck
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung des Kostenrechts und der Steu-
erberatungsgebührenverordnung auf Euro –
KostREuroUG –
– Drucksache 14/4222 –
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Staatsminister Dr. Ludger Volmer
13851
Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses
–
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Wolfgang Freiherr v. Stetten
Volker Beck
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Es ist vereinbart worden, die Reden zu Protokoll zu ge-
ben; das betrifft die Kollegen Alfred Hartenbach,
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, Helmut Wilhelm,
Rainer Funke, Dr. Evelyn Kenzler und Prof. Dr. Eckhart
Pick.1) Wir kommen damit zu den Abstimmungen. Ab-
stimmung über den von der Bundesregierung eingebrach-
ten Gesetzentwurf zur Neuordnung des Gerichtsvollzie-
herkostenrechts, Drucksachen 14/3432 und 14/4913. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Gegen die Stim-
men von F.D.P. und PDS ist der Gesetzentwurf damit in
zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genprobe! – Stimmenthaltungen? – Gegen die Fraktionen
von F.D.P. und PDS ist der Gesetzentwurf in dritter Bera-
tung angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Umstellung des Kosten-
rechts und der Steuerberatergebührenverordnung auf
Euro, Drucksachen 14/4222 und 14/4908. Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
dritter Beratung einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg von
Essen, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der
F.D.P.
Ende der doppelten Benachteiligung für die
Rechtsanwälte in den neuen Ländern
– Drucksache 14/3485 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsaussschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre kei-
nen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Ihre Reden zu Protokoll
gegeben haben die Kollegen Alfred Hartenbach, Staatsse-
kretär Dr. Eckhart Pick und Dr. Evelyn Kenzler, sodass
noch drei Redner übrig bleiben.2)Als Erstem übergebe ich
dem Kollegen Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung
fehlt mir ein wenig der Glaube daran, dass die Bundesre-
gierung bereit ist, die Wiedervereinigung auch im beruf-
lichen Alltag der Justiz durchzusetzen.
Wie kann es denn sonst sein, dass der Rechtsanwalt oder
Notar, der im Ostteil Berlins oder in den neuen Bundes-
ländern ein Mandat annimmt, noch einen Abschlag der
Gebühren in Höhe von 10 Prozent hinnehmen muss, ob-
wohl er doch regelmäßig weit niedrigere Gegenstands-
werte als seine Kollegen im Westen hat?
Seit Mai 1999 gelten bei der Deutschen Bahn in Ost
und West die gleichen Preise. Die Kosten für Telefon,
Porto und Kfz sind in Ost und West ebenfalls gleich hoch.
Die Kosten für Versicherung, Bewirtschaftung und Büro-
miete liegen zum Teil über dem Westniveau.
Ist da eigentlich die Rechtspflege eine Ausnahme?
1996 hat das Justizministerium den Abschlag von
20 Prozent auf 10 Prozent gesenkt. Es ist jetzt an der Zeit,
ihn gänzlich verschwinden zu lassen.
Dabei liegt es letztlich allein in der Hand der Justizminis-
terin, ob sie dieser Bestrafung für die Anwälte der neuen
Bundesländer und teilweise auch Berlins ein Ende setzen
will.
Herr Staatssekretär, geben Sie sich einen Ruck und been-
den Sie diese doppelte Benachteiligung für Rechtsan-
wälte, Notare und letztlich die gesamte Justiz. Die Kolle-
gen im Osten arbeiten nämlich genauso gut wie ihre
Kollegen in den alten Bundesländern.
Bei den Architekten und Ingenieuren hat man bereits 1993
die notwendigen Konsequenzen gezogen und ihnen die
gleichen Gebühren nach der HOAI zugebilligt. Warum
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Vizepräsidentin Anke Fuchs
13852
1) Anlage 24 2) Anlage 25
soll das nicht auch für die Rechtsanwälte und Notare gel-
ten?
Lassen Sie mich abschließend auf einen Sonderfall zu
sprechen kommen, nämlich auf den Sonderfall Berlin.
