Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir mit unserer Arbeit beginnen, darf ich Sie bit-
ten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
Wir sind erschüttert über die Brandkatastrophe in
der Kapruner Gletscherbahn, die 155 Menschen das
Leben gekostet hat. Am vergangenen Samstag endete ein
sonniger Herbsttag, an dem sich die angereisten Sportler
auf ein unbeschwertes Skivergnügen gefreut hatten, jäh in
der größten zivilen Katastrophe, die unser Nachbarland
Österreich jemals heimgesucht hat. Fast 40 Deutsche sind
unter den Opfern. Viele von uns kennen dieses Skigebiet
oder sind selbst schon mit der Gletscherbahn gefahren.
Wir teilen den Schrecken über das Geschehene.
An dieser Stelle möchte ich allen Kräften, auch jenen,
die von Deutschland aus sofortige Hilfe leisteten, für
ihren Einsatz Dank und Anerkennung aussprechen.
Wir trauern um die Opfer. Unser Mitgefühl gilt den An-
gehörigen der Opfer, ihren Familien, Freunden und allen,
die ihnen nahe standen.
Sie haben sich zu Ehren der Opfer von Ihren Plätzen er-
hoben. Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute feiert der Kol-
lege Manfred Heise seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere
ihm im Namen des Hauses sehr herzlich und wünsche al-
les Gute.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen teilt mit, dass
Herr Günter Saathoff als stellvertretendes Mitglied aus
dem Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwor-
tung und Zukunft“ ausscheidet. Als Nachfolger wird der
Abgeordnete Christian Simmert vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist der Kollege Simmert als stellvertretendes Mit-
glied in das Kuratorium der Stiftung entsandt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-
tung der Bundesregierung zur Rücknahme von deutschem
Atommüll aus der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague
2. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Be-
richt der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversi-
cherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen
und Ausgaben, der Schwankungsreserve sowie des jeweils er-
forderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren
gemäß § 154 SGB VI
– Drucksache 14/2116 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Gemeinsamen Protokoll vom 21. September 1988
über die Anwendung des Wiener Übereinkommens und
– Drucksache 14/3953 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
122. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Kubatschka
Kurt-Dieter Grill
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Zusam-
menlegung des Bundesamtes für Wirtschaft mit dem
12749
133. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Beginn: 9.22 Uhr
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirt-
schaft und Technologie – Drucksache
14/4615 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Verantwortung der früheren Bundesregie-
rung für die Erteilung einer Unbedenklichkeitserklärung
für das atomare Endlager Morsleben
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Wasser-
straßen ausbauen und Nachteile der Deutschen Flagge im
EU-weiten Wettbewerb der Binnenschifffahrt beseitigen
– Drucksache 14/4602 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, fol-
gende Tagesordnungspunkte abzusetzen: Tagesordnungs-
punkt 26 a und b – Bekämpfung gefährlicher Hunde –,
27 a und b – straßenverkehrsrechtliche Vorschriften – so-
wie 30 b – betriebliche Altersversorgung. Der Tagesord-
nungspunkt 28 a und b – es handelt sich um die UVP- und
die IVU-Richtlinie – soll ohne Debatte beraten werden.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir
einen Geschäftsordnungsantrag behandeln. Die Frak-
tion der F.D.P. hat beantragt, den Tagesordnungspunkt 10
– Jahresabrüstungsbericht – und den Tagesordnungs-
punkt 17 – Rüstungsexport – verbunden zu beraten.
Das Wort hat der Kollege Koppelin.
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Tagesordnung weist heute ei-
nige Punkte auf, die uns nicht zufrieden stellen können.
Ich will den Bericht der Ausländerbeauftragten anspre-
chen, der erst zu später Stunde behandelt wird. Wir als
F.D.P.-Fraktion hätten uns gewünscht, dass wir diesen Be-
richt umfassender und vielleicht zu einem anderen Zeit-
punkt, wenn auch die Öffentlichkeit Gelegenheit hat, sich
die Debatte darüber anzuhören, diskutieren könnten.
Das aber mag das Problem der Koalition sein. Wir bit-
ten jedenfalls darum, einen anderen Zeitpunkt für den Be-
richt der Ausländerbeauftragten, den wir für wichtig hal-
ten, zu finden, und darum, die Debatte darüber, für die
jetzt 45 Minuten vorgesehen sind, zu verlängern.
Der Grund unseres Geschäftsordnungsantrags ist: Wir
werden heute etwa gegen 18 Uhr über das Thema Abrüs-
tung und um Mitternacht über das Thema Rüstungsexport
debattieren. Wir als F.D.P.-Fraktion sind der Auffassung,
dass wir über beides zusammen diskutieren könnten, wo-
bei wir die jeweils vorgesehene halbe Stunde Debattenzeit
zusammennehmen möchten, sodass eine einstündige Dis-
kussion möglich wird.
Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Koalition
von Rot-Grün muss sich schon fragen lassen, warum, seit
sie regiert, über Themen wie Rüstungsexporte oder Men-
schenrechte in China ständig in den Nachtstunden debat-
tiert wird.
Man muss fast fragen: Warum scheuen Sie das Tageslicht
beim Thema Rüstungsexport?
– Aufgrund der Zurufe der Sozialdemokraten sage ich Ih-
nen, warum. Ich zitiere aus der „Welt“ vom 3. November
2000. Da hieß es unter der Überschrift „Bom-
bengeschäft“:
Die deutschen Kriegswaffenexporte, von denen es
immer heißt, sie seien restriktiv, haben sich im ver-
gangenen Jahr im Vergleich zu 1998 mehr als ver-
doppelt. Von Beschränkung kann keine Rede sein.
Das ist der Sachverhalt. Sie haben uns neue Rüstungs-
exportrichtlinien auf den Tisch gelegt. Das ist wunderbar,
darüber können wir sprechen. Aber das soll nur der Be-
friedigung der grünen Wähler draußen dienen. Vor allem
die Grünen wandern draußen mit der Friedenspalme
durch die Gegend und hier beschließen sie über Exporte
noch und noch.
Es wird deutlich: Früher haben Sie uns, die alte Koali-
tion, bei den Rüstungsexporten kritisiert. Heute exportie-
ren Sie viel mehr, als es die alte Koalition von F.D.P. und
CDU/CSU getan hat.
Darüber wollen wir zu passender Zeit diskutieren, damit
auch die deutsche Bevölkerung davon Kenntnis nehmen
kann. Wir wollen das nicht um Mitternacht tun. Ich sage
es noch einmal: Scheuen Sie nicht das Tageslicht! Dis-
kutieren Sie mit uns zu einer angemessenen Zeit! Wir
schlagen vor, die beiden Tagesordnungspunkte zusam-
menzufassen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion.
Guten Morgen,Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schonmerkwürdig, dass vonseiten einer der Oppositionsfraktio-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Präsident Wolfgang Thierse12750
nen, nachdem wir über drei Wochen über die heutige Ta-gesordnung gesprochen haben, solche Geschäftsord-nungsanträge gestellt werden, aber nicht mit entsprechen-den Anträgen aufgewartet wird.
Ich frage mich: Wo sind die Anträge der F.D.P. zu denThemen Rüstungsexport und Abrüstung, die uns dazu ge-bracht hätten, diese Themen früher auf die Tagesordnungzu setzen, wie Sie es soeben verlangt haben?
Insofern handelt es sich um eine ganz einfache Kiste. Siehätten alles in der Hand gehabt, aber Sie haben sich vor-her nicht gemeldet. Von daher sehen wir Ihren Antragnicht ein.Wir sehen auch keinen inneren Zusammenhang zwi-schen beiden Themen. Das sage ich sehr nachdrücklich.
Sie ressortieren in zwei unterschiedlichen Ministerienund das allein zeigt schon, dass es keinen direkten Zu-sammenhang gibt.Von daher werden wir Ihren Geschäftsordnungsantragablehnen, auch wenn Sie sehr vordergründig versuchen,daraus noch einmal in polemischer Weise etwas zu ma-chen.Ich schlage den Mitgliedern unserer Fraktion und demHaus im Übrigen an dieser Stelle vor, die Tagesordnungein wenig zu entschärfen und zusammenzufassen, indemich den Antrag stelle, den Tagesordnungspunkt 5 – Rege-lung der Zuwanderung und die Umsetzung der „BerlinerRede“ des Bundespräsidenten – mit dem Tagesordnungs-punkt 16 – Bericht der Ausländerbeauftragten – unter demPunkt 5 des heutigen Tages zusammenzufassen.
– Nein, das haben wir mit Rücksicht auf Sie bisher nichtgemacht; aber nun entschärfen wir die Lage und sorgendafür, dass die Debatte über den Rüstungsexport früherstattfinden kann. Das ist unser Antrag, den ich hier stelle.Ihren Antrag werden wir ablehnen.
Ich erteile dem Kolle-
gen Eckart von Klaeden das Wort.
Eckart von Klaeden (von Abgeordneten
der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren Kollegen! Der heutige Don-
nerstag hat für die Regierungskoalition schlecht begon-
nen. Auch die weitere Tagesordnung verspricht keine
Besserung. Daher ist es verständlich, dass Sie die Fragen
um den Rüstungsexport und die Abrüstung voneinander
trennen wollen. Ihr widersprüchliches Verhalten in der
Rüstungsexportpolitik soll nicht bei Tage, sondern in der
Nacht besprochen werden.
Dass Rüstungsexporte und Abrüstung nichts miteinan-
der zu tun haben, entspricht von der intellektuellen Qua-
lität her den Verteidigungsleistungen des – jetzt wohl ehe-
maligen – Bundesverkehrsministers Klimmt, die wir in
den letzten beiden Tagen leider haben erleben müssen.
Dass ein sachlicher Zusammenhang besteht, darauf haben
Sie in der letzten Legislaturperiode immer wieder hinge-
wiesen.
Dass Rüstungsexporte und Abrüstung zusammen be-
handelt werden müssen, bedarf keiner weiteren Begrün-
dung. Ich will nur einmal darauf hinweisen, dass Sie sich
in der vergangenen Legislaturperiode in über 20 Kleinen
Anfragen, Änderungsanträgen bei der Beratung des
Bundeshaushalts und selbstständigen Anträgen gerade
zum Zusammenhang von Rüstungsexport und Abrüstung
geäußert haben.
Sie haben die Sorge, dass insbesondere Ihre wider-
sprüchliche Rüstungsexportpolitik im Verhältnis zur Tür-
kei zur Sprache kommt. Dabei wollen wir nicht mitma-
chen. Wir unterstützen den Antrag der F.D.P.
Ich erteile der Kolle-gin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, dasWort.
Ehren; aber Wilhelm Schmidt hat darauf hingewiesen,dass wir über die heutige Tagesordnung sehr lange disku-tiert haben. Sie haben vorher diese Punkte nicht vorge-schlagen und sich selber nicht engagiert.Ich will Ihnen, ohne auf den Inhalt einzugehen – dasgehört nicht in eine Geschäftsordnungsdebatte –, dazu nureines sagen: Im Unterschied zu Ihrer Koalition diskutie-ren wir offen und ehrlich über Rüstungsexporte.
– In der Tat ist das so. Die neuen Exportrichtlinien sind einklares Zeichen dafür. Was Sie angeht, so haben wir nochheute mit einem Untersuchungsausschuss zu tun, derFuchs-Panzerlieferungen zum Gegenstand hat. Das ist derUnterschied.Die beiden Debatten gehören nicht zusammen: In dereinen Debatte geht es um außenpolitische Aspekte. Bei
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Wilhelm Schmidt
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dem anderen Punkt geht es um deutsche Rüstungsexporte.Wir werden das unabhängig voneinander debattieren.Aber wir haben Ihnen einen Vorschlag gemacht, wiewir früher am Abend darüber reden können. Wir wollenüber zwei andere Tagesordnungspunkte, die wirklich zu-sammengehören, zusammen debattieren.
Damit erreichen wir eine zeitliche Entspannung. So kön-nen wir früher am Abend über die Rüstungsexporte spre-chen.Vielen Dank.
Ich erteile der Kolle-
gin Heidi Knake-Werner, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich ist das Anlie-
gen der F.D.P.-Fraktion berechtigt. Ich finde es gar nicht
verwerflich, dass die F.D.P.-Fraktion dabei die PDS un-
terstützt. Das ist eine neue Situation im Hause.
Natürlich gibt es einen inhaltlichen Zusammenhang
zwischen dem Jahresabrüstungsbericht der Bundesregie-
rung und unseren Anträgen zu Rüstungsexporten. Insbe-
sondere gibt es diesen Zusammenhang, da sich offen-
sichtlich auch in der neuen Regierungskoalition die
Auffassung durchsetzt, dass man Abrüstung am besten
dadurch bewerkstelligt, dass man die Rüstungsexporte
verstärkt. Das finden wir nicht. Deshalb lohnt es sich,
diese Fragen zusammen zu diskutieren.
Der zweite Punkt, den wir natürlich ebenfalls unter-
stützen, ist, dass solche wichtigen Themen, nämlich die
Kontrolle von Rüstungsexporten, Transparenz bei Rüs-
tungsexporten und Waffen- und Panzerlieferungen in die
Türkei, nicht in Mitternachtsrunden gehören. Ich weiß,
dass diese Themen der Regierungskoalition im Moment
nicht besonders angenehm sind; denn es kracht ja ohnehin
schon ziemlich im Gebälk. Sie in nächtlichen Stunden zu
debattieren finden wir völlig unangemessen, weil sie zu
diesen Zeiten der Öffentlichkeit meist verborgen bleiben.
Das mag ja vielen von Ihnen recht sein, aber uns ist es
überhaupt nicht recht. Deshalb finden wir es richtig, das
zu verändern. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Mehr Licht,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsko-
alition!
Es gibt natürlich auch einen ganz eigennützigen Grund
der PDS: Sie wissen sehr wohl, dass es uns Woche für Wo-
che nervt, dass ausgerechnet unsere Tagesordnungs-
punkte zu oft sehr wichtigen Themen immer in die Stun-
den vor oder kurz nach Mitternacht geschoben werden.
Dann haben wir natürlich immer die Situation, dass wir
nicht mehr diskutieren. Um diese Zeit haben viele Kolle-
gen gute Gründe – manchmal auch nicht so gute Gründe –,
ihre Debattenbeiträge zu Protokoll zu geben. Das führt
natürlich dazu, dass Sie uns mit unseren schlauen Überle-
gungen alleine lassen. Es führt auch dazu, dass der Ideen-
wettstreit mit der linken Opposition in diesem Parlament
kaum mehr stattfindet. Ich finde, das macht den politi-
schen Diskurs ärmer. Auch auf diese Weise kann man
Minderheitenrechte verhunzen.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Über das Pro-
blem „Panzer in die Türkei – ja oder nein“ und über an-
dere Probleme des Rüstungsexportes um 18 Uhr statt, wie
heute geplant, um 23 Uhr zu diskutieren, finden wir span-
nender. Deshalb werden wir dem Antrag der F.D.P. zu-
stimmen.
Ich will im Zusammenhang mit dem Antrag der SPD
einen weiteren Punkt nennen. Die F.D.P. hat erstmals ei-
nen eigenen Tagesordnungspunkt zu einer vernünftigen
Zeit, nämlich zur Kernzeit, einbringen können, wie das
für die kleinen Fraktionen ja wirklich die Ausnahme ist.
Deshalb hat es die F.D.P. in der Runde der parlamentari-
schen Geschäftsführer abgelehnt, den Bericht der Auslän-
derbeauftragten zu diesem Tagesordnungspunkt hinzuzu-
nehmen.
– Nein, das ist nicht völlig sachfremd. Wenn Sie so vor-
gehen, werden auch Minderheitenrechte verletzt.
Denn die Regierungskoalition kann diese Debattenpunkte
der Oppositionsfraktionen – insbesondere der kleinen Op-
positionsfraktionen – dann immer mit eigenen Themen
dominieren. Das wollen wir nicht. Deshalb werden wir
Ihren Antrag diesbezüglich ablehnen.
Eine letzte Klarstellung: Wenn die Punkte so zusam-
mengelegt werden, wie es die SPD beantragt, dann wird
natürlich die Debatte um die Rüstungsexporte noch wei-
ter in die Nachtstunden geschoben. Die Debatte wird da-
durch nicht verkürzt – das ist doch völlig eindeutig –, weil
sich die Redezeiten zu den vorherigen Punkten automa-
tisch verändern. Das zur Klarstellung.
Ich danke Ihnen.
Wir kommen zur Ab-stimmung. Wer dem Geschäftsordnungsantrag der F.D.P.auf Zusammenlegung der Tagesordnungspunkte 10 und17 zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Das Letzte war die Mehrheit. Da-mit ist der Geschäftsordnungsantrag abgelehnt.Wir kommen zum Geschäftsordnungsantrag der SPDauf Zusammenlegung der Tagesordnungspunkte 5 und 16.Wer stimmt diesem Antrag zu? – Wer stimmt dagegen? –Dieser Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ge-gen die Stimmen der PDS-Fraktion und von Teilen derF.D.P.-Fraktion angenommen worden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a bis c sowie Zu-satzpunkt 2 auf:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Katrin Göring-Eckardt12752
3a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform dergesetzlichen Rentenversicherung und zur Förde-rung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermö-gens
– Drucksache 14/4595 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussgemäß § 96 GOb) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionender SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurReform der Renten wegen verminderter Er-werbsfähigkeit– Drucksache 14/4230 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/4630 –Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Meckelburg
– Drucksache 14/4634 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Joachim FuchtelDr. Günter RexrodtDr. Christa LuftDr. Konstanze WegnerAntje Hermenauc) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionender SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurNeuordnung der Versorgungsabschläge– Drucksache 14/4231 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/4620 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Peter KemperMeinrad BelleCem ÖzdemirDr. Max StadlerPetra PauZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung über die gesetzlicheRentenversicherung, insbesondere über die Ent-wicklung der Einnahmen und Ausgaben, derSchwankungsreserve sowie des jeweils erforderli-chen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalender-
– Drucksache 14/2116 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussZum Gesetzentwurf zur Reform der Renten wegen ver-minderter Erwerbsfähigkeit liegen ein Änderungsantragder Fraktion der CDU/CSU, zwei Änderungsanträge derFraktion der PDS sowie jeweils ein Entschließungsantragder beiden genannten Fraktionen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesmi-nister für Arbeit und Sozialordnung, Walter Riester, dasWort.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Prä-sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Überdie Probleme der Rentenkassen wurde schon seit Jahrennur gesprochen. Wir haben bereits im letzten Jahr ent-schlossen gehandelt: Wir haben die versicherungsfrem-den Leistungen aus der Rentenkasse herausgenommenund die Beitragssätze gesenkt. Heute leiten wir den Ge-setzgebungsprozess ein, indem wir über Lösungen disku-tieren, um dann entschlossen zu handeln.
Dabei geht es uns zunächst darum, einen fairen Aus-gleich zwischen den Generationen zu finden. Das ist un-ser Weg und wir meinen, dass das der einzig gangbareWeg ist. Wir haben einen Lösungsvorschlag auf den Tischgelegt, der diesem Anspruch gerecht wird. Bei unsererRentenreform sind Junge und Ältere gleichermaßen Ge-winner. Wir schaffen Gerechtigkeit zwischen den Gene-rationen, wir setzen auf Solidarität mit Gewinn sowie aufSicherheit und Bezahlbarkeit. Deswegen konzentrierenwir uns auf vier Schwerpunkte:Erstens. Wir ergänzen die gesetzliche Rente mit einerzusätzlichen kapitalgedeckten Rente und werden damitdas Rentenniveau – insgesamt dauerhaft anheben.Zweitens. Wir werden den Weg, die Rentenversiche-rungsbeiträge zu senken, konsequent fortsetzen und zu ei-ner Stabilisierung der Beiträge und damit zu einer Be-grenzung der Lohnnebenkosten kommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Präsident Wolfgang Thierse12753
Drittens. Wir werden insbesondere die Menschen – dasbetrifft vor allem Frauen – unterstützen, die durch Unter-brechung ihrer Erwerbstätigkeit oder aufgrund einer ge-ringeren Bezahlung infolge Kindererziehung letztlichniedrigere Renten haben. Damit muss Schluss sein!
Viertens. Wir möchten die verschämte Altersarmut indiesem Land beenden, weil die Politik nicht darauf setzendarf, dass ältere Menschen aus Scham oder weil sie denRückgriff auf die Kinder scheuen, ihre berechtigten An-sprüche nicht anmelden. – Das sind unsere Ziele.Das Herzstück unseres Gesetzentwurfs ist die Förde-rung des Aufbaus eines zusätzlichen Altersvermögens.Diese Altersvorsorge ist freiwillig und zusätzlich. Sie istalso kein Ersatz, sondern eine Ergänzung der gesetzlichenRente. Wir werden den Aufbau dieser zusätzlichen Al-tersvorsorge durch umfassende staatliche Zulagenunterstützen. Wir haben das Ziel, das Versorgungsniveauim Alter insgesamt zu erhöhen. In Zukunft soll die ge-setzliche Rente als Basis durch eine zusätzliche Rente er-gänzt werden.Damit die Möglichkeit eines zusätzlichen Vermögens-aufbaus kein Privileg von wenigen wird, starten wirdas größte Programm zur Förderung eines Alters-vorsorgevermögens, das jemals in dieser Republik aufge-legt worden ist. Wir wollen, dass alle Rentenversichertendie Möglichkeit erhalten, sich ergänzend abzusichern.Dies betrifft vor allem die Menschen, die nicht viel ver-dienen oder mittlere Einkommen haben – also vor allemjunge Familien mit Kindern –, die im Gegensatz zu Bes-serverdienenden eine zusätzliche Altersvorsorge bislangnicht betreiben können.Dieses Ziel ist uns fast 20Milliarden DM jährlich wert;der Startschuss soll im Jahr 2002 fallen. Damit niemandfinanziell überfordert wird, beginnen wir im ersten Jahrmit einem Beitrag von 1 Prozent des Bruttoentgelts. DerStaat gibt von Anfang an Geld dazu. Der Beitrag steigt ininsgesamt vier Schritten alle zwei Jahre um jeweils 1 Pro-zent und erreicht im Jahre 2008 insgesamt vier Prozentvom Bruttoentgelt.Vom Staat werden all diejenigen gefördert, die in diegesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Nach der An-laufphase bekommen Alleinstehende 300 DM im Jahr,Verheiratete 600 DM und für jedes Kind gibt es 360 DM.Ich mache dies deutlich am Beispiel einer Familie mitzwei Kindern und einem Jahresverdienst von durch-schnittlich 50 000 DM: Wenn diese Familie jährlich680 DM für die Altersvorsorge aufwendet, dann gibt derStaat 1 320 DM dazu, nämlich 300 DM für den Ehemann,300 DM für die Ehefrau, 360 DM für das erste Kind und360 DM für das zweite Kind. Das ist die breite Förderungdurch die von allen gewünschte ergänzende Altersvor-sorge.
Wer monatlich auf seinen Lohnzettel schaut, der weiß,dass die Schmerzgrenze bei den Abgaben längst erreichtist. Deswegen sind Fragestellungen, die die Abgaben be-treffen, für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Landein zentraler Punkt. Auch für die Betriebe ist das wichtig.Wir haben sehr schnell erste Schritte eingeleitet und ha-ben den Rentenversicherungsbeitrag auf 19,3 Prozent ab-gesenkt. Gestern hat das Kabinett beschlossen, ab dem1. Januar nächsten Jahres den Rentenversicherungsbei-trag erneut um 0,2 Prozentpunkte auf 19,1 Prozent abzu-senken.
Noch wichtiger aber ist es, diese Beiträge langfristigzu stabilisieren und auf niedrigem Niveau zu halten. Des-wegen werden wir durch diese Reform sicherstellen, dassder Beitragssatz mindestens zehn Jahre unter 19 Prozentund mindestens 20 Jahre unter 20 Prozent bleibt. AufJahre hinaus bedeutet dies, dass die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer mehr Geld in den Taschen haben unddass die Unternehmer mehr Spielraum haben, um zu in-vestieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Denn immer wei-ter steigende Beitragssätze hätten negative Konsequenzenfür die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Lande.Die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages von20,3 Prozent auf 19,3 Prozent, die wir schon vorgenom-men haben, bringt für die Arbeitgeber und für die Arbeit-nehmer eine Entlastung von insgesamt rund 16 Milliar-den DM. Dabei entfallen 8 Milliarden DM auf dieBeschäftigten und 8Milliarden DM auf die Betriebe. Die-ser Weg wird weitergegangen.In vielen Gesprächen mit älteren und jüngeren Men-schen wurde ich immer wieder besorgt gefragt, wie vielGeld die Rentner in Zukunft zur Verfügung haben werden.Dazu muss man Folgendes ganz klar sagen: Für die heu-tigen Rentner wird sich nichts ändern. Ihre Renten werdenab dem 1. Juli nächsten Jahres an die Lohnentwicklungkontinuierlich angepasst. Dies wird sich nicht ändern.
Auch für diejenigen, die 55 Jahre und älter sind, wird sichnichts ändern. Sie werden ihre Renten auf gleichem Ni-veau bekommen und sie werden bis zum Ende ihres Ren-tenbezuges entsprechend der Lohnentwicklung ange-passt. Bei den Jüngeren ist dies so nicht zu verwirklichen.Die Menschen werden älter; darüber freuen wir uns.Durch die längere Lebenserwartung werden sie ein Mehran Rentenleistung bekommen, da sie länger Rente bezie-hen. Allerdings werden wir einen Ausgleichsfaktor ein-führen, der dieser Entwicklung ab dem Jahr 2011 in be-schränktem Umfang Rechnung trägt: Der Ausgleichsfaktorbeginnt mit 0,3 Prozentpunkten ab dem Jahr 2011. Es wirdim Jahr 2030 bei 6 Prozentpunkten begrenzt. Dennoch er-halten die Rentner durch die verlängerte Bezugszeit derRente ein insgesamt größeres Rentenvolumen.Unhabhängig davon ist es wichtig, Vorsorge zu tref-fen. Das ist der entscheidende Ansatz. Damit die Men-schen dies leisten können, bauen wir die ergänzende, ka-pitalgestützte Vorsorge auf und unterstützen das geradefür Personen mit geringerem und mittlerem Verdienst so-wie für Familien mit Kindern in ganz erheblichem Maße.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Bundesminister Walter Riester12754
Ein weiterer Punkt: Wir werden mit der Rentenreformdafür sorgen, dass das fortwährende Ärgernis der Exis-tenzgefährdung vieler Menschen im Alter, weil sie in ih-rer Erwerbsbiografie Unterbrechungen wegen der Erzie-hung ihrer Kinder haben, beendet wird. Wir werden mitdieser Reform dafür sorgen, dass die niedrigeren Verdien-ste derjenigen, die Kindererziehung mit Erwerbstätig-keit verbunden haben, rentenrechtlich höher bewertetwerden, und zwar maximal bis zum Durchschnittsver-dienst aller Versicherten. Die rentenrechtlichen Anwart-schaften werden bis zum zehnten Lebensjahr des Kindeshöher als bisher bewertet. Das betrifft im Regelfall dieFrauen.Nun gibt es Fälle, in denen mehrere Kinder gleichzei-tig erzogen werden und eine Erwerbstätigkeit deswegengar nicht möglich ist. Wir werden auch die Rentenan-sprüche derjenigen, die zwei oder mehr Kinder gleichzei-tig erzogen haben, höher als bisher bewerten und fürdiese – das sind im Regelfall Frauen – erstmals sicher-stellen, dass Arbeitsunterbrechungen wegen Kindererzie-hung nicht im Rentenalter zu Armut führen.
Wir wissen um die Schwierigkeiten gerade der Men-schen, die behinderte Kinder erziehen. Deswegen wollenwir sicherstellen, dass diejenigen, die ein behindertes Kinderziehen und deswegen häufig nicht erwerbstätig sein kön-nen, nicht im Alter bestraft werden. Wir werden die Ren-tenansprüche im Fall der Erziehung eines behindertenKindes in den ersten 18 Lebensjahren höher als bisher be-werten, sodass die Menschen, die die anspruchsvolle Auf-gabe übernommen haben, ein behindertes Kind zu erzie-hen, nicht im Alter bestraft werden.
Wir werden darüber hinaus dafür sorgen, dass der Staatjunge Menschen unterstützt, die nicht gleich in das Er-werbsleben eintreten können und deswegen Lücken in ih-rer Erwerbsbiografie haben. Auch für diese werden wirrentenrechtliche Lücken schließen. Damit stellen wir unskonsequent der Aufgabe, dass Unterbrechungen zu Be-ginn des Arbeitslebens im Falle von Frühinvalidität nichtzu Armut führen.
Nun möchte ich auf ein Thema zu sprechen kommen,das mich sehr bewegt, das sehr ernst zu nehmen ist undum das immer wieder öffentlich gestritten wird, nämlichdie Frage: Wie können wir verschämte Altersarmutbekämpfen bzw. dafür sorgen, dass sie erst gar nicht auf-tritt? Wir alle wissen, dass die Statistiken die Altersarmutnur unzureichend ausweisen. Viele ältere Menschen mitgeringen Renten und ohne Rücklagen scheuen den Gangzum Sozialamt. Viele ältere Menschen haben auchAngst – aus welchen Gründen auch immer –, dass einRückgriff auf die Kinder mit dem Hinweis auf die Unter-haltspflicht erhebliche Probleme aufwerfen könnte. Da-rauf, dass Menschen aufgrund ihrer Ängste auf eine Exis-tenzsicherung im Alter verzichten, darf Politik nichtsetzen, zumindest möchte ich keine Politik vertreten, mitder bewusst oder unbewusst darauf gesetzt wird.
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grund?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja.
Herr Minister, Sie brin-gen heute eines der wichtigsten Reformvorhaben der rot-grünen Bundesregierung ein. Wie bewerten Sie eigentlichdie Tatsache, dass bei Ihrer Einbringungsrede nur einMinister auf der Regierungsbank anwesend ist und derBundeskanzler während Ihrer Rede den Plenarsaal ver-lassen hat?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Ich darf Ihnen versichern, dass wir gesternim Kabinett gerade über das jetzige Thema sehr intensivdiskutiert haben und geschlossen der Meinung waren:Dieser Gesetzentwurf wird in dieser Form eingebracht.
Ich habe, bevor ich unterbrochen wurde, über die Men-schen gesprochen, die unserer Unterstützung im besonde-ren Maße bedürfen.
– Vielleicht kann man sich wieder auf die Aufgabe kon-zentrieren, den Menschen zu helfen, die unserer Unter-stützung bedürfen. Damit ist es mir sehr ernst.
Wir wollen zwei Dinge zur Vermeidung von ver-schämter Armut sicherstellen: Die Rentenversicherungs-träger sollen hierzu Information und Beratung bei der An-tragstellung verbessern und damit unterstützende undergänzende Hilfen anbieten. Wir wollen zweitens auf denUnterhaltsrückgriff bei Kindern und bei Eltern ver-zichten. Dies ist ein richtiger Schritt, um auch diesenMenschen Sicherheit im Alter und bei dauerhafter Er-werbsminderung zu gewähren.Wir haben heute die zweite und dritte Lesung zu denErwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten. Ich habe inder ersten Lesung darauf hingewiesen, dass wir zwar diegrundlegende Richtung des Rentenreformgesetzes 1999in Bezug auf die Frage der Erwerbsunfähigkeit mittragen,dass wir aber entscheidende soziale Schieflagen korrigie-ren. Wir korrigieren die Schieflage, dass Menschen, dienoch teilerwerbsfähig sind und zwischen drei und sechsStunden arbeiten können, aber arbeitslos sind und in derRegel keine Chance haben, einen Arbeitsplatz zu bekom-men, nicht rentenrechtlich abgestraft werden, sondernweiterhin eine volle Erwerbsunfähigkeitsrente erhalten.
Wir stellen sicher, dass die 40-Jährigen und Älterennicht, wie von der früheren Regierung vorgesehen, sofortihren Berufsschutz verlieren, sondern dass sie weiterhinbei Berufsunfähigkeit eine Teilrente wegen Berufsun-fähigkeit erhalten.
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Wir stellen sicher, dass die Schwerbehinderten bei derHeraufsetzung des Rentenzugangsalters eine weitere Fristbekommen, bei der die 50-Jährigen und Älteren weiterhinnach altem Recht mit 60 Jahren ohne Rentenabschläge inden vorgezogenen Altersruhestand gehen können. Das istfür diese Menschen ganz entscheidend.
An diesem Punkt hatte ich in der ersten Lesung denEindruck – das wurde auch in vielen Punkten signali-siert –, dass zumindest hier ein breiter Konsens im Parla-ment vorhanden ist und wir die Zustimmung der Opposi-tion gewinnen können. Es wird sich heute zeigen, ob dieOpposition in dieser Frage zumindest die Kraft hat, in die-ser entscheidenden Frage mitzustimmen.
Unsere Reform hat viele Gewinner. Deshalb werdenwir die vier Ziele, die ich vorgetragen habe, unbeirrtdurchsetzen. Die Gewinner sind alle heutigen Rentner.Ihre Renten werden gesichert. Sie werden kontinuierlichentsprechend der Lohnentwicklung angehoben. Sie wis-sen auch, dass sie bezahlbar bleiben.
Die Gewinner sind vor allem auch die jüngeren Men-schen, die Beitragszahler, weil sie wissen, dass dieBeiträge nicht kontinuierlich ansteigen, dass die Lohnne-benkosten begrenzt werden und dass sie gleichzeitig einebreite soziale Unterstützung bekommen zum Aufbau ei-ner ergänzenden kapitalgedeckten Vorsorge. Sie wissen,dass die Gesamtvorsorge im Alter stabil ist.
Die Gewinner sind Frauen und kinderreiche Familien,die im besonderen Maße durch die Reform besser gestelltsind. Die Gewinner sind vor allem sozial Schwache, aufderen Situation sich diese Reform einstellt. Sie bietetHilfe an.
Deswegen ist diese Reform viel mehr als eine überfäl-lige und notwendige Reparatur. Diese Reform ist eine zu-kunftsweisende Reform über mehrere Jahrzehnte. DieRentenversicherung wird um eine zusätzliche Altersvor-sorge ergänzt: Wir kombinieren Solidarität mit Eigenver-antwortung. Mit staatlicher Förderung starten wir dasgrößte Programm zum Aufbau von Altersvermögen. Wirsetzen auf Solidarität mit Gewinn, und wir setzen auf Si-cherheit und Bezahlbarkeit. Es lohnt sich, an diesem Kon-zept festzuhalten und dies auch gegen Widerstände durch-zusetzen. Denn dies ist eine Reform, die viele Gewinnerhat. Die neue Rente vereint, was allen nützt: Solidaritätmit Gewinn.Es ist lange geredet worden. Jetzt muss gehandelt wer-den, und zwar zügig.
Die Weichen sind gestellt, der Zug setzt sich in Bewe-gung. Die heutige Verabschiedung der Reform der Er-werbsunfähigkeitsrenten ist die erste Station auf dem Wegzu einer großen Rentenreform.
Ich lade auch die Union ein, einzusteigen; bevor das Si-gnal ertönt: Die Türen schließen selbsttätig.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kolle-gen Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.Horst Seehofer (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion führt zurzeit ei-nen intensiven rentenpolitischen Dialog mit allen gesell-schaftlichen Gruppen. Bei unserem gestrigen Gesprächhaben uns alle Verbände die Frage gestellt: Wozu sollenwir eigentlich Stellung nehmen? Der Gesetzentwurf, derheute vorliegt, gilt in seinen wesentlichen Bestandteilenbereits nicht mehr. Er soll geändert werden und das, wasneu kommen soll, ist nicht bekannt. Niemand in der Re-publik weiß noch, was auf ihn zukommt, weder die Rent-ner noch die Beitragszahler.
Chaos ist bei dieser Koalition Programm. Nicht die Ge-werkschaften, nicht die Sozialverbände, nicht die Oppo-sition, sondern die ständigen taktischen Haken des Bun-desarbeitsministers haben Beitragszahler und Rentner inder Bundesrepublik Deutschland verunsichert.
Ich nehme als Beispiel die Rentenformel, die Vertrau-ensgrundlage unserer gesetzlichen Rentenversicherung.Danach bestimmen sich die jährliche Rentenanpassungund das Rentenniveau. Ich möchte Ihnen einmal auf-zählen, was die Regierung in den letzten zwölf Monatenhier angestellt hat: 1999 Anpassung nach der Nettolohn-entwicklung. Im Jahr 2000 gab es einen doppelten Wort-bruch: Anpassung – entgegen den Wahlversprechungen –nach Inflationsrate, nicht nach Nettolohnentwicklung.Die dabei zugrunde gelegte Inflationsrate war nicht vondiesem Jahr, sondern vom letzten Jahr. Dafür hat sich derBundeskanzler bei den Rentnern entschuldigt. Für dasnächste Jahr steht eine Anpassung nach Inflationsrate imGesetz, was jetzt wieder in Nettolohnanpassung geändertwerden soll. Im Jahre 2002 soll ein modifiziertes Netto-lohnprinzip gelten. Herausgerechnet werden soll die dannerfolgte Steuersenkung, was inzwischen aber in der Re-gierung wieder umstritten ist. Darüber, wie die Rentenan-passung im Jahr 2002 erfolgen soll, wird diskutiert.So geht es lustig weiter: Für 2003 ist die nächste Rundeder Änderungen angesagt. Dann soll die Rentenanpas-sung doppelt modifiziert werden. Herausgerechnet wer-den die Steuersenkung und der 2002 eingeführte 1-pro-zentige Beitrag zur privaten Altersvorsorge. Im Jahre2004 wird wieder geändert. Da wird der private Vorsor-
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gebeitrag erneut zur Hälfte angerechnet, obwohl im Jahre2003 ein Vorsorgebeitrag überhaupt nicht anfällt.Meine Damen und Herren, in sechs Jahren sechs Än-derungen der Rentenformel! Am schönsten hat es die„Frankfurter Rundschau“ kommentiert:Wer das jetzt nicht verstanden hat, braucht deshalbnicht an seiner Intelligenz zu zweifeln. Entstanden istein bürokratischer Albtraum.
Ich füge hinzu: Innerhalb von sechs Jahren sechs Än-derungen, das ist ein Weltrekord der Pfuscherei.
Herr Bundeskanzler, den bisherigen Rekord hält auchdiese Regierung. Aufgestellt wurde er vor einem Jahr vonder Bundesgesundheitsministerin, die hier eine Reformvorlegte, die sie gar nicht wollte. Der Ausschuss legte ei-nen ganz anderen Reformvorschlag vor, als die Regierungbeabsichtigt hatte.Dies erwähne ich zum Stichwort Verunsicherung, weilder Arbeitsminister dazu neigt, uns vorzuhalten, die Op-position, Gewerkschaften und Sozialverbände seien bös-artig und verstünden das nicht. Nein, diese pausenloseTaktiererei und der pausenlose Zickzackkurs haben zu ei-ner Verunsicherung bei 18 Millionen Rentnern und30 Millionen Beitragszahlern geführt, wie es in der Ge-schichte der Rentenversicherung nie zuvor der Fall war.
Nun wird die Beitragssatzstabilität groß gefeiert. Da-bei wird verschwiegen, dass die Beiträge zur gesetzlichenRentenversicherung langfristig auf 22 Prozent ansteigen.Der Öffentlichkeit wird pausenlos verschwiegen, dass dieÖkosteuer die Menschen zusätzlich belastet, obwohl diedamit verbundenen Einnahmen des Staates der Renten-versicherung zugeführt werden. Die Ökosteuer ist inWahrheit nichts anderes als der Rentenbeitrag an derTankstelle.
Man muss beides zusammenzählen: Die Kombinationaus steigenden Rentenversicherungsbeiträgen und Öko-steuer wird die Menschen bei der Finanzierung der ge-setzlichen Alterssicherung in Zukunft mehr belasten als jezuvor. Zum Dank dafür bekommen sie weniger Rentedenn je. Das – mehr zahlen und weniger Rente – ist dieFolge Ihrer Politik!
Ich habe gerade gehört, es gebe nur Gewinner.
Ich beginne mit dem so genannten Ausgleichsfaktor. Ob-wohl der Arbeitsminister und die Koalition am Dienstagbeschlossen haben, dass der Ausgleichsfaktor verändertwerden soll, gehe ich von dem aus, was heute vorliegt:Ausgleichsfaktor heißt, dass für die Menschen, die abdem Jahre 2011 in Rente gehen, 20 Jahre lang jährlich0,3 Prozent, insgesamt also 6 Prozent, von der Rente ab-gezogen werden. Es handelt sich um einen semantischenTrick: Es ist kein Ausgleichsfaktor, sondern ein Kür-zungsfaktor.Der Kürzungsfaktor trifft nur die junge Generation. Jespäter ein Angehöriger dieser Generation in Rente geht,desto höher ist der Abzug. Herr Bundeskanzler, das ist einProgramm zur Frühverrentung, weil künftig derjenige derDumme ist, der länger arbeitet; denn dann bekommt er ei-nen Rentenabschlag.
Diese Rentenreform bürdet den heute 20-, 30- und40-Jährigen überproportionale Lasten auf. Deshalb, HerrArbeitsminister, ist die junge Generation der Verlierer die-ser Reform.
Ihr Rentenniveau liegt um 13 Prozentpunkte niedriger alsdas heutige. Dazu kommt eine Beitragssteigerung vonheute 19,1 Prozent auf 22 Prozent. Außerdem werdensie in den nächsten 30 Jahren bis zu 4 Prozent ihres Ein-kommens für die private Altersvorsorge aufbringen müs-sen. Ich stelle fest: höhere Beiträge, geringeres Rentenni-veau. Der Bundesfinanzminister hat in einer Rede in derHumboldt-Universität diese Woche gesagt, dass diese Ge-neration zwei Jahre länger arbeiten soll.
Trotz höherer Beiträge, eines geringeren Rentenniveausund einer längeren Lebensarbeitszeit stellt sich der Ar-beitsminister hier hin und behauptet, es gebe Gewinnerbei dieser Reform. In Wirklichkeit gehört die junge Ge-neration zu den großen Verlierern dieser Reform.
Ich möchte Ihnen heute wieder ein Angebot machen:Alle, der Verband der Rentenversicherungsträger, derVdK – das ist die Vertretung der Rentner –, die Opposi-tion, insbesondere die Union, die Gewerkschaften und dieArbeitgeber fordern seit Wochen und Monaten, mit diesersozialen Schieflage, mit dieser Ungerechtigkeit auf-zuhören. Die Forderung lautet: Weg mit dem Ausgleichs-faktor und her mit dem einzigen gerechten Instrument,dem Demographiefaktor!Damit Sie den Verantwortungswillen der Oppositionsehen, sage ich: Wir sind bereit, bei einem Demogra-phiefaktor mitzumachen, wie ihn die Gewerkschaftenund die Arbeitgeber im Zusammenhang mit den Ge-sprächen beim VDR vorgeschlagen haben. Dieser Demo-graphiefaktor soll ab dem Jahre 2011 für alle, für diejeni-gen im Rentenbestand und für diejenigen im Ren-tenzugang, gelten. Die Anpassung der Renten soll sichnach den Lohnsteigerungen richten. Zum Ausgleich fürdie steigende Lebenserwartung und die längere Renten-laufzeit soll ein Abschlag von 0,25 Prozentpunkten erfol-gen. Doch das würde bedeuten, dass alle Generationen an
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der Finanzierung der steigenden Lebenserwartung ge-recht beteiligt werden. Außerdem hätte dieser Weg dengroßen Vorteil, dass das Rentenniveau in den Jahren 2020bis 2030 sogar höher läge, als Sie es vorsehen. So siehtunsere Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortungaus.
Unsere Vorschläge scheitern bisher nur daran, dass Siesich auf Gedeih und Verderb dem – richtigen – Demogra-phiefaktor von Norbert Blüm nicht annähern wollen.
Herr Bundeskanzler, ich mache Ihnen das Angebot:Übernehmen Sie diese Zahlen und nennen Sie den Faktormeinetwegen anders! Sie können ihn Riester-Faktor,VdK-Faktor oder DGB-Faktor nennen.
Wichtig ist, dass es zu einer gerechten Lastenverteilungzwischen Jung und Alt kommt.
Das Herzstück ist die private Vorsorge. Ich darf daraufhinweisen, dass die Fraktion der CDU/CSU die ersteFraktion des Deutschen Bundestags war, die dazu einenganz konkreten Vorschlag gemacht hat. Wir haben öffent-lich gesagt, dass die gesetzliche Rente durch private undbetriebliche Altersvorsorge ergänzt werden muss und dassman den Familien und den kleinen Leuten bei der Finan-zierung der Vorsorgebeiträge helfen muss. In der Grund-idee stimmen wir überein. Aber ich muss sagen: Hand-werklich ist es äußerst miserabel umgesetzt worden.
Ich möchte das auch begründen: Der Grundfehler bestehtdarin, dass die gleiche Regierung, die uns monatelangaufgefordert hat, schnell zu einem Konsens zu kommen,damit es möglichst schnell zu einer Regelung der priva-ten Vorsorge – dem Herzstück der Reform – kommenkann, jetzt das In-Kraft-Treten der privaten Vorsorge umein Jahr verschiebt. Je rascher wir eine Regelung zur Vor-sorge umsetzen, meine Damen und Herren, desto günsti-ger ist es für die Menschen. In diesem Bereich gilt wirk-lich der Satz: Verlorene Zeit ist verlorenes Geld.
Deshalb ist es ein fataler Fehler, dass Sie die Einführungder privaten Vorsorge um ein Jahr verschieben.
Bei dieser Regierung muss man ja immer ein wenighinterfragen, ob die vorgetragenen Argumente zutreffen.Die Verschiebung wurde mit Barmherzigkeit gegenüberden Ländern begründet. Die Haushalte der Länder seienjetzt durch die Steuerreform finanziell belastet, die privateVorsorge müsse verschoben werden, weil die Länder nichtauch noch die Einführung der privaten Vorsorge im Jahre2001 mitfinanzieren könnten. Ich habe einmal in denRegierungsmaterialien nachgeschaut, in welcher Formdie Bundesländer durch die steuerliche Begünstigung derprivaten Vorsorge und die Zulagenförderung im Jahre2001, würde sie denn schon im Jahre 2001 eingeführt– ich hoffe, das wird noch erfolgen –, betroffen wären.Insgesamt würden die Belastungen im Rechnungsjahr2001 für Bund, Länder und Kommunen 537 MillionenDM ausmachen. Davon entfielen auf die Länder 216 Mil-lionen DM. Bei 16 Bundesländern entfielen auf jedesBundesland durchschnittlich 13 Millionen DM. Glaubtdiese Regierung wirklich, sie könne uns wegen einerdurchschnittlichen Belastung eines jeden Bundeslandes inHöhe von 13 Millionen DM verkaufen, dass die Ein-führung der privaten Vorsorge vom Jahre 2001 auf dasJahr 2002 verschoben werden muss? Nein, das ist nichtder wahre Grund.Der wahre Grund ist, dass Sie im Jahre 2002 den Men-schen erneut die Unwahrheit sagen wollen, so wie Sie es1998 bei der Rente auch gemacht haben.
– Liebe Frau Schmidt, ich lese Ihnen gerne vor, was dieFraktionschefin der Grünen, Kerstin Müller, am Diens-tagvormittag im Hessischen Rundfunk
– in dieser Woche – gesagt hat:
Die Taktik, die Einschnitte auf die Zeit nach der Bundes-tagswahl 2002 zu verschieben, sei doch durchsichtig. Dasgeschehe, so sagte sie, aus wahltaktischen Gründen. AmVormittag sagt sie das, bekommt aber dann in wenigenStunden so viel Geschmack daran, den Wählern die Wahr-heit vorzuenthalten. Herr Schlauch, einen Menschen, derso kraftvoll wie Sie angetreten und angelaufen ist, dannaber so kurz springt, nennt man in Oberbayern einen„Spargeltarzan“.
Vormittags wird von den Grünen gesagt, ein solches Vor-gehen sei reine Wahltaktik, nachmittags aber stimmt mandiesem Wählerschwindel zu. Das sind die Grünen desJahres 2000.
Die Wahrheit ist, dass die Koalition – dafür kämpft siejetzt – im Wahljahr Wohltaten verteilen will, aber dann,wenn die Stimmabgabe erfolgt ist, Rentenkürzungen be-absichtigt.Herr Riester, es ist nicht wahr, dass die Bestandsrent-ner nicht betroffen sind.
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Durch die Verringerung der Rentenanpassungen in dennächsten acht Jahren in Höhe der Vorsorgebeiträge, dievöllig systemfremd sind, werden den Rentnern, die heuteschon Rente bekommen, bei den Rentenanpassungen4 Prozent ihrer Rente weggenommen. Bei jemandem, der2 000 DM Rente als langjährig Versicherter bekommt,machen 4 Prozent 80 DM im Monat aus.
Was für ein Zirkus ist in Deutschland wegen 5 DM Selbst-beteiligung veranstaltet worden? Jetzt werden 100, 80bzw. 60 DM im Monat einfach abgeräumt.
Die Ausgestaltung der privaten Vorsorge ist geradezuein Treppenwitz. Bei dem Spitzengespräch beim Bundes-kanzler, wo er auf einem Wisch hierfür 19,5 Milliar-den DM angeboten hat, war noch keine Rede von einerKinderkomponente. 30 DM pro Kind im Monat war un-ser Vorschlag. Monatelang ist uns gesagt worden, das seinicht finanzierbar; diese Forderung zeuge von einer un-verantwortlichen Handlungsweise der Opposition.
Die betrieblichen Altersversorgungen bieten im RegelfallSchutz bei Tod und Invalidität. Sie schreiben jetzt aber insGesetz, dass eine betriebliche Altersversorgung nur ge-fördert wird, wenn sie nicht vor dem 60. Lebensjahr aus-bezahlt wird. Wenn nun aber dummerweise jemand vorErreichen des 60. Lebensjahres stirbt oder erwerbsun-fähig wird, dann bekommt er nichts. Das ist doch einTreppenwitz!Das Wohneigentum ist nicht in die Förderung einbe-zogen, genauso wenig wie die Altverträge der Lebens-versicherungen. Wie soll denn das gehen, wenn jemandaus einer Hypothek, die er für den Kauf einer Eigentums-wohnung für seine Familie aufgenommen hat, eine Be-lastung von 1 500 DM hat? Die berücksichtigen Sie nichtals Altersvermögensbildung. Sie verpflichten den noch,4 Prozent seines Einkommens in die Riester-Altersver-mögensbildung zu zahlen.
Auch wenn jemand seit 20 Jahren in die Lebensver-sicherung einbezahlt hat und noch weitere 20 Jahre ver-pflichtet ist, zählt das nach Ihrem Konzept nicht zur Al-tersvermögensbildung. Jetzt haben Sie über Nacht nochetwas zusammen geschustert, von dem uns gestern dieVerbände sagten: Das ist absolut nicht zu praktizieren.Angenommen, eine Familie mit zwei Kindern hat Ver-pflichtungen aus der Lebensversicherung. Jetzt kommtder Herr Riester und sagt: 4 Prozent zusätzlich! Wenndiese Familie zudem ein unterdurchschnittliches Einkom-men hat, ist sie durch Ihre Rentenkürzung ohnehin beson-ders betroffen. Wie soll denn das gehen?Ich sage Ihnen: Erstens. Sie müssen zwingend einenWeg finden, damit die betriebliche Altersversorgung indie Förderung hereinkommt. Im Moment fällt keinDurchführungsweg der betrieblichen Altersversorgungunter die Förderung. Zweitens. Sie müssen Lösungen fin-den für die Altverträge bei Lebensversicherungen und an-deren Verträgen.
Drittens. Sie müssen Lösungen finden für das Wohnei-gentum.
An die Sozialdemokraten, die ja so sozial sein wollen,gewandt, sage ich: Im Jahre 2002 – wenn es dabei bleibt;es kann ja nächste Woche schon wieder anders sein – muss1 Prozent des Einkommens gespart und kann dann geför-dert werden. Das führt bei denen, die 30 000 DM verdie-nen, zu einer jährlichen Förderung von 75 DM im Jahre2002. Der Chef dieser Angestellten, der 100 000 DM ver-dient, bekommt eine Förderung von 450 DM. Meine Da-men und Herren, eine solche Spreizung werden Sie nichtdurchhalten. Der eine bekommt 75 DM, der andere, ob-wohl er das Dreifache verdient, bekommt die sechsfacheFörderung, nämlich 450 DM.Ich bitte Sie dringend, die Struktur dieser Förderungnoch einmal zu überdenken. Wenn die kleinen Leute– diejenigen, die 30 000, 40 000 oder 50 000 DM bruttoverdienen –, im Jahr 2002 mit einer solchen Förderung ab-gespeist werden, wird das, so befürchte ich, ein Flop.Denn die private Vorsorge ist kein Erfolg, wenn diejeni-gen, die ohnehin schon sparen, weil sie es vom Gehalt herkönnen, noch Mitnahmeeffekte bei der Steuer haben, son-dern sie ist nur ein Erfolg, wenn diejenigen, die unter-durchschnittlich verdienen, auch finanziell in der Lagesind, diese Vorsorge zu betreiben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das werden Sie ändern,das werden Sie ändern müssen.Sie werden auch das Rentenniveau ändern müssen.Bei 45 Versicherungsjahren, bei einem erfüllten Erwerbs-leben, kommt nach dem Willen dieser Regierung im Jahre2030 ein Rentenniveau von 61 Prozent heraus. Ein sol-ches Rentenniveau hatten wir zuletzt in den 60er-Jahren.Das sind 13 Prozent weniger. Bei jemandem, der dasganze Leben gearbeitet hat, sind es 260 DM weniger; beijemandem, der 28 oder 30 Versicherungsjahre hat, sind es180 DM weniger. Und dann wird hier davon geredet, dasses nur Gewinner gibt!
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Wir bleiben bei dem, was wir vor der Bundestagswahlverabschiedet haben: Das Rentenniveau kann nicht unter64 Prozent sinken, weil Sie sonst durch die gesetzlicheRentenreform eine Altersarmut produzieren. Es machtkeinen Sinn, zuerst Altersarmut herzustellen und an-schließend die Kommunen aufzufordern, eine Grundrentean diese Altersarmen zu bezahlen. Das macht keinen Sinn.
Vor der Bundestagswahl sagten Sie, Herr Bundeskanz-ler, die Absenkung des Renteniveaus auf 64 Prozent, wiedie CDU/CSU es wolle, sei unanständig. Ich sage Ihnen:Die von Ihnen angestrebte Absenkung auf 61 Prozent istschamlos, gegenüber den Rentnern und der jungen Gene-ration.
Damit Sie, meine Damen und Herren von der SPD,wissen, wie überflüssig Ihre Reform ist, will ich IhnenFolgendes sagen: Wenn es beim geltenden Recht bliebe,wenn also der demographische Faktor, den Sie nur ausge-setzt haben, wieder in Kraft träte – wir haben ihn noch vorder Bundestagswahl eingeführt, weil wir den Menschenanständigerweise noch vor der Wahl sagen wollten, wie esnach der Wahl weitergeht –,
dann würde im Jahre 2030 der Beitragssatz in der gesetz-lichen Rente aufgrund des von Norbert Blüm eingeführ-ten Demographiefaktors nur um 0,2 Beitragspunkte– das haben alle Verbände im Rahmen des Rentendialogsgesagt; die Zahl wurden nicht von uns, sondern von denRentenversicherungsträgern berechnet – höher liegen, alses nach dieser Reform der Fall wäre.
Weil man den demographischen Faktor nicht will,macht man den ganzen Schwindel im Jahre 2002. Sie ma-chen die ganzen Verdrehungen, nur weil Sie GefangeneIhrer eigenen Aussage sind, der demographische Faktorkomme nicht infrage. Ich sage Ihnen: Freunden Sie sichmit dem demographischen Faktor an! Dann können Siesich den Diskurs in der Koalition sparen. Sie haben dieProbleme nicht gelöst. Sie haben sich um des Koalitions-friedens willen verständigt, aber die Lösung der Problemeauf die lange Bank geschoben.
Das Ganze ist deshalb so betrüblich, weil es im Grundeeine erstklassige Idee im Rahmen der Sozialpolitik ist, diegesetzliche Rente als Fundament in verschlankter Formfür die Alterssicherung aufrechtzuerhalten, eine privateund betriebliche Altersvorsorge aufzubauen und bei die-sem Aufbau den kleinen Leuten und den Familien mitKindern zu helfen.
Diese erstklassige Grundidee ist von dieser Regierungdrittklassig umgesetzt worden. Die Reform ist verkorkst.Ich sage es noch einmal: Chaos gehört zum Programmdieser Regierung. Von Gerechtigkeit und Klarheit ist dieseRentenreform so weit entfernt – Lichtjahre auseinander –wie Karl Marx von Bill Gates.
Herr Bundeskanzler, wir warnen Sie, dieses Vorhabenin drei Sitzungswochen im Zeitraum Dezember bis Januardurchzusetzen, um dieses Thema möglichst aus den Wahl-kämpfen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalzzu halten. Sie wollen alles vorher sozusagen abgeräumthaben. Sie können aber ein solch großes Reformwerknicht einfach durch den Deutschen Bundestag peitschen.Wir sind nach wie vor bereit, konstruktiv an einer sozialgerechten und tragfähigen Rentenreform mitzuwirken.
Aber diesem Werk können wir nicht zustimmen. WennSie mit dem Kopf durch die Wand wollen, wenn Sie dieseReform gegen den Willen der Gewerkschaften, der Ar-beitgeber, der Sozialverbände, der Opposition sowie derRentenversicherungsträger – und damit gegen den Willender Bevölkerung – durchsetzen wollen,
dann muss ich Ihnen sagen: Tun Sie es ruhig; Sie habendie Mehrheit. Aber Sie müssen wissen, Herr Bundeskanz-ler, dass wir vom ersten Tag an nach Verabschiedung die-ser Reform darum kämpfen, dass sie wieder rückgängiggemacht wird.
Wir sind zu einem tragfähigen Konsens bereit, der ge-genüber den Menschen sozialverantwortlich ist. SchauenSie sich die Umfragen an, wie die Menschen die Renten-reform beurteilen! Wenn Sie die Reform gegen den Rataller Fachverbände durchpeitschen wollen, dann werdenSie schon bei den Wahlen in Baden-Württemberg und inRheinland-Pfalz erleben, wie sich die Menschen von die-ser Reform und dieser Politik abwenden, indem sie ein-fach sagen: Mit uns nicht. Basta!
Ich erteile das Wortder Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/DieGrünen.
battieren heute über ein Gesetz, das in den letzten Mona-ten sehr umstritten war, das immer noch umstritten ist unddas in den letzten Tagen für Aufregung sorgte. Der Ent-scheidungsprozess um diesen Gesetzentwurf zeigt, welch
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Horst Seehofer12760
schwieriges Thema wir hier zu beraten haben, ein Thema,das alle Beitrags- und Steuerzahler, das alle Rentner undRentnerinnen, die jetzigen und die potenziellen, angeht.Deswegen ist bei diesem Thema sehr viel Sensibilität an-gesagt.Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang etwas zu derAuseinandersetzung sagen, die Sie von der Union seitWochen und auch heute hier führen. Diese Auseinander-setzung ist aus meiner Sicht in erster Linie ein Nachklap-pen aus einem zwei Jahre zurückliegenden Wahlkampfund ein Vorgeschmack auf die bevorstehenden Wahl-kämpfe.
Die Grünen haben das Thema Generationengerech-tigkeit bereits auf die Tagesordnung gesetzt, als das nochetwas exotisch klang. Aber lassen Sie mich einmal fest-stellen, was aus meiner Sicht der Unterschied zwischender Union und der SPD ist. Die Union hat vor der Wahlmit einer minimalen Reform versucht, über die nächstenJahre zu kommen. Diese Reform wurde mit dem Satzflankiert, die Rente sei sicher, wohl wissend, dass dieserSatz höchstens für die damalige Rentnergeneration galt.Die Auswirkungen dieser Reform aber sollten im Wesent-lichen nach der Wahl spürbar werden. Jetzt ergehen Siesich in wöchentlich neuen Forderungen, die erfüllt wer-den müssen, damit Ihre Mitarbeit nicht scheitert. Ichfinde, Ihre Haltung ist nicht sehr mutig und nicht sehrernsthaft.Die SPD hingegen hat sich in einem sehr schwierigenProzess – dafür kann man nur Anerkennung finden – derwirklichen Probleme angenommen und die notwendigenDiskussionen, auch die langfristig notwendigen, geführt.Wir haben dann gemeinsam über tragfähige Maßnahmengeredet. Wir haben das – auch im Unterschied zu Ihnen –in aller Offenheit getan und nicht über Hintertürchen. Waswir als Koalition gemeinsam tun, ist deshalb glaubwür-dig, weil wir Mut und Ehrlichkeit verbinden und weil wirwissen, dass es darauf ankommen wird, unsere Verspre-chungen gemeinsam einzulösen.
Wir haben bis zum Schluss um entsprechende Regelun-gen gerungen. Mit dem Wissen darum werden wir in dieparlamentarischen Beratungen gehen.Sie von der Union wissen längst, dass Sie dieser Re-form eigentlich zustimmen müssten – zumindest, wennSie Ihre eigenen Maßstäbe anlegen würden. Sie wissendas genau; aber weil Ihnen die Themen für eine ernsthafteund sachliche Auseinandersetzung fehlen, wollen Sie esoffenbar bei Verunsicherung und Verweigerung belassen.
Lassen Sie mich auch ein Wort an manche Gewerk-schafter sagen. Ich verstehe die Angst, die dort artikuliertwird. Diese Angst rührt von 16 Jahren Sozialabbau unterKohl her. Sie rührt vielleicht auch von der von vielen ge-teilten Annahme her, dass vieles einfach durch Umvertei-lung zu lösen sei. Nun haben wir aber in dieser konkretenSituation eines gemerkt: Gerechtigkeit ist nicht eindi-mensional; Gerechtigkeit heißt: Die Sicherheiten, die derSozialstaat bietet und die die Gesellschaft braucht, müs-sen auch für die kommenden Generationen erhalten blei-ben.Das geht aber nur, wenn unser Vorgehen auf gegensei-tigem Vertrauen basiert. Niemand, der dieser Koalitionangehört, will die sozialen Errungenschaften gefährden.Im Gegenteil: Wir wollen sie erhalten und gestalten, überheute und morgen hinaus. Wenn wir dieses Vertrauen zu-einander haben – dafür gibt es, so glaube ich, jeden er-denklichen Grund –, dann können wir auch das Vertrauender Jüngeren und der Älteren gewinnen. Dieses Vertrauenbraucht die Gesellschaft, ein Vertrauen, das aber auch diegesellschaftlichen Kräfte zeigen müssen, wenn sie den so-zialen Zusammenhalt in dieser Gesellschaft weiter voran-treiben wollen. Ich würde die Gewerkschaften gernedafür gewinnen, für die Stärkung dieses sozialen Zusam-menhalts gemeinsam einzutreten.Lassen Sie mich deutlich machen, was diesen sozialenZusammenhalt der Generationen untereinander und in-nerhalb der jeweiligen Generation in diesem Gesetzent-wurf ausmacht:
Einer tritt für den anderen ein, die Jüngeren für die Älte-ren. Die Jüngeren wollen sich natürlich darauf verlassenkönnen, dass das System noch funktioniert, wenn sieselbst alt sind. Das ist der Grundgedanke unseres Renten-systems.
Wir alle wissen aber auch um den veränderten Alters-aufbau, die demographischen Probleme dieses Landes.Was tun wir? Wir sorgen dafür, dass die Generationennicht gegeneinander in Stellung gebracht werden. Zusam-menhalt heißt hier: Jede Generation wird nach ihrenMöglichkeiten belastet. Die Lohnzusatzkosten, die die Er-werbstätigen zu zahlen haben, sind vor unserer Regie-rungszeit in die Höhe geschnellt. Das hat sich vor allem aufden Arbeitsmarkt negativ ausgewirkt. Dem haben wir einEnde gesetzt. Durch die Ökosteuer haben wir die Renten-beiträge gesenkt und senken sie weiter.Dafür braucht es auch die Beteiligung der jetzigenRentnergeneration. Zwischen Großeltern und Enkeln– das wissen wir – hat Solidarität schon immer funktio-niert. Wir legen deshalb Wert darauf, dass die Renten-beiträge, wie es vereinbart ist, in den nächsten Jahrendeutlich unter 19 Prozent sinken. Wir legen Wert darauf,dass die Älteren wissen, was sie dazu beisteuern, undzwar schon 2002.Wir, Rot und Grün, werden es gemeinsam ganz sichernicht Ihnen von der Union überlassen, mit Hiobsbot-schaften über exorbitante Kürzungen an die Menschenheranzutreten, wie Sie das beim Inflationsausgleich ge-macht haben. Nein, die Renten werden steigen, weil wireine positive Lohnentwicklung haben, und die jetzigeRentnergeneration wird ihren Beitrag dazu leisten, dassdie Lohnnebenkosten auch weiter sinken werden.
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Katrin Göring-Eckardt12761
Das ist gerecht, das ist fair und das ist ehrlich, auch des-halb, weil wir die nächsten 30 Jahre fest im Blick haben.Das bedeutet, die Zukunftsfähigkeit des Systems zu ge-währleisten.Die gesetzliche Rentenversicherung wird auch in Zu-kunft den Hauptteil der Altersversorgung ausmachen. Wiralle aber wissen: Das reicht nicht aus, um im Alter dengleichen Lebensstandard wie im Berufsleben zu sichern.Die Menschen sichern sich längst zusätzlich ab. Was alsotun wir? Zunächst sagen wir klar, wie viel private oder be-triebliche Vorsorge nötig ist. Wir tun das übrigens sehr dif-ferenziert, weil wir nämlich wissen, dass 50-Jährige keineTraumrenditen mehr erreichen können. Deshalb sagenwir: Bei euch wird es ein eher kleiner Teil sein, den ihrdurch die private Altersvorsorge zusätzlich bekommt. Beiden Jüngeren wird der Ertrag höher sein, wenn sie jetztmit der Vorsorge beginnen. Zugleich sagen wir den jetzi-gen Rentnerinnen und Rentnern: Das ist ein Betrag, derden Jüngeren nicht im Portemonnaie verbleibt, der ihnennicht zur Verfügung steht; deshalb wird er bei der Netto-lohnentwicklung nicht berücksichtigt. Dieser Beitragmuss geleistet werden.Übrigens, mit dem Geld, das durch eine Zusatzvor-sorge in Bewegung gesetzt wird, wollen wir etwas gesell-schaftlich Sinnvolles in Bewegung bringen. Deshalb ist eswichtig, dass die Menschen wissen, wo sie ihr Geld anle-gen, ob das Anlageformen sind, die nach ethischen, öko-logischen und sozialen Kriterien aufgebaut sind. Geradeda, wo der Staat nur begrenzt eintreten kann, macht dasSinn und bringt uns gemeinsam voran.Aber wir tun noch etwas. Natürlich sorgen die meistenschon heute vor. Aber manche können das nicht: weil sieniedrige Einkommen haben oder sagen, sie brauchen dasGeld für die Kinder. Deshalb unterstützen wir diejenigen,die nicht aus eigener Kraft vorsorgen können. Wir greifenden Leuten mit niedrigen Einkommen und den Familienunter die Arme. 20 Milliarden DM stehen dafür zur Ver-fügung. Wenn ich Sie auf der rechten Seite des Hauses er-innern darf: Bevor Sie einen Gemischtwarenladen vonForderungen aufgemacht haben, war das Ihr zentralerPunkt.Damit sind wir gleich bei einer anderen Frage. Gesell-schaftlicher Zusammenhalt bedeutet auch: Frauen habenein Recht auf eine eigenständige Alterssicherung. Was tunwir? Die Förderung der Zusatzvorsorge, die übrigens denFrauen direkt zukommt, ist das eine. Vor allem aber ma-chen wir Schluss mit einem Leitbild von Frauenbiografie,das Sie, glaube ich, noch immer im Kopf haben, nach demFrauen nur von Männern abgeleitete Ansprüche haben.Das ist übrigens ein eklatanter Unterschied zu Blüm. Zuseinen Vorstellungen – das kann ich Ihnen ganz klar sa-gen, Herr Seehofer – wollen wir ganz sicher nicht zurück.Frauen wollen heutzutage beides: berufstätig sein undKinder erziehen. Zwei von drei Müttern sind berufstätig.Worauf kommt es also an, wenn wir von Rentenversi-cherung als Solidargemeinschaft reden? Die Solidarge-meinschaft muss dort eintreten, wo Einbußen entstehen:Wo Teilzeit gearbeitet wird, weil Kinder erzogen werden,stocken wir die Anrechnung der Kindererziehungszeitenauf. Wo Frauen in schlecht bezahlten Jobs arbeiten, umFamilie und Beruf verbinden zu können, müssen sie eineAufwertung ihres Gehalts bekommen.Wenn wir sozialen Zusammenhalt ernst nehmen, müs-sen wir dringend einen weiteren Punkt ansprechen: Armut– auch die Armut im Alter – ist einer Gesellschaft wieder unseren unwürdig. Wir produzieren sie übrigens nichtmit dieser Reform. Es wird nicht mehr, sondern wenigerMenschen, vor allem weniger Frauen geben, die in Zu-kunft von Sozialhilfe leben müssen. Das ist ein wirklicherErfolg.
Aber egal, wie viele davon betroffen sind, was tun wir?Die Unterhaltspflicht von Kindern gegenüber ihren altenEltern soll wegfallen. Deshalb soll die Sozialhilfe im Al-ter in Pauschalen ausgezahlt werden. Das ist ein kleinerSchritt. Ich bitte Sie, sich auf sachliche Weise sehr gut zuüberlegen, ob Sie diesen kleinen Schritt, der alten Men-schen Selbstbestimmung und Würde zurückgibt, nicht ge-meinsam mit uns gehen wollen, indem die von Ihnen re-gierten Länder zustimmen.
Sozialer Zusammenhalt, soziale Sicherheit bei der Al-tersvorsorge, das heißt noch einmal auf den Punkt gebracht:niedrige Beiträge, Generationengerechtigkeit, langfristigeAbsicherung der Altersversorgung, eigenständige Frau-enrenten und Vermeidung von Armut.
Lassen Sie mich abschließend Ihnen von der Union sa-gen: All die Offenheit und die Auseinandersetzungen imZusammenhang mit dieser Reform waren geprägt von derSuche nach dem besten Weg für das Erreichen eines in derKoalition gemeinsam formulierten und gesellschaftlichextrem relevanten Zieles. Sprechen Sie ruhig weiter vonNachbessern und Chaos, Herr Seehofer. Ich spreche voneiner offenen Debatte, von Aufeinander-Hören, von ei-nem Kraftakt, an dem viele gerade auch außerhalb diesesHauses beteiligt waren. Ich spreche von einer ehrlichengesellschaftlichen Debatte, an deren Ende die Menschenwissen, was auf sie zukommt und worauf sie sich verlas-sen können. Vertrauen in die sozialen Sicherungssystemeherzustellen und zu gewinnen, das schafft man eben nicht,wenn man halbherzige Reformen macht. Vertrauen her-stellen heißt, das zu tun, was notwendig ist. Haben Siediesen Mut! Wir haben ihn.
Ich erteile das Wort
Kollegin Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Göring-Eckardt hat uns gerade aufgefordert, ehrlich zu sein. Daswollen wir gerne tun. Nur, wenn wir das wirklich wollen,
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Katrin Göring-Eckardt12762
müssten wir uns einmal über die Details der Rentenreformunterhalten. Über Predigten zu diskutieren ist praktischunmöglich. Deswegen ist das, was Sie gerade gesagt ha-ben, dafür keine gute Vorlage.
Herr Riester, als wir mit den Rentenkonsensge-sprächen begonnen haben, da haben wir immer wieder be-tont, dass es in gewissen Fragen Übereinstimmung gibt,nämlich in der Zielrichtung, die Altersversorgung lang-fristig zu sichern, und in der Erkenntnis, dass zu dieserlangfristigen Sicherheit eben nicht nur die gesetzlicheRentenversicherung gehört, sondern notwendigerweiseauch eine kapitalgedeckte Vorsorge, die wir damals im-mer als Eigenvorsorge definiert haben.Ihr neuester „Umfaller“ gegenüber den Gewerkschaf-ten zeichnet sich ja dadurch aus, dass Sie nun doch wie-der stärker statt auf individuelle Vorsorge auf tariflich ge-bundene und damit kollektive Vorsorge setzen. Dies istder neueste Haken im Zuge der gesamten Auseinander-setzung,
der es einem natürlich schwer macht, sich zu dem zuäußern, was Sie – spät genug, nämlich erst gestern – aufden Tisch gelegt haben. Aber wir wissen schon heute, dassdas – zumindest, was wichtige Einzelfragen anbelangt –schon wieder mit einem täglichen Verfallsdatum versehenworden ist.
Deswegen, Herr Riester, sage ich: Sie sind ganz gut ge-startet; aber Sie sind schlecht gelandet. Das ist deswegenso, weil Sie von Anfang an kein im Detail stimmiges Kon-zept hatten. Deswegen mussten Sie immer wieder im De-tail nachbessern. Ich bin zwar nicht mit allem, was HerrSeehofer soeben ausgeführt hat, einverstanden. Aber ei-nes ist klar geworden: Wir müssen uns noch über vieleFragen verständigen. Sie aber zwingen uns einen äußerstengen Zeitplan auf, indem Sie die zweite und dritte Le-sung bereits am 27. Januar vorsehen, und zwar nicht desJahres 2002 – dann wäre die Beratungszeit seriös –, son-dern des Jahres 2001! Nicht einmal acht Wochen habenwir nun für die Beratung über ein solches Reformwerk,das 30 Jahre halten soll, zur Verfügung.
Deswegen, Herr Riester, sind Ihre Angebote zur Zu-sammenarbeit nur leeres Gerede. In acht Wochen kannman eine solche Reform nicht seriös bearbeiten.
Aber das tun Sie natürlich auch nur, um Ihren mehrstufi-gen ungeordneten Rückzug ein wenig zu kaschieren. Des-wegen wiederhole ich für die F.D.P.: Wir bestehen darauf,dass wir eine langfristig sichere Altersvorsorge brauchen.Herr Seehofer, an dieser Stelle ist auch Ihre Argumen-tation unseriös. Sie argumentieren praktisch ausschließ-lich mit einem Versorgungsniveau auf der Grundlage dergesetzlichen Rentenversicherung. Das hat auch HerrBlüm immer getan und wir wussten schon damals alle,dass das nicht ausreichen wird. Es reicht auch jetzt nichtaus. Wenn Sie das weiter behaupten, streuen Sie der jun-gen Generation Sand in die Augen. Das ist nicht vernünf-tig.
Sie kaschieren damit natürlich auch, dass Sie imGrunde einen Beitragssatz in Höhe von 22 Prozent in dergesetzlichen Rentenversicherung akzeptiert haben. Siesind an dieser Stelle schon längst auf das Riester-Konzeptaufgesprungen. 22 Prozent für die gesetzliche Rentenver-sicherung und 4 Prozent für die private Vorsorge – dasmacht einen Beitragssatz von 26 Prozent. Herr Riester,das ist keine Beitragssatzsenkung, das ist eine massiveBeitragssatzerhöhung, und zwar ab dem Tag, ab dem dieprivate Vorsorge so gefördert wird, dass sie – hoffentlichtatsächlich auch von allen – in Angriff genommen wird.Es ist und bleibt eine massive Beitragssatzerhöhung, diedie F.D.P. nicht mitmachen wird.
Unser Ziel ist nach wie vor – man könnte es erreichen,wenn man seriös darüber debattieren und entscheidenwürde –, den Beitragssatz auf 20 Prozent zu begrenzen.Das durchzustehen ist sicherlich schwierig, sowohl in denGewerkschaften als auch in der CDU. Es wäre aber ein Si-gnal an die junge Generation. Das, was Sie machen,spricht der Generationengerechtigkeit Hohn.
Zu den Grünen, die das Wort Generationengerechtig-keit im Munde führen, kann ich nur sagen: Mit dem, wasSie jetzt schon mit der SPD vereinbart haben, verraten Siedie junge Generation.
Noch ein Wort zur so genannten Beitragssatzsenkung,Herr Riester. Der Kollege Metzger von den Grünen – imAusschuss hat mir gestern jemand gesagt, er sei ein Aus-laufmodell; was eigentlich ganz schade wäre, denn er istvernünftig – hat ganz klar erkannt, dass das, was Sie in dergesetzlichen Rentenversicherung gemacht haben, keinewirkliche Beitragssatzsenkung, sondern eine schlichteUmfinanzierung ist. Sie führen eine unsoziale Ökosteuerein, um damit argumentieren zu können, die Beitragssätzein der gesetzlichen Rentenversicherung gesenkt zu haben.Aber damit kaschieren Sie den Reformbedarf und das istder Fehler.
Professor Rürup – er war bereits bei Herrn Blüm Bera-ter und ist jetzt der Hauptberater von Herrn Riester bei derGestaltung der Rentenreform – hat Ihnen gestern in sei-nem Gutachten und heute auf allen möglichen Wellenim Radio noch einmal bescheinigt, dass die Lasten der
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verlängerten Lebenserwartung in Ihrem Entwurf unge-recht verteilt sind. Heute Morgen hat er ganz klar gesagt,man müsse sich im Grunde wieder dem demographischenFaktor der alten Regierung – er hat es vornehm formu-liert – annähern. Alles, was Sie in der jetzigen Koalitionbisher gemacht haben – Sie haben sich 1998 im Wahl-kampf gegen den demographischen Faktor ausgesprochenund haben deswegen jetzt Hemmungen, sich diesemThema wieder anzunähern –, ist Krampf.
Der Abschlagsfaktor – das bescheinigen Ihnen wirk-lich alle – bestraft diejenigen, die tatsächlich, wie wir dasalle wollen und vorgesehen haben, bis zum 65. Lebensjahrarbeiten. Die werden nämlich weniger Rente erhalten alsdiejenigen, die sich frühpensionieren lassen. Das kanndoch nicht wahr sein, das kann nicht wirklich Ihre Über-zeugung sein.Lassen Sie uns deshalb über etwas diskutieren, was derVDR – der Verband Deutscher Rentenversicherungsträ-ger –, der VdK und andere Sozialverbände in die Dis-kussion eingebracht haben und was unserem alten Demo-graphiefaktor verdammt nahe kommt.Die private Vorsorge ist in der Tat die entscheidendeNeuerung dieser Rentenreform. Das war auch der Grund,weshalb wir gesagt haben, wir steigen in die Konsensge-spräche ein. Wir haben von Anfang an gesagt, dass sienatürlich kapitalgedeckt sein muss; darüber herrscht in-zwischen auch Konsens. Wir haben darüber hinaus immergesagt, dass das auf individueller Entscheidung beruhenmuss. Wir haben daher von Anfang an gesagt, dass esnicht unser Ziel sein kann, große Geldtöpfe zu schaffen,über die dann Arbeitgeber und Gewerkschaften gemein-sam entscheiden. In welchem Jahrhundert leben denn die-jenigen, die so etwas machen wollen? Natürlich müssenwir uns über die Altersversorgung von IT-SpezialistenGedanken machen, aber entscheiden tun sie selber. NichtHerr Zwickel von der IG Metall und genauso wenig dieIdeologen von der IG Medien werden diejenigen sein, diedarüber entscheiden, und in deren Tarifbereiche werdenviele dieser Spezialisten fallen. Das kann doch nicht imErnst ein moderner Weg, ein Weg des 21. Jahrhundertssein. Deswegen werden wir ihn nicht mitgehen.
In Ihrem Entwurf sind einige Punkte nicht enthalten,die dringend erforderlich sind. Zum ersten Punkt, derfehlt, sagte Ihnen Herr Rürup, der auch Ihr Berater ist,dass Sie besser den Mut hätten haben sollen, ihn aufzu-nehmen, nämlich in allen Vorsorgebereichen, in der ge-setzlichen Rentenversicherung, in der privaten und be-trieblichen Altersversorgung, die Beiträge steuerfrei zustellen und auf die so genannte nachgelagerte Besteue-rung, das heißt: die Besteuerung bei Auszahlung, überzu-gehen.
Im Finanzministerium liegt ein solcher Entwurf in derSchublade. Aber Sie haben nicht den Mut aufgebracht,dieses in das Gesetz aufzunehmen.
Wir werden weiterhin versuchen, Sie zu überzeugen,dass es dringend eines Gesamtkonzeptes bedarf. In demGesetzentwurf steht nicht, dass die selbst genutzte Immo-bilie ebenfalls gefördert wird. Das kann doch nur einTreppenwitz sein.
80 Prozent der Bevölkerung sehen das private Eigentumin Form einer Immobilie als die beste Zusatzaltersversor-gung an, die es überhaupt gibt. Sie hingegen sagen: Was80 Prozent der Bevölkerung wollen, interessiert uns nicht;wir machen andere Vorschriften.
Deswegen sage ich Ihnen: Auch das wird ein Thema imBundestag und im Bundesrat sein. Die Länder Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bayern und – da bin ich ganzsicher – noch viele andere Länder werden Sie zwingen,diesen Aspekt zu berücksichtigen.Unterm Strich enthält dieser Entwurf für die wichtigeprivate Vorsorge weder Anlagefreiheit noch Wahlrechte,noch Wettbewerb. Damit ist er unzureichend. Sie wollenzwar einen Schritt machen, aber in Ihrem Beglückungs-wunsch und Ihrem Regelungsdrang machen Sie alle gutenAnsätze wieder zunichte. Das werden wir nicht akzep-tieren.Wir werden uns darüber auch nach dem 27. Ja-nuar 2001 auseinander setzen. Wenn Sie auf Ihrem Zeit-plan bestehen, dann ist die Diskussion schon heute been-det. Sie können davon ausgehen, dass Sie ständig werdennachbessern müssen und nie etwas Vernünftiges zustandebekommen. Wir werden versuchen, das zu verhindern.Danke.
Ich erteile dem Kolle-
gen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Heute nun legen uns die Ko-alitionsfraktionen ein Reformpaket vor, das keiner sorecht haben will. Ich glaube, auch Sie selbst merken das,weil Sie auf Dankschreiben von Gewinnern, auf die derMinister verwiesen hat, nicht zurückgreifen können.Diese Reform ist wie Ihre Ökosteuer ein Angebot ohneNachfrage.
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Dr. Irmgard Schwaetzer12764
Ich will Ihnen etwas erzählen: Ich war gestern bei ei-nem wunderschönen Konzert von Angelo Branduardi.
– Sie sollten nicht neidisch sein, sondern stattdessen auchwieder einmal in ein Konzert gehen; denn wenn man sichnur mit Drucksachen und Paragraphen umgibt, dannkommt so etwas heraus, wie Sie es heute vorgelegt haben.
Ich wollte Ihnen von dem Konzert erzählen:Branduardi hat Geschichtenlieder vom heiligen Franzvon Assisi vorgetragen. Wenn es so etwas wie eine Bot-schaft des heiligen Franz gibt, dann ist es die: Man sollteWunder und andere Wohltaten nur dann vollbringen,wenn sie das Volk auch versteht und gebrauchen kann.Diesem Maßstab wird Ihr Rentenkonzept nicht gerecht.
Wie gehen Sie vor? Früher hätten Sie von einem Ver-mittlungsproblem gesprochen. Das machen Sie diesesMal nicht; denn der Minister hat alles hinreichend erklärt.Ich weiß, wie gut er das kann. Ich sage Ihnen eines: IndemSie diesem Gesetzentwurf zustimmen, übernehmen Sieeine Logik, die ich immer mit den Worten beschreibenmöchte: Sie verwechseln den Bundestag mit dem Leben.Es gibt nämlich einen himmelweiten Unterschied zwi-schen „gut“ und „gut erklärt“.
So haben Sie mit großer Mehrheit beschlossen, sich dem„Basta!“ des Bundeskanzlers anzuschließen. Wir sagenIhnen aber: Zukunftsfragen der Gesellschaft lassen sichnicht mit „Basta!“ beantworten.
Wer heute Ja zur Rentenreform sagt, muss sich entschei-den zwischen der Solidargemeinschaft auf der einen Seiteoder der Ellenbogengesellschaft auf der anderen Seite,zwischen der Formel: „Stärkere besiegen Schwächere“oder der Formel: „Einer trage des anderen Last“. Wir fin-den, Sie haben sich bisher falsch entschieden.
Wir sagen es Ihnen deshalb ganz deutlich: Der unso-ziale Ansatz dieser Reform gehört abgelehnt. Sie müssenmit unserem Widerstand rechnen. Sie können nicht aufuns zählen. Falls es notwendig sein sollte, dies noch ein-mal zu sagen: Die PDS-Fraktion ist nicht die Westenta-schenreserve des Bundeskanzlers.
Ich will unsere Kritik wiederholen. Wir glauben, dassSie mit diesem Konzept keine Ergänzungsvorsorge ein-führen; vielmehr handelt es sich um einen teilweisen Er-satz der gesetzlichen Rente durch eine Privatvorsorge.Es sind eben nicht die 4 Prozent als quantitativer Faktor,über die man streiten müsste. Es geht vielmehr um denEinstieg in den Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenver-sicherung, und das von einer sozialdemokratisch geführ-ten Regierung.
Sie geben die paritätische Finanzierung teilweise auf.Minister Riester versucht, auch diese Kritik wegzurech-nen, aber sie bleibt trotzdem bestehen. Sie wollen diestaatliche Förderung von Ungerechtigkeiten zwischenMann und Frau bei der Förderung privater Vorsorge fest-schreiben. Zu all dem sagen wir Nein.Ich will den Unterschied zwischen der Kritik seitensder CDU/CSU- und der PDS-Kritik deutlich machen.Herr Seehofer hat gesagt: Das geht schon alles in die rich-tige Richtung. Ihr wart nur nicht konsequent und habt anvielen Stellen falsch angesetzt. – Unsere Sicht auf dieDinge ist: Im Konzept sind viele Fragen angesprochenund zum Teil auch Verbesserungen vorgenommen wor-den, die wir anerkennen. Aber der Grundsatz, der Einstiegin den Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung– und das von Sozialdemokraten und Grünen –, stellt denfalschen Weg dar.
– Zur Zukunftsfähigkeit und zu dem, was Sie darunterverstehen, kommen wir noch.Besonders bedrückend finde ich in diesem Streit dieRolle der Grünen. Sie konnten ihre Position bei der Ab-senkung des Rentenniveaus nicht genug durchsetzen;sie konnten sie nicht schnell genug betreiben. Ich sage Ih-nen: Was die Grünen hier machen, ist ein unredlichesSpiel. Was sie Generationengerechtigkeit nennen, ist imGrunde ein Setzen auf Generationenneid. Ich glaube, daswird nicht funktionieren.
Jung und Alt werden den Grünen dafür die rote Karte zei-gen, und die haben sie auch verdient.Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie woll-ten einen Rentenkonsens. Mit wem haben Sie den dennjetzt erreicht? Mit sich selbst, vielleicht mit den großenWirtschaftsverbänden und mit den – das sagt man wohlnicht immer so direkt – privaten Versicherungsträgern.Sie wollten ja auch die CDU einbinden. Das hat sich jetztaber wohl gründlich erledigt. Damit ist doch eigentlich dieGeschäftsgrundlage für den Konsens, den Sie einmal an-gestrebt haben, entfallen. Das heißt, der Mitte-Rechts-Konsens ist gescheitert. Nun stellen wir Ihnen die Frage:Wenn parlamentarisch alles so offen ist, wie Sie immer sa-gen, warum in aller Welt versuchen Sie dann nicht, bei derRentenfrage einen Mitte-Links-Konsens zustande zubringen,
und zwar einen Konsens zwischen Ihnen und den Ge-werkschaften, den Sozialverbänden, den Rentenversiche-rungsträgern, den Kirchen und – wir sind zwar beschei-den, aber so selbstlos nun auch wieder nicht – auch derPDS? Wir sagen Ihnen: Es geht auch anders. Politik istimmer Menschenwerk. Wenn Sie in Ihrem Gesetzentwurfunter „Alternativen“ schreiben: „Keine“, dann ist das eingroßes Armutszeugnis. Das ist hier noch einmal zu kons-tatieren.
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Roland Claus12765
Unser Nein im Grundsatz wird dennoch eine ganzeReihe von Vorschlägen zu Veränderungen in Einzelheitennach sich ziehen. Wir halten Nachbesserungen für drin-gend geboten und auch möglich, zum Beispiel bei derFrage nach flexiblen Anwartschaften für alle. Sie habenja schon Verbesserungen bei den bis 25-jährigen erreicht;wir wollen das gerne ausdehnen. Wir denken, dass der sogenannte Ausgleichsfaktor, der ja eigentlich ein Kür-zungsbetrag ist, auf den Prüfstand gehört. Dort ist er jawohl auch gegenwärtig. Über diese Sache müssen wirnoch einmal reden.Wir müssen diese Gelegenheit auch nutzen, um Ihnennoch einmal zu sagen – obwohl es nicht Bestandteil die-ses Reformgesetzes ist –: Wir brauchen endlich Wege zurRentenangleichung in Ost und West.
Das ist natürlich nicht einfach. Sie merken inzwischen,dass sich dies nicht über eine Lohnangleichung regelnlässt. Die Menschen müssen endlich wissen, wann dieserProzess beginnen und in welchen Schritten er ablaufenwird. Sie wissen, dass die PDS bereit ist, an konstruktivenLösungen mitzuwirken. Letztendlich sei daran erinnert,dass Sie noch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtszur Beseitigung des Rentenstrafrechts umzusetzen haben.Das ist noch eine von Ihnen einzulösende Bringeschuld.Ich will noch ein Wort zu den Grünen sagen: Sie spre-chen von Nachbesserungen im Gesetzgebungsverfahren.Das sagt die Opposition natürlich auch, weil es ihr gutesRecht ist. Die Grünen betreiben aber doch tatsächlich Op-position in der Koalition und der blanke Eigennutz vonMinister Fischer wird auch noch mit dem Begriff „pro-fessionelle Führung“ beschönigt.
Wir sagen Ihnen: So wird das Vertrauen in die Politiknicht gestärkt, sondern zerstört. Sie standen einst für De-mokratie von unten, jetzt betreiben Sie nur noch Macht-erhalt von oben.
Herr Bundeskanzler, Herr Minister Riester, Reformensind nur etwas wert, wenn sie bei den Bürgerinnen undBürgern auch ankommen, und zwar im positiven Sinn undnicht als mit einem „Basta!“ verbundene Kürzungsmaß-nahme. Die PDS-Fraktion wird sich dafür einsetzen, dassdiese Rentenreform nicht so umgesetzt wird, wie sie ge-plant ist.
Ich erteile der Kolle-
gin Ulla Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Seehofer, ichkann verstehen, dass Ihnen das alles ein bisschen wehtut.
Es tut nicht nur weh, dass Ihre Parteiführung Sie aus demKonsensgespräch hinaus katapultiert hat. Es tut auch weh,erleben zu müssen, dass in allen Umfragen allein den So-zialdemokraten und den Grünen Kompetenz bei der Lö-sung von Alterssicherungsproblemen zugeschriebenwird.
Aus dem, was Sie gesagt haben, wird klar, dass esschwer fällt, an diesem Reformentwurf wirklich Kritik zuüben;
ich will gar nicht auf die Details eingehen. Ich schließemich der „Frankfurter Rundschau“ an und will nicht anIhrer Intelligenz zweifeln. Allerdings, Herr KollegeSeehofer, muss ich Ihnen vorhalten: Sie haben den Ge-setzentwurf nicht gelesen.
Hätten Sie ihn gelesen, wüssten Sie, dass er nicht sechsverschiedene Formeln beinhaltet. Zu einer Formel gehört– ich komme wieder zum Thema der Intelligenz –, dasssie in sechs Jahren mit sechs unterschiedlichen Zahlenaufgefüllt werden muss, weil die sich jeweils änderndenDaten einbezogen werden müssen.
Ich könnte noch auf andere Dinge eingehen; alle rele-vanten Fragen – auch das Problem der Erwerbsunfähig-keit – sind geklärt. Lesen Sie unseren Entwurf! Dann un-terhalten wir uns im Ausschuss darüber. Sie werden aberzugeben müssen, dass Ihre Kritikpunkte nicht zutreffen,und dann sind wir wieder ein Stück weiter.Ich könnte auch an Ihr kurzes Gedächtnis erinnern.
Sie sagen, derjenige sei der Dumme, der länger in Arbeitbleibt bzw. später in Rente geht, weil er dann den Aus-gleichsfaktor zu spüren bekommt. Sie haben wohl ver-gessen, dass eine der letzten Handlungen Ihrer Regierungwar, für jeden, der nach dem Jahre 2002 vor dem Errei-chen des 65. Lebensjahres in Rente geht, einen Abzug vonjeweils 3,6 Prozent vom Rentenanspruch für jedes Jahrvor Erreichen der gesetzlichen Altersrente vorzusehen.
Jetzt sagen Sie mir einmal, was besser ist: 3,6 Prozentoder 0,3 Prozent?Herr Kollege Seehofer, all das hat etwas damit zu tun,dass Sie die Reform des Arbeitsministers Riester alsQuantensprung bezeichnet haben. Dass Sie dies nicht imZusammenhang mit dem Reformgesetz von NorbertBlüm gesagt haben, lässt vieles über die Qualität diesesEntwurfes erahnen.
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Roland Claus12766
Deshalb, Frau Kollegin Schwaetzer, ist es kein Hohn,wenn hier von unserer Seite von Generationengerechtig-keit gesprochen wird. Hohn ist – so empfinde ich dasoft –, wenn plötzlich von Mitgliedern der früheren Bun-desregierung Tag für Tag von sozialer Gerechtigkeit undvon den Problemen von Einkommensschwachen gespro-chen wird sowie die Frage aufgeworfen wird, was getanwerden müsse, um Frauen im Alter stärker abzusichern.Das ist Hohn, weil Sie zur Umsetzung dieser Ziele16 Jahre lang Zeit hatten.
(Vo r s i t z : Vizepräsident Dr. h. c. RudolfSeiters)Ich möchte Ihnen noch sagen, wer die Gewinnerinnenund Gewinner unserer geplanten Reform sind. Gewinnerund Gewinnerinnen sind diejenigen, die nur über ein ge-ringes Einkommen verfügen. Diese Menschen zahlen we-gen ihres geringen Einkommens immer nur geringeBeiträge in die Rentenversicherung. Am Ende ihres Er-werbslebens hätten sie eine geringe Rente bezogen, diedas Sozialhilfeniveau auch heute nicht erreicht. DieseMenschen zählen deswegen zu den Gewinnerinnen undGewinnern, weil wir mit unserem Reformkonzept diesenKreislauf zum ersten Mal durchbrechen: Wir geben näm-lich einkommensschwachen Personen und Personen, dieeine gebrochene Erwerbsbiografie haben, Geld in dieHand, damit sie sich eine zweite Säule der Altersvorsorgeaufbauen können. Das ist Sozialpolitik! Das ist Bekämp-fung von Altersarmut!
Ich nenne ein Beispiel, an dem ich das deutlich machenkann. Eine allein erziehende Mutter mit zwei Kindern undeinem Bruttoeinkommen von 20 000 DM bekommt, auchwenn sie ein Leben lang erwerbstätig war, nur eine ge-ringe Rente. Angesichts ihrer Situation – 20 000 Brut-toeinkommen, zwei Kinder – raten wir ihr, sich einezweite Säule aufzubauen: 4 Prozent, das wären 800 DMim Jahr. Und wir fördern sie: Für die beiden Kinder be-kommt sie 720 DM im Jahr,
für sich selbst 300 DM. Insgesamt bekommt sie also1 020 DM. Wir verlangen nur, dass sie 10 DM im Monatselber dazu gibt, das kann jeder und jede. Wenn diese Frauso angespart hat und in Rente geht, dann bekommt sie ne-ben ihrer normalen Rente eine zusätzliche Rente, die manheute auf fast 800 DM ansetzen kann. Das ist gelebte So-zialpolitik! Das ist eine Rentenpolitik, die Altersarmutverhindert!
Herr Kollege Seehofer, Sie sind nie auf die Idee gekom-men, so etwas zu machen. Dass das also wehtut, kann ichverstehen.Ein weiterer Punkt. Wir wollen verhindern, dass Men-schen, weil sie Kinder erziehen, im Alter dafür bestraftwerden. Dies trifft vor allem Frauen; bei den Männernsind es nur 2 Prozent. Wir wollen die Zeiten, die Men-schen weniger arbeiten oder in denen Sie oft geringer ver-dienen, weil sie Kindererziehung und Familienarbeitmachen, höher bewerten. Auch hier möchte ich ein Bei-spiel nennen, damit deutlich wird, was dadurch erreichtwird: Eine Mutter von einem Kind, die drei Jahre zuHause bleibt, bekommt drei Entgeltpunkte, die wir ihr alseigenständige Beitragsleistung geben. Ab dem 4. Lebens-jahr des Kindes geht sie wieder arbeiten und verdient70 Prozent des Durchschnittseinkommens, etwas, washeute bei Frauen leider noch immer normal ist. Wenn dasKind zehn Jahre alt ist, hat die Frau allein aus diesen zehnJahren einen monatlichen Rentenanspruch von 490 DM.Dies haben heute viele Frauen erst nach einem ganzen Ar-beitsleben gehabt.
Damit machen wir deutlich, dass wir nicht wollen, dassFrauen für die Erziehung von Kindern bestraft werden.Auch sie zählen zu den Gewinnerinnen dieser Reform.Ich könnte die Zahl der Beispiele fortführen. Eine Mut-ter von drei Kindern hat allein aufgrund der Tatsache, dreiKinder großgezogen zu haben, einen Rentenanspruch vonüber 500 DM. Das entspricht einer Beitragsleistung vonfast 120 000 DM.
Wer ein behindertes, pflegebedürftiges Kind erzieht– Frau Böhmer, ich appelliere an Ihr christliches Gewis-sen –, bekommt heute über die Pflegeversicherung0,75 Entgeltpunkte an Beitragsleistung. Durch unsereBemühungen bekommt derjenige bis zum 18. Lebensjahrdieses Kindes die Beitragsleistung auf 1 Entgeltpunkt an-gehoben. Das sind nach heutigem Recht knapp 900 DMan monatlichen Rentenleistungen. Das ist ein Erfolg. Ichbin stolz darauf, dass wir das geschafft haben.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifftdie soziale Grundsicherung im Alter, die Sie auch nichtwollen. Für uns hat es etwas mit der Würde der Menschenzu tun, dass sie im Alter nach dem Erwerbsleben nichtzum Sozialamt gehen müssen, um ihre kleine Rente auf-zubessern, dass sie, wenn sie 65 Jahre alt sind und mit ei-gener Erwerbstätigkeit nicht aus der Armut herauskom-men, einen Anspruch auf eine soziale Grundsicherung imAlter haben, ohne befürchten zu müssen, dass ihre Kinderhierfür herangezogen werden. Ich frage Sie: Was hat esmit dem christlichen Menschenbild zu tun, dass Sie diesnicht wollen, meine Damen und Herren von der Union?Was hat es mit dem christlichen Menschenbild zu tun,dass Sie nicht wollen, dass wir die Rentenansprüche derEltern, die diese bei der Erziehung eines pflegebedürfti-gen behinderten Kindes in den ersten 18 Lebensjahrenerworben haben, höher als bisher bewerten und ihren
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Ulla Schmidt
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Kindern eine soziale Grundsicherung garantieren, um siewenigstens finanziell zu entlasten?
Angesichts der Debatte, die Sie zurzeit über die Frageführen, wie der Begriff „Leitkultur“ inhaltlich auszufüllensei, empfehle ich Ihnen: Diskutieren Sie doch einmal überdie Fragen, wie sich die Armut von Menschen bekämpfenlässt und wie die Würde von Menschen gewahrt werdenkann! Wenn Sie das tun, dann kommen Sie auch ein Stückweiter.Danke.
Ich erteiledas Wort nunmehr der Kollegin Dr. Maria Böhmer für dieCDU/CSU-Fraktion.Dr. Maria Böhmer (von der CDU/CSUmit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Kolleginnenund Kollegen! Frau Ulla Schmidt sagte eben, es täte weh,was hier geschieht. In der Tat, Frau Schmidt, es tut weh.Aber wem tut es weh?
Es tut der Mehrzahl der Rentenempfänger in unseremLand weh; denn zwei Drittel aller Rentenempfänger sindFrauen.
Von 18 Millionen Rentenempfängern sind 11 MillionenFrauen. Ihr Gesetzentwurf ist ein Schlag in das Gesichtder Frauen in Deutschland.
Sie haben immer gesagt, Sie wollten die Nachteile fürFrauen in der Rente beseitigen. Aber wie sieht die Realitätaus? Die Kürzung des Rentenniveausmacht viele Rent-nerinnen und Rentner zu Sozialhilfeempfängern. Daswird besonders an der Tatsache deutlich, dass die durch-schnittliche Frauenrente bei 900 DM pro Monat liegt. Sodarf man mit Menschen, die ein Leben lang hart gearbei-tet haben, in unserem Land nicht umgehen.
– Sie sprechen von Unwahrheiten? Ich sage Ihnen, wo ichdas gelesen habe: Ich habe das im Programm der SPD fürdie Bundestagswahl 1998 gelesen. Und die SPD selbst be-zeichnet dies als Unwahrheit? Sie sollten eigentlich wis-sen, was Sie den Menschen vor der Wahl versprochen ha-ben.
Es ist nämlich so: Sie brechen Ihre Wahlversprechen undwürden die eigene Kritik von damals am liebsten im Tre-sor einschließen.Was erreichen Sie mit Ihrem jetzigen Gesetzentwurf?Sie schaffen schmerzliche soziale Ungerechtigkeiten fürFrauen in der gesetzlichen Rentenversicherung und in derprivaten Vorsorge und leiten mit Ihrem Rentenreform-gesetzentwurf – das ist die Krönung, Herr Minister – dasAus für die Witwenrente ein.
Aber viele Frauen sind auf Witwenrente angewiesen;denn 70 Prozent der Frauen haben heute in Deutschlandeine eigene Rente, die niedriger ist als 1 200 DM. WennSie jetzt die Witwenrente wegreformieren, dann bedeutetdas, dass Sie die Frauen vor die Türen des Sozialamtesschicken.
Damit bekämpft man nicht die Altersarmut. Damit produ-ziert man vielmehr neue Altersarmut. Sie behaupten zwar,dass die armen alten Frauen nicht zum Sozialamt gehenmüssen, weil der Regress in der Sozialhilfe beseitigt wor-den ist. Aber tatsächlich schicken Sie sie dorthin. Das istdie Wahrheit.
Von zentraler Bedeutung ist die Frage: Wie wirkt sichdie Senkung des Rentenniveaus auf die Mehrzahl derRentenempfänger – das sind die Frauen – aus? Wir wis-sen aus gutem Grund, warum wir auf einem Rentenniveauvon 64 Prozent beharren. Aber jetzt spielt sich ein Dramaab. Das Rentenniveau soll nur noch bei 61 Prozent liegen.Der so genannte Eckrentner muss 45 Jahre lang Beiträgedafür gezahlt haben. Aber welche Frau kann schon45 Jahre Beitragszeiten aufweisen? In den alten Bundes-ländern liegen die durchschnittlichen Beitragszeiten bei25 Jahren und in den neuen Bundesländern bei 37 Jahren.Das bedeutet, dass das Niveau der Renten für Frauen aufunter 50 Prozent fallen wird. Das ist ein Skandal ohne-gleichen.
Diese Niveauabsenkung, liebe Kollegen von der SPDund dem Bündnis 90/Die Grünen, trifft Frauen doppelt,nämlich über die eigene Rente und über die Witwenrente.Die Witwenrente berechnet sich aus der gekürzten Rentedes Mannes. Frauen sind also von der Rentenkürzung, dieSie vornehmen, doppelt betroffen. Sie sind auch härter be-troffen. Für denjenigen, der eine niedrigere Rente hat, istes wesentlich schmerzlicher, wenn das Rentenniveausinkt.Wir müssen die Frage stellen, wie solche Versorgungs-lücken gefüllt werden können. Es ist wichtig, dass die pri-vate Vorsorge aufgebaut wird. Es muss aber auch dieFrage gestellt werden, ob die Betreffenden das leistenkönnen. Ich sehe immer wieder die Verkäuferin in derBäckerei vor mir, die einen Stundenlohn von 8 DM hat.Das ist kein Einzelfall. Wie soll die Betreffende mit dem,was Sie ihr bieten, klarkommen? Wie soll sie in der Lagesein, die private Vorsorgemit dem minimalen Einstieg in
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Ulla Schmidt
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die private Vorsorge überhaupt zu leisten? Ich muss Ihnensagen: All das, was Sie heute an geplanten Neuregelungenund Verbesserungen für die Frauen verkündet haben,wirkt sich nicht zum Vorteil für die Frauen aus. Sie spre-chen von der Aufwertung der Teilzeitbeschäftigung beider Rente. Dies führt tatsächlich zu einer leichten Ver-besserung der Situation der Frauen.
– Ich werde nicht blass vor Neid, aber ich werde blass,wenn ich sehe, was das unter dem Strich für Frauen be-deutet. Das will ich Ihnen einmal sagen.
Frau Kolle-
gin Böhmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Lassen Sie mich zu-
erst diesen Gedanken zu Ende führen! Danach können Sie
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Eine Hausfrau, die fünf Jahre Vollzeit gearbeitet hat,
diese dann wegen Kindererziehung unterbrochen und da-
nach acht Jahre Teilzeit gearbeitet hat, bekäme nach gel-
tendem Recht 598 DM, eine katastrophal niedrige Rente.
Wenn sie die nach Ihrem Gesetzentwurf vorgesehenen
kindbezogenen Leistungen bekäme, hätte sie 662 DM.
Aber sie muss eine Verringerung des Rentenniveaus ver-
kraften. Damit bekommt sie unterm Strich weniger als
heute.
Nehmen wir als weiteres Beispiel die Frau, die 39 Jahre
Teilzeit gearbeitet und zwei Kinder großgezogen hat.
Nach geltendem Recht bekäme sie 1 239 DM. Trotz der
Aufbesserung, die Sie für Teilzeitbeschäftigung vorsehen,
wird sie später 5 Prozent weniger haben. So sieht die
Rechnung aus. Das bedeuten Ihre angeblichen Verbesse-
rungen für Frauen.
Gestatten
Sie jetzt die Frage des Kollegen Brandner?
Ja.
Frau Kollegin Böhmer, Sie
haben uns mitgeteilt, dass Sie das Wahlprogramm der
SPD gelesen haben, aber nicht, ob Sie auch den Gesetz-
entwurf zur Rentenreform kennen.
Ist Ihnen entgangen, dass der Gesetzentwurf vorsieht,
dass insbesondere die Entgelte von Frauen, die während
der Kindererziehungsphase Teilzeit arbeiten, rentenrecht-
lich über zehn Jahre so aufgewertet werden, dass diese
Frauen auf Rentenversicherungsbeiträge in Höhe des
Durchschnittsverdienstniveaus kommen, was letztlich er-
hebliche Rentensteigerungen zur Folge haben wird?
Herr Kollege, ich bin
zum einen etwas verwundert, dass Sie sagen, dass es
durchaus einen Unterschied zwischen dem Wahlpro-
gramm der SPD und dem Entwurf, den Sie vorgelegt ha-
ben, geben könne. Das ist Ihre Aussage. Sie bestätigen
also noch die große Diskrepanz, die hier besteht.
Zum anderen habe ich gerade erläutert, dass die Höher-
bewertung der Teilzeitarbeit durch die Veränderungen des
Rentenniveaus für Frauen aufgefressen wird. Alles, was
Sie im Bereich der Teilzeitarbeit machen, wird durch die
Absenkung des Rentenniveaus für Frauen zunichte ge-
macht.
Frau Kolle-
gin Böhmer, nun möchte Frau Schmidt eine Frage stellen.
Gestatten Sie diese?
Ja, bitte.
Frau Kollegin
Böhmer, ist Ihnen, wenn Sie den Gesetzentwurf der Ko-
alitionsfraktionen und der Bundesregierung gelesen ha-
ben, aufgefallen, dass gerade der Rententeil, dem höher
bewertete Erziehungszeiten zugrunde liegen, bei der Kür-
zung durch den Ausgleichsfaktor ausgenommen wurde?
Frau KolleginSchmidt, ich habe mir genau diese Stelle sehr intensiv an-gesehen. Ich halte es für richtig, dass Sie das so machen.Das ändert aber nichts daran, dass die Absenkung desRentenniveaus in dieser dramatischen Art und Weise nichtdurch die Aufwertung der Teilzeit kompensiert werdenkann.
Im Gegenteil, es kommt unter dem Strich trotz der Auf-besserung der Teilzeitarbeit zu einem Minus für dieFrauen.
– Frau Kollegin, ich möchte weiter antworten und bitteSie, so freundlich zu sein, meine Antwort auch entgegen-zunehmen.Sie haben die Aufwertung nur für die Teilzeitarbeit ge-macht. Nur dort berücksichtigen Sie die Kindererzie-hungszeiten
und dann – lassen Sie mich erst zu Ende reden –, wenn je-mand einen geringen Verdienst hat. Ich habe den Entwurfweitergelesen. Wir haben Ihnen gesagt, dass es nicht nur
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verfassungsrechtlich bedenklich, sondern auch sozial un-gerecht sei, nur bei einer Gruppe von Frauen die Kinder-erziehungszeiten besser zu bewerten. Gerade die Frauen,die wegen Kindererziehung ihre Erwerbstätigkeit unter-brochen haben, waren bei Ihnen zunächst außen vor. AlsReaktion auf unseren harten Protest haben Sie erklärt, werzwei oder mehr Kinder habe, solle eine analoge Verbes-serung erhalten. Entsprechendes haben Sie für behinderteKinder getan.
– Nein, das ist richtig. – Sie haben allerdings die Müttervergessen, die ein Kind großziehen. Ich frage mich nochheute, worin die Rechtfertigung dafür liegt, dass Kinder-erziehung bei Ihnen ungleich behandelt wird.
Frau Schmidt, ich bin mit meiner Antwort noch nichtfertig.
Ich muss Ihnen nämlich noch sagen, dass die Frauen, dieälter sind und ihre Kinder vor 1992 geboren haben – Siehaben den Schnitt ab 1991 gemacht –, keinen Gewinn vonIhren Vorschlägen haben, obwohl sie Teilzeitarbeit ver-richten.
Das heißt, alle Frauen, die ihre Kinder vor 1992 geborenhaben, gehen bei Ihnen völlig leer aus.
Das ist der Skandal an diesem Gesetzentwurf.
Dies ist besonders dramatisch; denn diese Frauen be-kommen geringere Renten, weil sie länger für die Fami-lien da waren. Diese Frauen können keine private Vor-sorge mehr aufbauen. Diese Frauen werden von derAbsenkung des Rentenniveaus getroffen, obwohl siedafür gesorgt haben, dass morgen Beitragszahler da sind.So kann man mit der Leistung von Frauen in Deutschlandnicht umgehen.
Frau Schmidt, möchten Sie noch etwas fragen? Ich bingern zu weiteren Auskünften bereit.
– Sie können mich gern noch einmal fragen. Wir machendas dann so wie in einer Prüfung. Ich werde Ihnen danngerne eine Antwort geben.Ich komme nun zur Witwenrente und damit zu dem ei-gentlichen Drama. Der Begriff „Witwenrente“ ist bisheute nicht angeklungen, obwohl 98 Prozent der Rentne-rinnen in Deutschland auf sie angewiesen sind. Jetzt er-folgt eine Mehrfachkürzung bei der Witwenrente. Sie ha-ben im letzten Jahr – das hat die „Bild“-Zeitung als„Horrormeldung aus Bonn“ bezeichnet – angekündigt,dass die Witwenrente gekürzt werden soll. Daraufhin ha-ben wir mit Ihnen gekämpft. Ich habe Sie vor einem Ren-tenroulette gewarnt, als Sie eine Wahlmöglichkeit zwi-schen der Hinterbliebenenversorgung und einemSplittingansatz eröffnen wollten.
Ich habe Ihnen immer gesagt, dass Sie die Finger davonlassen sollen; denn nur derjenige, der weiß, wer in der Ehezuerst stirbt, kann sicher wählen, welches Modell – Hin-terbliebenenversorgung oder Splitting – besser ist. Dasaber würde bedeuten, dass Sie den Menschen in Deutsch-land ein makaberes Vabanquespiel zumuten.
Wer glaubt, dass Sie aus unserem Vorschlag, die Wit-wenrente in eine eigenständige Sicherung umzuwandelnund dabei die Kinderzahl zu berücksichtigen, gelernt hät-ten, muss erneut erkennen, dass sich bei Ihnen das Ganzein Überschriften erschöpft. Sie gehen zwar so vor, dassSie die Höhe der Witwenrente nach der Kinderzahl staf-feln; aber es ist wichtig – wie so oft bei der SPD – nach-zurechnen. Nach der Neuregelung ist das Niveau der Wit-wenrente für eine Hausfrau, wie ich sie eben beschriebenhabe, und für eine Frau, die einer Teilzeitbeschäftigungnachgeht, nicht höher als nach geltendem Recht; denn Siesehen eine Festschreibung des Freibetrages vor und Siewollen zukünftig alle Einkommen, also auch Spargutha-ben – Geld, das man mühselig auf die hohe Kante gelegthat; ich erinnere an den Fall, dass man das Geld für einekleine Wohnung gespart hat, die man vermietet –, anrech-nen. Ich kann allen in Deutschland nur raten, die Fingervon entsprechenden Sparplänen zu lassen; denn das, wasdie SPD plant, ist völlig kontraproduktiv. Wer spart undspäter eine Witwenrente bezieht, wird der Dumme sein.
Unter dem Strich bedeuten Ihre Pläne, dass die Haus-frau durch die Verrechnung bei der Witwenrente zu-künftig 11 Prozent weniger bekommt. Eine Frau, die ei-ner Teilzeitbeschäftigung nachgeht, bekommt 29 Prozentweniger und eine Frau, die einer Vollzeitbeschäftigungnachgeht, bekommt sogar 34 Prozent weniger. Obwohl esFrauen gibt, deren Einkommen nach Ihren Plänen im Al-ter um ein Drittel niedriger ausfällt – das Minus im Porte-monnaie kann bei 300 DM liegen –, verkaufen Sie denMenschen draußen, dass Frauen die Gewinnerinnen derRentenreform sind. Lesen Sie erst einmal Ihren eigenenEntwurf und dann reden wir weiter!
Unter diesem Gesichtspunkt kann ich Ihnen nur sagen:Eine Rentenreform, die an der Mehrheit der Rentenemp-fänger vorbeigeht und die für zwei Drittel der Menschen,
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die heute Rente beziehen, bzw. für die Mehrheit derjeni-gen, die zukünftig eine Rente beziehen werden, Unge-rechtigkeit bedeutet, sowohl was die Gleichbehandlungder Generationen als auch was die zukünftige Situationder Frauen betrifft, verdient es nicht, „zukunftsorientiert“genannt zu werden. Zur Verständigung über diese Reformwerden wir nicht die Hand reichen.
Ich gebe der
Kollegin Dr. Thea Dückert für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Die Rentendebatte zeichnet sich schon seit Jahren durch
Wortungetüme und Zahlengestrüppe aus. Wer kennt den
„Eckrentner“ oder den „Standardrentner“? Wer in unserer
Bevölkerung kann glaubhaft nachvollziehen, dass die Be-
hauptung von Herrn Seehofer, der demographische Fak-
tor sei besser als der Ausgleichsfaktor, stimmt? Ich
glaube, dass noch nicht einmal Ihre Fraktion das wirklich
versteht.
Das heißt, das Problem ist schwer zu lösen. Niemand
versteht eine Fachdebatte, wie sie hier geführt wird. Die
Mehrheit der Bevölkerung versteht aber, worum es im
Kern geht. Der normale Menschenverstand legt einem ei-
nes nahe: Wer erlebt und weiß, dass die Bevölkerung ins-
gesamt heutzutage eine höhere Lebenserwartung hat
– was zu begrüßen ist –, dass in dieser Gesellschaft aber
gleichzeitig weniger Kinder geboren werden, der kann an
fünf Fingern abzählen, dass es mit der Umlagefinanzie-
rung Probleme geben muss und geben wird. Das haben
die Menschen erkannt. Aus eigener Anschauung wissen
sie, dass die gesetzliche Rentenversicherung einer
grundsätzlichen Reform bedarf. Wichtig ist vor allen
Dingen, dass sie ein zweites – kapitalgedecktes – Stand-
bein bekommt.
Übrigens, Frau Schwaetzer, wir führen eine kapitalge-
deckte Säule ein, die Sie zu Ihrer Regierungszeit nicht ha-
ben durchsetzen können.
– Das war mit Blüm nicht zu machen. Ich danke Ihnen. –
Gleichzeitig steigen wir – Sie haben das hier an-
gezweifelt – in die nachgelagerte Besteuerung ein.
Ich freue mich, dass wir seit gestern nachlesen können,
dass der Sachverständigenrat, der der Arbeits- und Sozi-
alpolitik der Bundesregierung ja nicht unbedingt immer
sehr positiv gegenübersteht, sagt, dass wir gerade an die-
ser Stelle Probleme der Zukunft aufgreifen und dass des-
wegen unser Handeln zukunftsfähig ist.
Es braucht Mut, das, was eigentlich so einfach nachzu-
vollziehen ist, auszusprechen und hier Wahrheiten zu be-
nennen.
Die eine Wahrheit ist: Die gesetzliche Rente reicht in
der Zukunft nicht aus, um den Lebensstandard zu sichern.
Walter Riester hat vor anderthalb Jahren dieses das erste
Mal sehr deutlich gesagt. Diese Aussage ist in der „Bild“-
Zeitung, natürlich mit freundlicher Unterstützung der Op-
position,
zerrissen worden. Seine Aussage ist mit Argumenten zer-
rissen worden wie: Den Rentnern wird in die Tasche
gegriffen. Seine Aussage meinte aber vielmehr, dass die
junge Generation wegen der demographischen Entwick-
lung zukünftig Probleme mit der Rente bekommen wird.
Das heißt, dass der jungen Generation Lösungen für die
Zukunft angeboten werden müssen, weil nicht die Gene-
ration, die schon in Rente ist, dieses Problem hat. Das
Problem entsteht dadurch, dass beispielsweise der Alters-
aufbau dieser Gesellschaft im Jahre 2030 völlig anders
aussehen wird.
Eine zweite Wahrheit, die wir im Zusammenhang mit
dieser Rentenreform benennen müssen, lautet, dass die
Belastungen steigen werden. Wir müssen darüber reden,
dass wir diese Belastungen gerecht und fair zwischen den
Generationen verteilen. Für uns, meine Damen und Her-
ren, bedeutet das, dass auch die ältere Generation ihren
Beitrag leisten muss.
– Wir verraten Ihnen gerne, auf welche Weise: nämlich
durch einen geringeren und langsameren Anstieg der
Renten, und zwar schon in dieser Legislaturperiode. Das
ist der Beitrag der älteren Generation. Daraus haben wir
nie einen Hehl gemacht. Ich bitte Sie von der Opposition,
dieses endlich ehrlich und gemeinsam mit uns auszu-
sprechen.
Frau Kolle-
gin Dückert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Knake-Werner?
Ja,
gerne.
Frau KolleginDückert, könnten Sie mir die Frage beantworten, warum
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Sie die zukünftige Rentenlast zwar gerecht zwischen denGenerationen, aber ganz offensichtlich nicht gerechtzwischen Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten ver-teilen wollen? Es ist ja wohl eindeutig, dass nach IhremKonzept die Arbeitgeber künftig 11 Prozent in die Renten-versicherung einzahlen sollen, die abhängig Beschäftig-ten und damit die junge Generation aber 15 Prozent. Wieerklären Sie sich denn diese Ungerechtigkeit? Ich finde,das hat mit sozialer Gerechtigkeit nicht so viel zu tun.
Frau Knake-Werner, wir stimmen sicherlich in dem Punkt
überein, dass man unterschiedliche Perspektiven wählen
kann, um die Frage der sozialen Gerechtigkeit zu be-
trachten. Sie geben hier ein Argument zu bedenken, das
auch die Gewerkschaften vortragen, nämlich dass der
Einstieg in die private Vorsorge die paritätische Fi-
nanzierung sozusagen untergraben würde. Ich habe eben
vorgetragen, dass das Grundproblem darin besteht,
dass das zukünftige Rentenniveau der gesetzlichen
Rentenversicherung den Lebensstandard der jeweiligen
Generation nicht mehr sichern kann und wir deshalb
zusätzlich private Vorsorge brauchen. Die gesetzliche
Rentenversicherung ist paritätisch finanziert und wird
paritätisch finanziert bleiben. Aber wir besitzen die
Ehrlichkeit, der jungen Generation heute zu sagen: Liebe
Leute, wenn ihr euren heutigen Lebensstandard auch als
Rentner haben wollt, dann müsst ihr zusätzlich privat vor-
sorgen. Wir schreiben ihnen nicht vor, wie sie privat vor-
sorgen sollen – private Vorsorge heißt, einen eigenen
Beitrag zu leisten –, sondern wir geben ihnen einen
Zuschuss zur privaten Vorsorge. Sie müssen also nicht
alleine dafür sorgen, schon gar nicht die Bezieher kleiner
Einkommen.
Außerdem haben sie die Wahl zwischen der privaten
und der betrieblichen Vorsorge. Sie wissen, dass über Ta-
rifverträge allerlei Zuschuss von Arbeitgebern für die be-
triebliche Vorsorge ausgehandelt werden kann bzw. auch
schon existiert.
Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ein Abtauchen vor der
Realität, wenn Sie behaupten, dass wir hier Gerechtigkeit
untergraben. Nein, wir geben hier vielmehr eine Hand-
lungsmöglichkeit gerade für die junge Generation, selbst-
ständig mit Unterstützung des Staates ihre Rente zu si-
chern.
Frau
Dückert, gestatten Sie eine Zusatzfrage von Frau Knake-
Werner?
Ja.
Außerdem
hat sich der Kollege Seehofer zu einer Zwischenfrage
gemeldet. Ihre Redezeit wird dadurch nicht beein-
trächtigt.
Sie haben meine
Frage nicht beantwortet. Ich habe gefragt: Wie wollen Sie
denn eigentlich die Arbeitgeber in Ihr Konzept von
sozialer Gerechtigkeit einbeziehen? Darauf haben Sie
jetzt nicht reagiert. Das wüsste ich aber gerne, weil unser
Verständnis von Parität, von solidarischer Finanzierung
der Rentenversicherung, bisher ist, die Beiträge zwischen
Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten aufzusplitten.
Jetzt haben Sie ein anderes Konzept gewählt: Absen-
kung des Rentenniveaus und ergänzende private Vor-
sorge, um so die heute bestehende gesetzliche Rente zu si-
chern. Da bleiben die Arbeitgeber vor der Tür. Wie wollen
Sie die Arbeitgeber in Ihr Konzept einbeziehen?
Frau Knake-Werner, es tut mit Leid, Sie haben mir viel-
leicht nicht richtig zugehört. Ich glaube, ich habe ein-
deutig und unmissverständlich gesagt, dass die gesetz-
liche Rentenversicherung in der Vergangenheit, zum
heutigen Zeitpunkt und in der Zukunft paritätisch fi-
nanziert wird, dass wir den Menschen aber sagen, dass wir
ihnen, wenn sie sich zusätzlich besser absichern wollen,
Hilfestellung geben. Ich denke, das ist, was Chancen-
verteilung anbelangt, eine angemessene, faire Reaktion
und auch eine gerechte Reaktion auf die Veränderungen in
dieser Gesellschaft.
Herr Kol-
lege Seehofer.
Frau Kollegin Dückert,Sie haben gerade gesagt, Sie wollten den Menschen nichtvorschreiben, wie sie sparen und ob sie sparen. Das hatmich jetzt doch etwas überrascht; denn wir haben heuteNacht in Ihrem Gesetzentwurf einen neuen Satz gefun-den, der da lautet:Ob der Abschluss eines privaten Altersversi-cherungsvertrages obligatorisch vorgesehen werdensoll, ist im Laufe der weiteren Legislaturperiode zuprüfen.Das heißt, im Gegensatz zu allen bisherigen Ge-sprächen, die wir geführt haben, spielen Sie jetzt mit demGedanken, in Deutschland einen Sparzwang einzuführen.
Sie schreiben ja von Prüfung in der „weiteren Legis-laturperiode“. Haben Sie die Absicht – mich interessiertjetzt die Meinung der Grünen –, das den Menschen nochvor der Bundestagswahl zu sagen oder erst anschließend?
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Herr Seehofer, ich antworte Ihnen gerne auf diese Frage,aber ich muss zunächst darauf hinweisen: Sie habenmeine letzte Antwort missinterpretiert. Wenn ich vonWahlfreiheit bei der privaten Vorsorge sprach, dann habeich von der Freiheit für den Arbeitnehmer und für alle an-deren gesprochen, zwischen den Systemen privater undbetrieblicher Vorsorge und auch die Anlageform frei zuwählen.Die Frage, ob wir bei der zusätzlichen, kapitalgedeck-ten Vorsorge zukünftig zu einem Obligatorium kommenmüssen, ist im Moment abschließend nicht zu beantwor-ten. Ich sage: Es kann sein. Ich persönlich bin davon über-zeugt, dass die Stütze, die wir als Hilfe für den Aufbau derprivaten Förderung geben, und zwar gerade Beziehernkleiner Einkommen, gerade Menschen mit Kindern, zu ei-ner privaten Vorsorge in jedem einzelnen Haushalt führenwird. Und dann wird dieses Obligatorium nicht notwen-dig sein.
Meine Damen und Herren, ich möchte meine Redefortsetzen und dabei an eine Äußerung aus der CDU/CSUanknüpfen. Herr Seehofer hat uns vorhin mit der Kritik anunserem Konzept – es macht eben das, was er Quanten-sprung nennt, nämlich Aufbau der privaten Vorsorge, derkapitalgedeckten Vorsorge – gesagt, dieses alles sei nichtgenug. Die CDU/CSU hat ihre Kritik formuliert: Es reichtalles nicht; es reicht an keiner Stelle: Es reicht nicht beider Frauenförderung und so weiter. Herr Seehofer wollteuns das blümsche Konzept verkaufen.Meine Damen und Herren, wir können hier trefflichüber Faktoren streiten; dazu sagte ich eingangs etwas.Aber wir können nicht darüber streiten, dass die Zukunfts-fragen in der blümschen Rentenreform überhaupt nichtangedacht worden waren.
Wo ist in der blümschen Rentenreform auch nur an-satzweise der Aufbau einer kapitalgedeckten Altersvor-sorge sichtbar, was Sie, Herr Seehofer, heute als Quan-tensprung bezeichnen? Sie haben über das Ganze geredet,getan haben Sie nichts; es war ein Nullangebot hin-sichtlich der Zukunftsfragen.
Wo in Ihrem Konzept – Frau Schwaetzer hat es ja ge-rade zugegeben – ist zum Beispiel die nachgelagerte Be-steuerung angegangen worden?
– Frau Schwaetzer, Sie wollen uns hier ein längst ausge-laufenes Modell als Rentenkonzept verkaufen.
Wir haben in der Zukunft ganz andere Probleme zu lösenund dazu brauchen wir die kapitalgedeckte Altersvorsorgeund übrigens auch die nachgelagerte Besteuerung.
Sie haben genau diese Herausforderung verschlafen,meine Damen und Herren.
Sie verlangen bei der privaten Vorsorge eine verstärkteFörderung für Familien mit Kindern. Dazu möchte ichzwei Dinge festhalten. Erstens. Wir sorgen nicht nur füreine steuerliche Unterstützung, sondern wir haben für die-jenigen mit kleinem Einkommen, die keine Steuern zah-len – weil wir eine gute Steuerreform gemacht ha-ben –, einen direkten Zuschuss vorgesehen. Wir nehmenviel Geld in die Hand, für den Zuschuss bei kleinen Ein-kommen beispielsweise 20 Milliarden DM.Zweitens. Wir haben einen doppelten Kinderfaktorvorgesehen, das heißt, je mehr Kinder jemand hat, destogeringer wird der Mindestbeitrag, den er leisten muss, umin die private Vorsorge zu kommen.
Aber nicht genug damit: Für jedes Kind gibt es360 DM. Wir haben vorhin gehört, was das zum Beispielfür eine Alleinerziehendemit zwei Kindern bedeutet, diedann mit 10 DM Monatsbeitrag in eine mit über 2 000DMrecht gut finanzierte private Altersvorsorge kommenkann. Auch hier läuft Ihre Kritik vollständig ins Leere.Allerdings haben wir für die Frauen an dieser Stellenoch sehr viel mehr getan. Die Ehefrau zum Beispiel, dienicht arbeitet, weil sie die Kinder erzieht, wird mit diesemKonzept – das ist eingeklagt worden – eigenständig fi-nanziert. Eine Frau mit zwei Kindern kann so 1 200 DMals Zuschuss für die private Vorsorge für sich geltend ma-chen. Das sind keine Peanuts, das ist nicht gar nichts, wieSie es uns geboten haben, sondern das ist ein reales An-gebot an die Frauen.
Mich freut an dieser Stelle besonders, dass Alleiner-ziehende durch unseren Ansatz in den Genuss einer zu-sätzlichen Unterstützung kommen, nicht nur bei der pri-vaten Vorsorge, sondern auch bei der Rente. Was Sievorhin diskutiert haben, nämlich dass jetzt endlich die Er-ziehung des Kindes während der ersten zehn Jahre quasimit zusätzlichen Beiträgen in die Rentenversicherung un-terstützt wird, hilft gerade allein erziehenden Frauen.Wenn eine Frau im vierten Lebensjahr ihres Kindes in Ar-beit geht, Teilzeit oder Vollzeit, wird sie unterdurch-schnittlich verdienen. Das ist in dieser Gesellschaft so, dieFrauen in dieser Weise diskriminiert. Aber sie wird, wennsie arbeiten geht, für die Jahre bis zum zehnten Lebens-jahr des Kindes einen Beitragsgegenwert von etwa
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22 000 DM bekommen. Ich frage Sie: Ist das nichts oderist das eine Unterstützung der allein erziehenden Frauen?
Frau Kolle-
gin Dückert, Sie haben Ihre Redezeit jetzt deutlich über-
schritten. Ich schlage vor, dass Sie einen schönen Ab-
schlusssatz formulieren.
Ich mache jetzt einen schönen Abschluss.
Erstens möchte ich, auch an Frau Böhmer gerichtet, sa-
gen, dass wir eine ehrliche Debatte wollen. Dazu gehört
übrigens, dass Sie hier nicht verbreiten dürfen, dass Wit-
wen heute eine gekürzte Hinterbliebenenrente bekom-
men.
Nur bei Frauen, die heute unter 40 Jahre sind, wird die
Regelung überhaupt greifen. Wir wollen auch nicht, dass
die Frauen am Kochtopf kleben bleiben.
Zweitens sage ich abschließend: Ich glaube, wir haben
ein rundes Konzept, das mutig ist, weil es Wahrheiten an-
spricht, das einen Quantensprung bedeutet, weil wir in die
private Vorsorge gehen,
das Frauen hilft, vor allem Alleinerziehenden, und das Er-
werbsbiografielücken auffüllt.
Ich danke Ihnen.
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den vierMinuten Redezeit, die mir verbleiben, kann ich mich aufnur wenige Punkte konzentrieren.Ich war ja doch überrascht, Frau Kollegin Dückert,dass Sie jetzt wieder die nachgelagerte Besteuerung an-gemahnt haben. Sie hätten doch genug Zeit gehabt, dies inder Koalition durchzusetzen.
Aber die Grünen haben ja folgendes Leitmotiv: Vorherwerden die Backen aufgeblasen und große Forderungengestellt. Dann gibt es dramatische Verhandlungen undzum Schluss kommt das heraus, was die SPD schon vor-her angekündigt hat. – Das haben wir in dieser Woche er-lebt, als das neue Sprecherduo Kuhn/Künast erheblicheVeränderungen gefordert hat und hinterher nichts heraus-gekommen ist. Sie sind als Sturmvögel gestartet und alsTeichhühner gelandet.
Das erleben wir die ganze Zeit: Die nachgelagerteBesteuerung gilt nur für die private Vorsorge. Es bleibt,wie Herr Riester vorgeschlagen hat, bei der Verschiebungder privaten Vorsorge. Die Forderungen der Grünen sindabgelehnt bzw. schubladiert worden.Im Rahmen der Invalidenrente sollten ursprünglichkeine Kosten auf die Krankenversicherung übertragenwerden. Genau das Gegenteil ist jetzt eingetreten:
250 Millionen DM werden auf die Krankenversicherungübertragen. Über die restlichen Kosten in Höhe von50 Millionen DM ist noch nicht entschieden. Die werdenwahrscheinlich ein Jahr später bei der Krankenver-sicherung landen.Die junge Generation soll geschont werden. Das istdoch das Generalthema der Grünen; das ist übrigens auchunser Generalthema. Nur, genau das Gegenteil tritt ein:Wer kann mir erklären, wie die junge Generation geschontwird, wenn deren Beiträge in Zukunft auf 26 bzw. 28 Pro-zent steigen? Genau das ist hier vorgesehen.
Herr Riester, davon zu sprechen, dass die derzeitigenBeiträge von 19,1 gesenkt werden, das ist mathematischeinfach nicht erklärbar, wenn sie nach Ihrem Plan auf26 bis 28 Prozent steigen sollen.
Ein interessanter Punkt ist hier noch gar nicht ange-sprochen worden: In den Annahmen, die diesen Berech-nungen zugrunde liegen, ist eine zehn- bis zwanzigjährigePeriode der Hochkonjunktur vorgesehen. Die Berech-nungen, so wie sie jetzt durchgeführt worden sind, tretennur dann ein, wenn dies auch so ist.
Wenn aber die Entwicklung so verläuft, wie sie immerwar, nämlich dass es auch einmal konjunkturelleRückschläge gibt, dann werden allein die Beiträge zurgesetzlichen Rentenversicherung – das wird schon heutevon den Fachleuten so berechnet – auf etwa 23 bzw.24 Prozent ansteigen. Kämen noch 4 Prozentpunkte fürdie private Vorsorge hinzu, ergäbe sich ein Beitragsniveauvon 28 Prozent allein für die Rentenversicherung. DieBeiträge für die Krankenversicherung und für diePflegeversicherung werden aller Voraussicht nach eben-
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Dr. Thea Dückert12774
falls ansteigen. Wir erreichen somit ein Beitragsniveau,das man jungen Menschen wirklich nicht mehr zumutenkann.
Es wäre unverantwortlich, dem die Zustimmung zugeben. Denn unser Grundanliegen ist: Die Lastenver-teilung muss für die Generationen gerecht gestaltet wer-den.Den gleichen Fehler begehen Sie bei dem von Ihnenvorgesehenen so genannten Ausgleichsfaktor. Er kommtzu spät, trifft einseitig die junge Generation und veranlasstdie Menschen, vorzeitig in Rente zu gehen. Er ist also völ-lig falsch angelegt.
Dies ist ein zweiter Punkt, bei dem deutlich wird, dass diejunge Generation die Hauptlasten zu tragen hat, dass dieLasten steigen und dass von Generationengerechtigkeitüberhaupt nichts übrig bleibt. Ich möchte die Sprüche derGrünen über das Erfordernis der Generationengerech-tigkeit nicht mehr hören. Sie haben auf der gesamtenFront versagt und in den Rentenreformverhandlungenüberhaupt nichts durchgesetzt.
Lassen Sie mich abschließend ein Wort zur privatenVorsorge sagen: Der in diesem Zusammenhang vorgese-hene Anlagekatalog wird von Verhandlungswoche zu Ver-handlungswoche immer enger geschnürt. Jetzt wird er an-geblich auch noch mit einem Tarifvorbehalt versehen.Wenn Sie einen gesetzlichen Tarifvorbehalt einführen,dann ist das eine Kriegserklärung gegen das Bündnis fürArbeit. Das sage ich Ihnen voraus.
Dann brummt es aber in Deutschland. Das hieße ja, dassdie gesetzlich vorgesehene Förderung der Vorsorge-beiträge daran gebunden ist, dass sie in Tarifverträgen soausgehandelt wird. Da, wo dies nicht geschieht, würdendie Arbeitnehmer außen vor bleiben. Das kann doch wirk-lich nicht sein. Ich habe nichts dagegen, dass tarifver-traglich etwas vereinbart wird. Das entspricht ja auch derTarifautonomie. Aber die gesetzlichen Bedingungen kön-nen doch nicht an Tarifverträge geknüpft werden. FrauDückert, da hätten Sie verhandeln können. Dieser Punktist jetzt plötzlich neu in der Öffentlichkeit bekannt gege-ben worden. Ich frage mich, wo Ihr Einfluss geblieben ist.Meine Damen und Herren, so, wie es jetzt vorgesehenist, ist das nicht zustimmungsfähig. Wir sind gern bereit,an den Verhandlungen konstruktiv teilzunehmen, aber ichsehe nicht, wie in den drei verbleibenden Sitzungswochen– wenn Sie die Haushaltswoche ausklammern, bleibennicht mehr Sitzungswochen – eine grundsätzliche Ver-handlung dieses sehr komplexen und komplizierten Sach-verhalts durchgeführt werden kann.
Wir haben uns von Anfang an konstruktiv an den Ver-handlungen beteiligt. Nach den vielen Haken, die Sie ge-schlagen haben, sind wir aber heute verwirrter als am An-fang der Diskussion. Ich bitte Sie, klären Sie erst einmaldie Meinungsverschiedenheiten in Ihren Reihen, danachreden wir über das, was Sie als Vorschläge vorlegen. Mitdem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wird das kaummöglich sein.Vielen Dank.
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Liebe Betroffene auf den Rängen und imLande! Wir reden heute nicht nur – in erster Lesung – überdas Rentenreformkonzept der Bundesregierung, sondernwir sollen auch das Erwerbsminderungsrentenver-schlechterungsgesetz verabschieden. Die PDS lehnt denvorliegenden Gesetzentwurf ab. Ich hätte ungefährelfundneunzig Punkte, das hier zu begründen, werde michaber auf wenige beschränken, weil mich die Zeit dazuzwingt.Ihr eigener Entwurf, Herr Minister, entspricht wederder Maßgabe der 1998 von Ihnen getroffenen Koalitions-vereinbarung, die vorsah, bis zum 31. Dezember diesesJahres eine Regelung für eine armutsfeste Erwerbs-minderungsrente vorzulegen, noch – das ist für unswichtiger – entspricht er den Interessen der betroffenenMenschen.
Mit der Erlaubnis von Herrn Jörg Rosin aus Kempen,nahe der niederländischen Grenze, möchte ich daher auseinem Schreiben an den Petitionsausschuss des Bundes-tages zitieren – ich glaube, es sagt genug aus –:Ich möchte mich in einer besonderen Notlage an Siewenden und hoffe, dass Sie mir helfen kön-nen ...Ich wurde am 17. 6. 1962 geboren. Seit 1981 bin ichdurch einen Verkehrsunfall querschnittsgelähmt undständig auf einen Rollstuhl angewiesen. Seit 1983beziehe ich eine Erwerbsunfähigkeitsrente und gehe„auf Kosten meiner Gesundheit“ einer Halbtagsbe-schäftigung bei der Stadtverwaltung Kempen nach.Dadurch habe ich Gesamteinkünfte von circa3 400 DM brutto.Durch die Rentenreform, die ab Januar 2001 fürmich gilt, ändert sich Folgendes: Zunächst einmalwird die Erwerbsunfähigkeitsrente in eine um einDrittel niedrigere Berufsunfähigkeitsrente umge-wandelt. Um diese voll zu erhalten, dürfte mein Ein-kommen allerdings 1 250 DM brutto nicht überstei-gen.
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Dr. Hermann Otto Solms12775
Durch mein zu hohes Gehalt bei der Stadtverwaltung
bekomme ich ab Januar 2001 nur
noch ein Drittel der BU-Rente. In DM ausgedrücktbedeutet das, dass ich ab Januar 2001 circa1 900 DM Bruttogehalt plus circa 350 DM BU-Rente bekomme.Schätzungsweise wird ein Nettoeinkommen voncirca 1 920 DM übrig bleiben. Zudem wird meinKrankenkassenbeitrag vom ermäßigten auf den nor-malen Beitrag angehoben.Allein zum Wohnen muss ich monatlich circa1 250 DM aufbringen.Demnach stehen meiner Frau und mir circa 670 DMfür Lebensmittel, Auto, Kleidung, Telefon, Versiche-rung usw. zur Verfügung.Aufgrund meiner Behinderung gehe ich durch dieHalbtagsbeschäftigung über meine körperlichenMöglichkeiten hinaus, weshalb es mir nicht möglichist, noch mehr zu arbeiten und mehr Geld zu verdie-nen.Ich finde so eine Art der Rentenreform, gelinde ge-sagt, behindertenfeindlich, weil der Staat uns da-durch in eine Situation hineindrängt, aus der es kei-nen Ausweg gibt.Würde ich meine Arbeit aufgeben, um die EU-Rentein Anspruch zu nehmen, müsste ich mit circa1 600 DM brutto auskommen. Das ist zudem einSchritt, den ich nicht gehen möchte, weil ich meineverbleibende Arbeitskraft nutzen möchte, um soauch am öffentlichen Leben teilzuhaben.Wie ich die Sache auch drehe und wende, der Staathat mich durch diese Reform absolut ins finanzielleAbseits gedrängt.So weit der Brief von Herrn Rosin.Ich fordere deshalb – jetzt spricht wieder der PDS-Ab-geordnete – die Bundesregierung auf: Ziehen Sie diesesGesetz, das ein Erwerbsminderungsverschlechterungs-gesetz ist, zurück! Heute haben Sie dazu noch die Chance.Bleiben Sie bei der geltenden, für die Betroffenen günsti-geren Rechtslage wenigstens noch für ein Jahr. Sie hätten,auch die Möglichkeit, das RRG 99, das die CDU/CSU-F.D.P.-Regierung beschlossen hat, abzuschaffen. Dannwürde der jetzige Zustand weiterhin gelten, der immernoch besser als das ist, was Sie uns vorlegen.Der jetzt geplante Ausstieg aus der Solidarität mit ei-ner der schwächsten Gruppen in der Gesellschaft darf sonicht durchgehen. Das betrifft sowohl Menschen, dieHIV-positiv sind, wie Menschen mit chronischen Krank-heiten, etwa durch Arbeit verursacht oder durch UnfallGeschädigte. Wir, die PDS, sagen dazu: Mit uns ist einederart unsoziale Regelung nicht zu machen.
Für die
SPD-Fraktion gebe ich nun dem Kollegen Horst Schild
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Lassen Sie mich am Anfang noch zwei oderdrei Anmerkungen zu dem machen, was der KollegeSeehofer vorhin gesagt hat. Ich denke, es ist angemessen,beim Vortragen des einen oder anderen Argumentes imUmgang einigermaßen fair zu sein. Wenn Sie beispiels-weise sagen, Kollege Seehofer, dass es lächerlich sei, we-gen 13 Millionen DM die Förderung der zweiten unddritten Säule um ein Jahr zu verschieben, dann weiß ichnicht, wie Sie auf die 13 Millionen DM kommen.
Eines müssen wir vorab klarstellen – es ist hier nicht sodeutlich gesagt worden –: Es handelt sich um eine Ver-dopplung des Fördervolumens im ersten Jahr des Beginnsdieser Förderung.
– Es ist eine Verdopplung.
– Das ist klar. Darüber können wir reden. Aber wir müs-sen der Fairness halber sagen: Wenn ich insgesamt einEntlastungsvolumen von 20 Milliarden DM habe unddies – bezogen auf acht Jahre – pro Jahr im Durchschnitt2,5 Milliarden DM weniger Steuern einbringt, dann be-deutet natürlich auch die Verdopplung des Einstiegsvolu-mens einen zusätzlichen Ausfall von etwa 2,5 Milliar-den DM. Darüber können Sie gerne einmal mit den Ihrereigenen Partei angehörenden Finanzministern sprechen.Sie machen unserem Finanzminister und dem DeutschenBundestag Probleme, wenn es beispielsweise darum geht,der Erhöhung der Fahrtkostenpauschale zuzustimmen.Aber darüber kann man reden. Bloß muss dabei ehrlich ar-gumentiert werden.
Ein zweiter Punkt: Es ist nicht zutreffend – ich redejetzt nicht über den Diskussionsentwurf, sondern über denheute hier vorliegenden Gesetzentwurf –, wenn hier be-hauptet wird, die Durchführungswege der betrieblichenAltersvorsorge seien in diesem Gesetz nicht enthalten. Esist eindeutig, auch wenn es im Detail noch Nachbesse-rungen geben mag: Die Direktzusage und die Pensions-kasse als zwei Durchführungswege der betrieblichen Al-tersvorsorge sind durch diesen Gesetzestext erfasst.
Wir haben deutlich gesagt – das findet man in der Be-gründung des Gesetzentwurfes –, dass wir die weiterenDurchführungswege, nämlich die Unterstützungskasseund die Pensionszusage daraufhin prüfen werden, wieweit gegebenenfalls diese Durchführungswege in diesesFörderinstrumentarium eingefasst sind.
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Dr. Ilja Seifert12776
Frau Kollegin Schwaetzer, Sie haben vorhin gesagt:Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen habennicht den Mut gehabt, den Einstieg in die nachgelagerteBesteuerung vorzunehmen.
– Nein, Sie haben vorhin gesagt, wir hätten nicht den Mutgehabt, den Einstieg in die nachgelagerte Besteuerungvorzunehmen.
Kollege Solms hat so getan, als sei es gar nichts, was manhier gemacht hätte.
Ich freue mich, dass man mit diesem Gesetzentwurfdem Hause offensichtlich als Neuigkeit den Einstieg indie nachgelagerte Besteuerung verkünden kann, der inder Tat – ich schränke das jetzt ein – im Bereich der zu-sätzlich geförderten Altersvorsorge erfasst ist. Sie müssenauch einmal sehen, welches Fördervolumen einschließ-lich der Eigenbeiträge in den nächsten Jahren steuerfreigestellt wird. Niemand wird das heute sagen können. Wirhoffen, dass ein Großteil der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer des Personenkreises, der in diesem Gesetz ge-nannt ist, diese Möglichkeiten in Zukunft auch nutzt.Wenn sie genutzt werden, dann handelt es sich um einenormes Volumen, das steuerfrei gestellt wird. Es befin-det sich mindestens im zweistelligen Milliardenbereich.Man muss das Ganze natürlich ernsthaft prüfen.
– Ja, das ist etwas, worauf wir stolz sind, Herr Kollege.Dieser Einstieg ist doch immer wieder gefordert wor-den, und zwar nicht nur von der Wissenschaft oder vondenen, die im Bereich der betrieblichen Altersvorsorgetätig sind. Er ist doch auch von diesem Hause gefordertworden.
– Herr Kollege Seehofer, eines müssen wir zur Kenntnisnehmen: Wenn wir die nachgelagerte Besteuerung wol-len, dann hat das auch Konsequenzen für die steuerlicheBehandlung der Ansparphase. Wir können uns doch nichtjeweils nur die Rosinen herauspicken.
– Ich versuche gerade deutlich zu machen: Wir tun es ja.Wir haben hier kein Förderinstrument eingesetzt, das allegleich behandelt.
– Herr Kollege Laumann, ich versuche, gleich darauf ein-zugehen. – Wir haben vielmehr ein Förderinstrument ein-gesetzt, das insbesondere auf Familien mit Kindern beikleinem und durchschnittlichem Einkommen abzielt.
Wenn Sie sagen: „Wir wollen in dieser Republik denprogressiven Steuertarif abschaffen“, dann mag man sichdarüber unterhalten, wie man bisweilen die Kluft zwi-schen Zulage und steuerlicher Entlastung schließt. So-lange wir einen Steuertarif haben, der progressiv gestaltetist, geht das nicht – so schwer uns das auch ankommenmag. Auch wir würden gerne die Lücke zwischen Kin-dergeld und steuerlicher Entlastung für Kinder schließen.Das Problem werden wir erst dann lösen, wenn der För-derbeitrag so hoch ist, dass er an der Beitragsbemes-sungsgrenze dem Grenzsteuersatz entspricht. Eher gehtdas nicht. Eher können wir die Lücke nicht schließen. Wirmüssen uns entscheiden, was wir wollen. Wir wollen inder Ansparphase steuerfrei stellen.Das hat auch Konsequenzen. Erstmalig werden die hierim Gesetz genannten Durchführungswege bzw. Anla-gemöglichkeiten alle gleich behandelt:
ob Lebensversicherung, ob Banksparplan, ob Investment-fonds. Es hat auch Konsequenzen im Hinblick auf das,was sich in den Jahren aufbaut. Am Ende steht bei Eintrittin die Rente ein viel größeres Volumen zur Verfügung, alswenn wir beispielsweise in der Aufbauphase immer wie-der einen steuerlichen Zugriff haben. Da kommt am Endemehr heraus. Das kann man gut nachrechnen. Darauf sindwir stolz. Das Ganze hat natürlich auch Konsequenzen fürÜberlegungen zur möglichen zukünftigen steuerlichenBehandlung aller Alterssysteme.Ich möchte abschließend noch darauf hinweisen: Wennwir einmal die Verbindung zwischen dem Steuerentlas-tungsgesetz und dem herstellen, was wir an zusätzlicherFörderung in den Gesetzentwurf eingestellt haben, dannstellen wir beispielsweise fest: Ein verheirateter Durch-schnittsverdiener mit zwei Kindern wird im Jahre 2002durch das Steuerentlastungsgesetz 3 000 DM wenigerzahlen und er erhält zusätzlich 328 DM Fördervolumen.Das sind 3 328Mark mehr als bisher. Im Jahre 2005 steigtdie Entlastung durch die Steuerreform auf 4 000 DM plus657 DM aus dem Altersvermögensgesetz. Das sind Spiel-räume, die wir in der Vergangenheit nicht gehabt haben.Ich denke, diese Spielräume werden in Zukunft dazu bei-tragen, dass diejenigen, die in der Vergangenheit nicht denSpielraum hatten, über die zweite und dritte Säule für ihrAlter vorzusorgen, in der Zukunft diese Möglichkeit ha-ben werden. Darauf sind wir zu Recht stolz.Ich danke Ihnen.
Für dieCDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Andreas Storm.
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Horst Schild12777
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Gegen das Schauspiel, das diese Ko-alition in den vergangenen Tagen, Wochen und Monatenabgeliefert hat, ist die Echternacher Springprozessioneine geradezu vorbildlich geordnete Veranstaltung.
Der Arbeitsminister hat mittlerweile so viel Pirouetten ge-dreht, dass selbst die eigenen Parteigenossen und der Ko-alitionspartner längst nicht mehr durchblicken. Wenn wirrichtig gerechnet haben, liegt nach anderthalb Jahren mitt-lerweile das sechste Konzept vor. Frau Dückert, Sie habenvorhin eines richtig dargestellt: Diese Vorlage sei mutig.In der Tat ist diese Vorlage mutig, vor allen Dingen aberist sie chaotisch, handwerklich dilettantisch und unausge-goren.
Ich will Ihnen das Stück für Stück zeigen.Das Herzstück einer jeden Rentenreform ist die Ren-tenformel. Nun haben Sie in der gesamten Fachwelt, beiden Sozialverbänden und den Gewerkschaften, eine klareFront, die sagt, der von Ihnen vorgelegte Ausgleichsfaktorsei völlig inakzeptabel. Professor Ruland, der Chef desVerbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, sagt Ih-nen dazu:Seine Bezeichnung ist eine Täuschung. Er gleichtnichts aus. Er ist ein linearisierter Kürzungsfaktor,der in den Jahren 2011 bis 2030 die Rente um jeweils0,3 Prozent mindert...Mit anderen Worten: Wer später in Rente geht, kriegt we-niger Rente.Mit diesem Ungetüm, Herr Minister, schaffen Sie nichtnur einen massiven Anreiz zur Frühverrentung und be-strafen diejenigen, die bis zum 65. Lebensjahr arbeitenwollen, Sie produzieren gleichzeitig 21 verschiedeneRentenniveaus. Sie haben richtig gehört: 21 verschiedeneRentenniveaus. Das bedeutet, dass im gleichen Zeit-raum – das ist das Schlimme daran – durch gleiche Bei-träge in gleicher Höhe erworbene Anwartschaften künftignicht mehr zu gleichen Rentenleistungen führen werden.Das ist ein massiver Verstoß gegen einen tragendenGrundsatz der Rentenversicherung.
Was das mit einer gerechten Lastenverteilung zwi-schen der älteren und jüngeren Generation zu tun habensoll, müssen Sie uns einmal deutlich machen.
Der DGB-Vorstand bei den Rentenversicherungsträ-gern, Dr. Standfest, hat deswegen am Montag zum Aus-gleichsfaktor gesagt:Er sollte so nicht Gesetz werden, weil er zu einerunvertretbaren Benachteiligung der jüngeren Gene-rationen führt.Das ist die Position der Gewerkschaften und das ist, na-hezu deckungsgleich, auch die Position des Sachverstän-digenrates, der gestern sein Jahresgutachten vorgelegt hat.Herr Riester, hören Sie auf die Experten und streichen Siediesen unsäglichen Willkürfaktor.
Ich komme zum nächsten Punkt, der so genannten mo-difizierten Nettolohnanpassung, das heißt, die Formel,mit der die Renten angepasst werden sollen. Auch das istein Etikettenschwindel. In Wirklichkeit werden die Rent-ner in den nächsten Jahren von der Nettoeinkommens-entwicklung der Beitragszahler abgekoppelt. Die Renten-versicherer haben errechnet, dass allein durch diemodifizierte Nettolohnanpassung das Rentenniveau nachkonventioneller Rechnung von 70 Prozent auf 65 Prozentsinkt. Wäre es eine Nettoanpassung, müsste das Renten-niveau gleich bleiben. Es ist also eine eindeutige Mogel-packung; der Inhalt hält nicht das, was der Titel verspricht.Damit ist das Ende der Fahnenstange nicht erreicht:Für die jüngere Generation, für diejenigen, die nach demJahr 2030 in Rente gehen, sinkt das Rentenniveau auf61 Prozent oder sogar noch tiefer.
Dies ist vor allen Dingen auch deswegen nicht akzeptabel,weil beispielsweise die Erwerbsunfähigkeitsrente, dieeine abgeleitete Rente ist, für die junge Generation in eineDimension kommt, die mit sozialer Absicherung nichtsmehr zu tun hat.
Auch aus diesem Grunde ist eine Zustimmung zur Reformder Erwerbsunfähigkeitsrente für uns nicht möglich.Meine Damen und Herren, die Kollegin Schmidt hatvorhin beim Stichwort Frauen- und Hinterbliebenen-rente behauptet, für die heutige Frauengeneration sei al-les halb so wild. Aber das ist es gerade nicht. Denn bereitsjetzt soll ja der Freibetrag für die Anrechnung andererEinkünfte eingefroren werden. Das bedeutet, dass dieHinterbliebenenrente in Zukunft massiv an Wert verlierenwird.
– Liebe Frau Schmidt, was übrigens die wenigsten bislangwissen, ist, dass Sie auch andere Einkunftsarten anrech-nen wollen, mit Ausnahme der Einkünfte, die den so ge-nannten Riester-Kriterien entsprechen. Das bedeutet bei-
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spielsweise, dass Lebensversicherungen in Zukunft aufdie Hinterbliebenenrente angerechnet werden, weil sie imRiester-Katalog nicht enthalten sind.
Wir wissen ja, Herr Arbeitsminister, dass Sie den de-mographischen Faktor scheuen wie der Teufel dasWeihwasser. Trotzdem führt kein Weg daran vorbei. IhrWeg, die Generationen ungleich zu behandeln, ist eindeu-tig ein Irrweg. Deshalb noch einmal unser Angebot: WennSie nicht den demographischen Faktor nehmen wollen,der bereits jetzt im Gesetzblatt steht – man braucht ihn janur wirksam werden zu lassen –, dann wären wir auch be-reit, über alternative Vorschläge mit uns reden zu lassen.Der Präsident des Sozialverbandes VdK, WalterHirrlinger, hat einen jährlichen, für alle Rentner einen ein-heitlichen Abzug vorgeschlagen. Das ist eine verlässlicheneue Rentenformel und wäre ein gangbarer Weg.Die Rentenversicherungsträger haben zuletzt am Mon-tag eine Rentenformel vorgeschlagen, die ebenfalls imSinne eines demographischen Faktors alle gleich behan-delt. Diese Formel kann ja durchaus anders heißen. DasErgebnis ist, dass nach dem Vorschlag der Rentenversi-cherungsträger der Beitragssatz auf einem niedrigen Ni-veau gehalten werden kann, das Renteniveau für die jungeGeneration aber um 3 Prozentpunkte höher liegt als beiIhrem Vorschlag. Warum laufen Sie eigentlich wie mitScheuklappen durch die Gegend und verschließen sichdiesen besseren Lösungen, die seit Wochen auf dem Tischliegen?
Meine Damen und Herren, nun zur Förderung der pri-vaten und betrieblichen Vorsorge. Wir sind uns alleeinig, dass wir erreichen müssen, dass nach Möglichkeitjeder ein zweites Standbein der Altersvorsorge bekommt.
Aber mit Ihrem Vorschlag erreichen Sie dieses geradenicht. Denn weder die bestehenden betrieblichen Alters-vorsorgesysteme noch die gängigen Produkte der privatenVorsorge werden von den Riester-Kriterien erfasst. Dasbedeutet konkret, dass junge Leute, die im letzten oder imvorletzten Jahr, weil alle Welt gesagt hat, man müsse pri-vat vorsorgen, ein Vorsorgeprodukt erworben haben, ei-nen Alterssparvertrag abgeschlossen haben, nun gesagtbekommen: Das ist ja schön, dass ihr bereits vorsorgt.Aber schließt bitte noch einen zweiten Alterssparvertragab, weil dieser die Kriterien nicht erfüllt. So kann man mitden Menschen nicht umgehen.
Sie haben bisher keine Regelungen vorgesehen, wie diebestehenden Formen von ergänzender Vorsorge in dieneuen Formen der Vorsorge überführt werden können.Was das Stichwort soziale Gerechtigkeit bei der pri-vaten Vorsorge angeht, möchte ich Sie fragen: Halten Siees für in Ordnung, dass die steuerliche Förderung dyna-misiert ist und damit Jahr für Jahr ansteigt – sie ist an dieBeitragsbemessungsgrenze gekoppelt –, während die Al-terssparprämien für Geringverdiener eingefroren bleiben?Das bedeutet, dass die Verkäuferin mit 1 700 DM netto imMonat ab 2008 – nach der letzten Stufe – Jahr für Jahrimmer den gleichen Förderbetrag bekommt, während derMarktleiter, der von der steuerlichen Förderung profitiert,jedes Jahr eine höhere Förderung erhält. Die Schere gehtalso auseinander.
Was das mit sozialer Gerechtigkeit zu tun haben soll,müssen Sie mir wirklich einmal klar machen.
Noch ein Wort zum Zeitplan der Beratungen: Es wareigentlich bis zum Sommer allgemeiner Konsens, dasswir mindestens drei bis fünf Monate für die Beratung überdiese große Reform brauchen. Nun haben Sie aus reinwahltaktischen Gründen erklärt, das Rentenreformgesetzsolle bis Ende Januar im Bundesgesetzblatt veröffentlichtwerden.
weil sie eine vernünftige und zukunftsweisende Renten-reform nicht auf den Weg gebracht haben. Wenn Sie heutekritisieren, unsere Vorschläge seien sozial ungerecht,dann will ich Sie daran erinnern, wie sich Ihr Demogra-phiefaktor ausgewirkt hätte: Die Renten wären schon
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Andreas Storm12779
viel früher gekürzt worden und das Rentenniveau hätteschon im Jahr 2015 bei 64 Prozent gelegen. Es gab ausmeiner Sicht keine Garantie, dass es nicht noch weiter ge-senkt worden wäre.
Wenn Sie heute die eigenständige Vorsorge reklamie-ren, dann muss ich Sie fragen, Herr Storm: Was haben Siedenn getan, damit die Menschen eigenständig vorsorgenkönnen?
Wir fördern die eigenständige Vorsorge und berücksichti-gen dabei die Einkommenssituation derjenigen, die wenighaben. Wir berücksichtigen dabei die Situation der Men-schen, die Kinder erziehen. Sie alle wollen wir gesondertfördern. Das machen wir auch.
Frau Kolle-
gin Lotz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord-
neten Blüm?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, halten
Sie es im Sinne der eigenständigen Vorsorge für richtig,
dass Frauen bei gleich hohen Beiträgen eine niedrigere
Rente aus der Privatversicherung bekommen?
Herr Kollege Blüm, das, was Siebehaupten, stimmt einfach nicht;
denn wir berücksichtigen auch die Einkommenssituationder Frauen. Wir gehen davon aus – darauf zielt Ihre Frageab –, dass diejenigen, die später Produkte für die privateVorsorge anbieten werden, Unisexverträge anbieten wer-den. Nun möchte ich mit meinen Ausführungen fortfahren.
Frau Kollegin Böhmer, ich fand es ein bisschen unver-antwortlich, als Sie geschildert haben, wie die Hinter-bliebenenregelung angeblich aussehen wird. Ich möchteganz deutlich sagen: Es wird sich für die jetzigen Witwennichts ändern.
Es wird sich auch nichts für die Paare ändern, bei denenein Partner 40 Jahre oder älter ist. Wir werden bei derNeuregelung auch die Situation der Menschen berück-sichtigen, die Kinder erziehen. Wir setzen darauf, dass dieErwerbstätigkeit von Frauen, die schon zugenommen hat,weiter steigen wird.
Wir setzen auf eine eigenständige Rentenversicherung fürFrauen und nicht auf eine abgeleitete Hinterbliebenenver-sorgung.
Frau Dr. Böhmer, wenn Ihnen das Wohl der Frauen soam Herzen liegt, dann frage ich Sie: Wo war Ihr Protest,als beispielsweise die Rentenanwartschaften, für die ers-ten Jahre der Berufstätigkeit, also die Ausbildung, ge-kürzt worden sind? Dort sind von einem Tag auf den an-deren die Anwartschaften gekürzt worden.
Wo ist denn Ihr Engagement gewesen? Ich sage dazu nur:1,5 Billionen DM Schulden und 82 Milliarden DM Zin-sen jedes Jahr.
Ich nenne hier auch die Erhöhungen beim Bundeszu-schuss. Das haben wir gemacht. Sie haben noch kein ein-ziges Wort darüber verloren, dass alle Regelungen, die Siegemacht haben, etwa der demographische Faktor,
bei gleichzeitig steigenden Beiträgen eingetreten wären,während wir die Beiträge zur Rentenversicherung gesenkthaben.
Lassen Sie mich noch etwas zu dem Gesetz sagen, daswir heute verabschieden werden, nämlich zum Gesetz zurReform der Erwerbsminderungsrente. Heute ist des-halb ein guter Tag für viele Menschen,
für Arbeitnehmer, die gesundheitlich angeschlagen sind.Sie müssen jetzt, wenn sie teilerwerbsgemindert sind, alsonoch eine Teilzeitarbeit leisten können, nicht mehr be-fürchten, in die Sozialhilfe abzurutschen. Wir wissen,dass trotz der guten Politik von Rot-Grün Arbeitnehmernmit gesundheitlichen Einschränkungen der Arbeitsmarktoft verschlossen bleibt und sie keine Arbeit bekommen.Die Bundesregierung hat mit ihrem Korrekturgesetz dieRegelungen Ihres Rentenreformgesetzes 1999 bezüglichErwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrenten aus-gesetzt. Heute beschließen wir eine Verbesserung für dieArbeitnehmer, die leistungsgemindert sind.
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Erika Lotz12780
Diejenigen Arbeitnehmer, die zwischen drei und sechsStunden arbeiten können, aber arbeitslos sind, werdeneine volle Erwerbsminderungsrente bekommen. Wir las-sen die Menschen nicht im Stich. Welche Chancen hatdenn zum Beispiel ein Bauarbeiter, wenn er noch täglichvier Stunden arbeiten kann, aber keinen Arbeitsplatz fin-det? Wäre es nach Ihrem Willen gegangen, hätte er eineTeilrente bekommen und ein Teilarbeitslosengeld. Abernach Auslaufen des Arbeitslosengeldes hätte es die be-dürftigkeitsabhängige Arbeitslosenhilfe bzw. Sozialhilfegegeben. Dies wollen wir nicht, und das verstehen auchdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht; schließ-lich bezahlen sie in allen Sozialversicherungszweigenihre Beiträge.Nach unserem Gesetz werden auch die Erwerbsminde-rungsrenten höher sein als nach dem Rentenreformgesetz1999 von CDU/CSU und F.D.P., weil wir die Zurech-nungszeiten vom 55. Lebensjahr auf das 60. Lebensjahrausdehnen und weil wir den demographischen Faktor aus-gesetzt haben. Für die Arbeitnehmer, die noch sechs Stun-den oder mehr arbeiten können, haben wir keine andereRegelung vorgesehen als Sie.Ich will noch auf zwei wichtige Neuregelungen einge-hen. Nach der alten Regelung wären die Renten wegenBerufsunfähigkeit ohne Übergangsfristen entfallen. Dasist sehr heftig kritisiert worden. Wir sind der Auffassung,dass man das nicht machen kann. Von einem Tag auf denanderen kann eine solche Leistung, auf die viele Versi-cherte vertrauen, nicht einfach wegfallen. Deshalb habenwir lange Übergangsfristen vorgesehen.Dem Vertrauensschutz tragen wir auch bei denSchwerbehindertenRechnung. Bei den Versicherten, diebereits das 50. Lebensjahr vollendet haben und berufs-oder erwerbsgemindert sind, gilt weiterhin die Alters-grenze von 60 Jahren ohne Abschläge.Lassen Sie mich zusammenfassen. Wir beschließenheute eine notwendige sachgerechte Zuordnung der vonden einzelnen Sozialversicherungszweigen zu tragendenRisiken.
Dieses Problem hatte auch die alte Koalition gelöst, abermit beachtlichen sozialen Härten für die Betroffenen. Dasmachen wir nicht mit. Deshalb verändern wir dies. Eswird also weiterhin Renten geben, die die Arbeitsmarkt-chance berücksichtigen. Die Erwerbsminderungsrentenwerden höher ausfallen. Es wird vernünftige Übergangs-lösungen für Berufsunfähigkeitsrenten geben. Bei den Al-tersrenten für Schwerbehinderte tragen wir dem Vertrau-ensschutz der Menschen Rechnung. Es gibt also vieleVerbesserungen für die Menschen, die unsere Solidaritätbrauchen.Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass ichnicht verstehe, warum Sie unserem Gesetzentwurf nichtzustimmen wollen. Gestern haben Sie, Herr Laumann, imAusschuss ausgeführt, dass die Gesetzesänderung 90 Pro-zent dessen beinhalte, was die alte Regierung beschlossenhabe.
Auch wenn die 10 Prozent Änderungen, die wir vorneh-men, gewichtig sind, so versteht doch niemand, dass Sienicht bereit sind, diese Novelle mitzutragen. Sie suchenbillige Ausflüchte, Sie suchen ein Schlupfloch.
Für die weiteren Gespräche mag das ein Zeichen sein. Ichfordere Sie aber noch einmal auf: Stimmen Sie diesen Ver-besserungen zu! Es wäre gut für die Menschen
und es wäre auch gut für die weiteren Konsensgespräche.
Ich gebe
zunächst dem Kollegen Dr. Ilja Seifert und dann dem Kol-
legen Laumann das Wort zu Kurzinterventionen.
Vielen Dank, Herr Präsident. –
Frau Kollegin Lotz, Sie haben gerade sehr laut gesagt,
dass Sie die Erwerbsminderungsrente für schwerbehin-
derte Menschen gewaltig verbessern würden. Sind Sie be-
reit, der Ehrlichkeit halber zuzugeben, dass zum Beispiel
Menschen, die im Förderungsbereich einer Werkstatt für
Behinderte tätig sind – hier handelt es sich zweifellos um
sehr schwer behinderte Menschen –, nach Ihrem Modell
keinerlei Chance haben, auch nur die geringsten Renten-
ansprüche zu erwerben? Unter dem verlängerten Dach ei-
ner Werkstatt für Behinderte können sie sich nämlich
nicht nach zum Beispiel 20 Jahren eine gewisse Anwart-
schaft erarbeiten. Sind Sie bereit, dies wenigstens der Ehr-
lichkeit halber dazu zu sagen, damit die Menschen im
Lande, die uns zuhören und die aus Ihrer Rede Hoffnung
geschöpft haben, von der Realität nicht enttäuscht wer-
den?
Herr Kol-
lege Laumann.
Frau KolleginLotz, es ist richtig, dass Sie bei der Erwerbsunfähigkeits-rente wesentliche Punkte der alten Regierung übernom-men haben. Dies sind im Übrigen Punkte, die Sie seinerzeitbekämpft haben. Auch ist die Einführung der arbeitsmarkt-bedingten Erwerbsunfähigkeitsrente richtig; das wird vonuns ausdrücklich anerkannt.Aber es gibt zwei Gründe, warum wir schlicht und er-greifend nicht zustimmen können. In der Woche, in derSie das Gesetz zunächst verabschieden wollten, ent-brannte in der Bundesregierung und in der sie tragendenKoalition ein großer Streit darüber, wer die Zeche bezah-len soll. Erst am Montag ist dieser Streit in der Regierungbeigelegt worden. Im Ausschuss konnte uns die Bundes-regierung nicht sagen, wie es bei Krankenkassenbelastun-gen von mehr als 250 Millionen DM laufen soll. Es gibt
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Erika Lotz12781
keinen Antrag und somit auch keine gesetzliche Grund-lage dafür, wie Mehrbelastungen den Krankenkassen er-stattet werden sollen, sondern lediglich vage Andeutun-gen, dass man das Gesetz, das man heute reformiert, inden nächsten Wochen kassieren und in einem entschei-denden Punkt ändern werde. Das hat die ParlamentarischeStaatssekretärin Mascher gestern im Ausschuss angekün-digt.
Der zweite Grund: Wir hatten ein Rentenniveau von64 Prozent als Grundlage auch für Erwerbsunfähigkeits-renten. Sie haben eines von 61 Prozent.
Sie wissen jedoch ganz genau, dass diese Absenkung ge-rade bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten noch stärker alsbei den Altersruherenten durchschlägt.Sie können nun wirklich von keiner Opposition ver-langen, einer Reform der EU-Renten zuzustimmen, beider die Finanzierung für die Krankenkassen nicht sicher-gestellt ist, bei der vor der Verabschiedung im Ausschussdie zuständige Staatssekretärin schon Änderungsbedarfanmeldet und bei der Sie schließlich auch das Rentenni-veau nicht definieren können. So etwas ist einfach Pfusch.Wir erleben heute wieder: Wenn Sie ein Gesetz machenmüssen, bekommen Sie es einfach nicht auf die Reihe.
Zur Erwi-
derung die Kollegin Erika Lotz.
Herr Seifert, ich beginne bei Ihnen.
Ich habe hier betont, dass wir das Rentenreformgesetz
1999 verbessern wollen. Das machen wir.
Es gab Bestimmungen, die wir ausgesetzt haben. Es wird
vernünftige Übergangsregelungen bei der Zahlung der
Berufsunfähigkeitsrente und eine Verbesserung bei der
Zahlung von Renten wegen verminderter Erwerbsfähig-
keit geben.
In der gestrigen Ausschusssitzung haben Sie betont,
die Invalidenrente in der ehemaligen DDR sei besser als
das gewesen, was wir machen. Herr Seifert, ich habe mir
erlaubt, das noch einmal nachzulesen. Ich habe festge-
stellt: In der ehemaligen DDR galt die Regelung, dass
man, um eine Invalidenrente zu beziehen, zu zwei Dritteln
erwerbs- bzw. leistungsgemindert sein musste. Was daran
und an einer Mindestrente von 330 Mark besser sein soll,
das müssen Sie den Menschen einmal erklären.
Herr Laumann, die von uns beschlossene Regelung
stellt eine Verbesserung der Berufsunfähigkeitsrente dar.
Sie haben hier auf die Kosten hingewiesen, die auf die
Krankenkassen aufgrund der Zahlung von Renten auf Zeit
eventuell zukommen.
Diese Regelung haben Sie schon 1997 beschlossen.
Wir gehen davon aus, dass die Belastungen für die Kran-
kenkassen nicht höher als 250 Millionen DM und von da-
her nicht beitragssatzrelevant sein werden.
Sie benutzen etwas, was Sie selbst schon längst be-
schlossen haben und was die Problematik überhaupt nicht
verändert, heute als Begründung, um dem Gesetzentwurf
zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbs-
fähigkeit nicht zuzustimmen. Das ist eine ganze billige
Ausrede und sonst nichts!
Als letztem
Redner in dieser Debatte – dann kommen wir zu den Ab-
stimmungen – gebe ich dem Kollegen Franz Thönnes von
der sozialdemokratischen Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Kolleginnen und Kollegen! Die wunderbare Ver-wandlung, die wir in der Debatte heute Morgen erleben,ist schon erstaunlich: Die rechte Seite dieses Hauses ver-sucht in ihren Redebeiträgen, sich selbst vom Bock zumGärtner zu machen, und vergisst, was in den Jahren ihrerRegierungsverantwortung alles geschehen ist.
Die Altersgrenze ist 1996 vorzeitig – einseitig – auf60 Jahre angehoben worden, was die Altersrente oder dieAltersteilzeit angeht.
Sie haben sich einseitig vom gemeinsamen Rentenkon-sens von 1992 verabschiedet. Sie haben das Wachstums-und Beschäftigungsförderungsgesetz – mit Verschlechte-rungen bei den Zugangsvoraussetzungen und mit einer
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Karl-Josef Laumann12782
nochmaligen Heraufsetzung der Altersgrenze – einseitigdurchgepaukt. Sie haben die Altersgrenze für den Bezugder Altersrente von Frauen ab dem Jahr 2000 in monatli-chen Stufen heraufgesetzt.
Sie haben die Altersgrenze für langjährig Versicherte abdem Jahr 2000 in monatlichen Stufen von 63 auf 65 Jahreheraufgesetzt.
Sie haben das Rentenniveau einseitig abgesenkt – wir ha-ben das vorhin gehört –: 64 Prozent für alle, und zwar beieinem Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversiche-rung von 24 Prozent im Jahr 2030. Dazu sage ich Ihnen:Die Täter von gestern taugen nicht als Sanitäter von mor-gen.
Herr Kol-
lege Thönnes, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Schnieber-Jastram?
Ja.
Herr Kol-
lege Thönnes, ich möchte nur Folgendes fragen: Warum
haben Sie das nicht zurückgenommen?
Sehr geehrte Frau Schnieber-
Jastram, Sie stellen eine rhetorische Frage. Sie wissen ge-
nau, in welche Situation Sie die Rentenversicherung mit
Ihrer Politik gebracht haben:
die Zahlung von Fremdleistungen durch die Rentenversi-
cherung; die Beitragszahler mussten Kosten der deutschen
Einheit tragen; kein anständiger Abbau der Arbeitslosigkeit,
Sie haben Scheinselbstständige und 630-Mark-Kräfte aus-
geklammert. Vor diesem Hintergrund ist die gesamte Ren-
tenversicherung in ein Dilemma geraten.
Am Ende Ihrer Regierungszeit sah die Situation so aus:
Während 1991 der Beitragssatz zur Rentenversicherung
bei 17,7 Prozent lag und die Reserve noch 26 Monatsaus-
gaben betrug, war der Beitragssatz 1997 auf 20,3 Prozent
angestiegen und die Reserve betrug nur noch 0,6 Monats-
ausgaben. Sie haben bei der Renten-, der Finanz-, der
Steuer- und der Arbeitsmarktpolitik auf der ganzen Linie
versagt. Dafür haben Sie die Quittung von den Menschen
bekommen.
Gestatten
Sie, Herr Kollege Thönnes, zwei weitere Zusatzfragen?
Ja.
Erst die Kol-
legin Schnieber-Jastram, dann der Kollege Blüm.
Herr Kol-
lege Thönnes, ich habe hierzu noch eine Frage: Sie haben
unsere Rentenreform zurückgenommen. Warum haben
Sie dann bei der Vorlage Ihrer Reform die Punkte, die Sie
gerade kritisiert haben, nicht zurückgenommen, sondern
beibehalten?
Frau Schnieber-Jastram, Sie
wissen genau, dass wir Punkte ausgesetzt haben, um die
Rentenversicherung jetzt auf ein solides und vernünftiges
Fundament zu stellen.
Es muss nämlich ein anständiger Ausgleich zwischen der
älteren und der jüngeren Generation erfolgen, weil Soli-
darität keine Einbahnstraße ist.
Kollege
Blüm.
Ich habe eine ganzeinfache mathematische Frage: Sie haben uns geradeattackiert, weil der Rentenversicherungsbeitrag nach un-serem Modell 2030 24 Prozent betragen hätte. Ist es rich-tig, dass hiervon die Arbeitnehmer 12 Prozent gezahlt hät-ten? Ihr Modell sieht einen Beitrag von 22 Prozent vor,von dem die Arbeitnehmer 11 Prozent plus 4 Prozent alsprivate Vorsorge zahlen. Jetzt kommt meine mathe-matische Frage, die jeder Matheschüler aus dem zweitenSchuljahr beantworten kann: Wenn der Arbeitnehmernach unserem Modell 12 Prozent und nach Ihrem 15 Pro-zent zahlt, wo ist dann die Belastung der Arbeitnehmerhöher? 15 oder 12? Zweites Schuljahr!
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Franz Thönnes12783
Werter Kollege Blüm, so ein-
fach kann man natürlich Rechnungen aufmachen.
Dabei sollte man aber auch ein Stück weit ehrlich sein
und sagen, welche Unsicherheiten dies langfristig für die
Menschen bedeutet hätte.
Man sollte auch so ehrlich sein und ihnen sagen, dass wir
nach unseren Berechnungen am Ende wieder auf ein Ren-
tenniveau kommen, das um die 70 Prozent liegt. Das ist
die Wahrheit. So müssen Sie rechnen.
Herr Kol-
lege Thönnes, möchten Sie den Dialog fortsetzen?
Ich glaube, am Ende der De-batte sollte das jetzt eigentlich genügen. Ich mache jetztweiter.
Nun warten Sie doch einmal ab, welche Möglichkeitensich durch die Vorrangsregelung für Tarifverträge unddurch betriebliche Altersversorgung noch ergeben. Unse-rer und der Fantasie der Gewerkschaften ist an dieserStelle keine Grenze gesetzt.
– Nein, das hatte ich gerade gesagt. Irgendwann muss eseinmal gut sein. Ihr habt schon drei gestellt.Man muss auch noch einmal sagen, dass Sie den Men-schen mit Ihrer Politik etwas vorgegaukelt haben. Sie ha-ben ihnen vorgegaukelt, dass die Renten sicher seien. Dashaben Sie allen Rentnerinnen und Rentnern auch nochbrieflich mitgeteilt. Es ist bis heute noch nicht geklärt, auswelcher Kasse das Geld für diese Briefe gekommen ist.
Heute stellt sich der Kollege Seehofer hier hin undsagt, die Frage der Erwerbsunfähigkeit sei in unserem Ge-setzentwurf nicht geregelt. Ich kann Ihnen da nur emp-fehlen, auf die Seite 54, Abs. 2 Nr. 2, unseres Gesetzent-wurfes zu schauen: Ein Altersvorsorgevertrag liegt vor,wennLeistungen nicht vor Vollendung des 60. Lebensjahresoder dem Beginn einer Rente wegen verminderter Er-werbsfähigkeit oder Altersrente des Steuerpflichtigenaus der gesetzlichen Rentenversicherung oder nachdem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte er-bracht werden …Ein bisschen Lesen hilft weiter und bewahrt einen vorfalschen Argumentationen.
Ein weiterer Punkt: Sie haben vorhin hier erklärt, dassdie Frauen dadurch benachteiligt werden, dass Kinderer-ziehungszeiten erst ab dem Jahre 1992 angerechnet wür-den. Seien Sie wenigstens so ehrlich und sagen Sie, dassdiese Regelung auch für Kinder gilt, die bis dahin zehnJahre alt waren, also bis 1983 zurückreicht.Betrachten wir einen anderen Punkt, den Sie hier an-geschnitten haben. Sie sagen, das sei ein Programm, dasgeradezu zur Frühverrentung einladen würde.
Die 3,6 Prozent, die von Ihnen als Abschlag eingeführtworden sind, tragen in Verbindung mit dem 0,3 prozenti-gen Ausgleich doch wahrhaftig nicht dazu bei, dass je-mand versucht, dies zum Anlass für eine Frühverrentungzu nehmen.
Dummheit ist keine Alterserscheinung.
Ich sage Ihnen: Die älteren Menschen sind cleverer, alsSie heute hier argumentieren.
Ich möchte hinzufügen: Wenn die Menschen sich an-sehen, wie die Rentenentwicklung in den letzten Jahrengewesen ist, wissen sie, dass sie bei dieser Regierung aufder besseren Seite sind. Ihre Steuer- und Finanzpolitik so-wie Ihr Versagen in der Wirtschaftspolitik haben mit dazugeführt, dass die Belastungen für die Arbeitgeber und dieArbeitnehmer immer weiter angestiegen sind und dassletzten Endes auch die Steigerungsrate bei den Löhnennicht mehr eine solche gewesen ist, die als gute Grundlagefür eine Rentenanpassung hätte herhalten können.
Die älteren Menschen haben in den letzten Jahren IhrerRegierungstätigkeit immer eine Rentenanpassung be-kommen, die unterhalb der Preissteigerungsrate lag. DieSozialdemokraten und die Grünen haben dafür gesorgt,dass sie jetzt darüber liegt.
Auch hier gilt wieder: Die Täter von gestern taugen nichtals Sanitäter von morgen.
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Zum Abschluss möchte ich auf den Kollegen Claus vonder PDS zurückkommen, der Franz von Assisi zitiert hat,indem er sagte: Man solle eine Reform machen, die dieMenschen brauchen,
man solle eine Reform machen, die auch verstanden wird.
Ich glaube, die Menschen verstehen diese Reform. Auchin den nächsten Wochen werden wir mit den Gewerk-schaften und den Sozialverbänden darüber diskutieren,weil wir ein großes Interesse daran haben, sie in Gemein-samkeit umzusetzen.Ich möchte mit Franz von Assisi schließen, wenn schonder Fraktionsvorsitzender der PDS meint, ihn zitieren zumüssen. Ich sage Ihnen: Wir haben nicht mehr viel Zeit,etwas zu tun.
Wir müssen das Rentenversicherungssystem jetzt auf einesolide Grundlage stellen. Daher zitiere ich Franz von As-sisi: „Brüder, so lange wir Zeit haben, lasst uns Gutestun.“ Das machen wir jetzt.
Ich bin ver-sucht zu sagen: Liebe Brüder und Schwestern, ich schließedie Aussprache.
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ausspracheist geschlossen.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 14/4595 zu überweisen zur federführendenBeratung an den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnungund zur Mitberatung an die Ausschüsse Innen, Recht, Fi-nanzen, Wirtschaft und Technologie, Ernährung, Land-wirtschaft und Forsten, Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend, Gesundheit, Verkehr, Bau- und Wohnungswesen,Angelegenheiten der Neuen Länder und an den Haus-haltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsordnung. Ander-weitige Vorschläge liegen nicht vor. – Die Überweisungist so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-tionen von der SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge-brachten Gesetzentwurf zur Reform der Renten wegenverminderter Erwerbsfähigkeit, Drucksachen 14/4230und 14/4630. Hierzu liegen mehrere Änderungsanträgevor, über die wir zuerst abstimmen.Zunächst stimmen wir über den Änderungsantrag derFraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4636 ab. Werstimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mitden Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen undF.D.P. gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltungder Fraktion der PDS abgelehnt.Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion derPDS auf Drucksache 14/4638. Wer stimmt für diesen Än-derungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?– Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hausesgegen die Stimmen der PDS abgelehnt.Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion derPDS auf Drucksache 14/4639. Wer stimmt für diesen Än-derungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Auchdieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hausesgegen die Stimmen der PDS abgelehnt.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-men der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegendie Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in der zweitenBeratung angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über zwei Ent-schließungsanträge, zunächst über den Entschließungsan-trag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4637.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Werstimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit denStimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P.bei Enthaltung der PDS und gegen die Stimmen derCDU/CSU abgelehnt.Ich lasse nun über den Entschließungsantrag der Frak-tion der PDS auf Drucksache 14/4640 abstimmen. Werstimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag istmit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDSabgelehnt.Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 3 c, zur Ab-stimmung über den von den Fraktionen von SPD undBündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zurNeuordnung der Versorgungsabschläge, Drucksachen14/4231 und 14/4620.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen vonSPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthal-tung der F.D.P. und gegen die Stimmen der PDS ange-nommen.
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Franz Thönnes12785
Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in derzweiten Beratung angenommen.Zusatzpunkt 2: Interfraktionell wird die Überweisungder Vorlage auf Drucksache 14/2116 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:4 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungNeunundzwanzigster Rahmenplan der Ge-meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regio-nalen Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum2000 bis 2003
– Drucksache 14/3250 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusHaushaltsausschussb) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenKlaus Hofbauer, Dagmar Wöhrl, WolfgangBörnsen , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUZukunft der deutschen Regionalförderpolitikim Zusammenhang mit der Reform des Struk-turfonds der Europäischen Union– Drucksachen 14/3353, 14/4112 –Zur Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt einEntschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Das Haus ist damiteinverstanden. Dann ist so beschlossen.Ich darf diejenigen Kolleginnen und Kollegen, dienunmehr dieser Debatte nicht folgen möchten, bitten,möglichst ruhig und zügig den Plenarsaal zu verlassen.Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst das Wortdem Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministe-rium für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.S
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gemeinschaftsauf-gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“hat seit vielen Jahren eine für unsere Volkswirtschaftwichtige Zielsetzung, nämlich den Strukturwandel vo-ranzubringen, die Modernisierung unserer Volkswirt-schaft zu begleiten, die Innovationsfähigkeit der Wirt-schaft zu stützen und wettbewerbsfähige Arbeitsplätzezu schaffen.Die Gemeinschaftsaufgabe hat sich in den letzten30 Jahren überparteilich bewährt. Wir haben gemeinsamversucht, damit auch gleichwertige Lebensverhältnisseim Bundesgebiet zu erreichen. Mit ihrem bundeseinheit-lichen Regelwerk bietet die Gemeinschaftsaufgabe „Ver-besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ausrei-chende Flexibilität für die konkrete Umsetzung in denLändern entsprechend den regionalen Erfordernissen. DerRahmenplan wird laufend überarbeitet. Im Planungsaus-schuss reden wir regelmäßig – zuletzt geschah das imMärz 2000 – über die Förderregeln, die wir für wichtighalten.Die Förderregeln des Rahmenplans müssen seit dem1. Januar 2000 mit beihilferechtlichen Vorgaben der Eu-ropäischen Kommission in Einklang stehen. Im Zuge derbeihilferechtlichen Prüfung hat die Kommission wieder-holt Fragen gestellt, die eine Genehmigung des 29. Rah-menplans bisher verhindert haben. Die Bundesregierungsteht mit den Dienststellen der Europäischen Kommissionin intensiven Gesprächen, um die noch offenen Fragen zuerörtern und möglichst bald eine entsprechende Geneh-migung zu erreichen.Bereits im März 1999 hat die Bundesregierung bei derEU-Kommission die deutschen Fördergebiete für die Ge-meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt-schaftsstruktur“ ab dem Jahr 2000 angemeldet. Währenddie Kommission für die neuen Bundesländer im August1999 die Genehmigung insgesamt erteilt hat, hat sie be-züglich der westdeutschen Länder und bezüglich Berlinsein Hauptprüfverfahren zum Umfang des Fördergebietseröffnet. Mit ihrer Entscheidung vom 14. März 2000 ge-nehmigte sie in Westdeutschland und Berlin eine uneinge-schränkte Förderung nur in einem Fördergebiet, das17,7 Prozent der deutschen Bevölkerung umfasst, obwohlsie ursprünglich einen Fördergebietsumfang von23,4 Prozent für Deutschland errechnet und auch akzep-tiert hatte.Gegen diese Entscheidung hat die Bundesregierungnach einem entsprechenden Beschluss des GA-Planungs-ausschusses vom 16. Juni 2000 beim EuGH Klage einge-reicht. Die Entscheidung der Kommission über dieHerabsetzung des Förderplafonds basiert auf einem Be-rechnungsverfahren, das nach Auffassung Deutschlandsgegen den in der Gemeinschaft geltenden Grundsatz derGleichbehandlung der Mitgliedstaaten verstößt. Deshalbhat die Bundesregierung die Klage eingereicht.Im strittigen Gebietsumfang von circa 4,7 MillionenEinwohnern bestehen derzeit nur eingeschränkte Förder-möglichkeiten. Die Bundesregierung bedauert dies unddrängt darauf, dass sich die Europäische Kommission an-gesichts des Handlungsbedarfs in diesem Feld möglichstbald bereit erklärt, die entsprechenden Anträge zu geneh-migen.Natürlich musste auch die Gemeinschaftsaufgabe ihrenBeitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten. Sie alle wis-sen, dass wir dabei sind, auch in diesem Bereich zu sparen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters12786
Für die Gemeinschaftsaufgabe West stehen im Jahr 2000gleichwohl Barmittel in Höhe von 242 Millionen DM unddamit etwas mehr als im Vorjahr zur Verfügung. Für dasJahr 2001 sind von uns 285Millionen DM vorgesehen. AnVerpflichtungsermächtigungen sind im Jahre 2000255 Millionen DM verfügbar. Für das Jahr 2001 sind260 Millionen DM vorgesehen.Die große Bedeutung der Gemeinschaftsaufgabe fürdie regionale Entwicklung sehen Sie daran, dass von Ja-nuar bis September 2000 in den alten Bundesländern fürrund 540Anträge 350 Millionen DM GA-Mittel bewilligtworden sind. Die dadurch ausgelösten Impulse sind be-merkenswert: In der gewerbliche Wirtschaft ist ein Inves-titionsvolumen von circa 2,2 Milliarden DM angestoßenworden. Damit sind etwa 13 500 Dauerarbeitsplätze gesi-chert sowie 6 200 Dauerarbeitsplätze zusätzlich geschaf-fen worden. Ich finde, das ist ein großer Erfolg. Deshalbmüssen wir diesen Weg fortsetzen. Im Bereich der wirt-schaftsnahen Infrastruktur sind Investitionen in Höhe vonrund 115 Millionen DM ausgelöst worden.In den neuen Bundesländern ist die Gemeinschaftsauf-gabe das wichtigste Instrument der Investitionsförderungzum Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruk-tur überhaupt. Für die GAOst stellt der Bund im Jahr 2000Barmittel in Höhe von 2,291 Milliarden DM und Ver-pflichtungsermächtigungen in Höhe von 1,89 Milliar-den DM zur Verfügung. Für das Jahr 2001 sind Barmittelin Höhe von 1,992 Milliarden DM und Verpflichtungser-mächtigungen in Höhe von 1,5 Milliarden DM vorgese-hen.Von Januar bis September 2000 sind für die rund3 000 Anträge der gewerblichen Wirtschaft circa 2,1 Mil-liarden DM GA-Mittel bewilligt worden, die ein Investi-tionsvolumen von 8,5 Milliarden DM ausgelöst habenund damit etwa 70 200 Dauerarbeitsplätze gesichert undrund 18 600 neue Dauerarbeitsplätze geschaffen haben.Für circa 230 Anträge zur wirtschaftsnahen Infrastruktursind rund 803 Millionen DM bewilligt worden, die inves-tive Gesamtausgaben in Höhe von 1,2 Milliarden DM an-gestoßen haben.Diese systematische Arbeit in der regionalen Wirt-schaftsförderung steht vor neuen Herausforderungen. Anerster Stelle ist dabei die Herausforderung der Osterweite-rung zu nennen, eine wichtige Veränderung der Architek-tur der Europäischen Union. Wir sind davon überzeugt,dass die Osterweiterung insbesondere der deutschen Volks-wirtschaft zugute kommen wird, nicht nur durch neue For-men der Arbeitsteilung, sondern auch durch mögliche For-men der Kooperation über die Grenzen hinweg. Wir sinddeshalb auch der Auffassung, dass wir alles tun müssen– das war auch Gegenstand der Länderwirtschaftsminister-konferenz vor wenigen Tagen in Stuttgart –, um in denGrenzgebieten bei dieser Erweiterung, die natürlich eineVeränderung darstellt, zielgenau zu helfen. Man kann dasin etwa mit der Süderweiterung oder der Erweiterung in an-deren Gebieten vergleichen. Unsere Zielvorstellung siehtso aus, dass aus den Grenzgebieten im Osten, die in denletzten Jahren hermetisch abgeriegelt waren, in ZukunftHandelsdrehscheiben werden, von denen wir gemein-schaftlich profitieren.In der bis Ende 2006 laufenden Strukturfondsförderpe-riode können in den Fördergebieten erhebliche EU-Mit-tel – allein circa 20 Milliarden Euro in den neuen Bun-desländern – eingesetzt werden. Die Grenzregionen sindbis Ende 2006 darüber hinaus Teil der EU-Gemein-schaftsinitiative Interreg, deren Mittelausstattung gegen-über der vorherigen Förderperiode deutlich erhöht wor-den ist.Es gibt eine weitere Herausforderung für die regionaleWirtschaftsförderung: Es stellt sich die Frage, was nach2006, also nach der laufenden Förderperiode, passierensoll. Wir sind auch als Nettozahler für den EU-Haushaltentschieden dafür, weiterhin gezielt eine europäische Re-gionalförderung für die strukturschwachen Gebiete zu er-halten, um so unsere Hauptziele – Strukturwandel, Innova-tionsförderung, Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit –nach 2006 fortsetzen zu können. Im Gegenzug muss – dasist ganz klar – der nationale regionalpolitische Handlungs-spielraum endlich erweitert werden. Wir müssen auch indiesem Bereich mehr Subsidiarität erreichen. Das giltebenso für viele andere Programme; aber hier brauchen wirbesonders dringend Flexibilität, weil wir so eine höhere Ef-fektivität der Förderprogramme erzielen können.Die Bundesregierung wird sich bei der anstehendenÜberarbeitung der Leitlinien für staatliche Beihilfen mitregionaler Zielsetzung sowie des multisektoralen Regio-nalbeihilferahmens für große Investitionsvorhaben füreine Flexibilisierung des Beihilferechts einsetzen.
Die Mitgliedstaaten müssen größere Spielräume in dernationalen Regionalpolitik erhalten. Wir sollten dieseSpielräume im Sinne des Subsidiaritätsprinzips nutzen.Ich glaube, wir sind uns auch einig, dass wir die jetztfestgelegten Bedingungen nicht akzeptieren können.Auch die deutsche Klage gegen die Reduzierung der GA-Fördergebiete durch die Europäische Kommission zieltauf eine von uns gemeinsam beabsichtigte Positionierung.Insgesamt werden wir versuchen, die EU-Osterweiterungund die Weiterentwicklung des EU-Beihilferechts in denfolgenden Jahren in eine moderne regionalpolitischeKonzeption zu führen und damit auch unsere Handlungs-fähigkeit zu erhöhen. Wir drängen nachdrücklich darauf,dass wir als diejenigen, die für den Aufbau Europas, dieIntegration und die Erweiterung Europas besonders enga-giert eintreten, bei diesen regionalpolitischen Instrumen-ten von der Europäischen Kommission Unterstützung er-fahren und nicht mit Hemmnissen konfrontiert oderblockiert werden. Deshalb hoffen wir sehr, dass wir mitunserer Klage erfolgreich sein werden.Vielen Dank.
Ich gebe dasWort dem Kollegen Klaus Hofbauer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters12787
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bun-destagsfraktion will mit ihrer Großen Anfrage die regio-nale Strukturpolitik erneut in den Mittelpunkt der Diskus-sion stellen und deren Bedeutung in der Vergangenheitund vor allen Dingen auch für die Zukunft unterstreichen.Zunächst stelle ich fest – da stimme ich mit Ihnen, HerrStaatssekretär, überein –: Die bisherige nationale Struk-turpolitik, die durch europäische Programme unterstütztworden ist, war äußerst erfolgreich. Wir haben in denstrukturschwachen Gebieten, insbesondere in den ländli-chen Gebieten, großartige Erfolge erzielen können. Dabeimöchte ich nicht unerwähnt lassen – ich glaube, dass Sie,Herr Staatssekretär, da mit mir übereinstimmen –, dass inden strukturschwachen Gebieten sowohl unsere Unter-nehmer als auch die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer entscheidend dazu beigetragen haben, dasswir diese Erfolge erzielen konnten.