Wie der Regierende Bürgermeister Berlins – bei dem ich
immer noch die Hoffnung habe, dass er wieder ein eigen-
ständiges Justizressort einführt –
bereits auf dem Anwaltstag 2000 ausgeführt hat, ist der
Abschlag in Berlin nicht nur unsinnig, sondern offen-
sichtlich auch widersprüchlich.
Im Ostteil der Stadt ist die Arbeitslosigkeit geringer als im
Westen. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist
in manchen Stadtteilen im Osten höher als in denen des
Westens. Wie kann man da noch guten Gewissens an dem
Abschlag festhalten? Auch die Justizministerkonferenz
hat daher vollkommen zu Recht auf ihrer jüngsten Tagung
Berlin darin unterstützt, den Abschlag abzuschaffen, und
zwar mit einem Abstimmungsergebnis von 16 : 0; es be-
deutet schon etwas, wenn sich die Länder so einheitlich
verhalten.
Die Behauptung, dass man den Abschlag nur im Ein-
klang mit den neuen Bundesländern abschaffen könne, ist
falsch. So bedarf es doch weder einer Zustimmung des
Bundesrates noch eines sonstigen Votums der neuen Län-
der, geschweige denn eines Gesetzes. Thüringen zum Bei-
spiel aber hält, wie mir vom Bundesjustizministerium
mitgeteilt wurde, eine rasche Aufhebung des Gebühren-
abschlags für unumgänglich. Schließlich besteht dieses
Votum für Berlin nunmehr aufgrund der Beschlüsse des
Bundesrates einstimmig.
Es liegt also allein an der Bundesjustizministerin, mit
der heutigen Debatte, die die letzte des Bundestages vor
dem Weihnachtsfest ist, die Bereitschaft zu zeigen, die
Anwälte und Notare in Ost und West gleich zu behandeln.
– Nein, ich habe nur darauf hingewiesen, dass wir die
Letzten aus dem Rechtsausschuss sind, die in dieser De-
batte noch reden, und dass es jetzt bei der Justizministe-
rin liegt, die Arbeit der Notare in Ost und West gleich zu
behandeln.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der
Kollege Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
legen! In der letzten Debatte dieses Jahrtausends – denn
nach richtiger Rechnung geht das zweite Jahrtausend erst
in diesem Monat zu Ende – geht es wieder einmal um
Geld und letztendlich um die Beseitigung der Folgen der
deutschen Vereinigung.
– Gut, der Teilung und dann der Vereinigung.
Ich verheimliche nicht meine klammheimliche Freude
darüber, dass ein solcher Antrag gestellt wird. Denn dies
gibt mir Gelegenheit, meine grundsätzliche Sympathie
dafür zum Ausdruck zu bringen. Ich selber bin ja Rechts-
anwalt. Sie wollen die Gebühren für Rechtsanwälte in der
Bundesrepublik Deutschland, vor allen Dingen in Berlin,
erhöhen. Dagegen kann ein Rechtsanwalt eigentlich
nichts haben.
Auch die Gründe, die Sie genannt haben und die auf
der Hand liegen, sind richtig:
Die Kosten sind ganz erheblich gestiegen. Die durch-
schnittlichen Einnahmen von Rechtsanwälten in der Bun-
desrepublik, vor allen Dingen in Ostdeutschland, sind ge-
fallen. Sie haben ja die Zahlen von 1996 und 1997
miteinander verglichen. 1998 war die Tendenz ähnlich.
Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass sehr viel
mehr Anwälte tätig sind, wie das auch bei den Ärzten der
Fall ist. Die Anwälte bekommen zudem ihr Honorar nach
sehr viel geringeren Streitwerten. Denn die Streitwerte in
Ostdeutschland sind geringer, weil die Löhne und Mieten
meist niedriger sind als in Westdeutschland. Also bekom-
men wiederum die Anwälte weniger.
Das alles ist sehr zu Herzen gehend und sehr ernst zu
nehmen. Wenn ich mit den Kolleginnen und Kollegen
spreche, dann sagen sie natürlich: Jetzt tu doch endlich
einmal etwas im Deutschen Bundestag, damit die gesetz-
lichen Gebühren den Lebensverhältnissen angepasst wer-
den. Alles d’accord! Ich habe dafür große Sympathie.