Leider müssen wir aber feststellen, dass wir immermehr von europäischen Bestimmungen gegängelt wer-den. Hier, Herr Staatssekretär, erwarten wir von der Bun-desregierung etwas mehr Schwung. Wir fordern mehr Ini-tiativen und Aktivitäten, um gegen diese Gängelungvorzugehen.
Ich mache der rot-grünen Regierung zum Vorwurf, dasssie gegen diese Bestrebungen nicht mit dem notwendigenNachdruck vorgeht.
Sie haben ja bereits die Reduzierung der Förderkulisseangesprochen. Es kommt hinzu, dass selbst die in diesemZusammenhang bestehende Übergangsregelung überNacht gekippt wurde und dass es in den Arbeitsamtsbezir-ken keine Feinabgrenzung mehr gibt.
Herr Staatssekretär, ich habe schon ein wenig den Ein-druck, dass Sie erst, als Sie parteiübergreifend im Wirt-schaftsausschuss darauf hingewiesen wurden, dass dieseProbleme entstehen, eine entsprechende Klage beimEuGH eingereicht haben. Sie hätten bereits bei den dies-bezüglichen Verhandlungen die Interessen Deutschlandsbesser und intensiver vertreten sollen.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir eine wei-tere Bemerkung: Ich habe den Eindruck, dass unter derjetzigen Bundesregierung die Regionalpolitik nicht mehrdie Rolle spielt, die sie in den vergangenen Jahren gespielthat. Der Bundeswirtschaftsminister hat sich zu diesenThemen in den letzten Wochen und Monaten bzw. in denletzten zwei Jahren überhaupt nicht geäußert. Bei denHaushaltsberatungen hat der Bundeswirtschaftsministerlediglich in einem Nebensatz zur Struktur- und Regional-politik Stellung bezogen.
Ich stimme mit Ihnen, Herr Staatssekretär, überein,dass die größte Herausforderung der Strukturpolitik ins-gesamt die Osterweiterung sein wird. Die CDU/CSU-Fraktion tritt uneingeschränkt für die EU-Osterweiterungein. Denn wir sind der Meinung, dass sie eine Chance fürdie Menschen in Deutschland und – das betone ich aus-drücklich – insbesondere für die Menschen in den grenz-nahen Zonen bietet. Die Menschen, die jahrzehntelangStacheldraht vor ihrer Haustüre hatten, erleben diese Frei-heit sehr konkret und werden diese Chance besonders nut-zen.Nur, wir müssen die EU-Osterweiterung natürlich auchaktiv aus der Region heraus und im Rahmen unserer Po-litik gestalten. Meiner Meinung nach fehlen Konzepte derBundesregierung, wie die Osterweiterung im Bereich derStrukturpolitik gestaltet und nach vorne gebracht wird.
Die CDU/CSU-Fraktion wird deswegen einen Antragmit ganz konkreten Vorschlägen einbringen:Erstens. Wir fordern einen nationalen Grenzgürtel-aktionsplan. Dieser bezieht sich nicht nur auf die Finan-zen. Vielmehr fordern wir eine Reihe von Aktivitäten, diegrenzüberschreitend gestaltet werden sollten, damit wirdie Aktivitäten der letzten zehn Jahre ausbauen können.Zweitens. Wir brauchen ein Förderprogramm für diedeutschen grenznahen Regionen. Ich bitte Sie, nicht nurdavon zu sprechen, sondern den Vorschlag des Kommis-sars Verheugen aufzugreifen, ihn zu unterstützen und ihnauch umzusetzen. Wir haben ja auch in den Ländern Ver-bündete. Denn es gibt in diesem Zusammenhang eine ge-meinsame Initiative des Freistaates Sachsen, Mecklen-burg-Vorpommerns, Brandenburgs, Berlins und desFreistaates Bayern. Greifen Sie diesen gemeinsamen Vor-schlag auf und setzen Sie ihn um!
Drittens. Wir fordern, dass im Zusammenhang mit derEU-Osterweiterung nach dem Vorbild der Verkehrspro-jekte „Deutsche Einheit“ ein Programm für dort erforder-liche Verkehrsprojekte aufgelegt wird. Seit der Öffnungder Grenze vor zehn Jahren hat zum Beispiel das Ver-kehrsaufkommen zwischen Bayern und Tschechien dras-tisch zugenommen, und es wird sich noch deutlich ver-stärken, wenn die Osterweiterung kommt. Wir müssendeswegen die Verkehrsprojekte vorantreiben, und wirbrauchen Projekte analog zu den Projekten „DeutscheEinheit“.Viertens. Ich hatte schon erwartet, dass bei der heuti-gen Diskussion zur Anfrage der CDU/CSU-Fraktion einganz klares Bekenntnis zur GA abgegeben wird. Sie spre-chen davon, dass uns die Kommission in Brüssel ein-schränkt. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dassdies der Bundesregierung Recht ist, um so einen Schuldi-gen zu finden und die Gelder reduzieren zu können. In dermittelfristigen Finanzplanung werden die Mittel bis2004 reduziert. Das ist kein Bekenntnis zur Gemein-schaftsaufgabe.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 200012788
Meine fünfte Forderung hat bereits der Herr Staatsse-kretär angesprochen: Wie es mit der Strukturpolitik nach2006 weitergehen wird, steht momentan in den Sternen.Es soll bis 2003 eine ganz klare Position eingenommenwerden. Ich bitte dringend darum, dass die Beitrittsver-handlungen auch unter dem Gesichtspunkt der Struktur-politik geführt werden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Struktur-politik wird auch in Zukunft notwendig sein. Deswegenbin ich der Meinung, dass wir die Instrumente der EU unddie nationalen Instrumente verstärkt aufeinander abstim-men müssen. Dann werden wir auch eine Perspektive ha-ben. In diesem Sinne treten wir gemeinsam für die Schaf-fung gleichwertiger Lebensverhältnisse ein, wie sie auchim Grundgesetz festgeschrieben sind.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege WernerSchulz.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nacheiner spannungsgeladenen und äußerst kontroversen De-batte zur Rentenreform beraten wir jetzt mit der Unter-richtung durch die Bundesregierung zum 29. Rahmenplander Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2000 bis 2003 – einendlos langer Titel – ein offensichtlich weniger strittigesThema. Es ist ein Thema, bei dem sehr große Überein-stimmung herrscht, zumindest was den Erfolg dieses In-strumentariums betrifft.Allein die Zahl 29 verweist darauf, dass wir es hier miteiner sehr langen Tradition zu tun haben. Es geht um einInstrument, das immer wieder verbessert, präzisiert undan die bestehenden Verhältnisse und Probleme angepasstworden ist. Es ist ein Instrument, das sich bewährt hat undausgereift ist und das nie automatisch oder schematischfortgeschrieben worden ist. Betrachten wir allein die Ge-währung von Lohnkostenzuschüssen. Diese haben ge-rade in den ostdeutschen Bundesländern gute Dienste ge-leistet. Das zeigt, dass die Fördermöglichkeiten denProblemen angepasst, ausgeweitet und vertieft wordensind.Auch diesmal, bei der 29. Rahmenplanung, gibt es Än-derungen, die die weitere Differenzierung der Förderungbetreffen. Wir haben die strikte Unterteilung, dass derOsten praktisch in die Fördergebiete A und B aufgeglie-dert ist und der Westen in die Fördergebiete C und D.Schon daran erkennt man die Priorität, die der Förderungder strukturschwachen Regionen im Osten nach wie voreingeräumt wird und werden muss.Wir haben bei der Beurteilung der Förderfähigkeitenund der Investvorhaben Veränderungen vorgenommen.Damit ist nicht mehr der Zeitpunkt der Antragstellung ent-scheidend. Jetzt wird zeitnah über die Sachlage entschie-den. Damit können wir zielgenauer, effektiver und aktu-eller fördern. Somit haben wir eine Verbesserung des In-struments erreicht. So werden beispielsweise bei der In-frastrukturhilfe Missbrauch und Mitnahmeeffekte künftigausgeschlossen. In gewisser Weise sind Mängel behobenworden.Wir reden über ein Instrument, das sich bei der aktivenRegionalpolitik vor allen Dingen im Osten bewährt hat.Es ist neben der Investitionsförderung eine der tragendenSäulen der Strukturhilfe beim Aufbau Ost.Die Gemeinschaftsaufgabe ist mit großem Erfolg ver-bunden gewesen. Staatssekretär Mosdorf hat einige Zah-len schon vorgestellt. Allein in den Jahren 1997 bis 1999haben Bund und Länder gemeinsam, wie sich das gehört,durch ihre Unterstützung – sie betrug 16 Milliarden DM –Investitionen in Höhe von etwa 60 Milliarden DM ange-stoßen. Das sicherte über 300 000 Arbeitsplätze. 110 000neue Arbeitsplätze wurden auf diese Art und Weise durchdie Förderung neu geschaffen.Ich will an dieser Stelle eines wirklich nicht verber-gen – das ist ein kritisches Moment; deswegen liegt heuteein Entschließungsantrag vor –: Beim Abbau der Arbeits-losigkeit gibt es noch immer eine Disproportion zwi-schen Frauen und Männern. Wir haben hier ein sehreinschneidendes Problem. Die offiziell ausgewiesene Ar-beitslosenquote liegt bei den Männern bei 15 Prozent undbei den Frauen bei über 19 Prozent. Wir sind hierfür voneiner UNO-Kommission gerügt worden, die sich mit derDiskriminierung von Frauen beschäftigt. Die Bundesre-publik wurde deshalb gerügt, weil die Förderung vonFrauen nicht in dem erforderlichen Maß geschieht, be-sonders in den ostdeutschen Bundesländern.Deswegen haben wir einen Entschließungsantrag ein-gebracht, der die Bundesregierung in dieser Hinsicht be-sonders verpflichtet; denn man sieht die Disproportion beider GA auch dieses Mal. Im Westen werden demnächstdreimal so viele Dauerarbeitsplätze für Männer wie fürFrauen entstehen. Im Osten ist diese Zahl doppelt so groß.Das heißt, es werden im Osten bedeutend mehr Arbeits-plätze für Männer als für Frauen entstehen. Dies geschiehtvor dem Hintergrund der derzeitigen Problemlage, dassviele Frauen vom Aufbau Ost ausgeschlossen sind. DerAufbau Ost findet zwar statt; aber er kann offensichtlichFrauen nicht die erforderlichen Arbeitsplätze bieten. Dasdürfen wir nicht zulassen.
Ich will etwas zur Perspektive der Gemeinschaftsauf-gabe sagen, die vor dem Hintergrund der internationalenWettbewerbsfähigkeit, der Globalisierung, der Beschleu-nigung des technischen Fortschritts, der EU-Osterweite-rung und der Fortsetzung des wirtschaftlichen Aufholpro-zesses in Ostdeutschland stattfindet. Hier besteht auchkünftig ein enormer regionalpolitischer Handlungsbedarf.Das heißt, dass die Akteure in den Regionen noch stärkereingebunden werden müssen. Im Grunde genommen ent-scheidet sich letztlich vor Ort, ob der Strukturwandelvon Erfolg gekrönt ist. Deswegen geht es hier um einewesentlich bessere Abstimmung zwischen den Akteuren.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Klaus Hofbauer12789
Ich will auf ein Problem eingehen, das mir wichtig er-scheint: Es ist die Osterweiterung der EU und die damitauf uns zukommenden Aufgaben, gerade für die neuenBundesländer. Wenn man so will, war die deutsche Verei-nigung der erste Schritt auf dem Weg zur Osterweiterung,den wir jetzt weitergehen müssen. Wir müssen diese Re-gionen noch wesentlich besser auf das vorbereiten, wasauf sie zukommt. Die Infrastruktur muss weiter ausgebautund verbessert werden; denn der eigentliche Tauglich-keitstest findet bei den neuen Strukturen in Ostdeutsch-land statt. Der Strukturwandel in den Regionen wirddurch die EU-Osterweiterung beschleunigt und erneut aufden Prüfstand gestellt, sodass enormer regionalpolitischerHandlungsbedarf besteht.Wir gehen allerdings davon aus, dass gerade die Bun-desregierung – das ist deutlich geworden – diese Aufgabevoll erkannt und im Visier hat, dass sie ihrer Verantwor-tung nachkommen wird. Das erhoffen wir uns auch vonden regionalpolitischen Verantwortungsträgern; denn dieEntscheidungen müssen in den Ländern und Regionen ge-troffen werden. Es liegt vor allen Dingen im Interesse derbetroffenen Regionen, rechtzeitig auf den Wettbewerbs-und Anpassungsdruck zu reagieren. Bei aller Unterstüt-zung durch den Bund: Die Initiativen müssen vor Ort grei-fen.Es wurde die Frage gestellt, wo die Zukunft der Struk-turpolitik liegt. Kollege Hofbauer, Sie haben gesagt, siestehe in den Sternen; aber sie ist natürlich auch nach 2006in den europäischen Sternen zu suchen. Das ist eindeutig.Allerdings – diese Kritik sollten wir aufnehmen – mussder nationale Handlungsspielraum erhalten bleiben. Dierestriktiven Maßnahmen der EU, mit denen wir zu tun ha-ben, sind nicht in jeder Weise förderlich.Bei diesen Aspekten müssen wir darauf achten, dass wirin der europäischen wie in der nationalen Förderpolitik zueiner Übereinstimmung kommen. Das heißt, 2006 stelltsich nicht nur die Frage der europäischen Kongruenz,sondern auch die Frage, wie wir das im eigenen nationalenRahmen weiterführen werden: Werden wir die Differen-zierung zwischen Ost und West so beibehalten oder habenwir mittlerweile eine solche Anpassung erreicht, dass auchhier eine Neubestimmung der Gemeinschaftsaufgabe von-nöten ist? Sind wir mithilfe dieses Instruments nun so weit,dass wir das, was wir unter einheitlichen Arbeits- und Le-bensbedingungen in Deutschland verstehen, überall er-reicht haben? Das heißt, der Handlungsbedarf – eu-ropäisch und national – ist nach 2006 in hohem Maßegegeben.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Rainer Brüderle.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Regionale Wirtschaftsförderungbleibt nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in eini-gen Regionen der alten Bundesländer notwendig. Sie ver-folgt das Ziel, schwach entwickelten oder ländlichen Re-gionen eine Entwicklungs- und Wachstumsperspektive zugeben. Dafür steht ein regionalpolitischer Instrumenten-mix zur Verfügung, der in aller Regel öffentliche Mittelzur Anschubfinanzierung beinhaltet.Regionale Wirtschaftsförderung ist insofern ein wich-tiger Baustein der Wirtschaftspolitik. Für weniger ent-wickelte Regionen bedeutet regionale Wirtschaftspolitikeine Chance auf bessere Wachstumsaussichten. Deshalbmuss strukturschwachen Regionen auch das Recht aufeine eigenständige Regionalpolitik zugebilligt werden.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich,dass die Bundesregierung auf Betreiben der 16 Länder-wirtschaftsminister vor dem Europäischen Gerichtshofgegen die willkürliche Beschneidung des deutschenFörderplafonds klagt. Die Reduzierung des deutschenFörderplafonds von 23,4 Prozent auf 17,6 Prozent der Ge-samtbevölkerung durch die Europäische Kommissionverringert das GA-Fördergebiet automatisch um mehr als2 Millionen Einwohner. Entsprechend schmälern sich dieEntwicklungs- und Wachstumschancen in strukturell be-nachteiligten deutschen Regionen.Der Gang vor den Europäischen Gerichtshof sollte dieBundesregierung und insbesondere Bundeswirtschafts-minister Müller, der wieder mal – wie jedes Mal, wenneine wichtige Debatte zu wirtschaftspolitischen Themen,etwa zum Jahreswirtschaftsbericht, ansteht – sein Desin-teresse durch Abwesenheit dokumentiert,
nicht davon entbinden, politisch weiter für die Sache derregionalen Wirtschaftsförderung zu kämpfen. Ich willhier nicht die Frage aufwerfen, ob sich der Wirtschafts-minister in Brüssel für die regionale Wirtschaftsförderungähnlich stark einsetzt wie beispielsweise für die Kohle-beihilfen. Aber ein politisches Einlenken der Europä-ischen Kommission wäre bei der Rücknahme der nichtnachvollziehbaren Beschränkungen der Förderkulisseund im Interesse der betroffenen Regionen in jedem Fallwünschenswert.Wir sind uns darin einig, dass wir einen europäischenWirtschaftsrahmen und eine Ordnungspolitik brauchen.Das ergibt sich schon allein aus der Idee eines gemeinsa-men Marktes. Wer Wettbewerb in Europa will, der mussfür diesen Wettbewerb auch einheitliche Spielregeln fest-legen. Vorstöße, Herr Staatssekretär, wie bei der Forde-rung Ihres Ministers nach einem nationalen Energie-sockel, sind dagegen nicht nur ordnungspolitisch mehr alsfragwürdig, sondern auch regionalpolitisch kontrapro-duktiv.
Sie stellen nämlich nicht nur die Waren- und Dienstleis-tungsfreiheit des europäischen Binnenmarktes infrage;sie schwächen darüber hinaus das berechtigte Interesse anregionalpolitischen Aktivitäten in Deutschland.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Werner Schulz
12790
Die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ verfolgen im Ge-gensatz zu dem angedachten nationalen Energiesockel einanderes Ziel. Sie sind nämlich dazu gedacht, die Wettbe-werbsfähigkeit in strukturschwachen Regionen zu fördern.Sie sollen also Wettbewerb erst richtig möglich machen.Dagegen soll der müllersche Energiesockel Wettbewerbausschließen.
Diesen Unterschied muss auch die Bundesregierung undvor allen Dingen der Bundeswirtschaftsminister erken-nen.Es muss sichergestellt werden, dass eine eigenständigeregionale Politik möglich bleibt. Das gebietet auch dasSubsidiaritätsprinzip. Dieses Prinzip ist im Amsterda-mer Vertrag ausdrücklich festgeschrieben; zudem ist eswirtschaftspolitisch geboten. Der dahinter stehende Ge-danke der Hilfe zur Selbsthilfe stärkt den Wettbewerb so-wie die Zielgenauigkeit beim Einsatz der Mittel und ver-bessert damit auch die regionale Infrastruktur.Regionale Wirtschaftsförderung soll langfristige Ent-wicklungs- und Wachstumsprozesse möglich machen. Esgeht deshalb nicht an, dass die Europäische Kommissionversucht, den Handlungsspielraum regionaler Wirt-schafspolitik immer weiter einzuschränken. Dieser neueeuropäische Zentralismus ist für die Chancen Europasinsgesamt kontraproduktiv.
Die Europäische Kommission will die Dinge bis inskleinste Detail regeln, und zwar starr und bürokratisch.Die Regionen sind damit vor Ort nur noch ausführendeOrgane der Zentrale in Brüssel. Das kann nicht der rich-tige Ansatz sein. Die Regionen haben damit kaum nochdie Möglichkeit, den Instrumentenmix subsidiär nach denGegebenheiten vor Ort selbst zu bestimmen, da bei kleins-ten Abweichungen von den Vorgaben ein beihilferechtli-ches Verfahren durch die Europäische Kommission droht.Damit werden die Wirkung der regionalen Wirtschafts-förderung nachhaltig geschwächt sowie die Zielgenauig-keit des Mitteleinsatzes und der Wettbewerb unterschied-licher Ansätze untergraben. Das ist ein elementarer Ver-stoß gegen das Prinzip der Subsidiarität.
Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, sich inBrüssel für eine wettbewerblich orientierte dezentrale Re-gionalpolitik stark zu machen. Eine europäische Ordnungdarf nicht den eigenverantwortlichen Einsatz der festge-setzten Mittel verhindern, sie muss ihn vielmehr fördern.Um dem Prinzip des gemeinsamen Marktes zu entspre-chen, reicht es, für die Regionen zentral ein bestimmtesBudget zu fixieren.
Die Gestaltung des Mitteleinsatzes muss allerdings in re-gionaler Verantwortung bleiben.
Das schafft für die Kommunen und Regionen mehr Hand-lungsspielraum und stärkt somit das Subsidiaritätsprin-zip. Wir sind angesichts der Erfolge der kommunalenSelbstverwaltung davon überzeugt, dass dieser Grundsatzrichtig ist. Es hat seinen Grund, weshalb die Dinosauriererdgeschichtlich ausgestorben sind. Brüssel darf nicht derneue Dinosaurier werden. Sie kennen diese Viecher: we-nig Kopf und viel Hinterteil. Wir brauchen viel Kopf undwenig Hinterteil.
Ohne eine selbstbestimmte Regionalpolitik wären Ent-wicklungsschübe wie in Irland oder in Spanien nicht denk-bar gewesen. Die Ursachen für den Umstand, dass Irland– gottlob – vom Sorgenkind zur Boomregion Europas auf-gestiegen ist, liegen in europäischen Strukturmitteln, aller-dings verbunden mit gekonnter ortsnaher Ansiedlungspo-litik. Es zeigt, wie wichtig eine eigenverantwortlicheHandlungsweise ist.Ich möchte zum Schluss kommen: Die Bundesregie-rung muss sich dringend weiteren Problemfeldern der Re-gionalförderung annehmen, etwa der Tatsache, dass dieeuropaweiten Spielregeln in unterschiedlichen Regionenunterschiedlich eingehalten werden. Man hat manchmalden Eindruck, dass die Europäische Kommission mitzweierlei Maß zu messen scheint. So darf es zum Beispielnicht sein, dass in meinem Heimatland Rheinland-Pfalzdie Schuhindustrie in Pirmasens vor die Hunde geht, weilandere Länder die Schuhproduktion europarechtswidrigmassiv subventionieren.
Das widerspricht zutiefst dem Wettbewerbsgedanken ei-nes gemeinsamen Marktes. Deshalb muss sich die Regie-rung für eine einheitliche Anwendung der Spielregeln inallen Regionen Europas einsetzen. Nur dann finden dieseprinzipiell sinnvollen Rahmenbedingungen auch eine Ak-zeptanz, die notwendig ist. Die Bedeutung des Wirt-schaftsministeriums in der Regierung muss gestärkt wer-den; der Wirtschaftsminister muss mit seiner Lust-losigkeit aufhören und ins Parlament kommen, wenn ergefordert ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Es hat manche Irritation gegebenund deshalb will ich für meine Fraktion zu Beginn klar-stellen: Auch wir setzen uns natürlich für die Erhaltung deswichtigen Instruments der Wirtschaftsförderung, der Ge-meinschaftsaufgabe, ein. Das Instrument muss aber zwei-fellos – das ist hier schon angesprochen worden – ständigqualifiziert werden, damit es langfristig trägt. Dabei gehtes uns um drei Aspekte: Im diesjährigen Rahmenplan
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Rainer Brüderle12791
sind Beiträge der GA für die Arbeitsmarktpolitik und dieStadtentwicklung ausgebaut worden; die Förderung vonFrauen – Herr Kollege Schulz hat dazu etwas gesagt –kommt neu hinzu.Es gibt eine Reihe von Absichtserklärungen, zu denendie PDS-Fraktion bekanntlich bereits in der vergangenenWahlperiode Taten gefordert hat. Aus diesem Grund wer-den wir den Koalitionsantrag zur Bekämpfung derFrauenarbeitslosigkeit mithilfe der Gemeinschaftsauf-gabe auch – trotz der Beweihräucherung der Bundesre-gierung – unterstützen. Hier liegt aber das erste Problem:Der Rahmenplan ist sehr innovativ, das alltägliche För-dergeschäft verdient diese Bezeichnung aber aus meinerSicht noch nicht.
So wird im Rahmenplan ausdrücklich eine arbeits-marktpolitische Initiative des Bundeslandwirtschaftsmi-nisteriums für die Landwirtschaft und den ländlichenRaum erwähnt. In dessen Etat wird bereits – ich zitiere –von in diesem Zusammenhang zu ergreifenden Maßnah-men durch das Wirtschaftsministerium gesprochen. Nur,im Wirtschaftsetat findet sich dazu nichts. Unsere Nach-fragen beantwortete das Wirtschaftsministerium mit derlapidaren Feststellung, das GA-Fördersystem sei ohnehinso breit angelegt, dass neben spezifischen regionalpoliti-schen Zielen auch andere Politikbereiche unterstützt wer-den könnten. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass die bis-herigen GA-Mittel allesamt schon durch traditionelleFörderung gebunden sind. Insofern wären unsere entspre-chenden Haushaltsanträge mit ihren bescheidenen Ansät-zen wenigstens ein kleines Signal für dringend nötigetatsächliche Vernetzungen regional wirksamer Maßnah-men.
Damit bin ich beim zweiten Problem angelangt. DasZiel der Gemeinschaftsaufgabe ist hier mehrfach be-schrieben worden – insoweit gibt es auch Übereinstim-mung –: regionale Wirtschaftsförderung, die zur Gleich-behandlung von strukturschwachen Regionen im regio-nalen Standortwettbewerb beitragen soll. Aber, waspassiert in der Praxis auch, und zwar, Herr Brüderle, ebennicht nur zwischen Staaten, sondern auch innerhalb derBundesrepublik Deutschland?Da verlagert beispielsweise – ich beschränke mich nurauf eines von mehreren Beispielen – eine Zwiebackfirmaihre Produktion aus einem strukturschwachen GebietWest, deshalb höchstgefördert, in ein für Ostverhältnissestrukturstärkeres Gebiet, deshalb niedrig gefördert. Imschwachen Westen werden 430 Arbeitsplätze vernichtet,im nicht viel schwächeren Osten nur 100 neue geschaffen,natürlich zu den vergleichsweise miserablen dortigenLohn- und Arbeitsbedingungen. Das Ganze wird dannauch noch mit einem zweistelligen Millionenbetrag ausden Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe gefördert.Nicht, dass wir von der PDS uns nicht über neueArbeitsplätze im Osten freuen würden. Das ist nicht dieFrage. Aber wenn die Angleichung der Lebensverhält-nisse in den Regionen wie in dem geschilderten Fall aufeine Angleichung nach unten hinausläuft, wird das ganzeFördersystem diskreditiert.
Damit bin ich beim dritten Aspekt angelangt. BreitenRaum sowohl in den Fragen der CDU/CSU als auch inden Antworten der Regierung nimmt die Kritik an derrestriktiven Beihilfengenehmigung durch die EU-Kom-mission ein. Das hat heute ebenfalls eine Rolle gespielt.Aber kann sich denn hierzulande über den – dieser Satz istnicht von mir; ich zitiere – multisektoralen Rahmen fürgroße Vorhaben in der Regionalförderung wirklich je-mand ernsthaft wundern, wenn er sich Elf/Leuna, die Vul-kan-Werften oder VWMosel vor Augen hält?Auch bei der Klage gegen die Beschränkung der west-deutschen Fördergebiete sollten wir zumindest keine trü-gerischen Illusionen aufkommen lassen. Mit der neuenHärte hat die Kommission zwar ihre 30-jährige eigenePraxis revidiert, aber faktisch nur eine rechtlich durchnichts abgesicherte Privilegierung Deutschlands beendet.Es wäre aus meiner Sicht abenteuerlich, im Rat auf Mehr-heiten, geschweige denn Einstimmigkeit zur Änderungder dem entgegen stehenden Beihilferichtlinie oder gardes EG-Vertrages zu setzen.Wir sollten, statt nur auf Brüssel zu schimpfen und zuklagen, eine offensive Strategie für die Zukunft angehen.Das heißt eben auch, zügig mit einer Reform der nationa-len Regionalförderung zu beginnen. Zum einen müssenim Rahmen der institutionellen Reform und der Ost-erweiterung der EU politische Freiräume für nationalePolitik errungen werden. Zum anderen sollte auch die Ge-meinschaftsaufgabe selber im Rahmen der anstehendengrundlegenden Reform der Bund-Länder-Beziehungen– ich nennen nur Stichworte: Länderfinanzausgleich undSolidarpakt – überprüft werden. So könnte sie vielleichtauf eine reine Infrastrukturförderung, die jedoch im um-fassenden Sinne auch den Kultur- und den Sozialbereichbeinhalten sollte, beschränkt werden. Die einzelbetriebli-che Förderung läge dann in der Finanzhoheit der Länder.Dies wiederum würde aber einen wirklich gerechten Län-derfinanzausgleich voraussetzen, bei dem beispielsweisedie so genannten Geberländer bei der Finanzkraftermitt-lung auch die kommunalen Steuereinnahmen voll erfas-sen müssten.Das sind natürlich nur erste Überlegungen zu einemdurchaus komplexen Thema. Statt aber nur zu klagen,sollten wir tatsächlich mit diesen ernsthaften Überlegun-gen beginnen.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Christian Müller, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! An sich ist es einschöner Anlass, dass wir heute Gelegenheit haben, überdie Regionalförderung und die Gemeinschaftsaufgabe zu
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Rolf Kutzmutz12792
diskutieren. Das Gute daran ist vielleicht auch, dass, beiallen Versuchen mehr oder weniger berechtigter Kritik, inbestimmten grundlegenden Positionen Gemeinsamkeitenvorhanden sind. Diese möchte ich zunächst unterstrei-chen, weil sie uns schon deshalb verbinden, weil wir, sohoffe ich, alle der Meinung sind, dass wir mit der Ge-meinschaftsaufgabe ein modernes und leistungsfähigesInstrument der Regional- und Wirtschaftsförderung voruns haben, das ausgebaut werden kann und bei dem wirdie Chance haben, all jene Disparitäten, über die heuteschon geredet worden ist, besser in den Griff zu bekom-men.
Wir werden uns sicherlich auch auf eine gemeinsamePosition gegenüber der Europäischen Union verständi-gen können. Wir sollten die Bundesregierung unterstüt-zen, Herr Hofbauer, anstatt sie der Nachlässigkeit zu zei-hen. Das haben wir in diesem Jahr auch schon gemeinsamim Wirtschaftsausschuss getan. Ich glaube nicht, dass Sieernsthaft der Meinung sind, die Bundesregierung habe dasGanze schleifen lassen. Die Bundesregierung hat von An-fang an versucht, die bestehenden Handlungsspielräumezu erhalten. Wir alle sollten die Bundesregierung in ihrerHaltung gemeinsam bestärken.
Ich halte es auch nicht für richtig, wenn Sie der Mei-nung sind, dass der Gemeinschaftsaufgabe in der Bundes-politik nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher zu-kommt. Das Gegenteil ist der Fall: Wir alle sind uns ihrerBedeutung bewusst. Das gilt auch für das Bundeswirt-schaftsministerium. Man sollte jetzt nicht etwas konstru-ieren, so wie Sie es getan haben, Herr Brüderle, um dieheutige Abwesenheit des Bundesministers für Wirtschaftund Technologie zu erklären und auszunutzen.
Die Herausforderung Osterweiterung ist ein Thema,das uns alle sicherlich stark beschäftigt. Die Frage nachden Konzepten steht sehr wohl im Raum. Sie hat in derBeantwortung der Großen Anfrage eine wesentliche Rollegespielt. Ich möchte unterstreichen, dass wir – das ist derentscheidende Ansatz – die vorhandenen Instrumente vonder nationalen GA über die Strukturfonds bis hin zu denInterreg-Programmen bis 2006 nutzen müssen, wenn wirbessere Voraussetzungen für die Bewältigung der Heraus-forderung Osterweiterung schaffen wollen.Ein anderer Punkt – darauf ist schon hingewiesen wor-den – ist genauso wesentlich: Wir müssen die nationalenHandlungsspielräume auch für die Zeit nach 2006 erhal-ten oder, wenn sie verloren gegangen sind, zurückge-winnen. Das ist die wichtigste Aufgabe, bei deren Erfül-lung wir alle – auch die Länder – die Bundesregierungunterstützen sollten. Die Frage, was in diesem Zusam-menhang zu tun ist, ist sicherlich auch von Bedeutung.Deswegen sollten wir in Ruhe darüber nachdenken, wases bringen soll, kostenträchtige Zusatzprogramme von derEuropäischen Union zu fordern, wenn vielleicht dadurchBegehrlichkeiten anderer europäischer Länder gewecktwerden. Darüber sollten wir in Ruhe nachdenken. Wich-tig ist, dass eine europäische Unterstützung für dieFreiräume, die wir zu gewinnen suchen, erfolgt. Das an-dere gehört sicherlich auch in den Kontext. Wir solltendies nicht aus den Augen verlieren.Da ich gerade die Konzepte angesprochen habe,möchte ich noch auf Folgendes hinweisen: Wir sollten al-les tun, um die Funktion der Gemeinschaftsaufgabe, dieohnehin politikfelderübergreifend angelegt ist, zu stärken.Sie hat, wie ich schon gesagt habe, in der Tat das Zeugdazu, ein universelles und vernünftiges Förderungsinstru-ment zu sein, und muss es auch bleiben. Wir müssen unsalle darüber klar werden, dass die Verbindung verschie-dener Politiken der entscheidende Ansatz sein muss. Eskommt nicht immer nur auf Geld bzw. Haushaltsmittel an,so wichtig es auch ist, dass eine Gemeinschaftsaufgabemit den entsprechenden Mitteln ausgestattet ist. Eskommt darauf an, dass wir die Synergieeffekte, die durchdie Verbindung verschiedener Politiken entstehen, nut-zen.Das Problem besteht darin, dass wir in einer Region zuwenig projekt- und problembezogene Politiken auf eineEntwicklungsaufgabe hin organisieren können. Daranwerden wir vor allen Dingen arbeiten müssen. Ich denke,dass wir das Thema „Entwicklung von unten“ noch ein-mal ins Auge fassen müssen. Entwicklung von unten istder entscheidende Ansatz, um Erfolge erzielen zu können.Sie erinnern sich alle daran, dass wir das Thema der re-gionalen Entwicklungskonzepte, der integrierten Kon-zepte seit Jahren in den Rahmenplänen finden. Die prak-tischen Erfahrungen zeigen, dass in sehr vielen – vorallem aber auch schwachen – Regionen sich bedauerli-cherweise nicht die Kräfte befinden, die das vernünftig or-ganisieren. Dies muss auch von unten ausgehen.Bund und Länder sollten ein Stück mehr Verantwor-tung dafür übernehmen, die Konsensbildung in den Re-gionen anzustoßen und voranzubringen. Dies ist für die inder Transformation befindlichen ostdeutschen Regionenein wichtiges Thema.Sehen Sie sich einmal unseren Ansatz des regionalenManagements an, der noch in den 29. Rahmenplan hi-neingebracht worden ist. Es ist ein vernünftiges Instru-ment. Mit diesem regionalen Management können wirDefizite, die in den Landratsämtern und anderswo vor-handen sind, ausgleichen helfen. Wenn es uns gelänge, inverschiedenen Modellprojekten Erfolge zu erzielen, wäredas gut. Das ist eine unserer Initiativen, für die Sie uns lo-ben könnten, meine Damen und Herren.
Ich darf noch etwas in diesem Zusammenhang erwäh-nen.
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Christian Müller
12793
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege!
Ich will dies noch zu
Ende bringen, dann kann Herr Brüderle seine Frage stel-
len.
Wenn wir verschiedene Politiken miteinander ver-
knüpfen wollen, um Synergieeffekte zu erzielen, kommt
der ostdeutsche Inno-Regio-Wettbewerb ins Spiel. Mit
diesem Anstoß zur Vernetzung haben wir die Möglichkeit,
eine Verbindung moderner, zeitgemäßer, innovativer In-
dustrien bzw. Unternehmen zur Gemeinschaftsaufgabe
herzustellen und eine Verbesserung regionaler Wirt-
schaftsstrukturen zu erreichen. Es ist ohnehin klar, dass
durch Inno-Regio angestoßene Projekte in der zweiten
Phase in der Regel auch der Finanzierung durch Mittel der
Gemeinschaftsaufgabe bedürfen. Auch das gehört zu den
Konzepten, die wir verfolgen werden.
So, Herr Kollege Herr Brüderle, Ihre Frage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Brüderle, Sie können Ihre Frage stellen.
Herr Kollege Müller, Sie
haben den Regionalmanager angesprochen. Muss nicht
ein Landeswirtschaftsminister Regionalmanager sein? Ist
es nicht ein Ausweis dafür, dass das Wirtschaftsministe-
rium seine Aufgaben nicht anständig erfüllt, der Wirt-
schaftsminister sich nicht um seine Angelegenheiten
kümmert, wenn wir jetzt Ersatzmanager sein müssen?
Dann können wir den Wirtschaftsminister abschaffen.
Diese Aufgliederung verstehe ich nicht. Ein Wirtschafts-
minister – ich war es zwölf Jahre lang – ist ein Regio-
nalmanager. Wenn er es nicht ist, ist er fehl am Platz.
Lieber Herr
Brüderle, wir können gelegentlich bei einer Weinreise
durch Rheinland-Pfalz überprüfen, ob das so ist. Die Er-
fahrungen, die uns vorliegen, besagen, dass diese Art von
Management durch den Landeswirtschaftsminister nicht
zwangsläufig in allen Bundesländern in den bedürftigen
Regionen Wirkung zeigt.
Im Übrigen sind wir uns darin einig, wenn wir von in-
tegrierter Regionalentwicklung reden, dass es eine von
unten ist. Das heißt, die Konsensbildung in der Region ist
ein wesentliches Element. Die Regionalmanager sollen
zunächst einmal den Regionen helfen. Dass die Landes-
regierung und die Landeswirtschaftsminister als diejeni-
gen, die Regionalförderungspolitik durchführen, in das
Boot gehören, versteht sich von selbst. Aber machen Sie
es nicht kleiner, als es ist. Es ist sicherlich nicht das Ei des
Kolumbus, aber es hilft in diesem Fall sehr, die regionale
Konsensbildung bei den Regionen, die es allein nicht
schaffen, anzustoßen und voranzubringen. Die stärkeren
Regionen brauchen das sicherlich nicht.
Nun möchte ich noch zwei Bemerkungen zu dem ma-
chen, was Sie, Herr Kutzmutz, angesprochen haben; das
schließt sich unmittelbar an die Frage von Herrn Brüderle
an. Sehr oft läuft das tägliche Fördergeschäft nicht so gut.
Jeder kann die Wirtschaftsförderung seiner eigenen Land-
kreise daraufhin überprüfen. Es ist ein ernsthaftes Handi-
cap, wenn dort das nötige Engagement der Verantwortli-
chen nicht zustande kommt. Im Übrigen hat es auch etwas
damit zu tun, dass ein Landrat seinen Landkreis natürlich
als Region ansieht. Auch wenn dies nachvollziehbar sein
mag, entspricht es doch den Erfordernissen keinesfalls.
Da die Region mehr als nur ein Landkreis ist, muss mit
dem Regionalmanager ein zusammenführendes Element
eingebaut werden. Vielleicht kann man auf diese Weise
über die vielerorts anzutreffende Kirchturmspolitik hin-
wegkommen.
Sie haben auch die Reform der Bund-Länder-Finanz-
beziehungen angesprochen. Wir müssen an dieser Stelle
gemeinsam daran arbeiten, dass uns die Gemeinschafts-
aufgabe auch nach dieser Reform erhalten bleibt, weil sie
geeignet ist, als ein Ordnungsrahmen zu wirken, einen
Systemansatz beinhaltet, den Subventionswettlauf der
Regionen in geordnete Bahnen lenkt, die Koordinierung
der raumwirksamen Politiken verstärkt, die Bündelung
der Länderinteressen gegenüber Brüssel ermöglicht und
damit dem Verfassungsauftrag entspricht, der Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse näher zu kommen. In-
sofern ist eine Substitution durch die europäische Regio-
nalförderung nicht möglich. Wir brauchen – das ist ganz
wichtig – die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur auch nach 2006,
weil unser regionalpolitischer Handlungsbedarf erhalten
bleiben wird. Wir dürfen sogar annehmen, dass er noch
zunimmt.
Meine Damen und Herren, dies ist Anlass genug, in
dieser Debatte festzuhalten, dass wir die Bundesregierung
in ihren Bemühungen unterstützen sollten, die notwendi-
gen Handlungsspielräume zu gewinnen und zu erhalten.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Ulrich Klinkert für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn man den Verlauf derDebatte verfolgt, stellt man fest, dass wir parteienüber-greifend der Meinung sind, dass die regionale Wirt-schaftsförderung eines der wichtigsten Instrumente ist,um regionale Nachteile auszugleichen, vor allen Dingenden ländlichen Raum zu fördern und die Strukturentwick-lung voranzubringen. In den letzten Jahren wurde durchdieses Instrument Beschäftigung gesichert, wurden in denRegionen Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 200012794
In den alten wie in den neuen Bundesländern wurde dieBund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung derregionalen Wirtschaftsstruktur“ intensivst genutzt undfast zu 100 Prozent abgeschöpft, wenn man einmal vomLand Sachsen-Anhalt absieht, das es nur auf eine 78-pro-zentige Ausnutzung der zur Verfügung gestellten Mittelgebracht hat.
Aber in diesem Bundesland werden die Schwerpunkte of-fensichtlich nicht auf Investitionen in Arbeitsplätze ge-legt.Wir haben auch gehört, dass die regionale Wirtschafts-förderung aus verschiedenen Gründen in Zukunft so wiebisher leider nicht fortgesetzt werden kann. Die BrüsselerBürokratie verlangt eine Reduzierung des Bevölkerungs-plafonds auf 17,6 Prozent bei der nationalen Förderung.Dies betrifft vor allen Dingen die alten Bundesländer. DerUnterausschuss „Regionale Wirtschaftspolitik“ hat ja par-teienübergreifend die Bundesregierung ermuntert, recht-liche Schritte gegen Brüssel einzuleiten. Die Bundes-regierung hat, was wir ausdrücklich unterstützen, eineKlage beim Europäischen Gerichtshof eingereicht. Wirerwarten aber von der Bundesregierung – darin stimmeich dem Kollegen Hofbauer eindeutig zu –, dass sie sichengagierter als bisher für die Interessen des Bundes, derLänder und der deutschen Wirtschaft einsetzt.
Man hat den Eindruck, dass die rot-grüne Bundesre-gierung in Brüssel keine allzu große Autorität besitzt. DieFolge ist die Beschneidung nationaler Spielräume. Abergerade für Gebiete, die von der EU-Osterweiterung be-sonders betroffen sein werden, sind eigenverantwortliche,nationale Handlungsmöglichkeiten immens wichtig.Deutschland hat jetzt nur noch die Chance, in den Bei-trittsverhandlungen so aufzutreten, dass es einerseits an-erkennt, dass EU-Strukturfondsmittel – wir haben sieschließlich durch unsere Einzahlungen maßgeblich zurVerfügung gestellt – sehr wohl in die Beitrittsländer wei-tergeleitet werden, dass es andererseits aber auch dieMöglichkeit hat, den Strukturwandel in den Grenzgebie-ten Deutschlands eigenverantwortlich weiterhin zu unter-stützen. Es darf nicht sein, dass die Missbrauchskontrolleder Europäischen Union zur Verhinderungsstrategie jedernationalen Förderung missbraucht wird.
Gerade in diesem Punkt erwarten wir – ich sage es nocheinmal – ein stärkeres Engagement der Bundesregierung.Die Osterweiterung – daran soll nicht der leisesteZweifel bestehen – ist eine politische Notwendigkeit undeine wirtschaftliche Chance. Aber wir dürfen auch derenRisiken nicht übersehen, insbesondere diejenigen für diegrenznahen Regionen, sowohl in West als auch in Ost.Wenn vermieden werden soll, dass es zu Standortverlage-rungen oder zu Kundenbewegungen massiven Ausmaßesin die Beitrittsländer kommt, dann muss sich die Regie-rung dafür einsetzen, dass die Strukturnachteile ausgegli-chen werden können. Dabei ist die Wirtschaft in denneuen Bundesländern in einer besonders kritischen Situa-tion, weil in den Unternehmen oft finanzielle Rücklagenfehlen – dadurch können Schwankungen schlecht ausge-glichen werden – und wir von einer wirtschaftlichen Sta-bilität insgesamt noch weit entfernt sind.Allerdings hat die Bundesregierung gerade an dieserStelle die Weichen in die falsche Richtung gestellt. Anstattdass mit der GAdie Wirtschaft weiter stabilisiert wird, er-folgt eine massive Kürzung der Wirtschaftsförderung inden neuen Bundesländern, und zwar, um es in Zahlen aus-zudrücken, von 1998 bis 2004 um immerhin 42 Prozent,
das heißt von 2,94Milliarden DM auf 1,7 Milliarden DM.Ich halte dies schlicht für unverantwortlich.
Dabei müssten die Zahlen der wirtschaftlichen Ent-wicklung in den neuen Bundesländern bei der Bundesre-gierung die Alarmglocken klingeln lassen; denn das Wirt-schaftswachstum fällt im Vergleich zu den alten Bundes-ländern und die Arbeitslosigkeit stagniert auf sehr hohemNiveau.
Noch 1998 wollte sich der neu gewählte Bundeskanzleran der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit messen lassen.
Wenn man sich die Ergebnisse in den neuen Bundeslän-dern ansieht, dann erkennt man:
– Hören Sie mir doch erst einmal zu! Ich sage, wie dieZahlen in der Realität aussehen.1998 betrug die Arbeitslosigkeit in den neuen Bun-desländern 17 Prozent. Im Jahr 2000 wird sie bei unge-fähr 17,1 Prozent liegen. Im günstigsten Fall wird sie imkommenden Jahr – auch nach Aussage der Wirtschafts-weisen – um 0,4 Prozentpunkte sinken. Anders ausge-drückt: Die Arbeitslosigkeit betrug 1997 im Osten unge-fähr das 1,8fache der Arbeitslosigkeit im Westen. Sie wirdim Jahr 2001 das Zweieinhalbfache der Arbeitslosenquoteim Westen betragen. Wer dann noch davon spricht, dassbei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den neuenBundesländern ein maßgeblicher Erfolg erzielt wordenist, der verkleistert schlichtweg die Augen der Menschen.
Vor dem Hintergrund der Lage, in der sich die neuenBundesländer befinden, ist die massive Kürzung der Re-gionalförderung unverantwortlich. Im Entschließungsan-trag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu diesem Ta-gesordnungspunkt ist von „Verstetigung der Mittel“ oder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Ulrich Klinkert12795
von einer „erfolgreichen Politik der Bundesregierung zurBekämpfung der Arbeitslosigkeit“ die Rede. Ich emp-finde das als Verhöhnung der Menschen in den neuenBundesländern.
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Bundes-regierung, die in der Lage ist, sich in Brüssel durchzuset-zen. Wir brauchen aber mindestens genauso dringend eineBundesregierung, die im eigenen Land etwas bewegenkann, statt es zu lähmen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Christel Humme für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
legen! Liebe Kolleginnen! Herr Klinkert, im Oktober hat-
ten wir den niedrigsten Stand der Arbeitslosigkeit seit
sechs Jahren – gute Aussichten für das kommende Jahr.
Auch die fünf Weisen haben gestern einen weiteren
Rückgang der Arbeitslosigkeit um 200 000 Personen vo-
rausgesagt. Gleichzeitig verzeichnen sie hohe Wachs-
tumsraten der Wirtschaft von 3 Prozent in diesem Jahr und
im nächsten Jahr.
Das ist das Ergebnis der erfolgreichen Wirtschafts-,
Wachstums- und Beschäftigungspolitik der Bundesregie-
rung. Auch die ostdeutsche Wirtschaft wächst. So ist dort
das verarbeitende Gewerbe mit einem Produktionszu-
wachs von 8,4 Prozent in 1999 erstmalig zum Träger von
Wachstum und Beschäftigung geworden.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, trotz – da gebe ich
Ihnen teilweise Recht – vieler anderer positiver Signale
profitieren die Arbeitsmärkte in den neuen Ländern noch
nicht in gleichem Maße wie die Arbeitsmärkte in den al-
ten Ländern. Das ist korrekt. In Bezug auf die Arbeitslo-
senquote ist Deutschland immer noch in Ost und West ge-
spalten. Deshalb begrüßen wir es ausdrücklich, dass
Bundesregierung und Bundesländer weiterhin auf die
Strukturpolitik setzen. Solange nämlich die Lebensver-
hältnisse gespalten sind, gibt es zur regionalen Wirt-
schaftsförderung, so wie sie hier mit dem 29. Rahmenplan
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ vorgelegt wurde, keine Alternative.
Eine effektive Strukturpolitik muss allerdings be-
stimmte Zielgruppen genauer ins Auge fassen. So zum
Beispiel die Zielgruppe der Frauen, die der Kollege
Werner Schulz dankenswerterweise bereits in seiner Rede
berücksichtigt hat. Kaum eine Gruppe in Deutschland ist
auf so bedrückende Weise von Arbeitslosigkeit betroffen
wie die Frauen in Ostdeutschland. Der Einbruch bei der
Beschäftigung nach der Wende traf Frauen in den neuen
Bundesländern besonders stark. Bis heute, zehn Jahre da-
nach, stellt sich der Arbeitsmarkt für Frauen nach wie vor
weitaus ungünstiger dar als der für Männer. So liegt in den
neuen Bundesländern die Arbeitslosenquote von Frauen
im Jahre 1999 mit 19,8 Prozent deutlich höher als die der
Männer, die bei 15,5 Prozent liegt; nämlich um mehr als
ein Viertel.
Hinzu kommt, dass Frauen es immer noch sehr viel
schwerer haben, Arbeit zu finden. Nach Angaben der
Bundesanstalt für Arbeit lag die durchschnittliche
Dauer der Arbeitslosigkeit von Frauen mit 36Wochen fast
50 Prozent über der der Männer, die bei 24,6Wochen lag.
Im Vergleich zu den Frauen in den alten Bundesländern
schneiden die Frauen in den neuen Bundesländern
schlechter ab, denn sie sind mehr als doppelt so häufig ar-
beitslos.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wir verzeichnen
also in einem doppelten Sinne gespaltene Lebensverhält-
nisse: zwischen den alten und den neuen Bundesländern
einerseits, zwischen Frauen und Männern in den neuen
Bundesländern andererseits. Wir stellen fest: Frauen sind
überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen. Von
den Erfolgen der regionalen Wirtschaftspolitik profitieren
sie aber nur unterdurchschnittlich.
Wir von SPD und Bündnis 90/Die Grünen stellen mit
unserem Entschließungsantrag auf eine zielgenaue Struk-
turpolitik ab. Deshalb wollen wir, dass künftig Förder-
konzepte unter dem Gesichtspunkt entwickelt werden,
dass sie besser zur Überwindung der Frauenarbeitslosig-
keit beitragen. Wir wollen im Rahmen einer Erfolgskon-
trolle die Maßnahmen ermitteln, die zur Überwindung der
Frauenarbeitslosigkeit besonders erfolgreich sind. Wir
wollen, dass künftig für die einzelnen Fördergebiete Ar-
beitsmarktdaten getrennt nach Frauen und Männern aus-
gewiesen werden.
Mit einer solchen zielgenaueren Zuschneidung der
Strukturpolitik leisten wir einen wesentlichen Beitrag zur
Effizienzsteigerung und zur Herstellung von Chancen-
gleichheit. Das gebieten nicht nur das Grundgesetz und
der Amsterdamer Vertrag, das gebietet auch die ökono-
mische Vernunft. Das Potenzial unserer gut ausgebildeten
Frauen nicht richtig zu nutzen wäre nämlich eine
unglaubliche Verschwendung der einzigen Ressource, die
Deutschland hat: eine Verschwendung von Wissen, Bil-
dung und Erfahrung. Deshalb bitte ich Sie, dem Ihnen
vorliegenden Entschließungsantrag zuzustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-ser Debatte ist Kollege Wolfgang Börnsen für die CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Ulrich Klinkert12796
FrauPräsidentin! Verehrte Kollegen! Verehrte Bürgerinnenund Bürger!Mir hat das Bild von Rainer Brüderle gut gefallen, dieEU-Regionalpolitik mit einem Dinosaurier zu verglei-chen – kleiner Kopf und dicker Hintern, der alles plattmacht. Für mich ist die EU-Regionalpolitik eher noch wieeine Krake. Sie erstickt immer mehr jede örtliche Initia-tive und das müssen wir gemeinsam ändern.
Die Regionalförderung der Vergangenheit, als es nochmehr Mitsprache gab, war ein Erfolg, ablesbar besondersan Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern. Von 1991bis 1999 hat sie zur Sicherung von über 1 Million Ar-beitsplätzen und zur Neuschaffung von 780 000 zusätzli-chen Arbeitsplätzen beigetragen. Das ist ein großer Erfolgfür die regionale Strukturpolitik.Die Regionalförderung hat Wachstumsimpulse gege-ben und zu modernen Strukturen beigetragen. Wer mit of-fenen Augen durch die neuen Bundesländer fährt, erlebt,dass sich eine ganze Region im Aufbruch befindet, hierein Modellraum entsteht, der Vorbild und Beispiel der eu-ropäischen Osterweiterung werden wird. Doch noch gibtes strukturelle Verwerfungen, noch kann man von glei-chen Lebensbedingungen in unserem Land nicht spre-chen.Für fast 40 Prozent der Bevölkerung gilt: Ihr Einkom-men liegt bis zu 25 Prozent unter dem europäischenDurchschnitt, so nachzulesen im Bericht der Bundesre-gierung zum 29. Rahmenplan. Er enthält weitere Feststel-lungen, die wir teilen: In den neuen Ländern ist die Auf-holphase noch nicht abgeschlossen. Es gibt noch keinensich selbst tragenden Aufschwung am Arbeitsmarkt.Und in den alten Ländern? Die Rahmenbedingungenfür schwach strukturierte Regionen haben sich eher ver-schärft als gemildert, der Anpassungsdruck für Schwach-regionen hat zugenommen. Die krisenhafte Lage imländlichen Raum hat sich durch die EG-Agrarreformwesentlich verstärkt. Sie belastet die deutsche Landwirt-schaft in Zukunft mit 5 Milliarden DM zusätzlich. DasHöfesterben nimmt zu. Aktuell kommt hinzu, dass derTruppenabbau gerade in den Randräumen Deutschlandseine folgenreiche zusätzliche Belastung mit sich bringt.Doch trotz dieser Herausforderungen, die ein Mehr anMaßnahmen und Mitteln erfordern, hat es in der regiona-len Strukturpolitik eine Tendenz- und Wirkungswende ge-geben. Tatsache ist: Seit dem 1. Januar 2000 ist der För-derumfang in Deutschland durch die EU-Kommissiondrastisch reduziert worden, von 40,7 Prozent der Gesamt-bevölkerung auf 34,9 Prozent, fast 6 Millionen Einwoh-ner weniger. Bei Ziel-2-Gebieten hat Brüssel bei10,3 Millionen Menschen Schluss gemacht, dass heißt:um über 5 Millionen Einwohner reduziert.Tatsache ist: Die Förderkulisse in Deutschland-West istauf dem niedrigsten Stand, den es je gab. Tatsache ist: DieEU hält immer mehr das Heft des Handelns in der Hand.Nationale Eigenständigkeit wird immer stärker zurückge-drängt. Brüssel diktiert das Geschehen, verbunden mit ei-nem teilweise unvertretbaren bürokratischen Aufwand.Tatsache ist schließlich, dass die Regierung in ihrerAntwort mehr oder weniger verschlüsselt mitteilt: Mit ei-nem Ende der Regionalförderung in Deutschland ist imJahr 2006 zu rechnen. Tatsache ist aber auch, dass nurnoch mit EU-Mitteln Regionen gefördert werden, in de-nen die Kaufkraftparität weniger als 75 Prozent des euro-päischen Gesamtdurchschnitts beträgt.Erinnern wir uns: Für fast 40 Prozent der Bevölkerunghat die Regierung Förderung von Brüssel gefordert. Dasbedeutet, dass fast 40 Prozent unserer Bevölkerung inEinkommensverhältnissen leben, die unter dem europä-ischen Durchschnitt liegen. Es gibt also eine Wohlstands-grenze in unserem Land, nicht nur zwischen Ost undWest, sondern noch mehr zwischen Ballungsräumen undländlichen Räumen, und sie wird durch steigende Ener-giekosten und durch die Ökosteuer immer weiter ver-schärft.
Wer Binnenwanderung verhindern will, die zu neuengroßen Problemen in unserem Land führen wird, muss zü-gig unserem Verfassungsauftrag zur Schaffung gleich-wertiger Lebensverhältnisse gerecht werden. Allein dieBinnenwanderung zwischen Ost und West betrug in denletzten zehn Jahren 1 Million Menschen.Die Regierung argumentiert: Die neuen Bundesländerbleiben mit 20Milliarden DM in der höchsten Förderstufebis 2006. 500 Millionen DM zusätzlich fließen jährlich indie Strukturförderung. Deutschland erhält also noch ein-mal einen anständigen Schluck aus der Pulle, bis es in Sa-chen Regionalhilfe Tabula rasa gibt. Doch der Schluckbleibt im Hals stecken, wenn man die GesamtleistungDeutschlands in Brüssel und die Rückflüsse vergleicht.Im Einzelplan 60 unseres Haushalts ist nachlesbar:Deutschland wird in diesem Jahr 42,8 Milliarden DM andie EU abführen und erhält 21Milliarden DM zurück, we-niger als 50 Prozent. Für 2001 sind 44,9 Milliarden DMvorgesehen, für 2002 45,9 Milliarden DM. Das sind fast26 Prozent des EU-Haushalts, Tendenz steigend. DieRückflüsse dagegen stagnieren bei gut 21Milliarden DM.Von einer Steigerung der Strukturmittel ist keine Rede, siebleiben für sieben Jahre eingefroren.Einen tatsächlichen Rückgang gibt es bei den nationa-len Mitteln für die Gemeinschaftsaufgabe. Gab es inDeutschland West 1991 noch 1 Milliarde DM, gibt esheute im neuen Haushalt nur noch 242 Millionen DM,also 750 Millionen DM weniger. Ich finde – da sind wiruns ja auch alle einig –, dieser Abbau muss gestoppt wer-den.Wir von der Union erwarten: Es darf zu keinem Endeder Regionalförderung nach 2006 kommen.
Die Regionalförderung muss raus aus der europäischenZentralisierung, wieder zurück in nationale Kompetenz.Es darf nicht bei dem alleinigen Initiativrecht der EU in
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000 12797
der Regionalpolitik bleiben. Den nationalen Regierungenist das Initiativrecht einzuräumen. Es muss auch nach2006 ein Programm für periphere Regionen geben. DerAntrag unserer Fraktion, ein Grenzlandgürtel-Aktions-plan, sollte eine breite Unterstützung erfahren. – Wir er-warten in diesen fünf Punkten aktives Regierungshan-deln.In der Regionalpolitik hat es in der Vergangenheit stetseine breite parlamentarische Basis gegeben. Dabei solltees bleiben. Unsere überfraktionelle Initiative, für die ar-men Schlucker zu streiten, hat zweifellos dazu beigetra-gen. Für die Unterstützung dabei möchte ich mich beson-ders bei meinem Kollegen Christian Müller sowie bei derAPER bedanken, die mit Umsicht die Interessen der Re-gion wahrnehmen.Doch auch die APER ist der Auffassung, dass die Pra-xis der Regionalförderung eine Reform braucht. Eine Be-triebsgründung in Neubrandenburg wird mit 50 ProzentEU- und GA-Fördermitteln bezuschusst, in Berlin mit fast30 Prozent, in meiner Heimatstadt Flensburg mit 15 Pro-zent, weil Schleswig-Holstein keine Ergänzungsmittelaufbringen kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich
komme zum Schluss. Alle Städte gehören zu Förderge-
bieten. Wie wird wohl ein Betriebsgründer bei diesen un-
terschiedlichen Bedingungen entscheiden?
Wir brauchen eine Veränderung dieser Bedingungen.
Wir brauchen ein Ende der Wettbewerbsverzerrung bei
der Regionalförderung. Wir brauchen mehr Gerechtig-
keit.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlageauf Drucksache 14/3250 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschlie-ßungsantrag auf Drucksache 14/4623 soll an dieselbenAusschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b und ,wie heute Morgen beschlossen, die Tagesordnungspunkte16 a und 16 b auf:5 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. GuidoWesterwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. MaxStadler, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Regelung der Zuwanderung– Drucksache 14/3679 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. GuidoWesterwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. MaxStadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder F.D.P.„Berliner Rede“ des Bundespräsidenten umset-zen – Zuwanderung nach Deutschland verbind-lich regeln– Drucksache 14/3697 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien16 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Beauftragten der BundesregierungfürAusländerfragen über die Lage derAuslän-der in der Bundesrepublik Deutschland– Drucksache 14/2674 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der PDSKurdische Namensgebung in der Bundesrepu-blik Deutschland ermöglichen– Drucksache 14/3749 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussRechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P.-Fraktion zehn Minuten erhalten soll. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Guido Westerwelle von der F.D.P.-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Wolfgang Börnsen
12798
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will
zunächst eine Bemerkung zu der Tatsache machen, dass
wir eine verbundene Debatte führen. Unabhängig von
Geschäftsordnungsüberlegungen möchte ich mein per-
sönliches Empfinden zum Ausdruck bringen, dass ich es
sehr bedauere, dass der Bericht der Ausländerbeauftrag-
ten, den ich für ein sehr bemerkenswertes Dokument
halte, sozusagen an diese Debatte angehängt beraten wer-
den muss. Dieser Bericht hätte eine eigene Debatte in die-
sem Hause verdient,
weil eine Reihe von hervorragenden Anregungen in ihm
enthalten sind. Vieles, was dort enthalten ist, entspricht
nicht meiner Meinung und auch nicht der Meinung mei-
ner Fraktion; aber darum geht es an dieser Stelle nicht.
Der Bericht wäre eine exzellente Diskussionsgrundlage
gewesen. Ich bedauere es nachdrücklich und halte dieses
Vorgehen für einen großen Fehler.
Wir reden in Deutschland auf der einen Seite immer
davon, dass die Migrationspolitik eine zentrale Aufgabe
für unsere Gesellschaft darstelle. Wenn aber der Bundes-
tag durch eine entsprechende Debatte zum Ausdruck brin-
gen kann, dass es sich um eine solch zentrale Angelegen-
heit unserer Gesellschaft für die Zukunftsfähigkeit
handelt, dann müssen wir auf der anderen Seite erleben,
dass die verschiedenen Punkte in einen Topf geworfen
werden, sodass eine Differenzierung kaum noch möglich
ist.
Wir Freien Demokraten legen heute zum zweiten
Mal einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Er wurde
erstmalig 1997 vom Bundesrat auf Initiative von Rhein-
land-Pfalz eingebracht. Dieser Gesetzentwurf trägt die
Handschrift des verstorbenen Justizministers von
Rheinland-Pfalz, Peter Caesar, der gewissermaßen noch
im Nachhinein ein großes Kompliment für seine Arbeit
bekommt. Denn dieser Gesetzentwurf ist auch heute noch
modern und zeitgemäß. Lange bevor in diesem Haus da-
rüber diskutiert wurde, ob wir eine Zuwanderungsre-
gelung brauchen, hat er das Problem erkannt und Lösun-
gen vorgelegt. Lange Zeit gab es in diesem Hause keine
Bereitschaft – von der Bereitschaft Einzelner abgesehen –,
die Zuwanderungspolitik endlich als eine Chance und als
eine Notwendigkeit für die Politik zu begreifen. Es ist
wirklich bemerkenswert, dass Peter Caesar als Mitglied
der sozialliberalen Regierung von Rheinland-Pfalz schon
lange vor der Zeit einen solchen Gesetzentwurf vorgelegt
hat.
Heute diskutieren wir über diesen Gesetzentwurf, der
natürlich – das ist gut so – überarbeitet und aktualisiert
worden ist, um die Erkenntnisse aus den Debatten der
letzten Jahre aufzugreifen. Eine moderne Migrationspoli-
tik muss nach Auffassung der Freien Demokraten auf
zwei Säulen stehen: Wir müssen erstens diejenigen, die in
Deutschland leben, auf vernünftige Weise integrieren,
und wir müssen zweitens denjenigen, die nach Deutsch-
land kommen, ein geregeltes Zuwanderungsverfahren er-
möglichen.
Jeder andere Ansatz wäre nicht zeitgemäß.
Wir haben in dieser Legislaturperiode – über die Par-
teigrenzen hinweg – schon ein modernes Staatsan-
gehörigkeitsrecht beschlossen, das ein Optionsmodell
beinhaltet. Dieses Optionsmodell kommt übrigens den
Regelungen sehr nahe, die die Landesregierung von
Rheinland-Pfalz und die wir als Freie Demokraten sei-
nerzeit eingebracht hatten. Dieser Teil der in dieser Le-
gislaturperiode anstehenden Aufgabe ist erledigt. Die Er-
ledigung des anderen Teils liegt noch vor uns.
Es ist aus unserer Sicht ein Fehler, wenn Kommissio-
nen – egal, ob es sich um eine Regierungskommission
oder um, wie bei der Union, eine parteigebundene Kom-
mission handelt –, die sich mit einer modernen Zuwande-
rungspolitik beschäftigen, lediglich als Instrument der
Vertagung dienen.
Wir möchten mit unserem Gesetzentwurf parlamentari-
schen Druck aufbauen, damit noch in dieser Legislatur-
periode ein modernes Zuwanderungsrecht im Interesse
aller in Deutschland Lebenden beschlossen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Westerwelle, gestatten Sie Zwischenfragen der Kollegen
Cem Özdemir und Dieter Wiefelspütz?
Ja, selbstverständ-
lich.
Ich
danke Ihnen, dass Sie uns die Möglichkeit geben, Zwi-
schenfragen zu stellen.
Herr Kollege Westerwelle, angesichts der Tatsache
– Sie haben vorhin das Staatsangehörigkeitsrecht ange-
sprochen und die Rolle von Rheinland-Pfalz bei dem Ver-
such, einen Kompromiss zu finden, erwähnt –, dass Ihre
Fraktion einen Antrag vorgelegt hat, der eine Gebühren-
senkung und eine Verlängerung der Frist beinhaltet, bis zu
der die Kinder nachträglich in den Genuss des Geburts-
rechts kommen, möchte ich Sie fragen: Sind Sie mit mir
darin einig, dass die Tatsache, dass gerade die erste
Generation von dem Angebot des neuen Staatsangehörig-
keitsrechts weniger Gebrauch macht, als es vor der Ände-
rung des Staatsangehörigkeitsrechts der Fall war, ein Be-
leg dafür ist, dass gerade die Teile, die Rheinland-Pfalz in
das Gesetz eingebracht hat, dazu beigetragen haben, dass
die Akzeptanz des Gesetzes bei denen, für die wir das Ge-
setz gemacht haben, nämlich den Nichtdeutschen, leider
nicht so ist, wie wir uns das wünschen sollten?
Nein, dieser Mei-nung bin ich nicht. Ich glaube auch, dass Sie da die Ini-tiative der Freien Demokraten gründlich missverstehenwollen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000 12799
Zunächst zur Frage hinsichtlich der ersten Generation.Ich bin unverändert der Auffassung – das ist die Meinungmeiner Fraktion und es ist das, was der Deutsche Bun-destag auf unsere Initiative hin beschlossen hat –, dass je-mand, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, beurteilenkann, ob er die deutsche Staatsangehörigkeit braucht.Wenn das so ist, braucht er keine zweite.Das Zweite, was dazu gesagt werden muss, betrifft dieKinder, die bereits geboren sind. Wir haben in unseremGesetz, das wir über die Parteigrenzen hinweg verab-schiedet haben, beschlossen, dass sich die Kinder, die inDeutschland geboren werden und mit dem deutschen Passgroß werden, dann, wenn sie volljährig sind, entscheidenmüssen, ob sie den Pass ihrer Eltern oder den deutschenPass haben möchten. Denn wir sind der Meinung, Inte-grationspolitik setzt ein Integrationsangebot, aber aucheine bewusste Integrationsentscheidung der Betroffenenvoraus.Jetzt ging es um die Übergangsregelung für Kinder, diebereits in Deutschland geboren wurden und für die wir imGesetz eine so genannte analoge Regelung beschlossenhaben. Die Praxis zeigt, dass zum Beispiel die Gebührenin diesem Zusammenhang ein Hindernis für etwas sind,was wir politisch erreichen möchten, nämlich dass mög-lichst viele Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit be-kommen, damit sie sich hier integrieren. Wenn man nunaufgrund der Erfahrungen mit dem Verwaltungsverfahrennach einem Jahr zu neuen Erkenntnissen gelangt ist, dannwäre es doch borniert, wenn der Deutsche Bundestagdiese nicht zur Kenntnis nehmen und seine gesetzgebe-rischen Konsequenzen nicht dementsprechend ziehenwürde.
Deswegen haben wir unseren Antrag vorgelegt.Wenn Sie das genauso sehen, ist es mir gleichgültig, obSie in der Debatte sagen: Das habe ich, Özdemir, schonvor 80 Jahren gesagt. – Meinetwegen, Hauptsache, Siestimmen zu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Wiefelspütz, Ihre Frage bitte.
Frau Präsidentin,
ich möchte ausdrücklich erklären: Ich wollte den Kolle-
gen Özdemir nicht kränken, indem ich den Eindruck er-
wecke, er sähe aus wie 80.
Bitte, Herr Wiefelspütz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
HerrKollegeWesterwelle,
Sie haben gerade die so genannte Zuwanderungskommis-
sion als Verschiebebahnhof kritisiert, wenn ich das richtig
verstanden habe. Sind Sie denn ernsthaft der Auffassung,
Kollege Westerwelle, dass unsere frühere Kollegin Frau
Schmalz-Jacobsen, Ausländerbeauftragte der damaligen
Bundesregierung – von uns allen sehr geschätzt –, dieser
Kommission ihre Arbeitskraft, ihr Engagement, ihre Be-
gabung, ihre schöpferische Leistung
in der Erkenntnis zur Verfügung stellt, dass dies ein Ver-
schiebebahnhof ist? Das kann ich nicht glauben. Widerle-
gen Sie mir das bitte!
Zunächst einmal,Herr Kollege, möchte ich ausdrücklich die positivenAttribute, die Sie mit meiner Parteifreundin CorneliaSchmalz-Jacobsen verbunden haben, unterstreichen.
Mir wäre es lieb gewesen, Sie hätten das schon in der al-ten Legislaturperiode öffentlich so gesagt.
Nun jenseits der Frotzelei mit großem Ernst: Nein, ichbin nicht der Auffassung, dass diese Kommission ein Feh-ler ist, überhaupt nicht.
Im Gegenteil, wenn Sie, Herr Kollege, nachlesen, was ichhier im Bundestag schon mehrfach gesagt habe, werdenSie feststellen, dass ich immer der Meinung war, dass dieEinsetzung der Kommission sinnvoll ist. Meine Parteiwill aber verhindern – deswegen machen wir parla-mentarischen Druck –, dass diese Kommission lange alsVerschiebebahnhof gebraucht wird, weil man Angst vorder eigenen Courage hat. Wir wollen, dass in dieser Le-gislaturperiode nicht nur getagt, sondern ein Gesetz ver-abschiedet wird.
– Das war die Arroganz der Macht, Herr KollegeWiefelspütz. Die sollten Sie sich nach zwei Jahren nochnicht angewöhnen.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen,auch der Herr Bundespräsident hat sich mit sehr klarenWorten für eine gesetzliche Einwanderungsregelung aus-gesprochen. Er hat am 12. Mai dieses Jahres eine bemer-kenswerte Berliner Rede gehalten. Dort finden wir auchAussagen zur Notwendigkeit einer entsprechenden Ein-wanderungssteuerung. Wenn ein Verfassungsorgan, indem Falle unser Bundespräsident, diese in kurzen, präg-nanten Worten als Notwendigkeit beschreibt, dann stehtes dem Deutschen Bundestag gut an, wenn er eine solcheInitiative des Bundespräsidenten begrüßt und damit zum
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Dr. Guido Westerwelle12800
Ausdruck bringt, dass er in diesem Fall für uns alle ge-sprochen hat.
Deswegen rechne ich mit Ihrer Zustimmung, was den vor-liegenden Antrag angeht. Ich glaube, das ist wirklich dasMindeste, was man erwarten kann.Ich möchte mich noch einmal an Sie von den Grünenwenden – denn ich habe mir natürlich angeschaut, was Siein Ihrem Parteirat beschlossen haben, und in dem Papiernachgelesen, das Sie in diesem Zusammenhang gemein-sam vorgelegt haben –: Sie müssen erkennen, dass dieZeit, in der Sie in der Opposition waren, vorbei ist. Heuteerwartet man von Ihnen nicht Denkschriften, sondern Ge-setzentwürfe.
Wenn Sie in der Regierung sind, können Sie nicht nur be-schreiben und formulieren, was Sie gerne hätten. Viel-mehr müssen Sie bereit sein, so mutig zu sein, den parla-mentarischen Weg einzuschlagen. Sie haben bis heutedazu keinen Gesetzentwurf eingebracht. Es ist traurig,dass bis heute im Deutschen Bundestag nur ein Gesetz-entwurf der F.D.P. bezüglich einer kontrollierten Zu-wanderungssteuerung vorliegt.
Sie müssten meiner Einschätzung nach mehr machen, alsSie bisher getan haben.
Aufsätze zu schreiben ist eine schöne Tätigkeit, Herr Kol-lege Özdemir. Das tue auch ich gelegentlich gerne. Aberwir erwarten hier auch von Ihrer Fraktion Schwarzbrot.
Meine Damen und Herren, Kernpunkt einer Zuwan-derungssteuerungspolitik muss sein, dass wir in Deutsch-land bereit sind zu quotieren. Wir müssen bereit sein,Zuwanderungshöchstgrenzen festzusetzen. Der großeUnterschied zwischen Ihrer Politik und unserer Politik be-steht derzeit darin, dass Sie eigentlich eine Politik einernach oben offenen Zuwanderung machen wollen,
während wir sagen: Zuwanderung braucht Höchstgrenzenbzw. Höchstquoten und muss sich endlich auch an wohl-verstandenen nationalen Interessen in unserem Landeausrichten.
Jedes Land in Europa und im Grunde genommen auch je-des andere Einwanderungsland geht einerseits den Wegder Integration und andererseits vor allen Dingen auchden Weg der gezielten Zuwanderungssteuerung.Wir inDeutschland müssen selbstverständlich entscheiden, wenwir zum Beispiel unter beruflichen Gründen, unter Bil-dungsgesichtspunkten und Altersstrukturgesichtspunktennach Deutschland einladen, wen wir hier haben möchten,weil er, weil sie unser Land voranbringt. Das hat nichtsmit irgendwelchen humanitären Überlegungen zu tun undnichts damit, dass Ansprüche aus Art. 16 des Grundgeset-zes in irgendeiner Weise beschränkt werden sollen.An die CDU/CSU gerichtet, möchte ich feststellen: Ichhalte es für einen großen Fehler der Konservativen, dasssie die gesamte Diskussion über eine bessere Zuwande-rungssteuerung, die heutzutage endlich geführt werdenmuss, mit einer ziemlich platten Asyldiskussion verbin-den.
Das Problem in Deutschland und das Problem unsererRechtslage ist nicht das Asylrecht. Wer, weil er verfolgtund an Leib und Leben bedroht wird, in DeutschlandSchutz sucht, der muss in jedem Fall auch in ZukunftSchutz finden.
Die Frage ist vielmehr: Haben wir nicht ein Vollzugs-defizit? Müssen die Länder nicht eine verbesserte Voll-streckung, was Abschiebungen angeht, durchführen? Ichkann nicht akzeptieren, dass wir in Deutschland Asylbe-werber haben, die rechtskräftig abgelehnt und sogar we-gen Straftaten verurteilt wurden und dann anschließendnicht in das Land zurückgeführt werden, aus dem sie ka-men. Das gefährdet in Wahrheit die Akzeptanz des Asyl-rechts in Deutschland sehr viel mehr. Darüber muss mei-ner Einschätzung nach eine Diskussion geführt werden.
Pauschale Begriffe wie zum Beispiel „Leitkultur“ –das Wort „Überlegenheitskultur“ würde sehr viel besserpassen –
führen uns kein bisschen weiter. Sie müssen sich der sach-lichen Auseinandersetzung stellen.
Wer nach Deutschland kommen will, der muss bereit sein,sich zu integrieren, der muss natürlich unsere Sprache ler-nen,
sich auf den Boden unserer Verfassung begeben und un-ser Werteverständnis haben. Es ist ein Fehler, wenn Siediese ganze Diskussion beenden wollen, indem Sie ein
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Dr. Guido Westerwelle12801
Schlagwort in die Welt setzen und mit einem Anspruchder Überlegenheit jede differenzierte Diskussion erschla-gen.
Das wollen wir als Freie Demokraten jedenfalls nicht.Auch dies zeigt den Unterschied zwischen einer konser-vativen und einer modernen liberalen Partei.
Meine Damen und Herren, wir möchten – das ist eineDiskussion, die wir in diesem Haus führen möchten undmüssen –, dass die Zuwanderungspolitik in Deutschlandauf ein gesetzliches Fundament gestellt wird.
Es ist für uns selbstverständlich, dass es humanitäre An-sprüche gibt. Es ist für uns selbstverständlich, dass Men-schen, die verfolgt werden, Schutz brauchen. Aber ebensoselbstverständlich muss sein, dass Deutschland berechtigtist, nach eigenem wohlverstandenen nationalen Interesseselbst zu entscheiden, wer zu uns kommt und hier lebensoll. Integration gehört selbstverständlich dazu.Diesen Weg werden Sie irgendwann – früher oder spä-ter – mitgehen. Sie werden behaupten, Sie hätten ihn er-funden. Sie werden diesen Weg mitgehen, da bin ich mirganz sicher.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesinnenminis-
terium, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr KollegeWesterwelle, ich glaube, niemand hier im Haus brauchtein Patent darauf anzumelden, dass er der Erfinder einesEinwanderungsgesetzes sei; denn bis auf CDU/CSU ha-ben in den vergangenen Jahren alle Parteien, die hiervertreten sind, ihre Konzepte entwickelt. Den Werdegangin meiner Partei kenne ich nun wirklich genau.
Uns sollte nicht das Windhundprinzip leiten, sonderndie Einsicht, dass ein gutes Gesetz – ich betone: ein gutesGesetz –
zur Steuerung der Zuwanderung sorgfältige Vorarbeitvoraussetzt: umfangreiche Datensammlungen und Pro-gnosen, den Blick über den Tellerrand unserer nationalenGrenzen hinaus, klare begriffliche Zuordnungen undnicht zuletzt – das ist sehr wichtig – das Werben um dieAkzeptanz bei den Bürgern.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., le-gen offenbar mehr Wert auf Profilierung als auf Konsens.
Das finde ich schade, denn einige Elemente Ihres Gesetz-entwurfs sind erwägenswert und greifen Vorschläge auf,die wir schon vor etlichen Jahren gemacht haben.
So bringt die F.D.P., Herr Zeitlmann, noch einmal dieÜberlegung ein, die Entscheidung über die Aufnahme vonZuwanderern in Deutschland nicht nur wirtschafts-, ar-beitsmarkt- und entwicklungspolitisch, sondern auch un-ter Berücksichtigung humanitärer Gesichtspunkte zu tref-fen. – Herr Westerwelle, Sie haben offenbar übersehen,dass es in Ihrem eigenen Entwurf auch um humanitäreAspekte ging. – Ich finde es ebenso richtig, dass man dieVorbedingungen beim Namen nennt, die ein Interessenterfüllen muss, damit sein Zuwanderungsantrag ange-nommen werden kann. Andere Teile dieses Gesetzent-wurfs aber sind wenig durchdacht, sie sind bürokratischund setzen vor allem zu einseitig auf die Pflichten des Zu-wanderers, anstatt ihm auch Angebote zu Hilfen undEntgegenkommen bei der Eingliederung zu machen.Die neuen Chancen, die die Bundesregierung auslän-dischen Computerspezialisten einräumt, als „kurzfristigebereichsspezifische Spezialregelung“ abzutun, führt indie Irre.
Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, welche Bresche dieGreen-Card-Initiative der Bundesregierung in eine abso-lut festgefahrene und von Vorurteilen und Denkblockadenüberwucherte öffentliche Diskussion über Migrationsfra-gen geschlagen hat!
Die Wirkung war so stark, dass sich die CDU in ihremneuen Thesenpapier von dem Dogma, dem zufolgeDeutschland kein Einwanderungsland sei, gelöst hatund zur – freilich sehr späten – Einsicht gekommen ist.Das möchte ich Ihnen, den Kollegen von der Union, aus-drücklich bescheinigen. Sie haben sich bewegt, wennauch zehn bis 15 Jahre zu spät. Sie haben das zweifellosin dem Bemühen getan, die tiefe Kluft zwischen sich undder Wirtschaft ein bisschen zu überbrücken.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Dr. Guido Westerwelle12802
So weit, so gut. Es wäre alles ganz ordentlich gelaufen,hätten sich nicht Herr Merz und Frau Merkel selber mitder unseligen und unsäglichen Leitkultur-Debatte wie-der in den Sumpf hineingezogen. Welch eine vertaneChance! Es geht doch nicht an, dass Sie vormittags vonWeltoffenheit und Toleranz sprechen und Solidarität mitden Minderheiten in unserer Gesellschaft bekunden undabends mit deren Ausgrenzung auf Stimmenfang gehen.Eine solche Politik darf es nicht geben.
Es geht auch nicht an, unsere christlich-abendländischeTradition zum Fundament unseres Zusammenlebens zuerklären, dabei aber völlig zu ignorieren, dass wir es mitt-lerweile auch mit Menschen anderer Religionsgemein-schaften zu tun haben, die friedlich und auf Dauer bei unsleben wollen.Professor Oberndörfer, Politologe und Vorsitzenderdes Rates für Migration, schreibt:Zur Kultur der Bundesrepublik Deutschland gehörenschon jetzt die religiösen Vorstellungen seiner jüdi-schen, muslimischen oder buddhistischen Staatsbür-ger. Einzelnen Minderheiten oder auch Mehrheitenwird die Freiheit des Bekenntnisses und der Wer-bung für ihre jeweiligen kulturellen Werte einge-räumt. Deren Verbindlichkeit für die Gesamtheitaber darf im modernen Verfassungsstaat nicht vomStaat und seinen Organen eingefordert und erzwun-gen werden.Ich glaube, Sie haben nicht erkannt, was dahinter steckt.
Da sich die CSU abermals vom Begriff des Einwande-rungslandes Deutschland abgrenzt – wenn auch mit derrelativierenden Einschränkung „klassisch“ –, und zu-gleich mit ihrer Absicht, das Asylrecht zu beschneiden,nicht hinterm Berg hält, während die CDU in dieser Frageoffen bleibt, haben wir es – leider – mit einer tief gespal-tenen Union zu tun.
Das kann uns freilich nicht davon abhalten, in der Frageder Zuwanderung nach einem breiten Konsens zu suchen;dies halte ich für sinnvoll.Die Bundesregierung hat großes Vertrauen in die Ar-beit der kritisch gewürdigten Zuwanderungskommis-sion unter Leitung von Frau Süssmuth. Auch die Bürge-rinnen und Bürger begleiten diese Arbeit mit Sympathie.Ich kann nur an alle im Bundestag vertretenen Parteienausdrücklich appellieren, die Empfehlungen, die dieseKommission im nächsten Sommer vorlegen wird, zu be-herzigen.Wir kommen in der Debatte nur weiter, wenn wir Vor-teile und Probleme der Migration offensiv und sachlichbeim Namen nennen. Der Beitrag des Zuwanderers fürunser gedeihliches Zusammenleben bezieht sich nicht nurauf Arbeits- und Kaufkraft, auf Steuerzahlungen und So-zialversicherungsabgaben, sondern zum Beispiel auch aufdie Leistungen als Unternehmer und die integrationsför-dernde Wirkung, die von ausländischen Familien ausgeht.Zum Bericht der Ausländerbeauftragten der Bundesregie-rung sage ich ausdrücklich, dass wir ihn im Unterschiedzur früheren Bundesregierung nicht cool-distanzierendabtun, sondern als einen wertvollen Beitrag zur migrati-onspolitischen Debatte gewürdigt wissen wollen.Ebenso wahr ist auch, dass nicht jeder Neuankömm-ling mit edlen Absichten hierher kommt, dass es Abschot-tungstendenzen und den Trend zu Parallelgesellschaftengibt. Nicht ohne Grund stellt die Bundesregierung imneuen Staatsangehörigkeitsrecht Anforderungen anSprachkenntnisse und an Verfassungstreue.
Ich glaube auch, dass wir künftig die auf Dauer angelegteZuwanderung mit klaren und verbindlichen Regelungenfür die Integration verknüpfen sollten. Dass sich Zuwan-derer sprachlich schulen, beruflich orientieren und auf un-ser Grundgesetz einlassen sollen, halte ich für selbstver-ständlich.
Allerdings muss ihnen der aufnehmende Staat auch denWeg dafür ebnen: mit erschwinglichen Sprachkursen so-wie Rat und Betreuung. Vielleicht können wir uns vomniederländischen Modell der Eingliederungsvereinbarunganregen lassen, ohne es völlig zu kopieren.Eines sollten wir in diesem Zusammenhang hier imParlament gemeinsam festhalten: Das verbale Sortierenvon Zuwanderern in solche, die uns nützen, und solche,die uns ausnützen, ist menschenverachtend und gehörtnicht in diese Auseinandersetzung.
Der Bundespräsident hat andere, wie ich finde, sehr vieltreffendere Ausdrücke gewählt. Er sprach von Menschen,die uns brauchen, und Menschen, die wir brauchen. Bei-des markiert die möglichen Wege nach Deutschland. Dererste war zweifellos bisher der vorherrschende: Asylsu-chende, Bürgerkriegsflüchtlinge, nachziehende Familien-mitglieder, Aussiedler und Kontingentflüchtlinge sind ge-kommen. Das wird und muss auch in Zukunft möglichsein.
Ob und wie wir nun den zweiten Weg öffnen – durchausauch aus eigenen Interessen, die demographisch, beschäf-tigungspolitisch und humanitär begründet sind –, wird innaher Zukunft zu entscheiden sein – wenn möglich, imKonsens der Demokraten.Konfuzius ist einmal gefragt worden, was er als Erstestäte, wenn er die Regierungsgewalt übernehmen könnte.Er hat geantwortet: Ich würde zuerst die Begriffe richtig
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stellen. Jetzt hören Sie bitte gut zu; denn es ist klar, was ermeinte, Herr Kollege Marschewski. Er meinte, manmüsse richtige und einfache Namen benutzen, um imKopf und im Herzen Ordnung zu schaffen.
Nur so kann man die Köpfe und Herzen anderer Men-schen erreichen und vermeiden, dass mit SchlagwortenMissbrauch betrieben wird.Ich glaube, Sie wissen, worauf ich in meiner Schluss-anmerkung hinaus möchte, nämlich auf den Appell, liebeKolleginnen und Kollegen, das Wort „Leitkultur“ ausdem Verkehr zu ziehen,
und zwar ganz und gar, egal, ob man nun zwischen„deutsch“ oder „in Deutschland“ unterscheidet. Nach al-lem, was bei uns geschehen ist, einschließlich der barba-rischen Zerstörung kultureller Vielfalt in der NS-Diktatur,sollten wir nicht mehr „leiten“ wollen. Mit einer Kulturder Bescheidenheit kommen wir sehr viel besser zurecht.Herr Kollege Westerwelle, eines möchte ich Ihnen zumSchluss noch ganz kurz sagen: Richten Sie Ihr flammen-des Plädoyer für eine günstigere Gebühr für die Ein-bürgerung ausländischer Kinder unter zehn Jahren– darin stimmen wir alle, auch wir im Bundesinnenminis-terium, überein – doch bitte auch an die Länder und ge-winnen Sie sie dafür, indem sie mit Verantwortung tragen!Dann kämen wir vor allen Dingen in der Verwaltungspra-xis, die dies unter bestimmten Voraussetzungen ermög-licht, sehr viel weiter und könnten in den verbleibendensechs Wochen, die diese gesetzliche Regelung noch vor-sieht, vielen Kindern die Einbürgerung zu erträglichenBedingungen ermöglichen.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! In leicht modifizierterForm liegt uns heute der recycelte Gesetzentwurf derF.D.P. aus den Jahren 1997 und 1998 vor – damals nochmit dem viel versprechenden Titel „Zuwanderungsbe-grenzungsgesetz“, jetzt mit der neuen Überschrift „Gesetzzur Regelung der Zuwanderung“. Das bietet Anlass, auchim Deutschen Bundestag einmal über die Themen zu spre-chen, über die in den vergangenen Wochen öffentlich hef-tig diskutiert wurde.Asylrecht, Zuwanderungspolitik, Integration undStaatsangehörigkeit sind wichtige Themen – und das zuRecht; denn es sind Megathemen mit Bedeutung für dieZukunft unseres Landes. Es geht um die Chancen undPerspektiven, die sich aus einer vernünftigen, die Interes-sen unseres Landes hinreichend berücksichtigenden Zu-wanderungspolitik ergeben, und um die Vermeidung derRisiken, die zwangsläufig mit einer ungesteuerten undnach derzeitiger Rechtslage nur sehr begrenzt steuerbarenZuwanderung verbunden sind.Es geht auch darum, wie wir die vielfältigen Integra-tionsprobleme lösen und dadurch die Lebensperspektivender rechtmäßig und dauerhaft hier lebenden Ausländerspürbar verbessern können. Es geht dabei um ein friedli-ches und soweit wie möglich konfliktfreies Miteinanderaller Menschen in unserem Lande, gleichgültig, welcherHautfarbe, Nationalität oder Religion sie sind.Merkwürdigerweise halten wir uns immer noch viel zulange mit der Erörterung der angeblich so wichtigen Frageauf, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland seioder nicht. Gegenfrage: Welche neue Erkenntnis gewinntman eigentlich dadurch, dass man diese Frage – je nachEinschätzung und Interesse – mit Ja oder Nein beantwor-tet?
Wer die Ansicht vertritt, jedes Land, in das Menschen ein-wandern, sei ein Einwanderungsland, wird selbstver-ständlich zu der Auffassung gelangen, Deutschland sei einEinwanderungsland. Wer meint, dass man zutreffender-weise nur solche Länder als Einwanderungsländer be-zeichnen könne, die sich gezielt um Einwanderungbemühen, der wird die Bundesrepublik selbstverständlichnicht als Einwanderungsland bezeichnen, da wir seit demJahre 1973 aus guten Gründen nicht mehr um Zuwande-rung werben. Nicht zuletzt durch die Erörterung dieserFrage drehen wir uns jetzt seit vielen Jahren rhetorisch-kraftvoll im Kreis und kommen keinen Meter von derStelle.Vor wenigen Wochen begann eine erregte öffentlicheDebatte über die Frage, ob man denn auch in Wahl-kampfzeiten über Zuwanderungspolitik sprechen darf.Rot-Grün fürchtet diese Debatte offensichtlich deshalb,weil viele inhaltliche Positionen in der Bevölkerung nichtmehrheitsfähig sind.
Die Themen eines Wahlkampfes bestimmt der Wählernach den politischen Herausforderungen der Zeit undnach seinen Problemen und Anliegen. Wer in die Wahlka-bine tritt, der muss wissen, für welche Politik, aber auchgegen welche Politik er sich mit seiner Stimmabgabe ent-scheidet.Natürlich sind ausländer- und asylpolitische Themengleichermaßen wichtig wie sensibel. Diese Feststellungkann aber im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass sensi-ble Themen im Wahlkampf nicht erörtert werden dürfen.
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Ich ahne schon, was kommt: Die Rente ist so wichtig unddie Gesundheitspolitik ist so kompliziert; deswegen darfdie Union darüber nicht sprechen. Es kann doch nicht da-rauf ankommen, ob man über derartige Themen spricht,sondern darauf wie: mit welchen Worten, mit welchen Ar-gumenten und welche politischen Ziele man vertritt.
Wenn sich demokratische Parteien verabreden würden,ausländerpolitische Themen in Wahlkämpfen zu tabuisie-ren, dann begingen wir einen verhängnisvollen Fehler.Wir würden dann ungewollt jene extremen politischenKräfte stärken, die wir alle gemeinsam bekämpfen wol-len.
In punkto Sensibilität muss sich die Abteilung Rot-Grün jedenfalls um CDU und CSU keine Sorgen machen.Falls gewünscht, bin ich gerne bereit, zu zitieren, wie sichder Wahlkämpfer Gerhard Schröder im letzten Bundes-tagswahlkampf dem Thema „Ausländer und Krimina-lität“ mit der ihm eigenen Sensibilität genähert hat.
Was wäre eigentlich passiert, wenn sich ein Politiker derUnion so wie der Wahlkämpfer Gerhard Schröder überdas Thema Ausländerkriminalität geäußert hätte? EinSturm der Entrüstung wäre durch unser Land gegangen.Warum hat es eigentlich zum Thema „deutsche Leit-kultur“ nicht schon im Juli 1998 einen Sturm der Entrüs-tung gegeben? Theo Sommer schrieb in der „Zeit“ vom16. Juli 1998:Die überwölbende Gemeinschaft erträgt durchauslebendige Untergemeinschaften – aber die Vielfalthat sich in der Einheit zu bewähren. Ein Deutschland,das aus lauter Gettos besteht, ein paar für Türken, einpaar für Griechen, ein Dutzend für die Deutschen,kann nicht das Ziel sein. Töricht ist auch der Einfall,den Türken etwa formellen Minderheitenschutz zugewähren wie den Dänen, den Sorben oder Friesen.Er liefe auf eine künstliche Absonderung hinaus, woIntegration angestrebt werden sollte – und Integra-tion bedeutet zwangsläufig ein gutes Stück Assimila-tion an die deutsche Leitkultur und deren Kernwerte.
Warum hat sich keiner aufgeregt, als Professor Schmidvon der Universität Bamberg das Gleiche mit anderenWorten in der Sachverständigenanhörung des DeutschenBundestages zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechtesgesagt hat? Kein Einziger hat sich darüber aufgeregt. Eswäre nicht nur ungerecht, es wäre geradezu töricht, TheoSommer und Professor Schmid wegen dieser Meinungs-äußerungen zu unterstellen, sie seien latent ausländer-feindlich oder Stichwortgeber für den Rechtsextremis-mus. Das wäre einfach absurd.Wir von der Union sagen unmissverständlich: Integra-tion ist weder einseitige Assimilation noch unverbunde-nes Nebeneinander auf Dauer. Multikulti und Parallelge-sellschaften sind kein Zukunftsmodell. Unser Ziel musseine Kultur der Toleranz und des Miteinander auf dem Bo-den unserer Verfassungswerte und im Bewusstsein der ei-genen Identität sein. In diesem Sinne ist es zu verstehen,wenn die Beachtung dieser Werte als Leitkultur inDeutschland bezeichnet wird.
Die verehrte politische Konkurrenz hat sich an der De-batte zum Thema Leitkultur in den letzten Wochen unteranderem mit den Begriffen „Pickelhaube“, „Entenhau-sen“ und „Erbsensuppe“ beteiligt. Es wäre nett, wenn Sieheute einmal in ganzen Sätzen mitteilen könnten, was Sieeigentlich daran stört, dass wir von der Union von denje-nigen, die zu uns kommen und hier auf Dauer leben wol-len, zwar nicht die Aufgabe der eigenen kulturellen oderreligiösen Prägung, aber doch die Bejahung und Einord-nung in den bei uns für das Zusammenleben geltendenund wichtigen Werte- und Ordnungsrahmen verlangen.
Wenn wir jetzt die notwendige Gesamtbetrachtung derThematik vornehmen, kann zwangsläufig kein Teilas-pekt – auch nicht das Asylrecht – außen vor bleiben. DieProbleme der Asylpraxis sind allen bestens bekannt, aberdie Bereitschaft der Parteien, die Probleme zu lösen, istunterschiedlich ausgeprägt. Unser Problem sind nicht dietatsächlich politisch Verfolgten; unser Problem sind die-jenigen, die sich zu Unrecht auf politische Verfolgung be-rufen und dennoch über Jahre hinweg – nicht wenige so-gar auf Dauer – in der Bundesrepublik Deutschlandbleiben. Deswegen ist es schlichtweg falsch zu sagen, dasAsylrecht habe nichts mit Zuwanderung zu tun. DieseAussage ist jedenfalls angesichts der gegenwärtigen Asyl-praxis falsch.Deswegen wird sich die Union intensiv mit der Fragebeschäftigen, wie wir diese Probleme so gut wie möglichlösen können. Ob hierfür Änderungen im Grundgesetznotwendig sind, muss in Ruhe erörtert werden.
Die Zuwanderungsdebatten der letzten Jahre waren über-wiegend von Zahlen geprägt. Zahlen sind wichtig, abernicht alles. Wir sollten auch einmal über Ziele sprechenund zugeben, dass wir auch in Zukunft auf Zuwanderungangewiesen sein werden, und zwar nicht nur aus volks-wirtschaftlichen Gründen.
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Wolfgang Bosbach12805
Die Welt ändert sich in einem dramatischen Tempo.Nicht nur Firmen und Konzerne, sondern auch Volkswirt-schaften stehen in einem scharfen internationalen Wettbe-werb. Deswegen muss sich auch die BundesrepublikDeutschland am Wettbewerb um die besten Köpfe be-teiligen. Die besten Köpfe werden wir nur dann in unserLand bekommen, wenn hier kein ausländerfeindlichesKlima existiert.
Deswegen müssen wir die Voraussetzungen dafür schaf-fen, dass Ausländerfeindlichkeit in der BundesrepublikDeutschland keine Chance hat. Eine wichtige Vorausset-zung hierfür ist eine vernünftige Ausländerpolitik,
die die Aufnahmebereitschaft und die Aufnahmefähigkeitunseres Landes berücksichtigt. Man muss offen darübersprechen dürfen, dass Zuwanderung immer auch mit Be-lastungen verbunden ist und dass mehr Integration wich-tiger ist als mehr Einwanderung.
Wir können nicht alles so lassen, wie es ist, und dannim geltenden Recht einen neuen Zuwanderungstatbestandnach dem anderen schaffen. Eine solche Politik ent-spräche weder den Interessen unseres Landes noch gäbees hierfür eine Mehrheit in der Bevölkerung. Wenn es ir-gendein politisches Gebiet gibt, auf dem ein breiter ge-sellschaftlicher Konsens wichtig wäre, dann ist es der Be-reich der Zuwanderungspolitik. Voraussetzung für einengesellschaftlichen Konsens ist eine vernünftige, die Inte-ressen unseres Landes ausreichend berücksichtigende Po-litik. Dafür steht die Union.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die KolleginMarieluise Beck.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Es gibt wohl kaum eine Debatte, die so von Mythen, auchvon falschen Vorstellungen, von Emotionen, von Ängs-ten, von Bedrohungsgefühlen geprägt ist wie die Debatteum Ausländer und um Einwanderungspolitik. Das heißt,wir haben auch seitens der Politik eine sehr verantwor-tungsvolle Aufgabe, immer sachlich zu bleiben, rationalzu argumentieren und nicht Stimmungen und Vorurteilezu schüren, wo es doch so verlockend ist, dies zu tun.
Wie viel sich an Vorstellungen und Fantasien zusam-menbraut, belegen Umfragen, denen zufolge zum Bei-spiel in Ostdeutschland zwei Drittel der Bevölkerungmeinen, es gebe zu viele Ausländer in ihrem Land, ob-wohl wir alle wissen, dass dort 2,1 Prozent der MenschenAusländer sind. Offensichtlich gehen Gefühle und Rea-litäten oftmals sehr stark auseinander.Deutschland hat aber eine Geschichte der Einwande-rung und Auswanderung. Seit 1959 sind 30 MillionenMenschen aus dem Ausland nach Deutschland gekom-men, 21 Millionen sind wieder weggezogen. 9 MillionenMenschen sind hier geblieben. Damit ist Deutschland im-mer ein Einwanderungsland gewesen. Nun kann mansagen, der Streit um diesen Begriff sei ein Streit um desKaisers Bart.
Das glaube ich deswegen nicht, weil man, wenn man keinEinwanderungsland sein will, keine Einwanderungspoli-tik und auch keine systematische Integrationspolitik be-treibt, sondern Ausländerpolitik. Das hat die Haltung undauch die Stimmung in der Bevölkerung dahin gehend ge-prägt, als hätten wir es eigentlich gar nicht mit Einwan-derung zu tun. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechtsmit der Einführung des Geburtsrechts hat genau das auf-genommen. Die jungen Menschen werden jetzt qua Ge-burt Teil dieser Gesellschaft. Sie bekommen damitRechte, müssen aber auch Pflichten für diese Gesellschaftübernehmen. Das ist der Inhalt des Geburtsrechts.
Nun wird in der Einwanderungsdebatte immer der Ein-druck erweckt, die Zuwanderung erfolge im Augenblickvollkommen unkontrolliert und ungesteuert. Das ist nichtrichtig. Wir haben durchaus viele Einwanderungs- undZuwanderungstatbestände. Nur sind sie so kompliziert, sowirr, so unsystematisch, so bürokratisch, dass sie einermodernen Einwanderungsgesellschaft nicht mehr ent-sprechen. Wir stehen an einer neuen Schwelle: Deutsch-land muss die Einwanderung nicht mehr abwehren. Wirmüssen uns vielmehr Mühe geben, zu werben und Men-schen zu bekommen, die wir auch aus eigenem Interessehier haben wollen. Die IT-Zuwanderung läuft ja schlep-pend.
Es ist also durchaus nicht so, dass uns die Menschen, diewir auch aus wirtschaftlichen Gründen bei uns haben wol-len, das Land „einrennen“. Wir müssen um sie werben.
Es wird in Zukunft schon deshalb eine höhere Zahl anEinwanderern geben, weil die Europäische Union 25 Län-der umfassen wird. Man muss sich vorstellen, was das anMobilität und Zuwanderungsbewegungen bedeutenwird. Die Freizügigkeit gilt für alle Unionsbürger. Daswird eine große Herausforderung für die deutsche Gesell-schaft werden.Die ökonomischen Veränderungen erfordern mehr Mo-bilität von den Menschen, weil die Wirtschaft zunehmend
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grenzüberschreitend agiert, weil es einen Kampf um diebesten Köpfe gibt und weil sich auch schon ein Arbeits-kräftemangel in einzelnen Segmenten der Wirtschaft ab-zeichnet.Wir müssen aber auch die Tatsache ernst nehmen, dassdie politische Debatte, die jetzt unter den Eliten geführtwird, zum Teil auf Unverständnis bei den Menschen stößt,die selber arbeitslos sind und die manchmal das Gefühlhaben: Wird eigentlich auch noch über mich gesprochenoder wird nur noch über diejenigen gesprochen, die zu-wandern sollen? Wir müssen beides zusammenbringen,nämlich durch Qualifikation denjenigen, die schon hierleben, den Anschluss an den Arbeitsmarkt zu ermöglichenund gleichzeitig diejenigen zu unterstützen, die zuwan-dern wollen. Wenn wir das nicht schaffen, wird die Ab-wehrhaltung der Bevölkerung gegenüber den Zuwande-rern zu groß.
Auch gegen die demographische Entwicklung, alsogegen die aus dem Gleichgewicht geratene Balance zwi-schen Alt und Jung, ist Zuwanderung kein Allheilmittel.Wir werden keine Demographen finden, die uns exakt sa-gen können, wie viele Menschen in dieses Land zuwan-dern müssen, damit die Balance wieder hergestellt wird.Die Zahl derjenigen, die in ein Land integriert werdenkönnen, richtet sich nach dem Gefühl der Gesellschaft– das ist eine Frage der Verständigung –: Wie vieleZuwanderer können wir sozial integrieren? Wie viele Be-gleitmaßnahmen vor Ort, in den Ländern, in den Kom-munen, in den Schulen, und wie viele Qualifikationsmaß-nahmen im Hinblick auf den Arbeitsmarkt können wirvorhalten?Wir haben mit Ihnen von der F.D.P. einen Dissens,wenn es um die Gesamtquoten geht. Die Tatsache, dasses Zuwanderung aufgrund der innerhalb der Europä-ischen Union gewährten Freizügigkeit, aufgrund rechtlichverbriefter Ansprüche – dazu gehört die Familienzusam-menführung – und auch aus humanitären Gründen gebenwird, die weder Sie noch wir von den Grünen infrage stel-len, bedeutet, dass dann, wenn eine Gesamtquote für dieZuwanderung festgelegt werden soll, die Zahl der indi-schen IT-Fachleute, die von der Wirtschaft gewünschtwerden, mit der Zahl der Schutzsuchenden, die vor derGrenze stehen, verrechnet werden muss. Das geht nicht.Das ist auch nicht flexibel. Das wäre kein modernes Ein-wanderungskonzept.
Ich gehe davon aus, dass über diesen Punkt noch einmalverhandelt wird. Integration und Einwanderung gehörenalso zusammen. Das ist sozusagen die tibetanische Ge-betsmühle aller Ausländerbeauftragten seit Heinz Kühn.Heute liegt der Vierte Bericht der Ausländerbeauftrag-ten vor, der en detail Vorschläge und Leitlinien zur Inte-grationsförderung beinhaltet. Wenn man sich die großeZahl derjenigen, die nach Deutschland zuwandern, klar-macht, muss man sagen: Obwohl es große Mängel in derIntegrationspolitik gegeben hat, ist die deutsche Zuwan-derungsgeschichte eine Erfolgsstory. Es gibt ja auch un-glaublich vieles, was unseren Städten und Gemeinden gutgelingt. Wir sollten uns nicht immer nur auf die Problemekonzentrieren.
Die Gesellschaft hat eine enorme Integrationsleistungvollbracht. Es gibt eine enorme Selbstverständlichkeit imAlltag von denjenigen, die hinzugekommen sind, unddenjenigen, die hier schon gelebt haben. Es gibt eine Füllevon Belegen für gelungene Integration. Ich weise auch aufden Sechsten Familienbericht hin, in dem das sehr ein-deutig belegt wird. Aber natürlich geht Integration nichtohne Konflikte und Probleme vonstatten. Auch daraufmuss man hinweisen. Ein Blick in den Bildungsbereich,in die Schulen und in den Ausbildungsbereich, zeigt das.Wir haben Konflikte natürlich auch in den Stadtvierteln.Deswegen: Wer Einwanderung haben möchte, mussIntegrationspolitik gestalten. Wer Integration fordert,muss sie auch fördern. Hier gibt es viele Defizite. DieAusländerbeauftragten sagen, „Frühzeitigkeit“ sei dasStichwort für jede Integrationspolitik: Frühzeitigkeitbeim Spracherwerb, also in den Kindergärten, in denSchulen, Frühzeitigkeit bei der Förderung von Seitenein-steigern und Frühzeitigkeit bei denen, die neu hierhinkommen, bei Sprach- und Orientierungskursen.
Ein Blick über die Grenzen zeigt uns, dass sich der hollän-dische Staat diese Integrationspolitik eine Menge kostenlässt.
12 000 Gulden pro Einwanderer für eine umfassende Be-ratung. Was Zugänge zum Arbeitsmarkt, was das Sich-Orientieren im jeweiligen Land und die Sprachförderunganlangt, bin ich dafür, dass wir uns für die Bewältigungdieser zentralen Aufgaben zwischen Bund und Ländernverständigen, wenn wir diese Integrationspolitik gemein-sam wollen. Die Ausländerbeauftragte steht hier an derSpitze.
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ist die Sprach-förderung von der Bundesregierung neu geordnet wor-den. Übernommen hat sie ein Wirrwarr von Sprachförde-rung, die in vier verschiedenen Ministerien für unter-schiedliche Migrantengruppen geregelt war. Durch dieZusammenführung der Sprachförderung wird der Kreisderjenigen, die berechtigt sind, am Sprachunterricht teil-zunehmen, deutlich erweitert. Wir werden etwa 110 000Menschen pro Jahr mit Sprachkursen fördern. Das giltauch für Menschen, die nicht aus EU-Ländern kommen.Dies gilt auch für GFK-Flüchtlinge. Das ist ein guterSchritt.
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Marieluise Beck
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Ich wünsche mir, dass die Öffentlichkeit diesen Schrittauch wahrnimmt und würdigt.Zum Schluss noch ein Wort zur Debatte um den Begriff„Leitkultur“. Dieser Begriff ist mit Inhalt offensichtlichschwer zu füllen.
Wir können in den Berichten der Ausländerbeauftragtenschon lange finden, dass es bei Einwanderung um eine ge-meinsame Grundlage gehen muss. Dies bezieht sich aufdie Werte des Grundgesetzes und die Sprache. Die Bot-schaft, die mit dem Begriff „Leitkultur“ vermittelt wordenist, lautet: Diejenigen, die zu uns kommen, müssen sichanpassen. Das erzeugt die Illusion in der Bevölkerung,dass Einwanderung ersparen könnte, dass sich beide Sei-ten verändern müssen. Einwanderung bedeutet eine Ver-änderung für die Gesellschaft, weil andere Kulturen da-zukommen, weil man sich immer wieder neu ver-ständigen muss und alte Gewissheiten zum Teil verlorengehen. Diese kulturelle Verständigung ist ein Prozess,meine Damen und Herren. Deutschland hat sich durchEinwanderung verändert. Es wird sich weiter durch Ein-wanderung verändern. Das ist nicht immer leicht. Wir Po-litiker sind gut beraten, dies auch offen und ehrlich aus-zusprechen.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Dirk Niebel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin
Beck, Sie haben in Ihrem durchaus nachdenkenswerten
Bericht, der meines Erachtens eine längere Debattenzeit
in diesem Hause erfordert hätte, um ihm gerecht zu wer-
den,
aber auch in Ihrem Redebeitrag unter anderem die Ak-
zeptanz der Zuwanderung und die Integration von Men-
schen nicht deutscher Nationalität in diesem Land ange-
sprochen. Ich möchte auf beides kurz eingehen.
Was erstens die Akzeptanz angeht, ist es für mich sehr
verwunderlich, dass der Antrag der Freien Demokraten im
Haushaltsausschuss, Ihren Haushalt um 1 Million DM zu
erhöhen, um die Ergebnisse der Zuwanderungskommis-
sion in der Öffentlichkeit transparent zu gestalten, damit
die Akzeptanz von Zuwanderung im Vorgriff auf eine ge-
setzliche Regelung erhöht wird, von Ihren eigenen
Parteifreunden im Haushaltsausschuss abgelehnt worden
ist. Das ist mir unbegreiflich. Ich finde, dass es der Sache,
für die Sie kämpfen, nicht zuträglich ist.
Das Zweite ist die Frage der Integration. Sie haben zu
Recht gesagt, dass Integration zwingend notwendig ist.
– Ich wäre den Kollegen der Union dankbar, wenn sie mir
die Gelegenheit gäben, die wenige Zeit auszunutzen, die
für eine Kurzintervention zur Verfügung steht.
Eine wesentliche Voraussetzung für Integration ist
natürlich auch der Zugang zum Arbeitsmarkt. Sie erinnern
sich sicherlich sehr gut an unseren Antrag zur Abschaf-
fung der Arbeitsgenehmigungspflicht, der dafür sorgen
sollte, dass Menschen, die sich in diesem Land aufhalten
dürfen, für die Dauer des erlaubten Aufenthalts ihren
Lebensunterhalt selbst verdienen können, um nicht am
Tropf der Sozialkassen hängen zu müssen,
was außer von der PDS von allen Fraktionen hier abge-
lehnt worden ist. Unser Antrag hat aber insofern etwas be-
wirkt, als dass eine Arbeitsgruppe im Bundeskanzleramt
getagt hat, die zu dem Ergebnis gekommen ist, das gene-
relle Arbeitsverbot für Asylbewerber, die nach dem
Mai 1997 eingereist sind, aufzuheben und durch eine
zwölfmonatige Wartefrist – so nennen Sie es; ich sage:
durch ein zwölfmonatiges Arbeitsverbot – zu ersetzen.
Das wäre ja im Grunde ein Schritt in die richtige Richtung
gewesen. Aber es ist nun Monate her, dass dieses Ergeb-
nis erzielt worden ist, und es ist einfach nicht umgesetzt
worden. Die Menschen in diesem Land warten darauf,
dass Sie Ihren Ankündigungen Taten folgen lassen und
dass sich auch der große Koalitionspartner einmal ein
Stück weit bewegt. Wenigstens diese Ergebnisse sollten
umgesetzt werden, damit wir einen Schritt weiterkom-
men.
Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen: Die baden-
württembergischen Liberalen haben im Bereich der
Integration eine Initiative gestartet, für die ich um Ihre
Unterstützung werben will. Es geht um die Bürger-
kriegsflüchtlinge, die hier in jeder Gemeinde im Hand-
werk, im Gewerbe, in der Gastronomie integriert sind, die
inländische Arbeitsplätze stabilisieren, die niemals einen
Pfennig an Sozialleistungen bezogen haben und die jetzt
in ihr Heimatland zurückgeführt werden sollen, obwohl
sie den Aufbau dort bereits durch Überweisung von Geld
unterstützen. Warum sollten wir nicht eine Möglichkeit
im Ausländerrecht schaffen, diesen Menschen, die hier
wirklich integriert sind, einen dauernden Aufenthaltssta-
tus zu geben? Es macht doch keinen Sinn, bei uns inte-
grierte Menschen zurückzuschicken und stattdessen nicht
integrierte ins Land zu holen. Lassen Sie uns mit denen
beginnen, die schon im Land sind.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung FrauKollegin Beck, bitte.
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Marieluise Beck
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Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Lieber Kollege Niebel, zu den Haushaltsbe-ratungen: Ich bin natürlich immer froh, wenn sich je-mand über die Stärkung der Ausländerbeauftragten Ge-danken macht. Das ist ja ein Thema, dass alle Beauf-tragten, egal, welcher Regierung sie zugeordnet sind,beschäftigt.
Zu meiner großen Freude hat es in dieser Haushaltsrundedurchaus eine Stärkung der Beauftragten gegeben. DerArbeitsstab der Beauftragten wird personell aufgestockt,um unter anderem das Sekretariat der Zuwanderungs-kommission besetzen zu können.
– Weniger bescheiden als meine Vorgängerin, kann ichnur sagen, wenn ich mir das Büro der Beauftragten an-schaue;
denn es ist in den letzten beiden Jahren zu meiner Freudeganz erklecklich gewachsen.Zum Bereich Arbeitsmarktpolitik: Sie wissen, dasszu der Zeit, als die F.D.P. die Beauftragte stellte und mitin der Regierung war, sogar ein völliges Arbeitsverbot fürFlüchtlinge eingeführt worden ist.
– Sie wollte es nie; das ist mir bekannt. – Vonseiten derBündnisgrünen wären wir gerne noch ein Stück weitergegangen und hätten noch kürzere Fristen oder eigentlichgar keine Fristen bevorzugt, allenfalls die im Gesetz vor-gesehene dreimonatige Wartefrist. Sie wissen aber auch,dass es in jeder Koalition Aushandlungsprozesse gibt.
Deswegen ist das, was wir jetzt vereinbart haben, einguter Schritt. Es gibt für Flüchtlinge kein totales Arbeits-verbot mehr. Sie haben die Möglichkeit, nach einem Jahr– unter Wahrung des Vorrangprinzips – auf den Arbeits-markt zu gehen. Ich gebe Ihnen Recht – das ist auch einTeil unserer Leitlinien; hier fangen übrigens die Differen-zen darüber an, was Integration eigentlich ist –, dass dieMöglichkeit, durch Arbeit selbst den eigenen Unterhalt zuverdienen, ein zentraler Teil von Integrationspolitik ist.
Das Spannende ist, dass zum Beispiel die Union immerdavon redet, sie wolle Integration, aber dann, wenn es da-rum geht, den Zugang zum Arbeitmarkt zu ermöglichen,die Werbetrommel gegen einen solchen Zugang rührt. Ge-nau das zeigt uns, dass wir uns hinsichtlich der Ausge-staltung von Integrationspolitik gar nicht in allen Punkteneinig sind.
Damit bin ich bei den von Herrn Niebel angesproche-nen bosnischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Die Bund-Länder-Innenministerkonferenz wird sich in zehn Tagenmit dem Antrag der Bundesregierung befassen, dass denwenigen verbliebenen bosnischen Bürgerinnen und Bür-gern – sie sind oft schwer traumatisiert; viele von Ihnensind gut integriert – endlich ein Bleiberecht gewährt wird.Es waren CDU-Bürgermeister, die gesagt haben: Ihr dürftdoch meinem Handwerksmeister nicht den Mitarbeiterwegnehmen.
– Ich kann Ihnen viele nennen, zum Beispiel den ausArnsberg. Andere kommen aus Baden-Württemberg.Ich hoffe nur, dass der baden-württembergische Innen-minister – in Baden-Württemberg regiert Ihre Partei – aufder Bund-Länder-Innenministerkonferenz nicht zu denBlockierern dieses Antrags gehören wird. Ich wäre Ihnensehr verbunden, wenn Sie in diesem Sinne heftig drückenund schieben und am besten auch den Minister Becksteineinfangen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Petra Pau für die PDS-
Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Der Bericht der Bundesbeauftragtenfür Ausländerfragen hätte es verdient, seriös und nicht nurals Anhängsel – oder über den Weg des Vortragens vonKurzinterventionen – hier behandelt zu werden; zumal indiesem Bericht drängende Probleme kompetent beschrie-ben werden, die genauso kompetent gelöst werden müs-sen. Gleiches gilt für unseren Antrag zur Namensgebung.Auch hierzu werden wir uns äußern. Ich bedaure das ge-wählte Verfahren und die damit unweigerlich verbundeneMissachtung der Ausländerbeauftragten.Liebe Kolleginnen und Kollegen der F.D.P., gelegent-lich werde ich gefragt, ob ich auf dem Boden des Grund-gesetzes stehe. Ich bekenne: Ja. Ich füge in aller Beschei-denheit hinzu: Keine Partei verteidigt das Grundgesetzderzeit mehr als die PDS.
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Das war beim großen Lauschangriff wie bei der Verteidi-gung des Asylrechts so und das ist auch so, KollegeMarschewski, wenn wir eine anmaßende Leitkultur ab-lehnen.
Nun führt die F.D.P. mit ihrem Antrag ein neues Gelöb-nis ein. Die F.D.P. fragt: Stehen Sie hinter der „BerlinerRede“ des Bundespräsidenten, insbesondere hinter je-nen Passagen, die wir – gemeint ist die F.D.P. – so und soverstanden haben? – Ich finde, dass Sie dem Bundesprä-sidenten Unrecht tun, wenn Sie seine Rede so selektieren.Sie machen sich selbst ganz niedlich, wenn Sie solche Au-toritätsbeweise brauchen.
Bei uns ist es üblich, Reden zu hören, Nachdenklichesmitzunehmen und Anregendes aufzunehmen – auch vonder F.D.P.; es muss ja nicht aus dem Big-Brother-Contai-ner sein, Kollege Westerwelle.
– Ich muss da nicht hinein; denn im Gegensatz zu ihmhabe ich es nicht nötig. – Wir brauchen aber keine Ab-stimmung im Bundestag über diese Rede. Das mag etwasmit Selbstbewusstsein, aber auch mit Respekt vor demBundespräsidenten zu tun haben. Stellen Sie sich doch nureinmal eine Minute lang vor, die Mehrheit dieses Hausessage zu der vorgelegten Redemitschrift einfach: Nein, wirhaben etwas anderes verstanden. Glauben Sie, das gefieledem Bundespräsidenten?
Wir debattieren heute unter anderem über einen Antragder F.D.P. zur Frage der Einwanderung. Wir tun das vordem Hintergrund zahlreicher Erklärungen und Papiere zudiesem Thema. Ich begrüße es durchaus, dass wenigstensSie von der F.D.P. keine Leitkultur erfunden haben; zu-mal Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes besagt:Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Ab-stammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Hei-mat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösenoder politischen Anschauungen benachteiligt oderbevorzugt werden. ...
Mit einem Wort, Herr Kollege Bosbach: Das Grundgesetzbeschreibt mitnichten eine Leitkultur. Es folgt einem uni-versellen Ansatz. Das Wort „multikulturell“ war seinerZeit wahrscheinlich noch nicht erfunden.
Gleichwohl folgt der Antrag der F.D.P. einem Muster,das in Papieren von Bündnis 90/Die Grünen bis hin zurCSU zu finden ist. Ihr Vorschlag läuft auf eine Quotenre-gelung hinaus, die Kapitalinteressen als Gebot annimmtund humane wie kulturelle Gewinne letztendlich opfernwird. Um nicht missverstanden zu werden: Das Drei-Säu-len-Modell von Bündnis 90/Die Grünen ist nicht mit denzwölf Thesen der CSU gleichzusetzen. Nur, wer, wie auchSie in Ihrem Antrag, anfängt, Einwandernde, Asylsu-chende und Bürgerkriegsflüchtlinge mit konjunkturellenWünschen von Wirtschaftsverbänden zu verbandeln, istauf dem Holzweg. Nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis,was umgangssprachlich alles in dieser Debatte im Mo-ment mitschwingt. Welche Botschaft verbreiten wir ei-gentlich, wenn wir von „unnützen“ oder uns „ausnützen-den“ Einwanderern reden?
Die CSU hat jetzt das Zwölf-Thesen-Papier mit denWorten vorgestellt, es sei prägnanter als das der CDU.Fürwahr: Die Botschaft der CSU ist, Ausländerinnen undAusländer sowie Einwanderinnen und Einwanderer sindKlötze am deutschen Bein, es sei denn, sie spielen Fuß-ball oder bringen auf andere Weise schnell klingendeMünze ins Land.
Meine Grundbotschaft lautet: Ohne Ausländer und Aus-länderinnen sowie Einwanderer und Einwanderinnen– das gilt über Jahrhunderte hinweg – wäre Deutschlandarm dran.
Wer im parteiinternen Gerangel bei der CDU, um auchIhnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nun tatsäch-lich obsiegt hat, weiß ich noch nicht: die Liberalen oderdie Nationalen.
Bei der CSU ist es deutlich: Die Bornierten haben ge-wonnen.
Nun zum letzten Punkt. Liebe Kollegen von der F.D.P.,Sie haben Recht: Es gibt politischen Handlungsbedarf.Die Bürger an den viel zitierten Stammtischen müssenebenso wissen, was Recht und was gewollt ist, wie jene,die sich der Bundesrepublik Deutschland zuwenden wol-len. Beide müssen sich arrangieren. Das derzeitige Rechtleistet dies noch nicht, weil es unübersichtlich, willkür-lich, bürokratisch und eben nicht menschlich ist – leider.Damit hinkt die Politik den Realitäten und übrigens auchinternationalen Ansprüchen hinterher.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Petra Pau12810
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gerne, aber die Zeit, die hier auf-
leuchtet, hätte ich gerne noch ausgenutzt.
Sie sind
jetzt eine Minute über der Zeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Integration kann es übrigens nur auf
gleicher Augenhöhe, von Mensch zu Mensch geben. Al-
lein vor dem Hintergrund der Gefahren für Würde und Le-
ben, die hierzulande von Rechtsextremisten ausgehen,
wäre anderes als das geboten gewesen, was bisher auf
dem Tisch des Hauses liegt. Dazu gehört auch die Einbe-
ziehung der Betroffenen in die zahlreichen Kommissio-
nen. Auch dazu werden wir Vorschläge unterbreiten.
Danke schön.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Michael Bürsch von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Bei dem Streit um Begriffesoll das Positive nicht verloren gehen. Die Diskussion umZuwanderung ist in Bewegung geraten. Dazu hat dieF.D.P. beigetragen, dazu hat der Bundespräsident beige-tragen, vielleicht auch nicht unwesentlich der Bundes-kanzler mit der Green-Card-Initiative. Kurzum: Die Dis-kussion ist in Bewegung. Ich werde versuchen, dasPositive zu betonen, und will sehen, wie wir daraus viel-leicht gemeinsam ein Konzept für Zuwanderung und In-tegration entwickeln können. Ich nenne fünf zukunftsge-richtete Eckpunkte, über die wir uns vielleicht jenseits derBegriffsstreitigkeiten verständigen könnten und die ausSicht der SPD maßgeblich sind:Erstens. Wir werden die Strukturen unseres Zuwande-rungs- und Ausländerrechts grundlegend reformierenmüssen. Dabei spielen die Frage der Zuwanderung und ih-rer Steuerung, die Frage der Arbeitsberechtigung für diebei uns lebenden Ausländer, die Internationalisierung derHochschulen und der Wirtschaft und verstärkte Integrati-onsbemühungen für 7 Millionen Ausländer eine Rolle.Auf all diesen Feldern muss in den nächsten Jahren aufbestehende Defizite und neue Herausforderungen reagiertwerden.Zweitens. Zuwanderung nach Deutschland hängt di-rekt mit der Integration der Menschen, die zu uns kom-men, zusammen. Anders gesagt: Zuwanderung und Inte-gration sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.Dabei kommt der Sprachförderung, wie wir wissen, großeBedeutung zu. Das holländische Modell des Integrations-vertrages – es wurde schon mehrfach genannt – ist viel-leicht nachahmenswert.Drittens. Wir können Deutschland nicht durch eine na-tionale Zuwanderungsregelung abschotten. Wir braucheneine abgestimmte Migrations- und Asylpolitik auf eu-ropäischer Ebene.
Hier bleibt bis zum Jahr 2004 noch viel zu tun, um dieVorgaben des Amsterdamer Vertrages zu erfüllen. Hierwird auch, Herr Kollege Westerwelle, ein Defizit IhresVorschlages deutlich: Dieser Punkt ist darin nicht enthal-ten.Viertens. Der grundgesetzlich geschützte Familien-nachzug, die verfassungsrechtlich und völkerrechtlich ga-rantierte Gewährung von Schutz für politisch Verfolgteund Flüchtlinge, die Freizügigkeit für EU-Bürger undeine Vielzahl rechtlicher Normen, die Rechtsansprüchefür dauerhafte Zuwanderung und zeitweilige Aufenthaltegewährleisten, dürfen durch eine Zuwanderungsregelungnicht ausgehebelt werden. Das ist der Punkt, der uns wich-tig ist. Für die SPD steht insbesondere fest: Das Grund-recht auf Asyl muss unangetastet bleiben.
Fünftens. Ein zentrales Problem ist die Akzeptanz ei-ner Zuwanderungsregelung in der Bevölkerung. Ich sagees einmal vorsichtig: Die Integrations- und Aufnahmebe-reitschaft der Deutschen ist noch verbesserungsfähig. Ichsehe es, wenn wir denn an einer Lösung interessiert sind,als unsere gemeinsame Aufgabe an, Ängste abzubauenund Integration nachhaltig zu fördern.
Da, Herr Bosbach, ist die vorsichtige Frage zu stellen,ob Wahlkämpfe dafür geeignet sind, dieser Aufgabe,Ängste abzubauen und für Integration nachhaltig zu wer-ben, wirklich gewissenhaft und seriös nachzukommen.Schon vor über 300 Jahren gab es mit dem so genann-ten Potsdamer Edikt von Kurfürst Friedrich Wilhelm einherausragendes Modell für gelungene Zuwanderung
und Integration von 20 000 französischen Hugenottenhier nach Berlin und Brandenburg. Ein Zeitzeuge schriebdamals begeistert – bitte, Herr Marschewski, genau fürIhre Ohren –:Wir haben ihnen, den Zugewanderten, unsere Manu-fakturen zu danken. Sie gaben uns die erste Idee vomHandel, den wir vorher nicht kannten. Berlin ver-dankt ihnen seine Polizei,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000 12811
einen Teil seiner gepflasterten Straßen, seine Wo-chenmärkte. Die Zugewanderten haben Überflussund Wohlstand eingeführt, diese Stadt zu einer derschönsten Städte Europas gemacht.
Durch sie kam der Geschmack an Künsten und Wis-senschaften zu uns. Sie milderten unsere rauen Sit-ten,
sie setzten uns in den Stand, uns mit den aufgeklär-testen Nationen zu vergleichen.Was lernen wir aus diesem Teil der deutschen Ge-schichte? Wir lernen zumindest: Toleranz hat Tradition inDeutschland. Im Übrigen bringt Zuwanderung Nutzen fürWirtschaft, Wissenschaft und Kunst, und speziell in Bay-ern hilft Zuwanderung, die rauen Sitten zu mildern.
Es könnte helfen, Herr Zeitlmann, es könnte helfen.An die Adresse des Antragstellers F.D.P. eine klareAussage: Die SPD, die selbst durch den Innenministereine Kommission und eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat,die sich mit den Themen Zuwanderung und Integrationbefassen, wird im nächsten Jahr einen verbindlichen Ent-wurf zur Regelung der Zuwanderung und Integration vor-legen. Gesagt, getan.
Das Wort
hat jetzt Kollege Wolfgang Zeitlmann von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber KollegeBürsch, ich will Ihrem Bild von den bayerischen rauenSitten Rechnung tragen und Ihnen etwas mehr Klarheitüber das verschaffen, was in Ihrem Kopf über Bayern oderüber die CDU/CSU anscheinend herumgeistert.
Wir diskutieren zwei Dinge, zum einen einen F.D.P.-Gesetzentwurf und zum anderen den Antrag der F.D.P.,eine Rede des Bundespräsidenten umzusetzen.Ich habe mir die Freiheit erlaubt, einmal aus demTicker herauszuholen, was der Bundespräsident in denletzten vier Wochen alles erklärt hat, und rate der F.D.P.,wenn sie solche Anträge stellt, aufzupassen, dass sie nichtgelegentlich in Zugzwang kommt; denn da gibt es eineungeheure Menge an Erklärungen im Detail, zum Beispielzur Wehrpflicht
und dazu, dass die Ostförderung genauer greifen müsse,
dazu, dass man Oppositionellen mehr Gehör verschaffenmüsse.
Ich habe ja nichts dagegen, aber ich warte darauf, dass derBundespräsident sich vielleicht auch einmal zu Legehen-nen oder zu sonstigen Details äußert.
Ein Bundespräsident, der über den Parteien steht – d’ac-cord –, aber wenn er sich in die Tagespolitik einmischt,dann muss er auch damit rechnen, dass er in der Tagespo-litik kritisiert wird.
Ich kritisiere jetzt nicht den Bundespräsidenten, son-dern Ihren Antrag. Ich habe die Rede des Bundespräsi-denten nicht nachgelesen,
sondern ich gehe von Ihrem Papier aus. Dort schreibenSie: Einwanderung darf nicht dem Zufall überlassen blei-ben. Sie muss geprägt sein von den sozialen und wirt-schaftlichen Interessen unserer Gesellschaft. Diesen bei-den Punkten könnte ich schon zustimmen. Aber wenn Siedann im vorvorletzten Spiegelstrich schreiben, dasGrundrecht auf Asyl solle nicht zur Disposition gestelltwerden, dann wird eine hehre Monstranz – Kollege Uhlnennt das so – vor uns her getragen.Im Ergebnis bin ich völlig offen. Ich teile die Meinungdes Kollegen Bosbach, dass wir alles prüfen müssen. Wirhaben im Innenausschuss zigmal über das Thema disku-tiert, und da wurde immer wieder wie eine Monstranz voruns hergetragen: „Aber dieses muss so bleiben“, alswürde der staunende deutsche Betrachter verstehen, wasdamit gemeint ist. Ein subjektives Grundrecht ist eineRechtsform, und eine Institutsgarantie ist auch nur eineRechtsform. Es wird hier alles so vermengt, als wolltendie, die für eine Änderung des Grundrechts in eine Insti-tutsgarantie sind, das Ganze abschaffen und die wildenSitten Bayerns einführen, um Ihr Bild zu nutzen. DieseSemantik, wie sie in der Politik augenblicklich herrscht,halte ich für bedenklich.Auch hier spielt immer wieder das Thema Leitkultureine Rolle. Es gibt heute, am 16. November, in der „Zeit“
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Dr. Michael Bürsch12812
einen wunderschönen Artikel von Herrn Joffe mit dem Ti-tel „Lust auf Leit“, den Sie nachlesen müssen. „OhneLeitkultur kommt ein Land nicht aus“, heißt es im Unter-titel.
Ich sage nur: Wenn man sich an einem Begriff wie Leit-kultur seit Tagen und Wochen in der politischen Debattefestbeißt, zeigt mir das, dass etwas in diesem Land kuriosläuft. Es kann doch nicht sein, dass eine Selbstverständ-lichkeit – Kollege Bosbach hat davon gesprochen; ichhabe Ihnen gerade gesagt: „Die Zeit“ sieht es völlig an-ders als Sie – verschleiert wird. Da wird doch um denheißen Brei herum geredet.Für mich ist das Thema Leitkultur genauso, als wennich sage: Ich lade jetzt Menschen zu mir ins Hausein – –
– Ich habe Sie ja nicht eingeladen. Sagen Sie doch nicht„danke“, bevor ich Sie einlade. Aber wenn ich es täte,dann würde meine Hausordnung gelten. Etwas anderes istauch eine Leitkultur nicht.
– Herr Westerwelle, wenn Sie kämen, würde ich mir einezulegen – damit das klar ist.
Meine Damen und Herren, es ist immer wieder, wennes um die Frage der Zuwanderung geht – auch in den ei-genen Reihen –, die Rede davon: Assimilation wollen wirnicht. Im „Duden“ steht, was „Assimilation“ ist, was da-mit gemeint ist: Anpassung, Angleichung. Wenn ich mor-gen nach Amerika auswandern würde, hätte ich überhauptkein Problem damit, mich der amerikanischen Hausord-nung oder Leitkultur – was auch immer Sie wollen – an-zupassen.
Ich meine, auch die Marschewskis und die Lafontainessind einmal eingewandert und haben sich angepasst.
Beim Kollegen Özdemir habe ich nicht das Gefühl, dasser nicht assimiliert ist. Und auch ein Henry Kissinger istin den USAwohl assimiliert.Meine Damen und Herren, aber eines sage ich Ihnendazu: Es geht nicht, dass Sie uns mit Begriffen in dieserWeise jagen und hektisch argumentieren und ich dannlese: „Der grüne Parteirat hat eine multikulturelleDemokratie gefordert“ und „Die PDS hat einen Rechts-anspruch auf Einwanderung formuliert“.
Herr Kol-
lege Zeitlmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Marschewski?
Ich ahne, was er
will. Deswegen gerne, ja.
Lieber Herr Kollege Zeitlmann, Sie als Bayer haben viel-
leicht nicht die entsprechenden historischen Kenntnisse.
Trotzdem muss ich Sie fragen: Sind Sie wirklich der Mei-
nung, dass OstpreußenAusland war?
Herr Kolle-
ge Marschewski, ich habe meine Aussage, die
„Marschewskis“ und „Lafontaines“ seien auch einmal
zugewandert, nicht auf Ostpreußen bezogen. Ich habe
mich vielmehr auf den Namensursprung bezogen. In
Ihrem Namen erkenne ich slawische Ursprünge
und in dem Namen unseres Exkollegen Lafontaine den
Ursprung aus dem französischen Raum.
Die deutsche Gesellschaft hat den Begriff Assimilation
nie so negativ gesehen, wie er jetzt von einigen betrachtet
wird.
Einen Punkt muss ich noch erwähnen. Wer einen
Rechtsanspruch auf Einwanderung fordert, der braucht
sich überhaupt nicht zu wundern, wenn dazu in dieser Re-
publik unterschiedliche Auffassungen bestehen.
Denjenigen, die wie die Grünen das Asylrecht auf nicht-
staatliche und auf geschlechtsspezifische Verfolgung
erweitern wollen und die – wie Frau Beck vor ein paar Mi-
nuten – sagen, auch die Bevölkerung habe einen An-
passungsprozess durchzumachen, muss ich sagen: In die-
sem Punkt werden Sie Widerspruch erfahren. Ich teile
nicht die Meinung, dass sich die Masse der Deutschen an-
passen muss. Ich glaube vielmehr, dass sich primär derje-
nige, der zuwandert, anpassen muss und nicht umgekehrt.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
FrauBeck, melden Sie sich zu einer Kurzintervention? – Dasist also nicht der Fall.Jetzt hat die Kollegin Leyla Onur von der SPD-Frak-tion das Wort.
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Wolfgang Zeitlmann12813
Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Ich bin sehr froh darüber, dass wir den Bericht derAusländerbeauftragten nicht erst zu später Stunde, son-dern schon heute Nachmittag diskutieren können.
Allerdings gehe ich davon aus, dass das nicht die letzteDebatte zu diesem Thema sein darf.Ich finde den Beitrag von Herrn Zeitlmann dem The-ma nicht angemessen.
Die fünfte Jahreszeit hat zwar begonnen, wie wir auch inNorddeutschland festgestellt haben. Es ist aber einfachunerhört, zu diesem Thema eine Büttenrede abzuliefern.
Wir behandeln heute also auch den Bericht derAusländerbeauftragten. Ich freue mich sehr, dass überdiesen Bericht im Plenum und nicht nur in den Fachaus-schüssen diskutiert wird und dass daraus Folgerungen ge-zogen werden. Die Berichte der heute schon mehrfach ge-lobten Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen wurden zwarauch zur Kenntnis genommen – von uns intensiver be-handelt und genauer bewertet als von der damaligen Re-gierungsmehrheit –, aber Schlussfolgerungen aus diesenBerichten wurden in der Regel nicht gezogen.
Wir können sagen, dass aus dem Bericht der Auslän-derbeauftragten Marieluise Beck schon jetzt entspre-chende politische Konsequenzen gezogen worden sind.Das kann ich Ihnen an drei Beispielen deutlich machen.Wir haben festzustellen,
dass in Ihrer Regierungszeit zwar vollmundige Ankündi-gungen gemacht wurden, aber nie politische Taten gefolgtsind. Wir haben ferner festzustellen, dass es 16 Jahre Still-stand in der Migrationspolitik gab.
Nach Ihrer Philosophie war es ganz einfach: Deutschlanddurfte kein Einwanderungsland sein; deswegen durfte eskeine ernsthaft betriebene Integrationspolitik geben.
Wenn wir heute trotzdem Integrationserfolge in den Län-dern und Kommunen feststellen können, dann sind sienicht auf Ihre Politik zurückzuführen, sondern auf die Po-litik engagierter Menschen in den Kommunen und Län-dern. Dafür sei ihnen ausdrücklich Dank gesagt.
Am 27. September 1998 hat in Deutschland eine neuePolitik für Migranten und Migrantinnen begonnen. Das istvon diesen sehr wohl bemerkt worden.Es hat in der Tat entsprechend unserer Koalitionsver-einbarung ein Paradigmenwechsel stattgefunden. In un-serer Koalitionsvereinbarung heißt es:Wir erkennen an, dass ein unumkehrbarer Zuwande-rungsprozess ... stattgefunden hat, und setzen auf dieIntegration der auf Dauer bei uns lebenden Zuwan-derer, die sich zu unseren Verfassungswerten beken-nen.Nicht zu deutscher Leitkultur, sondern zu unseren Ver-fassungswerten!
Wenn Sie heute so tun, als ob man diesen Begriff ver-harmlosen könne – Sie sind ja eifrig zurückgerudert; dashaben wir durchaus beobachten können –,
dann sollten Sie sich bitte auch klarmachen,
wer diesen Begriff in die politische Diskussion einge-bracht hat und welche Wirkung dieser Begriff der deut-schen Leitkultur nicht nur auf die Migranten und Migran-tinnen hat, die hier in Deutschland leben, sondern ganzbesonders auf unsere europäischen Nachbarn. Das nehmeich Herrn Merz besonders übel, weil er innerhalb von fünfJahren im Europäischen Parlament gelernt haben müsste,wie man in der Europäischen Union, in ganz Europa mit-einander umgeht, wie sensibel gerade unsere Nachbarnsind, wenn es um solche Fragen und Begriffe geht. Dakann ich nur feststellen: Diesen Begriff hat er ganz be-wusst geprägt, um auf diese Weise am rechten Rand aufWählerstimmenfang zu gehen.
Ich komme zurück zu dem Bericht der Ausländerbe-auftragten. Es ist ein hervorragender Bericht mit hervor-ragenden Anregungen, Forderungen und auch Herausfor-derungen für uns alle. Dabei muss ich jedoch feststellen,dass wir natürlich nicht alles buchstabengetreu umsetzenkönnen und werden.
Das weiß auch Frau Beck. Denn wenn Sie als Ausländer-beauftragte hier einen Forderungskatalog aufstellen, istdas nur die eine Sichtweise. Wir, die wir uns damit zu be-
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schäftigen und auseinander zu setzen haben, haben dabeidie gesamtpolitische Situation zu berücksichtigen. Aberdas haben wir bisher immer gemeinsam in Gesprächen zuregeln verstanden. Deswegen haben wir schon heute Er-folge vorzuweisen. Sie hatten in 16 Jahren überhauptnichts zu bieten.
Wir haben bereits nach der Hälfte der Legislaturperiodeganz konkrete Ergebnisse, die sich wahrlich sehen lassenkönnen.Ein Ergebnis ist die Reform des Staatsbürger-schaftsrechts.
– Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen: Wenn die Re-form des Staatsbürgerschaftsrechts leider nicht so gelun-gen ist, wie wir uns und insbesondere die Migranten undMigrantinnen sich das gewünscht haben, liegt das auch ander F.D.P.
Nichtsdestoweniger sage ich: Dieses neue Staatsbür-gerschaftsrecht ist, wie Frau Beck einmal gesagt hat, einMeilenstein, ein riesengroßer Fortschritt. Es ging dabeitatsächlich um die Frage: alles oder nichts. Aus der Kennt-nis heraus, dass wir nach 16 Jahren Stillstand endlichFortschritte erzielen mussten, haben wir diesen erstengroßen Schritt mit Ihnen gemeinsam getan. Das ist auchrichtig so. Das heißt aber nicht, dass aus meiner Sicht inZukunft nicht weitere Schritte folgen sollten und müssten.
Insbesondere für die hier geborenen Kinder bedeutetdie Reform eine große Chance. Ich fordere auch von hieraus nochmals auf, die Fristen, die zum Ende des Jahres ab-laufen, einzuhalten, damit bis zum 31. Dezember 1999 inDeutschland geborene Kinder, die zu diesem Zeitpunktnoch nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hatten, vonder Möglichkeit Gebrauch machen können, neben derStaatsbürgerschaft der Eltern die deutsche Staatsbürger-schaft zu bekommen. Ich appelliere an alle, dafür zu sor-gen, dass dieser Teil des Staatsbürgerschaftsrechts ein Er-folg wird.Meine Damen und Herren, als ein weiterer großer Er-folg – wenn auch für viele vielleicht nur eine Kleinigkeit –ist die Änderung des § 19 des Ausländergesetzes zu nen-nen,
die es Ehegatten endlich möglich macht – in erster Liniesind davon die Frauen betroffen –, schon nach zwei Jah-ren und in Härtefällen auch noch früher einen eigenstän-digen Aufenthaltsstatus zu erlangen.
Dagegen haben Sie sich mit Händen und Füßen gewehrt.Wir haben es getan. Darauf muss man nicht stolz sein.
Denn es ist ganz selbstverständlich, dass man seineAnkündigungen einhält.
Herr Niebel, der jetzt nach seiner Kurzinterventionverschwunden ist,
ist auf das Arbeitserlaubnisrecht eingegangen. Ich darf Ih-nen hier mitteilen, dass wir im Hinblick auf den Clever-Erlass – man muss hinzufügen: den blümschen Clever-Er-lass; denn Norbert Blüm hat dafür gesorgt, dassAsylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge seit15. Mai 1997 mit einem generellen Arbeitsverbot belegtworden sind – in schwierigen Verhandlungen – das ist inder Tat so – zu einem vernünftigen und wirkungsvollenErgebnis gekommen sind. Bestellen Sie bitte HerrnNiebel: Ich habe damals den Antrag, den Sie eingebrachthaben, als solchen entlarvt, wie er wirklich zu bewertenist: Es ging Ihnen nie darum, Menschen die Chance zu ge-ben
zu arbeiten. Vielmehr ging es Ihnen darum, diesen Men-schen nur zu Niedriglöhnen eine Möglichkeit auf dem Ar-beitsmarkt einzuräumen. Das habe ich damals sehr aus-führlich hier erläutert. Dazu stehe ich auch heute noch.
Ich stelle abschließend fest, dass das neue Sprachför-derungskonzept, das nun endlich vorliegt, nur ein Moduleines vernünftigen zukunftsorientierten Integrationskon-zeptes ist. Die Sprachförderung ist dabei ein ganz wich-tiger Baustein. Aber es fehlt noch die Ausfüllung der an-deren Bausteine. Dies wird in den kommenden Monatenund Jahren erfolgen. Wir setzen auf ein Integrationskon-zept 2000. Ich sage Ihnen: Es wird kommen. Wir erfüllendamit einen weiteren Teil dessen, was wir den Bürgerin-nen und Bürgern vor der Wahl versprochen haben undjetzt hiermit einhalten.Danke schön.
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Leyla Onur12815
Das Wort
hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 9. Fe-bruar dieses Jahres ist der Bericht der Ausländerbeauf-tragten erschienen. Kaum sind neun Monate ins Landgegangen, wird nun – innerhalb weniger Minuten – überdiese Problematik diskutiert. Das zeigt, welche Dring-lichkeit und welchen Stellenwert Rot-Grün diesemThema beimisst.Lassen Sie mich zu diesem Bericht drei Bemerkungenmachen:Erstens. Deutschland ist ein ausländerfreundlichesLand. Wir haben nach den Zahlen, die Sie als Anlage bei-gefügt haben, in den Jahren 1995 bis 1999 10,5 MillionenMenschen aufgenommen. 7,2 Millionen haben Deutsch-land wieder verlassen. Immer dann, wenn irgendwo eineKatastrophe eingetreten ist bzw. ein Flüchtlingsproblembestand, haben die Deutschen ein weites Herz bewiesen.
Deutschland hat im Zusammenhang mit dem Bürgerkriegauf dem Balkan mehr bosnische Flüchtlinge aufgenom-men als die großen Nationen Frankreich, Großbritannienund andere insgesamt. Das sollte hier zuallererst einmalfestgestellt werden.
Zweitens. Es gibt in unserem Land eine Minderheit,die Taten begeht, die wir alle mit Entschiedenheitbekämpfen. Sie haben Ihrem Bericht eine Anlage beige-fügt, in der Sie Zahlen bezüglich der 1997 und 1998 be-gangenen fremdenfeindlichen Straftaten nennen. Logi-scherweise können Sie darin nicht die von diesem Jahrberücksichtigen. Trotzdem sind diese Zahlen interessant:So lässt sich feststellen, dass in diesem Zeitraum zum Bei-spiel in Niedersachsen eine Zunahme von 10,9 Prozentund in Nordrhein-Westfalen eine Zunahme von 3,1 Pro-zent zu verzeichnen ist, während in den unionsregiertenLändern Bayern und Baden-Württemberg eine Abnahmevon 14,4 Prozent bzw. eine Verringerung von 11,5 Prozentzu verzeichnen ist. Offensichtlich ist in diesen Länderndie Bekämpfung fremdenfeindlicher Straftaten erfolgrei-cher gelaufen als in den Ländern, in denen Rot-Grün dasSagen hat.
Es ist unredlich, wenn hier von einigen eine Ursache-Wirkungs-Kette konstruiert wird, die lautet: Wer sich ge-gen den Doppelpass ausspricht, wer gegen eine unbe-grenzte Zuwanderung ist, der bereitet dem Rechts-extremismus den Nährboden. – Umgekehrt wird einSchuh daraus:
Wer die Probleme im Zusammenleben von Deutschen undAusländern tabuisiert oder verdrängt, wer es als politischunkorrekt ansieht, darüber zu sprechen, der schafft dieProbleme mit. Deshalb möchte ich hier ausdrücklich demInnenminister Recht geben, der gesagt hat: Es muss er-laubt sein, offen darüber zu sprechen.Es ist übrigens auch nicht ausländerfeindlich, daraufhinzuweisen, dass Integrationsbereitschaft selbstver-ständlich gerade jene zeigen müssen, die nach Deutsch-land kommen. Hier enthält der Bericht, Frau Beck, eini-ges, was der Wirklichkeit nicht entspricht. DieWirklichkeit in Großstädten wie München oder Berlinsieht anders aus. Was ist bei der Integration in den letztenJahren schief gelaufen? Wir stellen fest, dass sich die In-tegration generell nicht in günstiger Weise entwickelt hat,sondern dass zunehmend Probleme auftauchen.Es entwickelt sich eine Parallelgesellschaft.Wir stel-len fest, dass in bestimmten Vierteln unserer großenStädte und in machen Schulen ein Anteil von 80 Prozentan Nichtdeutschen vorhanden ist. Es gibt Klassen in Mün-chen, in denen es noch ein, zwei deutsche Kinder gibt.Hier stellt sich doch die Frage: Wer integriert wen? Dassind die Probleme vor Ort. Die Eltern reagieren darauf so,dass sie ihre Kinder von den Schulen nehmen oder mitdem Umzugslaster gegen diese Orte abstimmen. Das sinddie Probleme, denen wir uns stellen müssen, die aber inIhrem Bericht allenfalls am Rande auftauchen.Ich sage Ihnen deshalb im Zusammenhang mit derLeitkultur noch etwas: Ein Nebeneinanderexistieren vonbeliebigen Arten von Kulturen ohne gemeinsame Basis isthöchst gefährlich.
Wir erleben jetzt eine Entwicklung hin zu Parallelkultu-ren. Diese haben die Tendenz in sich, sich weiter ausei-nander zu entwickeln. Das bedeutet letztendlich, statt mit-einander zu leben, wird nebeneinander, im schlimmstenFall gegeneinander gelebt. Das sind die Probleme, die wirlösen müssen.Deshalb müssen wir zunächst einmal die Integrations-anstrengungen vermehren und verbessern und danach erstkönnen wir über weitere Zuwanderung sprechen. Zuerstmüssen wir die Integrationsaufgaben lösen. Das Kardi-nalproblem besteht in den mangelnden Sprachkenntnis-sen.Wir sehen mit Sorge, dass so genannte Sprachinselnentstehen, das heißt, man versteht sich nicht mehr.
Wenn jemand 20 Jahre in Deutschland lebt und immernoch nicht in der Lage ist, sich einigermaßen auszudrückenund mit seinen Nachbarn zu verständigen, dann schließt ersich selber von der Gemeinschaft aus. Umgekehrt müssenwir ihm sagen, dass es seine erste Pflicht ist, Deutsch zu ler-nen, damit er sich hier wirklich verständigen kann.
Wichtig ist – das sage ich abschließend –, dass dieseThematik in seriöser Weise und nicht unter Zeitdruck, wiees heute geschieht, diskutiert wird. Es hätte auch nichtdiese Verzögerungen geben dürfen, schließlich ist dieser
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 200012816
Bericht schon neun Monate alt. Ich hoffe, wir können dasin geeigneter Weise nachholen
und Klarheit über die Positionen schaffen. Vor allem müs-sen wir sagen, was wir von denen erwarten, die zu uns ge-kommen sind.
Erlauben
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Özdemir?
Ja, klar,
selbstverständlich.
Herz-
lichen Dank, Herr Kollege Singhammer. Sie haben gerade
gesagt, von demjenigen, der seit 20 Jahren hier lebt, kann
man erwarten, dass er Deutsch kann. Sind Sie mit mir darin
einig, dass man natürlich von Menschen, die hier das Licht
der Welt erblickt haben, erwarten muss, dass sie Deutsch
können? Stimmen Sie mit mir auch überein, dass für die
Generation meiner Eltern, die vor 30, 40 Jahren über die
Anwerbeabkommen hierher geholt wurde, weder die
Entsendeländer noch wir als Empfängerland irgendeine
Art von Vorkehrung getroffen haben, geschweige denn, sie
auf das vorbereitet haben, was sie erwartet hat?
Sind Sie weiter bereit, mir zuzustimmen, dass es bei-
spielsweise in den 70er-Jahren in Betrieben Überlegun-
gen gab, Sprachkurse einzurichten, und viele Arbeitgeber
gesagt haben: Mein Ali kann genau so viel Deutsch, dass
er am Fließband die drei Handgriffe machen kann, die er
machen muss; mehr Deutsch braucht er nicht, weil das
eine Geldverschwendung wäre?
Sind Sie nicht auch dann der Meinung, dass es un-
dankbar gegenüber diesen Menschen ist, die in diesem
Land alt und krank geworden sind, jetzt zu sagen: Ihr
könnt nicht genügend Deutsch?
Herr Kollege
Özdemir, wenn sich jemand 20 Jahre in Deutschland auf-
hält und im Berufsleben integriert ist, wenn er hier seinen
Lebensmittelpunkt hat,
dann halte ich es für selbstverständlich, dass er wenigs-
tens so weit Deutsch kann, dass er sich mit seinen Nach-
barn verständigen kann und sich nicht selbst dadurch aus-
schließt, dass er die Sprache des Landes, in dem er seit
20 Jahren lebt, nicht beherrscht.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Onur das Wort.
Herr Kollege Singhammer, Sie
können es wohl nicht lassen. Sie sind nicht in der Lage,
einen Appell aufzunehmen. Dieser kommt schließlich
nicht von mir. Wir kennen uns aus dem Ausschuss. Ich
will mich nicht zu unserem Verhältnis äußern.
Hören Sie doch einfach einmal zu, was Herr Paul
Spiegel auf der Demonstrationskundgebung gesagt hat:
Dann aber möchte ich alle Politiker in die Pflicht
nehmen, sie auffordern, ihre populistische Sprache
zu zügeln...
Auch heute haben Sie wieder das Unwort „Doppelpass“
und das Unwort „deutsche Leitkultur“ benutzt. Lassen Sie
davon ab. Sie wissen doch, was Sie damit herausgefordert
haben. Anständige Demokraten, Herr Singhammer, sam-
meln keine Unterschriften gegen Ausländer.
Anständige Demokraten arbeiten nicht mit ausländer-
feindlichen Begriffen und machen damit Ausländerfeind-
lichkeit salonfähig.
Das Ergebnis der Kampagne vor der Hessenwahl erleben
wir jetzt. Sie haben wir alle nicht vergessen.
Deswegen noch einmal von mir die herzliche und ernst
gemeinte Bitte: Hören Sie mit missverständlichen Begrif-
fen auf, um auf dem rechten Rand nach Stimmen zu schie-
len.
Versuchen Sie wirklich, als anständiger Demokrat ge-
meinsam mit uns eine konsensuale Integrations- und Ein-
wanderungspolitik zu gestalten.
Kollege
Singhammer.
Frau KolleginOnur, die Verwendung der Begriffe „Leitkultur“ oder„Doppelpass“ werden weiterhin erlaubt sein und habennicht den von Ihnen kritisierten Effekt. Auch werden wir
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Johannes Singhammer12817
nicht vorher bei Ihnen um eine Genehmigung nachfragen,ob wir diese Begriffe weiter verwenden dürfen.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/3679, 14/3697, 14/2674 und14/3749 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 c sowie28 a und 28 b auf:29a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zu-ordnungsrechtes– Drucksache 14/757 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länderb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. HelmutHaussmann, Ulrich Irmer, Joachim Günther
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.Für einen offenen und partnerschaftlichen Dia-log mit Namibia– Drucksache 14/4414 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungc) Beratung des Antrags der Abgeordneten KarinKortmann, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENKinderrechte schützen – Kinderhandel wirk-sam bekämpfen– Drucksache 14/4152 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Tourismus28 a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der UVP-Änderungsrichtlinie, der IVU-Richtlinie undweiterer EG-Richtlinien zum Umweltschutz– Drucksache 14/4599 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
der F.D.P.Umsetzung der IVU-Richtlinie – Umweltge-setzbuch auf den Weg bringen– Drucksache 14/3397 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschla-gen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführ-ten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 30 a und30 c sowie den Zusatzpunkten 3 a und 3 b. Es handelt sichum Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aus-sprache vorgesehen ist.Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 30 a auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeits-recht sowie zur Änderung anderer Vorschriften
– Drucksachen 14/4375, 14/4388 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/4633 –Berichterstattung:Abgeordneter Heinz SchemkenIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetz-entwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koaliti-onsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthal-tung der PDS-Fraktion angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
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Johannes Singhammer12818
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Ge-setzentwurf mit gleichem Stimmenverhältnis angenom-men.Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 c auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu der Ver-ordnung der BundesregierungErste Verordnung zur Änderung der Batterie-verordnung– Drucksachen 14/4303, 14/4440 Nr. 2.1,14/4600 –Berichterstattung:Abgeordnete Marion Caspers-MerkWerner August WittlichMichaele HustedtBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterDer Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck-sache 14/4303 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmigangenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 3 a auf:– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem GemeinsamenProtokoll vom 21. September 1988 über dieAnwendung des Wiener Übereinkommens
– Drucksache 14/3953 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Atomgesetzes
– Drucksache 14/3950 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-torsicherheit
– Drucksache 14/4617 –Berichterstattung:Abgeordnete Horst KubatschkaKurt-Dieter GrillWinfried HermannBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterWir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Ge-meinsamen Protokoll über die Anwendung des Wienerund des Pariser Übereinkommens, Drucksache 14/3953.Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-cherheit empfiehlt auf Drucksache 14/4617 unter Ziffer 1,den Gesetzentwurf mit einer redaktionellen Änderung derdeutschen Fassung der Überschrift des GemeinsamenProtokolls anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist einstimmig angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderungdes Atomgesetzes, Drucksache 14/3950 und 14/4617. DerAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit empfiehlt auf Drucksache 14/4617 unter Ziffer 2, denGesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit einstimmig angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 3 b auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die Zusammenlegung des BundesamtesfürWirtschaft mit dem Bundesausfuhramt– Drucksache 14/3951 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/4615 –Berichterstattung:Abgeordneter Erich G. FritzIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit einstimmig angenommen.Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENVerantwortung der früheren Bundesregierungfür die Erteilung einer Unbedenklichkeitser-klärung für das atomare Endlager MorslebenIch eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derBundesminister Jürgen Trittin das Wort.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms12819
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Der Zustand im AtommüllendlagerMorsleben ist dramatisch. Dort lagern rund 37 000 Ton-nen Atommüll, gut 10 000 Tonnen davon lagern in denakut gefährdeten Räumen. In diesem Bereich im Südfeldkönnen nach Einschätzungen der Fachleute jederzeit biszu 1 000 Tonnen schwere Salzbrocken von der Decke aufden dort lagernden Atommüll fallen.Untersuchungen haben im Südfeld in den Deckenbe-reichen zwischen den Hohlräumen Risse bis zu 16 cmBreite nachgewiesen und dies ausgerechnet in jenem sen-siblen Bereich, in dem der Atommüll nicht einmal gesta-pelt, sondern einfach nur in Einlagerungskammern ab-gekippt, gestürzt worden ist.Alle, die sich länger mit diesem Problem beschäftigen,wissen, dass die Sicherheit des Endlagers Morsleben vonGeologen, Umweltpolitikern und Umweltverbändenschon seit Jahren bezweifelt wird. Dennoch haben wir esdamit zu tun, dass die frühere Bundesregierung dort trotzTropfstellen und Rissen über Jahre hinweg weiter Atom-müll einlagern ließ.
In – wie ich finde – skandalöser Weise setzte sich die Re-gierung Kohl über alle Sicherheitsbedenken hinweg.
Die Geschichte der Atommüllkippe Morsleben ist einefinstere Fortsetzungsgeschichte deutsch-deutscher Art ei-nes verantwortungslosen Umgangs mit Atommüll.
So richtig es ist, dass das erste Kapitel dieser finsteren Ge-schichte des verantwortungslosen Umgangs mit Atom-müll die SED geschrieben hat, so richtig ist auch, dass dieFortschreibung dieser Geschichte vom Kanzler der Ein-heit, Helmut Kohl, und seiner Umweltministerin AngelaMerkel betrieben worden ist. Zuerst wurde per Eini-gungsvertrag dafür gesorgt, noch zehn Jahre – bis zumJahr 2000 – einlagern zu können; 1998 setzten Sie in derNovelle des Atomgesetzes sogar einen Weiterbetrieb die-ses Endlagers bis zum Jahr 2005 durch.Sie taten dies, obwohl Sie wussten, dass diese Anlagenach bundesdeutschem Recht nie genehmigungsfähig ge-wesen wäre. Ich behaupte sogar, Sie taten das nicht, ob-wohl sie nie genehmigungsfähig gewesen wäre, sonderngerade weil sie nie genehmigungsfähig gewesen wäre; Siehofften, auf diese Weise ein akutes Problem zur Seite zuschieben, da es damals kein Endlager für schwach- undmittelaktiven Müll gab. Deshalb wurde von Ihnen in vierJahren mehr Atommüll als zu Zeiten der DDR in diesesLager eingebracht. Sie haben damit – CDU/CSU undF.D.P. – dort mehr abgekippt als die SED.
Noch 1998, als sich die bundeseigenen Geologenschon seit über zwei Jahren von der Annahme der lang-fristigen Standsicherheit der Grube verabschiedet hatten,wurden Kritiker, die auf die Einsturzgefahr – gerade indem jetzt gefährdeten Bereich – hinwiesen, von der da-maligen Ministerin Merkel der Panikmache bezichtigt.
Schlimmer noch: Ihre Ministerin hat damals die Geneh-migungsbehörden daran gehindert, tätig zu werden. 1995wurde ein vom sachsen-anhaltinischen Umweltministe-rium verhängtes Versturzverbot für diesen Abschnitt kur-zerhand per Bundesweisung von Ihnen kassiert.
Es bedurfte des Antritts dieser neuen Regierung, umdiesem Treiben durch eine Aufhebung der Weisung durchmich endlich ein Ende zu bereiten.
Aus den neuen Erkenntnissen der Rissbildung hat dasBundesamt für Strahlenschutz als Betreiber des Endlagersnunmehr Konsequenzen ziehen müssen. Der Präsidentdes Amtes hat als Sofortmaßnahme die Sperrung be-stimmter Bereiche des Südfeldes angeordnet. Eine mögli-che unzulässige Freisetzung radioaktiver Stäube in dieUmgebung wird durch geeignete technische Maßnahmenim Zusammenhang mit der Belüftung – die Bergleute sa-gen dazu Bewetterung – verhindert. Als wichtigste Maß-nahme wird umgehend – voraussichtlich wird damit nochin der nächsten Woche begonnen – die Verfüllung derResthohlräume in den beiden betroffenen Einlagerungs-kammern in Angriff genommen. Ich bin den Behörden desBundes und des Landes dafür dankbar, dass es möglichgewesen ist, sowohl die bergrechtlichen als auch dieatomrechtlichen Voraussetzungen für diese Sofortmaß-nahme innerhalb von drei Tagen genehmigungsfest zuschaffen.
Eines aber steht uns noch bevor: der zügige, sichereund dauerhafte Einschluss der in Morsleben lagernden ra-dioaktiven Abfälle. Es ist leider wahr, dass durch IhrTaktieren mit möglichst langer Offenhaltung viel Zeitvergangen ist. Aber wir werden in enger Abstimmungmit dem Bergamt und der atomrechtlichen Planfeststel-lungsbehörde des Landes Sachsen-Anhalt Wege finden,dieses Problem mit der gleichen Geschwindigkeit zu lö-sen, wie wir das aufgrund der akuten Notsituation hiergetan haben.Sie haben unter Ihrer Verantwortung mit dem Weiter-betrieb von Morsleben dem nationalen, aber auch dem in-ternationalen Ansehen der bundesdeutschen Sicherheits-philosophie in Endlagerfragen einen denkbar schlechtenDienst erwiesen.
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Die Vorfälle in Morsleben belegen zudem einmal mehr,dass das alte, von Ihnen zu verantwortende Entsorgungs-konzept gescheitert ist.
Sie belegen, dass die Endlagerung radioaktiver Abfälleauf eine neue Basis gestellt werden muss. Dem haben wirmit einem neuen Konzept der direkten Endlagerungund dem Ein-Endlager-Konzept Rechnung getragen. Ichdanke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Franz Obermeier von der CDU/CSU.
Herr Präsident! Kol-leginnen und Kollegen! Die Fraktion der Bündnisgrünengibt uns heute Gelegenheit, wieder einmal aufzuzeigen,wie schwach
Rot-Grün im Umgang mit atomrechtlichen Fragen undmit praktischen Dingen des Lebens ist.
Man müsste sich eigentlich dafür bedanken, dass manwieder ein paar Minuten Zeit hat, die Dinge aufzuzeigen.
Wenn man sich mit den Themen beschäftigt, kommtman darauf, dass es vielleicht doch um ein Ablenkungs-manöver – Stichworte: Ministerrücktritt, Parteienfinan-zierungsprobleme – geht.
Nein, diese Ablenkung lassen wir Ihnen nicht durchge-hen. Wir setzen uns mit der inhaltlichen Frage auseinan-der.
Herr Bundesminister, Sie haben wohlweislich ver-schwiegen, was Sie unter einer Unbedenklichkeitserklä-rung verstehen, die man aus dem Finanzamtsbereich undaus den Sozialversicherungen kennt. Das, was Sie hier da-mit meinen, lassen Sie weg. Meinen Sie vielleicht dieStellungnahme der Reaktorsicherheitskommission? Oderwas meinen Sie mit „Unbedenklichkeitserklärung“? Essieht danach aus, als würde Rot-Grün die Gelegenheitnutzen, der Allgemeinheit ein neues Horrorszenario in Sa-chen Atom unterzujubeln.
Ich darf mich mit der Vergangenheit beschäftigen, weilder Herr Minister auch dies weggelassen hat: Nach derWiedervereinigung hat sich die Bundesregierung sehrverantwortlich um die kerntechnischen Einrichtungenund Altlasten in den neuen Ländern gekümmert – ich er-innere an Greifswald, ich erinnere an die BergbaubetriebeWismut und an Morsleben – und ist hier ihrer Verantwor-tung sehr gerecht geworden. Anders als bei Greifswaldentschied man sich, das Endlager Morsleben in Betrieb zuhalten, und zwar aus gutem Grund. Man wusste,
dass man durch den Rückbau von Greifswald und ähnli-cher kerntechnischer Anlagen eine ganze Reihe von La-germöglichkeiten braucht. Das war der Grund, warumman die Dinge so geregelt hat.
Im Übrigen darf ich Ihnen sagen, dass die Bundesre-gierung umfangreiche Sicherheitsanalysen durch BGRund GRS in Auftrag gegeben hat und dass die sicherheits-technischen Nachrüstungen im Umfang von mehreren100 Millionen DM auch durchgeführt wurden. Alle Maß-nahmen wurden seinerzeit im Einvernehmen mit den zu-ständigen Bergbehörden des Landes durchgeführt.Ein Weiterbetrieb erfolgte zunächst auf der Grundlageder in der DDR erteilten Genehmigung, deren Geltung imEinigungsvertrag fortgeschrieben wurde. Man hat dann1992 – ich betone: 1992 – ein Planfeststellungsverfahrenfür den Betrieb der Anlage und für die Stilllegung bean-tragt. Später, 1997, hat man den Antrag zum Planfeststel-lungsverfahren auf Stilllegung eingeschränkt.
– Wir wissen schon, dass Sie das, was wir sagen, nicht in-teressiert.Man hat ein paar Tage vor der Wahl 1998 die Einlage-rung in Gorleben eingestellt. Insofern ist es einfach nichtrichtig, wenn Sie, Herr Trittin, behaupten, dass Sie dieEinlagerung per Weisung eingestellt haben. Ich verstehenicht, wie ein Bundesminister so etwas behaupten kann.
Es bedurfte auf alle Fälle nicht der Weisung des grünenUmweltministers, um die Anlage stillzulegen.Noch ein paar Bemerkungen zu den technischen Vo-raussetzungen, mit denen Sie vermutlich nicht sehr viel zutun haben: Das Bundesamt für Strahlenschutz hat am9. Mai 1997 festgestellt, dass über den Antrag auf Stillle-gung im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens ent-schieden werden soll. Bis zum heutigen Tage ist über diePlanfeststellung nicht befunden worden. Wenn Ihnen dastatsächlich ein so wichtiges Anliegen gewesen wäre, dannmuss ich Sie fragen, was Sie in den zwei Jahren IhrerAmtszeit eigentlich getan haben. Sie haben nichts getan.
Die Reaktor-Sicherheitskommission hat nach einer Be-gehung, die vor wenigen Tagen stattfand, festgestellt, dasses zu Abschieferungen kommt. Die Fachleute sagen, dass
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Bundesminister Jürgen Trittin12821
dies in solchen Bergwerken üblich ist. Das wusste manauch schon vorher. Jetzt wird ein Horrorszenario an dieWand gemalt, obwohl der Präsident des Bundesamtes fürStrahlenschutz bestätigt hat, dass eine akute radiologischeGefährdung nicht zu befürchten ist.
Ich gebe Ihnen den Rat: Kümmern Sie sich rasch umeinen Planfeststellungsbeschluss bezüglich der Stillle-gung des Endlagers. Wenn Sie das tun würden, dann hät-ten Sie ein gutes Werk getan.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Reinhard Weis
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in diesemJahr mehrmals Anlass gehabt, den Prozess „Zehn Jahredeutsche Einheit“ positiv zu würdigen und auch Erfolgefestzustellen. Aber die Geschichte des Endlagers Morsle-ben gehört nicht zu dieser erfolgreichen Bilanz.
Ich war 1990 als Abgeordneter der SPD-Fraktion Mit-glied im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Energie undReaktorsicherheit der letzten demokratisch gewähltenVolkskammer. Mit meiner Fraktion hatte ich versucht, dieGeltung der DDR-Betriebsgenehmigung für das EndlagerMorsleben für radioaktive Abfälle nicht ungeprüft im Ei-nigungsvertrag festschreiben zu lassen. Das ist uns leidernicht gelungen. Ich bin mit dem Vorsatz in den Bundestageingezogen, entweder die Eignung des Salzstockes Mors-leben, der ja nicht unberührt war, sondern in dem aktivBergbau betrieben wurde, in einem ordentlichen Planfest-stellungsverfahren nachweisen oder, wenn dies nicht ge-lingen sollte, die Betriebsgenehmigung widerrufen zu las-sen.Die damalige Bundesregierung kannte wie wir unzäh-lige Beispiele dafür, dass Genehmigungsverfahren in derDDR nicht immer rechtsstaatlichen Kriterien genügtenund dass auch die zugrunde liegenden Standards nicht ge-eignet waren, die Schutzziele der Bundesrepublik zu er-füllen. Dass ausgerechnet auf dem Gebiet des Strahlen-schutzes, bei der Bewertung eines Endlagers, das ja fürTausende Jahre Sicherheit gewähren soll, alle Bedenkenwider besseres Wissen weggewischt wurden, hatte nichtnur bei mir, sondern auch bei vielen anderen zur Folge,dass die Umweltpolitik von Herrn Töpfer und später vonFrau Merkel an Glaubwürdigkeit verloren hat.Natürlich gab es aus der Sicht der Befürworter derKernenergienutzung einen plausiblen Grund für die Au-gen-zu-und-durch-Politik. Von Herrn Obermeier habenwir gerade die Wiederholung der Argumente gehört. Siewussten genau, dass für die Errichtung eines Endlagerskeine Zustimmung in der Bevölkerung zu erhalten war.Deshalb war das Endlager Morsleben im Gegensatz zuanderen Hinterlassenschaften in den Augen der Koalitionvon CDU/CSU und F.D.P. keine Erblast, sondern höchstwillkommen.Der Einigungsvertrag hat die Betriebsgenehmigungnicht unbefristet festgeschrieben, sondern nur bis zum31. Juni 2000. Wenigstens dieses Ergebnis hat die Debattein der Volkskammer gehabt. Ich habe gehofft, dass dieseDebatte einige Zweifel in den Köpfen hinterlässt. AberHerr Töpfer und später Frau Merkel haben die Chancenfür einen fachlich korrekten Schritt, nämlich die Einfüh-rung, die zügige Abarbeitung und Ermöglichung einesPlanfeststellungsverfahrens zur Überprüfung der Be-triebsgenehmigung des Endlagers und seiner geologi-schen Bedingungen und die Erarbeitung eines Konzeptesfür die Nachbetriebsphase trotz unserer Entschließungs-anträge und Anfragen im Parlament nicht genutzt. Auchdie Expertisen von Wissenschaftlern und die Haltung derLandesregierung in Sachsen-Anhalt haben kein Nachden-ken bewirkt. Es wurde schon nachgedacht, aber eher da-rüber, wie die Öffentlichkeit einzulullen sei und wie derDruck aus der Opposition und der Fachwelt zu entkräftensei. Dazu musste auch ein höchstrichterliches Urteil her-halten, in dem aber nur formalrechtlich der Fortbestandder Betriebsgenehmigung durch den Einigungsvertragfestgestellt wurde. Grundlage für die Urteilsbegründungwar keine fachliche Würdigung der Verhältnisse und derEinsprüche.Der Gipfel der Ignoranz gegenüber allen Warnungen– Herr Minister Trittin hat es auch schon festgestellt – war1998 die Entscheidung der Regierung Kohl mit der Um-weltministerin Frau Merkel, entgegen dem Einigungsver-trag durch die Atomgesetznovelle ohne jegliche fachlicheBegründung die Betriebsgenehmigung formal bis zumJahre 2005 zu verlängern. Kommen Sie mir nicht mit derMär, Herr Obermeier, das sei notwendig gewesen, damitschließlich ein Planfeststellungsverfahren für die Stillle-gung gemacht werden könnte. Dafür hätte es andere Wegeund frühere Zeitpunkte gegeben.
Zu dieser Mär passt überhaupt nicht die bundesauf-sichtliche Weisung an die Landesregierung von Sachsen-Anhalt, die gestoppte Einlagerung wieder aufzunehmen,die Frau Merkel verfügt hat. Sie haben sich über alleSicherheitsbedenken von Fachleuten hinweggesetzt undsie ignoriert, genauso wie Sie die Sicherheitsinteressender Bevölkerung ignoriert haben. Bis heute ignorieren Siesie, wenn wir die Rede von Herrn Obermeier ernst neh-men wollen.
Wahrlich, die Geschichte der Behandlung des Endla-gers Morsleben ist in der Phase der Verantwortung vonKohl, Töpfer und Merkel kein Ruhmesblatt der deutschenStrahlenschutz- und Atomsicherheitspolitik und gehörtnicht in die Erfolgsbilanz des Einigungsprozesses.
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Franz Obermeier12822
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von der F.D.P.-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Westerwelle
hat 1997 den Spruch geprägt, die F.D.P. und die Grünen,
das sei wie Aufklärung und Romantik. Das passt auch
auf den Gegenstand der heutigen Aktuellen Stunde, und
zwar deshalb, weil ich vonseiten der F.D.P., um unnötige
Panikmache zu vermeiden, jetzt erst einmal sage, was
das Bundesamt für Strahlenschutz als zuständige
Behörde und als Betreiber des Endlagers gerade gestern
mitgeteilt hat. Das BfS hat mitgeteilt, dass wegen der
Sperrung bestimmter Bereiche im betroffenen Südfeld
längst Sofortmaßnahmen getroffen worden sind. Durch
eineAnpassung der Belüftung sei sichergestellt, dass eine
gesundheitsgefährdende Freisetzung von radioaktivem
Staub nicht stattfinden kann, auch dann nicht, wenn
tonnenschwere Salzbrocken in dieser Minute abstürzen
sollten. Außerdem wird schon in wenigen Tagen mit der
Verfüllung der restlichen Einlagerungskammern begon-
nen. Die Standsicherheit des Südfeldes sei nicht gefähr-
det, auch eine gesundheitsgefährdende Situation bestehe
nicht. Das Planfeststellungsverfahren zur Verschließung
des Salzstocks läuft seit langem. – So viel zu den aktuel-
len Tatsachen, wie sie vom BfS, geführt von einem grü-
nen Behördenchef, dargestellt werden.
Die Sperrung des gesamten Endlagers Morsleben
gehörte übrigens im Eindruck einer gerichtlichen Eilent-
scheidung zu den letzten Amtshandlungen der damaligen
Bundesumweltministerin Merkel. Das Hauptverfahren
dazu ist zwar bis heute nicht abgeschlossen, aber die rot-
grüne Bundesregierung hat ja ohnehin entschieden, die
Einlagerung radioaktiven Abfalls dort nicht mehr aufzu-
nehmen. Diese Entscheidung halte ich durchaus für rich-
tig.
Eines sollte man dennoch festhalten, Herr Trittin: In
Morsleben lassen sich immerhin geeignete Sofortmaß-
nahmen ergreifen. Ich frage mich allerdings, welche So-
fortmaßnahmen Sie einleiten wollten, wenn sie bei Cas-
toren notwendig werden sollten, die auf der grünen Wiese
stehen, weil die Bundesregierung über kein tragfähiges
Endlagerkonzept verfügt.
Sie haben ohnehin ein gewisses Faible für Atom-
müllzwischenlager, Herr Trittin. Zwischenlager sorgen
aber nicht zuletzt mit Blick auf La Hague für ein ungutes
Gefühl. Dies haben wir gestern im Rahmen der Aktuellen
Stunde schon einmal diskutiert, und ich habe darauf hin-
gewiesen, dass noch eine ganze Menge Atommüll aus
Frankreich zurückgenommen werden muss.
– Es ist nett, dass Sie das dazwischenrufen, Frau Kollegin
Ganseforth. Ich will Ihnen noch einmal sagen, wer die
Verantwortung dafür trägt, dass das Zeug noch in Frank-
reich steht.
Das war nämlich nicht die alte Bundesregierung; sie hat
transportieren wollen. Verantwortlich, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, sind diejenigen, die
seinerzeit demonstriert haben, die die Transporte blo-
ckiert haben,
die sich auf Schienen angekettet haben. Dieser Bundes-
umweltminister war dabei; also ist er mitverantwortlich
dafür, dass diese Transporte nicht stattgefunden haben.
Sie sind also für diese unerträgliche Situation mitver-
antwortlich, Herr Trittin. Sie haben damals demonstriert.
Heute haben Sie die unbequemen Demonstrationsmär-
sche mit einem bequemen Ministersessel vertauscht. Aber
die Ziele, die Sie verfolgen, sind immer noch dieselben.
Wir kritisieren vonseiten der F.D.P. schon lange, dass
die dringend erforderliche Entsorgung von Atommüll
dem tagespolitischen Opportunismus von Rot-Grün ge-
opfert wird. Statt Atommüll unterirdisch an sorgfältig
dafür ausgewählten Stellen sicher zu lagern, erzwingt die
Bundesregierung oberirdische Provisorien ohne Rück-
sicht auf riskante Langfristfolgen.
Die Suche nach fragwürdigen Alternativen für die End-
lagerprojekte Schacht Konrad und Gorleben ist außerdem
eine groteske Geldverschwendung. Die F.D.P. hat deshalb
parlamentarisch beantragt, diesem Unsinn Einhalt zu ge-
bieten.
Die F.D.P. fordert Sie auf, Herr Minister Trittin, dem
Parlament ein schlüssiges Endlagerkonzept vorzulegen,
anstatt den Deutschen Bundestag mit Schuldzuweisungen
aufzuhalten, wo es keine Schuld zuzuweisen gibt.
Lassen Sie den Versuch, Ängste der Bevölkerung populis-
tisch zu nutzen, und tun Sie bitte endlich Ihre Arbeit.
Vielen Dank.
Das Worthat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der PDS-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bei einer Rückblende vergan-
gener Taten und Unterlassungen will ich namens der PDS
eingestehen, dass die Genehmigung von Morsleben im
Jahre 1986 durch die damals verantwortlichen Stellen der
DDR ein Fehler war. Es hätte erkannt werden müssen,
dass in einem weiträumig ausgehöhlten Kalibergwerk
schwer vorhersagbare Verformungen auftreten und Ein-
brüche von Schweben erwartet werden können. Ver-
gleichbare Erfahrungen wurden im damaligen Westen
auch im so genannten Versuchsendlager Asse gemacht,
das ebenso ein Kalibergwerk war. Nun droht der Absturz
der Decke über einer Einlagerungskammer.
Unzweifelhaft ist auch, dass sich die frühere Bundes-
regierung für den Betrieb des atomaren Endlagers Mors-
leben eingesetzt hat. So erteilte Bundesumweltministerin
Angela Merkel im Juni 1995 eine Weisung zum Weiter-
betrieb des Lagers, nachdem das Land einen teilweisen
Einlagerungsstopp verfügt hatte. Aber auch die Abge-
ordneten aus CDU/CSU und F.D.P. förderten den Wei-
terbetrieb. Durch die am 1. Mai 1998 in Kraft getretene
Atomrechtsnovelle wurde die Betriebsgenehmigung für
Morsleben um fünf Jahre, also bis zum 30. Juni 2005, ver-
längert.
Morsleben wurde auch von Atomanlagen genutzt, die
in SPD-geführten Ländern liegen. So genehmigte das
rot-grün regierte Nordrhein-Westfalen die Verbringung
von Abrissabfällen des AKWWürgassen nach Morsleben.
Die Bundesanstalt für Strahlenschutz hat unter Herrn
König die Zwischenlagerung von Abfällen, darunter Co-
balt-60-Strahlenquellen, legalisiert. Diese Abfälle dürfen
in Morsleben aber nicht endgelagert werden. Mit dieser
Legalisierung hat Herr König faktisch auf der besagten
„Unbedenklichkeitserklärung“, um die es in dieser Aktu-
ellen Stunde geht, aufgebaut. Ich fordere den Bundesum-
weltminister bei dieser Gelegenheit auf, die zwischenge-
lagerten Abfälle aus der Grube entfernen zu lassen. – Er
hat gerade genickt.
Auch wenn die Risse schon seit längerem bekannt sein
sollten, erscheinen mir Maßnahmen zur Abwehr der Ge-
fahr des Absturzes von 10 000 Tonnen Salzgestein in ei-
nen ungeordneten Haufen von Atommüllfässern plausi-
bel. Wenn die Fachleute der Bundesregierung auf
Gefahrenabwehr plädieren, dann kann ich zunächst nicht
anders, als der Bundesregierung Glauben zu schenken.
Auch ohne das Vorliegen von gesetzlich geforderten Plan-
unterlagen zum Abschluss der Grube muss mit den Si-
cherungsarbeiten unverzüglich begonnen werden.
Ich teile jedoch nicht die Auffassung von Sachsen-An-
halts Umweltminister Konrad Keller und seinem nieder-
sächsischen Kollegen Jüttner, dass – ich lese aus einer
Tickermeldung vor – die bisherigen Zeitpläne des Bun-
desamtes zur Stilllegung als zu langfristig bezeichnet wer-
den müssen. Keller und Jüttner monieren, dass das Plan-
feststellungsverfahren zur Verschließung des ehemaligen
Salzstocks bereits seit mehr als acht Jahren laufe.
Nach meinen Informationen ist es nämlich nicht so,
dass Antragsteller und Genehmigungsbehörde trödelten;
vielmehr haben sie eher über Zeitdruck zu klagen. Ein
Problem scheint zu sein, dass bisher keines der betrachte-
ten Verschlusskonzepte in Bezug auf seine technischen
Folgen hinreichend erprobt worden ist und dass die Ab-
wägung der günstigsten Variante deshalb Schwierigkeiten
macht.
Eine sorgfältige Abwägung ist jedoch erforderlich, da
im Rahmen der gesetzlich geforderten Beteiligung der
Bürger und der Träger öffentlicher Belange vertretbare
Planunterlagen öffentlich ausgelegt werden müssen. Ich
kann die Bundesregierung an dieser Stelle nur eindring-
lich davor warnen, im Zuge der Sicherungsmaßnahmen
die Öffentlichkeitsbeteiligung zu beschneiden. Der Ver-
dacht darf nicht aufkommen, dass hier ohne Beteiligung
einfach Fakten geschaffen werden sollen.
Zum Schluss: Das BfS ist gleichzeitig Aufsichts-
behörde und Betreiber von Morsleben. Es wäre zu über-
legen, ob diese Verantwortlichkeiten für die Zukunft nicht
getrennt werden.
Danke.
Jetzt hat
die Kollegin Steffi Lemke vom Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Sehrgeehrter Herr Präsident! Werte Kollegen und Kollegin-nen! „Morsleben ist sicher“ – mit dieser Durchhalteparolehaben uns CDU/CSU und F.D.P., an ihrer Spitze die ehe-malige Umweltministerin Merkel, jahrelang einzubläuenversucht, dass dort ein vollkommen sicheres Endlagerexistiert, in das man bedenkenlos radioaktiven Müll ein-lagern kann. Wer anderes sagte, dem wurde – wahl-weise – Panikmache, Unfähigkeit oder ideologische Ver-bohrtheit vorgeworfen.
Das eigentliche Problem dieser ganzen Geschichte warmeiner Ansicht nach aber, dass die alte Bundesregierungdas wider besseres Wissen getan hat. Frau Merkel war be-kannt, dass die ehemalige Betriebsgenehmigung ausDDR-Zeiten immer auf unsicheren Füßen stand. FrauMerkel wusste, dass es bereits zu DDR-Zeiten Sicher-heitsbedenken selbst von offiziellen Stellen gab. FrauMerkel wusste, dass die Gefahr von Wassereinbrüchenund Deckgebirgszusammenbrüchen nicht auszuschließenwar.
Dies war durch Gutachten belegt. Trotzdem wurdeMorsleben genutzt; trotzdem wurde in Morsleben einge-lagert. Trotzdem haben CDU/CSU und F.D.P. die Einla-
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gerung in Morsleben sogar massiv ausgeweitet und dieEinlagerung von schwachradioaktivem Material wurdeum mittelradioaktiven Müll erweitert. Noch im Jahre1998, als die Spatzen schon von den Dächern pfiffen, dassMorsleben Schäden aufweist, haben Sie mit einer bloßenGesetzesänderung ohne Sicherheitsüberprüfung entschie-den, die Genehmigung zur Einlagerung bis 2005 zu ver-längern. Das heißt, wenn es nach Ihnen gehen würde,würde heute dort immer noch lustig weiter eingelagertwerden und würden weiterhin alle Sicherheitsrisikenignoriert werden.
Frau Homburger, Sie haben sich ja um das Thema derheutigen Aktuellen Stunde fein säuberlich herumge-drückt. Sie haben zu dem Anteil Ihrer Fraktion an den Ent-scheidungen der damaligen Bundesregierung nichts ge-sagt.
Ich möchte Ihnen zur Auffrischung Ihres Gedächtnissesein Zitat Ihres ehemaligen Staatssekretärs im Umweltmi-nisterium, Hirche, vorlesen, der im April 1998 – nicht1970 oder sonst wann – hier im Deutschen Bundestag aus-geführt hat:Es liegen keinerlei Sicherheitsdefizite oder bedenk-liche Mängel vor, die zur Einstellung des Betriebesin Morsleben führen könnten.Andere Behauptungen wurden als falsch oder als Panik-mache abqualifiziert.Wir brauchen dieses Endlager,
– so lauteten die Ausführungen Ihres Fraktionsmitgliedesweiter –weil wir die Abfälle, die für dieses Endlager vorge-sehen sind, eben auch unterbringen müssen.
Von Sicherheitsüberprüfungen keine Spur.
Morsleben kam Ihrer Atompolitik so gelegen, weilman in grenznahem Gebiet in einem Endlager mittel- undschwachradioaktiven Müll einlagern konnte. Da die Ein-lagerung von Atommüll dort so einfach aussah, sollte derEindruck erweckt werden, dass irgendwann auch die Ent-sorgung von hoch radioaktivem Müll ohne Problememöglich sein würde und dass man dafür unproblematischein Endlager finden würde. Sie wussten, dass im ehema-ligen Grenzgebiet zwischen Ost und West der Widerstandgegen ein solches Lager eher gering sein würde. FrauMerkel als Ostdeutsche wusste sehr gut, dass in einer Re-gion mit hoher Arbeitslosigkeit kritische Fragen, Protesteoder gar der Widerstand gegen einen der größten Arbeit-geber vor Ort kaum zu erwarten waren.
Deshalb haben Sie Untersuchungen zur späteren Stillle-gung von Morsleben und damit zur Langzeitsicherheithinausgezögert, um die Sicherheitsprobleme dabei nichtöffentlich werden zu lassen.Herr Obermeier, wir wollen hier noch einmal klarstel-len: Nicht Frau Merkel hat den Einlagerungsbetrieb been-det, sondern er musste beendet werden, weil ein Gerichteiner Klage stattgegeben hat. Dadurch wurden Sie ge-zwungen, kurz vor der Bundestagswahl den Einlage-rungsbetrieb zu beenden.
Frau Merkel hat parallel angekündigt, den Einlagerungs-betrieb wieder aufzunehmen und fortzuführen. WährendIhrer Regierungszeit hat es kein Bewusstsein für die Si-cherheitsprobleme gegeben.
Hätte nicht Umweltminister Trittin nach dem Regie-rungswechsel den Einlagerungsbetrieb beendet, würdenSie heute dort noch weiter Einlagerungen zulassen. FürSie stellt es offensichtlich kein Problem dar, dass dort ir-gendwelche Bröckchen von der Decke gestürzt sind.
Wir stehen heute beim Endlager Morsleben vor zweigroßen Problemen: Erstens muss der akuten Einsturzge-fahr einiger Hohlräume im Endlager begegnet werdenund zweitens müssen wir die Aufgabe angehen, einSchließungskonzept für das Endlager zu erstellen, daslangfristig Sicherheit bietet. Das ist angesichts dieser ma-roden Anlage wirklich eine äußerst schwierige Aufgabe.Wir brauchen also einerseits Maßnahmen zur akuten Ge-fahrenabwehr. Diese hat der Präsident des Bundesamtesfür Strahlenschutz bereits angeordnet. Hier geht es nichtum akute Panikmache, Frau Homburger. Sie haben esüberhaupt nicht begriffen, dass wir in der Öffentlichkeiteine sehr sachliche und zielorientierte Diskussion führen.
Andererseits müssen diese Sofortmaßnahmen in Überein-stimmung mit dem langfristig bestmöglichen Schließkon-zept gebracht werden. Um diese Aufgabe beneide ich dieExperten beim Bundesamt für Strahlenschutz wirklichnicht.Die rot-grüne Bundesregierung wird diese Aufgabenmit Augenmaß, Verantwortungsbewusstsein und einer
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eindeutigen Orientierung am Sicherheitsbedürfnis vor-nehmen und vollenden.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Paul Laufs von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Diese Aktuelle Stundegehört zur finsteren Fortsetzungsgeschichte der irrationa-len Anti-Atom-Agitation, die zum rot-grünen Marken-zeichen geworden ist.
Das neue Katastrophengemälde, das von Morslebengezeichnet wird, hat nichts mit der Wirklichkeit und über-haupt nichts mit den Fakten zu tun.
Es geht wieder einmal allein um destruktive Stimmungs-mache in der Erwartung, dass diese von den Massenme-dien ignorant und wohlwollend verbreitet wird.Ich komme zu den Fakten. Das von Ihnen problemati-sierte Südfeld des Endlagers Morsleben – das sollten Sie,Herr Bundesumweltminister, wissen – wird seit Jahren in-tensiv geotechnisch überwacht. In den Hohlräumen diesesehemaligen Salzbergwerkes in rund 500 Metern Tiefewerden ständig Höhen-, Konvergenz- und Extensometer-messungen so wie Oberflächenradarmessungen durchge-führt. Es gibt außerdem eine mikroakustische Über-wachung. Es gibt die Beobachtung von Rissen mit ent-sprechenden Meßgeräten und Gipsmarken. Es wurdengeomechanische Modellrechnungen vorgenommen. DieErgebnisse aller dieser Untersuchungen sind bis heute un-bestritten und eindeutig:
Die großflächige Standsicherheit der Abbaue im Südfeldist langfristig garantiert. Diese Tatsache wird auch durchgelegentlich lokal auftretende Ablösungen von Steinsalz-brocken aus den Deckenbereichen nicht infrage gestellt,wie sie etwa durch Radarmessungen im März dieses Jah-res im Abbau 8 a, zweite Sohle möglicherweise zu erwar-ten sind. Die jetzt angekündigten Verfüllungen der Rest-hohlräume von zwei Einlagerungskammern ist von denFachleuten bereits 1996 empfohlen worden.Mit Ihrer Klage, Herr Trittin, können Sie vielleicht IhreAnhänger beeindrucken, aber nicht die sachkundigenKollegen hier in diesem Hohen Hause.
Vor einem Jahr, im Sommer 1999, hat die von Ihnen,Herr Minister Trittin, neu eingesetzte Reaktorsicherheits-kommission das Endlager Morsleben vor Ort besichtigt.Über die Befunde gibt es einen Bericht des BergamtesStaßfurt, der vom Bundesamt für Strahlenschutz akzep-tiert wurde. Niemand sah eine Veranlassung zum Han-deln, auch Sie nicht, Herr Trittin.
Wer erlaubt Ihnen eigentlich, wer gibt Ihnen das Recht,mit spitzem Finger auf Töpfer und Merkel zu zeigen?
Die Situation vor Ort ist seit Jahren unverändert. Auchheute stellt das Bundesamt für Strahlenschutz klar: Selbstwenn ungewöhnlich große Löser auf die dort lagerndenschwach und mittelradioaktiven Abfälle stürzen sollten,würde keine unzulässige Freisetzung radioaktiver Stäubein die Umgebung stattfinden.
Die Einlagerung von Abfällen in Morsleben wurdenicht von Ihnen, Herr Trittin, sondern noch vor der Bun-destagswahl 1998 aufgrund eines Gerichtsbeschlusseseingestellt,
der überhaupt nicht mit sicherheitstechnischen, sondernallein mit rechtlichen Defiziten begründet wurde.
– Ja, nicht mit sicherheitstechnischen Problemen, HerrTrittin.
Der Beschluss wurde mit rechtlichen Problemen be-gründet, die es gibt und denen man durch Einstellung derEinlagerung entsprechend Genüge tun musste.Meine Damen und Herren, der Zweck dieser wenig ak-tuellen Debatte ist wieder einmal der Versuch, das Argu-ment von der ungeklärten Endlagerung radioaktiver Ab-fälle zu bemühen. Mit diesem Argument wird derAusstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie be-gründet, was unlogisch und unsinnig ist;
denn die sichere Endlagerung
radioaktiver Abfälle ist eine Aufgabe, die auf jeden Fallgelöst werden muss,
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weil großen Mengen aus der Medizin, aus der Industrieund aus kerntechnischen Anlagen in deutschen und aus-ländischen Zwischenlagern verwahrt werden. Diese Auf-gabe ist lösbar und wir in Deutschland waren sehr nahe ander Lösung, als die Regierung Schröder/Trittin weitereFortschritte aus rein parteipolitischen Gründen verhin-derte.
So wird das unbestritten geeignete und fertig gestellteEndlager Konrad nicht in Betrieb genommen. Das wäredie Lösung für die Endlagerung schwach- und mittelra-dioaktiver Abfälle. Die Erkundungsarbeiten in Gorlebenwurden eingestellt.
Die Genehmigung für den Transport von abgebranntenBrennelementen und Glaskokillen aus Frankreich wirdverweigert, obwohl keine Sacheinwände dagegen vorge-bracht werden können. Nicht das Entsorgungskonzeptfrüherer Bundesregierungen, sondern Ihre Politik, HerrTrittin, ist unverantwortlich und in der Sache absolut in-kompetent.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrterHerr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehrgeehrter Herr Obermeier! Sehr geehrter Herr Laufs! Michwundert, dass Ihre Fachexpertin und Ex-Umweltministe-rin, Frau Merkel nicht hier ist und sich dieser Diskussionstellt.
Es wundert mich auch, dass noch kein einziger Kollegedanach gefragt hat. Aber schönen Dank, dann konnte ichdas tun. Vielleicht sitzt Frau Merkel in ihrem Büro undschaut zu; die heutige Debatte ist auch für sie gedacht.Morsleben – 381 Einwohner, ein idyllisch gelegenesDorf im Allertal. Dieses Dorf ist Teil des Ohre-Kreises,des Landkreises, aus dem auch ich komme. Der Ort istbundesweit bekannt, aber nicht, weil Morsleben eben einso kleines, schönes Dörfchen ist, sondern weil diese un-selige Geschichte des Atomendlagers durch ganzDeutschland geistert.In der DDR war Morsleben im Bereich des Sperrge-bietes. Das heißt, ich selbst kannte dieses Dorf nur vomHörensagen; ich konnte dieses Dorf zu DDR-Zeiten nichtkennen lernen. Als 1970 Morsleben aus neun verschiede-nen Gruben als Endlager ausgewählt wurde, sind die Bür-gerinnen und Bürger des Ortes nicht gefragt worden. Daswar zu DDR-Zeiten eben so.Nach der Wende war die Bundesregierung froh, end-lich einen Ort für atomare Abfälle „beigetreten“ bekom-men zu haben.