Nur, der Partei der angeblichen Gerechtigkeit sage ich:
Sie müssen berücksichtigen – das kommt in Ihrem Antrag
nicht vor –, dass Sie das Geld anderer Leute ausgeben
wollen.
Sie wollen letztlich das Geld der Mandanten ausgeben.
Denn die müssen das nachher bezahlen. Solange die Men-
schen in den östlichen Bundesländern weniger verdienen
und solange der Lohn vieler – auch der im öffentlichen
Dienst tätigen Menschen – mit einem Abschlag versehen
ist, so lange ist überhaupt nicht zu vermitteln, dass ausge-
rechnet bei den Rechtsanwälten eine Ausnahme gemacht
wird.
Nur deshalb – alle übrigen Gründe der Kolleginnen und
Kollegen sind richtig – ist es ungerecht, wenn wir die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Rainer Funke
13853
Gebühren erhöhen. Solange wir es nicht schaffen, das Ni-
veau der Einkommen, vor allen Dingen das im öffentli-
chen Dienst, anzugleichen – es ist natürlich zu fragen,
warum wir das nicht schaffen; Sie haben dazu gestern
Anträge eingebracht; wir haben versucht, da etwas zu än-
dern –, so lange gäbe es eine Gerechtigkeitslücke und so
lange können wir die Anwälte nicht bevorzugen. Das sage
ich, obwohl ich selber davon betroffen bin.
Dazu noch eine Ausnahme: das Land Berlin. Den Be-
schluss der Justizministerkonferenz, den Sie hier genannt
haben, haben Sie zutreffend wiedergegeben. Er ist ein-
stimmig gefasst worden. Nur, in Berlin – Sie haben ver-
gessen, das zu erwähnen – ist die Angleichung der Löhne,
vor allen Dingen die der Einkommen im öffentlichen
Dienst, weitgehend umgesetzt. Deshalb besteht in Berlin
eine Sondersituation. Wenn die Justizminister nun gesagt
haben, in Berlin sei es gerechtfertigt, dass die Gebühren
verändert werden und in Ost und West gesetzlich gleich
sein sollten, dann hat das diesen Grund und spricht eher
dagegen, das im Rest der östlichen Bundesländer genauso
zu machen. Denn genau diese Voraussetzung ist dort nicht
gegeben.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Bitte sehr, Herr Kol-
lege. Das ist die letzte Zwischenfrage in diesem Jahrtau-
send.
Das weiß man noch nicht,
da vermutlich noch ein Vertreter des Ministeriums spre-
chen wird. Vermutlich kommen noch viele Zwischenfra-
gen.
Nein, diese Rede
wurde zu Protokoll gegeben.
Herr Kollege, da Sie die
unterschiedlichen Einkommen in Ost und West beklagen
– in diesem Punkt stimme ich Ihnen zu –, möchte ich Sie
fragen, warum Sie persönlich gegen den Antrag der F.D.P.
gestimmt haben, zum Beispiel die Bundeswehrangehöri-
gen in Ost und West gleich zu besolden.
einem solchen Antrag – so wie jeder andere Abgeord-
nete – gerne zustimmen, erst recht jetzt vor Weihnachten,
aber auch schon vor einem halben Jahr. Die Frage ist aber:
Woher nehmen wir das Geld dafür? Solange wir einen
strapazierten Bundeshaushalt haben, weil alte Schulden
beglichen werden müssen, kann meinem Herzenswunsch
und dem aller
Kolleginnen und Kollegen nicht nachgekommen werden,
die Gehälter der Beamten anzugleichen.
Ihr Antrag ist im Prinzip richtig. Aber er wurde zur Unzeit
gestellt, weil die Finanzierung im Augenblick nicht si-
chergestellt ist.
– Sie haben jetzt das Geld nötig. Aber man muss sich fra-
gen, woher das Geld kommen soll. Darüber können wir
uns – wir haben das bereits gestern getan – weiterhin un-
terhalten.
Ich plädiere dafür, gegen Ihren Antrag zu stimmen,
weil ich der Meinung bin, dass Rechtsanwälte und
Rechtsanwältinnen nicht wollen können, dass eine solche
Gerechtigkeitslücke geschaffen wird.