– Ja, genauso ist das. Welch glücklicher Zufall, kann manda nur sagen. Natürlich wurde weiter eingelagert; der Ei-nigungsvertrag gab das schon her. Die Bevölkerungwurde nicht gefragt. Das war eben wieder so.Alle Bedenken und alle Einwände des Umweltministe-riums von Sachsen-Anhalt wurden ausgehebelt. FrauMerkel, die Fachfrau für atomare Endlagerung, schlugGutachten und Expertenmeinungen in den Wind und ent-schied: Das Endlager ist sicher, keine Gefahr. Sie schafftees sogar, die Parteikollegen vor Ort zu überzeugen, sodassauch unser Landrat in Morsleben einfuhr und sagte: keinefeuchten Stellen; das Endlager ist sicher. Selbstredend istauch er Fachmann für Atomendlager, ganz logisch.Was haben die Menschen in Morsleben getan? Die ha-ben gehört, was sie hören wollten. Das ist vorhin schoneinmal angesprochen worden. Die Arbeitsplatzsicherungstand nämlich im Vordergrund. Das war eine ganzmenschliche Regung, die ich auch verstehen kann. Siehaben das Wort „Sicherheit“ gehört und haben es auch soaufgenommen.Wir haben gestern Abend in Morsleben eine öffentlicheBürgerveranstaltung durchgeführt. Unserer Einladungfolgte neben dem Umweltminister aus Sachsen-Anhaltauch der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz,Wolfram König, der heute hier ist.
Die Stimmungslage gestern Abend war eine ganz andereals noch vor ein oder zwei Jahren. Damals galt nämlichder Arbeitsplatzerhalt; aber gestern Abend sind in denFragen auch die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger zu-tage getreten.
– Was heißt: „Da seid ihr erfolgreich“? Nicht nur da, HerrObermeier.
Bürgerinitiativen, kritische Fachleute, Umweltverbände,Gutachten – die alte Regierung hat alles in den Wind ge-schlagen. Niemand hat sich mit den Folgen auseinandergesetzt, auf Kosten der Bevölkerung und auf Kosten derMitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Endlagers Morsle-ben. Das werfe ich der alten Regierung und Frau Merkelvor.Nicht Unwissenheit führte dazu, dass wir heute mit derEinsturzgefahr zu kämpfen haben. Nein, so ist es nicht. Inder Zeit von Sommer 1995 bis zum Regierungswechsel
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1998 sind alle Verfügungen, die das Land Sachsen-Anhaltausgesprochen hat, von Frau Merkel außer Kraft gesetztworden. Frau Merkel hat wider besseres Wissen gehan-delt.
Sie ist ein zu großes Risiko eingegangen – auf Kosten ih-rer Mitmenschen.
Mir persönlich läge an einer Aufarbeitung dieser Vor-gänge und auch der gutachterlichen Stellungnahmen.Ich bin froh und dankbar, dass Umweltminister Trittinmit Schreiben vom 4. Mai dieses Jahres alle diese Anwei-sungen außer Kraft gesetzt hat. Nun kann – fast schon zuspät – das Land Sachsen-Anhalt mit dem Bundesamt fürStrahlenschutz gemeinsam an die Bewältigung des Scha-dens gehen. Ich hoffe, dass ab kommenden Montag dieschon angesprochenen vorgezogenen Verfüllmaßnahmendurchgeführt werden.Ich möchte ganz deutlich sagen: Hier ist Gefahr imVerzuge. Es geht um Gefahrenabwehr. Es handelt sichnicht um eine Gefahr, die eventuell eintreten könnte, son-dern es handelt sich um eine Gefahr – da können Sie denPräsidenten des Bundesamtes für Strahlenschutz fragen –,die im Verzuge ist. Das muss deutlich gesagt werden.
Kommen
Sie bitte zum Schluss.
Zum Schluss
habe ich die Bitte, dass alle notwendigen Unterlagen, die
für das Planfeststellungsverfahren erforderlich sind und
die der Bund liefern muss, dem Land Sachsen-Anhalt un-
verzüglich zur Verfügung gestellt werden, und zwar zum
Wohle der Bürgerinnen und Bürger von Morsleben und
auch der gesamten Region.
Schönen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulrich Klinkert von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Es ist gewährleistet,dass aus dem Endlager Morsleben keine unzulässige Frei-setzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung stattfindet.Die Standsicherheit des Südfeldes wie des gesamtenBergwerkes ist nicht gefährdet. – Diese Erkenntnis ausjüngster Zeit stammt nicht von mir, sondern vom Präsi-denten des Bundesamtes für Strahlenschutz, WolframKönig, der sich auf wissenschaftliche Untersuchungendes BfS und der Bundesanstalt für Geowissenschaftenund Rohstoffe stützt. Wenn dem so ist, woran kein Zwei-fel besteht, dann muss ich feststellen, dass der Bundes-umweltminister im Zuge Panikmache hier und heute demParlament die Unwahrheit gesagt hat.
Wenn man die Worte des Präsidenten des BfS, HerrnKönig, hört, dann fragt man sich allerdings: Warum dieseAufregung? Dafür gibt es eine einfache Erklärung: HerrKönig ist nämlich in eine von ihm selbst aufgestellte Fallegetappt. Die Erkenntnis, dass es Risse im Südfeld gibt– übrigens weit oberhalb der infrage kommenden Einlage-rungsräume und auch noch seitlich versetzt, sodass dieseRäume nicht betroffen sein können –, ist überhaupt nichtneu. Diese Risse und mögliche Lösen werden von den Fach-leuten als gefahrlos beherrschbare Erscheinung angesehen.Nicht neu ist auch, dass schon lange geplant ist, die dreiEinlagerungsräume zu verfüllen bzw. – wie der Bergmannsagt – zu versetzen. Diese Maßnahme ist vom BfS – übri-gens lange bevor Herr König dort Präsident wurde – in dieWege geleitet worden. Unbekannt ist vielleicht die Tatsa-che, dass sich das damals grün-geführte Umweltministe-rium des Landes Sachsen-Anhalt immer gegen einen sol-chen Versatz gesperrt hat und die dafür notwendigenGenehmigungen verweigert hat.Interessant ist ferner, dass Herr König selbst in diesemsachsen-anhaltinischen Umweltministerium als Staatsse-kretär gearbeitet hat, also für diese Verweigerung auchpersönliche Mitverantwortung tragen muss. Man hättefolglich schon längst und in Ruhe, spätestens aber seit1998, verfüllen bzw. versetzen können. Wie gesagt: DieRisse stellen keine akute Gefahr dar; sie sind spätestensseit 1996 bekannt.
Dann wollte Herr König in seiner Eigenschaft als Prä-sident des BfS offensichtlich Entschlossenheit undDurchsetzungsvermögen dokumentieren und den Versatzeinleiten. Nebenbei wollte er – dagegen ist nichts zu sa-gen – die dort Beschäftigten mit dieser Aufgabe betrauen,weil durch die Verweigerungshaltung der Landesregie-rung erstens das Einlagern nicht mehr möglich ist undzweitens auch ein Versatz nicht mehr durchgeführt wer-den kann.Nach dem Motto „Die Geister, die ich rief, werd’ ichnun nicht wieder los“ hat die sachsen-anhaltinische Lan-desregierung die Genehmigung für einen Versatz weiter-hin nicht erteilt. Um dennoch tätig werden zu können,musste eine Gefahr für die Bergsicherheit konstruiert wer-den. Dabei hat Herr König im Rückgriff auf altbekannteTatsachen völlig überzogen; im Übrigen hat er wahr-scheinlich nicht mit der Reaktion der Medien gerechnet.Die Panikmache hat dazu geführt, dass die Medien ihn mit„akuter Einsturzgefahr“, „Wassereinbruchsgefahr“ undanderen Katastrophenszenarien zitieren, die dann wie-derum zur Verunsicherung der Bevölkerung vor Ort ge-führt haben.
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Waltraud Wolff
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Um diese Verunsicherung wenigstens etwas zu egali-sieren und den von ihm angerichteten Schaden ein wenigauszugleichen, ist Herr König gestern nach Morsleben ge-fahren. Ich habe zwar noch nichts gehört, hoffe aber sehr,dass er die Situation ein wenig realistischer dargestellthat,
dass er gesagt hat, dass keine Gefahr des Austretens un-zulässiger Konzentrationen besteht, dass die Salzbarrieredes Endlagers sicher ist, dass es nicht zu akutem Herab-fallen von großen Lösen mit Einwirkungen auf die end-gelagerten Stoffe kommen kann und dass auf keinen Falldie Gefahr eines Einsturzes des Bergwerkes bzw. von Tei-len des Bergwerkes besteht.Herr König sollte auch darstellen, dass die sachsen-an-haltinische Landesregierung den Versatz sowohl vor demRegierungswechsel als auch danach zunächst verweigerthat und dass die unseriöse Panikmache zu einer Verunsi-cherung der Bevölkerung geführt hat. Aber es hat ja beiRot-Grün Methode, dass man versucht, die Kernenergie-nutzung durch die Blockade des Entsorgungspfades unddurch Panikmache insgesamt zu diskreditieren.
Insgesamt betrachte ich diese Aktuelle Stunde als Ei-gentor von Rot-Grün.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in derTat schade, dass man keine ehemalige Ministerin herbei-zitieren kann, damit sie sich ihrer Verantwortung stellt.
Denn es war die ehemalige Umweltministerin und heutigeCDU-Chefin Frau Merkel,
die das Atomlager gegen alle Kritik, die es schon damalsgab, und alle Analysen verteidigt hat, obwohl sie gewarntwar. Sie hat immer wieder alles abgebügelt, indem sie ge-sagt hat: Morsleben ist sicher. Sie hat den Weiterbetriebohne neues Genehmigungsverfahren bis 2005 durchge-setzt und ist – das möchte ich hier nochmals sagen – erstdurch einen Gerichtsbeschluss gestoppt worden. Es hatdes Regierungswechsels bedurft,
damit ein neuer Umweltminister, nämlich Umweltminis-ter Trittin, die Bundesweisung von Frau Merkel zurück-nehmen konnte.
Wenn sich Frau Merkel und Herr Hirche ihrer Verant-wortung hier nicht stellen, so sind heute wenigstens dieehemaligen parlamentarischen Staatssekretäre Herr Laufsund Herr Klinkert da, die beide die Verantwortung mitzu-tragen haben. Nur, wie sie das hier tun, verschlägt mirwirklich schlichtweg die Sprache.
Mir wird noch nachträglich angst und bange, wenn ich mirüberlege, dass solche Menschen wie Sie
Verantwortung für die Sicherheit von Atomkraftwerken,für die Sicherheit von Transporten und für die Sicherheitvon End- und Zwischenlagerstandorten getragen haben.
Wenn Sie es normal finden, dass Teile des Lagers– Gott sei Dank nicht das ganze Lager – zusammenbre-chen, und wenn Sie es normal finden, dass dort zentime-tergroße Risse auftreten,
und uns Panikmache vorwerfen, wenn wir sagen, dass dajetzt etwas getan werden muss, dass gehandelt werdenmuss, dass man es gar nicht so weit hätte kommen lassendürfen,
dann kann ich nur sagen: Sie haben es noch immer nichtkapiert.
Das wirft die interessante Frage auf: Warum ist es dennbei Ihnen immer so, dass Sie die Gefahren verharmlosen?
Das tun Sie ja nicht nur bei Morsleben, sondern auch beider Wiederaufbereitung, die im Prinzip eine illegale Zwi-schenlagerung ist, die Sie befördert haben.
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Ulrich Klinkert12829
Das tun Sie auch in Bezug auf Gorleben, auf den SchachtKonrad und auf Asse.Ich nehme einmal das Beispiel Gorleben, weil Sie indem Zusammenhang immer sagen: Wir haben doch ei-gentlich ein Endlager. Viele Wissenschaftler sagen, Gor-leben sei nicht für die Lagerung von radioaktivem Müll,der dort im Umfang von 10 000 Tonnen eingelagert wer-den soll, geeignet.
Denn aufgrund mikrobieller anaerober Tätigkeiten könn-ten sich Gase entwickeln, die dieses Gestein nicht durch-lässt,
was zu Rissen führen könnte. Das Deckgebirge könntedann nicht mehr ausreichen.
– Das ist für Sie natürlich wieder Panikmache, weil Sieverharmlosen. Dies müssen Sie tun, weil Sie in Bezug aufdie Atomkraft kein Entsorgungskonzept haben.
Sie mussten die Wiederaufbereitung, die im Prinzipeine illegale Zwischenlagerung ist, genehmigen, weil Sieansonsten keinen Entsorgungsnachweis hätten vorlegenkönnen.
Obwohl es berechtigte Zweifel an der Geeignetheit vonGorleben gegeben hat, haben Sie die Erkundung nur des-halb weiter betrieben, weil Sie sonst keinen Entsorgungs-nachweis gehabt hätten.
Ihr gesamtes Gebäude der Pro-Atomkraftpolitik wäre wieein Kartenhaus in sich zusammengefallen, wenn Sie nurden geringsten Zweifel an der Sicherheit von Morslebenbzw. Gorleben oder an der Wiederaufbereitung zugelas-sen hätten.
Das ist der Grund dafür, dass Sie in dieser Art und Weiseverharmlosen, wie Sie es tun.
Ich kann nur feststellen: Es wurde Zeit, dass Menschenan die Regierung kommen, die nicht verharmlosen unddie nicht ideologisch verblendet sind, sondern sich ernst-haft Gedanken um die Sicherheit der Atomkraft und umdie Entsorgung des Mülls machen
und versuchen, die Fehler, die Sie gemacht haben, wiedergutzumachen.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Ganseforth von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKollegen und Kolleginnen! Es gibt viele Gründe dafür,dass sich der Regierungswechsel gelohnt hat. Die heutigeDebatte hat mir einen weiteren deutlich gemacht: Es istunverantwortlich, was ich von Ihrer Seite gehört habe, alsstimme es gar nicht, dass das Lager Morsleben nicht fürAtommüll geeignet ist und auch nie gewesen ist.Das ist das Thema, mit dem wir uns heute befassenmüssen, und nicht die Verfüllung oder sonst etwas. Dassdas Ministerium in Bezug auf Morsleben mit großer Ver-antwortung vorgeht, damit die Menschen keine Angst ha-ben müssen, das hat nichts damit zu tun, dass es unver-antwortlich war und ist, in dieses Bergwerk Atommülleinzulagern.
Wir haben es hier wieder mit einer der üblichen Altlas-ten zu tun. Hier besteht sogar eine doppelte Altlast: eineAltlast aus der ehemaligen DDR, die nahtlos von der Re-gierung aus CDU/CSU und F.D.P. fortgeführt worden ist.Sie haben ja immer das fortgeführt, was in Ihr Konzeptpasste, während Sie andererseits alles andere, was dieKommunisten gemacht haben, furchtbar fanden. Wenn esaber in Ihr Konzept passte, war es immer vom Besten. Siehaben das dann unbesehen und in unverantwortlicherWeise übernommen.
Dabei gab es von Anfang an große Bedenken gegen dieLangzeitsicherheit von Morsleben. Dort hätte nie Atom-müll gelagert werden dürfen.
Zum Beispiel haben Wissenschaftler des Brennstoffinsti-tuts in Freiberg im Erzgebirge schon in den 70er-Jahren ineinem offiziellen Zwischenbericht im Zusammenhangmit einer staatlichen Sicherheitsstudie formuliert – jetztsollten Sie zuhören –:Der zentrale Teil der Grube lässt wahrscheinlichkeine ausreichende Standsicherheit erwarten.Das war damals schon bekannt.
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Michaele Hustedt12830
Trotzdem hat die ehemalige DDR ab 1986 mit der Ein-lagerung von Atommüll begonnen. Das ist schlimm ge-nug. Unverantwortlich ist aber, dass Sie das nach der Ver-einigung nahtlos fortgesetzt haben.
Schon am 2. Oktober 1990 hat das Bundesumweltminis-terium verfügt,
dass das Endlager Morsleben ab 3. Oktober als „Anlagedes Bundes“ weiterbetrieben wird. Die RegierungKohl – verantwortlich war Frau Merkel – hat sogar nochversucht, eine Verlängerung des Betriebes bis zum Jahre2005 durchzusetzen. Gerade Frau Merkel hätte doch auseigener Erfahrung wissen müssen, wie in Ostdeutschlandmit Sicherheitsstandards umgegangen, wie wenig dortauf die Bevölkerung Rücksicht genommen und wie vielgeheim gehalten worden ist. Aber wenn es ins Konzeptpasst, dann wird es nicht mehr wie sonst bei jeder Gele-genheit angeprangert, sondern aus ideologischen Grün-den einfach in Kauf genommen. Sie haben es ja heuteauch gesagt: Sie mussten irgendwo hin mit dem Atom-müll. Sie haben also die Augen zugedrückt und die Ge-nehmigung des Unrechtsregimes einfach übernommen.
Wie verblendet muss man sein, ja wie leichtfertig undfahrlässig, so etwas zu machen und so mit der Sicherheitder Menschen umzugehen!
Das richtet sich nicht nur an die Regierung Kohl,Merkel & Co. – von ihr sitzen hier einige –, sondern ichfinde auch, dass die Genehmigungsbehörden und die Ex-perten in den Ministerien dafür zur Rechenschaft gezogenwerden müssten oder sich fragen lassen müssten, ob siewirklich alles berücksichtigt haben und ob sie nicht aufWeisung von oben in vorauseilendem Gehorsam das eineoder andere unterstützt haben. Es gab genug Warnungen.Die Regierung von Sachsen-Anhalt hat sich gewehrtund versucht, die Sicherheitsinteressen der Bevölkerungin den Mittelpunkt zu stellen.
– Doch. Frau Merkel hat per Weisung die Lagerung vonAtommüll durchgesetzt. Es kam Atommüll aus Gund-remmingen, von Isar 1 und Isar 2, aus dem Versuchs-atomkraftwerk Kahl, aus Würgassen, aus Hamm-Uen-trop usw. Es sind Atommüllmengen in das Lagerhereingekommen – der Minister hat es gesagt –, die mehrwaren als zu Zeiten der DDR. Erst mit dem Regierungs-wechsel wurde ein Schlussstrich unter diese unverant-wortliche Praxis gezogen.
Natürlich haben die Gerichte auch etwas dazu gesagt.Aber es sind acht Jahre verloren gegangen, und es wurdeweiter Atommüll eingelagert. Das hätten wir nicht ge-macht. Der eingetretene Schaden ist groß genug. Manmuss sich das einmal vorstellen: Die Salzbergwerke sindüber 100 Meter lange Hallen, 25 Meter hoch; das sindRiesenhallen. Da ist die Standsicherheit nicht gegeben, eskönnen die Brocken herunterfallen, es sind Risse drin.
Als wir gesagt haben, dass wir damit aufhören, kamvon Ihrer Seite – auch heute haben Sie das wiederholt –die Frage, welche neuen fachlichen Erkenntnisse dahintersteckten. Herr Laufs hat es wiederholt: Es ist alles in Ord-nung, man könnte so weitermachen. – Das zeigt, wieignorant Sie sind.
Die Zeiten der leichtfertigen Weisungen und dieser Ge-nehmigungen sind vorbei. Wir von der SPD und vomBündnis 90/Die Grünen werden uns – anders als die Re-gierung Kohl, Merkel & Co. – frei von ideologischenFestlegungen und ohne Abstriche bei der Sicherheit, andie Lösung der Aufgabe der Endlager machen.Schönen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Klaus
Lippold von der CDU/CSU.
HerrPräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wirhaben von der früheren DDR-Regierung,
von der SED-Politik in Sachen Kernenergie ein schlim-mes Erbe übernommen.
Unter unserer Regierung mit ihrer verantwortungsvollenPolitik sind wir darangegangen, das zu ändern.
Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, Frau Ganseforth,dann hätte der DDR-Staat fortbestanden und dann hättenwir diese Risiken heute noch.
Wir haben das beendet, Das sage ich, damit das klar ist!
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Monika Ganseforth12831
Jetzt will ich Ihnen sagen: Wir haben die unsicherenReaktoren in Greifswald abgeschaltet. Dazu haben Sie nieetwas gesagt.
Wir haben Wismut mit einem Riesenaufwand saniert undwir haben dafür gesorgt, dass auch von Morsleben keineGefahr für die Bevölkerung ausgeht.Ich will auch hier noch einmal in aller Deutlichkeit sa-gen: Sie greifen wieder auf die alte Politik der Panikma-che zurück. Man sieht es ja auch bei der Besetzung derGrünen hier und heute.
Herr Loske, der gesagt hat: „Wir müssen zu einer an-deren Politik kommen und dürfen nicht immer die Leutemit Katastrophen verängstigen,
insbesondere dort, wo sich dies nicht halten lässt“, er istheute nicht hier. Heute sitzen hier die, die mit den Ängs-ten der Bevölkerung spielen, die Katastrophen an dieWand malen, obgleich die Experten sagen, dass es keineGefährdung gibt.
Machen wir uns nichts vor: Experten sind doch nichtFrau Hustedt und nicht Frau Ganseforth und Experte istauch nicht Herr Trittin. Die Experten sitzen in der Reak-tor-Sicherheitskommission. Sie haben bestätigt, dass dasVorgehen verantwortungsvoll ist. Die Experten sitzen imBundesamt für Strahlenschutz. Auch die haben das überdie ganzen Jahre hinweg bestätigt. Die Experten sitzen imzuständigen Bergamt. Auch sie haben gesagt, es gebekeine Gefährdung. Sie wollen mit der alten Masche derVerängstigung Politik machen.
Sie wollen von den Schwächen Ihrer derzeitigen Politikablenken. Das ist der Punkt.
Wenn sich der Minister darauf versteift, das Endlager-konzept der alten Bundesregierung sei gescheitert, dannist dies eine Form der Heuchelei, die wirklich nicht zuüberbieten ist. Erst tun Sie alles, damit das Endlagerkon-zept nicht zum Tragen kommt, und hinterher sagen Sie, essei noch nicht realisiert. – So geht es nicht, Herr Trittin.Das ist Heuchelei. Sie lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Sie brauchen sich gar nicht so gelassen zurückzuleh-nen, als sei das alles irrelevant. Das hat auch Herr Klimmtgemacht, bis der Kanzler gesagt hat, er stütze ihn. Irgend-wann wird er auch Sie stützen. Ich sagte ausdrücklich:stützen. – Die Folge ist die gleiche.
Ein weiterer Punkt. Ausgerechnet dieser Minister, derdas Endlagerkonzept für gescheitert erklärt, fängt auf ein-mal an, Transportbehälter auf die grüne Wiese zu stellen,nennt das Zwischenlager und sagt dann noch, die anderenseien dafür, dass die Bevölkerung ein Risiko erduldenmuss. Wenn sichere Endlagerkonzepte nicht hinreichendsind, wieso reden Sie dann von Zwischenlagern? Heutehaben Sie sich verplappert. Sie haben gesagt, Sie wolltenbei den Kraftwerken die direkte Endlagerung. Da siehtman es doch: Sie haben das Endlagerkonzept abgeschrie-ben. Sie wollen den Leuten in den Dörfern die Containerauf die grüne Wiese stellen. Das ist Ihre Form vonSicherheitsphilosophie.
Ich bin gespannt, Herr Trittin, was die Anti-Kernkraft-Bewegung von Ihrer Philosophie vor Ort halten wird,wenn Sie mit den dezentralen Zwischenlagern, die Sie zuEndlagern machen wollen, anfangen.
Dafür werden Sie die Quittung bekommen.
Bei einem Thema wie dem heutigen wollen Sie doch nurIhrer eigenen Klientel signalisieren, Sie seien noch aufdem Anti-Kernkraft-Pfad. Der Kanzler hat Ihnen in dieserFrage mehrfach das Rückgrat gebrochen. Die Kernkraftwird zu Recht weitergeführt, weil sie sicher ist.
Wir werden mit dem unsinnigen Beschluss, aus der Kern-kraft auszusteigen, nach der nächsten Wahl Schluss ma-chen. Damit werden wir eine vernünftige Klimaschutzpo-litik erreichen,
die Sie nicht garantieren können, weil Sie auf den falschenFeldern und auch mit einer falschen Politik arbeiten.Herzlichen Dank.
Als letz-ter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege UlrichKasparick von der SPD-Fraktion das Wort.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Dr. Klaus W. Lippold
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Herr Präsident! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der
CDU! Herr Dr. Laufs, wir haben gestern in der Energie-
Enquete-Kommission mit Ihrem verehrten Kollegen Pro-
fessor Töpfer zusammengesessen, dem Leiter des Um-
weltprogramms der Vereinten Nationen. Es war für mich
eine Wohltat, Herrn Töpfer zuzuhören. Nach dem, was ich
von Ihnen erleben musste, möchte ich Ihnen dringend
empfehlen, einmal einen Töpfer-Kurs zu belegen.
Seine Beiträge waren um Welten besser als das, was
Sie heute hier vorgetragen haben. Ich will Sie kurz zitie-
ren. Sie haben uns, Herr Dr. Laufs – ich kenne Sie aus der
Energie-Enquete-Kommission, das war unter Ihrem Ni-
veau, das können Sie besser –, irrationale Anti-Atom-Agi-
tation vorgeworfen.
Es ist völlig unter Ihrem Niveau, solche Vorwürfe zu ma-
chen, noch dazu, wenn sie nicht belegt werden.
Herr Klinkert hat gesagt: Das ist alles nicht neu. Wir
wissen das alles. Die Risse stellen keine akute Gefahr dar.
Das ist alles erfunden.
Das ist alles Panikmache. – Das Schönste war für mich,
dass er den Präsidenten des Bundesamtes, der hier heute
die ganze Zeit sehr aufmerksam zuhört, angreift
und ihm vorwirft, dass er, der als Staatssekretär im Um-
weltministerium in Magdeburg derjenige gewesen ist, der
am engagiertesten für die Schließung gekämpft hat, das
ganze Verfahren verzögere. Das ist reichlich unver-
schämt.
Ich will deshalb einen weiteren Punkt aufgreifen. An
Argumenten ist schon viel genannt worden. Worum geht
es? Es geht um 10 000 Kubikmeter mittelradioaktives
Material, das noch nicht einmal gestapelt ist, sondern aus
20 Meter Höhe einfach in den Berg geworfen worden ist.
Das liegt jetzt dort unten und es besteht die Gefahr, dass
Salzbrocken darauf fallen und radioaktiver Staub entsteht.
Das ist die Gefahr, um die es geht. Trotzdem sagen Sie
hier: Es ist alles harmlos, wir wissen das seit Jahren. Sie
zitieren die berühmten Experten, auf die ich noch einmal
zu sprechen kommen wollte. Sie behaupten, diese Exper-
ten hätten Ihnen gesagt, alles sei sicher.
Sie haben damals selber das Bundesamt für Strahlen-
schutz gebeten, ein Gutachten in Auftrag zu geben. Seit
1994 wissen Sie, dass Wasser eintreten kann. Was machen
Sie denn mit den Gutachten dieser Experten? Sie wischen
sie einfach vom Tisch. Das ist Ihr Problem. Sie nehmen
die Gutachten nicht ernst.
Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, bin ich
richtig zornig geworden: Wir müssen nämlich Ihren Müll
wegräumen,
den Müll einer verfehlten Energiepolitik. Das, was da
liegt, ist der Müll Ihrer verkehrten Energiepolitik. Wir
sind ausgesprochen dankbar dafür, dass damit jetzt end-
lich Schluss ist und dass wir in Deutschland einen ver-
nünftigen Energiepfad gehen. Ich wünsche mir – das be-
trifft insbesondere die beiden früheren Parlamentarischen
Staatssekretäre –: Lassen Sie uns doch einmal zur Sache
reden. Kommen Sie nicht immer mit den Argumenten, wir
würden eine irrationale Anti-Atom-Diskussion führen.
Es geht um ein Gefährdungspotenzial, nämlich um
10 000 Kubikmeter strahlendes Material, das verkippt im
Berg liegt und gesichert werden muss. Ich bin dem Um-
weltminister und dem Bundesamt für Strahlenschutz sehr
dankbar, dass sie jetzt endlich die notwendigen Schritte
einleiten.
Die Aktu-elle Stunde ist beendet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 a bis c auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Forsten
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungAgrarbericht 2000Agrar- und ernährungspolitischer Berichtder Bundesregierung– zu dem Entschließungsantrag der Fraktion derCDU/CSU zu der Unterrichtung durch dieBundesregierungAgrarbericht 2000Agrar- und ernährungspolitischer Berichtder Bundesregierung– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-ten Matthias Weisheit, Brigitte Adler, Ernst Bahr,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, SteffiLemke, Kerstin Müller , Rezzo Schlauchund der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNENzu der Unterrichtung durch die BundesregierungAgrarbericht 2000Agrar- und ernährungspolitischer Berichtder Bundesregierung– Drucksachen 14/2672, 14/3380, 14/3391,14/4236 –Berichterstattung:Abgeordnete Meinolf MichelsMarita Sehn
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b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Einführung einer Vergütung der Mineralöl-
– Drucksachen 14/4218, 14/4294 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht desFinanzausschusses
– Drucksache 14/4616 –Berichterstattung:Abgeordneter Norbert Schindler
– Drucksache 14/4619 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans Jochen HenkeHans Georg WagnerOswald MetzgerDr. Günter RexrodtDr. Uwe-Jens Rösselc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Forsten zu dem Antragder Abgeordneten Ulrich Heinrich, Marita Sehn,Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P.Tanken von eingefärbtem Agrardiesel unbüro-kratisch ausgestalten– Drucksachen 14/3105, 14/4605 –Berichterstattung:Abgeordneter Holger OrtelZum Agrardieselgesetz liegt ein Änderungsantrag derPDS-Fraktion vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Kol-lege Holger Ortel von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Präsident, mit Ihrer freundli-chen Erlaubnis darf ich einige Gäste, die diese Debatteverfolgen, herzlich begrüßen, zum Beispiel den Ge-schäftsführer des niedersächsischen Landvolkes, HerrnDr. Sohn, Herrn Scholten, den Präsidenten der Landwirt-schaftskammer Weser-Ems, Herrn Hensel, den Vizepräsi-denten der Landwirtschaftskammer Hannover, und denKreislandwirt Kai Seeger aus dem Landkreis Oldenburg.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heutein verbundener Debatte über den Agrarbericht 2000 unddas Agrardieselgesetz. Ich möchte diese Beratung etwasechs Wochen vor dem Jahreswechsel in den Zusammen-hang folgender aktueller Themen von grundsätzlicher Be-deutung stellen:Erstens. Die seit Jahren andauernde BSE-Krise hatsich dramatisch zugespitzt. In Frankreich häufen sich dieBSE-Fälle. Die dortige Bevölkerung verzichtet auf denVerzehr von Rindfleisch, seitdem das Fleisch aus einerHerde, in der BSE festgestellt wurde, in Verkehr gelangtist. Die Regierung hat ein Bündel von Maßnahmen be-schlossen, wobei ich vor allem auf das vorläufige Verbotder Tiermehlverfütterung hinweisen möchte.Spanien hat ein nationales Einfuhrverbot für Rinderaus Frankreich erlassen.
Auch in Österreich und Italien überlegt man sich solcheSchritte. Die gemeinsame Agrarpolitik droht wegen desBSE-Skandals auseinander zu brechen. In Frankreich istder Rindfleischmarkt zusammengebrochen. Die Preisefür die Erzeuger sind drastisch zurückgegangen. Das darfbei uns nicht passieren.Deshalb bitte ich die Bundesregierung, im Interessedes Verbraucherschutzes, aber auch zum Schutze derLandwirte zu handeln. Beschließen Sie, Herr Bundesmi-nister Funke, im Agrarrat am Montag mehr Tests zumSchutz der Verbraucher. Sorgen Sie dafür, dass für denUmgang mit Tiermehl EU-weite Beschlüsse gefasst wer-den und prüfen Sie die Forderungen des EuropäischenParlaments nach einem Verfütterungsstopp. Wenn dieSchutzmaßnahmen EU-weit verschärft werden, brauchenwir keine nationalen Einfuhrverbote.Zweitens. Im Zusammenhang mit dem Schutz vor BSEund dem drohenden Rückfall in nationalstaatliches Han-deln fordere ich die EU-Kommission und die Regierun-gen der Mitgliedstaaten auf, in der Europäischen Unionvergleichbare Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Esist nicht hinnehmbar, dass die Mitgliedstaaten bei derFestsetzung von Steuersätzen für Energie nahezu völligeFreiheit haben.
– Herr Kollege Carstensen, es wäre gut, wenn Sie mitIhren Zurufen etwas aus der Flachwasserzone herauskä-men.
Bei landwirtschaftlichem Dieselkraftstoff tritt dasProblem besonders deutlich zutage. Deshalb muss hierzuerst und ganz schnell etwas getan werden;
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms12834
Ich begrüße die gestrige Meldung, die Kommissionwolle Steuerbefreiungen im Mineralölbereich abschaffen.Wir haben immer gesagt, dass das Agrardieselgesetz unddie Einführung eines besonderen Steuersatzes für land-wirtschaftlichen Dieselkraftstoff von einer EU-Initiativebegleitet werden müssen. Wir verabschieden jetzt das Ge-setz und setzen darin einen Steuersatz von 57 Pfennig jeLiter Diesel fest, werden aber in diesem Parlament stän-dig nachhaken, was sich in Brüssel tut.
Wir brauchen in der EU vergleichbare und faire Wettbe-werbsbedingungen für unsere Landwirte. Das bedeutetaber keinen Abbau von Umweltstandards, das darf nichtheißen: weniger Tierschutz oder weniger Verbraucher-schutz.
Deshalb geht auch die Forderung des Bauernverbandes,statt Diesel Heizöl zu tanken, ins Leere.
Unsere gemeinsame Devise muss sein: gleicheWettbewerbsbedingungen mit ökologischer Vernunft.
All diejenigen, die meinen, Landwirtschaftspolitik seieine Politik nur für Bauern, irren. Diese Annahme istfalsch, entspricht nicht unserem Verständnis und wäreauch nicht zukunftsorientiert.Wir sind der Auffassung, dass die Landwirtschaftspo-litik in eine Politik für den ländlichen Raum eingebettetsein muss, Umwelt- und Naturschutz zwar nicht gegen dieBauern durchgesetzt werden dürfen, aber eine heraus-ragende Aufgabe für die Agrarpolitik der Zukunft darstel-len,
dass Tierschutz immer wichtiger wird und Konsumentenund Bauern in einem Boot sitzen; deshalb müssen Bauerndie besseren Verbraucherschützer sein.
Um es ganz deutlich zu machen: Wenn wir über ver-gleichbare und faire Wettbewerbsbedingungen für unsereLandwirte reden, meinen wir nicht weniger Umwelt-,Tier- oder Verbraucherschutz.
Ich bitte deshalb den Bundesminister, den Agrarberichtnicht als Bericht über oder für die Landwirtschaft aufzu-fassen; der Bericht muss sich noch mehr als bisher an dieKonsumenten richten und umfassend über Umwelt-, Tier-sowie Verbraucherschutz berichten. Wir helfen unserenLandwirten und deren Familien mehr, wenn einer breitenBevölkerung bewusst wird, wie schwer, aber auch wie gutund verantwortungsvoll auf deutschen Bauernhöfen gear-beitet wird.
Lassen Sie mich zum Schluss eine Bemerkung ma-chen: Ich habe mir den Entschließungsantrag derCDU/CSU-Fraktion angeschaut.
– Das kann durchaus so sein, Herr Kollege. – Was Sie imGrunde genommen in Ihrem Antrag fordern, ist, Steuernund Abgaben zu senken und gleichzeitig die Zuschüsse zuerhöhen. Bei dieser Rechenkunst würde sich der alteAdam Riese im Grabe herumdrehen.Herzlichen Dank.
Für die
CDU/CSU-Fraktion gebe ich nunmehr dem Kollegen
Peter Harry Carstensen das Wort.
HerrPräsident Seiters! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich habe gestern eine Pressemitteilung erhalten, derzufolge der ehemalige Bundesminister Ertl einen schwe-ren Unfall gehabt hat, und ich möchte ihm, wenn Sie ge-statten, auch im Namen des Agrarausschusses, beste Ge-nesungswünsche übermitteln.
Wir wissen, wie engagiert er in der Landwirtschaft gewe-sen ist, und wir wissen auch, was er für die Landwirtschaftgetan hat.Es ist manchmal erstaunlich, dass nicht gesehen wird,dass die größte ökologische Leistung der Landwirtschaftin dieser Welt und insbesondere auch in Deutschland dieErnährung der Menschen ist. In Deutschland ackert ei-ner und 110 werden satt.
– Es mag auch sein, dass es mehr sind. – Dies ist in dieserZeit der Arbeitsteilung in unserer Gesellschaft notwendig.Man lebt in den Städten und lässt sich aus dem Land, vondem Bauern ernähren. Ich glaube, es ist angebracht, aucheinmal Dank dafür zu sagen.
Denn die Landwirtschaft liefert nicht nur Nahrung, son-dern betreibt auch Natur- und Landschaftspflege, pflegtErholungsräume und sorgt für gute Luft.
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Holger Ortel12835
Dies wird neben der Nahrungsmittelerzeugung umsonstoder zu günstigen Kosten geliefert. Auch dafür ein herzli-ches Dankeschön.Die Landwirtschaft ist nicht nur Wirtschaft. In man-chen Ländern heißt Landwirtschaft Agrarkultur, Agrikul-tur. Das zeigt, dass wir es mit einem Kulturraum, mit ei-ner ländlichen Kultur zu tun haben, die bodenständig undkonservativ im guten, bewahrenden Sinne ist. Auf denländlichen Raum kann man sich verlassen, wenn der länd-liche Raum von Landwirtschaft und von Landwirten be-stimmt wird. Auch für diese Leistung ist den Landwirten,den Bauern und ihren Familien, aber auch den Fischernund Förstern Dank auszusprechen. Ich sage das deswe-gen, weil zur Kulturleistung auch der Erhalt von regiona-len Sprachen gehört, über die wir hier schon einmal dis-kutiert haben. Wo wäre wohl das Friesische, dasPlattdeutsche,
das Sorbische, wenn es nicht draußen auf dem Lande vonden Bauern gepflegt würde? Also, meine Damen und Her-ren, sollte unserer Landwirtschaft, unserem ländlichenRaum Dank und Unterstützung gelten.
Die Landwirtschaft geht in eine schwer werdende Zu-kunft. Sie wird in Deutschland und in Europa mit neuenHerausforderungen fertig werden müssen. WTO undOsterweiterung sind nur zwei Stichworte. Ich stelle fest:Von Rot-Grün ist keine Hilfe dazu zu erwarten, dass sichdie Landwirtschaft auf diese Herausforderung einstellenkann, ganz im Gegenteil: Rot-Grün ist die größte Belas-tung, die die Bauern je ertragen mussten.
Rot-Grün raubt mit der Politik, die durch Minister Funkevertreten wird, vielen die Chance, sich ordentlich auf dieHerausforderungen der nächsten Jahre vorzubereiten. An-statt dass man den Bauern Hilfe in einem schwerer wer-denden Wettbewerb leistet, werden ihnen durch nationaleEntscheidungen zusätzliche Belastungen aufgebürdet.Für mich ist es schon bedauerlich, dass Minister Funkeweiß, was das bedeutet, und sich nicht durchsetzen kann,dass Minister Funke ein Minister ist, der nicht handelndarf, dass Minister Funke in eine Regierung eingebundenist, die für die Landwirtschaft nichts übrig hat.
Die Arbeit von Funke, die Arbeit des Landwirtschaftsmi-nisteriums machen deutlich, was Staatssekretär Willeschon zu Beginn der Legislaturperiode ausgesprochenhat. Er sagte am 22. Januar 1999 in Berlin:Die Agrarwirtschaft hat bei der neuen Bundesregie-rung einen nicht so hohen Stellenwert wie bisher.Das hat er im März dieses Jahres beim Kreisverbands-tag in Herford noch einmal verdeutlicht, indem er auf dasWahlergebnis von 1998 hinwies und sagte:Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass sich das ge-samte politische Umfeld für die Landwirtschaft inDeutschland und in der EU geändert hat. Gartenbauund Landwirtschaft täten gut daran, sich rechtzeitigdarauf einzustellen.Herr Staatssekretär und Herr Minister, wir haben daszur Kenntnis genommen. Auch unsere Bauern merken in-zwischen schmerzlich, dass von dieser Bundesregierungkeine Hilfe für die Landwirtschaft zu erwarten ist.
Das „Landwirtschaftliche Wochenblatt“ beginnt sei-nen Bericht über die Veranstaltung, über die ich geradegesprochen habe, mit folgenden Worten:Gäbe es eine Auszeichnung für das Schönreden einerbesch… Lage, könnte der Staatssekretär im Bundes-landwirtschaftsministerium , Dr.Martin Wille,gewiss mit einem Preis rechnen.Ich füge hinzu: Dies könnte nur die Silbermedaille sein,weil die Goldmedaille für das Schönreden dem Ministerselbst vorbehalten ist.
Welchen Stellenwert die Landwirtschaft bei dieserBundesregierung hat, wird auch deutlich, wenn der Kanz-ler den demonstrierenden Bauern im Allgäu sagt: Warumsoll ich mich um euch kümmern? Ihr wählt uns ja dochnicht! – Von einer Regierung, die nichts für die Landwirt-schaft übrig hat, kann man keine Hilfe und keine optimaleVorbereitung auf die schwieriger werdende Zukunft er-warten. Funke war früher die einzige Hoffnung, an diesich die Bauern beim Regierungswechsel zu Rot-Grünklammerten. Sie sind inzwischen von diesem Landwirt-schaftsminister tief enttäuscht und – ich glaube, michtrügt mein Eindruck nicht – auch der Minister ist von sei-ner Arbeit und von den ihm gegebenen Möglichkeitenenttäuscht. Auf eine der peinlichsten Erfahrungen undEnttäuschungen – seine und unsere –, nämlich auf dasAgrardieselgesetz, komme ich noch zu sprechen.Ich habe in den letzten Wochen mit den Landwirten,mit Mitgliedern und Nichtmitgliedern des örtlichen Bau-ernverbandes, intensiv gesprochen und gefragt, was inden letzten 24Monaten bei ihnen geschehen sei, und zwarvor dem Hintergrund zu erwartender Änderungen durchWTO und Osterweiterung, die eine Stärkung und nicht dieSchwächung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirt-schaft dringend notwendig machen. Ich habe festgestellt,dass insbesondere aufgrund der Vielzahl von Steuerände-rungen und -reformen sowie Haushaltskürzungen dieBundesregierung und sicherlich auch einige Landesre-gierungen – ich denke dabei an Schleswig-Holstein –dafür gesorgt haben, dass die deutsche Landwirtschaft inihrer Wettbewerbskraft erheblich geschwächt und im Ver-gleich zu der Landwirtschaft in anderen Mitgliedstaatenunangemessen benachteiligt wird. Dies ist offensichtlich.Die Zahlen sprechen für sich. Wirtschaftsinstitute wie dasRWI und der Wissenschaftliche Beirat des BML bestäti-gen dies.
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Peter H. Carstensen
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Ich weise beispielhaft auf Folgendes hin: Die Agenda-2000-Beschlüsse kosten die deutsche Landwirtschaftmindestens 1,5 Milliarden DM pro Jahr; Kürzung desAgrarhaushaltes um bis zu 1,4 Milliarden DM; Kürzungder Gasölverbilligung von ehemals 835 Millionen DMauf 375 Millionen DM und im Jahr 2001 sogar auf null;Gewährung eines so genannten Ausgleichs durch dasAgrardieselgesetz, in dem vorgesehen ist, die Landwirt-schaft mit einem Steuersatz von 57 Pfennig pro Liter Die-selkraftstoff zu belasten – nicht etwa mit 47 Pfennig, wiewir noch vor 14 Tagen gedacht haben, und auch nicht mit50 Pfennig, wie wir noch vor einer Woche gedacht ha-ben –, weil sich derjenige, der eigentlich zuständig ist,nicht durchsetzen konnte. Die Belastung der Landwirt-schaft durch die Ökosteuer steigt auf 911 Millionen DM.Ich muss die Liste nicht fortsetzen, weil der Kollege Deßsicherlich auch noch darauf eingehen wird.Ich möchte aber nicht nur die allgemeinen Positionendeutlich machen, sondern auch darauf hinweisen, dassuns die Landwirte vor Ort auf ihre Probleme aufmerksammachen. Ich habe zwei Landwirte danach gefragt, wie esbei ihnen aussieht: Der entwicklungsfähige Betrieb vonHans Friedrichsen – den kennen Sie, Herr Bundesminis-ter; er war derjenige, der Ihnen auf dem Bauerntag inNordfriesland gesagt hat: Herr Bundesminister, wenn Siedie jetzigen Vorschläge zur Steuerreform gemacht haben,dann haben Sie sich nicht für die Landwirtschaft einge-setzt, und wenn Sie diesen Vorschlägen zugestimmt ha-ben, müssten Sie zurücktreten, auch wenn Sie sie nicht ge-macht haben – hat zusätzliche Belastungen nur durch diehöhere Agrardieselsteuer, die jetzt kommt, von 7 500 DM.Es ist ein durchschnittlicher Familienbetrieb, auf demviele Stunden gearbeitet wird und von dem die Familieernährt werden muss.Der Landwirt Gerhard Volquardsen aus dem Sönke-Nissen-Koog – kernige Böden; kerniger Junge; er hat inmeiner Landwirtschaftsschule die Ausbildung gemacht;vielleicht ist er deswegen so gut – hat 200 Hektar spit-zenmäßigen Ackerboden, der sich intensiv bewirtschaftenlässt. Er wird eine zusätzliche Belastung allein durch diehöhere Agrardieselsteuer von 1 200 DM pro Monat bzw.14 400 DM pro Jahr haben. Dafür sind Sie verantwortlich.Die Agrardieseldebatte und der uns heute vorliegendeBeschlussvorschlag bedeuten eine der peinlichsten Nie-derlagen für den Minister Funke. Nachdem der Ministerangekündigt hatte, dass der Steuersatz beim Agrardieselbei 47 bzw. 50 Pfennig liegen werde, ist er ausgetrickstworden.Ich sage Ihnen, Herr Minister: Ich habe es auch nichtverstanden, dass Sie gerade in der hohen Zeit der Debatte,in der vielleicht noch etwas zu retten und in der der Minis-ter gefordert gewesen wäre, nicht hier im Land waren,sondern sich auf eine Reise begeben haben. Ich gönne sieIhnen zwar – es ist ja gut, wenn man einmal auf Reisengeht –, aber hier wäre es notwendig gewesen, mit dem Fi-nanzminister und dem Koalitionspartner zu sprechen.Aber offensichtlich steht Resignation schon auf der Ta-gesordnung. Sie haben nicht für sich, sondern für die Bau-ern hier im Land zu arbeiten. Sie haben dafür zu sorgen,dass die Bauern bessere und nicht schlechtere Wettbe-werbsbedingungen erhalten. Aber das Ergebnis Ihrer Po-litik sind schlechtere Wettbewerbsbedingungen. Sie ma-chen die Bauern nicht fit für den Wettbewerb. Sie behin-dern sie zunehmend in einer unerträglichen Art undWeise.Die Stellungnahme des Bauernverbandes zum Agrar-bericht müsste Sie doch zum Handeln auffordern: Es wirdKritik an der Methode geübt. Es wird dargestellt, dass esin den Jahren 1998 und 1999 ein kräftiges Einkommens-minus gegeben hat und die Hälfte der Haupterwerbsbe-triebe, statt Eigenkapital zu bilden, es abgebaut hat. DieVerbindlichkeiten sind gestiegen. Im Durchschnitt derBetriebe gab es keine Nettoinvestitionen. Dies müsstedoch dazu führen, dass man gerade jetzt, da man weiß,was in den nächsten Jahren auf die Landwirte zukommenwird, dafür sorgt, dass es zu einer besseren Situation in derLandwirtschaft, zu besseren Arbeitsbedingungen und zubesseren Situationen in Bezug auf Kosten und Auflagenkommt. Der Bauernverband schließt mit der Aussage: DieSteuer- und Ausgabenpolitik lässt die deutsche Landwirt-schaft zum einseitigen Verlierer werden.Sie erfüllen die berechtigten Forderungen des Bau-ernverbandes zum vorliegenden Agrarbericht, den Ab-bau der Wettbewerbsverzerrungen sowie einen entspre-chenden Ausgleich, in keiner Weise. Sie erfüllen nochnicht einmal Ihre eigenen Ansprüche, die in Ihrem Koali-tionspapier niedergelegt sind, in dem Sie sagen, die länd-lichen Räume sollen gestärkt, die Landwirtschaft soll ge-sichert und die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschafteinschließlich der vor- und nachgelagerten Bereiche sollgestärkt werden.Stattdessen bürden Sie den Landwirten eine Ökosteuerund eine Erhöhung der Mineralölsteuer auf. Mit demSteuerentlastungsgesetz kommt es nicht zu einer Entlas-tung, sondern zu einer Belastung. In Bezug auf die Unter-nehmensteuerreform fallen die Landwirte zurück. ImHaushaltssanierungsgesetz gibt es Belastungen. In die„Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruk-tur und des Küstenschutzes“ nehmen Sie weitere Förder-tatbestände auf, die Ihnen Ihr Koalitionspartner mit auf-drückt,
und mit der Agenda 2000 sorgen Sie für weitere Belas-tungen.
Herr Kol-
lege Carstensen, Sie haben die Chance, Ihre Redezeit zu
verlängern, indem Sie eine Zwischenfrage zulassen.
Ja,
das möchte ich gerne tun. Wenn diese Frage von einem
ausgewiesenen Agrarexperten gestellt wird, nehme ich
dieses Angebot gerne an.
Im Namen der Bevölke-rung bedanke ich mich schon jetzt. Ich möchte fragen:
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Peter H. Carstensen
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Wollen Sie im Ernst behaupten, dass Landwirte durch dieUnternehmensteuerreform keine steuerlichen Entlastun-gen erhalten haben?
Im
Steuerentlastungsgesetz besteht eine Schieflage zuguns-
ten der Kapitalgesellschaften und zulasten der Einzelun-
ternehmen und Personengesellschaften.
Herr Kollege von Larcher, das werden Sie nicht bestreiten
können.
– Ja? – Nun gut, Herr Kollege von Larcher, vielleicht wer-
den Sie dann auch das Folgende bestreiten – vielleicht ha-
ben Sie es geändert, das weiß ich nicht, ich gebe nur mei-
nen Kenntnisstand wieder –: Mit einer Entlastung ist erst
ab dem Jahre 2005 zu rechnen. Zuvor ist eine Belastung
für die Landwirtschaft in Höhe von ungefähr 300 Milli-
onen DM aufzurechnen.
Das sind die Tatsachen. Vielleicht sollten Sie sich mit
Ihrem Finanzminister noch einmal darüber unterhalten.
Gestern haben wir im Ausschuss eine Debatte geführt.
Wir haben versucht, allgemeine Ziele der Agrarpolitik für
die nächsten zehn Jahre zu formulieren. Es gab keine Ant-
wort auf die Frage, wie Landwirtschaft in zehn Jahren
aussieht. Die Beantwortung dieser Frage ist vielleicht
auch zu schwierig. Das möchte ich gar nicht kritisieren.
Aber wenn man dies nicht weiß und davon ausgehen
kann, dass die Situation für die Landwirte durch die WTO
und die Osterweiterung schwieriger wird, dann erfordert
es doch allein das Vorsorgeprinzip, dafür zu sorgen, dass
die Bauern auf die Herausforderungen vorbereitet wer-
den. Man muss dafür sorgen, dass die Bauern fit gemacht
werden: durch Kostenentlastungen statt durch Kostenbe-
lastungen, durch Unterstützung statt durch zusätzliche
Auflagen. Nein, im Moment stellen wir das Gegenteil
fest.
Herr Bundesminister, dies entspricht auch nicht Ihren
eigenen Äußerungen. Sie selbst haben in „top agrar“ ge-
sagt – das ist in der Ausgabe 11/98 nachzulesen –: „Steu-
erliche Mehrbelastungen sind für die Landwirtschaft in
der jetzigen Situation nicht verkraftbar. Dies will die SPD
auch nicht.“ Was haben Sie seit dieser Zeit bloß gemacht?
Sie sollten sich eines merken: Sie haben den Bauern
etwas vorgekaspert und sie im Regen stehen lassen.
Sie sind ein Erfüllungsgehilfe eines landwirtschaftsfeind-
lichen Finanzministers, eines landwirtschaftsfeindlichen
Koalitionspartners und eines landwirtschaftsfeindlichen
Bundeskanzlers. Das haben die Bauern nicht verdient.
Um der Bauern in Deutschland willen kann ich Sie nur
auffordern, das zu beherzigen, was im Buch der Sprüche
des Alten Testaments in Kapitel 8 steht. Überschrieben ist
es mit „Die Weisheit als Gabe Gottes“. Dort heißt es in
Vers 5: „Ihr Unerfahrenen, werdet klug, ihr Törichten,
nehmt Vernunft an.“
Ich gebe
nunmehr der Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Man muss sicher-lich einmal darüber nachdenken, warum Peter HarryCarstensen nicht Landwirtschaftsminister in Schleswig-Holstein geworden ist.
Es packt einen doch der blanke Zynismus, wenn mander Rede meines Vorredners folgt. Das Landwirtschafts-ressort ist von uns in einer Situation übernommen worden,in der die Landwirtschaft nun wahrhaftig keine gute Aus-gangslage hatte. Allein die beim Regierungswechsel nichtvorhanden gewesenen Vorbereitungen auf die Agenda2000 sprechen dafür, dass Sie die Vorwürfe, die Sie jetztHerrn Minister Funke machen zu können glauben, demEx-Landwirtschaftsminister Borchert hätten machenmüssen.
Vielleicht sollten Sie sich auch überlegen, bevor Siehier immer die Agenda 2000 angreifen, dass die Auswir-kungen der Agenda 2000 auf den ländlichen Raum Grundgenug sind, sie zu unterstützen. Auch sollten Sie einmalbei Ihrem eigenen Verband nachfragen, ob dies nicht einebessere Strategie zur Unterstützung der deutschen Land-wirtschaft wäre.
Die Lage der Landwirtschaft ist nach wie vor nicht ro-sig. Der Strukturwandel hat sich im Zeitraum 1998/99,auf den sich dieser Agrarbericht bezieht, in der Größen-ordnung der letzten zwei Jahrzehnte fortgesetzt. Bei denHaupterwerbsbetrieben musste ein Gewinnrückgang von7,3 Prozent konstatiert werden; die wichtigsten Gründedafür waren der Verfall der Schweinepreise und – diesspielt immer noch die Hauptrolle – das miserable Preisni-veau im Lebensmitteleinzelhandel, wo im Zuge einer to-talen Monopolisierung die Preise gedrückt werden, wo-rüber der Handel selbst auch nicht froh und glücklich ist.Die Folgen einer jahrzehntelangen Fehlentwicklungund einer falschen Agrarpolitik können nicht innerhalbweniger Monate behoben werden.
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Detlev von Larcher12838
Aber die Situation ist nicht nur schlecht. Die Erzeuger-preise haben im Jahr 2000 erheblich angezogen. Auch derAgrarexport steigt auf hohem Niveau weiter, wie Sie inder Agrarausschusssitzung selbst betont haben. Im Wirt-schaftsjahr 1999/2000 wird mit einer Einkommensver-besserung gerechnet. Die Arbeitnehmerzahlen in derLandwirtschaft sind zum ersten Mal seit Jahren wiedergestiegen.
Wir glauben an die Zukunft der Landwirtschaft. Wirhaben trotz Spar- und Konsolidierungszwängen denAgrarhaushalt auf hohem Niveau halten können. Wir ha-ben die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe, die die alteBundesregierung kontinuierlich gekürzt hat, stabilisiertund bei 1,7 Milliarden DM erhalten. Zusammen mit denKofinanzierungen kommen den Landwirten und denländlichen Räumen 2,8 Milliarden DM direkt zugute. Wirhaben das Bündnis für Arbeit im ländlichen Raum aufge-legt und gerade neu die Mittel für zukunftsweisende Mo-dellprojekte im Haushalt verdoppelt. Wir machen kon-krete Vorschläge, wie die Probleme der Landwirtschaftgelöst werden können.
Selbstverständlich sind Wettbewerbsverzerrungenein Thema, das aber vornehmlich von den Nachbarlän-dern in der Europäischen Union an uns herangetragenwird. Hier müssen Sie sich vorhalten lassen, dass Sie dieMöglichkeit zu Wettbewerbverzerrungen geschaffen ha-ben. Sie hätten sie lange beheben müssen.
Stattdessen haben Sie dafür gesorgt, dass diese Flanke of-fen geblieben ist. Das gilt auch für die Subventionen, diedie Niederländer den Gärtnern geben. Diese Subventio-nen sind nicht rechtmäßig und hätten nicht notifiziert wer-den dürfen. Sie aber haben sie schlicht und ergreifend ge-duldet.
Aber es bewegt sich etwas auf der europäischen Ebene.Das ist natürlich eine Folge des intensiven Engagementsunseres Ministers.Die Kommission hat gestern verkündet, die Befreiun-gen und die Sondergenehmigungen bei der Mineralöl-steuer mittelfristig abzuschaffen.
Einige Regelungen sollen kurzfristig aufgehoben werden.Endlich wird auch das Flugbenzin einbezogen. Das isteine alte, gemeinsame Forderung von Grünen und Bau-ern, damit die Wettbewerbsverzerrung durch Dumping-angebote aus aller Welt endlich aufhört.
Wir unterstützen die Bundesregierung massiv, auf derEU-Ebene zugunsten der Harmonisierung der Treibstoff-besteuerung zu intervenieren
und den Rückhalt der anderen EU-Länder bis Ende diesesJahres zu erlangen. Wir fordern die EU-Mitgliedsländerselbstverständlich auch auf, den Vorschlag, den Agrardie-sel einzubeziehen, mitzutragen und damit europaunver-träglichen Auseinandersetzungen – zwischen den Mit-gliedstaaten untereinander bzw. zwischen den einzelnenBevölkerungsgruppen und der Landwirtschaft – entge-genzutreten.Die alte Gasölbeihilfe lösen wir heute endlich durcheine Regelung zum Agrardiesel ab,
ein Instrument, das die Landwirtschaft steuersystemkon-form und mit gesellschaftlicher Akzeptanz mit 460 Milli-onen DM – bis 2003 steigt die Summe auf 700 Milli-onen DM an – bei den Produktionskosten entlastet. DerGesetzentwurf muss heute im Bundestag verabschiedetwerden, um die alte Regelung aus dem Jahre 2000 – auchSie wollen sie nicht mehr haben – übergangslos zum 1. Ja-nuar 2001 zu ersetzen. Der Agrarhaushalt wird so umdiese Summe entlastet. Die damit eingesparten Gelderkommen wiederum der Landwirtschaft zugute.Aber – das ist richtig – die Kosten für die Landwirt-schaft müssen weiter verringert werden.
Wir wollen den Steuersatz für den Agrardiesel so ge-stalten, dass die reale Besteuerung pro Liter Treibstoff fürdie Landwirte deutlich unter 57 Pfennig fällt, solange eskeine Harmonisierung auf der EU-Ebene gibt.Ein gangbarer Weg wäre, wie vom Bauernverband ges-tern vorgeschlagen, den Treibstoffverbrauch von jetzt2Milliarden Liter auf 1,6Milliarden Liter pro Jahr zu sen-ken. Das ist möglich.
Es gibt durch entsprechende Bewirtschaftung die Mög-lichkeit, ein Drittel einzusparen. Es gibt die Substitutiondurch Pflanzenöle – eine Beimischung von 20 oder30 Prozent –, die bei den allermeisten Motoren möglichist. Es ist also realistisch, die 47 Pfennig zu erreichen undauf diesem Weg ökologisch sinnvoll zu handeln. Durch
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Ulrike Höfken12839
Einsparungen und Substitutionen, die vorgenommen wer-den können, kann so eine Einkommenswirksamkeit er-zielt werden.
– Das geht nicht so schnell. – Mit dieser Intention werdenwir uns an dieser Diskussion weiterhin beteiligen. Fürdiese Strategie werden wir werben, und zwar als Koalitioninsgesamt.Dem Unterglasanbau helfen wir mit einem Über-brückungsprogramm und mit einem Energieinvestitions-programm für Gartenbau und Landwirtschaft. Damit sichdie Landwirtschaft mittelfristig von den Kosten des Mi-neralöls weitestgehend unabhängig machen kann, habenwir ein ambitioniertes Förderprogramm für biogeneTreib- und Schmierstoffe aufgelegt. Noch stärker wirddie Einführung regenerativer Energien unterstützt; alleinfür die Energiegewinnung aus Biomasse stehen jährlich70 Millionen DM zur Verfügung. Hinzu kommt der Etatder Fachagentur nachwachsender Rohstoffe. Durch dengesamten Bereich nachwachsender Rohstoffe sind wei-tere Einsparungen und zusätzliche Einkommen der Land-wirtschaft möglich.
Auch die Entfernungspauschale, über die wir heutenoch diskutieren werden, zählt zu den Entlastungsvor-schlägen der Bundesregierung für den ländlichen Raum.Gerade CDU/CSU und F.D.P. bekämpfen diese Entfer-nungspauschale und ihre Möglichkeiten der Realisierungganz besonders. In dieser Frage stehen die Länder in derVerantwortung.
Die Wertschätzung der Lebensmittel ist ein wichtigesThema. Noch einmal: Wir tun alles zum Wohle von Ver-brauchern und von Landwirten. Es geht darum, die Wert-schätzung unserer Lebensmittel wiederzugewinnen. Her-kunftskennzeichnung bei Rindfleisch, neue Legehennen-verordnung, Kennzeichnung von Eiern zum Ende des Jah-res, Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ – diessind nur einige Beispiele für die Aktivitäten der rot-grünenRegierung.Aktuell werden alle mit der BSE-Problematik verbun-denen Vorschläge – Holger Ortel ist darauf schon intensiveingegangen – zum Schutz von Verbrauchern undLandwirtschaft aufgegriffen. Wir Grüne machen dieseVorschläge schon seit Jahren: flächendeckende Anwen-dung von Tests – vor allem bei allen Schlachttieren –, He-rausnahme von Tierkadavermehlen aus der Futterkette,offene Deklarationen, strenge Überprüfung bei Import.Alle diese Forderungen sind auch schon von den Bundes-ländern, dem Europäischen Parlament und der EU-Kom-mission aufgegriffen worden. Auch wir werden diese For-derungen nachdrücklich vertreten, wie auch dieGesundheitsministerin Andrea Fischer erklärt hat.Wertschätzung heißt für uns aber auch, dass für Qua-litätslebensmittel entsprechend faire Erzeugerpreise ge-zahlt werden und die Anstrengungen, die die Landwirt-schaft für den Verbraucherschutz und den Tierschutzunternimmt, entsprechend honoriert werden. Die Ver-braucher werden bei entsprechender Aufklärung dazuauch bereit sein; ihre Bereitschaft dazu wird auch nochzunehmen, denn wir haben die Haushaltsmittel im Be-reich der Verbraucheraufklärung entsprechend erhöht.Die Ausgaben der Verbraucher für Lebensmittel sind, wieSie wissen, auf unter 13 Prozent gesunken. Unser Ansatz-punkt ist, über Verbraucherschutz und mehr Qualität zueiner faireren Nachfragesituation zu kommen.
Ein letztes Thema: die ökologische Produktion. Derökologischen Produktion gehört die Zukunft. Ökoland-bau ist eine der Wachstumssparten in der Landwirtschaft.Dieser Markt, auf dem eine starke Nachfrage herrscht,wurde von der alten Bundesregierung sträflich vernach-lässigt.
Die Konsequenz war, dass 80 Prozent der Nachfrage vomAusland bedient wurden. Wir werden ein Aktionspro-gramm Ökolandbau auflegen, um einen Anteil von10 Prozent Ökolandbau in den nächsten fünf Jahren zu er-reichen. Das ist auch das Programm der Bundesregierung.Einiges haben wir auf den Weg gebracht. Weiteres wer-den wir tun. Dazu zählt zum Beispiel auch eineImagekampagne für den ökologischen Landbau und seineProdukte. Dieses wird auch auf der Grünen Woche 2001vonseiten des Bundeslandwirtschaftsministeriums thema-tisiert werden. Der Ökolandbau ist ein sehr guter Ansatz,um von der Billigschiene herunterzukommen und dieWertschätzung von Lebensmitteln weiterzuentwickelnund voranzutreiben.Vielen Dank.
Ich erteiledas Wort der Kollegin Kersten Naumann für die Fraktionder PDS.Kersten Naumann (von der PDS mit Beifallbegrüßt): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen undKollegen! Eine Odyssee soll heute ihr Ende finden. Ob esein gutes oder ein schlechtes Ende wird, das entscheidenSie, liebe Kolleginnen und Kollegen.Bereits zur ersten Lesung des Agrardieselgesetzes habeich bekräftigt, dass die Fraktion der PDS einen höherenMineralölsteuernettosatz vom Grundsatz her auch in derLand- und Forstwirtschaft für gerechtfertigt hält. Wir tre-ten allerdings nicht für 57 Pfennig, sondern für 47 Pfen-nig je Liter Agrardiesel ein. Auch dies würde ja bekannt-
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Ulrike Höfken12840
lich eine Erhöhung der Nettosteuerbelastung bedeuten.Bevor ich auf unseren Antrag eingehe, möchte ich michdeutlich von der Forderung der CDU/CSU nach 12 Pfen-nig je Liter abgrenzen. Diese Forderung ist in meinen Au-gen nichts anderes als demagogischer Populismus.
Meine Fraktion beantragt 47 Pfennig je Liter Agrar-diesel. Letztendlich ist dies ein Kompromiss zwischen derForderung nach Abbau der Subventionen und dem Anreizzum sparsamen Umgang mit den immer knapper werden-den Mineralölressourcen. Wir alle wissen, dass ohne fi-nanziellen Druck die Alternativen Biodiesel bzw. reinesRapsöl im einzelnen Agrarbetrieb gar nicht erst auf die Ta-gesordnung gesetzt würden. Es gehört jedoch auch zur po-litischen Redlichkeit, anzuerkennen, dass zum Zeitpunktder Beschlussfassung über die Ökosteuer keineswegs mitdem inzwischen eingetretenen hohen Anstieg der Mine-ralölpreise gerechnet werden konnte. Das heißt, wir habenfür die heute zu treffende Parlamentsentscheidung eineandere Geschäftsgrundlage. In diesem Sinne muss die Po-litik auch flexibel reagieren, Herr Funke.
Die durch den Anstieg der Energiepreise bedingten zu-sätzlichen Belastungen sind in Anbetracht der allgemei-nen unbefriedigenden Einkommenssituation der Land-wirtschaft nicht akzeptabel. Das gilt übrigens auch mitBlick auf das Landwirtschaftsgesetz, mit dem ja bekannt-lich das Ziel verfolgt wird, die Teilhabe der Landwirt-schaft an der allgemeinen Einkommensentwicklung zugewährleisten. Genau darum geht es in unserem Antrag.
47 Pfennig je Liter Agrardiesel sind auch aus Gründender Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaftauf dem EU-Binnenmarkt und damit für die Sicherungvon Arbeitsplätzen und Einkommen in den ländlichenRäumen das Mindeste, was wir heute hier beschließensollten, insbesondere, weil offenkundig kurzfristig keineChancen für eine Harmonisierung der Steuern der Mit-gliedsländer der EU bestehen. Selbst mittelfristig kannich, obwohl ich Optimistin bin, kaum eine Aussicht aufErfolg diesbezüglicher Bestrebungen erkennen.Übrigens wird in der Begründung unseres Änderungs-antrages ein Weg gewiesen, wie die 10 Pfennig Differenzje Liter Agrardiesel gegenüber dem Regierungsentwurf,also der Einnahmeausfall von rund 200 Millionen DM,zumindest kurzfristig ohne zusätzliche Belastung desBundeshaushaltes finanziert werden könnten: Laut EU-Kommission werden im Jahr 2000 fast 1 Milliarde Eurodes EU-Agrarbudgets eingespart, die an die Mitgliedslän-der zurückfließen. Natürlich ist damit derzeit nur für 2001eine sichere Finanzierungsquelle aufgezeigt; aber ich binüberzeugt, dass auch im Ergebnis der gesamtwirtschaftli-chen Entwicklung der Bundesrepublik bei den folgendenHaushaltsberatungen Deckungsmittel erschließbar sind,es sei denn, Ihre Wirtschaftsprognosen sind nur Zweckop-timismus.Im Übrigen muss ich unseren Antrag nicht weiter be-gründen: Auch die Agrarminister forderten einmütig47 Pfennig, und das wohl nicht nur aus einer plötzlichenLaune heraus.Selbst das von Vertretern der Koalitionsfraktionen aus-gelöste Wirrwarr ständig neuer, sich widersprechenderPresseverlautbarungen mit Varianten von 50 bzw.47 Pfennig, teils an neue Obergrenzen gekoppelt, ist eindeutlicher Beleg dafür, dass Handlungsbedarf gesehenwurde. Noch bis vor wenigen Tagen sah ich darin zumin-dest die Artikulation von Unbehagen. Inzwischen habeich jedoch großen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der in dieWelt gesetzten Änderungsvorschläge; denn Tatsache ist,dass weder von den Koalitionsfraktionen noch von denOppositionsfraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. Al-ternativvorschläge zum Regierungsentwurf in das Ge-setzgebungsverfahren eingebracht wurden.Und gestern Abend, welch ein Wunder, wieder einneuer Verwirrungsvorschlag der Grünen: Die Bauern sol-len demnach eine Rückerstattung auf ihren betrieblichenDieselverbrauch bekommen, die aus dem Einsparvolu-men der Landwirtschaft insgesamt bei Unterschreitungdes angesetzten Jahresverbrauchs von 2 Milliarden Liternfinanziert werden soll. Natürlich bin auch ich für einenökonomischen Anreiz bei der Energieeinsparung, aberdann muss derjenige, der einspart, auch den Nutzen habenund darf nicht zittern müssen, ob auch alle Bauern ausrei-chend sparen. Solch einen Unsinn hätte sich nicht einmaldie DDR-Plankommission einfallen lassen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, ich weiß nicht, wie groß Ihre argumentativen Ge-schütze gegenüber dem Bundeskanzler waren, um sich inder eigenen Koalition durchzusetzen. Zumindest habenSie eines erreicht, nämlich sagen zu können: Das wolltenwir nicht.Doch, meine Damen und Herren, wem nützt das? Wer-den wir heute 57 Pfennig beschließen, drängt sich mirwieder einmal die Frage auf: Welches Verhältnis hat dieseBundesregierung eigentlich zur Landwirtschaft?
Danke.
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht nun Kollege Ulrich Heinrich.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute denAgrarbericht 2000. Ich hätte mir eigentlich gewünscht,dass Sie, Herr Minister Funke, hier die Eingangsrede hal-ten,
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Kersten Naumann12841
den Agrarbericht vorstellen und uns gewissermaßen einenWeg weisen. Stattdessen sind Sie als letzter Redner in derDebatte aufgeführt. Ich finde das einfach nicht gut. Wirsollten wieder zum alten Brauch zurückkehren, nach demder Bundesminister seinen Agrarbericht selbst vorstelltund bei einer so wichtigen Agrardebatte als Erster redet.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutie-ren heute den Agrarbericht der Bundesregierung, in demja einiges Bemerkenswertes steht. Wir nehmen vieles zurKenntnis, wenn auch nicht mit Freude; aber wir müssenakzeptieren, dass die Entwicklungen in der Vergangenheitso waren, wie sie waren.Die Landwirtschaft steckt ja schon lange in der Um-strukturierungskrise; die Landwirtschaft ist schon langeder Bereich, der wie kein zweiter einen Strukturwandelaus eigener Kraft durchstehen muss. Insofern war es undist es nicht zu rechtfertigen, was die Bundesregierung ihrin den letzten zwei Jahren an zusätzlichen Erschwernissenauferlegt hat.
Wir wären ja schon froh, wenn wir die Verhältnisse von1998 hätten; aber die Verhältnisse von 1998 sind laufendverschlechtert worden.
Das Agrardieselgesetz stellt den derzeitigen Schluss-punkt dar: Mit diesem Gesetz wird die Steuerbelastungauf 57 Pfennig je Liter Dieselkraftstoff festgeschrieben.Ausgehend von einer Steuerbelastung von 26 Pfennig be-deutet dies mehr als eine Verdoppelung und, je nach Be-triebsstruktur und Betriebsart, eine zusätzliche Belastungvon etwa 80 bis 120 DM pro Hektar, die niemand aus-gleichen kann, die auch Sie nicht mit diesen wohlfeilenRatschlägen ausgleichen können, die jetzt Herr Berningerund Frau Kollegin Höfken geben. Frau Kollegin Höfken,was Sie sich dabei gedacht haben, diesen Vorschlag auf-zugreifen, ist mir völlig schleierhaft.Sie fordern die Landwirtschaft auf, sparsam mit demKraftstoff umzugehen – als ob ein Bauer mit seinem Trak-tor spazieren fahren und nur zum Spaß Dieselöl verbrau-chen würde! Er hat längst alle Reserven mobilisiert, umDieselöl einzusparen, und er hat längst dort, wo es der Bo-den zulässt, die Minimalbodenbearbeitung umgesetzt.
Sie tun so, als wären alle Belastungen durch Ein-sparungen mit moderner Technik zu kompensieren. Dennjetzt kommt es: Gleichzeitig verlängert diese Bundesre-gierung die Abschreibungszeiträume. Den Einsatz mo-derner Technik fordern und die Abschreibungsfristen ver-längern, das ist ein Widerspruch in sich. So einen Quatschhaben wir überhaupt noch nicht gehört.
Herr Kol-
lege Heinrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Höfken?
Bitte sehr.
Kol-
lege Heinrich, haben Sie zur Kenntnis genommen, dass
sich die Wettbewerbsbedingungen im Bereich von Treib-
stoffen dahin gehend verändert haben, dass die pflanzli-
chen Öle, besonders die Direktöle, wettbewerbsfähig ge-
worden sind und von daher der Anreiz eines Wechsels
logische Konsequenz sein kann, ohne dass wir dabei die
Vermutung anstellen müssten, dass die Landwirte zu
ihrem Vergnügen auf den Äckern oder Straßen herumfah-
ren, sondern dass das ausschließlich auf die veränderte
Wettbewerbssituation zurückzuführen ist, die sich jetzt ganz
anders darstellt, nämlich zugunsten des Pflanzenöls, und
ganz neue Möglichkeiten bietet?
Herzlichen Dank für dieseFrage. Sie gibt mir die Möglichkeit, darauf hinzuweisen,dass wir diesen Weg schon in der alten Bundesregierungeingeschlagen haben. Dass Sie ihn fortsetzen, kritisiereich auch nicht, da lobe ich Sie direkt. Aber ein Ergebnis indiesem Bereich, das sich flächendeckend auswirkt, kannnur mittel- bis langfristig erreicht werden, nicht aber sokurzfristig – gewissermaßen über Nacht –, wie Sie dieSteuern verändern. Kein Mensch kann in dieser Ge-schwindigkeit seine Betriebe umstellen, dass er davonprofitieren kann. Diese Technologie ist erst im Anlaufen,hier müssen wir noch Erfahrungen sammeln. Zudem musserst die breite Einsatzmöglichkeit dieser Technik gegebensein. Es muss geklärt werden, wie weit die Motoren dasaushalten und wie weit nicht. Das ist doch der Punkt.
Wir können und wollen diese Technik nicht klein reden,aber wir können nicht so tun, als sei das alles heute schonStand der Technik, als müssten die Bauern nur umschal-ten und könnten voll davon profitieren. So ist es leiderGottes nicht.
Meine Damen und Herren, ich habe leider nur siebenMinuten Redezeit und kann deshalb nur ganz schwer-punktartig auf die Probleme eingehen.
– Wenn Sie ruhig sind, bin ich auch etwas leiser, Herr Kol-lege Weisheit.Wenn wir die Regierungstätigkeit insgesamt sehen, istdas Agrardieselgesetz nur der letzte Punkt. Es hat schonsehr viel früher angefangen, mit der sogenannten Verbes-serung der Wettbewerbsfähigkeit. Im Haushalt gab esgravierende Einschnitte, und auch das Steuerreformge-setz, das für alle anderen einen positiven Effekt hat,bedeutet für die Landwirtschaft in den nächsten vier Jah-ren eine Zusatzbelastung von jährlich rund 100 Milli-
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onen DM. Ich habe die Frau Staatssekretärin im Finanz-ministerium – leider Gottes ist sie jetzt weg –
kürzlich schon danach gefragt, aber sie hat ausweichendgeantwortet. Sie hat gesagt, die in der LandwirtschaftTätigen profitierten ja auch von der Erhöhung des Kin-dergeldes und von der Absenkung des Mindeststeuersat-zes. Wohl wahr, aber selbst wenn ich das in Ansatz bringe,bleibt eine Zusatzbelastung von 100 Millionen DM imJahr. Erst in den Jahren 2005 und 2006 gibt es einenGleichstand und eine Verbesserung.
Diese Belastungen bringen Sie hier noch zusätzlichein, ganz abgesehen davon, dass im agrarsozialen Bereichdie Belastungen, die die gesamte Gesellschaft zu tragenhat, natürlich ebenfalls zu spüren sind. Bei einer Er-höhung der Beiträge in der gesetzlichen Rentenversiche-rung kommt es parallel selbstverständlich auch zu einerErhöhung der Beiträge in der landwirtschaftlichen Alters-sicherung. Insofern gibt es zwar einen Gleichklang, aberdie Einsparungen im landwirtschaftlichen Sozialbereichgehen noch zusätzlich zulasten der Landwirte. Man kannalso nicht so tun, als wäre man auf dem besten Weg, dieLandwirtschaft in den Stand zu versetzen, in Zukunft imWettbewerb – Stichwort Osterweiterung und StichwortWTO – bestehen zu können. Es ist ein Riesenfehler vonIhnen, dass Sie die gegebenen Möglichkeiten nicht nut-zen.Ein weiteres Beispiel. Der Herr Umweltminister Trittinwill bei der Umweltverträglichkeitsprüfung eine Ver-schärfung um 25 Prozent einführen – wir haben heuteüber diesen Gesetzentwurf in erster Lesung nicht debat-tiert – und er will damit die Anhebung auf das europäischeNiveau, die wir in der letzten Legislaturperiode durchge-setzt haben, wieder rückgängig machen.
– Das stimmt. Sie haben ja nachher die Möglichkeit, Ge-genargumente anzuführen.Angesichts der Tatsache, dass Minister Trittin 10 Pro-zent der Fläche der Bundesrepublik als Biotopvernet-zungsfläche ausweisen will, haben wir Wettbe-werbsverzerrungen zu erwarten. Wir werden sehen, wases heißt, die Verbandsklage zuzulassen. Wir werden se-hen, welche Auswirkungen sich bezüglich des Eigentumsergeben, wenn wir die zusätzlichen Lasten, die zugunstender Gesellschaft getragen werden müssen, einseitig aufden Berufsstand abwälzen, der unsere Kulturlandschafterhält und pflegt. Es ist eine Herabwürdigung der Arbeit,die wir doch von den Landwirten fordern, wenn wir ihnenimmer wieder Prügel zwischen die Beine werfen. Das istnicht in Ordnung.
Ganz zu schweigen von den Haken, die die MinisterinFischer bei der Zulassung des Bt-Maises schlägt! Es istkeine Wettbewerbsgleichheit, sondern eine Erschwernis,wenn wir in Zukunft mit der gentechnischen Entwicklungnicht Schritt halten können; denn früher oder später wirdes einen Wettbewerb in diesem Bereich geben. Dann se-hen wir alt aus, weil wir Minister haben, die ihre Politikaus dem Bauch heraus betreiben und die sich nicht an denEmpfehlungen des wissenschaftlichen Beirats, den sieselber eingesetzt haben, orientieren, sondern genau dasGegenteil machen. Das ist die Politik dieser Bundesre-gierung.
Meine letzte Bemerkung: Es ist wenig glaubhaft, wennim Entschließungsantrag der Regierungskoalition steht,dass man die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirte stärkenwill. Was Sie bis jetzt vorgelegt haben, bewirkt in Bezugauf das Schaffen von Rahmenbedingungen im nationalenZuständigkeitsbereich genau das Gegenteil.Herzlichen Dank.
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Detlev von Larcher.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Mein Kollege Ortel hat schon eineReihe bedeutender Landwirte in diesem Hause begrüßt.Ich möchte den Kreislandwirt aus dem Landkreis Diep-holz, Herrn Lothar Lampe, und seine liebe Frau begrüßen.Ich gehe einmal davon aus, dass Minister Funke nach-her davon spricht, dass die EU-Osterweiterung eineChance für die deutsche Landwirtschaft bedeutet undnicht nur eine Gefahr, die Sie immer an die Wand malen.
Deswegen will ich zu diesem Punkt nichts sagen.Ich möchte Sie daran erinnern, dass zurzeit in DenHaag der Weltklimagipfel stattfindet. Dabei geht es un-ter anderem darum, gegenüber den USAund Japan durch-zusetzen, dass wenigstens ein Teil der Verpflichtungen zurCO2-Minderung im jeweiligen Land selbst erbracht wer-den muss. Es geht darum, durchzusetzen, dass sich keinLand einfach von seiner Verantwortung für das Weltklimafreikaufen kann. Diese Position hat auch die frühereBundesregierung vertreten.Gleichzeitig lassen Sie, meine Damen und Herren vonder rechten Seite des Hauses, schon seit Monaten keineGelegenheit aus, mit plattem Populismus gegen eines derwichtigsten Instrumente zur Verringerung des Energie-verbrauchs zu Felde zu ziehen. Ihre Doppelzüngigkeit istwirklich unerträglich.
Wir bleiben dabei: Die ökologische Steuerreform ist einsehr wichtiges Instrument, den Energieverbrauch lang-fristig zu senken
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und Bürgern und Unternehmen Anreize und vor allemeine verlässliche Planungsgrundlage für Investitionen inEnergie einsparende Technik zu geben.
Wir alle wissen, dass Sie das jenseits Ihrer taktischenÜberlegungen genauso sehen.Nun könnte ich eigentlich wieder einmal die ganzelange Latte von Zitaten bringen, von Frau Merkel, vonHerrn Schäuble, von Herrn Repnik. Das will ich mir spa-ren. Ich möchte nur ein Zitat von Herrn Repnik bringen,weil man dieses Zitat so selten hört. Er erklärte nämlichim „Tagesspiegel“ vom 2. Mai 1995:Umweltverbrauch zu billig, Arbeit zu teuer –Deutschland muss notfalls im Alleingang die Öko-steuer einführen und die Lohnkosten senken.
Wo er Recht hat, hat er Recht.Wir haben immer Wert darauf gelegt, die Ökosteuer somaßvoll zu erheben, dass die Wettbewerbsfähigkeit derUnternehmen nicht beeinträchtigt wird. Das gilt auch fürdie Landwirtschaft.
– Das ist überhaupt kein Quatsch. Sie leugnen ja dieganzen Effekte unserer Steuerpolitik. Wenn man diesealle nicht berücksichtigt, immer nur die Erhöhung betontund dann noch so tut, als sei die Ökosteuer an den gegen-wärtigen Preissprüngen schuld, dann kommt man zu sol-chen komischen Zwischenrufen wie vonseiten der F.D.P.
Herr Kol-
lege von Larcher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schindler?
Vielleicht wartet er noch
ein bisschen und stellt sie dann.
– Also, dann bitte, schwarzer Bruder.
Lieber Kollege
– oder auch: roter Bruder; warum denn nicht –, trotz al-
lem menschlichen Verständnis und der guten Freund-
schaft – das soll auch bei aller Unterschiedlichkeit in der
Debatte zum Ausdruck kommen – möchte ich Sie fragen:
Bestätigen Sie, dass die deutsche Landwirtschaft, wie das
Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung
festgestellt hat, durch die Ökosteuer mit 1,1Milliarden DM
belastet wird? Bestätigen Sie weiterhin, dass die Rück-
nahme der Gasölverbilligung aus 1998 – da war sie mit
850 Millionen DM noch voll erhalten – in der energiepo-
litischen Gesamtbilanz, die wir jetzt nach zweieinhalb
Jahren Rot-Grün ziehen müssen, dazu führt, dass wir
1,1 bis 1,2 Milliarden DM netto drauflegen müssen? Dass
noch Haushaltskürzungen aufgrund der ersten Stufe der
Steuerreform, bei der die Erhöhung des Kindergeldes so
groß verkündet wurde, und der zweiten Stufe der Steuer-
reform in diesem Sommer hinzukommen, will ich jetzt
nicht bewerten. Bleiben wir bei der energiepolitischen
Debatte!
Bestätigen Sie weiterhin, dass die Anhebung des Steu-
ersatzes von 23 Pfennig auf 57 Pfennig eine Erhöhung um
über 100 Prozent darstellt?
Herr Präsident, ichkönnte jetzt fast meine gesamte Rede, die ich vorbereitethabe, als Antwort auf die Zwischenfrage vorlesen. Dannblieben noch sechs Minuten übrig.
– Und das ist zu viel.Ich bestätige das natürlich nicht, lieber schwarzer Bru-der, vor allen Dingen die 1,1 Milliarden DM nicht. Dass23 Pfennig weniger als die Hälfte von 57 Pfennig sind, istnach Adam Riese natürlich richtig. Aber ich habe ja ge-sagt, Sie sollten vielleicht ein bisschen warten und erstdann Ihre Frage stellen; denn mit diesen Punkten will ichmich gerade auseinander setzen.Vor dem Hintergrund, dass die Landwirtschaft in denmeisten EU-Staaten Diesel zu zum Teil stark ermäßigtenSteuersätzen bezieht, ist es notwendig, auch den deut-schen Agrarbetrieben verbilligten Kraftstoff zur Verfü-gung zu stellen. Dies werden wir ab dem 1. Januar 2001mit dem Agrardieselgesetz tun. Für die Landwirtschaftwird damit – darum geht es doch – die Mineralölsteuer-belastung des Dieselkraftstoffs auf 57 Pfennig pro Literbegrenzt und damit von den beschlossenen weiteren Stu-fen der Ökosteuer ausgenommen. Auch deshalb sind Siemit Ihren ständigen Attacken gegen unsere ökologischeSteuerreform schief gewickelt.Richtig ist, dass die Landwirte in einer Reihe von EU-Mitgliedstaaten noch billiger tanken können. Auch wirhätten uns durchaus eine niedrigere Belastung für denAgrardiesel gewünscht. Wir haben hin und her überlegt,ob wir das schaffen können. Aber ich muss Ihnen leidersagen, dass Sie von der CDU/CSU diejenigen waren, diedas unmöglich gemacht haben.
Ihnen steht es nicht an, „Haltet den Dieb!“ zu rufen; dennder Dieb sind Sie selber.Sie waren es doch, die den Bundeshaushalt mit einervöllig verfehlten Finanzpolitik in eine so katastrophaleLage hineinmanövriert haben,
dass wir im letzten Jahr ein Haushaltssanierungs-gesetz auflegen mussten. Sie waren es, die den größten
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Detlev von Larcher12844
Schuldenberg hinterlassen haben, den es je in Deutsch-land gegeben hat.
Sie sind verantwortlich dafür, dass die Gasölbeihilfe inder bis 1999 geltenden Höhe nicht mehr zu halten war.Wir mussten hier wie auch in vielen anderen Bereichenschmerzhafte Einschnitte machen.Ich will Folgendes ganz leise anmerken: Niemandaußer den Landwirten hätte es verstanden, wenn nichtauch sie ihr Scherflein zur Haushaltssanierung hätten bei-tragen müssen. Ich kenne die Debatte sehr wohl; ichwohne schließlich in einem ländlichen Wahlkreis. Ichweiß, wie unterschiedlich die Debatte in den verschiede-nen Bevölkerungsgruppen geführt wird.
Auch unabhängig von den enormen Belastungen fürden Haushalt kann es keine vernünftige Lösung sein, dieBesteuerung des Diesels für die Landwirtschaft weiter zusenken oder gar die Verwendung von Heizöl zu gestatten.Wir wollen doch auf europäischer Ebene eine Beendigungdes steuerlichen Subventionswettlaufs erreichen. UnsereBemühungen würden nicht glaubwürdiger, wenn wir indiesem Wettlauf jetzt einen Gang höher schalten würden.
– Sie schreien „Fangen Sie an“! Sehen Sie sich doch ein-mal an, was Finanzminister Eichel macht! Und Sie gebenuns den Rat, beim Wettbewerb einen Zahn zuzulegen?Wenn es nach Ihrer Logik ginge, würden wir zu einemNullsteuersatz kommen und müssten am Schluss nochZuschüsse zahlen. Deswegen bin ich dafür, dass wir un-sere Bemühungen in der Europäischen Union koordinie-ren und dafür sorgen, dass dieser ruinöse Steuerwettbe-werb nicht stattfindet.
Herr Kol-
lege von Larcher, der Kollege Heinrich möchte seinem
„roten Bruder“ eine Frage stellen.
Nein, ich lasse jetzt keine
Frage mehr zu.
– Wenn Sie ein bisschen zuhören würden, würden Sie
merken, dass ich wirklich zur Sache spreche und dass es
nicht angemessen ist, – –
– Lassen wir das!
Ich halte also fest: Das Agrardieselgesetz ist ein Kom-
promiss, der die Landwirtschaft gegenüber der Aus-
gangssituation im nächsten Jahr um knapp 500 Millionen
DM und im Jahr 2003 sogar um 700 Millionen DM ent-
lastet. Es ist ein Kompromiss, der die Landwirtschaft auf
mittlere Sicht vor weiteren Mineralölsteuererhöhungen
schützt. Ein Kompromiss ist selten ein Grund zum Jubeln.
Aber dieser Kompromiss ist erst recht kein Grund, in Ge-
jammer zu verfallen. Es wurden hier schon Landwirte zi-
tiert; ich erwähne nur den Landwirt Gerd Brünning aus
Kirchweyhe, der sagt: Es ist nicht schön, was ihr macht,
aber so schlimm ist es auch wieder nicht.
– Kommen Sie mit! Er wird es Ihnen bestätigen.
– Das ist eine Unverschämtheit! Hier reden Sie immer
über die gute Arbeit der Landwirte; das bestätige ich. Aber
dieser Zwischenruf ist eine Unverschämtheit gegenüber
den Landwirten.
Nun darf man für den Vergleich der ökonomischen Si-
tuation der Landwirte in den verschiedenen Ländern nicht
nur den Dieselpreis heranziehen. Für die deutschen Land-
wirte ist der Agrarsozialbereich besonders wichtig. Da
müssen gerade wir Sozialdemokraten uns nicht ver-
stecken; denn unsere Landwirte sind sehr zufrieden damit.
Ich erinnere an die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. In diesem
Programm steckt zum Beispiel ein Teil der Mittel, die vor-
her durch die Gasölbeihilfe gebunden waren. Ich erinnere
auch an das Programm „Proland“; so heißt es in Nieder-
sachsen. Mit EU-Geldern und Geldern aus den Landes-
haushalten verbessern wir die Struktur des ländlichen
Raumes insgesamt und tun damit natürlich auch etwas für
die Landwirtschaft und für die Landwirte, die ja in diesem
Raum leben. Außerdem nenne ich das Gesetz zur Förde-
rung erneuerbarer Energien. Darauf ist schon hingewie-
sen worden.
Das sind nur einige Beispiele. Man müsste noch viele
aufzählen, um zu einem zutreffenden Vergleich der Situa-
tion unserer Landwirte mit denen in anderen europäischen
Ländern in der Lage zu sein. Guckt man dagegen nur auf
den Kraftstoffpreis, dann bekommt man ein einseitiges
und schiefes Bild. Deswegen fordere ich Sie, meine Da-
men und Herren von der F.D.P. und von der CDU/CSU,
auf: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu!
Ich gebe
dem Kollegen Albert Deß für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident Seiters!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Hier wurdemehrmals die Staatsverschuldung angesprochen. Deswe-gen möchte ich hierzu einige Zahlen ins Gedächtnis ru-fen: 1982 haben wir von der SPD-geführten Bundesre-gierung eine Staatsquote von 50,1 Prozent übernommen.
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Detlev von Larcher12845
Der Haushaltsanteil am Bruttoinlandsprodukt lag bei15,4 Prozent, und das ohne Wiedervereinigungskosten.1998 haben wir die Regierung mit einer Staatsquote von48 Prozent, also 3 Prozent niedriger als 1982, und einemHaushaltsanteil am Bruttoinlandsprodukt von 12 Prozent,also 3,4 Prozent niedriger als 1982, übergeben. Das musshier endlich einmal zur Kenntnis genommen werden.
Wenn man hier nur absolute Zahlen nennt, dann muss manwissen, dass sich 1998 das Bruttoinlandsprodukt gegen-über 1982 um das Dreifache erhöht hat.Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt möchteich – mit Genehmigung des Herrn Präsidenten – aus ei-nem parteiinternen Papier der SPD zitieren. In diesem Pa-pier vom 10. November 1999 heißt es:Liebe Genossinnen und Genossen, die Auswirkun-gen der Beschlüsse zur Haushaltssanierung und zurÖkosteuer auf die Landwirtschaft sind beträchtlich.Die meisten landwirtschaftlichen Familien werdenmehr oder minder deutliche Einkommenseinbußenhaben.Auf acht Seiten wird dann der ganze Horrorkatalog dernationalen Belastungen für die deutsche Landwirtschaftdargestellt. Am Ende wird festgehalten – ich zitiere wie-der –:Die Koalitionsfraktionen haben deshalb die Bundes-regierung aufgefordert, bis zum Februar 2000 Vor-schläge zu erarbeiten, wie die Wettbewerbsfähigkeitder deutschen Agrarwirtschaft weiter verbessert, dieLand- und Forstwirtschaft im Vergleich zu anderenWirtschaftszweigen angemessen entlastet und dieEntwicklung der ländlichen Räume gesichert werdenkönnen.Das ist ein sehr deutlicher Auftrag an die rot-grüne Bun-desregierung. Und was hat diese rot-grüne Bundesregie-rung, was hat Minister Funke getan, um diesenAuftrag zuverwirklichen? – Nichts, was der eigenen Zielsetzung ent-spricht. Mit dem Agrardieselgesetz wird klar, dass es be-züglich der Umsetzung der eigenen Zielsetzungen einetotale Fehlanzeige gibt. Dieser Minister ist zum Null-Er-folg-Minister dieser Bundesregierung geworden.
Harry Peter Carstensen hat bereits aus dem „Top-Agrar“-Interview vom November 1998 zitiert. Ich wie-derhole es, damit es in der Bevölkerung entsprechend be-kannt wird. Darin hat Minister Funke angekündigt:Steuerliche Mehrbelastungen sind für die Landwirt-schaft in der jetzigen Situation nicht verkraftbar unddies will die SPD auch nicht.Ich muss sagen: Dieser Minister ist laufend umgefallen.Er ist umgefallen bei der Senkung der Vorsteuerpauschalevon 10 auf 9 Prozent, er ist umgefallen bei der ersten undzweiten Steuerreform, er ist umgefallen bei der Ökosteuerund er ist umgefallen beim Agrardieselgesetz.
Wenn man die ganze Entstehung des Entwurfs einesAgrardieselgesetzes betrachtet,
kann man nur noch von einem politischen Theater spre-chen. Eine andere Aussage ist hier nicht möglich. Zuerstwurde für das laufende Jahr der Haushaltsansatz für dieSteuerrückvergütung gewaltig gekürzt. Dann wurde von57 Pfennig pro Liter gesprochen, dann von 47 Pfennig,dann von 50 Pfennig; dann sprechen die Grünen wiedervon einem anderen Steuersatz mit Unter- und Obergren-zen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Tatsacheist und bleibt: Rot-Grün verteuert den Treibstoff.
Lieber Kollege Ulrich Heinrich, du hast die damaligeSteuerbelastung noch zu hoch dargestellt. In unserer Re-gierungszeit, noch 1998, betrug diese – ohne Mehrwert-steuer – 21 Pfennig. Seitdem Scharping brutto mit nettoverwechselt hat, müssen wir da aufpassen.Wenn dieses Gesetz beschlossen wird, werden ab 200157 Pfennig gezahlt werden müssen. Wenn man sich an-sieht, welchen Unterschied das zu anderen Staaten aus-macht, wird die Wettbewerbsverzerrung deutlich: Einfranzösischer Kollege wird nach dem jetzigen Steuersatzbei nur 10 000 Liter Dieselverbrauch im nächsten Jahrcirca 500 DM Steuern zahlen. Ein deutscher Landwirtwird bei 10 000 Litern 5 700 DM bezahlen. Wenn daskeine Wettbewerbsverzerrung ist, dann weiß ich nicht,was Wettbewerbsverzerrung bedeutet.
Wenn ich von einem durchschnittlichen Einkommen derdeutschen Landwirte ausgehe, bedeutet dies eine Ge-winnminderung von etwa 10 Prozent allein durch die Ver-teuerung der Energie in dem Bereich, den die Regierungzu verantworten hat. Wie soll die deutsche Landwirtschaftso wettbewerbsfähiger werden, wozu sie von dieser Bun-desregierung dauernd aufgefordert wird?Ich halte es auch für eine Verhöhnung, wenn in der Öf-fentlichkeit davon gesprochen wird, dass die Landwirt-schaft mit dem heutigen Gesetz eine Entlastung von700 Millionen DM erfährt. Tatsache ist, dass die deut-schen Bauern über 1 Milliarde DM mehr bezahlen als diefranzösischen Bauern.
Das ist meiner Ansicht nach nicht hinnehmbar.Davon zu reden, dass diese Regelung in Brüssel no-velliert werden muss, finde ich schon hanebüchen. Sicherist der Ansatz richtig, dass in Brüssel ein Agrardieselge-setz auf europäischer Ebene erlassen werden müsste. Aberich kann doch die Verantwortung nicht nach Brüsselschieben, wenn ich national verantwortlich bin und es zu-lasse, dass die Steuersätze in Deutschland so massiv er-höht werden. Das ist meines Erachtens nicht mehr als einbilliges Ablenkungsmanöver.
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Ich finde es schon gravierend, dass sich unser Bundes-landwirtschaftsminister nicht einmal in seiner eigenenFraktion bzw. gegenüber den Grünen durchsetzen konnte.Zu einem Minister, der so wenig Durchsetzungsvermögenbesitzt, hat die deutsche Landwirtschaft das Vertrauenverloren.