Nun verabschiede auch ich mich und wünsche Ihnen
allen – wiederum entgegen meinen Berufsinteressen – ein
möglichst streitarmes Weihnachten, ein möglichst rechts-
streitarmes Weihnachten, ein möglichst streitarmes nächs-
tes Jahr, ein möglichst rechtsstreitarmes nächstes Jahr,
nämlich ein friedliches Weihnachten und ein friedliches
neues Jahr.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Andrea Voßhoff von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag der
F.D.P. behandeln wir wieder einmal das Thema „Aufhe-
bung der zehnprozentigen Gebührenermäßigung für
Anwaltsgebühren, aber auch anderer Kostengesetze in
den neuen Ländern“.
Worum geht es konkret? Gemäß Anlage I des Eini-
gungsvertrages ist bei den Gebühren nach der Bundes-
rechtsanwaltsgebührenordnung, aber auch nach anderen
Kostengesetzen für das Gebiet der neuen Länder ein Ab-
schlag vorzunehmen. Dieser belief sich zunächst auf
20 Prozent. Der Kollege Funke hat bereits darauf hinge-
wiesen, dass dieser im Jahre 1996 auf 10 Prozent reduziert
wurde.
Das Ergebnis ist: Für anwaltliche und notarielle, aber
auch für andere justizielle Leistungen wird im Gebiet der
neuen Länder gegenwärtig eine Gebühr von 90 Prozent
der Gebühr nach der westdeutschen Regelung erhoben.
Diese Gebühr will die F.D.P. nun auf 100 Prozent anglei-
chen.
Bereits im vergangenen Jahr – übrigens auch im De-
zember – stand die Frage schon einmal auf der Tagesord-
nung dieses Hohen Hauses, im Zusammenhang mit der
Novellierung des § 78 ZPO.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Hans-Christian Ströbele
13854
Soweit ich den Protokollen entnehmen konnte, waren sich
bereits im vergangenen Jahr fast alle Redner – nicht alle,
Herr Ströbele hat dies gerade erwähnt – zu diesem Thema
einig, dass eine Angleichung der Gebühren in Ostdeutsch-
land an das in Westdeutschland geltende Niveau wün-
schens- und erstrebenswert ist. Ich darf aus der damaligen
Debatte den Staatssekretär Pick zitieren, der für das An-
liegen großes Verständnis signalisierte und für die
Bundesregierung erklärte, alle Bestrebungen zu unterstüt-
zen, die zur Herstellung gleicher Lebensbedingungen
führen.
Mit dem Hinweis auf die noch nicht vorhandenen glei-
chen Lebens- und Einkommensverhältnisse in den neuen
Ländern konnte die Bundesregierung im vergangenen
Jahr dem Vorhaben nicht zustimmen. Ein halbes Jahr spä-
ter, am 2. Juni 2000, hat die Bundesjustizministerin in ih-
rer Begrüßungsrede beim 51. Deutschen Anwaltstag in
Berlin die Forderung nach Aufhebung des zehnprozenti-
gen Ostabschlags dem Grunde nach immer noch für rich-
tig gehalten. Sie verwies aber nach wie vor ebenfalls da-
rauf, dass die für die Abschaffung des bestehenden
Abschlags erforderliche Angleichung der Lebensverhält-
nisse noch nicht vorliege.
Wieder ist ein halbes Jahr vergangen. Mit nahezu vor-
weihnachtlicher Spannung harren wir schon jetzt der Po-
sition, die die Bundesregierung in dieser Frage heute ver-
treten wird. Zumindest werden wir sie im Protokoll
nachlesen können. Wir können ahnen, dass sich diese Po-
sition wahrscheinlich wieder an der Kernfrage orientiert,
die mit diesem Antrag verbunden ist, nämlich die Frage
nach dem Stand der Angleichung der Lebensverhält-
nisse in Ost und West.
Unabhängig von der konkreten Detailforderung der
F.D.P. gilt: Diese Kernforderung, nämlich die Anglei-
chung der Einkommensverhältnisse in Ost und West, ist
von grundsätzlicher Bedeutung; denn sie ist der Dreh- und
Angelpunkt des Aufbaus Ost.