Im Agrarbericht 2000 ist nachzulesen:Von herausragender Bedeutung ist dabei die Stär-kung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Land-wirtschaft, damit sie sich im europäischen und inter-nationalen Wettbewerb behaupten kann.Die Bundesregierung hat Recht, wenn sie dies schreibt.Aber weil sie anscheinend merkt, dass sie diese Zielenicht vertritt, heißt es im gleichen Agrarbericht, dass eineÜberprüfung der nationalen Agrarpolitik notwendig sei.Diese Überprüfung ist in der Tat notwendig. In diesenzwei Jahren sind Kürzungen im Agrarbereich vorgenom-men worden – dies war ein reiner Horrorkatalog – zumNachteil der deutschen Landwirtschaft. Das kann nichthingenommen werden.Die CDU/CSU hat daher einen Antrag eingebracht, indem sehr deutlich die Punkte aufgeführt sind, die ver-wirklicht werden müssen, damit die deutsche Landwirt-schaft wettbewerbsfähiger wird. Denn ich halte es nichtfür angebracht, wie diese Bundesregierung die deutschenBauern und auch die deutschen Bäuerinnen behandelt, dieEnormes leisten, damit unsere wertvolle Kulturlandschaftgepflegt wird. Wenn es Bundesländer gibt, die ihre Bau-ern unterstützen, was die Honorierung der Erfüllung vonUmweltauflagen anbelangt, dann sind es der FreistaatBayern und das Land Baden-Württemberg, vielleichtauch noch einige andere Bundesländer. Rot-grün-regierteLänder sind aber nicht darunter. Daran sieht man am bes-ten, welchen Stellenwert die Landwirtschaft bei Rot-Grünhat.
Für mich war es von vornherein klar: Wenn Rot-Grün dieBundesregierung stellt, dann werden die Benachteiligun-gen für die Landwirtschaft genauso fortgesetzt,
wie sie bereits in den rot-grün-geführten Bundesländernerfolgt sind.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich gebenunmehr dem Bundesminister für Ernährung, Landwirt-schaft und Forsten, Karl-Heinz Funke, das Wort.Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
ten Damen und Herren! Vorab will ich auf zwei Vorhal-tungen eingehen, die jenseits der Thematik gemacht wor-den sind. Der erste Vorwurf war, ich sei in Australiengewesen, als man über Agrardiesel diskutiert habe, undich hätte hier bleiben sollen. Erstens habe ich die Ge-spräche selbstverständlich vorher und nachher geführt.Das weiß jeder, der einigermaßen Bescheid weiß. Zwei-tens will ich deutlich sagen: Angesichts der Tatsache, dassfrühere Bundesregierungen internationale Kontakte sträf-lichst vernachlässigt haben, ist es notwendig, diese Kon-takte wieder aufzubauen, zu beleben und auszudehnen.
Das sage ich als jemand, der nachweislich dafür bekanntist, dass er gar nicht so gerne reist. Damit auch das einmalklar ist.Es gibt auf europäischer Ebene eine Absprache, dasswir uns gerade wegen der WTO-Verhandlungen, dass wiruns auch wegen des Werbens für das Modell der europä-ischen Landwirtschaft, für die Multifunktionalität kenn-zeichnend sein soll, auf diese Reisen begeben, um in derCairns-Gruppe und in Amerika das, was wir wollen,durchsetzungsfähig zu machen. Ich halte das für notwen-dig und befinde mich damit im großen Chor derer, die das– Gott sei Dank – tun.
– Warum sind denn die Kollegen, die vorher in diesemAmt waren, nie in Australien gewesen? Australien istwortführendes Mitglied der Cairns-Gruppe, Herr KollegeCarstensen.Ich habe heute nur eine Debatte über Subventionengehört – das ist bedauerlich – und keine Debatte überStrukturen, über den internationalen Handel und Markt-chancen.
Wer so über Agrarpolitik redet, hat wesentliche Elementeverschwiegen
und – da wissen Sie, Herr Kollege Carstensen, genau Be-scheid – reduziert auf das, was seiner Ansicht nach kri-tikwürdig ist. Das hat mit der Realität und der Zukunft derLandwirtschaft in Deutschland und Europa verdammtwenig zu tun. Das muss ich ganz deutlich sagen.
Einen zweiten Punkt – er ist nicht so wichtig – will ichnur am Rande erwähnen. Herr Kollege Heinrich, ich habeden Agrarbericht natürlich vor der Beratung in den Aus-schüssen selbst eingebracht. Mir ist gesagt worden – ichwill das aber gerne nachprüfen –, das sei auch so üblich.
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Deshalb habe ich heute nicht als Erster hierzu gesprochen.Das war auch vorher nicht anders.
Aber daran soll es nicht liegen. Ich bin kein Freund über-triebener Formen. Aber wenn es der Höflichkeit dient, binich beim nächsten Mal gerne bereit, die Sache anders zuhandhaben; das ist gar keine Frage. Aber für entscheidendhalte ich es nicht – Sie wahrscheinlich auch nicht.
Ich sprach es eben schon an: Dies ist von Ihrer Seiteeine Debatte über Subventionen und nicht über Struktu-ren. Kollege Deß, von mir aus kann man ja über Land-wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit auch im Rahmenstaatlicher Unterstützung reden. Aber bitte nehmen Siedoch auch einmal zur Kenntnis, was die Wissenschaft undGutachten belegen! Es besteht nämlich die Notwendig-keit zur strukturellen Veränderung, um die deutsche unddie europäische Landwirtschaft wettbewerbsfähig zu ma-chen.
Ich kann das jetzt angesichts der knappen Zeit nicht näherausführen; das habe ich im Ausschuss getan. Aber da wirdmir nicht geantwortet, weil Sie wissen, dass es stimmt.
Wer zum Beispiel bei der Einführung der Milch bei derBörse in Bayern sieben Bezirke einrichtet – mit all denAuswirkungen auf die Angebote –, muss mir nicht etwasüber die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deut-schen Landwirtschaft, in diesem Fall der Bauern, die mel-ken, erzählen.
Das ist wirklich jenseits aller Ökonomie. Nun erwarte ichnicht, dass Sie hier etwas über Ökonomie sagen. Nur,dann muss man das, was man vorträgt, auch als Lyrik de-klarieren.
Reden wir jetzt einmal über Strukturen und schauenwir nach Bayern! Warum wird denn dort festgestellt– nicht von mir, ich zitiere nur; man kann es in regie-rungsamtlichen Berichten nachlesen –, dass es dort einenso genannten Strukturstau gibt? Ich würde mich damiteinmal auseinander setzen, bevor ich mich derartig zurWettbewerbsfähigkeit äußere, Kollege Deß.Herr Carstensen, ich gehöre nicht zu denen, die be-haupten, dass es ausschließlich das Verdienst dieser Bun-desregierung sei, dass die Landwirte am Markt gegen-wärtig mehr Einkommen erzielen. Ich habe frühernämlich immer kritisiert, wenn ein Bundesminister dasfür sich in Anspruch nahm. Aber dass auch die Agenda inihrer Anlage mit dazu beiträgt, dass wir, was Angebot undNachfrage anbelangt, bessere Marktbedingungen habenund dass die Gewinnmöglichkeiten am Markt für dieLandwirtschaft gegenwärtig besser sind, ist auch Wahr-heit.
Die Marktentlastung erfolgt durch den Abbau der Preis-und Marktstützung, verbunden mit zusätzlichen Aus-gleichszahlungen, auch aufgrund des Euro-Dollar-Ver-hältnisses, aber vor allen Dingen durch die Agenda.
Das fällt Gott sei Dank alles zusammen. Dies wird Ihnenauch von allen bestätigt werden, die das agrarökonomischuntersuchen.Ich lege nur Wert darauf, festzustellen, dass das so ist.Ich meine damit gar nicht die Schweinepreise. Ich denkegegenwärtig an die Rinder- und die Milchpreise, weil wirin dem Fall – auch bei Weizen und Gerste – ohne Export-erstattung exportieren können. Dadurch haben wir bes-sere reale Marktpreise.
– Lesen Sie das bitte nach! Ich bin bisher davon ausge-gangen, dass Ihnen die Zusammenhänge zwischen Preis-und Marktstützung und Exporterstattung sehr wohl be-kannt sind. Das ist eigentlich das Einmaleins europäischerAgrarpolitik, seitdem wir eine gemeinsame Marktord-nung haben.
Ich will noch etwas zur Steuerreform sagen. Es ist jabemerkenswert, dass diese eigentlich nicht mehr kritisiertwird, seitdem die Landwirte mit ihren Steuernberatern da-rüber geredet haben. Sie haben hier Landwirte zitiert. Ichkann auch Landwirte von Spitzenbetrieben zitieren, dieschon nach dem ersten Referentenentwurf bei mir waren.Diese haben mir gesagt: Ändert bloß nichts mehr! Ichhabe die Sache einmal prüfen lassen. Ich komme gut wegdabei. – Ich halte es allerdings nicht für möglich, solcheEinzelaussagen – weder Ihre noch meine – zu generali-sieren.Aber ich will auf etwas zu sprechen kommen, was inder Steuerdebatte immer wieder verwechselt wird, wennman, wie heute wieder geschehen, darauf hinweist, dassdie Körperschaften entlastet würden. Ich meine sogar,hier am Rednerpult wäre schon einmal die Rede davongewesen, dass man einen Grenzsteuersatz nicht mit ei-nem Definitivsteuersatz verwechseln darf, was leiderständig in dieser Debatte getan wurde.
Die Körperschaften werden mit einem feststehendenSteuersatz von 25 Prozent besteuert, und zwar ohne dieMöglichkeit, die Gewerbesteuer gegenzurechnen. Dermittelständische Bereich wird von einem Grenzsteuersatzvon 42 Prozent – die Gewerbesteuer wird dabei gegenge-rechnet – betroffen. Grenzsteuersatz bedeutet in diesem
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Bundesminister Karl-Heinz Funke12848
Fall, an der Höchstgrenze mit 42 Prozent belastet zu wer-den. Frau Staatssekretärin Hendricks bestätigt mir das indiesem Fall. Das heißt, bei niedrigerem Einkommen istauch die Belastung niedriger, sodass allenfalls ein Durch-schnittssteuersatz ermittelt werden könnte; dieser würdeauf jeden Fall unter 42 Prozent liegen. Das bedeutet, dassderjenige, der unterhalb des Eingangsfreibetrages liegt,keine Steuern zahlt. Das ist gerade die Bedeutung desGrenzsteuersatzes.Ich gebe zu, dass man es nur verstehen kann, wenn manes weiß und die betriebswirtschaftlichen Feinheitenkennt. Sonst redet man an der Sache vorbei.
Die grundlegende Ausbildung in Agrarökonomie umfasst,Herr Kollege Carstensen, mindestens ein Semester Steu-erlehre. Das war zumindest zu meiner Zeit noch so. Sieaber haben Jura studiert; da soll angeblich alles besser ge-wesen sein. Aber Landwirte wissen, wie das mit derSteuer funktioniert, nachdem sie sich entsprechend habenberaten lassen.In diesem Zusammenhang will ich ein Weiteres auf-greifen: Sie haben davon gesprochen, wir würden denländlichen Raum total vernachlässigen, gleichsam aus-bluten lassen.
– Sie, Herr Kollege Carstensen, haben das gesagt; Sie ha-ben auf den ländlichen Raum verwiesen.
– Entschuldigung, dann nehme ich auch zurück, dass Sieder Auffassung sind, wir hätten mit der zweiten Säule derAgenda und den finanziellen Hilfen, die wir erreicht ha-ben, auf europäischer Ebene ein für Deutschlandhervorragendes Verhandlungsergebnis erzielt und würdendamit eine Stärkung des ländlichen Raumes erreichen,wie sie vorher nie da gewesen ist.
Ich bin den Ländern – von Bayern bis Schleswig-Hol-stein – dafür sehr dankbar, dass sie die ihnen gewährtenProgramme auch umsetzen.
– Herr Kollege Heinrich, ich freue mich sehr, dass Sie sichmelden. Ich kann Ihnen im Vorgriff bereits mitteilen, dassdie südlichen Länder – Bayern, Baden-Württemberg undRheinland-Pfalz – überdurchschnittlich begünstigt wer-den, weil dort eine nebenerwerblich strukturierte Land-wirtschaft vorhanden ist. Im Übrigen ist der ländlicheRaum auf diese Mittel angewiesen.
Da Herr
Minister Funke die Zwischenfrage zugelassen hat, erteile
ich Ihnen das Wort.
Herr Minister, ich wollte Sie
nicht dafür loben, dass Sie mit dafür gesorgt haben, die
zweite Säule der Agenda 2000 zu stärken,
obwohl ich gerne bestätige, dass die zweite Säule zuneh-
mend an Bedeutung gewinnt und die Länder – nicht zu-
letzt Baden-Württemberg – die Förderung gerne anneh-
men. Wir haben im Rahmen der zweiten Säule ein
Programm im Umfang von 300 Millionen Mark aufge-
legt. Daran können sich andere Bundesländer nördlich des
Mains ein Beispiel nehmen.
Ich komme zu meiner Frage: Sie haben eingangs ge-
sagt, wir hätten alle so getan, als wären wir nicht in der
Lage, über Strukturen und marktwirtschaftliche Entwick-
lungen zu reden, sondern würden ausschließlich über
Subventionen und andere staatliche Hilfen sprechen. Ge-
ben Sie mir darin Recht, dass die Bundesregierung mit
den von ihr durchgeführten Maßnahmen – heute werden
wir das Agrardieselgesetz verabschieden – die Landwirt-
schaft zusätzlich belastet,
und stimmen Sie mir darin zu, dass die Opposition be-
sonders verpflichtet ist, auf Verschlechterungen, die ei-
nen Teil der Bevölkerung betreffen, hinzuweisen?
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Herr Kollege Heinrich, ich
bestätige Ihnen ausdrücklich, dass wir auf dem Energie-
sektor – in diesem Fall bei der Dieselbesteuerung – in der
Landwirtschaft gegenüber Konkurrenzländern Wettbe-
werbsnachteile haben.
– Das haben hier alle bestätigt. Ich habe nicht eine Rede
gehört, in der etwas anderes behauptet worden wäre.
Ich bestätige das und bedanke mich bei den Fraktionen
ausdrücklich dafür, dass wir gemeinsam darüber nach-
denken können, wie wir zumindest einen Teil dieser Wett-
bewerbsverzerrungen wieder gutmachen können. Ich ver-
weise in diesem Zusammenhang auf das, was die Kollegin
Naumann – so glaube ich zumindest – gesagt hat. Als wir
das Agrardieselgesetz debattierten, hätten wir andere
Schwerpunkte setzen müssen, wenn wir gewusst hätten,
dass sich angesichts der Marktverhältnisse im Energie-
sektor andere Bedingungen stellten. Ich will Ihnen aber
gerne bestätigen, dass wir hier in einer Verpflichtung ste-
hen.
Herr Minis-ter, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Abgeord-neten Deß?
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Bundesminister Karl-Heinz Funke12849
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Ja.
Herr Minister, Sie haben diezweite Fördersäule angesprochen. Zuvor gab es ja dieMaßnahme der EU-Verordnung 2078/92. Können Sie mirerklären, warum von der Gesamtsumme, die zwischen1993 und 1997 für Deutschland zur Verfügung gestelltworden ist, 0,6 Prozent nach Schleswig-Holstein, 1,7 Pro-zent nach Niedersachsen, 0,9 Prozent nach Nordrhein-Westfalen und 5 Prozent nach Hessen – alles damals SPD-regierte Länder –, in das CSU-regierte Bayern aber35 Prozent und nach Baden-Württemberg 22 Prozent ge-flossen sind? Kann das damit zusammenhängen, dass dierot-grünen Länder keine Kofinanzierungsmittel hatten?Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Nein, Herr Kollege Deß.
– Nein. Da muss ich Sie nun wirklich völlig enttäuschen.In den Gesprächen, die wir mit den Landesministern zurVerteilung dessen, was von Europa kam, geführt haben,haben selbst jene Länder, die jetzt niedrige Prozentsätzeaufzuweisen haben, anerkannt, dass aufgrund der Struk-turen in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalzund Hessen das, was im Rahmen der zweiten Säule derAgenda kommt, unbestritten dorthin muss und nicht inerster Linie in die anderen Länder. Nur ganz nebenbei:Niedersachsen hat das Doppelte wie bei Ihrer Regierung –das Doppelte –, weil wir durch entsprechendes Verhan-deln aus Brüssel mehr Geld als vorher bekommen.
Daraus, meine Damen und Herren, mögen Sie ersehen,dass diese Regierung nach objektiven Kriterien und nichtnach den politischen Verhältnissen in den jeweiligen Län-dern geht.
Die Verteilung dieser Mittel hat mit Kofinanzierungüberhaupt nichts zu tun. Ich weiß von meinem eigenenLand, von Niedersachsen – in den anderen Ländern über-schaue ich das nicht; das will ich aber gerne nachprüfen –,dass dort jede Mark, die im Rahmen der zweiten Säule derAgenda zur Verfügung steht, kofinanziert wird. Das istschlichtweg so.Ich muss jetzt leider diesen Teil verlassen. Ich hättemich gerne noch ein bisschen mit den Größenordnungen,was die Wettbewerbsfähigkeit anbelangt, beschäftigt unddarauf hingewiesen, dass wir uns auch damit zu befassenhaben, wie wir die so genannten variablen Kosten der Be-triebe, die im europäischen Vergleich bei uns überdurch-schnittlich hoch sind, reduzieren können. Ich könnte auchüber das reden, was uns die Maschinenringe richtiger-weise zu der Frage sagen, wo wir gemeinsam mit denLändern noch etwas tun müssen. Ich will dies jetzt nichttun. Die Probleme, die wir haben, löst man jedenfallsnicht alleine dadurch, dass man darauf verweist, wastatsächlich oder vermeintlich weniger an Subventionengezahlt wird. Auf die Notwendigkeit, die Haushaltslagein Ordnung zu bringen, ist in diesem Sinne hingewiesenworden.Aber, meine Damen und Herren, wenn ich mir dieHaushaltsanträge der CDU/CSU ansehe, will ich dochnoch eines sagen – das wird man im Rahmen der Debatteüber den Agrarbericht ja sagen dürfen –: Beim Agrardie-sel müssten Sie, wenn Sie mit steuerbegünstigtem Heizölfahren lassen wollen, rund 1,6 Milliarden DM auf denTisch legen. 450 Millionen DM für die Alterssicherung,200 Millionen DM für die Unfallversicherung, 150 Milli-onen DM für den Vorruhestand, 100Millionen DM für dieGemeinschaftsaufgabe, obwohl die Kosten des Vorruhe-standes im Rahmen der zweiten Säule der Agenda von denLändern übernommen werden könnten. Das ist eigentlichein Sammelsurium von Zahlen – das macht, wenn ich aufdie Schnelle richtig gerechnet habe, 2,8 Milliarden DMaus –, bei dem am Ende jeder weiß, dass das unseriös ist.
Es wird Ihnen draußen garantiert nicht abgenommen, dassdies angesichts der Haushaltssituation, der Notwendig-keiten, die heute, gesamtökonomisch gesehen, bestehen,zu vertreten wäre.Ich muss in diesem Zusammenhang die F.D.P. loben:Sie hat solche Forderungen in diesem Umfange bishernicht gestellt, sondern wesentlich geringere Forderungenerhoben.Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusam-menhang ein Stichwort aufgreifen und auch dies nochzum Agrarbericht sagen: Ich bin froh, dass der Agrarbe-richt, der heute diskutiert wird, in seiner Prognose dieEinkommensentwicklung für das gegenwärtige Wirt-schaftsjahr unterschätzt hat. Gott sei Dank steigen dieEinnahmen der Landwirte, bei all dem, was wir heute sa-gen können, mehr als im Agrarbericht angenommen. Ichbin froh darüber, weil dies Einkommen ist, das über denMarkt erzielt wird und somit – bei allen Schwankungen,unabhängig von politischen Lagen – eine dauerhafteGröße ist. Das ist gut und zukunftsträchtig für die Land-wirtschaft, sodass ich auch optimistisch und positiv da-rüber denke, was uns der Agrarbericht 2000 bringen wird.Ich kann jetzt nicht mehr auf die Fragen zur Osterwei-terung und auf andere Fragen eingehen. Aber Sie kennenmeine Meinung hierzu bereits, auch darüber, wie ich dieWelternährung einschätze und die Chancen, die die deut-sche Landwirtschaft in diesem Sinne hat.Herr Kollege Heinrich, zur Gentechnologie will ichausdrücklich sagen: Ich glaube, der Weg, das, was die Re-gierung auch in Absprache mit den Industrieunternehmengemacht hat, ist richtig. Wir müssen doch wissen, dass esdiesbezüglich Ängste der Verbraucherschaft gibt, dass wir
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die Akzeptanz erhöhen müssen, wenn wir dem in Zukunfteine Chance als Schlüsseltechnologie einräumen wollen.
Ich glaube, das kann man nur gemeinsam schaffen, in-dem man mit Offenheit und mit der Absicht, aufklärendim besten Sinne des Wortes zu wirken, an dieses Problemherangeht. Ich möchte mich – Sie haben das Bundesnatur-schutzgesetz angesprochen – ausdrücklich – das mag deneinen oder anderen überraschen – bei den Vertretern derGrünen-Fraktion für die bisherigen Gespräche bedanken,insbesondere beim Kollegen Trittin, der auch der Mei-nung ist, dass Vertragsnaturschutz oberste Priorität habenmuss. Damit können wir vielen in der Fläche Betroffenenihre subjektiven Ängste nehmen. Das ist ganz wichtig.Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken.
Das, was wir bei der UVP und IVU gemacht haben– ich sage das, damit hier kein Popanz aufgebaut wird –,ist besser als das, was bisher für die Entwicklung derWettbewerbsfähigkeit der Betriebe vorgesehen war.Schauen Sie sich bitte die Zahlen an!Ich möchte mich – damit komme ich zum letzten Punktund auch zum Schluss – beim Kollegen Ortel für das be-danken, was er über das Problem des Tiermehls gesagthat. Ich möchte Ihnen ganz offen sagen – wir haben unsdamit in den letzten Tagen intensiv beschäftigt –, dass dieFranzosen nach unserer Meinung dieses Problems durchdas von heute auf morgen ausgesprochene Verbot derTiermehlverfütterung nicht Herr werden. Das Tiermehlwird in Frankreich zu Lagerungszwecken einfach auf ei-nen Haufen geschüttet. Es soll – ich sage ausdrücklich:soll – bereits ein Fluss durch Ausschwemmungen ver-seucht worden sein.Wir haben in Briefen an den zuständigen EU-Kom-missar Byrne und den französischen Landwirtschaftsmi-nister Glavany unsere Meinung zum Ausdruck gebracht,dass angesichts der obwaltenden Umstände einExportverbot für französisches Tiermehl erlassen wer-den muss. Das ist notwendig, Herr Kollege Ortel. Wirwerden am kommenden Montag im EU-Agrarrat be-schließen, dass die Europäische Union ein solches Ex-portverbot erlassen soll. Das verseuchte Tiermehl darfnicht nach Deutschland importiert werden. Wenn die Eu-ropäische Union ein solches Verbot nicht erlässt, dannmüssen wir auch über nationale Maßnahmen, zum Bei-spiel über eine Eilverordnung, nachdenken. Wir nehmendieses Problem sehr ernst; denn Deutschland ist sauber.Das Tiermehl wird bei uns entsprechend den Vorschriftenhergestellt und verwendet. Wir können uns keine Verwir-rung leisten.
– Vielen Dank, Herr Kollege Heinrich.Ich möchte an die Adresse der Verbraucher sagen: InDeutschland sind sehr viele Schnelltests durchgeführtworden bzw. werden auch noch viele durchgeführt.Deutschland ist Gott sei Dank BSE-frei. Deswegen gibt eskeinen Grund, in irgendeiner Form an der Qualität derdeutschen Rindfleischproduktion zu zweifeln. Zu deut-schem Rindfleisch kann man Vertrauen haben. Man kannes mit Genuss essen.
Herr Kollege Carstensen hat in dieser Woche zumzweiten Mal aus der Bibel zitiert. Die Tatsache, dass IhrSchwiegersohn erfolgreich das Studium der Theologieabsolviert hat
– die Tochter studiert auch Theologie! –, scheint wahreWunder zu wirken. Ich als praktizierender Protestantfreue mich natürlich darüber. Ich bitte Sie, mein Bibelzi-tat – mir fiel während Ihrer Rede, die in meinen Augen einbisschen scharf war, kein besseres ein – so zu nehmen –es ist auch humorvoll gemeint –, wie es ist. Ich möchteJesaja Kap. 41 Vers 24 zitieren – ein sehr berühmtes Zi-tat –:Ihr seid nichts und Euer Tun ist auch nichts und Euchzu wählen ist ein Gräuel.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Ich habe
Sie, Herr Minister Funke, zwar nicht unterbrochen, weil
ich Sie nicht um das Zitat bringen wollte. Aber ich möchte
grundsätzlich feststellen: Natürlich haben die Mitglieder
der Bundesregierung das Recht, am Schluss einer Debatte
zu sprechen und so lange zu sprechen, wie sie möchten.
Da auch bei der nächsten Debatte Mitglieder der Bun-
desregierung sprechen werden, möchte ich diese auf §§ 28
und 44 der Geschäftsordnung hinweisen. Danach könnte
die Aussprache wieder eröffnet werden, wenn ein Mit-
glied der Bundesregierung nach Schluss der Aussprache
oder nach Ablauf der beschlossenen Redezeit das Wort er-
greift. Das möchte ich nicht anregen.
Ich möchte allerdings dem Kollegen Ronsöhr das ge-
wünschte Wort zu einer Kurzintervention erteilen.
Herr Prä-sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! AlsPeter Harry Carstensen das Bibelzitat vorgetragen hat, ha-ben die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen es auf ihnbezogen. Mit dem gleichen Recht beziehen wir Ihr Bibel-zitat, Karl-Heinz Funke, auf Sie. Dann stimmt es auch;denn die Bauern werden danach handeln.Ich finde es etwas eigenartig, dass die Darstellung dersteuerliche Entwicklung beim Agrardiesel in den Aus-führungen des Ministers Funke nur eine sehr untergeord-nete Rolle gespielt hat.
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Bundesminister Karl-Heinz Funke12851
Ich möchte nun auf die Steuerreform zu sprechenkommen. Natürlich hat eine Steuerreform unterschiedli-che Auswirkungen auf Betriebe. Aber der Bauernverbandhat eindeutige Berechnungen vorgelegt. Die landwirt-schaftlichen Buchstellen und deren Organisationen tatendies auch. Beide kommen bis zum Jahre 2005 auf einejährliche Mehrbelastung für die deutsche Landwirtschaftin Höhe von 100 Millionen DM.
– Nicht im Jahre 2001; da haben Sie Recht. Es fängt imJahre 2002 an und trifft auch für die Jahre 2003, 2004 und2005 zu.
– Herr von Larcher, ich habe Sie ausreden lassen.
Von daher finde ich, dass man diese Zahlen zur Kennt-nis zu nehmen hat und nicht immer von einer Entlastungder Landwirtschaft sprechen sollte. Wenn wir hier überStrukturentwicklungen sprechen, dann muss man feststel-len, dass Strukturen auch von Steuern geprägt werden.Landwirte bilden häufig GbRs, um eine bestimmte Struk-turentwicklung und bestimmte Kosten abzufangen.Bei dieser Steuerreform ist es nicht gelungen, dieRücknahme des Unternehmererlasses in Gänze wiedervorzunehmen. Wenn wir schon über die Schaffung vonmodernen Strukturen sprechen, dann müsste es auch vonder Bundesregierung wieder ermöglicht werden, dassman nicht mit einem Mitunternehmererlass zu rechnenhat, wenn man GbRs gründet, und dass man nicht steuer-lich abgestraft wird, wenn man sie wieder auflöst.Sie haben gesagt, hier werde ständig von Subventionengesprochen. Herr Funke, eines finde ich typisch: Wiesosind die 400 Millionen DM, die wir im letzten Jahr derKnappschaft für die Alterssicherung der Bergleute habenzukommen lassen, keine Subventionen? Warum aber sinddie 377 Millionen DM für die landwirtschaftliche Alters-kasse eine Subvention? Diesen Widerspruch lassen wirIhnen – sowohl von der F.D.P. als auch von derCDU/CSU – nicht durchgehen.
Zu einer Er-
widerung hat Bundesminister Funke das Wort.
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Ronsöhr, ers-
tens hätte ich nach Ihrer Einschätzung vielleicht mehr
über Agrardiesel sagen sollen. Aber ich habe auf die
Zwischenfrage von Herrn Heinrich alles gesagt, was man
dazu sagen kann. Sonst wäre es ohnehin dazu gekommen.
Es ist nur so: Wenn Sie glauben, dies sei das einzige
Problem der Landwirtschaft und gehöre in das Zentrum
der Erörterung,
dann – ich weiß gar nicht, wer da „Richtig!“ gerufen hat;
aber derjenige scheint mir eine einigermaßen seltsame
Sichtweise von Landwirtschaft zu haben –
ist darauf aufmerksam zu machen, dass es gravierendere
Probleme gibt. Agrardiesel ist ein Problem unter anderen.
Wenn Sie es so hervorheben, in den Mittelpunkt stellen
und glauben,
dass alles andere, was wir gesagt haben – auch das, was
Frau Höfken zum Thema Landwirtschaft als Energieland-
wirtschaft gesagt hat –, unbedeutsam sei, dann kann ich
nur feststellen: Wenn Sie Agrardiesel für das einzige Pro-
blem überhaupt halten, dann haben wir an sich einen
glücklichen Zustand.
Aber ich verstehe, dass man als Opposition so vorge-
hen muss. Ich freue mich ja im Grunde, dass die Opposi-
tionszeit bei Ihnen dazu geführt hat, dass Sie jetzt zu
solchen Einsichten kommen. Denn als Sie die Mineralöl-
steuer erhöht haben, haben Sie nicht für den entsprechen-
den Ausgleich für die Landwirtschaft gesorgt. Unter die-
sem Gesichtspunkt besteht für Sie also überhaupt kein
Grund, über diesen Aspekt hier so umfassend und inten-
siv zu reden.
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Jetzt
werden Sie aber unverschämt, Herr Minister!)
Meine Damen und Herren, Herr Ronsöhr, was Sie zum
Thema Subventionen gesagt haben, möchte ich aus-
drücklich teilen: Darüber, dass die Tatbestände, die Sie als
Beispiele genannt haben, auch Subventionen bzw. Unter-
stützungen sind, brauchen wir gar nicht zu reden. Damit
habe ich überhaupt keine Schwierigkeiten. Damit wir uns
auch darüber verständigen, möchte ich klarstellen: Ich
vertrete und verteidige diese so genannten Subventionen.
Ich habe lediglich gesagt – dazu stehe ich –: Eine Debatte
über die Zukunft der Landwirtschaft und über den Agrar-
bericht ist total verkürzt, wenn sie sich auf das Thema
Subventionen reduziert und sich nicht mit Fragen der
Strukturen beschäftigt. Darum geht es; dazu stehe ich.
Ich schließedie Aussprache.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr12852
Tagesordnungspunkt 6 a. Wir kommen zu der Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 14/4236. DerAusschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh-lung, den Agrarbericht 2000 der Bundesregierung aufDrucksache 14/2672 zur Kenntnis zu nehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Frage nachder Gegenprobe muss ich, glaube ich, nicht stellen. DasHaus nimmt den Agrarbericht einstimmig zur Kenntnis.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seinerBeschlussempfehlung, den Entschließungsantrag derFraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3380 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grü-nen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU undF.D.P. angenommen.Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-ner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag derFraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünenauf Drucksache 14/3391 anzunehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition ge-gen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS ange-nommen.Tagesordnungspunkt 6 b. Wir kommen zur Abstim-mung über den von der Bundesregierung eingebrachtenEntwurf eines Agrardieselgesetzes, Drucksachen 14/4218,4294 und 4616. Hierzu liegt ein Änderungsantrag derFraktion der PDS auf Drucksache 14/4621 vor, über denwir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungs-antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Än-derungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSUund Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der F.D.P. ge-gen die Stimmen der PDS abgelehnt.Ich bitte nunmehr diejenigen, die dem Gesetzentwurfin der Ausschussfassung zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen derKoalition gegen die übrigen Stimmen des Hauses ange-nommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Der Gesetzentwurf ist mit der gleichenStimmenmehrheit wie in der zweiten Beratung angenom-men.Tagesordnungspunkt 6 c. Wir kommen zur Abstim-mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses fürErnährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksa-che 14/4605 zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mitdem Titel „Tanken von eingefärbtem Agrardiesel unbüro-kratisch ausgestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den An-trag auf Drucksache 14/3105 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-nis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der F.D.P.und der CDU/CSU angenommen.Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann ,Renate Blank, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUHauptstadtkulturförderung– Drucksachen 14/3182, 14/4597 –Berichterstattung:Abgeordnete Eckhardt Barthel
Bernd Neumann
Dr. Antje VollmerHans-Joachim Otto
Dr. Heinrich FinkNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – DasHaus ist damit einverstanden.Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Rednerdem Kollegen Dr. Norbert Lammert für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierunghat in den letzten Tagen zwei spektakuläre kulturpoliti-sche Entscheidungen getroffen, von denen die erste Res-pekt und jede Unterstützung verdient, während die zweitehochproblematisch ist. Beide Entscheidungen bzw. Initia-tiven haben bezeichnenderweise nichts mit dem Haupt-stadtkulturvertrag zu tun, über den wir nun seit Monatenreden und verhandeln. Sie haben aber natürlich erheblichetwas mit Hauptstadtkultur und Bundesförderung in derHauptstadt zu tun.Was die Sicherung der Berggruen-Sammlung fürBerlin und damit für Deutschland angeht, will ich all den-jenigen, die sich darum offenkundig seit geraumer Zeitmit Erfolg bemüht haben, ausdrücklich gratulieren. Ob-wohl ich, wie ich an anderer Stelle deutlich gemacht habe,das Verfahren unter Nichtbeteiligung des zuständigenAusschusses des Bundestages nach wie vor weder für ver-tretbar noch für hinreichend begründet und deswegenauch nicht für akzeptabel halte, stehe ich nicht an, zu sa-gen, dass meine Freude und Begeisterung in der Sachemeinen Ärger über das Verfahren kompensieren. Sie, HerrStaatsminister, haben die Verfahrenskritik auch als be-rechtigt akzeptiert. Damit ist der Vorgang für mich erle-digt.Die CDU/CSU-Fraktion hat mit ihrem Antrag zurHauptstadtkulturförderung, den wir im Frühjahr diesesJahres eingebracht haben, zwei Ziele verfolgen wollen.Erstens. Wir wollten die bereits begonnenen Verhand-lungen zwischen der Bundesregierung und dem BerlinerSenat und die damit verbundene öffentliche Auseinander-setzung in dieses Parlament hineinholen.Zweitens. Wir wollten eine möglichst breite parlamen-tarische Grundlage für eine solide Formulierung des Ver-hältnisses von Bund und Hauptstadt in Fragen der Kul-turförderung erreichen.
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Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters12853
Beides ist gelungen. Wir stimmen nach der heutigenDebatte über eine Beschlussempfehlung des Ausschussesab, die deutlich macht, dass wir in der grundsätzlichenFrage des Verhältnisses zwischen Bund und Hauptstadt,was die Unterstützung von kulturellen Institutionen, Pro-jekten und Anstrengungen angeht, ein hohes Maß anÜbereinstimmung haben und dass es in dieser Hinsichtüberhaupt keinen Streit gibt. Der Kulturstaat Deutschlandmuss unter Wahrung der originären Verantwortlichkeitder Länder und ihrer beispielhaften kulturellen Vielfaltganz besonders in der Hauptstadt erkennbar sein. Dabeidarf sich – das sage ich mit der gleichen Selbstverständ-lichkeit – die Kulturpolitik des Bundes selbstverständlichnicht auf die Hauptstadtförderung reduzieren. In beidenFragen besteht zwischen uns Übereinstimmung. Ichglaube, dass das für die weitere Arbeit eine ganz wichtigeBasis – über den unmittelbar zur Entscheidung anstehen-den Hauptstadtkulturvertrag hinaus – ist.
Die CDU/CSU stimmt wie die anderen Fraktionen derAbsicht von Bundesregierung und Berliner Senat aus-drücklich zu, einen Vertrag zur Kulturfinanzierung inder Bundeshauptstadt abzuschließen. Gegen die konkretvorgesehenen Vereinbarungen des ausgehandelten Vertra-ges haben wir allerdings erhebliche Einwendungen undBedenken. Die vom Bund übernommenen Verpflichtun-gen lassen weder überzeugende Prioritäten noch inhaltli-che Konzeptionen für diejenigen Institutionen erkennen,die in Zukunft ganz in der Verantwortung des Bundes ge-führt werden sollen.Ich finde es ausgesprochen schade, dass die bei derEinbringung dieses Antrages in der Debatte im Mai vonmir für die Fraktionen markierten offenen Fragen in derZwischenzeit entweder nicht beantwortet oder in einerleider sehr unglücklichen Weise behandelt worden sind.Ich kann das im Rahmen der mir zur Verfügung stehendenRedezeit nur stichwortartig belegen.Sie werden sich daran erinnern, dass ich bereits damalsdarauf hingewiesen habe, dass selbstverständlich neu da-rüber nachgedacht werden muss, welche Aufgaben dieBerliner Festspiele in Zukunft haben sollen, nachdemsich der Zweck, zu dem sie zu Beginn der 50er-Jahre ge-gründet worden sind, ganz offensichtlich verbraucht hat.Uns liegt bis heute nur eine einzige Auskunft zu diesemThema vor, nämlich dass der Bund die Verantwortungdafür in Zukunft alleine übernehmen will. Wir wissen,wer in Zukunft anstelle des langjährigen, verdienstvollenLeiters die Führung dieser Festspiele übernehmen soll.Weder von der Bundesregierung noch vom ernannten Lei-ter ist bisher irgendeine Auskunft über die Absicht zuhören gewesen, was mit diesem Instrument dann erfolgensoll.
Wir fühlen uns insofern in der Vermutung sehr be-stätigt, dass unter den Bedingungen einer vitalen, wirklichausstrahlenden Kulturmetropole Berlin für eine solche In-stitution eigentlich überhaupt keine, schon gar keinezwingende Notwendigkeit mehr besteht und dass mandieses Geld an anderer Stelle – für eine Stärkung der Kul-turinstitutionen in Berlin – sinnvoller einsetzen könnte.
Herr Kollege Barthel, ich fühle mich in dieser Einschät-zung durch eine kürzlich erfolgte, sehr bündige Auskunftdes gegenwärtigen Leiters der Berliner Festspiele ausge-sprochen bestätigt.Wir haben in der damaligen Debatte bereits darauf hin-gewiesen, dass das Engagement des Bundes für das Jüdi-sche Museum, für das sich gute Gründe anführen lassen,nur dann plausibel wird, wenn es im Kontext eines ge-schlossenen Konzepts nationaler Gedenkstätten erfolgt,und dass die Beliebigkeit, das Jüdische Museum ohnerechtliche Verpflichtung zu übernehmen, das Mahnmalaufgrund der Entscheidungen des Bundestages zu bauenund die Topographie des Terrors irgendwo im Unverbind-lichen stehen zu lassen, nicht akzeptabel ist. Wir habendafür bisher keine plausible Begründung gehört. Vermut-lich gibt es nur einen schlichten Grund: dass die verfüg-baren Mittel für ein weiteres Engagement nicht ausrei-chen, was, mit Verlaub, bei anderen Engagements, dieeingegangen werden, keine überzeugende Begründungist.
Wir haben schon damals darauf hingewiesen, dass wirsehr für einen Hauptstadtkulturfonds sind, der nebenInstitutionen herausragende Projekte fördert. Wir könnennicht erkennen, dass der gegenwärtige Hauptstadtkultur-fonds, der zwischen den beiden Partnern ausgehandeltwurde, diesen Ansprüchen genügt. Dieser Hauptstadtkul-turfonds unterstützt vielfältige Initiativen, von denen ichdie allermeisten für sinnvoll und einige für zwingend not-wendig halte. Aber darunter ist fast nichts, was nicht in ge-nau der gleichen oder in einer sehr ähnlichen Weise inmehreren Dutzend deutscher Städte auch stattfände. Nur:Dort kommt niemand auf die Idee, dafür eine Förderungaus Haushaltsmitteln des Bundes zu beantragen.
Die Förderung herausragender Projekte mit Ausstrah-lungskraft von Berlin weit hinaus nicht nur in den Rest derRepublik, sondern über die Landesgrenzen hinaus, ist aufdiesem Wege eben nicht zu erreichen.Schließlich muss ich aus gegebenem Anlass an denHinweis, Herr Staatsminister, erinnern, den ich bezüglichder Bemühungen der Bundesregierung, die BerlinerPhilharmoniker in die eigene Verantwortung zu über-nehmen, gegeben habe. Ich habe damals darauf hinge-wiesen, dass es nicht plausibel sei, dass sich der Bundmassiv direkt und indirekt in die Förderung der BerlinerOrchesterszene einschalten will, aber jegliche Verantwor-tung für Musiktheater und Sprechtheater kategorisch ab-lehnt. Ich habe hinzugefügt: Da ist das Interesse am Glanzund am Vermeiden von Risiken offenkundig ausgeprägterals an der Aufstellung eines konsistenten Konzeptes; einsolches ist ja sowieso nur schwer erkennbar.
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Dr. Norbert Lammert12854
Ich hätte diese Äußerungen heute gerne zurückgenommenund bin jetzt ausgesprochen betrübt, dass sich die Be-sorgnisse, die wir damals vorgetragen haben, nun geradedurch die Ereignisse der letzten Tage in einer besondersdrastischen Weise bestätigt haben.Was den ausgehandelten Vertrag angeht, muss ich aus-drücklich noch einmal darauf hinweisen, dass ich es über-haupt nicht akzeptabel finde, dass der Bund mit rund derHälfte der von ihm insgesamt eingesetzten verfügbarenHaushaltsmittel, wenn man den Hauptstadtkulturfondsmiteinbezieht, originäre Finanzverpflichtungen des Lan-des Berlin übernimmt. Hierbei handelt es sich um Ver-pflichtungen, die Berlin aufgrund geltender Verträge ge-genüber der Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat. Mitdiesen Geldern könnte folglich der Bund in der Haupt-stadt Berlin Akzente setzen.
Das tut er nicht, weil er an dieser Stelle Verpflichtungenvon Berlin übernimmt.
Das ist, mit Verlaub gesagt, Herr Staatsminister, unver-nünftig. Es ist im Übrigen, selbst wenn sich hier drin dergute Willen Berlin gegenüber ausdrückt, auch deshalb un-vernünftig, weil eine unsägliche Praxis Berliner Kultur-und Finanzpolitik auf diese Weise durch die Bundespoli-tik geradezu sanktioniert wird. Das können und dürfen wirnicht tolerieren.
Ich komme nun, Frau Kollegin Vollmer, auf die aller-jüngste Entwicklung zu sprechen: Die handstreichartigeZusage von 3,5 Millionen DM für die Staatskapelle bzw.die Staatsoper Unter den Linden ist bestenfalls ein Zei-chen des schlechten Gewissens. Der einzig freundlicheAspekt, den ich diesem Vorgang abgewinnen kann, ist dieoffensichtlich allmählich sich breit machende Einsicht beiIhnen bzw. bei der Bundesregierung – in welcher Reihen-folge auch immer –, dass die Position, die dogmatischeine Mitverantwortung des Bundes für die Lösung derStrukturprobleme der Berliner Opernszene ablehnt, of-fenkundig nicht zu halten ist. Alle anderen damit zusam-menhängenden Absichten sind, mit Verlaub gesagt, unse-riös.Mit dieser einmaligen finanziellen Zuwendung nachder Methode von Sonnenkönigen werden überhaupt keineProbleme gelöst. Es werden die notwendigen Struktur-veränderungen in der Berliner Opernszene nicht beför-dert, sondern behindert. Es wird mit dieser einmaligen Fi-nanzspritze des Bundes weder die Zukunft dieses einenOpernhauses und/oder Orchesters noch die aller in Redestehenden Opernhäuser und ihrer Orchester gesichert. Da-mit findet eine gravierende Ungleichbehandlung Berli-ner Opernorchester ohne jede kulturpolitische Begrün-dung geschweige denn durch irgendeine kulturpolitischeBefassung oder Evaluierung veranlasst statt. Man gibt dasungelöste Problem im Herbst nächsten Jahres auf höhe-rem Kostenniveau, nämlich in Form eines um 3,5 Milli-onen DM gestiegenen Ansatzes, beim Berliner Senat wie-der ab.
Dies ist das genaue Gegenteil einer nachhaltigen Kultur-politik, Herr Naumann, die einem Mindestanspruch anErnsthaftigkeit genügt.
Niemand von uns weiß, woher das Geld dafür auf ein-mal kommt und welche Löcher es an anderer Stelle reißt.Weder der Berliner Kultursenator noch die Intendanz derStaatsoper können mir jedenfalls die Frage beantworten,an wen eigentlich auf welcher haushaltsrechtlichenGrundlage und mit welcher Zweckbestimmung diese Mit-tel weitergereicht werden.Sie werden uns sicher gleich erläutern,
ob das eine Spende der Bundesregierung an die BerlinerStaatsoper oder ans Orchester oder an ihren Dirigentenoder was auch immer ist.Jedenfalls ist bisher überhaupt keine rechtliche Ver-pflichtung des Bundes für eine solche Aktivität zu erken-nen, und Sie haben bislang kategorisch auch nur denGedanken einer solchen Inpflichtnahme des Bundes zu-rückgewiesen, ganz im Unterschied zu uns, die wir mehr-fach die Bereitschaft zu einer solchen wirklich strukturel-len Lösung angeboten haben.
– Wenn sie jetzt da ist, dann nehme ich Sie sofort beimWort, denn ich habe gerade von einer strukturellen Lö-sung gesprochen.Der offensichtliche Versuch der Einflussnahme auf Ber-liner Personal- und Strukturentscheidungen ohne er-kennbare Bereitschaft zu einem dauerhaften kulturpoliti-schen Engagement des Bundes wäre jedenfalls geradezupeinlich. Er würde geradezu den Rest an Reputation einerKulturpolitik zerstören, die nicht an billigen Showeffek-ten, sondern an der Sache orientiert ist und an für die Zu-kunft tragfähigen Lösungen interessiert sein muss. Damitwürden Sie, Herr Naumann, den ich nicht für den Erfinderdieses Handstreichs halte, der Sie aber als Vollstrecker die-ser Schnapsidee auftreten,
Ihre Reputation nachhaltiger gefährden als mit dem al-bernen Übermut Ihrer völlig unnötigen Auseinanderset-zung über Kulturföderalismus und Verfassungsfolklore.
Ich habe, lieber Herr Naumann, mit großem Interessevor wenigen Tagen in einer bedeutenden Berliner Zeitungden Abdruck einer sicher auch bedeutenden Rede gelesen,die Sie vor geraumer Zeit bei einer wiederum sicher be-deutenden Konferenz gehalten haben. Sie hat mindestens
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Dr. Norbert Lammert12855
in der Zeitung – weil Sie zu Recht Wert darauf legen, fürÜberschriften nicht in Anspruch genommen zu werden –die Überschrift „Vom Sinn des Regierens“ und beginntmit dem Satz:Wir treiben Politik ohne Anspruch auf Wahrheit.
Das glaube ich Ihnen aufs Wort, und es ist im Übrigenauch richtig. Wahrheitsansprüche darf die Politik nicht er-heben.
Aber den Anspruch auf Vernunft, den Anspruch auf Ernst-haftigkeit, den Anspruch auf Verlässlichkeit, den An-spruch auf Kultur in der Kultur, den dürfen wir und denwerden wir nicht aufgeben.
Für die
SPD-Fraktion spricht Kollege Eckhardt Barthel.
Herr Präsident,meine Damen und Herren! Bei den letzten Sätzen mitihrem Pathos ist es mir richtig ein bisschen warm umsHerz geworden.
Es war ja eine seltsame Konstruktion einer Rede. Am An-fang habe ich mich gefreut. Ich dachte; Jetzt redet HerrLammert zu dem, was eigentlich vorliegt, nämlich dass eseine gemeinsame Position gibt. Aber am Schluss warenSie weg von dem, was wir heute gemeinsam beschließen,und haben auf eine Einzelmaßnahme geschossen. Dessenungeachtet, dass ich mich darüber nicht gefreut habe, willich es mir nicht verkneifen, da Sie ja heute Geburtstaghaben, Ihnen nicht nur zu gratulieren, sondern Ihnen auchalles Gute zu wünschen. Aber das bezieht sich nur auf Ihrpersönliches Wohlergehen.
– Das haben Sie befürchtet.Meine Damen und Herren, ich sage das wegen der Be-deutung des Themas und weil ich besonders froh bin, dasswir diesen Antrag, diese Beschlussempfehlung heute hiergemeinsam unterstützen.Sie haben das im ersten Teil Ihrer Rede auch sehr starkhervorgehoben, wobei ich einmal sagen möchte: DieserAnsatz, wie Sie es interpretiert haben, beginnend damit,dass Sie eine Position in das Parlament hineinbringen, da-mit dann die Regierung entsprechend handelt, müsste ei-gentlich umgekehrt sein.Das Interessante für uns, als wir Ihren Antrag lasen,war ja, dass wir plötzlich das, was wir schon zwei Jahremachen, wiederfanden. Deswegen gab es auch keine Pro-bleme für uns, dem zuzustimmen, weil es eigentlich eineUnterstützung dieser rot-grünen Koalition und auch derPolitik Naumanns darstellt.Erfreulich an diesem Antrag ist ja auch die Klarheit,mit der hier das besondere Interesse und die besondereVerantwortung des Bundes an der Kulturlandschaft derHauptstadt festgeschrieben wird. Es gibt sogar den Be-griff des Bekenntnisses gleich am Anfang. Ich sage: Ichfinde dieses gut, weil es deutlich macht, dass dieses nichtnur eine Aufgabe Berlins, sondern auch des Bundes ist.Worum geht es dabei? Es geht darum, die in der Tatwohl beispielhafte kulturelle Vielfalt dieser Stadt zu er-halten und weiterzuentwickeln. Wir wissen, wie sie ent-standen ist: preußisches Erbe, aber auch die Funktionszu-schreibung der Teilstädte in Ost und West mit denBegriffen „Schaufenster der freien Welt“, aber auch „Re-präsentative Hauptstadt der DDR“.Wenn wir über die Vielfalt der Kultur in der Hauptstadtsprechen, denken die meisten oder diejenigen, die dieStadt nicht so gut kennen, an die Museumsinsel und an dieOpern, die ja durch den Streit jetzt wieder ganz bekanntgeworden sind.Ich glaube, man sollte, wenn man von Vielfalt redet,auch einmal versuchen, sie darzustellen. Ich habe mir vonder Kulturverwaltung eine Auflistung besorgt: Was gibt eseigentlich? Was macht diese Vielfalt der Kultur in derHauptstadt aus? Es sind nur Zahlen, aber vielleicht gebensie doch einen Eindruck von der Vielfalt, um die es hiergeht.Berlin hat circa 170 Museen, drei Opernhäuser, zweiInstitutionen der leichten Muse, drei staatlicheSprechtheater, zwölf private Sprechtheater. Jetzt kommenGruppen, die im Zusammenhang mit der Frage Kultur-fonds wichtig sind: In der Stadt arbeiten circa 450 freieGruppen, wir haben 200 bis 250 aktive Off-Theater, zweisubventionierte Kinder- und Jugendtheater, 84 öffentlicheBibliotheken, circa 250 Galerien, circa 880 Chöre und15 Orchester.Das ist in der Tat eine Vielfalt, die es zu erhalten und– wenn es nach uns allen ginge – zu erweitern gilt. Es wärewohl unverantwortlich, wenn mit der deutschen Einheit,mit der Wiedervereinigung der Stadt, diese kulturelleVielfalt verloren ginge oder zumindest verringert würde.Nur wissen wir alle: Die Stadt Berlin kann diese Auf-gabe nicht allein leisten. Selbst wenn wir den kulturbe-flissensten Finanzsenator oder den kulturbeflissenstenKultursenator hätten, ihnen beiden sind sehr enge Gren-zen gesetzt. Sie kennen die finanzielle Situation derStadt. Deshalb ist eine Hauptstadtkulturförderung auchweiterhin – ich sage: weiterhin, denn sie wird ja nicht neuerfunden – unverzichtbar.Gleichzeitig aber – das deutete sich ganz klar auch imso genannten Opernstreit an – sind Reformen im LandBerlin auch in diesem Kulturbereich überfällig.
Es geht bei der Frage der Hauptstadtkulturförderungnicht um ein Notopfer Berlin, es geht auch nicht um Sub-ventionierung, sondern es geht um Investitionen im Inte-resse des Bundes und der Länder. Eine Hauptstadt wirktnach außen, und eine Hauptstadt wirkt auch nach innen.
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Dr. Norbert Lammert12856
Nach außen wirkt sie in der Ausstrahlung, und nach in-nen – ich möchte das wirklich nicht unterschätzen – ist dieKultur in einer Hauptstadt auch wichtig für die Identifi-kation der Bevölkerung in Deutschland mit ihrer Haupt-stadt. Ich möchte gern, dass diese Identifikation über Kul-tur geschieht und nicht über Pickelhauben.
Eine Hauptstadtkulturförderung – das erleben wir im-mer wieder in der Diskussion – bedarf natürlich auch derAkzeptanz. Insofern ist für mich die Frage der Haupt-stadtkulturförderung ein sehr sensibles Thema, mit demman vorsichtig umgehen sollte, übrigens auch im Dialogzwischen dem Land Berlin und dem Bund. Ich habe denEindruck, dass sich seit der Zeit, als hier das letzte Mal da-rüber gesprochen wurde, dieser Dialog zwischen demBund und dem Land Berlin verbessert hat.
Meine Damen und Herren, es ist richtig, ja, ich halte esfür selbstverständlich, dass die Hauptstadtkulturförde-rung nicht zulasten der Länder geht. Eine der interessan-testen Aussagen von Vertretern der Länder und der Kom-munen bei der Anhörung zur Haupstadt-Kulturförderungwar für mich: Sie geht nicht zulasten der Länder, sondernhier wird im Gegenteil ein erwünschter kultureller Wett-bewerb in die Wege geleitet. Auch in der Politik der Län-der und Kommunen wird der Stellenwert der Kultur er-höht.Eine letzte Bemerkung zum Hauptstadtkulturver-trag, von dem ich hoffe, dass er bald unterschrieben wird.Wir wollten – da war eigentlich Konsens – Klarheit ha-ben, wohin die Mittel gehen, die vom Bund gegeben wer-den. Wir wollten Transparenz haben und wir wolltenweg von der Mischfinanzierung. Darüber waren sich alleFraktionen einig.Wenn Sie, Herr Lammert, jetzt die Tatsache kritisieren,dass vier Institutionen in die Verantwortung des Bundesgenommen werden sollen, kann man sagen: Es gibt in derTat auch andere Möglichkeiten. Einige Ihrer Vorschlägewürden aber bewirken – das haben Sie als einer derschärfsten Kritiker bisher immer bemängelt –, dass eswieder weniger Transparenz geben würde und dass in denbezuschussten Häusern die Problematik wieder zu findenwäre, die wir eigentlich gemeinsam vermeiden wollten.
Man sollte eine Anhörung nicht der Anhörung wegendurchführen. Ich fand es deshalb ganz interessant, was dersächsische Staatsminister Professor Meyer während derAnhörung zu dieser Frage gesagt hat. Er sagte: Betrachtetdiese Angelegenheit nicht ideologisch, sondern geht ganzpragmatisch vor! Ich glaube, er hat Recht. Diese Auffas-sung findet sich auch im Hauptstadtkulturvertrag wieder.Ich bin besonders froh – ich betone, dass es nicht nurum Opernhäuser geht; ich habe ja vorhin bewusst die ge-samte Liste vorgelesen –, dass es die vielen kreativenund innovativen Projekte in dieser Stadt gibt. Gott seiDank, Herr Lammert, es gibt sie auch woanders. Wir wol-len ja keine Kulturhauptstadt, was in der Tat dem Födera-lismus widerspräche.Ich lege aber Wert darauf, dass die für diese Projektevorgesehenen 20 Millionen DM nicht anderweitig veran-schlagt werden. In diesem Punkt muss es eine Kontrollegeben.
Ich möchte auch nicht, dass der Bund bestimmt, wer ge-fördert wird. Deshalb gibt es den Beirat, den ich für einegute Konstruktion halte.Mit unserem Entschließungsantrag bekennen wir unszur besonderen Verantwortung des Bundes für Berlinohne Verringerung der Kompetenzen der Länder. Sie kön-nen es drehen und wenden, wie Sie wollen: Dies ist aucheine Bestätigung und Unterstützung der Politik, die wir indiesem Bereich schon gemacht haben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun für
die F.D.P.-Fraktion der Kollege Dr. Günter Rexrodt.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Auch die F.D.P.-Bundestagsfraktionbegrüßt, dass es diese gemeinsame Entschließung zurHauptstadtkulturförderung gibt. Es ist dringend erforder-lich, dass nach dem Regierungsumzug nach Berlin eineRegelung für das finanzielle Engagement des Bundes inBerlin gefunden wird. Diese Förderung ist auch vor demHintergrund dringend erforderlich, dass das Land Berlin,ein mittelgroßes Bundesland, die Aufgaben hinsichtlichdes kulturellen Potenzials nicht allein schultern kann.In Berlin befindet sich das Erbe Preußens und das kul-turelle Erbe der DDR. Hier gibt es auch das Erbe derhochsubventionierten, aber über weite Strecken enormleistungsfähigen Kulturlandschaft des alten West-Ber-lins. Die Aufgaben in diesem Bereich allein von demBundesland Berlin schultern zu lassen wäre unmöglich.Das will auch niemand.Verantwortliche Kulturpolitik, zwischen Bund undLand abgestimmt, ist aber nicht nur ein Streit um Subven-tionen oder auch die Suche nach Einsparmöglichkeiten.Der Deutsche Bundestag kann und darf dem Land Berlindie Entscheidung darüber nicht abnehmen, wie die Kul-turpolitik in Berlin im 21. Jahrhundert aussehen muss.Berlin muss das selbst entscheiden. Die große Koalitionmuss aus ihrer Lethargie erwachen. Große Koalitionen tunsich erheblich schwerer als andere Konstellationen. Aberes führt kein Weg daran vorbei, dass endlich etwas ge-schehen muss.Berlin hat einen neuen Kultursenator – parteilosund unverbraucht, wie immer gesagt wird. Er muss einewichtige und überfällige Aufgabe schultern, was nichtganz einfach ist; denn viele Berliner Kulturinstitutionenbefinden sich in einer Krise. Die Bannerträger der Berli-ner Kulturpolitik im Opernbereich sind in die Jahre
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gekommen. Es gibt eine Reihe von einstmals namhaftenBerliner Ballettgruppen, von denen man nichts mehr hört.Die großen Sprechtheater – ich nehme einmal die Volks-bühne am Rosa-Luxemburg-Platz aus – sind auch nicht inallerbester Verfassung. Es gibt Nachfolgeprobleme. DasDeutsche Theater hat mit zwei Verantwortlichen eineschwierige Phase durchzumachen. Das ist nie gut. Ich er-innere mich noch an die Zeit, als ich in Berlin Landespo-litik gemacht habe. Da gab es beim Schillertheater drei In-tendanten. Das war grauenhaft. Am Ende ist dasSchillertheater auch geschlossen worden. Das ist währendjener Zeit eingeleitet worden.Trotz hoher Subventionen – allein für die Opern wur-den 240 Millionen DM bereitgestellt – hört man überwie-gend von Etatproblemen, nicht aber von wegweisendenNeuinszenierungen. Bei den großen Orchestern der Stadtwurde nach der Wende – alle existierten weiter, alle hat-ten ihre Lobbys und Fanklubs – mit Fusionen und Ko-operationen, die nicht durchführbar waren, die unprakti-kabel waren, ein enormer Dilettantismus an den Taggelegt. Die Probleme sind bis heute nicht gelöst. Auchdas, was Herr Stölzl hier vorgelegt hat, funktioniert nicht.Ich bin auf eine Weise froh, dass wir für die Staatska-pelle in der Staatsoper heute im Haushaltsausschuss3,5 Millionen DM bereitgestellt haben. Das war dringenderforderlich. Die Staatsoper kann und soll mit anderenOpern kooperieren, sie darf aber nicht ihre künstlerischeUnabhängigkeit verlieren. Deshalb war es notwendig, fürdie Kapelle einen Betrag zur Verfügung zu stellen.Ich habe hier nur eine sehr beschränkte Redezeit. Ichwill aber einen Lichtblick zur Sprache bringen. Ich meinedie Museumslandschaft Berlins, die in Deutschland,vielleicht sogar in Europa einmalig ist. Ich bin sehr froh– ich sage das auch mit Blick auf die Koalition –, dass dieRekonstruktion der Museumsinsel, wo es Sammlungenvon Weltrang gibt, beschleunigt worden ist. Die Mu-seumsinsel wird noch circa zehn Jahre durch Gerüste ge-prägt sein, aber es ist allerhöchste Zeit und enorm gut,
dass es ein Konzept zur Erschließung der Museumsinseldurch eine neue Ebene gibt. Das ist das eine.Das andere ist das Stadtschloss; ich kann es aus zeitli-chen Gründen hier nur erwähnen. Hier muss dringendeine Entscheidung gefällt werden. Die Diskussion hatlange genug gedauert. Ich gebe zu, dass über die Wieder-errichtung nicht aus dem Stegreif oder in kürzester Zeitentschieden werden kann; aber es wird schon zehn Jahreund länger darüber diskutiert. Nun ist wieder eine Kom-mission eingesetzt worden. Eine Kommission wird immernur dann eingesetzt, wenn man eine politische Entschei-dung verschieben will. Aber diese politische Entschei-dung ist auch dann fällig, wenn die Kommission ihre Ar-beit geleistet hat. Also hätte man die Entscheidung auchjetzt fällen können.
Man hätte sie – das ist meine Meinung – so fällen sollen,dass das Stadtschloss in seiner historischen Fassade wie-der entsteht.Der Präsident weist mich auf das Überschreiten derZeit hin. Ich komme mit meinen Ausführungen zumSchluss.Die Abstimmung ist dringend erforderlich. Der Kul-turhaushalt Berlins muss auf einer sicheren finanziellenBasis stehen. Es muss ein Kassensturz gemacht werdenund es muss geprüft werden, inwieweit kulturelle Ein-richtungen erhalten oder geschlossen werden sollen undwie rationalisiert werden kann. Dass wir diesen Antragheute gemeinsam verabschieden, ist eine wichtige Etappeauf diesem Wege.Schönen Dank.
Jetzt erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichfinde, dass wir heute nicht nur dem Kollegen Lammertzum Geburtstag – dem auch ich gratulieren will –, sonderneigentlich uns allen gratulieren können. Ich glaube, in denvergangenen zwei Jahren, seit es den Kulturausschuss undeinen Kulturstaatsminister, der Michael Naumann heißt,gibt, hatten wir im Deutschen Bundestag mehr Kulturde-batten als in den zwei Legislaturperioden vorher.
Ehrlich gesagt finde ich, dass wir auch ganz schön vielbewegt haben. Es war nicht immer einfach. Ich denke zumBeispiel an die Debatte über das Holocaust-Mahnmal,aber auch das haben wir einer Entscheidung zugeführt.Auch im Kulturbereich haben wir Geld bewegt. Ich denkean die Stiftungsdebatte, ich denke aber auch an das, waswir heute gemeinsam in Bezug auf die Hauptstadtkultur-förderung verabschieden.Neu und meistens sehr erfreulich bei den Debatten imKulturausschuss ist: Es gibt ungeheuer viele Gemein-samkeiten. Die Grundhaltung, dass es gemeinsame An-liegen gibt, ist ehrenvoll für den Parlamentarismus. Zudem, was es in Berlin an Kulturpolitik gibt und was nochmöglich ist, gehen die Linien und Meinungen – bis hin zukritischen Äußerungen – in den Fraktionen hin und her.Das begrüße ich außerordentlich. Das Parlament istmanchmal langweilig genug geworden. Ich finde es gut,dass wir bei solchen neuen Fragen einen neuen Wind ha-ben.
Das, worüber wir heute diskutieren, nämlich über dieGrundlagen der Hauptstadtkulturförderung, und das, waswir demnächst bei der Debatte über den Haushalt habenwerden, ist ein großer Entwurf mit Mut zur Klarheit. Die-sen Mut zur Klarheit brauchte es. Wir müssen in Berlinendlich die Grauzone von unterschiedlichen Verantwort-lichkeiten, bei denen man nicht genau wusste, wo die
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Dr. Günter Rexrodt12858
Gelder wirklich landen und wer im Zweifel wirklich dafürverantwortlich gemacht werden kann, aufheben.Der Bund finanziert das Jüdische Museum, denMartin-Gropius-Bau, das Haus der Kulturen der Welt unddie Berliner Festspiele. Das sind natürlich Lasten für denBund, Herr Lammert. Es wäre viel einfacher gewesen, beidem Festbetrag von 100 Millionen DM zu bleiben, als dieVerantwortung für die Häuser mit allen Konsequenzen zuübernehmen. Sie wissen so gut wie wir, dass bei manchenHäusern erhebliche Folgekosten entstehen können. Dabeidenke ich vor allem an das Jüdische Museum und an dieBerliner Festspiele.In Bezug auf die Berliner Festspiele war ich erstaunt– ich will das im Protokoll nachlesen –: Habe ich Sie rich-tig verstanden, dass Sie für die Auflösung der BerlinerFestspiele sind? Dafür werden Sie in Berlin nicht allzuviele Freunde finden. Da bin ich mir ziemlich sicher.
– Ich habe Sie so verstanden, als ob Sie die Institution ins-gesamt infrage stellen wollen. Das fand ich erstaunlich.Die Festspiele sind in Berlin ja sehr populär. Ich glaube,dass sie mit einer neuen Handschrift neuen Glanz bekom-men werden.Ich habe bis jetzt über die uns durchaus bewussten Fol-gen auch hinsichtlich der Verantwortung für den Bund ge-sprochen. Was aber kommt auf Berlin zu? Da kann ichmich Ihren Worten, Herr Lammert, nur anschließen: Ichglaube, dass die Reformen in Berlin sehr schwer sind; damachen wir uns alle keine Illusionen. Ich meine aber, dasssie notwendig sind. Berlin hat, wie ich glaube, mit dieserklaren Zuständigkeit die Chance, diese Reformen anzu-gehen.In diesem Zusammenhang will ich etwas zu den Zu-wendungen in Höhe von 3,5Millionen DM für die Staats-oper unter Daniel Barenboim sagen, die auch mich über-rascht haben. Jede Förderung, die von Berlin nichtgeleistet werden kann, begrüße ich außerordentlich. Beiallem Kritischen in dieser Debatte sollten wir alle dochdarauf achten, dass die Bereitschaft, Berlin zu un-terstützen, dabei nicht verloren geht. Das wäre sehr kon-traproduktiv.
Wir werden erst einmal die Reformpläne des BerlinerKultursenators abwarten müssen. Ob der Drahtseilakt derOpernreform wirklich gelingt, ist und bleibt trotz derBemühungen um die Staatskapelle eine Aufgabe, die nurvom Berliner Kultursenator und vom Berliner Senatgelöst werden kann. Diese Verantwortung möchte ich ih-nen auch nicht abnehmen. Nur durch sie kann die Proble-matik der Opern geklärt werden. Würde sich der Bund umdie Thematik der Opern kümmern, dann würde er die Kri-tik zu hören bekommen, dass er sich in kommunale oderLänderzuständigkeiten einmischt. Der Bund kann nur dieBedeutung der Opern, deren problematische Situationund das, was das Leiten eines solchen Opernhauses soschwierig macht, thematisieren. Wir könnten darüber zumBeispiel eine Anhörung machen. Aber eine Lösung derProbleme mit den Opern in Berlin können wir vom Bundnicht leisten.
Wenn man die 100 Millionen DM für die Förderungder Hauptstadtkultur
und die 27 Millionen DM für die Baumaßnahmen zusam-mennimmt, dann ist das noch längst nicht alles, was derBund für Berlin tut. Deswegen zähle ich das, was wir fürdie Stiftung Preußischer Kulturbesitz tun, zu denGlanzlichtern. Da werden in den nächsten zehn Jahrennoch einmal 250 Millionen DM zusätzlich aufgestocktwerden. Ich finde, das ist außerordentlich beachtlich.Ich kann auch sagen, dass das, was da auf der Mu-seumsinsel entsteht, großartig wird. Das wird ein richtigerTraum. Es wird auch ein ganz großer Publikumsmagnet.Andere Metropolen werden uns um diese Möglichkeit,die wir da im Weltkulturerbe haben, wirklich beneiden.Ich kann nur alle auffordern, mit dahin zu gehen. Das istschon jetzt in der Planungsphase grandios, sehr kreativund interessant.
Wenn wir da einen Schwerpunkt haben – und auch ichhabe die Einschätzung, dass wir große positive Schwer-punkte bei der bildenden Kunst haben –, so stehen demaber große Schwierigkeiten zum Beispiel in der Theater-landschaft entgegen. Gerade deswegen ist dieser Sauber-zweig-Fonds der 20 Millionen DM so wichtig, weil dasdas Geld ist, mit dem wir auch die jungen Künstler unddie Avantgarde in der Stadt zu halten versuchen.Berlin hat eine unglaubliche Attraktivität auf jungeKünstler ausgeübt. Die sind in einem Maße hierher ge-kommen, wie man es nicht für möglich gehalten hat. Dasmuss auch leben. Die brauchen auch die Möglichkeit, anbestimmte Subventionen heranzukommen. Deshalb istdieser 20-Millionen-Fonds so außerordentlich wichtig,und wir sollten ihn sehr unterstützen.
Als Letztes möchte ich sagen: Wir sollten uns damitauch die Möglichkeit erhalten, etwas so Großartiges wiedie Jahrhundertinszenierung von Peter Stein von Faust Iund II in Zukunft zu unterstützen. Wenn wir hier über dieBerliner Kulturpolitik sprechen, dann gibt es da auch einTrauerspiel, nämlich die Kulturkritik, die nicht begriffenhat, was für eine einzigartige künstlerische und auch In-tendantenleistung Peter Stein mit dieser Inszenierung ge-schaffen hat. Da meine Redezeit zu Ende ist, möchte ichdoch wenigstens die Kolleginnen und Kollegen darauf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Dr. Antje Vollmer12859
hinweisen, dass sie sich von der Kritik nicht abhalten las-sen sollten, sich dieses Stück deutscher Theatergeschichtepersönlich anzusehen. Der Bund hat das auch ein bisschenmit gefördert. Es muss aber auch leben im Respekt vordem Publikum. Das wäre mein letztes Wort, Sie dazu auf-zufordern.Danke.
Diese Reklame,
meine Damen und Herren, haben wir außerhalb der Re-
dezeit laufen lassen.
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Heinrich Fink, PDS-
Fraktion.
Sehr Verehrte Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Namen der
Fraktion der PDS möchte ich an dieser Stelle unsere
Freude zum Ausdruck bringen, dass es gelungen ist, in
dieser so wichtigen Frage eine fraktionsübergreifende Be-
schlussempfehlung durch den Ausschuss für Kultur und
Medien zu verabschieden.
Die PDS ist der Auffassung, dass der Bund eine be-
sondere Verantwortung für die Kultur in der Hauptstadt
hat, dass er sich zu dieser bekennen und sie – bei Wahrung
der originären Verantwortlichkeit des Landes und der
Länder – wahrnehmen sollte.
Wir halten ein Engagement des Bundes zum Erhalt der
außerordentlichen kulturellen Vielfalt in dieser Stadt, die
aus der Geschichte erwachsen ist, für erforderlich. In Be-
zug auf die Folgen der Einheit geht es uns sowohl um den
Erhalt und die Weiterentwicklung der überlieferten kultu-
rellen Substanz als auch um das, was an Neuem in ver-
schiedener Trägerschaft nach 1989 entstanden ist.
Berlin allein ist mit der Aufgabe, diese Vielfalt zu erhal-
ten, überfordert. Das Engagement des Bundes kann und
soll aber der Stadt ihre Verantwortung nicht abnehmen.
Die PDS begrüßt die Absicht von Bund und Land, ei-
nen Vertrag zur Kulturfinanzierung in der Bundes-
hauptstadt für den Zeitraum bis 2004 abzuschließen. Wir
bewerten die mit dem Land erzielte Einigung als einen
Schritt in die richtige Richtung.
Es ist ein Fortschritt, wenn der Bund ein Ensemble spe-
zieller Kultureinrichtungen unterhält, das geeignet ist,
eine repräsentative Gesamtdarstellung bundesdeut-
scher Kultur und Geschichte zu ermöglichen. Die Aus-
wahl der Einrichtungen entspricht weitgehend unseren
Vorstellungen. Positiv ist vor allem die Fortsetzung der
Förderung im Rahmen des so genannten Hauptstadtkul-
turfonds.
Trotz dieser Fortschritte gibt es aus Sicht unserer Frak-
tion weiteren konzeptionellen Klärungsbedarf. Die Krite-
rien der Förderung im Rahmen des Hauptstadtkulturver-
trages sollten überdacht werden. Künftig sollte deutlicher
zwischen gesamtstaatlichen Aufgaben, die der Bund auch
dann zu erfüllen hätte, wenn Berlin nicht Hauptstadt wäre,
und hauptstadtbedingten Aufgaben unterschieden wer-
den. Wir könnten uns eine Erweiterung des Engagements
des Bundes für solche gesamtstaatlichen Aufgaben durch-
aus vorstellen, sehen dabei den Weg aber nicht in einer
Ausweitung des Hauptstadtkulturvertrages, sondern in
der Stärkung der gesamtstaatlichen, teilweise gemeinsam
mit den Ländern wahrgenommenen Aufgaben des Bundes
in Berlin. In diesem Sinne halten wir auch ein Engage-
ment des Bundes für weitere Einrichtungen, wie zum Bei-
spiel die Staatsoper und das Konzerthaus, für möglich.
In Bezug auf die kulturelle Situation in Berlin weist un-
sere Fraktion erneut darauf hin, dass es hier nicht nur
strukturelle Probleme gibt. Berlin braucht ein Kultur-
konzept und kein Strukturkonzept.
Was fehlt, ist ein tragfähiges Gesamtkonzept für die Kul-
turentwicklung dieser Stadt: von den großen Einrichtun-
gen über die freie Szene bis zur gemeinsamen kommuna-
len Kulturarbeit.
Ich lebe seit 1954 in dieser Stadt und bin bekennender
Berliner. Für mich ist die Faszination dieser Stadt genau
dieser kulturelle Reichtum.
Ich nenne in diesem Zusammenhang ganz bewusst zwei
Namen: Moses Mendelssohn und Daniel Barenboim.
Zwischen diesen beiden könnte man viele nennen, die
Kultur in Berlin bestimmen. Ich bitte Sie deshalb auch als
Bürger dieser Stadt, der Beschlussempfehlung zuzustim-
men.
Ich erteile nun dem
Staatsminister Dr. Michael Naumann das Wort.
D
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Lassen Sie mich meine Rede in Erinnerung an einen Men-schen beginnen, der gestern gestorben ist und der für daskulturelle Leben dieser Stadt – wie übrigens für die ge-samte Bundesrepublik und darüber hinaus – eine ganzmaßgebliche und stille Stimme war, der Herausgeber des„Kursbuch“, der Gründer der Wissenschaftsreihe desSuhrkamp-Verlages, einer der Erfinder der später etwasspöttisch hinterfragten und bekrittelten Suhrkamp-Kultur,Karl Markus Michel.Eine seiner Maximen war es: Wenn man über Kulturspricht, soll man seine Stimme nicht erheben. Alles in al-lem ist uns das heute Abend mehr oder weniger gelungen.Auch ich, obwohl es mir wohl am schwersten fällt und ermich deswegen öfter ermahnt hat, will mich daran halten.Was nun die Versuchung betrifft, etwas lauter zuwerden, so nenne ich in diesem Zusammenhang,Herr Lammert – auch ich gratuliere Ihnen herzlich zum
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Dr. Antje Vollmer12860
Geburtstag –, Ihren Parteikollegen Kampeter, der in denletzten Tagen mehrfach darauf hingewiesen hat, dass dieFörderung der Berliner Staatsoper sinnlos, planlos, di-lettantisch oder – in Ihren Worten – eine „Schnapsidee“sei. Darauf möchte ich ganz einfach mit einer keineswegsanekdotisch gemeinten, sondern ernsthaften Schilderungeines Sachverhaltes begegnen, der sich am letzten Sonn-tag zugetragen hat.In der Staatsoper hörte die Parteivorsitzende der CDUin einem schicken neuen Kostüm – es war froschgrün –„Tristan und Isolde“. Dort trafen wir uns. Am Montag riefsie mich an und bat mich, unbedingt etwas zu tun, um denmöglichen Weggang von Barenboim, um den Niedergangder Staatsoper, um eine neuerliche Debatte über das an-gebliche Plattmachen ostdeutscher Künstler, Kapellenund Institutionen zu verhindern, also buchstäblich nachdem Notanker zu greifen. Das wäre dann Ihre „Schnaps-idee“. Ich habe ihr antworten können: Sie rennen bei unsoffene Türen ein, beim Bundeskanzler, bei der PDS – hor-ribile dictu –, bei der F.D.P. und auch bei mir. Es gingnicht um eine strukturelle, der Stadt Berlin überlasseneFörderung der Opernreform, sondern buchstäblich umeine – übrigens im Hauptstadtkulturfonds verstetigte –Soforthilfe für die Staatskapelle.
Herr Staatsminis-
ter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Lammert?
D
Ja, gerne.
Herr Staatsmi-
nister, ich lasse einmal außen vor, dass ich den Hinweis
auf die Bekleidung des einen oder anderen Opernbesu-
chers im Sinne der wohl beabsichtigten Beweisführung
für ebenso unnötig wie deplatziert halte.
D
Es war sehr schick!
Für mindestens
so illustrativ hätte ich es gehalten, wenn Sie die eigene
Kostümierung vorgetragen hätten.
D
Kein Smoking!
Für noch weniger
passend halte ich, dass ein Gespräch, das zwischen Ihnen
und Frau Merkel stattgefunden hat und das, wie ich von
ihr weiß, ausdrücklich als vertraulich vereinbart war, von
Ihnen heute zum zweiten Mal – erst im Kulturausschuss
und jetzt in der Plenardebatte des Deutschen Bundesta-
ges – angeführt wird.
Was die Sache angeht, bestätige ich Ihnen ausdrück-
lich, was Sie auch monatelang von uns gehört haben: Wir
halten die von Ihnen mehrfach vorgetragene kategorische
Weigerung, als Bund eine Verantwortung für die Neu-
ordnung der Berliner Opernszene zu übernehmen, für
falsch und unhaltbar.
Sie wissen, ohne dass ich Ihnen das noch einmal erläu-
tern muss, dass ich nicht eine Hilfe des Bundes für die
Staatsoper für eine Schnapsidee halte, sondern die jetzt
vorgesehene Initiative. Denn sie löst keine Probleme, son-
dern schafft zusätzliche Probleme. Deswegen meine kon-
krete Frage: Ist über diese einmalige Finanzaktion hi-
naus – deren haushaltsrechtliche Konstellation Sie ja
sicher nachher noch erläutern werden – eine verbindliche,
auf Dauer angelegte, vertraglich zu vereinbarende Ver-
bindung des Bundes mit diesem Opernhaus oder mit wei-
teren Berliner Opernhäusern geplant?
D
Was die Vertraulichkeit betrifft, muss ich Ihnensagen: Es ist normal, dass ich von Politikern angerufenwerde und diese hinterher sagen, dass das Gespräch ver-traulich gewesen sei. In diesem Fall war das aber nicht so.Es gab also keine Bitte um Vertraulichkeit. Vielmehr wares ein offenes politisches – und im Übrigen sehr heiteres –Gespräch, weil wir uns ja beide in der Zielrichtung einigwaren. Ich verrate hier also kein Geheimnis. Sie haben esja auch bestätigt.Jetzt will ich zur eigentlichen Frage kommen, die Sievorhin gestellt haben. Sie haben völlig zu Recht gefragt,wohin das Geld geht. Der Kultursenator Stölzl hat mir er-klärt, dass er eine neue, sowieso geplante Rechtsform derStaatsoper beschleunigen wird, nämlich die Gründung ei-ner GmbH – mit allen Rechten, auch mit einer Eigenbe-wirtschaftung als Abschied von den zum Teil in Berlinnoch vorherrschenden kameralistischen Wirtschaftsprin-zipien der Kulturinstitutionen.Mithin ist eine Überweisung aus dem Hauptstadtkul-turfonds des Berlin-Kulturvertrags möglich. Diese3,5 Milliarden DM sind insofern verstetigt, als sie einenVertrag zwischen zwei föderalen Institutionen – zwischenBund und Land – betreffen und Personalkosten sind. DerBund kann mithin nicht eine Teilverpflichtung eingehen,von der er sich im nächsten Haushaltsjahr wieder verab-schieden kann. Dadurch ist eine gewisse Kontinuität oderVerstetigung gewährleistet. So viel zu Ihrer Frage, wohindas Geld geht.
– 2001, 2002, 2003. – Darf ich fortfahren?
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Staatsminister Dr. Michael Naumann12861
Wir sitzen hier im Deutschen Bundestag, dessenAdresse seit gut einem Jahr „Reichstag Berlin“ heißt. Dasist ein Umstand, den wir Ihnen, den Abgeordneten, zu ver-danken haben. Es war eine Gewissensentscheidung, diedie vom Volk gewählten Abgeordneten im Juni 1991 ge-troffen haben.Was die Staatsoper betrifft, sagen Kritiker – zum Bei-spiel Senator Stölzl, der mir das vorgeworfen hat, als Ber-lin noch einmal eine Zuwendung bekam –: Wer Asagt, dermuss auch B sagen. Ich antworte ihnen: Vielleicht sagteinmal der Finanzsenator Kurth B. Es kann doch nichtwahr sein, dass jedes Mal, wenn die Stadt Berlin vomBund aus guten Gründen eine Zuwendung bekommt, derautomatische, geradezu pawlowsche Reflex ist: „Das istviel zu wenig. Wie gesagt, wir brauchen mehr.“ Das kannso nicht weitergehen. Zwischen allen Fraktionen im Kul-turausschuss bestand deshalb überhaupt kein Zweifel da-ran, eine hundertprozentige Finanzierung und keineMischfinanzierung als bevorzugte Form der kulturpoliti-schen Zuwendungen des Bundes an Berlin anzustreben.
Herr Lammert, Sie beklagen die Beliebigkeit des Zu-schnitts. Der Parameter war aber klar: 80 Millionen DMund nicht mehr. Der Bund hat keineswegs – dieser Mythoswird immer wieder beschworen – versucht, das Philhar-monische Orchester zu übernehmen. In meinem Bürowaren der Vorsitzende des Vereins der Freunde der Phil-harmoniker, Simon Rattle, Claudio Abbado sowie die bei-den Vorsitzenden des Orchestervorstandes und allesamtwollten sie – aus guten Gründen – zum Bund.
– Ja, weil wir alle – auch Sie, Herr Lammert – verlässlichsind und uns bemühen, nicht als verlängerter Arm desBundesfinanzministers wahrgenommen zu werden.In der Folge ist es dazu gekommen, dass Berlin seinenmusikalischen Lokalpatriotismus entdeckt und gesagt hat:Die Philharmoniker bleiben bei uns. Das hat uns die Mög-lichkeit gegeben, dieses Paket einer hundertprozentigenFörderung in harmonischer Absprache mit dem Land Ber-lin und keineswegs in einem Prozess der Rosinenpickereizusammenzustellen, sodass alle Beteiligten zufriedensind.Zu meiner Überraschung fragen Sie nach der neuenFunktion der Festspiele. Meine Aufgabe ist es nicht, In-tendant oder – wenn Sie so wollen – der inhaltliche Herrder Festspiele zu sein. Diese Aufgabe wird von dem neuenFestspielleiter wahrgenommen. Er hat eine ausführlichePressekonferenz gegeben und mit den Mitgliedern desRats der Künste und einigen anderen Herren gesprochen.Die Ergebnisse dieser Gespräche kann man nachlesen; ichhabe keine Schwierigkeiten, Ihnen die entsprechendenZeitungsausschnitte mit seinen Vorstellungen in Kopiezuzuschicken.Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das Jüdi-sche Museum, die Topographie des Terrors und dasMahnmal sozusagen eine Trias des Gedenkens in Berlindarstellen. Was sagt der Bund nun zur Topographie desTerrors? Tatsache ist, dass sich der Bund seinerzeit ge-genüber dem Land Berlin zu einer hälftigen Finanzierungverpflichtet hat. Entsprechende Ansätze sind in den Haus-halt eingestellt worden. Allerdings, Herr Lammert, istdann das geschehen, was Sie und wir alle in Berlin nurallzu gut kennen: Die Baukosten sind in einen inzwischennicht mehr eruierbaren, geradezu galaktischen Raum derUnbestimmbarkeit entflohen.
– Herr Lammert, für das Mahnmal trifft das keineswegszu. Das wissen Sie ganz genau, und ich fände es furcht-bar, wenn Sie jetzt diese Diskussion wieder eröffnen woll-ten.Tatsache ist, dass in Berlin derzeit niemand weiß, wasdie Topographie des Terrors kosten wird. Ich muss ganzklar sagen: Der Bund wird keine Zusagen machen, so-lange nicht die architektonische und finanzielle Reali-sierbarkeit dieses heiklen Gebäudes feststeht. Ich glaube,Herr Lammert, dies ist auch in Ihrem Sinne. Ich hielte esfür ungerecht, wenn Sie aus diesen Absichten unsererseitsein Zeichen der Schwäche ableiten wollten.Die kulturelle Förderung für Berlin für die Jahre 2001bis 2004 lässt sich aus dem Haushaltsplan klar ablesen:80 Millionen DM jährlich für die direkte Unterstützungwichtiger kultureller Einrichtungen, 23,5 Millionen DMunter der schönen Formel „Förderung hauptstadtbeding-ter kultureller Maßnahmen und Veranstaltungen in Ber-lin“. Der Betrag von 103,5 Millionen DM jährlich ist einestolze Summe. Der Bund ist aber nicht nach Gutsherren-art – wie es oft heißt – bereit, diese Summe für Berlin zurVerfügung zu stellen; er tut dies vielmehr aus dem Be-wusstsein heraus, dass erstens die Bundeshauptstadt Ber-lin das von Herrn Rexrodt völlig zu Recht beklagte histo-rische Erbe und zweitens eine Funktion in derRepräsentation und Darstellung unseres Landes nach in-nen und außen hat.Dazu kommen weitere erhebliche Mittel aus dem Bun-desetat von insgesamt weit über einer halben Milli-arde DM jährlich, die der Berliner Kultur zugute kom-men. Der Schwerpunkt liegt hier auf der StiftungPreußischer Kulturbesitz. Sie werden verstehen, dassgerade diese Stiftung, der Masterplan und dieses Projektder ganze Stolz unserer kulturpolitischen Arbeit der letz-ten zwei Jahre sind, und zwar nicht im zentralistischen,sondern im föderalistischen Sinne. Dies ist eine Institu-tion, die von Bund und Ländern, inklusive und vor allemvon Berlin, unterstützt wird.
In der Vergangenheit war dieses Bauprojekt, das Sa-nierungsprojekt, auf die wirklich legendäre Frist von30 Jahren angelegt. Aber in unserer Regierungszeit istzum einen eine Veränderung in der Führung in der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Staatsminister Dr. Michael Naumann12862
Stiftung Preußischer Kulturbesitz möglich geworden, undzum anderen hat sich die Regierung bereit erklärt, sichhier besonders stark finanziell zu engagieren. Da möchteich durchaus auch einmal den Finanzminister loben undpreisen und ihm danken.
Auch wenn er es mit zusammengebissenen Zähnen tutund wenn es ihm schwer fällt, so muss man doch sagen,dass 20 bis 30 Jahre „documenta“ an keinem Finanzmi-nister spurlos vorbeigehen können.Meine Damen und Herren, das beliebteste MuseumBerlins ist die Berggruen-Sammlung. Das können Sieauch an den Besucherzahlen feststellen. Ich glaube, wiralle sind Heinz Berggruen erstens zu außerordentlichemDank verpflichtet. Zweitens schulden wir ihm aber auchein paar Momente der Besinnung, wenn ich das sagendarf, Herr Lammert. Heinz Berggruen hat sich entschie-den, der Stadt nach einer von uns Deutschen verursachten,keineswegs fröhlichen Exilgeschichte die Früchte seinesGeistes, seiner Sammlerleidenschaft, seines Geschicksund dann am Ende doch auch seiner Liebe zu dieserStadt – vielleicht auch zu Deutschland; ich weiß es nicht –zur Verfügung zu stellen, und zwar für eine vergleichs-weise lächerliche Summe, die er nicht selber kassiert,sondern die den Pflichtteil seiner Kinder ausmacht. Derwirklich bemerkenswerte Umstand dieser Sammlung istnicht nur die Schönheit, nicht nur der Wert der Bilder,nicht nur der Geist der Sammlung, der sich gewisser-maßen in der einmaligen Kombination von Picassos, Gia-comettis,Matisses und Klees widerspiegelt. Die wirkliche Einma-ligkeit liegt vielmehr in der Chance beschlossen, dass wirin Deutschland mit dieser minimalen Geste, wenn ich mirden Gesamtetat anschaue, versuchen können, die Ge-schichte der „entarteten Kunst“, die eine deutsche Ge-schichte ist, eine Geschichte der Ablehnung, der Zer-störung, der geistigen Dummheit, wiedergutzumachen.
Nun, Herr Staatsmi-
nister, muss ich Sie ganz behutsam auf die Redezeit auf-
merksam machen.
D
Das ist das Schöne bei der Kultur: Man kann
meistens irgendwo in der Mitte aufbrechen, das Podium
verlassen, ohne das Gefühl zu haben, man würde sich nie-
mals wieder sehen.
Herr Staatsminister,
Sie sollten das, was Sie eben so literarisch dargeboten ha-
ben, auch einhalten: Da wir uns alle wieder sehen, auch in
anderen Debatten, darf ich mir die Unbotmäßigkeit erlau-
ben, Sie auf Ihre Redezeit hinzuweisen.
D
Frau Präsidentin, ich sehe es ja blinken.
Ich höre jetzt ganz einfach auf, in der Hoffnung, Herr
Lammert, Frau Vollmer, Herr Barthel, Herr Fink, dass wir
uns bei nächster Gelegenheit in der Sammlung Heinz
Berggruen wiedertreffen, zusammen mit dem Sammler,
und ihm möglicherweise auch persönlich danken.
– Ich danke Ihnen.
Wir kommen zur Ab-stimmung.Ihnen liegt die Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Kultur und Medien zu dem Antrag der CDU/CSU zurHauptstadtkulturförderung – Drucksache 14/4597 –vor. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. I seiner Beschluss-empfehlung die Annahme einer Entschließung. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Gegen-probe! – Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-nommen.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. II, den Antrag aufDrucksache 14/3182 für erledigt zu erklären. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Auchdiese Empfehlung ist einstimmig angenommen.Ich bitte Sie, noch einen Augenblick aufmerksam zusein. Damit alles seine Ordnung hat, möchte ich Ihnen,Herr Dr. Lammert, im Namen des gesamten Hauses zuIhrem heutigen Geburtstag gratulieren.
Im Übrigen möchte ich an die Adresse der Verwaltungeine Epoche machende Bemerkung richten. Unter der Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Me-dien, die wir eben verabschiedet haben, steht: Vorsitzen-der Monika Griefahn. Ich rege an, dass zwischen derVorsitzenden und dem Vorsitzenden unterschieden wird.Dann wären wir bei der Gleichberechtigung wieder einStückchen weiter.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 8 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Einführung einer Entfernungspauschaleund zur Zahlung eines einmaligen Heiz-kostenzuschusses
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Staatsminister Dr. Michael Naumann12863
– Drucksache 14/4435 –
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 14/4631 –Berichterstattung:Abgeordnete Ingrid Arndt-BrauerJochen Konrad FrommeCarl-Ludwig Thieleb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 14/4632 –Berichterstattung:Abgeordneter Hans Jochen HenkeHans Georg WagnerOswald MetzgerDr. Günter RexrodtDr. Barbara HöllEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDSvor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demBundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Prä-sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Zunächst: Ich wusste eben nicht so richtig, ob ich michüber das Lob von Staatsminister Naumann freuen sollte;denn Lob, insbesondere das von Kulturpolitikern, wird inder Regel teuer. Wenn der Finanzminister gelobt wird, istmir das immer suspekt.
Abgesehen davon, gebe ich gern zu: Ich war fünf Jahrelang Kulturdezernent und 15 Jahre lang Vorsitzender desAufsichtsrates der „documenta“. Herr Staatsminister, daswar für meine Vorbereitung auf das Amt desBundesfinanzministers eher hinderlich.
Wie gesagt, solche Debatten wie die eben zu Ende gegan-gene sind mir zwar lieb, aber sie werden auch teuer.
Nun zu dem Thema, über das ich eigentlich redenmöchte: Gewährung einer Heizkostenpauschale und Ein-führung einer Entfernungspauschale. Ich werde das sehrkurz machen. Der Ölpreis ist in diesem Jahr wie schon inden 70er-Jahren in kurzer Zeit dramatisch angestiegen.Das hat in bestimmten Bereichen soziale Folgen, dienach Meinung der Bundesregierung und der Koalitions-fraktionen so nicht hingenommen werden können.
Wir wollen eine einmalige Heizkostenpauschale ge-währen, weil sich der Preis für Heizöl von einer Heizpe-riode zur anderen mehr als verdoppelt hat, obwohl dieÖkosteuer – ich kenne ja Ihre These, die Sie sicherlichgleich noch vortragen werden – gar nicht auf Heizöl er-hoben wird.
Wir fühlen uns selbstverständlich für diejenigen ein Stückweit verantwortlich, die mit diesem Preisanstieg finanziellnicht zurechtkommen. Das ist für die Sozialhilfeempfän-ger gesetzlich geregelt. Wir wollen eine ähnliche gesetzli-che Regelung auch für die Wohngeldempfänger und dieBAföG-Bezieher treffen. Wir wollen, so ist es in der Vor-lage vorgesehen, diesen Gruppen die Hälfte der Kosten,die ihnen durch die Verdoppelung des Heizölpreises ent-standen sind, erstatten.Aus unserer Sicht ist es in keiner Weise vernünftig,wenn sich Bund und Länder weiter über die Aufteilungder Kosten streiten. Sie entstehen jetzt und müssen auchjetzt bezahlt werden. Sosehr ich – darauf komme ichgleich zurück –Verständnis auch für die Haushaltsnöte derLänder habe: Dieser Streit darf nicht fortgeführt werden.Deswegen bin ich über die Entscheidung der Koalitionfroh, die Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschussesvon der Einführung einer Entfernungspauschale abzukop-peln, indem gesagt wird: Der Bund übernimmt die Kostenfür den einmalig gewährten Heizkostenzuschuss. Da-durch kann mit der Auszahlung vor Weihnachten begon-nen werden. Das ist ein vernünftiger Weg. Dafür sage ichden Koalitionsfraktionen ausdrücklich: Herzlichen Dank!
Zur Entfernungspauschale: Dieses Thema spielt inallen Parteiprogrammen eine Rolle. Alle Parteien haben inihren Programmen die Umstellung vom Kilometergeldauf die Entfernungspauschale gefordert, und zwar mitdem ökologisch richtigen Argument, dass man nicht die-jenigen benachteiligen dürfe, die mit öffentlichen Ver-kehrsmitteln, also mit vergleichsweise umweltfreundli-chen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren, unabhängigdavon, dass viele, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, garkeine andere Möglichkeit haben. Es geht ja nicht darum,diejenigen dafür zu bestrafen, sondern darum, diejenigen,die andere Verkehrsmittel – so sie Ihnen zur Verfügungstehen – wählen, nicht zu bestrafen.
Insofern sage ich zunächst, dass im Hinblick auf diesesPrinzip eigentlich Einvernehmen bestehen müsste. Es istin allen Parteiprogrammen enthalten. Es steht übrigens daund dort auch in den Koalitionsvereinbarungen der Lan-desregierungen, so zum Beispiel in Rheinland-Pfalz.
Nun bleibt nur die Frage nach der Höhe der Entfer-nungspauschale.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Vizepräsidentin Anke Fuchs12864
Hier haben wir vor dem Hintergrund der kräftigen Öl- undKraftstoffpreissteigerungen, die wir in den letzten andert-halb Jahren in der Tat erlebt haben, vorgeschlagen, dasseine Erhöhung von 70 auf 80 Pfennig vorgenommen wird.Meine Damen und Herren, Folgendes ist ein interes-santer Vorgang: Ich erinnere daran, dass auch im Steuer-reformkonzept der Bundestagsfraktion der CDU/CSUeine Entfernungspauschale enthalten war.
– Ja, wunderbar. Sehr verehrter Herr Michelbach, dieÖkosteuer war ja bereits eingeführt. Da kommen Sie nichtheraus. – Diese Entfernungspauschale betrug 50 Pfennig.Wir wollen den Autofahrern in Bayern, Baden-Württem-berg und Hessen
– zum Teil sind dort bald Wahlen; dort wird besonderslaut gefordert, man müsse etwas für die Autofahrer tun; inanderen, auch in sozialdemokratisch geführten Ländernwird das ebenfalls gesagt –
zu unserer großen Freude einmal ganz deutlich sagen,dass in Ihrem Steuerreformkonzept eine Entfernungspau-schale in Höhe von 50 Pfennig vorgesehen war.
[CDU/CSU]: Ohne Ökosteuer!)Meine Damen und Herren, so brutal sind wir zu denPendlern nicht. Auch wir glauben, dass an dieser Stelleangesichts der Entwicklung der Kraftstoffpreise etwas ge-tan werden muss.