Umso bedauerlicher ist es, dass dieser Tagesordnungs-
punkt Schlusspunkt der heutigen Debatte und damit wohl
auch Schlusspunkt der Debatte im Jahr 2000 ist. Das zeigt
wieder einmal – wenn auch in kleinen Nuancen –, wel-
chen Stellenwert die rot-grüne Regierungsmehrheit der
Entwicklung in den neuen Länder zubilligt.
Etwas zur Chefsache zu erklären heißt für diese Regie-
rung eben noch lange nicht, es auch als solche zu behan-
deln.
Zur konkreten Forderung des F.D.P.-Antrages möchte
ich eines unmissverständlich zum Ausdruck bringen: Ich
halte die perspektivische Angleichung der Gebühren dem
Grunde nach für richtig und geboten.
Angesichts der Tatsache, dass im Jahre 1996 der Ge-
bührenabschlag von 20 auf 10 Prozent reduziert wurde,
liegt die Diskussion um die Streichung auch dieses letzten
Abschlags heute, vier Jahre später, natürlich nahe.
Ich kann die Argumente der betroffenen Standesvertre-
tungen für die Abschaffung des Abschlags nachvollzie-
hen. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass be-
reits geringere Streitwerte, wie wir sie auch in den neuen
Ländern vorfinden, die Höhe der Gebühren nach unten re-
gulieren. Betriebliche Kostenquoten in den Kanzleien von
bis zu 70 Prozent belasten zusätzlich.
Der im vergangenen Jahr bei der Postulationsfähigkeit
in Richtung Rechtsangleichung beschrittene Weg ist kon-
sequent fortzusetzen.
– Hören Sie doch bitte bis zum Ende zu, bevor Sie kriti-
sieren. – Die Frage ist allerdings, ob die Streichung auch
des letzten Abschlags, wie von der F.D.P. gewünscht, zum
jetzigen Zeitpunkt realisierbar ist.
Deshalb müssen wir uns auch mit folgender Frage aus-
einander setzen: Gestalten Sich die Einkommensverhält-
nisse der Menschen in den neuen Ländern mittlerweile so,
dass die Abschaffung des Gebührenabschlags Ost vertret-
bar ist?
Nach einer Recherche der brandenburgischen Landes-
regierung liegt das allgemeine Einkommensniveau unter
Einbeziehung der hohen Erwerbslosenquote in den neuen
Ländern im Vergleich zum alten Bundesgebiet bei etwa
70 Prozent.
Wie dem Jahresbericht 2000 der Bundesregierung
zum Stand der deutschen Einheit zu entnehmen ist, hat
sich die Angleichung der Löhne und Gehälter in letzter
Zeit deutlich verlangsamt. Mittlerweile wurde ein durch-
schnittliches Tarifniveau von 91 Prozent der Westentgelte
erreicht. Während in der Druckindustrie und bei den Ban-
ken die Tarife teilweise bei 100 Prozent der Westtarife lie-
gen, sind zum Beispiel im Hotel- und Gaststättengewerbe
nur rund drei Viertel des Westtarifs erreicht.
Auch nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes
liegen die Einkommensverhältnisse der Menschen im
Osten regelmäßig und teilweise deutlich unter den Ein-
kommensverhältnissen der Menschen in den alten Bun-
desländern. Am besten schneidet danach das Versiche-
rungsgewerbe ab. Der Bruttomonatsverdienst eines ost-
deutschen Angestellten liegt hier bei 86,35 Prozent des
Verdienstes seines westdeutschen Kollegen. Es folgt der
Einzelhandel mit einem Verhältnis von Ost zu West von
circa 80 Prozent, sodann das Kreditgewerbe mit circa
77 Prozent, das produzierende Gewerbe mit circa 74 Pro-
zent und der Großhandel mit circa 72 Prozent. Schluss-
licht bildet nach den aktuellen Zahlen des Statistischen
Bundesamtes das Handwerk. Hier liegen die Vergleichs-
werte durchgängig unter 70 Prozent. Angesichts dieser
Zahlen wird man nicht guten Gewissens von einer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. Dezember 2000
Andrea Voßhoff
13855
Angleichung der Einkommensverhältnisse dieser Berufs-
gruppen sprechen können.