Das aber stößt zu einem Teil auf den Widerstand der Län-der – auch auf den sozialdemokratisch geführter –, die ar-gumentieren, ihre Kassen gäben das nicht mehr her.Meine Damen und Herren, im Prinzip habe ich für die-ses Argument viel Verständnis. Denn im Zuge der Debatteum die Steuerreform habe ich immer wieder darauf hin-gewiesen, dass man auch die Länderhaushalte nichtüberfordern darf; das ist wohl so. Nur weise ich die Län-der darauf hin, dass der Bundeshaushalt schlechter struk-turiert ist als alle Länderhaushalte. Diese Aussage mussich mit einer kleinen Einschränkung versehen: Eine Aus-nahme ist der Berliner Haushalt, der eine etwas nochungünstigere Zinssteuerquote, das heißt, eine relativhöhere Verschuldung aufweist als der Bundeshaushalt.
Wenn aber der Bundeshaushalt diese Kosten tragenkann – wir wollen das, weil wir sagen, dass hier ein so-ziales Problem besteht, dem wir uns stellen müssen –,dann ist allerdings nicht einzusehen, warum nicht auch dieLänderhaushalte ihren Teil – es gibt ja eine diesbezügli-che Regelung im Einkommensteuerrecht – dazu beitragenkönnen, nämlich ihre 42,5 Prozent.
Vor dem Hintergrund der Entscheidung, dass der Bundbereit ist, die Kosten für den Heizkostenzuschuss voll-ständig zu übernehmen, ist in Richtung der Länderseite zuapllieren, diesen Bereich nun nicht mehr auf die langeBank zu schieben, sondern zu einem Ergebnis zu kom-men. Wenn wir uns dann im Vermittlungsverfahren befin-den, wird es ein konstruktives Mitwirken des Bundes ge-ben.Aber, meine Damen und Herren, an einer Stelle sinddie Prinzipien völlig klar: Die Finanzverfassung gilt. DasEinkommensteuerrecht ist in Bezug auf Einnahmen undAusgaben so zu gestalten, wie es verfassungsmäßigvorgesehen ist. Der Bund und die Länder sind mit je42,5 Prozent an den Kosten der Entfernungspauschale be-teiligt. Dabei muss es bleiben. Deswegen richte ich dieherzliche Bitte an die Verantwortlichen in den Ländern,ihre Position vor diesem Hintergrund noch einmal zuüberdenken. Wenn der Bund den Heizkostenzuschussgänzlich übernimmt, ist dies ein starkes Zeichen, das denLändern deutlich macht: Der Bund ist kompromissbereit;aber die Finanzverfassung gilt. Der Bund legt sichkrumm, um die stark gestiegenen Mineralölpreise dort,wo dies erforderlich ist, abzufedern.
Das muss man dann auch von den Ländern erwarten kön-nen. Meine Damen und Herren, deswegen bitte ich auchnamens der Bundesregierung um Zustimmung zu diesenbeiden Vorhaben.
Das Wort hat jetzt der
Kollege Jochen-Konrad Fromme für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben unsüber die Inschrift für dieses Haus unterhalten. Es wärebesser gewesen, wir hätten ein Schild angebracht, auf demgeschrieben steht: „Reparaturwerkstatt der rot-grünenRegierungskoalition.“
Einem Ihrer Reformgesetze folgen mindestens zweiReparaturgesetze. Ich nenne die Stichworte: Heizkosten-pauschale, Entfernungspauschale, Agrardiesel, Steuer-senkungsgesetz, Steuersenkungsergänzungsgesetz, dieKirchen, die Aktien und Derivate sowie den Fallensteller-paragraph.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Bundesminister Hans Eichel12865
Sie sollten sich auch bei der Ökosteuer einer Totalrepara-tur nicht verschließen. Sie sollten sagen: Wir schmeißensie über Bord; Abschaffung ist das einzig Richtige.
Sie wollen uns damit einfangen, dass Sie Gesetzent-würfe einbringen, die den Menschen etwas vermeintlichGutes bringen, indem Sie ihnen eine bessere Entfer-nungspauschale und eine Heizkostenpauschale gewähren.Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Sie wollen damitverschleiern, dass Sie die Ursache dafür geschaffen ha-ben, dass die Kraftstoffpreise so gestiegen sind.
Sie argumentieren, der Anstieg derRohölpreise sei dafürverantwortlich.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie ständig die Abgabenauf den Verbrauch von Rohöl erhöhen, dann ist das eineEinladung an die Scheichs, auch ihre Preise zu erhöhen.Deshalb ist die Ökosteuer ein Treibsatz in Bezug auf dieHeizöl- und Benzinpreise, nichts anderes.
Die OPEC hat ja im Zusammenhang mit der Erhöhung derFördermenge eine Steuersenkung gefordert. Wir werdensehen, was da kommt.Es gibt noch etwas Wichtiges, das Sie mit zu verant-worten haben, und zwar das Sinken des Euro-Kurses.Wenn sich der Kanzler der wichtigsten Volkswirtschaft inEuropa hinstellt und sagt, ein niedriger Euro-Kurs sei ihmim Interesse des Exportes recht, dann brauchen wir unsnicht zu wundern, wenn die Welt den Euro so schlecht be-wertet.
Die Quittung dafür werden Sie bekommen; die Quittungist nämlich eine Steigerung der Inflationsrate in unse-rem Land. Wenn Sie einmal betrachten, dass wir im Mo-natsvergleich inzwischen bei einer Inflationsrate von2,5 Prozent sind, dann werden Sie merken, was das füruns und was das insbesondere für die kleinen Leute be-deutet. Und das ausgerechnet von der SPD!
An der Ökosteuer wird die Politikmethode dieser Ko-alition doch recht deutlich: Such dir ein sympathischesThema – ich tue etwas für die Umwelt, ich will die Ren-tenbeiträge senken –, vergiss dein Versprechen von ges-tern – „6 Pfennig Ökosteuer sind genug“; „nur im Rahmenvon Europa gibt es Weiteres“ – und gib einigen Menschenunter einer anderen Überschrift – damit ja keiner merkt,dass das miteinander zusammenhängt – wieder ein Stückvon dem zurück, was du ihnen genommen hast. In Wahr-heit bleibt man aber unter dem Strich bei einem großenOpfer, das die Menschen aufbringen müssen. Meine Da-men und Herren, das ist „linke Tasche, rechte Tasche“,aber doch keine vernünftige Politik. Sie nehmen den Men-schen auf Dauer mehr, als Sie ihnen geben.
So ist das doch auch bei der Ökosteuer und der Entfer-nungspauschale bzw. dem Heizkostenzuschuss: Erst ha-ben Sie die Preise hochgetrieben und dann geben Sie einStück weit etwas zurück.
Am Ende bedeutet das, dass Sie mit Ihren Repara-turmaßnahmen – abgesehen davon, dass sie völlig unge-eignet sind – auch noch eine riesige Bürokratie erzeugen,die keine Gerechtigkeit bringt. Denn was ist denn mit derRentnerin, die sich mit einer kleinen Wohnung beschei-det, für die sie kein Wohngeld benötigt? – Sie hat wegender gestiegenen Heizölpreise höhere Heizkosten, be-kommt aber keinen Ausgleich dafür.
Sie verfahren nach dem Motto – Herr Finanzminister, dasmuss man einmal deutlich sagen –: Der Bund kassiert dieMineralölsteuer allein. An der Reparaturmaßnahme sol-len sich dann die Länder und die Gemeinden beteiligen.So kann es nicht gehen.
Weil Sie merken, dass Sie die Rechnung ohne den WirtBundesrat gemacht haben, haben Sie Ihre Vorhaben jetztplötzlich in zwei Gesetzentwürfe aufgeteilt. Sie überneh-men den kleineren Teil der Kosten, weil Sie meinen, Siekönnten damit den Druck auf die Länder erhöhen. Ichhoffe, dass die Länder hart bleiben und Ihnen einen Strichdurch die Rechnung machen. So kann das nicht gehen.Entweder kassieren wir alle – dann müssen wir alle unsauch an der Entlastung beteiligen – oder nur der Bund kas-siert und trägt die Kosten für die Entlastung allein.Die Ökosteuer war schon im Ansatz völlig falsch.
Sie haben eine Verbindung zwischen einer Lenkungsab-gabe und einer Daueraufgabe gesucht. Eine Lenkungs-abgabe hat das Ziel, den Verbrauch zu senken. Wenn ihrZiel erreicht würde, würde das bedeuten, dass das Auf-kommen aus der Ökosteuer eines Tages null wäre. Nurdann wäre sie als Lenkungsabgabe geeignet.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Jochen-Konrad Fromme12866
Auf der anderen Seite wollen Sie mit dieser Abgabe dieDaueraufgabe der Finanzierung der Renten lösen. Sie pro-duzieren ein Haushaltsloch. Ihre Politik ist es doch, nurdas Heute, aber nicht das Morgen zu sehen. So kann eswirklich nicht gehen.
– Wir machen deshalb eine Anhörung, damit jedermanndeutlich wird, welchen Mist – um Ihr Wort aufzugreifen –Sie hier angerichtet haben.
Eines haben Sie mit der Ökosteuer allerdings erreicht: einrapides Ansteigen der Energiepreise für Heizöl, Stromund Gas.
Das ist klar.Wenn Sie Ihre eigene Koalitionsvereinbarung ernstgenommen hätten, dann hätten Sie Ihr Ziel erreicht unddann müssten Sie schon aus diesem Grunde die Öko-steuer abschaffen. Aber das tun Sie natürlich nicht. Siewollten über die Ökosteuer Arbeitsmarkteffekte erzielen.Messbare Wirkungen – das hat die Anhörung ergeben –gibt es nicht. Die statistischen Verbesserungen rührenwohl eher von Ihren statistischen Tricks im Umgang mitden 630-Mark-Beschäftigungen als daher, dass auf die-sem Gebiet wirklich etwas geschehen ist.
Aus der doppelten Dividende, die Sie den Menschenversprochen haben, ist ein doppeltes Opfer geworden. DieMenschen bekommen 300 DM mehr; gleichzeitig mussbeispielsweise ein durchschnittlicher Haushalt zusätzlich1 000 DM zahlen. Was ist mit den Rentnern, mit den Ar-beitslosen und mit den Sozialhilfeempfängern, die durchIhre Maßnahmen nicht entlastet werden? Es werden le-diglich Berufspendler und Wohngeldempfänger entlastet.
Wenn Sie es mit Ihrem ökologischen Ansatz ernst ge-meint hätten, dann hätten Sie beim Schadstoffausstoßund nicht einfach beim Verbrauch einer Menge anknüpfenmüssen.
Wenn es Ihnen um den ökologischen Ansatz gegangenwäre, dann hätten Sie den Kernkraftstrom steuerfrei stel-len müssen; stattdessen steigen Sie aus dieser relativ um-weltschonenden Form der Energieerzeugung völlig aus.Sie erreichen mit Ihrer Politik das Gegenteil von dem,was Sie unter ökologischen Gesichtspunkten erreichenwollen. Wenn Sie die deutsche Wirtschaft im Alleingangmit einer Ökosteuer belasten, dann steigen die Kosten.Das bedeutet: Ausländische Produkte werden wettbe-werbsfähiger und die Menschen kaufen diese ausländi-schen Produkte, die – im Vergleich zu den im Inland er-zeugten Produkten – mit mehr Energie und im Rahmenschlechterer Umweltbestimmungen erzeugt werden.
Es ist völlig systemwidrig, wenn Sie etwas gegen denSchadstoffausstoß tun wollen und dabei die Großbetriebeaußer Acht lassen.
Dazu waren Sie unter Wettbewerbsgesichtspunkten natür-lich gezwungen; aber es macht doch deutlich, dass Ihnenvon Anfang an klar war, dass Ihre Ökosteuer ein völligfalscher Ansatz ist.Ihre Art von Ökosteuer ist eine einzige Bereicherungfür den Staat.
Allein durch die 33Milliarden DM, die die Wirtschaft unddie Menschen für ihre Energieversorgung mehr aufwen-den müssen, entstehen zusätzliche Einnahmen im Rah-men der Mehrwertsteuer in Höhe von 4,2 Milliarden DM,die nicht eingeplant waren und die Sie einfach einsacken.
– Ich brauche nicht rot zu werden. Außerdem bin ichschwarz bis in die Seele.
Des Weiteren verwenden Sie das vollständige Öko-steueraufkommen gar nicht zur Senkung der Renten-beiträge.
Ich verweise nur auf das, was das Karl-Bräuer-Institut inder Anhörung am Mittwoch dieser Woche sehr eindrucks-voll dargetan hat:
Sie stecken zwar einen Großteil der Einnahmen in denRententopf; aber gleichzeitig nehmen Sie an andererStelle aus dem Rententopf Milliarden heraus, sodasskeine Senkung in vollem Umfang stattfindet. Wäre diesnämlich geschehen, dann hätten Sie den Rentenbeitragauf 17,9 Prozent senken können.
Ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Präsidentin aus demGutachten des Karl-Bräuer-Instituts:Im Ergebnis fließen vom kumulierten Mehraufkom-men aus den weiteren Stufen der „Ökosteuer“-Re-form ab 2000 netto weniger als 40%
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Jochen-Konrad Fromme12867
zusätzlich an die Rentenversicherung. Die übrigenMittel dienen überwiegend dem Ausgleich von Min-dereinnahmen der Rentenversicherung, die wie-derum aus Kürzungen im Bundeshaushalt resultie-ren. Da der Saldo der zusätzlichen Zahlungen desBundes an die Rentenversicherung geringer ist alsdie Summe seiner zusätzlichen Einnahmen aus derFortführung der „Ökosteuer“-Reform, fällt auch dieEntlastung der Beitragszahler notwendigerweise ge-ringer aus ...Das ist die Wahrheit.
Sie gehen schlicht und einfach nach dem Motto vor:Die Vorgänge sind so kompliziert, dass sie keiner durch-schaut; deswegen kann ich Nebelkerzen werfen, indemich den Topf an der einen Stelle auffülle und an andererStelle etwas aus ihm herausnehme.
Diese Steuererhöhungen sollen weitergehen. HerrTrittin hat schon gesagt, dass die Ökosteuer auch nach2003 steigen muss. Sie nähern sich planmäßig Ihrem Zielvon 5 DM pro Liter Benzin. Das ist gegen die Menschenin diesem Lande gerichtet. Deswegen fordere ich Sie nocheinmal auf: Nehmen Sie von diesem Unsinn Abstand!Folgen Sie unserem Antrag auf vollständige Abschaffungder Ökosteuer!
Auch die Wirtschaftsinstitute, meine Damen und Her-ren, haben eine Reform der Ökosteuer gefordert. Abereine Reform hat überhaupt keinen Sinn; hier hilft nur eineTotalreparatur. Wir wissen es auch: Auch der Bundes-kanzler ist gegen die Ökosteuer. Er traut sich nur nicht we-gen seines Koalitionspartners, das zu sagen.
Deshalb fordere ich den Bundeskanzler auf, dass er hiereinmal „Basta!“ sagt. Dabei sollte er allerdings ein wir-kungsvolles Konzept in der Hand haben; vielleicht nimmter ja unser Konzept auf.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nun dasWort der Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis90/Die Grünen.
Kollegen! Ich hatte schon fast Entzugserscheinungen be-kommen. Nun bin ich aber froh, dass uns die CDU/CSUwieder einmal zum wöchentlichen Ökostammtisch ein-lädt.
Versammeln wir uns also fröhlich! Leider gibt es auf die-sem Stammtisch nur Selters.
Ein anständiges Bier wäre mir lieber.
Ich verstehe ja, liebe Kolleginnen und Kollegen undlieber Herr Fromme, dass Sie seit zwei Jahren auf derSuche nach Ihrer neuen Rolle sind. Ich verstehe aberwirklich nicht, dass Sie das Heil Ihrer Partei nur noch insystematischer Volksverdummung und in Stammtisch-parolen suchen. Sie, Herr Fromme, haben uns heute einperfektes Beispiel dafür geliefert. Langsam macht es unsSorgen, in welche Richtung Sie hier argumentieren.
Eigentlich hatten wir, nachdem Ihre Fraktion noch inder letzten Woche zur Klimakonferenz in Den Haag einenrelativ verantwortungsbewussten Antrag gestellt hat, ge-dacht, dass die Kollegen vielleicht doch noch einmal zumNachdenken kommen und merken, dass der Weg wegvom Öl sowohl aus Klimaschutzgründen als auch ausGründen der Endlichkeit des Rohstoffes eingeschlagenwerden muss. Heute habe ich wieder gemerkt, dass IhrAntrag nur so eine Art Flyer für verantwortungsbewusstesReden in der einen Sitzungswoche war, Sie in der nächs-ten Sitzungswoche dann aber wieder praktisch aufStammtischniveau diskutieren wollen. Ich würde Sie bit-ten, einmal darüber nachzudenken, wie Ihre politische Li-nie aussehen soll.Ich möchte jetzt doch zur Tagesordnung sprechen, wasSie offenbar nicht für nötig gehalten haben.
Alle wollten die Entfernungspauschale, auch Sie, wie unsunser Minister eben berichtet hat. Nun führen wir sie ein.Sie und 13 Millionen Berufspendler werden Nutznießerdieser Regelung und endlich auch diejenigen, die mitBahn, Bus und Fahrrad fahren.
Man muss Sie immer wieder auf Ihre eigenen Beschlüsseverweisen. Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie heutegegen die Entfernungspauschale polemisieren.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Jochen-Konrad Fromme12868
Ich würde ja verstehen, wenn Sie jetzt sagen würden,Sie wollten statt der 80 Pfennig lieber eine Entfernungs-pauschale von 50 Pfennig, die Sie damals gefordert hat-ten. Dafür hätte ich als Grüne sogar eine gewisse Sympa-thie. Obendrein hätte ich endlich das Gefühl: Die Parteibleibt wenigstens einmal in einem Punkt ihren alten Be-schlüssen treu. Aber nein, Sie müssen ständig Ihre altenPositionen räumen, weil Sie nicht mehr wissen, was Sieder Gesellschaft eigentlich vermitteln wollen.Beim Heizkostenzuschuss muss ich Sie auch noch aufeinen Punkt aufmerksam machen: Es geht nicht nur um ei-nen Heizkostenzuschuss für Wohngeld- und BAföG-Empfänger, was ja alleine schon toll wäre. Vielmehr wer-den wir hier heute mit unserer Mehrheit beschließen, dassauch andere Haushalte mit dementsprechend niedrigemEinkommen den Heizkostenzuschuss bekommen können.Deswegen sind hierfür mittlerweile 1,4 Milliarden DMveranschlagt. – Ich bitte Sie, Herr Fromme, das zurKenntnis zu nehmen, damit Sie nicht auf dem nächstenStammtisch wieder falsche Parolen verbreiten, sondernendlich auch einmal selbst über die Sachverhalte infor-miert sind und weitere Kolleginnen und Kollegen infor-mieren können. Das könnte Ihren Wählern eigentlich nurgut tun.Dass das Geld hierfür vom Bund aufgebracht wird,sollten nicht nur Sie registrieren und entsprechend positivbewerten, sondern auch die Länder. Von daher würde ichschon gerne wissen, wie Sie es Ihren Wählern vermittelnwollen, dass Sie gegen diese Heizkostenpauschale stim-men. Offenbar gönnen Sie sie den Menschen nicht.
– Ach, Sie haben die bessere Alternative? Ich habe ja ebengemerkt, wie Ihre Alternative aussieht. So ganz hat zu-mindest mich das nicht überzeugt.
Ich möchte noch zu einem weiteren Punkt etwas sagen,damit wir nicht nur auf dem jetzigen Niveau diskutieren.Es ist ein toller und wichtiger Schritt, wie ich finde, dasswir heute diese beiden Entscheidungen hier fällen. Dasgilt insbesondere für den Umstieg von der Kilometerpau-schale auf die Entfernungspauschale.Ich möchte aber eines feststellen, was gerade mir alsStadtplanerin und für die Stadtentwicklungspolitik Enga-gierte wichtig ist: Bei allem Verständnis für die Berufs-pendler glaube ich, dass wir längerfristig schon dahinkommen müssen, dass wir nicht einseitig mit der Entfer-nungspauschale – denn sie wirkt da letztlich genauso wiedie Kilometerpauschale – die weitere Zersiedlung unse-rer Landschaft vorantreiben.
Vielmehr müssen wir eine Gleichheit zwischen den Be-wohnern des ländlichen Raums und denen, die in der Stadtwohnen, die Verkehrslärm, Verkehrsgefahren, Emissio-nen usw. täglich überstehen müssen und für die das Woh-nen teurer ist als für diejenigen, die auf dem Land leben,herstellen.Von daher möchte ich – nicht unbedingt in dieserLegislaturperiode, aber langfristig –, dass wir eine Dis-kussion über ein schrittweises Zurückführen der Entfer-nungspauschale führen, um Gerechtigkeit zwischenFernpendlern und Stadtbewohnern, für die weniger Ver-kehrsbelastung entsteht, wieder herzustellen.Danke schön.
Jetzt erteile ich Kol-
legin Professor Gisela Frick für die F.D.P.-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Herr Kollege Fromme, Sie können sich vor-stellen, dass ich Ihnen gern zustimmen würde, wenn Siesagen, das sei ein einziger Reparaturbetrieb, was uns hierin den beiden Gesetzentwürfen vorgelegt wird.
Aber Reparaturen sollen ja etwas verbessern, und insofernkann ich diesen Begriff leider nicht übernehmen; denndas, was uns hier in den beiden Gesetzentwürfen vorliegt,ist jedenfalls in meinen Augen und in den Augen meinerFraktion nur eine Verschlimmbesserung,
mit der alle die Fehler, die mit der Ökosteuer gemachtworden sind, nicht etwa beseitigt, sondern noch ver-schlimmert worden sind.Zunächst einmal zum Lenkungscharakter, zum um-weltpolitischen Ansatz dieser Steuer. Wir haben es ebenvon Kollegin Eichstädt-Bohlig gehört: Für diese Funk-tion ist die Entfernungspauschale schlicht und einfachzu hoch. Wir haben in unserem Einkommensteuerre-formgesetz eine Entfernungspauschale vorgesehen, diewesentlich geringer war und im Übrigen den Nahbereichvon 15 Kilometern nicht berücksichtigte. Das ist ein rie-siger Unterschied.
Die Entfernungspauschale ist deshalb zu hoch, weil sievielleicht bei den Autofahrern gerade einmal die höherenKosten deckt, aber alle anderen, die andere Verkehrsmit-tel benutzen, natürlich eine Gießkanne bedeutet, mit derWohltaten ausgeschenkt werden, die in keiner Weise zubegründen sind.
Das ist der eine Punkt.Die sozialpolitische Seite, die Sie immer so betonen,ist erst recht verfehlt. Damit rächt sich natürlich auchder Konstruktionsfehler Ihrer Ökosteuer. Wir können
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Franziska Eichstädt-Bohlig12869
nicht mit der Rentenfinanzierung umweltpolitische Zieleverknüpfen. Das klappt nicht; das hat Herr KollegeFromme sehr deutlich ausgeführt.
Das haben beide Herbstgutachten, sowohl das der fünfWirtschaftsweisen als auch das der Wirtschaftsinstitute,ganz deutlich festgestellt. Diese Konzeption ist ver-fehlt; denn es besteht eine große Asymmetrie zwischendenjenigen, die durch die Ökosteuer belastet werden,und denen, die – von einer Senkung kann man ja kaumsprechen – von dem Einfrieren der Beiträge zur Ren-tenversicherung profitieren.
Wir haben das hier schon x-mal gesagt; aber ich wieder-hole es noch einmal: Von dieser Entlastung profitierennicht die Rentner, die Studenten, die Arbeitslosen undauch nicht die einkommensschwachen Familien.Wenn Sie jetzt an der Entfernungspauschale herum-doktern, dann erwischen Sie die Gruppe der Arbeitneh-mer, diejenigen, die Arbeit haben, die wenigstens in etwaeine gewisse Entlastungswirkung durch Ihre Konzeptionder Ökosteuer in Verbindung mit der Rentenfinanzierunghaben. Nur die begünstigen Sie. Alle anderen entlastenSie nicht.
Das heißt, alle anderen Personengruppen haben überhauptnichts davon, dass die Entfernungspauschale angehobenwird, sodass wir sagen können: Sie ist nicht nur umwelt-politisch, sondern auch sozialpolitisch verfehlt.
Insofern ist es ganz konsequent, dass wir jetzt sagen: Andieser Stelle ist die Entfernungspauschale, die wir demGrunde nach durchaus bejahen, in der von Ihnen vorge-legten Form ganz eindeutig und klar abzulehnen.
Das Gleiche gilt übrigens auch für den einmaligenHeizkostenzuschlag. Was soll denn ein einmaliger Heiz-kostenzuschlag? Als Juristin, als Verfassungsrechtlerin,habe ich Probleme damit, dass so etwas in einem eigenenGesetz geregelt werden soll; denn eigentlich ist das einHaushaltsansatz. Wir brauchen kein generell abstraktesGesetz dazu, um einen solchen einmaligen Heizkostenzu-schlag einzuführen.
– Ja, Wahrscheinlich noch früher, nehme ich einmal an. –Schon das ist bedenklich.Aber gut, ich setze mich über die Bedenken hinwegund widme mich dem Inhalt: Gezahlt werden soll diesereinmalige Heizkostenzuschuss nur an die Menschen, diesowieso schon staatliche Transferleistungen erhalten.Warum erhöht man denn nicht die Transferleistungen,wenn man sieht, dass der Bedarf höher ist?
Warum macht man hier nur eine einmalige Geschichte?
– Herr von Larcher, ich kann das an Sie weitergeben. Ichfreue mich über das Bedauern in Ihrer Stimme.Leider wird mir schon signalisiert – denn ich habe nureine sehr kurze Redezeit –, dass ich zum Ende kommenmuss. Der Heizkostenzuschuss als einmaliger Zuschussist umweltpolitisch und sozialpolisch total verfehlt.
Deshalb müssen wir auch diesem eine Absage erteilen.Danke schön.
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Christine Ostrowski, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Meine Tochter kostete das Auffüllenihres Gastanks 2 300 DM, fast 1 000 DM mehr als im ver-gangenen Jahr. Sie hat kein üppiges Einkommen undmuss sowieso schon ungefähr 50 Prozent davon für dieWohnkosten zahlen. Sie arbeitet in Schicht und ihr Ar-beitsort ist mehrere Kilometer von ihrem Wohnort ent-fernt.Der Heizkostenzuschuss und die Entfernungspau-schale helfen ihr also über das Schlimmste hinweg; das istzunächst erst einmal so. Das hilft nicht nur ihr. Beim Heiz-kostenzuschuss betrifft es ungefähr 5 Millionen Men-schen und bei den Pendlern ungefähr 13Millionen. Schonallein aus diesem Grund wird die PDS den beiden Ge-setzentwürfen zustimmen.
Ich wundere mich wirklich – ich finde Ihre Argumente be-züglich der Ökosteuer zynisch und im Übrigen abge-lutscht –, dass Sie diesen beiden Maßnahmen, die Verbes-serungen für Millionen von Menschen bringen, nichtzustimmen. Machen Sie das bitte mit sich selbst und mitIhrer Wählerschicht aus.
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Gisela Frick12870
– Unsere Position zur Ökosteuer kennen Sie. Wir haltensie ebenfalls für unsozial und für nicht ökologisch.
Das hindert uns aber nicht daran, einer Verbesserung, dieMillionen Menschen zugute kommt, zuzustimmen.
Trotzdem ist auch bei uns nicht nur Jubel angesagt.Was den Heizkostenzuschuss anbelangt, so müsste er ei-gentlich – das hat der Mieterbund berechnet – nicht beinur 5 DM liegen, sondern bei 9 DM.Die Einmaligkeit des Zuschusses – da haben Sie Recht,Frau Frick – ist ein Problem. Aber das eigentliche Pro-blem liegt ganz woanders: Was kann ein Mieter oderHauseigentümer dafür, dass die Weltwirtschaft vom Ölabhängig ist? Was kann er für die Preispolitik der Ölkon-zerne? Er muss den Preis zahlen, er ist der Letzte in derKette, er ist ihnen ausgeliefert.In anderen Fällen ist er beispielsweise kommunalenVersorgungsbetrieben oder Kommunen ausgeliefert. Von17 Positionen im Bereich der Wohnnebenkosten kann derMieter keine einzige Position allein beeinflussen; nur sie-ben kann er mit beeinflussen. Es muss Schluss sein – daskönnte ein Signal sein – mit der Tatsache, dass der MieterKosten zu bezahlen hat, die er nicht verursacht hat und dieer entweder gar nicht oder nur gering beeinflussen kann.Ich fordere Sie aus diesem Anlass dringend auf, die so ge-nannte zweite Miete einer grundlegenden Neuordnungzuzuführen. Sie haben das beispielsweise bei der Miet-rechtsreform versäumt.Zur Entfernungspauschale: Die Umwandlung ist klar,sie steht in allen Parteiprogrammen. Die PDS hatte diesübrigens schon 1995 hier eingebracht; dies wurde damalsabgelehnt. Das Gute an der Entfernungspauschale ist,dass sie alle Pendler gleichstellt, egal, ob sie das Auto, dasFahrrad oder den öffentlichen Nahverkehr benutzen. Mankann hoffen, dass es dadurch vielleicht in geringem Maßezu einem Umsteigen auf den öffentlichen Nahverkehrkommt. Auch das Schummeln wird sich vielleicht etwaslegen.Sie haben unseren Entschließungsantrag gelesen. Man-che wundern sich, dass wir diese beiden so überschauba-ren Maßnahmen zum Anlass nehmen, hier einen sehrkomplexen Antrag bezüglich einer ökologischen Ver-kehrswende einzubringen. Wir unterscheiden uns da ebenvon Ihnen. Sie meckern hier nur und hacken auf der Öko-steuer herum,
wohingegen wir die Ökosteuer ebenfalls grundlegend kri-tisieren, den beiden jetzt vorgesehenen Maßnahmen aberzustimmen und trotzdem gleichzeitig ein umfassendesKonzept vorlegen,
nach dem beispielsweise, Frau Eichstädt-Bohlig, die Ent-fernungspauschale in späteren Jahren zurückgeführt wer-den kann, damit sie eben nicht als Zersiedlungspauschalewirkt.
Die Entfernungspauschale allein bremst nicht das An-wachsen des Autoverkehrs und bringt dem öffentlichenVerkehr keinen Vorrang. Sie löst auch nicht das Desasterder Bahn und schafft kein Investitionsprogramm für dieSchiene. Deshalb fordern wir Sie mit unserem Antrag auf,die gegenwärtige Situation zu nutzen, um diese Schritteendlich anzugehen.Zuletzt ein sehr erfreulicher Punkt. Die PDS hatte alserste und übrigens als einzige Fraktion im Haushaltsaus-schuss schon vor Wochen beantragt, dass der Heizkos-tenzuschuss allein vom Bund bezahlt wird. Wir musstenuns für diesen Antrag beschimpfen lassen – das sind wirja gewöhnt – und er wurde abgelehnt.
Jetzt machen Sie es doch. Das finde ich hervorragend.
Ich würde Ihnen aber empfehlen, es auf direktem Wegezu machen, indem Sie unserem Entschließungsantrag zu-stimmen.Vielen Dank.
Als Letzter in dieser
Debatte erteile ich das Wort der Kollegin Ingrid Arndt-
Brauer von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, wir habenheute ein inhaltlich sehr überschaubares und leicht ver-ständliches Gesetz vor uns.
Deshalb brauche ich nicht mehr viel dazu zu sagen. Ichmöchte aber noch ein paar Worte auf meine Vorrednerbzw. Vorrednerinnen verwenden.Es hat mich nicht überrascht, dass Herr Fromme wie-der auf die Ökosteuer zu sprechen kam.
– Ja, das war zu erwarten. – Ich darf in diesem Zusam-menhang kurz Klaus Töpfer zitieren, der gesagt hat:Wer die Ökosteuer als K.o.-Steuer bezeichnet, hat es nicht
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Christine Ostrowski12871
verstanden. – Ich möchte dieses Zitat nicht auf Sie per-sönlich anwenden; aber ich denke, dass es aussagekräftigist.
Sie haben von einem Reparaturbetrieb gesprochen.Das trifft in gewisser Weise zu. Aber ich denke, es liegtdaran, dass wir eine Baustelle von Ihnen übernommen ha-ben, wobei die Grundmauern leider schon standen. Wirkonnten es prinzipiell nicht anders bauen, als es von Ih-nen angefangen wurde. Ich will nicht alles aufführen, waswir von Ihnen übernommen haben.
Wir werden versuchen, das Beste daraus machen.
Ihr Rundumschlag, angefangen bei den 630-Mark-Jobsbis hin zur Ökosteuer, war deshalb nicht ganz gerechtfer-tigt.Ich möchte Ihr Wahlprogramm zitieren – dieser Punktist eben schon angesprochen worden –, in dem steht, dasses eine Entfernungspauschale von 50 Pfennig ab 15 Kilo-metern geben soll.
Ich als Münsterländer Radfahrerin und Abgeordnete wäredamit durchaus einverstanden. Aber die Bürger des Müns-terlandes, die als Pendler weite Strecken zurücklegenmüssen und die mich ebenfalls in den Bundestag gewählthaben, um die Interessen dieser Region zu vertreten, kön-nen damit leider nicht leben. Deswegen ist es sinnvoll,dass wir die Entfernungspauschale auf 80 Pfennig festle-gen.
Das müsste für Sie eigentlich nachvollziehbar sein, weilSie teilweise ebenfalls aus ländlichen Regionen kommenund von den Menschen dort ähnliche Beschwerden hörenkönnen.Über die Höhe der Entfernungspauschale kann manstreiten. Aber was ich nicht verstehe, ist Ihre Weigerung,dem Heizkostenzuschuss zuzustimmen.
Wenn ich ein wenig mehr Redezeit hätte, würde ich eineGedenkminute einlegen, in der Sie einmal an zwei oderdrei kleine Leute, wie Sie sagen, aus Ihrem Wahlkreisdenken können,
die Sie in den nächsten Wochen fragen werden: Warumseid ihr eigentlich dagegen?Das Problem ist das Folgende: Sie reden immer von derÖkosteuer auf dem Heizöl. Wir haben einmalig 4 Pfennigdraufgeschlagen.
Bei einer Tankfüllung für eine Wohnung oder ein kleinesHaus von 2 000 Litern würde sich eine Ersparnis von80 DM ergeben, wenn wir die Erhöhung um 4 Pfennigzurücknehmen würden. Wir aber geben den Leuten we-sentlich mehr.
Wir geben ihnen 5 DM Zuschuss pro Quadratmeter. FürStudenten und Sozialhilfeempfänger macht dies imDurchschnitt 300 DM aus.
Auch den Menschen, die weder Wohngeld noch Sozial-hilfe empfangen – dazu gehört die Rentnerin, die Sie ebenerwähnt haben –, geben wir einen Zuschuss.
– Nein, das ist nicht richtig. Sie wissen selber, dass dieÖkosteuer keinen Einfluss auf die Entscheidungsprozesseder OPEC hat.
– Wie meine Kollegin gerade sagt: 80 DM sind wenigerals 300 DM.Der durchschnittliche Heizkostenzuschuss, den die So-zialhilfeempfänger bekommen, beträgt 300 DM.
Die Anzahl der Haushalte von Sozialhilfeempfängern be-trägt 1,5Millionen. Sie bekommen, wie gesagt, im Durch-schnitt 300 DM Heizkostenzuschuss.Da dieser auf die So-zialhilfe angerechnet wird, kommt er nicht denSozialhilfeempfängern direkt – sie zahlen die Miete unddie Heizkosten ja nicht –, sondern den Kommunen zu-gute. Das heißt, die Kommunen werden durch unserenBundeszuschuss um 450 Millionen DM entlastet.
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Ingrid Arndt-Brauer12872
– Nein, sie müssen uns nicht auf Knien danken. Denn wirtun hier unsere Arbeit. Wir tun sie, so gut wir können.
Es wäre schön, wenn Sie uns gerade bei diesem Vorhabenunterstützen würden. Ich denke, das würde auch Ihrer Kli-entel und Ihren Wählern gut tun.
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ein-führung einer Entfernungspauschale und zur Zahlung ei-nes einmaligen Heizkostenzuschusses, Drucksache14/4435. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache14/4631, den Gesetzentwurf in den Entwurf eines Geset-zes zur Einführung einer Entfernungspauschale in derFassung der Anlage 1 der Beschlussempfehlung und inden Entwurf eines Gesetzes zur Gewährung eines einma-ligen Heizkostenzuschusses in der Fassung der Anlage 2aufzuspalten und diese beiden Gesetzentwürfe anzuneh-men.Wir stimmen zunächst über den Gesetzentwurf zurEinführung einer Entfernungspauschale in der Ausschuss-fassung, Drucksache 14/4631, Anlage 1, ab. Ich bitte die-jenigen, die diesem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf damit inzweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist gegen dieStimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf zur Ge-währung eines einmaligen Heizkostenzuschusses in derAusschussfassung, Drucksache 14/4631, Anlage 2, ab.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Die Gegenprobe! – Enthaltungen? – Gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf in zwei-ter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf damit an-genommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache14/4650. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Gegenprobe! – Mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU,Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. ist der Ent-schließungsantrag abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf:9 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsver-träge und zur Änderung und Aufhebung ar-beitsrechtlicher Bestimmungen– Drucksache 14/4374 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Karl-Josef Laumann, Dr. Maria Böhmer,Rainer Eppelmann, weiteren Abgeordneten undder Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zum Fortbestand befriste-ter Arbeitsverhältnisse– Drucksache 14/3292 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. IrmgardSchwaetzer, Rainer Funke, weiteren Abgeordne-ten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Intensivierung der Be-schäftigungsförderung– Drucksache 14/4103 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/4625 –Berichterstattung:Abgeordneter Franz Thönnesb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. MariaBöhmer, Horst Seehofer, Peter Rauen, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUTeilzeitbeschäftigung wirtschaftsverträglichund familiengerecht fördern– Drucksache 14/4526 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Ingrid Arndt-Brauer12873
– Sie können alle hier bleiben. Das ist ein interessantesThema. Das gilt vor allen Dingen für die sozialdemokra-tische Bundestagsfraktion. Ich erinnere mich an manchenKampf um dieses Thema.
– So tragen wir unsere Geschichte mit uns, Herr Kollege.
Nun eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat für dieSPD-Fraktion der Kollege Olaf Scholz.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Heute ist, glaube ich, ein für die Geschichteder Bundesrepublik ganz bedeutsamer Tag.
Wir befinden uns nämlich in einem Prozess des Aufho-lens.
Wir holen bei europäischen Entwicklungen auf, die dieBundesrepublik Deutschland über viele Jahre verschlafenhat und wo es notwendig war, dass wir endlich auf denStand der Zeit kommen.
In unserem Land haben wir in den letzten Jahren überVorbilder diskutiert, die wir nachmachen und deren Er-fahrungen wir kopieren sollen. Eines dieser Länder, dasimmer wieder vorbildhaft erwähnt worden ist, sind dieNiederlande. In den Niederlanden gibt es eine sehr mo-derne Arbeitsmarktpolitik. In den Niederlanden gibt esviele Dinge, die zu einer hohen Beschäftigungsquote ge-führt haben.
Ein wichtiger Punkt ist die Teilzeitarbeit. Teilzeitarbeitist in den Niederlanden viel mehr ausgeprägt als in unse-rem Staate. Wie haben die Niederlande das gemacht? Siehaben im Juli dieses Jahres ein Gesetz verabschiedet, dasdie Teilzeitarbeit für die Beschäftigten mit einem Rechts-anspruch versieht. Wenn wir uns ansehen, was im No-vember dieses Jahres im Deutschen Bundestag beschlos-sen wird, dann stellen wir fest, dass ein Rechtsanspruchauf Teilzeitarbeit in der Bundesrepublik Deutschland be-schlossen wird.
Innerhalb von zwei Jahren ist es uns gelungen, einen16-jährigen Stillstand zu beenden und mit den fortge-schrittensten Ländern Europas im Bereich der Arbeitszeitund der Arbeitsmarktpolitik gleichzuziehen.
Dabei muss man zugeben, dass die Niederländer natürlichnicht erst seit Juli einen solchen Rechtsanspruch haben;sie haben ihn durch Richterrecht schon früher gehabt.Aber nun gibt es auch ein Gesetz dieser Art. Hier wird im-mer so provinziell diskutiert. Wir haben uns nun ein Vor-bild genommen. Viele der gesetzlichen Bestimmungen,die Sie im Gesetzentwurf finden, stammen aus den Nie-derlanden und sind, außer dass man sie in die deutscheRechtssprache übersetzt hat, identisch.Insgesamt haben wir, so denke ich, einen Gesetzent-wurf vorliegen, der sich auf zweierlei Weise mit demThema Flexibilität beschäftigt: Flexibilität, die für denArbeitsmarkt wichtig ist, die keine einseitige Angelegen-heit ist, muss, wenn sie für das arbeitsrechtliche Gesche-hen und für die Wirklichkeit in den Unternehmen und inden Betrieben bedeutsam werden soll, für beide Seiten,also sowohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerals auch für die Arbeitgeber, gleichermaßen gelten. Dereine Teil des Gesetzentwurfes beschäftigt sich mit Flexi-bilität aus Sicht der Arbeitnehmer. Das ist der Rechtsan-spruch auf Teilzeit, den wir hier festschreiben. Der zweiteTeil des Gesetzentwurfes beschäftigt sich mit Interessenhinsichtlich der Flexibilität, die sich aus Sicht der Arbeit-geber ergeben. Das ist das, was zur befristeten Beschäfti-gung geregelt wird. Ich glaube, dass das deshalb ein sinn-voll kombiniertes Gesetz ist, weil es diese beiden Aspektebeschreibt und sinnvolle, lebenspraktische Regelungenfür die Wirklichkeit in den Unternehmen aufzeigt.Nun will ich etwas zu den verschiedenen Einwendun-gen sagen, die gegen den Rechtsanspruch auf Teilzeit-arbeit vorgebracht worden sind. Ich spreche vor allem dergrößten Oppositionsfraktion, der CDU/CSU, ein Lob aus.Sie hat den heute nicht zur Beratung anstehenden Gesetz-entwurf „Teilzeitbeschäftigung – wirtschaftsverträglichund familiengerecht fördern“ vorgelegt. Wenn man sichihn ansieht, dann stellt man fest, dass dort nicht unser Weggegangen wird. Es wird darin aber festgestellt, dass es ei-nen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit geben muss. Wir lo-ben Sie dafür, dass Sie unsere Argumentation unterstüt-zen. Einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit soll esgeben. Er ist dort verankert.Was aber unterscheidet Sie von uns? – Sie sagen, die-sen Rechtsanspruch soll es nicht für jede Frau und jedenMann geben; Sie sagen, es sollen vielmehr nur bestimmteBevölkerungsgruppen in bestimmten Fällen die Möglich-keit haben, diesen Rechtsanspruch durchzusetzen. Das istnach all den Erfahrungen, die wir auf dem Arbeitsmarktgemacht haben, eine schlechte Lösung. Wenn wir be-stimmte Bevölkerungsgruppen mit dem Vorteil versehen,dass für sie besondere arbeitsrechtliche Bedingungen gel-ten, so birgt das immer auch die Gefahr in sich, dasssie bei der Einstellung deswegen nicht berücksichtigt
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Vizepräsidentin Anke Fuchs12874
werden. Darum wäre Ihr Gesetzentwurf in der praktischenWirkung, wenn man ihn beschließen würde, ein Gesetz-entwurf zur Frauendiskriminierung; denn nur sehr fort-schrittliche Unternehmer würden sich davon nicht ab-schrecken lassen.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Ja.
Bitte sehr, Herr Kolb.
Es muss etwas Wichti-
ges gefragt werden. – Herr Kollege Scholz, Sie sind ja
nicht wirklich so naiv, das zu glauben, was Sie gerade ge-
sagt haben. Wie stehen Sie dazu, dass im „Spiegel“ – Heft
45/2000 – zu lesen ist:
Im Ergebnis wird dies
– ihr Gesetz –
dazu führen, dass die Unternehmen künftig schon bei
der Einstellung solche Bewerber aussondern, die
später häufig eine Teilzeitstelle wünschen – wie etwa
Frauen mit Kindern.
Ist nicht bei Ihrem Gesetz die Wirkung genau die gleiche
wie bei dem der CDU/CSU?
Ich glaube, dass auch „Spiegel“-
Redakteure manchmal nicht jeden Satz überdenken, den
sie schreiben. Dieser Satz jedenfalls ist nicht zu Ende ge-
dacht. Es kann und wird nicht so sein, dass man jeman-
dem ansieht, dass er eventuell einen Anspruch auf Teil-
zeitarbeit geltend machen wird – es sei denn, man
unterstellte, dass bestimmte Gruppen von Menschen dies
tun. Wir aber wollen erreichen, dass alle Menschen von
diesem Recht Gebrauch machen.
Ich möchte auch noch Folgendes ergänzend sagen: Wir
haben ja den Rechtsanspruch bereits im Zusammenhang
mit dem Erziehungsurlaub geregelt. Das ist eine wichtige
Vorerfahrung. Doch es geht natürlich nicht nur um die Pe-
riode, die dort geregelt ist, sondern um das ganze Leben.
Wir werden auch erreichen müssen, dass fortschrittliche,
moderne Familien die Möglichkeit haben, ihr Arbeitsle-
ben und ihr Berufslebenmiteinander in Einklang zu brin-
gen.
Ich glaube, viele Unternehmen werden uns in ein paar
Jahren dafür loben, dass wir diesen Schritt hier gegangen
sind.
Denn was soll geschehen? Wenn man zum Beispiel als
Führungskräfte im Unternehmen auf Menschen zurück-
greift, die mit anderen Menschen verheiratet sind oder zu-
sammenleben, die ebenfalls als Führungskräfte infrage
kommen, dann gibt es zwei, die ihre Interessen haben, was
das private Zusammenleben und die berufliche Entwick-
lung betrifft. Das miteinander in Einklang zu bringen,
neue Aushandlungsprozesse möglich zu machen, das al-
les geschieht mit diesem Gesetz. Darum glaube ich, dass
wir eine gute Regelung zustande gebracht haben.
Alle Arbeitgeberinteressen in diesem Zusammenhang
sind berücksichtigt. Wenn es betriebliche Gründe gibt, die
einer solchen Regelung entgegenstehen, dann kann das
eben nicht realisiert werden. Mehr muss man und braucht
man nicht zu regeln. Das ist meines Erachtens sehr sinn-
voll geschehen.
– Es wird nicht eine Vielzahl von Prozessen geben, wie
Sie immer sagen. Sie sind viel zu misstrauisch, was die
Kultur und die Rechtskultur in unserem Lande betrifft.
Gesetze werden in unserem Lande – das ist ein Vorzug un-
serer Kultur – meistens befolgt. Nur ein ganz kleiner Teil
von Streitigkeiten – als Anwalt habe ich eine Zeit lang da-
von gelebt –
wird vor Gericht ausgetragen. Die meisten Menschen hal-
ten sich einfach an die Gesetze.
Insofern wird dieses Gesetz auch meinungsbildend wir-
ken.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Ja.
Danach bitte ich, von
Zwischenfragen abzusehen. Dann machen wir in unserer
Debatte weiter. – Herr Hinsken, bitte sehr.
Herr Kollege Scholz,Sie erwecken hier den Eindruck, als wenn Sie von demGeschehen in den Betrieben viel verstehen würden. Ichmöchte Sie einmal konkret fragen, wie das bei einem Be-trieb ist, der bereit ist, den einen oder anderen Arbeitneh-mer auf dessen Wunsch hin auf Teilzeit zu setzen und derdann plötzlich feststellt, dass die Aufträge mehr werdenund er wieder Vollzeitbeschäftigte benötigt. Kann er dannden Arbeitsplatz wieder umwandeln, ihn länger beschäf-tigen, um der Auftragslage gerecht zu werden, oder nicht?
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Olaf Scholz12875
Nein, er kann das nicht. Wir lebennämlich in einem Land, das es durch sein Grundgesetzverbietet, jemanden zu einer Arbeit zu zwingen, zu der ersich vertraglich nicht verpflichten möchte.
Aber es gibt die Möglichkeit: mit den Beschäftigen darü-ber zu reden, ob sie ihre Arbeitszeit wieder ausweitenmöchten, zu sehen, ob unter den anderen Teilzeitbeschäf-tigen jemand ist, der das möchte, oder jemanden neu ein-zustellen. Es gibt also genügend flexible Reaktionsmög-lichkeiten. Da muss das Gesetz keine Zwangsregelung zurMehrarbeit beinhalten, wie Sie das offenbar vorschlagen.
Ich glaube auch – vielleicht sollte ich das noch ergän-zend zu Ihrer Frage sagen –, dass man nicht unterstellensollte, Arbeitgeber kämen mit ihren Arbeitnehmern nurklar, wenn sie sie zwingen können. Die meisten Arbeitge-ber, die ich kenne, sind solche, die das auch ohne Zwanghinbekommen. Ich glaube, auch das gehört zu unseremLande.
Der zweite Teil des Gesetzes beschäftigt sich mit derBefristung. Hier ist etwas geregelt, was 1985 seinen ers-ten Niederschlag in der Gesetzgebung gefunden hat, undich will gerne zugeben, dass wir uns damals sehr ge-fürchtet haben.
Wir haben uns gefürchtet, weil wir annehmen mussten,die Etablierung einer sachgrundlosen Befristung in unse-rem Arbeitsrecht könne dazu führen, dass immer mehr Ar-beitsverträge nur als befristete Verträge ausgestaltet wer-den. Wenn man das alles betrachtet, muss man imNachhinein sagen, dass das nicht eingetreten ist. Die Zahlder befristeten Arbeitsverträge hat trotz des Beschäfti-gungsförderungsgesetzes und aller seiner Regelungennicht zugenommen. Das hat uns ermutigt, den vielfältigenWünschen nachzukommen und zu sagen: Wir wollen dasBeschäftigungsförderungsgesetz in dem Teil der Mög-lichkeit einer sachgrundlosen Befristung verlängern, weilwir sagen: Es hat diese schlechten Wirkungen nicht ge-habt und es ist ein unbürokratisches Flexibilitätsinstru-ment für Arbeitgeber gewesen. Schließlich hat das man-chen Beschäftigtengruppen überhaupt erst den Eintritt indas Berufsleben ermöglicht.
Wir werden dieses Gesetz, das auch Sie immer zur Er-probung verlängert haben, jetzt endgültig beschließen undwerden den Missbrauch, der sich mit diesen Regelungenverbunden hat, endgültig und wirksam unterbinden. Es isteine gute Reaktion auf all die Erfahrungen, die man seit1985 machen konnte, dass die langen Befristungsketten,die einige wenige Arbeitgeber unter dem Deckmantel desBeschäftigungsförderungsgesetzes realisiert haben,endgültig durchbrochen werden. Manche haben es näm-lich tatsächlich so gemacht, dass sie Beschäftigte zweiJahre mit einer sachgrundlosen Befristung beschäftigt ha-ben, sie dann fünf Monate als Urlaubsvertretung einge-setzt haben, was eine sachlich begründete Befristung ist,dann für zwei Jahre wieder zu einer sachgrundlosen Be-fristung übergegangen sind, dann sie als Schwanger-schaftsvertretung eingesetzt haben, danach sie wieder miteiner sachgrundlosen Befristung beschäftigt haben usw.Weil alle diese Missbrauchsmöglichkeiten natürlichnicht zugelassen werden sollen, haben wir jetzt einen Weggefunden, dies in dem Gesetz zu unterbinden, indem mannur bei einer Neueinstellung die Möglichkeit hat, eine sol-che sachgrundlose Befristung zu wählen. Ansonsten istman auf das angewiesen, was seit Anfang der 50er-Jahrein unserem Arbeitswesen immer möglich gewesen ist,nämlich Menschen befristet zu beschäftigen.
Ich habe mit Millionengehältern im Jahr bezahlte Un-ternehmensvorstände gesehen, die sich beklagt haben, essei nach dem neuen Gesetzentwurf nicht mehr möglich,jedes Jahr im Dezember zu Weihnachten immer dieselbenVerkäuferinnen, die damit einverstanden waren, befristetzu beschäftigen. – So ein Quatsch! Da geht natürlich im-mer noch. Das ging bis 1985. Aber einige haben zwi-schenzeitlich vergessen, dass es unser Recht schon immerzuließ, eine befristete Beschäftigung mit einem sachli-chen Grund zu rechtfertigen. Deshalb ist diese Behinde-rung, die einige in dem neuen Gesetz vermuten, gar nichtgegeben. Es wäre hilfreich, wenn sich die Leute noch ein-mal anschauten, was in unserem Gesetz wirklich steht.
Ich glaube, dass wir im Übrigen auch sehr viel Ser-vicearbeit für die Bürgerinnen und Bürger geleistet haben.Es kommt bei der Gesetzgebung auch darauf an, dass manden Menschen, die kein Jurastudium hinter sich gebrachthaben, die Möglichkeit gibt, mit den Gesetzen umzuge-hen. Die meterdicke Rechtsprechung zur befristeten Be-schäftigung durch das Bundesarbeitsgericht kann mannicht jemandem empfehlen, der sich fragt: Soll ich dortnun arbeiten oder nicht bzw. soll ich ihn nun einstellenoder nicht?
Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes über dieMöglichkeiten einer sachlich begründeten Befristung sindins Gesetz geschrieben worden. Das ist eine Hilfe, weilman nur noch in dieses Gesetz schauen muss.Auch sind die an vielen Stellen durcheinander gerate-nen Vorschriften darüber, was bei einem Streitfall passiert
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und welche Formvorschriften dabei einzuhalten sind, imGesetz geordnet. Ich glaube, auch das ist eine sinnvolleErgänzung, die unser Arbeitsrecht dringend benötigt hat.
Ich komme zu dem zurück, was ich eingangs versuchthabe darzustellen: Die Bundesrepublik Deutschland hathinsichtlich eines modernen Arbeitsrechts einen deutli-chen Rückstand in Europa. Wir liegen hinter anderen Län-dern zurück, die wir – das kann man in den Sonntagsre-den aller Parteien hören – immer bewundern. Jetzt ist eineRegierung angetreten, die gesagt hat: Wir wollen den eu-ropäischen Standard erreichen. Wir haben uns bei derFrage der modernen Arbeitszeitregelung an das nieder-ländische Vorbild mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitar-beit angekoppelt. Wir haben eine die Arbeitnehmerschützende und die Unternehmen mit ausreichenderFlexibilität versehende Regelung für die befristete Be-schäftigung gefunden.Wundern Sie sich nicht – Sie werden damit noch öfterkonfrontiert werden –, dass wir auf dem Niveau Europasangekommen sind. Bedauern Sie nicht, dass wir nichtweiter mit Ihnen zurückbleiben wollen. Das ist nicht un-sere Absicht.Schönen Dank.
Ich erteile der Kolle-
gin Brigitte Baumeister, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber HerrKollege Scholz, wenn ich die fünf Weisen von gesternrichtig im Ohr habe, dann glaube ich, dass diese an IhremEntwurf wenig Freude haben werden. Das große Erwa-chen wird mit Sicherheit noch kommen.
Wer gehofft hatte, in dem Gesetzentwurf weniger stattmehr Regulierungen zum Arbeitsmarkt vorzufinden, dersieht sich enttäuscht; denn wir haben wesentlich mehr Re-gulierungen. Das ist der Grund, weshalb die CDU/CSU-Fraktion diesen Entwurf der Bundesregierung ablehnt.
Richtig ist: Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsver-träge sind ein wesentlicher Beitrag zur Verbesserung derBeschäftigungssituation. Über 6 Millionen Arbeitnehmersind teilzeitbeschäftigt und rund 2,8 Millionen Arbeitneh-mer haben ein befristetes Arbeitsverhältnis. Auch wirsprechen uns für eine Erweiterung der Teilzeitarbeit aus.Nur – das haben Sie zu Recht bemerkt und wir bedankenuns recht herzlich für Ihr Lob –, wir wollen das mit einerverbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Familie ver-knüpfen.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung will die Be-schäftigung fördern, und dies besonders bei Frauen.
Vollzeitbeschäftigte und Teilzeitbeschäftigte sollen künf-tig gleichgestellt werden. So soll eine unterschiedlicheBezahlung bei gleicher Tätigkeit ausgeschlossen sein.Auch die Möglichkeit der Aus- und Weiterbildung soll ge-geben sein.Das Wichtigste ist der einklagbare Rechtsanspruch.Ihn lehnen wir ab. Arbeitnehmer, die länger als sechs Mo-nate zum Betrieb gehören, sollen künftig einen rechtli-chen Anspruch auf die Verringerung ihrer vertraglichenArbeitszeit haben. Dabei soll es ausreichen, wenn die Mit-arbeiter ihrem Arbeitgeber die Absicht drei Monate imVoraus kundtun. Dies kann nur abgelehnt werden, wenndem betriebliche Gründe entgegenstehen. Dazu gehörenzum Beispiel Organisationsfragen, Planungssicherheit imBetrieb und unverhältnismäßig hohe Kosten. Ein Vetokann das Unternehmen zudem einlegen, wenn partoutkein passender Ersatz gefunden wird, wobei die Beweis-last freilich beim Arbeitgeber liegt. Ich denke, da werdenschöne Verhältnisse auf uns zukommen.Ansonsten sind die Tarifpartner gefordert; denn sie sol-len nach den Vorstellungen der Bundesregierung die Aus-schlussgründe im Detail festlegen. Ich kann mir heuteschon lebhaft vorstellen, zu welchen Diskussionen dies inden einzelnen Betrieben führen wird.Freie Stellen müssen innerbetrieblich oder öffentlichauch als Teilzeitarbeitsplätze ausgeschrieben werden.Teilzeitbeschäftigte, die auf eine freie Vollzeitstelle wech-seln wollen, sind bevorzugt zu behandeln. – So der Ge-setzentwurf.Nun freue ich mich natürlich, dass Sie einen Ände-rungsantrag eingebracht haben, der zumindest diese Wi-drigkeit in gewisser Weise abmildert.Kritik an dem Gesetzentwurf kommt von uns, weil dieUnternehmen belastet werden und weil Ihr Gesetzentwurf– das ist eben nicht richtig, da Sie das Gegenteil gesagt ha-ben – weit über die EU-Richtlinien hinausgeht, verehrterHerr Kollege Scholz.
Das Gesetz, von dem sich die Bundesregierung einenweiteren Teilzeitschub verspricht, entpuppt sich bei nähe-rem Hinsehen als Bremse für Produktion und Beschäfti-gung. Denn der Gesetzentwurf trifft die Unternehmen andrei – so meine ich – ganz empfindlichen Stellen. DasErste ist der Produktionsablauf; ich denke hier nur anSchichtarbeit. Das Zweite ist der Personaleinsatz; nichtjeder Mitarbeiter ist ohne weiteres ersetzbar.
Zum Dritten denke ich, die Firmen werden bei derKapazitätsplanung vermehrt dazu übergehen, dass sieÜberstunden anordnen und keine neuen Arbeitnehmereinstellen. So wird Ihr Gesetz ganz klar unterlaufen.
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Olaf Scholz12877
Die Expertenanhörung hat ergeben, dass der uneinge-schränkte Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit das gravie-rende Problem schlechthin ist. Der Rechtsanspruch be-reits nach sechs Monaten – in den Niederlanden erst nach12 Monaten – vorzusehen bedeutet einen Eingriff in dieVertragsfreiheit und in die unternehmerische Entschei-dungshoheit.
Es gibt einen Reduzierungsanspruch bereits nach Ablaufder Probezeit, wobei weder Arbeitgeber noch Arbeitneh-mer wissen, ob sich der Arbeitnehmer tatsächlich nachEnde der Probezeit voll in den Produktionsprozess inte-grieren kann. Auch ist nicht akzeptabel, dass der Verrin-gerungsanspruch völlig unbegrenzt ist. Er liegt – von0 Prozent bis 99 Prozent – völlig frei im Belieben des Ar-beitnehmers.
Einer der wesentlichen Kritikpunkte der Sachverstän-digen ist, dass der Teilzeitarbeitnehmer de facto besser ge-stellt wird. Hier möchte ich noch einmal auf das Beispielder Niederlande zu sprechen kommen, das Sie angespro-chen haben, Herr Kollege Scholz. Ich glaube nicht, dassman das vergleichen kann; denn das ist ein Vergleich zwi-schen Äpfeln und Birnen. Denn Sie wissen erstens, dassdie Tradition in den Niederlanden eine völlig andere ist,und zweitens gibt es dort eine Grundrente. Daraus be-gründet sich auch dieses völlig veränderte Verhalten.Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt ist, dass eineVielzahl arbeitsrechtlicher Verpflichtungen und mitbe-stimmungsrechtlicher Regelungen von der Zahl der imBetrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer abhängt.Dazu zählen bekanntlich auch Teilzeitkräfte. Die Arbeit-nehmer haben es in bestimmten Konstellationen selbst inder Hand, die Betriebsgröße zu bestimmen und dem Ar-beitgeber damit andere arbeitsrechtliche Rahmenbedin-gungen aufzuzwingen.
Dies betrifft zum einen die Zahl der freigestellten Be-triebsratsmitglieder und zum anderen die Schwellenwertenach den verschiedenen Mitbestimmungsgesetzen.Die Folge ist, dass arbeitsrechtliche Regelungen ihreverfassungsrechtliche Legitimation verlieren. Dies könnteman auch unter dem Stichwort Manipulation einordnen.
Eine Verpflichtung des Arbeitgebers, jede Stelle bei derAusschreibung auf ihe Eignung als Teilzeitbeschäftigunghin überprüfen zu müssen, ist zum Glück nicht mehr vor-gesehen. Trotzdem bedeutet dieser Gesetzentwurf nachmeiner Auffassung für den Arbeitgeber einen Verlust derOrganisationshoheit und eine zusätzliche bürokratischeMaßnahme.Zudem beschäftigt mich die Frage, wer über die Mög-lichkeit einer Teilzeitarbeit entscheidet, wenn mehrere Ar-beitnehmer Teilzeit arbeiten wollen. Wer legt die Krite-rien fest, gibt es eine Sozialauswahl und – wenn ja – wiefunktioniert diese? Nach meiner Erfahrung funktioniertTeilzeitarbeit nur, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmereine einvernehmliche Klärung herbeiführen; weil der Ar-beitgeber auf den Arbeitnehmer nicht verzichten will,wird er versuchen, zu einer einvernehmlichen Lösung zukommen. Wir setzen auf Freiwilligkeit und auf flexibleVereinbarungen. Wir wollen – das haben Sie richtig er-kannt – mehr Teilzeitarbeit zur Betreuung von Kindern,für Beschäftigte, die schwer pflegebedürftige Angehörigebetreuen, sowie für Arbeitnehmer mit Erwerbsminderung.
Ich möchte nun noch kurz auf die befristeten Arbeits-verhältnisse eingehen: Diese sind – wenn ich mich rechterinnere – 1985 zur Flexibilisierung der Arbeitswelt undzur Abdeckung saisonaler Arbeitsspitzen ermöglicht wor-den. Dies hat auch die Bundesregierung erkannt und des-halb steht sie – im Gegensatz zu den Gewerkschaften – zuder gesetzlichen Regelung. Allerdings wollen Sie von derKoalition die Möglichkeit befristeter Arbeitsverhältnisseeinschränken und haben in diesem Zusammenhang, HerrKollege Scholz, von einem Missbrauch gesprochen. Ei-nen solchen kann ich nicht erkennen. Ich denke, dass eshöchstens in ganz wenigen Bereichen – auch Sie habendas zum Glück betont – einen Missbrauch gegeben hat.Dies rechtfertigt es aber nicht, die gesetzlichen Möglich-keiten derart zu beschränken, wie Sie es getan haben.Kernpunkte Ihres Entwurfs sind die Gleichbehandlungbefristet beschäftigter Arbeitnehmer mit unbefristet Be-schäftigten. Es ist klar, dass die Befristung eines Arbeits-vertrages grundsätzlich eines sachlichen Grundes bedarf.Ohne Vorliegen eines solchen sachlichen Grundes ist eineBefristung nur bei Neueinstellungen oder dann möglich,wenn der Arbeitnehmer älter als 58 Jahre ist.Es gibt eine Informationspflicht des Arbeitgebers so-wie die Pflicht, Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zuermöglichen. Unsere Kritik bezieht sich auf die vermehrteReglementierung und zunehmende Bürokratisierung so-wie die zu erwartenden Mehrkosten; ich denke dabei, wiegesagt, an die Informationspflichten, an die Pflicht zur Er-möglichung von Weiterbildungsmaßnahmen sowie diePflicht, Personalakten jahrzehntelang aufbewahren zumüssen.Eine Untersuchung von Infratest zum Beschäftigungs-förderungsgesetz kam zu dem Ergebnis, dass der wesent-liche Effekt der Beschäftigungsförderung gerade in einererleichterten rechtlichen Handhabung besteht. Der Effektdes geplanten Gesetzes wird sein, dass die Arbeitgebervermehrt auf Überstunden ausweichen.
Sinn und Zweck des ursprünglichen Gesetzes war es, denUnternehmern bei einer veränderten Auftragslage und beiSpitzenlasten mehr Flexibilität zu ermöglichen. Genaudiesen Aspekt berücksichtigt der vorliegende Gesetzent-wurf nicht.Nach der bisherigen Ausgestaltung ergab sich zudem dieChance, bei zusätzlich eingestellten Mitarbeitern zunächst
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Brigitte Baumeister12878
zu beobachten, wie sie sich in den Betriebsablauf integrie-ren, und – ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen –Arbeitslosen die Möglichkeit einer erneuten Beschäftigungzu geben. Ich wiederhole mich hier, wenn ich sage, dass ichin großen Betrieben meines Wahlkreises erfahre, dass durchdie Möglichkeit befristeter Arbeitsverhältnisse durchauseine Reihe von unbefristeten Arbeitsverhältnissen entstan-den ist.Die Befürchtung, dass in großem Umfang Befristun-gen ausgesprochen werden, um Stammpersonal durch be-fristet beschäftigte Arbeitnehmer zu ersetzen, kann ichnicht nachvollziehen. Denn der Anteil der befristet Be-schäftigten ist seit 1992 kaum gestiegen, auch nicht inOstdeutschland.Dass kaum von einer großflächigen Umwandlung vonunbefristeten Arbeitsverträgen die Rede sein kann, zeigtauch die Differenzierung nach Altersgruppen. Diese ha-ben zum Großteil Jüngere. Wenn ich darauf hinweise,dass aus jedem zweiten befristeten Arbeitsvertrag einVollzeitarbeitsvertrag wurde, so spricht dies für sich.Ich bin auch der Überzeugung – damit komme ich zumSchluss –, dass die Herabsetzung der Altersgrenze von 60auf 58 Jahre an der Praxis kaum etwas ändern wird.
Da hätten Sie sich eigentlich schon etwas Besseres ein-fallen lassen müssen. Ich plädiere nachhaltig dafür, auf55 Jahre zu gehen.Kurzum: Wir lehnen den Gesetzentwurf sowohl hin-sichtlich der Teilzeit als auch hinsichtlich der Befristungab. Ich denke, dass mit unserem Entschließungsantrag einZeichen dafür gesetzt wird, dass wir etwas für Familientun, dass wir etwas für die Pflegebedürftigen tun und dasswir etwas für diejenigen tun, die Erwerbsminderung er-fahren haben. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie unseremEntschließungsantrag zu!
Das Wort hat nun die
Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz überTeilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge war in denletzten Tagen doch wieder sehr umstritten. Beispielsweiseist der Sachverständigenrat als Kronzeuge aufgerufenworden, um am Modernisierungskonzept der Bundesre-gierung Kratzer zu entdecken. Frau Baumeister, Sie habenes gerade zitiert. Der Sachverständigenrat setzt Sie mitdem Vorschlag, den Sie gemacht haben, aber auf die glei-che Schulbank, auf die er uns setzen will.
Er bescheinigt Ihnen, dass es als Folge Ihres Vorschlageszur Diskriminierung von Frauen käme. Sie sollten an derStelle ganz still sein und nicht den Sachverständigenrataufrufen, um für sich Reklame zu machen. Ich sage Ihnenauch aus unserer Perspektive: Sie brauchen sich nicht zugrämen. Der Sachverständigenrat war beispielsweise ur-sprünglich auch gegen die Ökosteuer und hat sie heute alsein Konzept der Modernisierung erkannt und sogar dazuaufgefordert, sie einzuführen.
Der Sachverständigenrat ist lernfähig – und ich hoffe,auch die Arbeitgeber.
Die Arbeitgeber haben, denke ich, diese Debatte mit ih-rer Kritik sehr überhöht. Wir haben das auch in der An-hörung erfahren. Da wurde beispielsweise vonseiten derBDA angedroht, diejenigen, die quasi teilzeitverdächtigsind, zukünftig nicht mehr einzustellen, zu diskriminie-ren. Das, meine Damen und Herren, erinnert eher an die20er-Jahre, in denen es schwarze Listen gab, damals al-lerdings nicht für so genannte Teilzeitverdächtige, son-dern für Gewerkschaftsmitglieder. Ich glaube, in der De-batte wird wirklich gnadenlos übertrieben.
Wir wissen alle, dass flexible Arbeitszeit, dass Zeit-souveränität und auch Teilzeit – sie gehört dazu –Merkmale einer modernen Arbeitsgesellschaft und nichtrückwärts gewandt sind. Der Sachverständigenrat bei-spielsweise bestätigt, dass sowohl Globalisierung als auchtechnischer Fortschritt dazu führen werden, dass die Teil-zeitarbeit zunehmend an Bedeutung gewinnt. Wenn wirdie Bundesrepublik Deutschland beispielsweise mitHolland vergleichen, sehen wir, dass wir wirklich sehrgroßen Nachholbedarf haben. Das ist ein Grund für dieRegelung, die wir vorschlagen.Ich möchte deswegen an einen Sachverständigen erin-nern, den wir bei der Anhörung im Ausschuss gehört ha-ben. Das war ein holländischer Vertreter. Er hat daraufaufmerksam gemacht, dass man sich in Holland fragt –
– in den Niederlanden, Herr Kollege, Sie haben Recht –,ob Unternehmer wirklich auf der Höhe der Zeit sind,wenn sie gesetzliche Regelungen zur Teilzeitarbeit ableh-nen, ob sie wirklich auf der Höhe der Zeit sind, wenn sienicht erkennen, welch ökonomischer Vorteil in der Teil-zeitarbeit liegt, auch in der zusätzlichen Motivation, diebei den Arbeitskräften durch sie ausgelöst wird.
Ich sage Ihnen: Moderne Arbeitgeber in der Bundesrepu-blik Deutschland haben das selbst erkannt und findenschon freiwillige Lösungen.Wer als Unternehmer in einer modernen Gesellschaft– zu Recht – Flexibilität von seinen Arbeitskräften fordert,muss selber flexibel genug sein, um Zeitsouveränität in
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Brigitte Baumeister12879
den Betrieben möglich zu machen. Wir haben am BeispielHolland gesehen, dass es möglich ist. Dort arbeiten immermehr Männer teilzeit. Die Beschäftigungseffekte sind po-sitiv.Eben ist schon darauf hingewiesen worden, dass wirÄnderungen – dieses Recht hat auch die CDU/CSU beiihrem Entwurf wahrgenommen – an unserem Gesetzent-wurf vorgenommen haben. Selbstverständlich ist das Di-rektionsrecht der Arbeitgeber bezüglich der Bestimmungder Arbeitszeit erhalten. Wir haben Klarstellungen undVereinfachungen vorgenommen. Dadurch ist das Gesetzhandhabbarer geworden.Das Gleiche gilt für den Teil des Entwurfs zu den be-fristeten Arbeitsverträgen. Wir sind – das zeigen die Er-fahrungen – in der Bundesrepublik Deutschland schonaus ökonomischen Gründen auf die Möglichkeit der Be-fristung von Arbeitsverhältnissen angewiesen, aberauch deshalb, weil befristete Arbeitsverhältnisse einenEinstieg für Arbeitslose in den Arbeitsmarkt sein können.In über 50 Prozent der Fälle wird ein befristetesArbeitsverhältnis in ein unbefristetes Arbeitsverhältnisumgewandelt. Das ist für die Arbeitslosen eine guteBrücke, um in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Deswegenerhalten wir die Möglichkeit der Befristung von Arbeits-verhältnissen. Wir haben allerdings dem Wildwuchs– Stichwort: Kettenverträge – einen Riegel vorgeschoben.Darüber hinaus haben wir mit unseren Änderungen Klar-stellungen vorgenommen und Regelungen zur Entbüro-kratisierung eingebracht. Wir haben insbesondere mit derRegelung der Schriftform für eine Klarstellung gesorgt,die eine Erleichterung für die Arbeitgeber ist.Abschließend möchte ich sagen: Wir dürfen es unsnicht zu einfach machen und behaupten, eine moderne Ar-beitsgesellschaft entstehe dann, wenn wir viel und mög-lichst überall deregulieren. Ich erinnere nur an den Be-reich der Frauenerwerbstätigkeit. In der Verfassung istschon seit langem die Gleichberechtigung der Frauen ver-ankert. Trotzdem mussten wir mit FrauenförderplänenDruck machen, weil Frauen ansonsten nicht in die ent-sprechenden Positionen gekommen wären.
Ähnliches gilt vermutlich auch bei der Teilzeitarbeit.Wir leben in einer Gesellschaft, in der nicht mehr dervollzeit erwerbstätige Mann dominiert. Dieses Bildgehört in die Mottenkiste. Wir wollen eine flexible Ar-beitsgesellschaft sein.
Für die F.D.P.-Frak-
tion hat das Wort der Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Mir stehen nur dreieinhalbMinuten Redezeit zur Verfügung, aber ich habe Stoff für30 Minuten. Deswegen möchte ich meine Ausführungenstichwortartig gestalten.Ich finde, Dauer und Uhrzeit dieser Debatte sind derBedeutung des Themas in keiner Weise angemessen, weildie hier zur Verabschiedung stehenden Gesetze einenwichtigen Einschnitt in die Praxis der Unternehmen un-seres Landes bedeuten.
Wir haben vorhin 45 Minuten über die Hauptstadtkultur-förderung debattiert. Jetzt hält es noch nicht einmal einVertreter der Bundesregierung für notwendig, das Wort zuergreifen. Die Regierung geht auf Tauchstation. Das findeich unerträglich.
Vielleicht scheuen Sie eine breitere Öffentlichkeit auchdeshalb, weil Ihr Gesetz eine neue Flut an bürokrati-schen Vorschriften für die Unternehmen mit sich bringt.Ich bräuchte mindestens zehn Minuten, um die 15 neuenVorschriften aufzuzählen, die regulierend wirken, vom § 7Abs. 1 bis hin zum § 20. Ich möchte die Unausgewo-genheit Ihres Gesetzentwurfes beispielhaft am § 8 Abs. 5,den Sie geändert haben, deutlich machen. Der Arbeitge-ber habe die Pflicht, seine Entscheidung über den Wunschdes Arbeitnehmers, die Wochenarbeitszeit zu verringern,diesem spätestens vier Wochen vor dem Beginn der Ver-ringerung schriftlich mitzuteilen. Eine Pflicht seitens desArbeitsgebers zur Mitteilung bestehe auch hinsichtlichder Verteilung der Wochenarbeitszeit.Der Arbeitnehmer hingegen kann jederzeit, ohne dieSchriftform einzuhalten, seinen Anspruch auf Teilzeitar-beit anmelden. Das heißt, wenn ich als Arbeitgeber dem-nächst durch meinen Betrieb gehe, muss ich immer meinNotizbuch für den Fall dabei haben, dass mir ein Arbeit-nehmer zuruft: Ab 1.April nächsten Jahres arbeite ich nurnoch 30 Stunden und mittwochs gar nicht. Ich muss danndaran denken, dass ich als Arbeitgeber dem Arbeitnehmerspätestens vier Wochen vor dem 1. April meine Entschei-dung über seinen Wunsch, die Arbeitszeit zu verringern,mitteile. Wenn ich das nicht tue, hat der Arbeitnehmer au-tomatisch einen Anspruch auf die von ihm gewünschteVerringerung der Arbeitszeit. Das halte ich für vollkom-men unangemessen.
– Ganz genau!Sie gehen weit über das hinaus, was die EU geforderthat; denn die EU hat vorgeschlagen, die Teilzeitarbeit auffreiwilliger Basis zu fördern. Sie haben einen vollkom-men anderen Weg eingeschlagen. Deshalb bekommen Sievon vielen Verbänden Gegenwind, wenn ich etwa an dieStellungnahme des Bundesverbandes Druck denke, in derfestgestellt wird: Wenn die jetzige Regelung tatsächlichumgesetzt wird, würden die Folgen eines geltend ge-machten Teilzeitanspruchs in 80 Prozent der Betriebe al-lein durch Mehrarbeit der Mitarbeiter aufgefangen wer-den, da eine Einstellung zusätzlicher Fachkräfte nichtrealisierbar ist. Es gibt Branchen, in denen der Arbeits-kräftemarkt einfach leergefegt ist. Das muss man aucheinmal ganz deutlich sagen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Dr. Thea Dückert12880
Wenn Sie nicht auf den „Spiegel“ und nicht auf die Ar-beitgeberverbände hören wollen, dann frage ich Sie:Warum hören Sie nicht wenigstens auf den Sachverstän-digenrat? Dieser hat Ihnen, das muss man hier sehr deut-lich sagen, eine Ohrfeige erteilt, indem er Ihnen Folgen-des sehr deutlich ins Stammbuch geschrieben hat – ichmuss das hier zitieren; er hat von der desolaten Lage aufdem Arbeitsmarkt gesprochen –:Der von der Bundesregierung geplante gesetzlicheAnspruch auf Teilzeitarbeit sowie auf Rückkehr aufeinen Vollzeitarbeitsplatz ist bedenklich – nicht nur,dass der Arbeitsvertrag mit einem zusätzlichen Ri-siko behaftet wird; die Möglichkeit, Wünsche aus be-trieblichen Gründen abzulehnen, wird zu arbeitsge-richtlichen Auseinandersetzungen führen.Ihr Gesetz ist also ein Arbeitsbeschaffungsprogramm fürAnwälte und nichts anderes.
Diese Ohrfeige des Sachverständigenrates spricht fürsich. Zum Schluss meiner Rede – mehr Zeit habe ich lei-der nicht – möchte ich aus einem Brief meiner ortsansäs-sigen Volksbank zitieren, die geschrieben hat, dass sieTeilzeitarbeit bisher freiwillig gefördert haben, dass einAnteil von 23 Prozent an ihrem gesamten Mitarbeiterbe-stand auf Teilzeitbeschäftigte entfällt und dass sie damitweit über dem Durchschnitt liegen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Dies alles
haben wir bisher freiwillig getan und stehen deswegen Ih-
rer Absicht, eine so genannte Teilzeitgarantie einzu-
führen, ablehnend gegenüber. Denn sie nimmt uns auch in
diesem Bereich unsere unternehmerische Freiheit.“ Das
ist das ganze Problem Ihres Ansatzes.
Sie haben immer noch nicht kapiert, dass man Arbeits-
plätze nicht mit Gesetzen schaffen kann, sondern dass
letztendlich nur Unternehmen – besser: Unternehmer –
Arbeitsplätze schaffen,
und zwar dann, wenn man ihnen die Freiheit dazu lässt
und wenn es sich für sie lohnt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner dieser
Debatte ist der Kollege Dr. Klaus Grehn für die PDS-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeitist ein richtiger Ansatz. Er wird von den Gewerkschaftengefordert und von der PDS seit langem unterstützt. Soweit, so gut. Dem können wir folgen. Das Gleiche gilt fürdas Verbot der Diskriminierung von Teilzeitarbeit undbefristeten Arbeitsverhältnissen. Wenn Sie diese Festle-gung allerdings anschließend gleich wieder aushöhlen, in-dem Sie beispielsweise die Formulierung verwenden,dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlungrechtfertigen, dann ist das wenig wirksam.
Denn Sie sagen nicht, welche sachlichen Gründe die Un-gleichbehandlung rechtfertigen und wer den Inhalt diesersachlichen Gründe bestimmt. Sie haben ihn nicht be-stimmt.Deshalb kritisieren wir an diesem Gesetzentwurf, dassSie dem Recht auf Teilzeitarbeit kein Recht auf Rück-kehr zur Vollzeitarbeit gegenüberstellen. Stattdessenenthält der Gesetzentwurf die bevorzugte Berücksichti-gung des Wunsches. Von einem klaren Rechtsansatz istdas weit entfernt. Das ist Gummi, das ist Vertrösten aufden Sankt-Nimmerleins-Tag.
Ich sage das angesichts der Tatsache, dass viele Frauen– beispielsweise in besonderen Familiensituationen –Teilzeitarbeit in Anspruch nehmen müssen und wollen.Sie müssen zurückkehren können. Das muss ihnen ge-währt werden und darf nicht dem Zufall überlassen wer-den.
Eine solche Regelung erschwert die Realisierung desWunsches auf Teilzeitarbeit. Das wird dazu führen, dasssich Ihre großen Erwartungen nicht erfüllen werden.Statt in § 7 entsprechend den Forderungen der Ge-werkschaften Verbesserungen vorzunehmen, wird dieRegelung verwässert. Statt aus „betrieblichen Gründen“für die Nichtausschreibung freier Arbeitsplätze als Teil-zeitarbeitplätze „dringliche Gründe“ zu machen, for-mulieren Sie: wenn sich der Arbeitsplatz dafür eignet.Wann eignet er sich denn? Wer bestimmt, wann er sicheignet?Aus dem Mitwirkungsrecht der Betriebsräte wird dieInformation der Betriebsräte. Das gilt auch für die befris-teten Arbeitsverhältnisse. Das höhlt die Stellung der Be-triebsräte und die Arbeitnehmerschutzrechte in den Un-ternehmen aus. Ich frage Sie: Ist das ein Vorgriff auf dieNovelle des Betriebsverfassungsgesetzes, die Sie ja an-streben?Lassen Sie mich wenige Bemerkungen zu den befris-teten Arbeitsverhältnissen machen. Beide Regelungenermöglichen den Tarifpartnern, mittels Tarifvertragschlechtere Regelungen auszuhandeln, als das Gesetzvorsieht. Auch das ist eine unmögliche Abweichung, diewir nicht mittragen können. Wir kritisieren, dass mit demGesetz und den darin angeführten sachlichen GründenKettenarbeitsverträge nicht vermieden werden; sie wer-den dadurch erst ermöglicht und sogar provoziert.Wir stimmen diesen Verschlechterungen nicht zu. Sieverbreiten mit den befristeten Arbeitsverhältnissen nicht
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Dr. Heinrich L. Kolb12881
weniger, sondern mehr Rauch. Sie werden damit keineAkzeptanz bei den Gewerkschaften finden. Sie wissengenau so gut wie wir, dass schon lange gefordert wurde,das Beschäftigungsförderungsgesetz ganz wegzulassen.Lösen Sie den Entwurf auf, stampfen Sie ihn ein, fangenSie noch einmal von vorn an und bringen Sie etwas Ver-nünftiges auf die Reihe!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über Teilzeit-
arbeit und befristete Arbeitsverträge und zur Änderung
und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, Druck-
sache 14/4374. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialord-
nung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 14/4625 die Annahme des
Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung. Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU-,
F.D.P.- und PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und
PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf der Fraktion der CDU/CSU zum Fortbestand be-
fristeter Arbeitsverhältnisse auf Drucksache 14/3292. Der
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf
Drucksache 14/4625 unter Buchstabe b, den Gesetzent-
wurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir stimmen ab über den Gesetzentwurf der Fraktion
der F.D.P. zur Intensivierung der Beschäftigungsförde-
rung auf Drucksache 14/4103. Der Ausschuss für Arbeit
und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/4625
unter Buchstabe c, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion abgelehnt.
Damit entfällt auch hier nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4526 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich bekomme gerade den Hinweis, dass der Kollege
Ernst Hinsken eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31
der Geschäftsordnung abgibt. Diese wird zu Protokoll ge-
geben.1)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Bemühungen um Abrüstung, Rüstungskontrolle
und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung
der Streitkräftepotenziale
– Drucksache 14/3233 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
SPD-Fraktion ist die Kollegin Petra Ernstberger.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Abrüstung hat in unsererGesellschaft – das muss man leider so sehen – heute nichtmehr den Stellenwert, der ihr von ihrer Tragweite her ei-gentlich zukommen müsste.
Da die Bedrohung in Europa, insbesondere natürlich inMitteleuropa, nach dem Fall des Eisernen Vorhanges nichtmehr existent ist, sehen viele unserer Mitbürgerinnen undMitbürger auch keine unmittelbaren Gefahren für sichselbst mehr. Dies ist natürlich durchaus erfreulich und ichbeabsichtige nicht, diesen Umstand schlechtzureden. Esist trotzdem wichtig, das weite Feld der Abrüstung in dasGedächtnis und in das Bewusstsein der Menschen zu ru-fen; denn Bedrohung kann überall und immer entstehen.
Der Abrüstungsbericht der Bundesregierung ist meinerMeinung nach ein Beitrag, um dieses Bewusstsein zuschärfen.
Der Abrüstungsbericht der Bundesregierung für dasJahr 1999 ist – wie die Berichte in den vergangenen Jah-ren – informativ, thematisch breit angelegt und stellt einegute Grundlage für die Arbeit im Unterausschuss Abrüs-tung dar. Wie in den letzten Jahren ist der zeitliche Ab-stand zwischen der Abfassung des Berichtes und der par-lamentarischen Behandlung viel zu groß.
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Dr. Klaus Grehn12882
1) Anlage 2Er ist leider zu groß, um genau die zeitnahe Arbeit des Un-terausschusses für Abrüstung wirklich zu gewährleisten.Der im April dieses Jahres zugeleitete Bericht stellt dieEntwicklung von Abrüstung, Rüstungskontrolle undNichtverbreitung des Jahres 1999 dar. Er bezieht sich alsoüberwiegend auf Ereignisse, die ein Jahr und längerzurückliegen.Der zu große Abstand zwischen der Veröffentlichungund der Debatte ist in diesem Jahr besonders spürbar ge-worden, weil in der Zwischenzeit ganz wichtige Verände-rungen in zentralen Fragen der Abrüstung stattgefundenhaben, darunter die Ratifizierung von START II durchdas russische Parlament, die Verschiebung der amerikani-schen Entscheidung zum Bau einer nationalen Raketen-abwehr und das amerikanisch-russische Abkommen überdie Umwandlung eines Teiles ihres Waffenplutoniums inMOX-Brennelemente. Auch die Rolle, die dabei dasHanauer Werk zur Herstellung von Brennelementen spie-len könnte, musste in dem Bericht unberücksichtigt blei-ben. Es wäre deswegen wirklich wünschenswert, wennwir uns darauf verständigen könnten, die künftigenAbrüstungsberichte irgendwann im Mai oder Juni einesjeden Jahres zu beraten.Nun zur Thematik des Berichtes selbst. Es hat, wie ichschon erwähnt habe, im Bereich der Abrüstung im Be-richtszeitraum einige positive Entwicklungen gegeben.START II wurde durch das russische Parlament, dieDuma, ratifiziert. Das ist ein wesentlicher Fortschritt;denn damit ist der Weg frei, bis zum Jahre 2007 den Be-stand strategischer atomarer Gefechtsköpfe von jeweils6 000 – das ist das bislang geltende START-I-Limit – aufmaximal jeweils 3 500 Gefechtsköpfe zu verringern.Gleichzeitig – das ist ein wichtiger Schritt – wurde durchdie Ratifizierung die Tür für Verhandlungen überSTART III geöffnet. Dieser Vertrag hat das Ziel, die An-zahl der Gefechtsköpfe noch einmal zu senken, und zwarauf 2 000 bis 2 500. Im Zusammenhang mit der NMD-De-batte haben die USAeine noch weitgehendere Absenkungin Aussicht gestellt.Positives hat auch im Bereich der Abrüstung konven-tioneller Waffen stattgefunden. Der alte KSE-Vertragvom November 1990, der noch von zwei einander ge-genüberstehenden Militärblöcken ausging, wurde an dieheutigen außenpolitischen Gegebenheiten in Europa an-gepasst und durch einen entsprechenden Änderungsver-trag ersetzt. Die Unterzeichnung dieses Änderungsvertra-ges fand am Rande des OSZE-Gipfels in Istanbul am19. November 1999 statt. Allerdings wurde dieser Ände-rungsvertrag nie ratifiziert. Er ist damit eigentlich über-haupt nicht in Kraft, weswegen noch immer der alte Ver-trag gilt.Der Grund dafür liegt im Tschetschenien-Krieg Russ-lands. Tschetschenien gehört nämlich zu der so genanntenFlankenregion, für die es im alten wie im neuen Vertragbesondere Obergrenzen für schwere konventionelle Waf-fen gibt.Russland hat diese Grenzwerte vor allem in der Kate-gorie „gepanzerte Kampffahrzeuge“ erheblich überschrit-ten. Sollte dies so bleiben, wäre der KSE-Vertrag insge-samt und damit ein Grundpfeiler der Sicherheit in Europagefährdet. Die Bundesregierung ist deswegen aufgefor-dert, gegenüber Russland weiterhin darauf zu bestehen,seine Abrüstungsverpflichtungen wirklich einzuhalten.
Die Entsorgung von waffentauglichem Uran undPlutonium, das durch die Abrüstung atomarer Gefechts-köpfe frei geworden ist, ist Gegenstand intensiver Ver-handlungen insbesondere zwischen den USA und Russ-land geworden. Auch das ist ein positiver Schritt, den wirunterstützen sollten. Wäre die Beantwortung dieser Frageweiter hinausgezögert worden, wäre die atomare Abrüs-tung zu einem immer größeren Risiko geworden, weilnämlich immer mehr Spaltmaterial aus den abgerüstetenAtomwaffen hinzugekommen wäre, für die es bislangkeine langfristig sicheren Lagerungsmöglichkeiten gibt.Bei den jetzt intensivierten Verhandlungen über einesichere Entsorgung ging es aber auch darum, das Uranund Plutonium so zu verändern, dass es für einen erneu-ten Einsatz in Waffen unbrauchbar wird.
Unbrauchbar bedeutet, liebe Kolleginnen und Kollegen,wiederum eine entscheidende Gefahrenverminderung.Aus rüstungskontrollpolitischen Gründen sind Entsor-gungspläne grundsätzlich zu begrüßen, und zwar unab-hängig davon, welche der vorgeschlagenen technischenLösungen wir vorziehen würden.Negative und stagnierende Entwicklungen in der Rüs-tungskontrolle hat es natürlich auch gegeben. Sie warenund sie sind weiterhin Gegenstand von Diskussionen imPlenum, im Auswärtigen Ausschuss und im Unteraus-schuss Abrüstung, die sich vor allen Dingen auf die indi-schen und pakistanischen Atomwaffentests, auf dasScheitern der Ratifizierung des Vertrages über einen um-fassenden Teststopp von Atomwaffen in den USAund aufdie Blockade der Genfer Abrüstungskonferenz bezogen.Ich möchte hier noch eine andere Sorge thematisieren.Es geht um das sinkende Vertrauen in völkerrechtlicheVereinbarungen, wodurch die Rüstungskontrolle und dasAbrüstungsregime mitten ins Herz getroffen werden. DieFrage, was wir tun, wenn internationale Rüstungskon-trollabsprachen gebrochen werden, hat doch in denzurückliegenden Monaten die Diskussion mehr bestimmt,als es der Abrüstung gut tat. Sie hat nämlich gerade denVerfechtern unilateraler Aufrüstung und unilateraler Si-cherheitsvorsorge Auftrieb gegeben. Die frühere Weige-rung Nordkoreas, sich an die Regeln des Nicht-verbreitungsvertrages zu halten, hat diesen Trend ebensobeschleunigt wie das Verhalten Iraks und der Nachfolge-staaten des früheren Jugoslawiens.Auf dem Balkan wurden die zahlreichen Vereinbarun-gen zu Waffenstillständen immer wieder verletzt. Dies hatzu der Wahrnehmung geführt, dass das Instrument vonrechtlich bindenden Vereinbarungen über Sicherheitsfra-gen unwirksamer geworden ist. Die immer schonMiss-trauischen haben dadurch Bestätigung erfahren undihre Forderung nach mehr Flexibilität für militärische
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Petra Ernstberger12883
Sicherheitsvorsorge leichter legitimieren können. Nur istes ein Irrglaube, anzunehmen, damit Friedenssicherungbetreiben zu können.Abrüstung und Rüstungskontrolle bedeuten immerauch Einschränkung militärischer Reaktionsmöglich-keiten.
Wir Abrüster sind davon überzeugt, dass diese Einschrän-kungen – wenn sie überprüfbar eingehalten werden – zumehr Stabilität im zwischenstaatlichen Verhalten führen.Die amerikanischen Bemühungen um ein Raketenab-wehrsystem, das notfalls auch unter Bruch des ABM-Ver-trages realisiert werden soll, lösten schon deswegen soviel Besorgnis aus, weil sie als Schlag gegen die Grund-philosophie der Rüstungskontrolle und der auf sie ge-stützten Sicherheit wahrgenommen wurden.
Sicherheit als Ergebnis von völkerrechtlich verbindlichenVereinbarungen, also auch als ein Ergebnis von Zusam-menarbeit und Dialog, dieses seit den 60er-Jahren, alsoschon seit 40 Jahren erfolgreich praktizierte Konzept stehtim Widerspruch zu der Überzeugung, alle verfügbarenVerteidigungsoptionen ohne Mitsprache anderer Staatenzu realisieren.
In diesem Zusammenhang ist auch der „Vertrag überden Offenen Himmel“, „Open Skies“, zu sehen, der einevertrauensbildende Maßnahme ersten Ranges ist. Wirwünschen uns, dass die aus technischen und politischenGründen erfolgte Aussetzung der NMD-Entscheidungdazu genutzt wird, für die Eindämmung von Proliferati-onsrisiken und neuen nuklearen Gefahren kooperativeLösungen zu finden.Im Verhältnis zu Korea ist bereits ein Anfang gemacht.Ähnliches sollte auch gegenüber dem Iran versucht wer-den. Beim Irak haben die andauernden Bombardierungendie rüstungskontrollpolitischen Möglichkeiten zwar zur-zeit auf Null gefahren. Es sollte aber versucht werden,hier wieder sowohl im nuklearen als auch im chemischenBereich sowie bei der Begrenzung der weitreichendenRaketen wieder anzusetzen.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich denke, esbleibt in der vor uns liegenden Zeit viel zu tun: Chinamuss stärker in die Abrüstung strategischer und substrate-gischer Waffen einbezogen werden. Russland muss imkonventionellen Bereich die Voraussetzungen für das In-Kraft-Treten des angepassten KSE-Vertrages schaffen.Auch die Kleinwaffenproblematik – das möchte ich nocherwähnen – muss mit Nachdruck behandelt werden.All diese Punkte hat der Abrüstungsbericht der Bun-desregierung angesprochen. Meine Fraktion nimmt die-sen Bericht wohlwollend zur Kenntnis.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Hans-Dirk Bierling.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Frau Ernstberger, Ihren aus-führlichen Eingangsbemerkungen zum Zeitplan dieserDebatte stimme ich voll und ganz zu. Dabei sind wir ja indiesem Jahr schon etwas besser dran; denn wir müssenüber den Abrüstungsbericht nicht erst nach Mitternachtdebattieren. Allerdings fürchte ich, dass Sie in Ihrer Frak-tion ein bisschen Ärger bekommen könnten. Sie hättenwahrscheinlich sagen müssen: wir Abrüster und Abrüste-rinnen.
Aber Scherz beiseite!Meine Damen und Herren, das Jahr 1999 bietet inter-national in Fragen der Abrüstung, Rüstungskontrolle undNichtverbreitung ein wirklich ambivalentes Bild. Wäh-rend es gelungen ist, nach mehrjährigen Verhandlungenden KSE-Änderungsvertrag auf dem Gipfeltreffen derOSZE im November zu verabschieden, kam es in anderenBereichen der Abrüstung und der Nonproliferation zurStagnation. So arbeitete im vergangenen Jahr das kom-munistische Regime in Nordkorea weiter an der Entwick-lung einer militärischen Rakete mit großer Reichweite.Ebenso war eine Einstellung der indischen undpakistanischen Nuklearwaffenprogramme nicht zu regis-trieren, auch wenn sich die weltweit verurteilten Atom-tests des Jahres 1998 nicht wiederholt haben. Zudem ist esnicht gelungen, den bei der Genfer Abrüstungskonferenzbestehenden Stillstand zu überwinden und endlich ein Ar-beitsprogramm zu verabschieden.Einer der schwierigsten Momente für die internatio-nale nukleare Abrüstungsdiskussion war wohl die Nicht-ratifikation des Atomteststoppvertrages durch den US-Senat im September 1999, was einen relativen Stillstandin dieser Frage nach sich zog. Dieser Zustand ist bis jetztnicht überwunden, nicht zuletzt durch den Wahlkampf inden Vereinigten Staaten. Wie und wann der künftige Prä-sident der USA sich dieses Themas wieder annehmenwird, kann man heute nicht abschätzen.