Es bestehen noch weitere Unterschiede: Die Besol-
dung für Richter und Beamte im Osten beträgt gegenwär-
tig 86,5 Prozent des Westniveaus. Sie wird allerdings
rückwirkend ab August dieses Jahres auf 87 Prozent, ab
Januar 2001 auf 88,5 und ab Januar 2002 auf 90 Prozent
angehoben.
Schließlich noch zu dem in den neuen Ländern nieder-
gelassenen Arzt: Die von den ostdeutschen kassenärztli-
chen Vereinigungen ausgehandelten Gesamtvergütungen
für die Behandlung von Kassenpatienten fallen regel-
mäßig geringer aus als diejenigen im Westen. Im Ergeb-
nis verdient der ostdeutsche Arzt durchschnittlich 80 Pro-
zent dessen, was der westdeutsche Kollege verdient.
Angesichts der Tatsache, dass sich die Einkommens-
verhältnisse im Osten denjenigen im Westen bisher nicht
wirklich angeglichen haben, sehe ich zwar dem Grunde
nach Konsens hinsichtlich der Forderung nach einer Ge-
bührenangleichung, bei der zeitlichen Umsetzung jedoch
noch erheblichen Diskussionsbedarf, und zwar in beide
Richtungen.
Natürlich beeinflusst das geringe Einkommen in be-
stimmten Verfahren auch die Streitwerte und damit die
Gebühren der Anwälte. Es reduziert auch die Bereitschaft
in der Bevölkerung, juristische Hilfe in Anspruch zu neh-
men.
Frau Kol-
legin Voßhoff, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Funke?
Bitte schön, Herr Kol-
lege.
Frau Kollegin, sind Sie der
Auffassung, dass wir beispielsweise für das Emsland die
Gebührenordnung für Anwälte nach unten hin angleichen
müssen, weil dort das Durchschnittseinkommen geringer
ist als zum Beispiel in Hamburg?
Herr Funke, dies ist
nicht vergleichbar. Sie können die strukturschwachen und
strukturstarken Regionen innerhalb der alten Länder nicht
zum Maßstab nehmen. Wir machen auch innerhalb der
neuen Bundesländer keine Unterschiede.
Mit welchen Belastungen haben aber Privathaushalte
zu rechnen, wenn Gebührenanpassungen – zumindest im
anwaltlichen Bereich – zu 90 Prozent den privatrechtli-
chen Bereich betreffen?
Die Konferenz der Justizminister der ostdeutschen
Länder vom Oktober dieses Jahres sowie die Konferenz
der Justizminister aller deutschen Bundesländer vom No-
vember halten die Erhöhung der anwaltlichen Gebühren
für das Gebiet aller neuen Länder – bis auf Berlin; Sie ha-
ben es erwähnt – gegenwärtig mehrheitlich nicht für rea-
lisierbar.
Über diese Bedenken können wir uns nicht ohne wei-
teres hinwegsetzen. Ich sehe deshalb in den Argumenta-
tionen und den Diskussionen in den Ausschüssen eine
Möglichkeit und eine entsprechende Notwendigkeit, dass
wir uns intensiver mit diesem Thema beschäftigen,
bedingt auch durch die Zahlen, die ich gerade genannt
habe –, auch hinsichtlich der Auswirkungen einer Er-
höhung.
Eines dürfte klar sein: Wir bewegen uns mit dem An-
trag der F.D.P. in einem Spannungsfeld zwischen dem
Wünschbaren und – da stimme ich Ihnen, Herr Funke,
hundertprozentig zu – Notwendigen auf der einen Seite
und dem Machbaren auf der anderen Seite.
Klar ist aber auch, dass eine Angleichung nicht auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden darf und für
die Betroffenen mit einer klaren, vielleicht zeitlich struk-
turierten Perspektive versehen werden muss.
Ich darf mich den Wünschen meiner Vorredner an-
schließen und Ihnen angenehme Feiertage wünschen.
Vielen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3485 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um in Ihrer aller
Namen den Saaldienerinnen und Saaldienern am Ende
des Jahres für ihre Arbeit für uns alle sehr herzlich zu dan-
ken.
Ihnen allen wünsche ich ein friedvolles und fröh-
liches Weihnachtsfest und einen gelungenen Start in das
Jahr 2001.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 17. Januar 2001, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.