Die Debatte über das nationale Raketenabwehrsys-tem der Vereinigten Staaten hemmte die abrüstungspoli-tische Diskussion zusätzlich, da insbesondere die russi-sche Seite darin einen Verstoß gegen den ABM-Vertragvon 1972 sah.Der ABM-Vertrag, der die Anzahl von Raketenab-wehrsystemen zwischen Russland und den USAbegrenzt,ist einer der Eckpfeiler der internationalen strategischenStabilität. Deshalb war es notwendig, sich vor der Kon-kretisierung US-amerikanischer Pläne für ein nationalesRaketenabwehrsystem mit Russland zu verständigen. Dasist zum Teil geschehen. Wäre dies nicht geschehen, wäredie in diesem Frühjahr erfolgte Ratifizierung vonSTART II durch die russische Duma gefährdet und damitdie weitere Reduzierung der strategischen nuklearenWaffensysteme Russlands und der USAblockiert worden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Petra Ernstberger12884
Die Bundesregierung hat allerdings, wie ich meine, indiesem Zusammenhang bisher versäumt, sich mit den eu-ropäischen NATO-Partnern auf der Grundlage einer um-fassenden Bedrohungsanalyse um gemeinsame europä-ische Positionen zu diesem Komplex zu bemühen. DasEntstehen verschiedener Sicherheitszonen innerhalb desatlantischen Bündnisses muss natürlich unbedingt verhin-dert werden. Russland muss in diesem Zusammenhangallerdings auch von uns verdeutlicht werden, dass sich diePläne einer Raketenabwehr nicht gegen russische Rake-ten wenden, sondern dass sie mit der globalen Sicherheitverbunden sind.Wie sensibel das Verhältnis zu Russland ist, bewies derKosovo-Konflikt im vorigen Jahr sehr deutlich. Nachdem Scheitern der Verhandlungen zwischen Kosovo-Albanern und der Bundesrepublik Jugoslawien in Ram-bouillet im März 1999 und der drohenden völligen Ver-treibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovowar eine wirklich komplizierte Situation entstanden. Dieinternationale Gemeinschaft sah keine andere Möglich-keit als gezielte Luftangriffe der NATO gegen Serbien,um noch größeres menschliches Elend zu verhindern.Russland zeigte sich mit dem Vorgehen der NATO allesandere als einverstanden und brach daraufhin die Zusam-menarbeit auf der Grundlage der NATO-Russland-Grund-akte ab.Wie wir alle wissen, lenkte das Milosevic-Regimenach wenigen Wochen ein. Auf der Basis der Resolution1244 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen kam eszum Einsatz der Friedenstruppe KFOR unter Führung derNATO, der letztlich trotz schwieriger Umstände doch eineEinbindung russischer Streitkräfte bei der Befriedung derRegion gelang. Die Bundesrepublik unterstützte dieseFriedenstruppe mit 6 000 Bundeswehrsoldaten, die zumSchutz der ethnischen Gruppierungen und zur Durch-setzung der Waffenruhe eingesetzt wurden.Damit sind wir wieder beim Thema der Abrüstung;denn eine Reduzierung des Besitzes von Kleinwaffen in-nerhalb der Zivilbevölkerung des Kosovo ist im Vergleichzu den anderen erreichten Zielen nur unzureichend gelun-gen und wird KFOR auch in Zukunft beschäftigen müs-sen, da das bestehende Kleinwaffenpotenzial schnell zueiner dauerhaften Destabilisierung der Region führenkann. Beispiele hierfür gibt es viele. Denken wir nur anTschetschenien oder Angola!Die Regierung Kohl hat das Augenmerk der inter-nationalen Staatengemeinschaft sehr frühzeitig auf dasProblem der so genannten „small arms“ gelenkt. Deutsch-land brachte verschiedene Anträge mit Kleinwaffenbezugin die Generalversammlung der Vereinten Nationen ein,die letztendlich dazu beitrugen, dass die Vereinten Natio-nen im Jahr 1999, also im Berichtszeitraum, eine interna-tionale Staatenkonferenz zu diesem Thema für 2001 ein-beriefen.Die amtierende Bundesregierung hat die deutschen Ini-tiativen in dieser Richtung im Berichtszeitraum konse-quent fortgesetzt; das ist erfreulich. So gelang es währendder deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die Ziele undPrinzipien der bereits Ende 1998 auf deutsche Initiativehin entstandenen gemeinsamen Aktion der EU auf dieEntwicklungszusammenarbeit zu übertragen. Das stellteine entscheidende Voraussetzung für praktische Schrittezur Reduzierung von Kleinwaffenpotenzialen und derenKontrolle in den Entwicklungsländern dar.Eingang fanden die Parameter der gemeinsamen Ak-tion letztlich auch in die Arbeit des OSZE-Forums für Si-cherheitskooperation, das OSZE-weite Maßnahmen ge-gen eine unkontrollierte Anhäufung bzw. unkontrollierteVerbreitung von Kleinwaffen erarbeitet.Auch in Zukunft sollte die Bundesregierung den ein-geschlagenen Weg fortsetzen und sich weiter für eine Re-duzierung der weltweiten Kleinwaffenarsenale engagie-ren. Dazu gehört natürlich auch eine intensive deutscheVorbereitung auf die internationale Staatenkonferenz zumillegalen Handel mit Kleinwaffen im nächsten Jahr.Ein wichtiger Erfolg deutscher Außen- und Sicher-heitspolitik ist die bereits von Frau Ernstberger erwähnteUnterzeichnung der Anpassung des KSE-Vertrages aufdem OSZE-Gipfel im November vorigen Jahres inIstanbul. Hierbei hat die Bundesregierung gut daran ge-tan, den von der Regierung Kohl bereits 1996 aufgenom-menen Verhandlungsprozess fortzuführen und so überDiskussion und Beratung innerhalb der Allianz und spä-ter der Gemeinsamen Beratungsgruppe der Vertragsstaa-ten in Wien zu Ergebnissen zu gelangen. An dieser Stellekönnten Sie, meine Damen und Herren von der Koalition,ruhig einmal klatschen, da ich mich doch so schinde, dieRegierung zu loben.
Die Modifizierung des KSE-Vertrages erhöht die Sta-bilität auf dem Gebiet der konventionellen Streitkräfte inEuropa. An die Stelle zu verhindernder Überraschungs-angriffe durch massive Streitkräftekonzentrationen istnun die Verhinderung destabilisierender Streitkräftekon-zentrationen getreten. Ein enges Regelwerk legt nationaleObergrenzen für einzelne Waffensysteme fest – FrauErnstberger hat bereits darüber gesprochen – und machtden Vertrag verifizierbar.Aber – auch dies hat Frau Ernstberger schon angespro-chen –: Deutschland und andere Staaten haben den KSE-Anpassungsvertrag trotz Zustimmung zum Vertragstextbisher nicht ratifiziert, weil Russland derzeit noch dieVereinbarungen des Flankenabkommens durch denTschetschenien-Einsatz verletzt. Bei einem derart konsti-tutionellen Vertragswerk ist es jedoch notwendig, dasswichtige Vertragspartner wie Russland von Beginn anvertragskonform handeln. Eine Ratifizierung des Vertra-ges durch die Bundesrepublik zum jetzigen Zeitpunktwürde einer Sanktionierung des russischen Handelnsentsprechen und würde dem Vertragswerk nicht die ihmentsprechende Wertigkeit bzw. Bedeutung zuerkennen.Die Bundesregierung ist deshalb aufgefordert, sich bei an-stehenden Gesprächen mit Vertretern der russischen Seitenachdrücklich dafür einzusetzen, die Kriterien des Ab-kommens einzuhalten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Hans-Dirk Bierling12885
Nur danach ist für die Bundesrepublik Deutschland eineRatifizierung des KSE-Anpassungsvertrages möglich,ohne unsere gemeinsamen außenpolitischen Grundsätzezu verletzen.Welche Erfolge kontinuierliches Arbeiten erzielenkann, beweist das am 1. März 1999 in Kraft getreteneOttawa-Übereinkommen zu Antipersonenminen, dasDeutschland bereits im Juli 1998 ratifiziert hatte. Es siehtein umfassendes Verbot von Herstellung, Einsatz, Trans-fer und Lagerung aller Arten von Antipersonenminen vorund regelt die Zerstörung vorhandener Bestände. Außer-dem sieht es ein überprüfbares Verifikationsregime vor.Ein erstes Treffen der Vertragsstaaten von Ottawa fandim Mai 1999 in Maputo statt. Einige bisherige Nicht-zeichnerstaaten erklärten auf diesem Treffen ihregrundsätzliche Bereitschaft zum Beitritt, zum Beispiel dieTürkei. Auf diesem Treffen wurden Modalitäten des In-formationsaustausches festgelegt, die das auf deutschenVorschlägen basierende Verifikationsregime operationellmachen. Die politische Abschlusserklärung enthielt ne-ben der Aufforderung zum Beitritt an die bisherigenNichtzeichnerstaaten die Bestätigung, dass Zusam-menarbeit bei Minenräumung und Unterstützung bei derOpferfürsorge vor allem den Staaten zugute kommen soll,die einen Einsatz von Antipersonenminen für immer aus-geschlossen haben. Deutschland ist eines der Länder, dassich dabei aktiv engagiert.Kontinuität auf dem Politikfeld von Abrüstung undSicherheit – ich erwähnte es schon einmal – ist wichtig. Indieser Frage stimmen im Grunde alle Fraktionen des Hau-ses überein.
Das heißt, die Bundesregierung kann, wenn sie auf die-sem Gebiet die Bemühungen ihrer Vorgängerin konse-quent fortsetzt, was bislang in wesentlichen Punkten derFall ist, mit der Unterstützung des ganzen Hauses und so-mit auch der CDU/CSU-Fraktion in Fragen der Abrüstungund Rüstungskontrolle sowie der Nonproliferation rech-nen.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nun spricht der
Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer.
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die wichtigste Botschaft des Jahresabrüstungsberichts1999 lautet: Neue Herausforderungen und Gefahren beider Proliferation von Massenvernichtungswaffen und ih-rer Trägermittel wie auch bei konventionellen Waffen ver-langen noch stärker nach politischen und vertraglichenMitteln der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Deshalbhaben wir – nun störe ich den Konsens – die Auflösungder Abrüstungsabteilung im Auswärtigen Amt, die durchdie Vorgängerregierung eingeleitet worden war, Ende1998 in letzter Minute verhindert.
Jetzt kommt wieder Konsens.
Nachdem die Fortschritte und Rückschritte insgesamtdargestellt worden sind, möchte ich auf einige Punkte ein-gehen, in denen die amtierende Bundesregierung beson-ders initiativ geworden ist.1999 konnten in vielen Bereichen wichtige Fortschritteerzielt werden. Es ist ein bedeutender Erfolg der Außen-und Sicherheitspolitik der Bundesregierung – daraufwurde eingegangen –, dass der KSE-Vertrag beimOSZE-Gipfel in Istanbul im November 1999 nach deut-schen Vorschlägen an die veränderte Sicherheitslage unddie sicherheitspolitischen Bedingungen in Europa ange-passt wurde. Ich denke, hier sollten wir uns bei den Be-amten des Auswärtigen Amtes bedanken, die sehr vielKreativität investiert haben und sich letztlich auch durch-gesetzt haben.
Die Stabilität im Bereich der konventionellen Streit-kräfte ist dadurch entscheidend vergrößert. Verschärfterüstungspolitische Beschränkungen und operative Flexi-bilitäten sind in eine angemessene Balance gebracht.Destabilisierende Streitkräftekonzentrationen werdenüberall im Vertragsgebiet verhindert. Verstärkungen zurKrisenprävention und -bewältigung bleiben möglich. Mitder Öffnung des KSE-Vertrages kann sich das Netzwerkeiner deutlich erhöhten konventionellen Stabilität erst-mals über ganz Europa bis zum Ural legen. Es kommtjetzt darauf an, dass alle Partner ihre Pflichten aus dem ur-sprünglichen Vertrag erfüllen, damit die allseitige Ratifi-kation des neuen KSE-Vertrags zügig erfolgen und derVertrag möglichst rasch umfassend implementiert werdenkann. Das gilt auch für Russland, dessen militärisches En-gagement in Tschetschenien gegen den KSE-Geist und-Text verstößt.
Ebenfalls auf dem OSZE-Gipfel beschlossen und am1. Januar 2000 bereits in Kraft getreten ist das WienerDokument 99, das das Wiener Dokument 94 über ver-trauensbildende Maßnahmen unter den damals 54 Mit-gliedstaaten an die neue Lage anpasst. Es enthält – das istein erheblicher Fortschritt – erstmals einen konkreten Ka-talog regionaler vertrauens- und sicherheitsbildenderMaßnahmen.Die Bundesregierung hat sich in diesem Zusammen-hang intensiv für die Stabilisierung der Krisenregion aufdem Balkan nach dem Ende des Kosovo-Konflikts ein-gesetzt. Die Bemühungen um regionale Abrüstung undStabilität im Rahmen des Dayton-Abkommens werden in-tensiv weitergeführt. Im Rahmen des Stabilitätspakts wer-den zusätzliche Bemühungen zur Verbesserung der de-
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mokratischen Kontrolle der Streitkräfte, der militärischenKontakte und der Transparenz sowie vertrauens- und si-cherheitsbildende Maßnahmen zur Förderung einer fried-lichen Entwicklung in der Region auf den Weg gebracht.Mit der Wahl des demokratischen PräsidentenKostunica erhalten diese Bemühungen eine neue,optimistische Perspektive für die Rückkehr Jugoslawiensin die Völkergemeinschaft und die friedliche Entwicklungder gesamten Region.
Ich freue mich deshalb – dem gilt sicherlich auch Ihr Bei-fall –, dass Jugoslawien seit letzter Woche 55. Mitglieddes Wiener Dokuments geworden ist.
Die Bundesregierung ist besonders besorgt um die Ri-siken der Proliferation von Massenvernichtungswaffen,die 1999 deutlich hervortraten. Das Problem wird ver-schärft durch die rasche Entwicklung weit reichender mi-litärischer Trägertechnologie in mehreren Ländern, diedamit ein weit über ihre eigene Region hinaus reichendesBedrohungspotenzial erwerben können. Dieses Themawurde übrigens beim letzten Besuch in Nordkorea offen-siv angesprochen.Die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen wirdvon der Bundesregierung kritisch bewertet. Ihre Realisie-rung könnte erhebliche Konsequenzen für das gesamteGefüge von Abrüstung und Rüstungskontrolle haben. DiePerspektive weiterer Fortschritte der nuklearen Abrüstungund Rüstungskontrolle darf dadurch nicht verstellt wer-den.
Die Bundesregierung begrüßt deshalb ausdrücklich, dassPräsident Clinton weitere Entscheidungen über die Dislo-zierung vorläufig zurückgestellt hat.Die Bundesregierung hat sich intensiv gegen Massen-vernichtungswaffen eingesetzt. Bei der 6. Überprü-fungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag im Maidieses Jahres haben die Kernwaffenstaaten unzweideutigihre Verpflichtung zur vollständigen nuklearen Abrüstungbekräftigt. Die Vertragsstaaten haben sich auf praktischeSchritte zur Stärkung der nuklearen Nichtverbreitung undzur Fortsetzung der nuklearen Abrüstung verständigt.Forschungsreaktoren sollen auf deutsche Initiative hinvon hoch angereichertem auf niedrig angereichertes Uranumgestellt werden.
Bei der Abrüstung von C- und B-Waffen sind weitereFortschritte nötig: Der Chemiewaffenverbotsvertragmuss in allen Vertragsstaaten umfassend implementiertwerden. Der Vertrag über das Verbot der biologischenWaffen sollte in den Genfer Verhandlungen um einsubstanzielles Protokoll ergänzt werden, das ihn verifi-zierbar macht.Ich komme zum letzten Punkt. Die meisten Opfer sindin regionalen oder innerstaatlichen Konflikten auf denGebrauch kleiner und leichter Kriegswaffen, auf so ge-nannte „small arms“ zurückzuführen. Die Bundesregie-rung hat die Initiative ergriffen, die weltweit vagabundie-renden Handelsströme von „small arms“ einzudämmen.Wie mehrere Redner angesprochen haben, ist es unserZiel, bei der im kommenden Jahr stattfindenden UN-Kon-ferenz zu kleinen und leichten Kriegswaffen verlässlicheRegeln aufzustellen, die Waffenströme wirkungsvoll zukontrollieren und möglichst viele Waffen zu vernichten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Volmer,
kommen Sie bitte zum Schluss.
D
Frau Präsidentin, ich komme zum letzten Satz.
– Das zentrale Ziel all dieser Bemühungen ist eine um-
fassende Politik der Konfliktprävention, das heißt: die
Abwehr von Gefahren für die internationale Sicherheit
und Stabilität durch Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung, über die dieses Haus vor einer Woche
debattiert hat.
Sie wird im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger
auch zukünftig eines der tragenden Elemente der koope-
rativen Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutsch-
land bleiben.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Hildebrecht Braun.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vor-liegende Bericht ist wohl die beste Übersicht über den Be-reich der Abrüstungsbemühungen in deutscher Sprache.Er ist gut gegliedert, erstaunlich gut lesbar und daher einausgezeichnetes Hilfsmittel für all diejenigen, die ihr Au-genmerk auf Fragen des Friedens und der Sicherheit in derWelt richten. Dennoch möchte ich zwei kritische Anmer-kungen machen.Erstens. Der Bericht versucht, auch unerfreuliche Ten-denzen wohlwollend zu beschreiben, statt deutliche Kri-tik zu üben. So heißt es gleich im ersten Abschnitt:Gleichzeitig konkretisierten sich amerikanischePläne zum Aufbau eines nationalen Raketenab-wehrsystems, die erst noch in das vertragliche Re-gime der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitungintegriert werden müssen, wozu in einem erstenSchritt die Anpassung des ABM-Vertrages im Ein-
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Staatsminister Dr. Ludger Volmer12887
vernehmen mit Russland notwendig ist.Dieser Vorgang zeigt zu viel Rücksichtnahme auf unserengroßen amerikanischen Partner, lässt er doch jede Distanzzu der amerikanischen Planung vermissen. In einem deut-schen Abrüstungsbericht hätte ich mir eine deutlichereSprache gewünscht, mit der das ausgedrückt wordenwäre, was dieses Parlament und was die Bundesregierungzu dem nationalen Raketenabwehrsystem der USA zu sa-gen haben, nämlich, dass wir dieses System für schädlichhalten.
Zweitens. Der Bericht wäre noch besser, wenn nichtnur Zahlen über das Streitkräftepotenzial in Europa und inangrenzenden Regionen enthalten wären, sondern auchüber Asien, insbesondere über den Fernen Osten. UnsereSicherheit in Europa ist längst nicht mehr nur von der Si-tuation der Streitkräfte in nahe gelegenen Regionen ab-hängig. Es gibt viele Gründe, weswegen wir mit großemInteresse auf die Entwicklung in China, in Korea, aberauch in Süd- oder in Südostasien blicken. Große Entfer-nungen haben eine immer kleiner werdende Bedeutung.Dass China zum Beispiel seine Ausgaben für das Militär– ich zögere, von Verteidigungsausgaben zu sprechen –massiv erhöht, während nahezu die ganze Welt ihre Aus-gaben reduziert, kann nicht ohne Beachtung in einem Be-richt bleiben, der eine Übersicht über das gesamte Rüs-tungsgeschehen bieten soll.
Natürlich berichtet die Bundesregierung über die ein-zelnen Verträge, die zusammengenommen das internatio-nale Abrüstungsregime ausmachen. Nur in wenigen Be-reichen konnte von substanziellen Fortschritten berichtetwerden. In den meisten Teilgebieten tritt man auf derStelle, wie bei der ständigen Abrüstungskonferenz inGenf.Das Jahr 1999 war in der Geschichte der Abrüstung einbesonderes Jahr. Erstens. Das Übereinkommen über dasVerbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung undder Weitergabe von Antipersonenminen und über derenVernichtung, das Ottawa-Abkommen, ist in Kraft getre-ten. Das ist ein großer politischer Erfolg, der unsäglichesLeid für unendlich viele Einzelpersonen, insbesondere fürKinder, verhindern wird.Zweitens. Im September ist die Ratifikation des Atom-teststoppvertrages durch die Vereinigten Staaten ge-scheitert. Das ist ein herber Rückschlag für die internatio-nalen Abrüstungsbemühungen mit gefährlichen Signalenin Richtung der Staaten, die diesen Vertrag deshalb nichtratifiziert haben, weil sie eigene Atomwaffenarsenale auf-bauen wollen, wie zum Beispiel Indien und Pakistan.Soweit erkennbar, hat die deutsche Bundesregierungim Jahre 1999 keine Abrüstungsinitiative ergriffen, dieder Stärke unseres Landes entsprechend Wirkung gezeigthätte. Stattdessen hat Außenminister Fischer durch seineVersuche, die NATO auf einen Verzicht der Erstschlags-option festzulegen, international für Verwirrung und Irri-tation gesorgt.
In Sachen konkreter Abrüstungsschritte war die Bundes-republik Mitläufer und nicht Mitgestalter. Das ist bedau-erlich und das sollte sich ändern.
Deutschland wird in den vor uns liegenden Jahren vonTrägersystemen aus dem Iran, aber wohl auch aus demIrak, eventuell auch aus Libyen erreicht werden können.Allein dieser Punkt sollte die Bundesregierung dazuveranlassen, Schritte in Richtung eines internationalenVertrages zum Verzicht auf den Bau oder den Erwerb, je-denfalls der Stationierung von Trägerraketen mittlererund größerer Reichweite zu initiieren, die nicht unter in-ternationaler Kontrolle stehen und ausschließlich für zi-vile Zwecke eingesetzt werden können.Gelingt es nicht, meine Damen und Herren, das Pro-blem der in Entwicklung befindlichen Trägersysteme inden Griff zu bekommen, wird es kaum möglich sein, un-sere Sicherheit vor Angriffen aus anderen, auch kleinenStaaten zu gewährleisten. Ich glaube, hier wäre ein Feld,auf dem die Deutschen initiativ werden könnten und soll-ten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! 70 Seiten Bericht in drei Minutenzu behandeln ist unmöglich. Ich verzichte daher auf dasLob, das der Bericht durchaus verdient hat, aber es kam jaschon zum Ausdruck. So beschränke ich mich auf An-merkungen.Eine aktive Abrüstungspolitik der Bundesregierungkann nicht losgelöst von der Gesamtausrichtung deut-scher Außen- und Sicherheitspolitik diskutiert werden,die im Jahre 2000 aufrüstungs- statt abrüstungsorientiertist.
Dies beweisen das neue strategische Konzept der NATOund die Defence Capability Initiative mit 58 Einzelmaß-nahmen zur qualitativen Aufrüstung, die neue europä-ische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit ihrer60 000 Mann starken schnellen Eingreiftruppe ebenso wieder Umbau der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zurInterventionsarmee.
Im Bereich der nuklearen Abrüstung konnte sich zwarkürzlich die Resolution der New Agenda Coalition durch-setzen, doch sind wir weit entfernt von einem Verbot fürNuklearwaffen. Im Gegenteil, es sind eine weitere Proli-feration und ein erneutes Wettrüsten zu befürchten, wofürauch – das wurde schon gesagt – die US-amerikanischen
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Hildebrecht Braun
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Pläne für ein nationales Raketenabwehrsystem verant-wortlich sind.Zwar gibt es immer mehr kernwaffenfreie Zonen aufder Welt, doch für Europa ist dies weiterhin Utopie. Nichtverschwiegen werden dürfen hier die nuklearen Spreng-köpfe, die immer noch auch auf deutschem Boden statio-niert sind.Im Bereich der B- und C-Waffen haben zwar mittler-weile überaus viele Staaten die Verbotsabkommen unter-zeichnet, doch es gibt riesigen Handlungsbedarf sowohlbei der Entsorgung chemischer und biologischer Kampf-stoffe als auch bei der Überprüfung der Forschung undEntwicklung zwecks möglicher Abwehrmaßnahmen.Allein 40 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe in Russ-land sind ebenso eine tickende Zeitbombe wie die circa120 vor der Kola-Halbinsel vor sich hindümpelndenAtom-U-Boote. Zwar unterstützt die Bundesregierungden Aufbau einer Vernichtungsanlage chemischer Kampf-stoffe in Gorny, doch dies ist im Vergleich zum Bedarf einTropfen auf den heißen Stein.
So gut und wichtig das Ottawa-Abkommen ist, liebeKolleginnen und Kollegen, wir dürfen uns nicht auf dasVerbot von Antipersonenminen beschränken, sondernmüssen das Gleiche auch für die Antifahrzeugminenerreichen.
Riesigen Handlungsbedarf gibt es auch im Bereich derpräventiven Rüstungskontrolle. Die Gefahren, die vonden neuen Technologien ausgehen, sind dank engagierterWissenschaftler und auch dank des Berichtes des Bürosfür Technikfolgenabschätzungen bekannt. Doch sie müs-sen auch entsprechend ernst genommen werden. Vieles,was heute noch als Science-Fiction wahrgenommen wird,kann morgen durchaus tödlich enden. Es gibt keineHochtechnologie, die nicht militärisch gebraucht odermissbraucht werden kann, ob Kommunikations- oderComputertechnik, Elektronik, Sensorik, Mikro- und Na-notechnik oder Informationsverarbeitung. Der Cyberwarrückt in beängstigendem Maße näher, ebenso wie die Mi-litarisierung des Weltraums.Wir fordern die Bundesregierung auf, ein eigenes Amtfür Abrüstung, Konversion und präventive Rüstungskon-trolle einzurichten und hierfür Mittel in signifikanterHöhe in den Haushalt einzustellen.
10 Prozent der deutschen Rüstungsausgaben entsprechennach NATO-Kriterien rund 6 Milliarden DM. Entspre-chende Kürzungsvorschläge im Einzelplan 14 haben wirIhnen vorgelegt.Darüber hinaus erwarten wir von der Bundesregierung,dass sie alles tut, um auch auf die neue US-Regierung Ein-fluss zur Verhinderung des National-Missile-Defense-Programms zu nehmen und sich insbesondere von deneuropäischen regionalen Abwehrsystemen zu verabschie-den. Als Programm für Ihre künftige Abrüstungspolitikempfehlen wir Ihnen das heute veröffentlichte Memo-randum des Verbandes Deutscher Wissenschaftler, einPlädoyer für ein europäisches „Diplomatie zuerst“. Ich er-laube mir, Ihnen ein Exemplar zu überreichen, HerrStaatsminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/3233 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie den Zu-satzpunkt 5 auf:11. Beratung des Antrags der Abgeordneten RenateBlank, Dirk Fischer , Dr.-Ing. DietmarKansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUWettbewerbsfähigkeit der deutschen Binnen-schifffahrt erhalten und sichern– Drucksache 14/4387 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten HorstFriedrich , Hans-Michael Goldmann,Dr. Karlheinz Guttmacher weiterer Abgeordneterund der Fraktion der F.D.P.Wasserstraßen ausbauen und Nachteile derDeutschen Flagge im EU-weiten Wettbewerbder Binnenschifffahrt beseitigen– Drucksache 14/4602 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung war für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-nen und Kollegen Annette Faße, Renate Blank, HelmutWilhelm, Hans-Michael Goldmann sowie Dr. WinfriedWolf haben ihre Reden zu Protokoll gegeben1). – Ich sehekeinen Widerspruch im Saal.
Deshalb kommen wir gleich zu den Überweisungen. In-terfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf denDrucksachen 14/4387 und 14/4602 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
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Heidi Lippmann12889
1) Anlage 3Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Namensaktie und zur Erleichterung der
– Drucksache 14/4051 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/4618 –Berichterstattung:Abgeordnete Bernhard Brinkmann
Dr. Susanne TiemannVolker Beck
Rainer FunkeDr. Evelyn KenzlerEs liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion derF.D.P. vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-nen und Kollegen Bernhard Brinkmann, ProfessorDr. Susanne Tiemann, Margareta Wolf, Rainer Funke,Dr. Uwe-Jens Rössel sowie Professor Dr. Eckhart Pick ha-ben ihre Reden zu Protokoll gegeben1).–
Auch hierzu sehe ich keinen Widerspruch im Saal. Des-halb kommen wir sofort zu den Abstimmungen.Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Entwurf eines Namens-aktiengesetzes, Drucksachen 14/4051 und 14/4618. Dazuliegen zwei Änderungsanträge der F.D.P. vor, über die wirzunächst abstimmen.Wir kommen zum Änderungsantrag auf Drucksache14/4628. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantragist gegen die Stimmen von F.D.P. und CDU/CSU bei Ent-haltung der PDS-Fraktion abgelehnt.Ich rufe den Änderungsantrag auf Drucksache 14/4629auf. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantragist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion und bei Ent-haltung der CDU/CSU- und der PDS-Fraktion abgelehnt.Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stim-men der PDS-Fraktion angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in dritter Beratung und Schlussabstimmung ge-gen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Anpassung des deutschenRabattrechts an die EU-Richtlinie über den elek-tronischen Geschäftsverkehr
– Drucksache 14/4423 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
RechtsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurAnpassung des deutschen Zugaberechts an dieEU-Richtlinie über den elektronischen Ge-schäftsverkehr
– Drucksache 14/4424 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieNach einer interfraktionellen Vereinbarung war für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-nen und Kollegen Birgit Roth, Dirk Manzewski, HartmutSchauerte, Margareta Wolf, Gudrun Kopp, Rolf Kutzmutzsowie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. EckhartPick haben ihre Reden zu Protokoll gegeben2). – Auch hiersehe ich keinen Widerspruch im Saal.Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 14/4423 und 14/4424 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. – Ich sehe dazu im Hause Einverständnis. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Alfred Hartenbach, Erika Simm, JoachimStünker, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck
, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei-nes Fünften Gesetzes zur Änderung des Straf-vollzugsgesetzes– Drucksache 14/3763 –
– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Än-derung des Strafvollzugsgesetzes– Drucksache 14/4452 –
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss12890
1) Anlage 4 2) Anlage 5– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Norbert Geis, Ronald Pofalla, WolfgangBosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder CDU/CSU eingebrachten Entwurfs einesFünften Gesetzes zur Änderung des Strafvoll-zugsgesetzes
– Drucksache 14/4070 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/4622 –Berichterstattung:Abgeordnete Erika SimmJoachim StünkerWolfgang GötzerVolker Beck
Jörg van EssenDr. Evelyn KenzlerNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache; denn irgendeine müssenwir heute ja noch haben. Als erster Redner spricht KollegeJoachim Stünker von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es ist fast 22 Uhr und einHäuflein Aufrechter möchte sich noch mit dem FünftenGesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes beschäf-tigen. Diejenigen, die es eigentlich angeht, könnten dieDebatte – selbst wenn sie im Fernsehen noch übertragenwürde, nicht einmal mehr sehen, weil im Vollzug ab22 Uhr Nachtruhe herrscht.Worum geht es? Es geht letzten Endes um die ange-messene Entlohnung von Strafgefangenen für zugewie-sene Pflichtarbeit im Vollzug. Der Anlass ist, dass dasBundesverfassungsgericht mit Urteil vom 1. Juli 1998aufgrund von diversen Verfassungsbeschwerden in den90er-Jahren festgestellt hat, dass die geltende Regelungim Strafvollzugsgesetz mit den Grundnormen unseresGrundgesetzes nicht mehr vereinbar ist. Das heißt, diegeltende Entlohnungspraxis – zurzeit monatlich 215 DM,also pro Tag 10 DM – ist verfassungswidrig, weil sie keinangemessenes Leistungsäquivalent darstellt.Mit diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgerichtletztendlich die Notbremse gezogen, weil der Bundesge-setzgeber eigentlich schon seit 15, 16 Jahren verpflichtetgewesen wäre, den Intentionen des Strafvollzugsgesetzesaus dem Jahre 1977 folgend, angemessene Veränderun-gen vorzunehmen.Das Bundesverfassungsgericht hat uns ins Stammbuchgeschrieben: Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzge-ber zur Entwicklung und Umsetzung eines wirksamenKonzeptes der Resozialisierung im Strafvollzug. Arbeitim Strafvollzug dient der Resozialisierung. Sie muss da-her angemessene Anerkennung erfahren, und zwar in demSinne, dass dem, der zur Arbeit verpflichtet ist, der Wertder Arbeit durch die Entlohnung für das künftige Leben inFreiheit auch vermittelt wird.
Ich darf das Urteil an dieser Stelle zitieren. Dort heißtes wörtlich:Arbeit im Strafvollzug, die dem Gefangenen alsPflichtarbeit zugewiesen ist, ist nur dann ein wirksa-mes Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Ar-beit angemessene Anerkennung findet. Diese Aner-kennung muss geeignet sein, dem Gefangenen denWert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenver-antwortliches und straffreies Leben in Gestalt einesfür ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen.Nun ist es Bund und Ländern zwei Jahre nach diesemUrteil nicht möglich gewesen, sich darauf zu einigen, wiedenn dieses Urteil letzten Endes in die Praxis umzusetzenist. Aber das Bundesverfassungsgericht hat uns eine Fristgesetzt, nämlich bis zum 31. Dezember dieses Jahres.Wenn wir bis zu diesem Zeitpunkt keine Neuregelung desStrafvollzugsgesetzes haben, werden in jedem Einzelfalldie Gerichte in Deutschland zu entscheiden haben, wiehoch die Entlohnung zu sein hat.Von daher haben wir es heute im Ergebnis – ich be-daure das sehr – mit drei Gesetzentwürfen zu tun, nämlichmit einem Entwurf der Koalitionsfraktionen, mit einemEntwurf der CDU/CSU-Fraktion und einem Entwurf desBundesrates.
Wenn man diese Entwürfe vergleicht, fragt man sich:Worum geht es? Es geht letzten Endes ums Geld. Es gehtwieder einmal darum, wie viel Geld wir in der Lage oderbereit sind, zur Verfügung zu stellen.
– Rein zufällig ist das vielleicht nicht, KollegeBrinkmann.Der Entwurf der Koalitionsfraktionen geht davonaus, dass wir die jetzt durchschnittliche Vergütung von215 DM im Monat auf 660 DM erhöhen, während derBundesrats- und der CDU/CSU-Entwurf einen Betragvon 320 DM vorsehen.Man wird das Ganze im Ergebnis nicht in Mark undPfennig messen können. Wir haben die leistungsbezogeneund formalisierte Anerkennung der Arbeitspflicht zu re-geln. Ich sehe ebenso wie meine Kolleginnen und Kolle-gen der Koalitionsfraktionen, dass wir uns in einem Span-nungsverhältnis zwischen dem, was verfassungsrechtlichgeboten ist und dem, was die Länder, die das Gesetz voll-ziehen müssen, finanziell werden leisten können, befin-den.Nur, das verfassungsrechtliche Gebot der Resozialisie-rung ist keine sozialromantische Spinnerei, sondern folgt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss12891
letztendlich Art. 2 und Art. 20 des Grundgesetzes. Von da-her hoffe ich sehr und vertraue ein wenig darauf, dass inder Diskussion Vernunft einkehrt und wir im Vermitt-lungsausschuss, bei dem die ganze Angelegenheit landenwird, zu einer vernünftigen Lösung kommen werden.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Dr. Wolfgang Götzer.
Frau Präsidentin!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutierenheute in zweiter und dritter Lesung über die Erhöhungder Gefangenenentlohnung. Uns allen ist dabei klar– Herr Kollege Stünker hat es schon angesprochen –, dassin der heutigen Debatte nicht das letzte Wort in dieser Sa-che gesprochen wird, sondern dass sich aller Voraussichtnach der Vermittlungsausschuss mit diesem Thema wirdbeschäftigen müssen.Ich kann mir jetzt ersparen, längere Zitate aus dem Ur-teil des Bundesverfassungsgerichts wiederzugeben, weildas bereits mein Vorredner getan hat. Im Übrigen hat esschon zwei Debatten zu diesem Thema gegeben, sodassman auf die Protokolle der damaligen Sitzungen verwei-sen kann. Die gestrige Diskussion im Rechtsausschuss– ich glaube, das war allgemeine Überzeugung – warsachlich und zielorientiert. Ich möchte mich in diesemZusammenhang besonders bei Frau Ministerin Schubertfür ihre Ausführungen zu diesem Thema bedanken, dieunseren Ansichten sehr nahe gekommen sind bzw. ihnenentsprochen haben.Gleichwohl sind – ich sage das mit Blick auf die Kol-leginnen und Kollegen der Regierungskoalition – die Un-terschiede zwischen Ihrem Gesetzentwurf, dem derCDU/CSU-Fraktion und dem des Bundesrates deutlichgeworden. Die Regierungsfraktionen wollen eine Ver-dreifachung der Gefangenenentlohnung, das heißt eineErhöhung von 5 Prozent der Bezugsgröße auf 15 Prozentder Bezugsgröße. Sie wollen diese Erhöhung auf sämtli-che Gefangenengruppen erstrecken und sehen dabei keineimmaterielle Vergütung vor. Der Entwurf der CDU/CSUdagegen sieht gegenüber dem bisherigen Zustand eineSteigerung um 40 Prozent vor, allerdings begrenzt auf diezur Arbeit verpflichteten Gefangenen, und beinhaltetaußerdem als weitere Kompetente nicht monetäre Maß-nahmen. Das bedeutet konkret die Möglichkeit, dass Ge-fangene bis zu sechs zusätzliche Freistellungstage proJahr ansparen können, um diese dann als Hafturlaub oderzur Vorverlegung des Entlassungszeitraumes nutzen zukönnen. Dieses Kombinationsmodell orientiert sich ameinmütigen Beschluss der Justizminister der Länder vom10. November 1999 und beschränkt sich auf das von derVerfassung her gebotene Maß einer Erhöhung derGefangenenentlohnung. Der Entwurf des Bundesrates– für den ich spreche – deckt sich im Wesentlichen hin-sichtlich des Umfangs der Erhöhung der Gefangenenent-lohnung und der Ermöglichung nicht monetärer Maßnah-men mit unserem Entwurf.Was ist unsere Kritik am Gesetzentwurf der Regie-rungsfraktionen? Zum einen kritisieren wir die geplanteVerdreifachung der bisherigen Gefangenenentlohnung.Damit schießt dieser Entwurf weit über die Vorgaben desBundesverfassungsgerichts hinaus. Das wird zu einer er-heblichen Verteuerung der Arbeitsleistungen führen. Indiesem Punkt darf ich auf das verweisen, was gestern imRechtsausschuss die sachsen-anhaltinische MinisterinSchubert erklärt hat. Viele Privatbetriebe und erst rechtdie Eigenbetriebe der Justizvollzugsanstalten werdennicht mehr wirtschaftlich arbeiten können, wenn tatsäch-lich eine Verdreifachung der Gefangenenentlohnung vor-gesehen wird. Wenn die Arbeit zu teuer ist, wird Arbeits-leistung nicht mehr nachgefragt; es ist leider so. In derFolge wäre ein massiver Abbau von Arbeitsplätzen in denJustizvollzugsanstalten zu befürchten.Das läuft dem Resozialisierungsgedanken diametralentgegen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat demBemühen um Verbesserung der Bedingungen der Reso-zialisierung in seinem Urteil breiten Raum eingeräumt.Das wird mit diesem Entwurf der Regierungskoalition ge-rade nicht erreicht. Außerdem wird dieser Entwurf, wenner denn Wirklichkeit werden sollte, zu erheblichen Span-nungen unter den Gefangenen führen. Frau MinisterinSchubert hat davon gesprochen, dass es dann ein Zwei-klassensystem, sozusagen eine Zweiklassengesellschaft,in den Gefängnissen geben würde, und zwar eine Klassederjenigen, die Arbeit haben, und einer Klasse derjenigen,die keine Arbeit haben.
Nachdem selbst eine SPD-Ministerin in dieser Hinsichtkeine Klassengesellschaft will, wollen wir uns in diesemPunkt anschließen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regie-rungskoalition, die ganze Diskussion dreht sich ja um dieFrage: Was ist eine angemessene Entlohnung? Das ist,denke ich, nicht allein eine Frage der prozentualen Er-höhung. Die Angemessenheit kann sich nicht alleine imWettlauf um eine prozentuale Erhöhung darstellen. Auchdarüber haben wir ja gestern im Rechtsausschuss debat-tiert. Deswegen gehe ich nicht davon aus, dass man mitden 15 Prozent, die Sie planen, gegenüber dem Entwurfvon Union und Bundesrat sozusagen auf der sichererenverfassungsrechtlichen Seite wäre. Denn wenn in den Jus-tizvollzugsanstalten die Schere zwischen denen, die Ar-beit haben, und denen, die keine Arbeit haben, immer wei-ter auseinander geht, wenn die Zahl derjenigen, die Arbeithaben, immer geringer wird, und diese dann dreimal soviel Geld bekommen wie bisher, so stellt sich in diesemZusammenhang entsprechend das verfassungsrechtlicheProblem der Gleichheit.Die Verdreifachung der Gefangenenentlohnung wäreim Übrigen ein verheerendes Signal an die Opfer vonStraftaten.
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Vizepräsidentin Petra Bläss12892
– Nein, das ist alles andere als absurd. Das ist im Gegen-teil eine sehr nahe liegende Gefahr, verehrter Herr Kol-lege Beck. – Wenn außerdem davon gesprochen wird,dass, wenn die Gefangenen mehr Geld bekämen, mögli-cherweise auch mehr Geld für die Resozialisierung zurVerfügung stünde, möchte ich dazu sagen: Es kann jawohl nicht sein, dass die Justizvollzugsanstalten und letzt-lich damit der Steuerzahler die Resozialisierung der Ge-fangenen übernehmen soll.
– Dass der Steuerzahler für die Resozialisierung auf-kommt, ist ein neuer Gesichtspunkt. Das kann ja wohlnicht sein, außer natürlich, wenn ich vom totalen Staatausgehe. Verehrter Kollege von der PDS, mit IhremStaatsverständnis kann ich das in Einklang bringen; aberich glaube nicht, dass das der Sinn sein kann.Unverständlich ist, dass der Entwurf der Regierungs-koalition keine nicht monetären Maßnahmen enthält,obwohl das Urteil des Bundesverfassungsgerichts diesausdrücklich als Möglichkeit anspricht.
– Ich weiß nicht, ob Sie Jurist sind, Herr Kollege. Dannsollten Sie sich besser nicht dazu äußern. – Ich trete gernein einen Disput mit Ihnen ein; aber ich weiß nicht, welcheAusbildung Sie genossen haben.
Ich komme nun noch zu einem Thema, das ebenfallserwähnt werden muss, nämlich die finanzielle Belastungder Länder. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, alleinder bayerische Staatshaushalt hätte Mehrkosten in Höhevon etwa 33 Millionen DM zu tragen, würde dieses Ge-setz Wirklichkeit.
– Bayern ist ein wirtschaftlich sehr solides Land, HerrKollege Stünker. Ich habe Ihren Einwurf sehr wohl ver-standen. Dennoch wäre dieser Betrag faktisch nicht ver-kraftbar. Darüber haben wir gestern gesprochen.
Die anderen Länder, auch die SPD-regierten Länder, ma-chen ähnliche Rechnungen auf. Bundesweit müssten dieLänder in der Summe etwa 230 Millionen DM ausgeben,wenn Ihr Gesetzentwurf in die Tat umgesetzt würde.Ich darf zusammenfassen. Der Gesetzentwurf der Re-gierungskoalition schießt weit über die Vorgaben desBundesverfassungsgerichtsurteils hinaus. Er vernichtetArbeitsplätze in den Justizvollzugsanstalten.
Er belastet die Länder unzumutbar und er setzt ein ver-heerendes Signal für die Opfer.Dass nicht nur wir das so sehen, sondern auch die Län-der den Entwurf ablehnen, haben Sie ja an dem einmüti-gen Votum der Länder erkennen können. Die „Frankfur-ter Rundschau“ schreibt dazu: 16:0 gegen dieBundesjustizministerin! So etwas hat es noch nie gege-ben!
– Wenn es nur um Eishockey ginge, wäre dieses Ergebnisrechtlich folgenlos, Herr Kollege Hartenbach.
Der Entwurf der CDU/CSU und auch der des Bundes-rates sehen eine maßvolle Erhöhung der Löhne für Straf-gefangene vor, die aber immerhin bei 40 Prozent liegt,und zwar in Kombination mit nicht monetären Maßnah-men. Mit diesem Kombinationsmodell tragen wir denVorgaben des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls Rech-nung, allerdings beschränken wir uns auf das von Ver-fassungs wegen gebotene Maß. Wir verhindern mit unse-rem Vorschlag den Abbau von Arbeitsplätzen in denJustizvollzugsanstalten und halten die finanzielle Belas-tung der Länder in einem erträglichen Rahmen. Siewürde nach unseren Vorstellungen bei nur etwa 40 Milli-onen DM liegen, während nach dem Entwurf der Regie-rungskoalition Mehrkosten in Höhe von über 230 Milli-onen DM auf die Länder zukommen.Die Beratungen im Rechtsausschuss haben gezeigt,dass die Regierungskoalition eingesehen hat, dass sienicht in der Lage ist, ihren Gesetzentwurf gegen die ge-schlossene Front der Länder durchzudrücken. UnsereHoffnung richtet sich deshalb jetzt auf das Vermittlungs-verfahren.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Götzer,ich finde es verkehrt, wenn wir in dieser Debatte die not-wendige Resozialisierung der Täter – damit hat Karlsruhesein Urteil begründet – gegen die berechtigten Interessender Opfer von Straftaten ausspielen.
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Dr. Wolfgang Götzer12893
Das ist der falsche Zungenschlag und nützt auch den Op-fern nichts.
Wenn man für die Resozialisierung der Täter nichtsmacht, weil man für die Verbesserung der Situation derOpfer auch nichts tut – das ist die Bilanz Ihrer Rechtspo-litik, die Sie 16 Jahre betrieben haben –, dann macht maneinen Riesenfehler. Die jetzige Regierungskoalitionmacht genau das Gegenteil. Wir werden durch die Reformdes rechtlichen Sanktionensystems erstmals die Op-ferhilfe in diesem Land stärken.
Es ist in der Tat ein Skandal, dass die Finanzierung derOpferhilfe, der Hilfe für traumatisierte Verbrechensopfer,bisher keine rechtliche Grundlage in diesem Land hat.
Das werden wir ändern. Das hilft den Opfern tatsächlich.
Der Täter, der durch Resozialisierung dazu gebrachtwird, künftig keine Straftaten mehr zu begehen, und derden Wert der Arbeit im Strafvollzug kennen und schätzengelernt hat,
der ist für die Gesellschaft und auch die potenziellen Op-fer die beste Sicherheit. Herr Geis, reden Sie bitte nichtdie ganze Zeit dazwischen. Ich habe im Moment über-wiegend das Wort im Parlament.
Der Stundenlohn von Strafgefangenen liegt gegen-wärtig bei 1,72 DM. Karlsruhe ist 1998 der Geduldsfadengerissen und hat an die Adresse des Gesetzgebers gesagt:Dieser Zustand ist nicht mehr haltbar. Die Koalition hatalso die Zahlen nicht ausgewürfelt. Wir setzen vielmehrdie Vorgaben des Verfassungsgerichtsurteils um. Der Va-ter des Urteils von 1998, der ehemalige Verfas-sungsrichter Kruis, hat gesagt: Eigentlich müsste das Ni-veau der Strafgefangenenentlohnung auf 20 Prozentangehoben werden. Wir sind – mit Rücksicht auf die Fi-nanzen der Länder – dieser Empfehlung nicht gefolgt undhaben mit unserem Vorschlag das Lohnniveau auf 15 Pro-zent angehoben. Wir haben einen moderaten Weg ge-wählt. Aber eines hat Kruis uns auf den Weg gegeben:Zweistellig müsste die Erhöhung schon ausfallen. Damitist ganz klar: Der Gesetzentwurf, den die Union vorgelegthat, und leider auch der Vorschlag der Länder bewegensich nicht mehr auf der verfassungsrechtlich sicherenSeite. Das ist bedauerlich. So können wir mit dem höchs-ten Gericht in unserem Lande nicht umgehen.
Die höhere Entlohnung der Gefangenen
– Herr Geis, ich lasse keine Zwischenfragen zu; es ist spätgenug; wir haben darüber lange im Ausschuss und mehr-mals im Plenum diskutiert; Sie würden heute Abend auchnichts dazulernen, wenn ich Ihre Zwischenfrage zuließe;denn Sie wollen gar nichts dazulernen –
bedeutet nicht, dass sie mehr Hausgeld zur Verfügung ha-ben, um im Strafvollzug mehr einkaufen zu können. Da-rum geht es hier nicht. Deshalb geht auch das Argumentder Zweiklassengesellschaft an der Sache vorbei. Ich fanddie Vorstellung interessant, dass die Union jetzt von einerklassenlosen Gesellschaft träumt. Zu Ende gedacht ließeIhr Vorschlag, Herr Götzer, dass wir keinem Gefangenenetwas zahlen. Denn die Differenzierung zwischen denen,die Arbeit haben, und denen, die keine haben, bestehtschon heute.
Wie können die Menschen lernen, dass die Arbeit, die sieleisten, etwas wert ist, wenn sie dafür keine vernünftigeEntlohnung erhalten?
Meine Damen und Herren, die Entlohnung der Gefan-genen dient aber auch den Opfern. Denn die Opfer, dieWiedergutmachungsansprüche zivilrechtlicher Art gegendie Täter stellen, können nur etwas bekommen, wenn dieTäter auch über Einkommen verfügen.
Deshalb ist es ganz entscheidend, dass sie Arbeit haben,dass sie Geld verdienen, damit Wiedergutmachung andie Opfer zahlen und ihre Schulden abzahlen können. DieBundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe hat fest-gestellt, dass drei Viertel der Strafgefangenen überschul-det sind. Wenn wir in dieser Situation nicht helfen, dasssie durch Arbeit selber etwas ändern können, rutschendiese Leute, wenn sie aus dem Strafvollzug kommen, er-neut in die Kriminalität ab, weil sie keine Perspektive se-hen, mit einem Leben in Legalität und frei von Straftateneinen Weg zurück in die Gesellschaft mit neuen Start-chancen zu finden.
Meine Damen und Herren, wir müssen auch an dieKinder und Ehefrauen von Strafgefangenen denken. Eshandelt sich ja mehrheitlich um Männer; deshalb formu-
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Volker Beck
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liere ich es auch so. Denn die Angehörigen haben Unter-haltsansprüche. Diese gilt es zu realisieren. Auch diesemZweck dient der erhöhte Strafgefangenenlohn. Deshalbist der Vorschlag der Koalition ausgewogen. Er ist verfas-sungsrechtlich geboten.
Ich hoffe, dass die andere Seite des Hauses und auchder Bundesrat sich im Vermittlungsausschuss auf unserenVorschlag zubewegen werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Jörg van Essen für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich bin ganz sicher, dass der Ver-
mittlungsausschuss zu einem anderen Ergebnis kommen
wird. Mit Interesse werde ich die Reden, die wir hier heute
Abend von den Vertretern der Koalition gehört haben,
dann, wenn wir dieses Ergebnis haben, nachlesen.
Denn dann wird die Koalition nämlich auf einmal bei ei-
nem Ergebnis zustimmen, das mit Sicherheit unter dem
liegen wird, was die Koalition hier heute vorschlug.
Ich bedauere es ganz außerordentlich, dass wir ein Ge-
setz verabschieden, von dem wir schon vorher wissen,
dass es so nicht in Kraft treten wird, weil das eine Art von
Gesetzgebung ist, die ich mir für den Bundestag gerade
nicht wünsche.
Ich denke, dass alle Gelegenheit gegeben wäre, zu ei-
nem Übereinkommen mit den Ländern zu kommen;
denn die Zeit drängt. Das Bundesverfassungsgericht hat
uns eine klare Frist gesetzt. Am 1. Januar des nächsten
Jahres muss eine Regelung stehen. Bei uns in der Fraktion
hat es – das will ich gar nicht verschweigen – eine heftige
Debatte gegeben. Viele der Argumente, die heute Abend
eine Rolle gespielt haben, haben auch Kolleginnen und
Kollegen in meiner Fraktion überzeugt. Sie haben sich für
eine deutliche Erhöhung der Gefangenenentlohnung aus-
gesprochen.
Ich selbst habe zu denen gehört, die dafür plädiert ha-
ben, den Ländern zu folgen. Für mich war die erste und
wichtigste Frage dabei, weil ich der Auffassung bin, dass
wir das, was uns das Bundesverfassungsgericht auferlegt,
auch umsetzen müssen: Ist das, was die Länder vorschla-
gen, verfassungsgemäß? Vom Kollegen Götzer ist ja hier
schon ausgeführt worden – ich denke, auch Frau Ministe-
rin Schubert wird dazu gleich etwas sagen –, dass das
Bundesverfassungsgericht das, was die Länder beabsich-
tigen, ausdrücklich zulässt. Es macht nämlich klar, dass
den Vorgaben des Verfassungsgerichtes nicht nur durch
monetäre Leistungen, sondern auch durch andere Maß-
nahmen entsprochen werden kann. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt, der mir wichtig war, ist, dass wir zu
einer wirklichen Verbesserung für die Gefangenen kom-
men. Denn alles, was wir hier gehört haben – bessere Re-
sozialisierung, bessere Unterhaltsleistungen und bessere
Leistungen an die Opfer –, wird illusionär, wenn die Wirk-
lichkeit dazu führt, dass weniger arbeiten. Wenn die Ar-
beit in den Justizvollzugsanstalten so drastisch teurer
wird, wie es die Koalition vorschlägt, dann hat das zur
Konsequenz, dass wir in den Anstalten weniger Arbeit an-
bieten können.
Wenn einem der Gedanke der Resozialisierung wich-
tig ist – ich gehöre zu diesen Personen –, dann muss man
doch feststellen, dass der Nachweis von permanenter Ar-
beit und das Gewöhnen an die Prozesse von Arbeit, was
ja bei vielen Strafgefangenen vor ihrer Inhaftierung nicht
der Fall war, die besten Vorbereitungen auf die Freiheit
sind. Deshalb scheint mir der Weg, den die Länder gehen,
ein vernünftiger zu sein. Ich habe zwar das Gefühl, dass
die Position der Länder natürlich auch von monetären,
von finanziellen Gesichtspunkten beeinflusst ist. Ich
denke aber, dass, wenn man abwägt, der Weg der Länder –
so, wie sie ihn vorschlagen – ein Weg der Vernunft ist,
weil er möglichst viel Arbeit für die Strafgefangenen in
den Justizvollzugsanstalten erhält.
Ich komme zu meiner letzten Überlegung. Herr Beck
hat von den Opfern gesprochen und die wirklich abstruse
Behauptung aufgestellt, dass jetzt zum ersten Mal etwas
für Opfer getan werde. Wir haben – Gott sei Dank – in der
letzten Legislaturperiode unter dem Bundesjustizminister
Edzard Schmidt-Jortzig erhebliche Fortschritte in der
Frage der Opferentschädigung erzielt. Wenn ich vor der
Entscheidung stehe, wo Verbesserungen für mich den
Schwerpunkt haben sollten, dann muss ich sagen: bei den
Opfern. Es gehört auch zur Ehrlichkeit, zu sagen, dass wir
dann, wenn wir mehr Geld geben, immer noch unter den
Pfändungsfreigrenzen sind und es dann immer noch von
der Entscheidung der Strafgefangenen abhängt, ob die
Opfer tatsächlich mehr Geld bekommen.
Mir ist aber klar: Wenn der Strafvollzug teurer wird, dann
ist in den Länderhaushalten, insbesondere in den Justiz-
haushalten, weniger Geld für Opfer vorhanden. Auch das
macht meine Entscheidung leicht, mich für den Entwurf
der Länder auszusprechen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt hat die Kollegin
Ulla Jelpke für die PDS-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Ich meine, dass wir heute ein trauriges Kapi-tel der Strafvollzugsgeschichte erneut diskutieren. HerrStünker, bereits 1977, also vor genau 23 Jahren, als man
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Volker Beck
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die große Strafvollzugsreform hier im Hause verabschie-det hat, wurde eine Erhöhung der Gefangenenlöhne auf40 Prozent des Tariflohns bis zum Jahr 1986 vorgesehen.Schon damals haben Experten gesagt, dass es eigentlich75 Prozent sein müssten. Auch die Bundesarbeitsgemein-schaft für Straffälligenhilfe sowie Justizvollzugsanstalts-leiter – die Strafgefangenen natürlich sowieso – fordern,dass auf jeden Fall eine Erhöhung, die an den Tariflohnheranführt, durchgesetzt werden müsste. Es gibt Anstalts-leiter, die davon sprechen, dass eine Entlohnung unter20 Prozent verfassungswidrig ist.
Ich weise darauf hin, dass die Bundesrepublik hin-sichtlich der Gefangenenentlohnung den neunten Platzunter den europäischen Ländern einnimmt. Ich möchteebenfalls darauf hinweisen, dass wir in den vergangenenLegislaturperioden immer wieder Anträge eingebrachthaben, die eine tarifliche Entlohnung der Gefangenen undderen Einbeziehung in die gesetzlichen Renten- undKrankenversicherung fordern. Diese Forderung ist bisheute nicht annähernd erfüllt.
Auch wenn die SPD und die Grünen heute hier sagen,dass sie einen verfassungsgemäßen Antrag einbringenwollen, in dem sie gerade einmal 15 Prozent fordern, wirddas dem, was notwendig ist, nicht gerecht.
Ich will die einzelnen Anträge nicht noch einmal vor-stellen; dazu reicht meine Zeit gar nicht. Einen Gedankenwill ich aber doch noch aufgreifen. Es geht hier darum,den Gefangenen zu ermöglichen, mehr Schadenswieder-gutmachung und Opferentschädigung zu leisten, als siees bisher können. Die meisten können es bisher gar nicht,weil sie arbeitslos sind. Die Arbeitslosigkeit ist in deut-schen Gefängnissen extrem hoch; das ist zweifellos rich-tig.Der Resozialisierungsgedanke – der Kollege Beck hates schon erwähnt – ist meines Erachtens aber ganz we-sentlich. Erst in der vergangenen Woche haben wir hierüber Verbrechensbekämpfung diskutiert. Es wird immerwieder darüber geklagt, dass die Rückfallquote der Ge-fangenen sehr hoch ist. Resozialisierung bedeutet, Men-schen in die Lage zu versetzen, ein neues Leben zu be-ginnen. Wenn Sie sich einmal anschauen, was derBundesrat fordert, nämlich dass den Gefangenen im Mo-nat ein Lohn von 320 DM gezahlt wird – davon müssensie Tabak und alles Mögliche im Monat bezahlen –, dannerkennen Sie: Davon bleibt so gut wie gar nichts übrig.Das heißt, wenn die Entlassung ansteht, dann ist imGrunde genommen überhaupt kein Geld vorhanden, umdas neue Leben straffrei zu führen. Mit einer solchen Ent-lohnung ist das Ansteigen der Rückfallquote vorprogram-miert. Das Herstellen von Lebensbedingungen mit Arbeitund Wohnung ist nach dem Absitzen einer Strafe so garnicht möglich.
Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Die meisten Gefan-genen sind in der Tat – das Statistische Jahrbuch sprichtvon Verbindlichkeiten in Höhe von 45 000 DM – hochverschuldet. Auch an diesem Punkt muss Hilfe geschaffenwerden. Es kann nicht angehen, dass man so ignorant mitStrafgefangenen umgeht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, ich komme zum Schluss.
Noch etwas zu Ihnen, Herr Götzer: Ich halte Ihr Re-
chenbeispiel zu Arbeitsplätzen, die angeblich geschaffen
werden, indem man die Löhne niedrig hält, für absolute
Demagogie. Es gibt Möglichkeiten, mit mehr Initiativen
seitens der staatlichen Einrichtungen, aber auch durch
Werbung Arbeitsplätze in den Gefängnissen zu schaffen.
Das, was in den Gefängnissen gegenwärtig geschieht, ist
ein Skandal.
Es wird in den Gefängnissen auch keine Besserungen ge-
ben, wenn Sie es weiterhin so handhaben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Jelpke,
bitte.
Einen Satz noch. – Ein Gefange-
ner hat zu mir gesagt: Wie kann man Resozialisierung in
einer asozialen Umwelt erleben? Diese Frage stelle ich
auch Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Jus-tizministerin des Landes Sachsen-Anhalt, Karin Schubert.Karin Schubert, Ministerin (vonAbgeordneten der SPD mit Beifall begrüßt): Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Ich bin über all das,was von den einzelnen Fraktionen hier bereits gesagt wor-den ist, froh. An den Anfang meiner Rede möchte ich einganz kleines Bonmot stellen: Herr Kollege Stünker, Siehaben davon geredet, dass in den Anstalten um 22 Uhr dasLicht ausgeht. Ich kann mir vorstellen, dass alle hier heutegerne um 22 Uhr das Licht ausgemacht hätten.
In den Anstalten wird nicht nur ohne Ende Licht gewährt;man kann auch Kabelfernsehen, zum Beispiel den KanalPhoenix, empfangen. Vielleicht sehen uns die Insassenheute Abend sogar.
Wir haben folgendes Problem: Die Bundesverfas-sungsgerichtsentscheidung von 1998 hat angeprangert,dass die jetzige Lösung der Gefangenenarbeitsvergütungso nicht verfassungsgemäß ist. Man hat uns aufgefordert,bis zum Jahresende eine Lösung für das Problem einer an-gemessenen Entlohnung der Gefangenen zu finden. Nach
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Ulla Jelpke12896
der Entscheidung des Verfassungsgerichts muss diese Lö-sung nicht ausschließlich in monetären Maßnahmen be-stehen; vielmehr hat man ganz bewusst offen gelassen,wie eine angemessene Anerkennung von Gefangenen-arbeit aussehen darf.Vorgesehen ist eine Verdreifachung der Vergütung. Eshandelt sich nicht um eine Anhebung der jetzigen Vergü-tung um 15 Prozent, wie die Kollegin Jelpke eben gesagthat, sondern um eine Anhebung um 200 Prozent. Ichmöchte nicht die finanziellen Aspekte der Länder in denVordergrund stellen; denn nicht in erster Linie diese ha-ben den Bundesrat bewogen, einen eigenen Gesetzent-wurf einzubringen.Wir haben uns überlegt, wie man die Verfassungswid-rigkeit der jetzigen Anerkennung der Arbeit ausschaltenkann. Wir haben festgestellt, dass die realen Verhältnissehinter den Mauern, was die Arbeit von Gefangenenangeht, leider nicht so aussehen, wie es das Strafvoll-zugsgesetz vorsieht. Richtigerweise wird der Arbeit derGefangenen ein hoher Resozialisierungsfaktor beige-messen. Wir wünschen uns, dass für jeden die §§ 37 und41 des Strafvollzugsgesetzes umgesetzt werden. Es gehtdarum, den Gefangenen Arbeit anzubieten, weil jeder Ge-fangene nach dem Strafvollzugsgesetz zur Arbeit ver-pflichtet ist.Leider ist das Vorhandensein von Arbeitsmöglich-keiten für Strafgefangene nicht überall der Fall. In kei-nem Land der Bundesrepublik liegt die Beschäftigungs-quote über 50 Prozent. Mit Beschäftigungsquote meineich nicht nur die wirtschaftlich ergiebige Arbeit, sondernauch all die Verdrängungsmaßnahmen, die in Strafanstal-ten unternommen werden, um die Insassen überhaupt zubeschäftigen. Ich denke an die so genannte wirtschaftlichnicht ergiebige Arbeit, Hausarbeit usw., an Arbeitsthera-pie und auch an die Aus- und Fortbildungsverhältnisse.All das wird bei der Beschäftigungsquote mitgezählt.Trotzdem kommen wir nicht über 50 Prozent.Wir haben darüber nachgedacht, wie man die Verfas-sungswidrigkeit im Bereich der Gefangenenarbeit, diedeswegen besteht, weil nur die Hälfte der inhaftierten Ge-fangenen Arbeit haben kann, so aufhebt, dass man allenirgendetwas bietet. Das Bundesverfassungsgericht hatuns hierfür den Weg vorgegeben. Wir müssen nicht reinmonetäre Maßnahmen vorsehen. Wir können auch nicht-monetäre Maßnahmen vorsehen. Das haben wir getan.Man kann sich in der Tat Gedanken darüber machen,ob die nichtmonetäre Maßnahmen, die wir jetzt vorsehen,ausreichen. Der Weg zur Beratung hierüber ist ja vorge-zeichnet: Im Vermittlungsausschuss können wir uns da-rüber Gedanken machen, wie wir beides kombinieren.Bedenken Sie bitte, was heute richtigerweise angeklun-gen ist: Opfer wollen, dass ihr Schaden wiedergutgemachtwird, Familien wollen ihren Unterhalt haben. WelchesOpfer hat es denn verdient, dass der Täter keine Arbeit be-kommt? Dieses hätte dann überhaupt keine Chance aufEntschädigung. Welche unterhaltsberechtigten Fami-lienangehörigen hätten es denn verdient, dass nun geradedas zu Unterhaltszahlungen verpflichtete Familienmit-glied keine Arbeit hat? Hier liegt die große Schwierigkeitbezüglich der Umsetzung des Urteils des Bundesverfas-sungsgerichts. Wir Länder haben gesagt: Die Möglich-keit, dass eine weitere Klage derer, die nicht in den Ge-nuss irgendwelcher monetärer Maßnahmen kommen, er-hoben wird, liegt auf der Hand.Was macht man nun angesichts dieses Ganges zwi-schen Skylla und Charybdis? Eine angemessene monetäreLeistung ist ganz bewusst vom Bundesverfassungsgerichtnicht vorgeschrieben worden.
Dort hat man sich nicht mit Zahlen befasst, weil manwusste, wie die realen Verhältnisse sind. Man hat aber ei-nen Hinweis auf das Strafvollzugsgesetz gegeben. Dortsah man 1977 in der Tat eine Erhöhung von 5 Prozent auf40 Prozent bis 1986 vor. Nun könnte man sagen, damit seiein Schlusspunkt erreicht. In der Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichtes steht aber drin, dass das nur beirein monetären Maßnahmen gilt, die im Gesetzentwurfder Länder gerade nicht im Vordergrund stehen.Zum einen steht die Frage im Raum, was vor demBundesverfassungsgericht Bestand haben wird, zum an-deren sind wir in Eile. Wir müssen noch in diesem Jahr ei-nen Gesetzentwurf vorlegen, denn sonst befinden wir unsab 1. Januar 2001 im rechtsfreien Raum.
Das können wir uns nicht leisten; auch das wäre verfas-sungswidrig. Deshalb sollten wir alle uns Gedanken ma-chen, wie wir damit umgehen, wie wir am Besten dem Ge-danken der Resozialisierung gerecht werden können undwie wir auch den Gefangenen zu einem einigermaßenwürdigen und der Resozialisierung dienenden Leben hin-ter Mauern verhelfen können.Da meine Redezeit schon überschritten ist, möchte ichnur noch einen Satz sagen: Wir haben festgestellt, dass dieUnternehmer, die uns jetzt Arbeit zu Löhnen, die dasLohnniveau um über 50 Prozent unterschreiten, anbieten,in Niedriglohnländer abwandern werden. Uns sindschon entsprechende Hinweise gegeben worden. Daswürde bedeuten, dass noch weniger Gefangene in den Ge-nuss von Anerkennung aufgrund einer angemessenen Ar-beit kommen. Ich möchte Sie deswegen bitten, sich nocheinmal Gedanken zu machen, wie wir allen gleicher-maßen helfen können.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär im
Bundesjustizministerium, Eckhart Pick.
D
Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Es geht hier nicht um die Frage von Böse und Gut
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Ministerin Karin Schubert
12897
oder darum, wer mehr Lohn geben kann und wer nicht im-stande ist, das zu tun. Es geht vielmehr um die Frage, wiedas Urteil des Bundesverfassungsgerichtes angemessenund adäquat umgesetzt werden soll. Dieses beinhaltetauch die Abwägung der finanziellen Möglichkeiten derLänder, verehrte Justizministerin des Landes Sachsen-Anhalt.Wir müssen darüber entscheiden, ob wir uns in demRahmen bewegen, den das Bundesverfassungsgerichtvorgegeben hat oder nicht. Es ist sicher richtig, dass vomBundesverfassungsgericht nicht nur die monetärenLeistungen zur Disposition gestellt worden sind und eineVerbesserung dieser Leistungen angemahnt worden ist.Nichtsdestoweniger ist die finanzielle Seite eine ganzwichtige. Die Bundesregierung ist der Auffassung, dassder Entwurf der Koalitionsfraktionen, der sich auf die mo-netäre Seite beschränkt, den Maßstäben, die das Bundes-verfassungsgericht in seinem Urteil gesetzt hat, gerechtwird.Wir haben den Eindruck, dass eine Erhöhung von 5 auf7 Prozent der Bezugsgröße, flankiert von der Möglichkeiteiner Haftverkürzung von sechs Tagen pro Jahr Arbeit,nicht ausreicht und damit der Vorgabe des Bundes-verfassungsgerichts nicht entsprochen wird.Ich denke, dass auch richtig ist, noch einmal daraufhinzuweisen, dass man natürlich nicht so argumentierenkann: Je höher die Gefangenenentlohnung ist, um so we-niger Arbeit steht zur Verfügung. Dann müsste ja das um-gekehrte Argument gelten: Je mehr die Gefangenenent-lohnung gegen Null strebt, um so mehr Arbeit ist da, unddamit wäre den Gefangenen geholfen.
Auch diese Rechnung, Herr Kollege Geis, geht natürlichnicht auf.
Deswegen geht es um die Frage, wie hoch angemessenesEntgelt ist. Darüber kann man natürlich streiten.
Ich fand übrigens den Hinweis von Herrn van Essensehr ehrlich, der ja gesagt hat, dass dies in seiner Fraktionsehr umstritten gewesen ist. Ich denke, das zeigt auch,dass man sehr unterschiedlicher Meinung über dieseFrage sein kann.
Aber eines – das möchte ich doch am Schluss noch sa-gen – will mir gar nicht einleuchten. Sowohl in dem Ent-wurf des Bundesrates – da allerdings etwas zurückhalten-der – als auch im Entwurf der CDU/CSU-Fraktion werdenbestimmte Gefangene ausgegrenzt,
bei Ihnen zum Beispiel die Untersuchungsgefangenen,zum Beispiel die jungen Gefangenen. Ich denke, das istgerade der falsche Ansatz.
Gerade in den Bereichen der Jugendlichen, meine Da-men und Herren, ist es erforderlich, dass diese jungenLeute die Chance bekommen, den Wert der Arbeit zu er-leben. Insofern habe ich persönlich kein Verständnis fürdie Ausgrenzung gerade der Gefangenen, die besondersden Wert der Arbeit erfahren müssen. Insofern denke ich,das ist ein Webfehler, den man deutlich machen muss.
In einer etwas geringeren Form gilt das natürlich auchfür den Bundesratsentwurf, der ebenfalls nicht alle Ge-fangenen einbezieht. Insofern ist es meines Erachtenswirklich wichtig, dass in dem Verfahren im Vermittlungs-ausschuss noch vor Ende des Jahres ein Ergebnis erzieltwird.
Es wäre in der Tat blamabel für den Gesetzgeber, wenn anseine Stelle schließlich die Gerichte mit unterschiedlichenWertungen treten müssten.
Ich finde, das sollte ein Argument sein, lieber HerrGeis, dass wir uns alle anstrengen, einen Kompromiss zufinden.
– Der Herr Geis verdient manchmal auch den Begriff„lieb“,
insbesondere wenn er sich so verhält wie heute.
Deswegen denke ich, wir sind alle aufgerufen, an einemErgebnis mitzuwirken,
Geis!)das dann zum einen den Forderungen des Bundesverfas-sungsgerichts entspricht, zum anderen aber auch dem,was wir den Gefangenen und letztlich ebenso den Opfern,finde ich, die ja mit diesen Mitteln auch Genugtuung er-fahren können, schuldig sind.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwarzunächst zur Abstimmung über den von den Fraktionen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick12898
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrach-ten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafvoll-zugsgesetzes, Drucksachen 14/3763 und 14/4622.Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-ner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damitin zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSUund F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom-men.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorhinangenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf einesGesetzes des Bundesrates zur Änderung des Strafvollzugs-gesetzes auf Drucksache 14/4452. Der Rechtsausschussempfiehlt auf Drucksache 14/4622 unter Buchstabe b, denGesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen den Frak-tionen der CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt. Damit ent-fällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entwurfeines Gesetzes der Fraktion der CDU/CSU zur Änderungdes Strafvollzugsgesetzes auf Drucksache 14/4070. DerRechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4622 unterBuchstabe c, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte die-jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen derCDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktionabgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnungauch hier eine weitere Beratung.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten NorbertHauser , Norbert Röttgen, Ilse Aigner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUSicherung der außeruniversitären interdis-ziplinären Grundlagenforschung in der In-formations- und Kommunikationstechnik– zu dem Antrag der Abgeordneten MarittaBöttcher, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer undder Fraktion der PDSKeine Fusion des GMD-Forschungszen-trums für Informationstechnik und derFraunhofer-Gesellschaft zulastender IuK-Grundlagenforschung– Drucksachen 14/3097, 14/4037, 14/4373 –Berichterstattung:Abgeordnete Jörg TaussNorbert HauserHans-Josef FellCornelia PieperAngela MarquardtNach einer interfraktionellen Vereinbarung war für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Auch hierkann ich Sie beglücken. Die Kolleginnen und KollegenJörg Tauss, Norbert Hauser, Hans-Josef Fell, UlrikeFlach, Maritta Böttcher sowie der ParlamentarischeStaatssekretär Wolf-Michael Catenhusen geben ihre Re-den sämtlich zu Protokoll.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung auf Drucksache 14/4373. Der Ausschuss empfiehltunter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnungdes Antrages der Fraktion der CDU/CSU zur Sicherungder außeruniversitären interdisziplinären Grundlagenfor-schung in der Informations- und Kommunikati-onstechnik, Drucksache 14/3097. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen vonCDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion der PDS mit dem Titel „Keine Fusion des GMD-Forschungszentrums für Informationstechnik und derFraunhofer-Gesellschaft zulasten der IuK-Grundlagen-forschung“, Drucksache 14/4037. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen derPDS-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidiLippmann, Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDSTransparenz und parlamentarische Kontrollebei Rüstungsexporten– Drucksache 14/4349 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger AusschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Bundesregierung über ihre Export-politik für konventionelle Rüstungsgüter imJahr 1999
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss12899
1) Anlage 6– Drucksache 14/4179 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger AusschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-logie zu dem Antrag der Abgeord-neten Heidi Lippmann, Fred Gebhardt, WolfgangGehrke, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder PDSKeine Lieferung von Panzern und anderenRüstungsgütern und Lizenzen an die Türkei– Drucksachen 14/3004, 14/4487 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Ditmar StaffeltNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-nen und Kollegen Dr. Ditmar Staffelt, Erich Fritz sowieClaudia Roth haben ihre Reden bereits zu Protokoll gege-ben.1)Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die PDS-Fraktion hat die Kollegin Heidi Lippmann.Heidi Lippmann (von der PDS mit Beifall be-grüßt): Vielen Dank, liebe Kolleginnen. Meine Damenund Herren! Welchen Stellenwert die Rüstungsexportpo-litik in diesem Hause einnimmt, zeigt sowohl die mit-ternächtliche Stunde als auch die Tatsache, dass der Rüs-tungsexportbericht als Anhängsel zu zwei PDS-Anträgenauf der Tagesordnung steht.Ist dies Ausdruck der viel gepriesenen und lautstark ge-forderten Transparenz? – Wohl kaum. Vielmehr ist es derVersuch, ein unliebsames Thema, das immer wieder zuKoalitionsstreitigkeiten geführt hat, aus dem Rampenlichtder Öffentlichkeit zu nehmen.
Zur Abstimmung steht heute unser Antrag, keine Pan-zer und sonstigen Rüstungsgüter und Lizenzen in dieTürkei zu liefern. Was die mögliche Lieferung von1 000 Panzern betrifft, ist dieses Thema zwar zumindestvorübergehend auf Eis gelegt, doch nichtsdestotrotz ist esskandalös, dass nach wie vor in großem Ausmaß Waffenund Kriegsgüter, Lizenzen für Munition und vieles anderegeliefert werden, obwohl die Menschenrechtssituationin der Türkei nach wie vor katastrophal ist.
Allein 1999 gingen 24 Prozent der deutschen Rüstungs-exporte im Wert von 645 Millionen DM in die Türkei.
In dem „Regelmäßigen Bericht 2000 der EuropäischenKommission über die Fortschritte der Türkei auf demWeg zum Beitritt“ vom 8. November dieses Jahres heißtes unter anderem, dass sich, verglichen mit dem Vorjahr,die Situation nicht grundlegend verbessert hat und dieTürkei lediglich „Grundmerkmale eines demokratischenSystems“ aufweist. Zwar werde die Todesstrafe in derPraxis nicht vollstreckt, „doch die Gesamtsituation beiden Menschenrechten bleibt Besorgnis erregend. Folterund Misshandlung sind noch lange nicht verschwunden“,die „Haftbedingungen haben sich nicht verbessert“, eskommt „regelmäßig zu Beschränkungen der Meinungs-,Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit“. Die „Situationbei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechtenhat sich nicht verbessert“ und die „Lage im Südosten, wodie Bevölkerung vorwiegend kurdisch ist, hat sich nichtwesentlich geändert“.All dies ist bekannt und kann durch unzählige weitereBerichte anderer Institutionen ergänzt werden. Dochreicht es Ihnen, Kolleginnen und Kollegen, immer nochnicht aus, daraus ein vollständiges Rüstungsexportverbotabzuleiten.
Dieses ist insbesondere für Ihre Politik, liebe Kolleginnenund Kollegen von den Grünen, ein Armutszeugnis.
Liest man den Rüstungsexportbericht 1999, dann wirddies an vielen Beispielen deutlich: Während 1998 Rüs-tungsgüter im Wert von 1,34 Milliarden DM exportiertwurden, waren es 1999 effektiv 2,84 Milliarden DM.
Das ist ein Anstieg von 117 Prozent.Außerhalb der NATO und der EU lag Israel mit940 Millionen DM an der Spitze. Das Geld wurdehauptsächlich für U-Boote ausgegeben, für die sich Israelanlässlich des kürzlichen Kanzlerbesuchs herzlich be-dankte. Welchen Einfluss dieses Geschäft auf die ange-spannte Lage im Nahen Osten hat, zeigt die Empörung inden arabischen Staaten.Alarmierend ist, dass Kleinwaffen und Munition inzum Teil großer Menge an Staaten geliefert wurden, in de-nen massive Menschenrechtsverletzungen nachgewie-sen wurden, zum Beispiel an Ägypten, Georgien, Indien,Indonesien, Iran, Kroatien, Südkorea, Mazedonien,Nepal, die Philippinen, Sambia und Senegal. Missachtetwurden sogar die Embargos bezüglich der Bundesre-publik Jugoslawien, Äthiopien, Kroatien, Bosnien-Herze-gowina und – last, not least – Sierra Leone.Von den 1999 weltweit mindestens 100 000 in bewaff-neten Konflikten getöteten Menschen starben nach Anga-ben des Instituts für Strategische Studien 60 000 allein inBürgerkriegen südlich der Sahara. In drei Vierteln derschwarzafrikanischen Länder wurden seit vergangenemOktober bewaffnete Konflikte ausgetragen, ein Großteilmit deutschen Waffen.Nicht erwähnt wird im Bericht die Ausfuhr von Elek-troschockwaffen, einen beliebten Folterwerkzeug, odervon Fesselwerkzeugen. Ebenso fehlen wichtige Bereichewie die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, derTransfer von Know-how, die Lizenzvergabepraxis in der
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2) Anlage 7Rüstungskooperation und Exporte von zur militärischenNutzung geeigneten Dual-Use-Gütern.In vielen Fällen fehlen Angaben zur Art der Rüstungs-güter, sodass man nur spekulieren kann, was im Wert von13,2 Millionen DM nach Liechtenstein exportiert wurdeund wie der Endverbleib geregelt ist. Erwähnt werdenauch nicht die liefernden Firmen und die konkreten Emp-fänger, da die Geheimhaltungspflicht für Rüstungsge-schäfte natürlich wichtiger ist als Transparenz. Dieses be-weist die Schieflage bei der Abwägung der Rechtsgüterund macht deutlich, dass der Regierung Profit und Privat-eigentum wichtiger sind als Menschenrechte und Men-schenleben – im Zweifelsfall zugunsten der Wirtschaft.
Ein aktiver Beitrag zum präventiven Schutz der Men-schenrechte und zur Konfliktvermeidung wäre ein konse-quentes Rüstungsexportverbot. Wir wissen, dass diesesbei einem großen Teil des Hauses politisch nichtdurchsetzungsfähig ist. Doch wir hoffen, dass Sie wenigs-tens unseren Antrag zu mehr Transparenz und parlamen-tarischer Kontrolle bei Rüstungsexporten unterstützenwerden.
Eine Mitberatung in den Ausschüssen ist zwar keineGarantie dafür, dass künftig auch nur eine Waffe wenigergeliefert wird. Doch es kann dann keiner mehr behaupten,er habe von nichts gewusst.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht der Kollege Hildebrecht Braun.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DieseBundesregierung und insbesondere ihr grüner Teilhaberverstricken sich immer mehr in Widersprüche.
Einerseits genehmigen sie die Lieferung einer Munitions-fabrik, andererseits wollen sie den Bau von Leopard-Pan-zern vor Ort verhindern. Nüchterne Beobachter der Szeneverstehen diesen Eiertanz nicht, was auch kein Wunderist, da die Akteure ihr eigenes Handeln selbst nicht ver-stehen.Mit Munition für Kleinwaffen kann man die Opposi-tion im eigenen Land, insbesondere ethnische Minderhei-ten, in der Tat niederhalten. Dies zu verhindern ist einesder selbstverständlichsten Ziele der BundesrepublikDeutschland, deren Politik auf die Wahrung der Men-schenrechte in Europa und überall ausgerichtet ist.Lassen Sie mich eines in aller Klarheit sagen: DieF.D.P. bleibt bei ihrer Grundhaltung, große Zurückhal-tung bei Waffenexporten zu üben.
Wir alle wissen, dass mit Waffenlieferungen Kriege ofterst ermöglicht oder verlängert werden. Die F.D.P. istauch weit davon entfernt, die Frage der Waffenexporteprimär unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsplätze im ei-genen Land zu sehen.
Diese stellen nur ein Argument unter mehreren dar, wobeiandere Argumente sehr wohl stärkeres Gewicht habenkönnen. So würden wir nie Minen produzieren wollen,mit denen in anderen Ländern unendliches Elend ange-richtet wird.Nun aber zum Thema Leopard und Türkei. Wir plä-dieren für den Export dieser Panzer in die Türkei bzw. fürdie Zustimmung zur Errichtung eines Leopard-Werkes inder Türkei. Die Gründe:Erstens. Mit dem Leo 2 werden Leoparden der erstenGeneration ersetzt, die wir bereits vor zehn Jahren dorthinexportiert haben.Zweitens. Wenn wir den Leoparden nicht liefern, dannwerden mit großer Freude die Franzosen, die Amerikaner,die Ukrainer, die Kanadier oder wer auch immer liefern.Drittens. Die Türkei soll im internationalen Rahmengestärkt werden, da sie in ihrer Region eine wichtige po-sitive Rolle spielt. Sie kooperiert mit Israel und sorgt da-mit dafür, dass arabische Hardliner in der Region denFriedensprozess nur in geringerem Umfange stören kön-nen.
Viel wichtiger erscheint uns aber, dass die Türkei bei al-len Mängeln, die wir sehr wohl sehen, als ein laizistischerStaat den Fundamentalisten des Irak und des Iran, aberauch den Traditionalisten in Syrien ein Gesellschaftsmo-dell entgegenstellt.
Entscheidend ist für uns die neue geopolitische Lage,die sich durch eine erhebliche Zahl von jungen Staaten imsüdlichen Bereich der ehemaligen Sowjetunion auszeich-net, deren Bevölkerung ganz oder teilweise islamischenGlaubensrichtungen angehört und die zum Teil auch eineethnische Nähe zur Türkei haben. Diese jungen Staatensuchen Orientierung, suchen die Möglichkeit einer An-lehnung. Natürlich kommt das im Norden gelegene Russ-land nach den Erfahrungen der vergangenen 80 Jahre hier-für nicht infrage. Als Alternativen bleiben der Iran,eventuell Afghanistan und eben die Türkei.Wir Deutschen, wir Europäer müssen ein großes Inte-resse daran haben, dass diese jungen Staaten enge Bezie-hungen zur Türkei aufnehmen, die damit in ihrer Region– und zwar weit in den asiatischen Bereich hinein – einevöllig neue strategische Rolle übernehmen kann und soll.Auch deshalb müssen wir die Türkei stark machen.
Rot-Grün fordert die Aufnahme der Türkei in die Eu-ropäische Union, die auch wir Liberalen langfristig für
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Heidi Lippmann12901
richtig halten. Es ist aber geradezu abenteuerlich, diesemStaat eine nahe Zukunft in der EU zu signalisieren undgleichzeitig die innerhalb der NATO selbstverständlicheLieferung von Waffensystemen blockieren zu wollen.
Die Türkei ist seit Jahrzehnten ein verlässlicher Partnerin der NATO, der seine Aufgabe an den Dardanellen, aberauch gegenüber den östlich angrenzenden Ländern immerwahrgenommen hat. Wer die Türkei in der von Rot-Grünbeabsichtigten Weise brüskiert, schadet den deutschenund den europäischen Interessen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/4349 und 14/4179 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag derFraktion der PDS mit dem Titel „Keine Lieferung vonPanzern und anderen Rüstungsgütern und Lizenzen an dieTürkei“, Drucksache 14/4487. Der Ausschuss empfiehlt,den Antrag auf Drucksache 14/3004 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen dieStimmen der PDS-Fraktion angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 a und 18 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Son-
– Drucksache 14/4299 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten RolfKutzmutz, Dr.Christa Luft, Ursula Lötzer, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDSERP-Sondervermögen für Mittelstandsförde-rung erhöhen– Drucksache 14/4556 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung war für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen.Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Dagmar Wöhrl, Hans-Josef Fell, Gudrun Koppund Rolf Kutzmutz sowie der Parlamentarische Staatsse-kretär Siegmar Mosdorf haben ihre Reden zu Protokollgegeben.1). – Auch hier sehe ich Einverständnis im ge-samten Haus.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/4299 und 14/4556 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –Hier gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Martin Mayer , BerndNeumann , Sylvia Bonitz, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSUSachgerechter Schutz der Rechte für Software– Drucksache 14/4384 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen.Die Kolleginnen und Kollegen Hubertus Heil, DirkManzewski, Margareta Wolf und Angela Marquardt so-wie der Parlamentarische Staatssekretär ProfessorDr. Eckhart Pick haben ihre Reden bereits zu Protokoll ge-geben2).Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für dieCDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Martin Mayer.Dr. Martin Mayer (CDU/CSU) (vonder CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Anlass für den Antrag und dieheutige Debatte ist die Diplomatische Konferenz zurRevision des Europäischen Patentübereinkommens, dievom 20. bis 29. November dieses Jahres in Münchenstattfindet. Dabei ist vorgesehen, Programme für Daten-verarbeitungsanlagen, also Software, aus der Ausnahme-vorschrift Art. 52 Abs. 2 des Europäischen Patentüber-einkommens zu streichen und damit die Tür für weitereMöglichkeiten der Patentierung von Software aufzu-machen.In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der F.D.P. be-hauptet die Bundesregierung zwar, dass diese Streichungdie gegenwärtige Rechtspraxis eigentlich gar nichtberühre, weil auch die bisherige Regelung die Patentie-rung von Software nicht ausschließe. Diese Meinung teileich nicht; denn die Streichung der Software aus der Aus-nahmevorschrift könnte sehr wohl ein Signal für die Ge-richte sein. Als Folge könnte eine unabsehbare Auswei-tung der Patentierungsmöglichkeiten bei Softwareeintreten. Eine zentrale Frage für die Zukunft der Infor-mationsgesellschaft kann aber nicht durch Richterrechtentschieden werden. Hier muss der Gesetzgeber tätig wer-den.
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Hildebrecht Braun
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1) Anlage 82) Anlage 9Software im weiteren Sinne ist nach der Lexikondefi-nition der nicht gerätemäßige Teil einer Datenverarbei-tungsanlage wie Programme und Daten. Im engeren Sinnewerden darunter allerdings nur die Programme verstan-den. Der Antrag und meine Rede beziehen sich aus-schließlich auf die Programme. Dabei ist mir bewusst,dass es bei den Daten, also den Inhalten, beim Schutz derRechte gegenwärtig noch größere Herausforderungengibt als bei der Programmsoftware, um die es heute geht.Unsere Fraktion hatte dazu heute eine Anhörung.Computersoftware bestimmt den technischen Fort-schritt in unserer Informationsgesellschaft maßgeblichmit. Sie begegnet uns im Alltag oft unmerklich auf Schrittund Tritt: vom Computer und vom Telefon bis hin zumAuto und zur Waschmaschine. Ein Ende dieser Entwick-lung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Software dringtmehr und mehr in Produktionsprozesse, Dienstleistungenund Konsumgüter ein.Dieser technische Fortschritt ist natürlich nicht um-sonst zu haben. Der Aufwand der Softwareentwicklungwird nur dann betrieben, wenn er sich für den Entwicklerund die Firma lohnt. Dass er sich lohnt, wird im Allge-meinen durch Schutzrechte gesichert. Für mich lautet da-her nicht die Frage, ob Software geschützt werden muss;diese Frage wird fast jeder mit Ja beantworten. Die Frageist vielmehr, mit welchem Rechtsinstrument Software an-gemessen geschützt werden kann.Heute unterliegt Software automatisch dem Urheber-schutz. Zum Teil ist bestimmte Software auch patentier-bar. Das Urheberrecht, das ursprünglich zum Schutz vonschriftstellerischen und künstlerischen Werken geschaf-fen wurde, schützt allerdings nicht die Idee, die hinter ei-ner bestimmten Software steckt, sondern nur den Wortlautdes jeweiligen Programms. Es schützt damit nicht vor derVerwendung gleicher Befehlsformen durch andere, soferndiese keine Kopie sind. Das ist ähnlich wie bei schrift-stellerischen Werken. Das Urheberrecht schützt den Soft-wareentwickler damit nur unzureichend.Auf der anderen Seite steht der Patentschutz, der un-ter bestimmten Voraussetzungen auch in Deutschland beiSoftwareprogrammen Anwendung findet. Programmemüssen, um patentierbar zu sein, den generellen Anforde-rungen eines Patentschutzes genügen; das heißt, die Tech-nizität und die Erfindungshöhe müssen erfüllt sein.Der Patentschutz billigt dem Erfinder ein Ausschlie-ßungsrecht zu. Dadurch, dass kein anderer seine Erfin-dung, das heißt sein Programm, benutzen darf und auchkeine ähnlichen Produkte zugelassen werden, würde dertechnische Fortschritt, so befürchten die Kritiker, nichtgefördert, sondern gehemmt.In den USA kann Software auch dann patentiert wer-den, wenn ihr lediglich ein Algorithmus, das heißt eineRechenregel, oder eine Geschäftsidee zugrunde liegt. DieRegelung in den USA birgt die Gefahr in sich, dass einfa-che Befehlsfolgen, sofern sie die übrigen Bedingungen er-füllen, patentiert werden können.Für Einzelprogrammierer und Kleinbetriebe wird esdann immer schwieriger, bei allen verwendeten Pro-grammbausteinen zu überprüfen, ob sie bereits dem Pa-tentschutz unterliegen. Deshalb wird nicht zu Unrecht be-fürchtet, dass die Ausweitung der Möglichkeiten des Pa-tentschutzes auf alle Softwareprodukte zu einem Erliegender Arbeit freier Programmierer führt und Softwareher-stellung nur noch in großen Weltunternehmen mit ent-sprechenden Rechtsabteilungen möglich ist.
Der größte Widerstand gegen eine Ausweitung derMöglichkeiten der Patentierung von Software kommt ge-genwärtig von der Open-Source-Bewegung. Die Open-Source-Bewegung ist ein Netzwerk von Softwarepro-grammierern, die den Quellcode ihrer Programme fürandere offen legen und kostenlos ins Netz stellen.Für die Weiterentwicklung ist dann Bedingung, dassauch die Neuentwicklung mit offenem Quellcode undkostenlos ins Netz gestellt wird. Jeder kann so die ent-wickelte Software kostenlos aus dem Netz beziehen. DieEntlohnung der Softwareentwickler soll dann nicht durchden Verkauf der Programme, sondern durch die Anpas-sung der Software an den konkreten Bedarf von Nutzernerzielt werden.Das Geschäftsmodell von Open-Source-Softwareträgt zum Teil sozial-romantische Züge. Ob und in wel-cher Form es sich durchsetzt, wird die Zukunft zeigen.Tatsache ist aber, dass aufgrund dieses Konzepts derfreien Verfügbarkeit des Programmtextes besonders inDeutschland eine innovative Softwareindustrie entstehenkonnte. Auf dem bislang von Microsoft dominierten Feldder Betriebssysteme hat Linux als Open-Source-Betriebs-system eine echte Alternative gebracht. Die Bundesre-gierung muss daher dafür Sorge tragen, dass die Open-Source-Bewegung nicht durch eine Ausweitung derPatentierbarkeit von Software behindert oder gar abge-würgt wird.
Das gilt auch auf EU-Ebene, wo gegenwärtig an einemVorschlag für eine Richtlinie zur Softwarepatentierunggearbeitet wird.Die Frage, wie Rechte von Softwareentwicklern ge-schützt werden, ist kein Randthema, sondern eine zentraleFrage im Informationszeitalter. Es geht letztlich um denLohn für die Arbeit von Softwareprogrammierern und dasEigentum an Programmen. Eigentum wird vom Grund-gesetz ausdrücklich geschützt. Eigentum verpflichtet aberauch: „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der All-gemeinheit dienen.“ Der Schutz der Rechte für Softwaremuss deshalb so gestaltet sein, dass die Softwareentwick-ler einerseits die Früchte ihrer Arbeit ernten können, aberandererseits das Ergebnis ihrer Arbeit auch dem Wohl derAllgemeinheit dient. Der Rechtsschutz für Software darfdeshalb den Fortschritt nicht behindern, sondern muss ihnfördern.
Er darf auch nicht zur ungerechtfertigten Behinderungvon einzelnen Softwareentwicklern und kleinen Unter-nehmen führen.
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Dr. Martin Mayer
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Die Tatsache, dass sich Linux in Europa und nicht etwain den USA entwickelt hat, kann als Beweis dafür gewer-tet werden, dass das Ausmaß der Möglichkeit, Softwarezu patentieren, einen beachtlichen Einfluss auf die Ent-wicklung von Software in einem Land hat. Aus dieser Er-fahrung lässt sich auch der Schluss ziehen, dass ein opti-maler Softwareschutz noch günstigere Bedingungen fürWettbewerb und Fortschritt schaffen würde. Ob eine bes-sere Anpassung des Schutzes von Software an die Erfor-dernisse von Eigentumsschutz und Fortschrittsförderungim Patentrecht, im Urheberrecht oder in einer eigenen Ka-tegorie erfolgen kann, muss noch diskutiert werden. Beidieser Diskussion müssen Gegenstand, Umfang und Artdes Schutzes ebenso auf den Prüfstand wie die Laufzei-ten, die viel zu lang erscheinen. Bei Patenten betragen sie20 Jahre. Das Urheberrecht hat bis 70 Jahre nach dem Toddes Urhebers Geltung.In Ihrer Antwort auf die bereits zitierte Anfrage derF.D.P. sagt die Bundesregierung zu einem Begehren aufÄnderung der Laufzeit von Patenten, das sei nicht mög-lich, weil im WTO-Übereinkommen über handelsbezo-gene Aspekte geistigen Eigentums, WTO-TRIPS-Über-einkommen, 20 Jahre festgelegt seien.Wer so argumentiert, der hat schon verloren; der hatschon aufgegeben, bevor das Spiel beginnt. Er ignoriertvor allem, dass es auch in anderen Ländern, vor allem inden USA, eine Diskussion darüber gibt, für welche Artvon Software die Patentierung als Schutz der Eigen-tumsrechte geeignet ist. Ich nenne hier Robert Young vonRed Hat – er spricht in gewisser Weise in eigener Sache –,aber auch Nicolas Negroponte vom MIT, die beide einesehr kritische Haltung zur gegenwärtigen Ausgestaltungder Schutzrechte für Software in den USA einnehmen.Wenn es uns also wirklich darum geht, welche Rechtenun für einen speziell auf die Software zugeschnittenenSchutz am besten geeignet sind, dann muss eine Grund-satzdebatte geführt werden. Ein erster Schritt dazu wäreeine Vorlage der Bundesregierung, in der die Grundlagendargelegt werden, wie es in dem Antrag gefordert wird.Dann muss ein intensiver internationaler Dialog zwischenden Fachleuten und den Politikern geführt werden.Eine grundlegende Frage wie die Grenze zwischen Ei-gentumsrechten und Sozialpflichtigkeit des entscheiden-den Produktionsfaktors im Informationszeitalter kannnicht durch einsame Entscheidungen eines Richters be-antwortet werden. Sie muss vielmehr zuerst in einer brei-ten Öffentlichkeit diskutiert werden. Deshalb habe ichheute einmal eine Rede zu diesem Thema im DeutschenBundestag gehalten; denn es ist besser, zu später Stundeüber dieses Thema zu reden, als gar nicht.
Die Frage muss in einer breiten Öffentlichkeit diskutiertund dann von den gewählten Parlamentariern entschiedenwerden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Rainer Funke.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Nach der Grundsatzrede von HerrnDr. Mayer kann ich mich relativ kurz fassen. Der Antragder CDU/CSU zum sachgerechten Schutz der Rechte fürSoftware mag auf den ersten Blick ganz überzeugendklingen. Als ich ihn das erste Mal gelesen habe, fand ichihn recht eingängig.Ich muss jedoch sagen, dass dieser Antrag in den Aus-schussberatungen noch einmal sehr gründlich überarbei-tet werden muss;
denn in der Zielrichtung, Softwareprogramme, insbeson-dere aus dem mittelständischen Bereich, besser als bisherzu schützen, sind wir uns sicherlich einig. Aber diese Pro-bleme sind – das haben Sie deutlich gemacht – nationalnicht lösbar.Wir haben heute ein so genanntes gespaltenes Schutz-rechtssystem: Wir haben zunächst für die technischenProgramme den Patentschutz und für den eigentlichenSoftwarebereich den Urheberrechtsschutz. Es klingt si-cherlich gut, de lege lata einen wirksamen immateriell-güterrechtlichen Schutz von Computerprogrammen durchdie Schaffung eines dritten Rechtsschutzbereichs zu ge-währleisten.Dem stehen aber die gesamten internationalen Über-einkommen entgegen; denn diese sehen einen solchendritten Rechtsschutzbereich nicht vor. Wir müssen alsoversuchen, uns in diesem internationalen Schutzbereichzu bewegen. Hierbei müssen wir sehen, dass der regulä-re Urheberrechtsschutz von Computerprogrammen inArt. 10 des TRIPS-Abkommens und in der EG-Soft-warerichtlinie geregelt ist. Der ergänzende Patentschutztechnischer Programme ergibt sich aus Art. 52 Abs. 2 cdes Europäischen Patentübereinkommens – Sie haben eszitiert – und mittelbar auch aus Art. 27 Abs. 1 des TRIPS-Abkommens.Was ich juristisch etwas trocken ausdrücken wollte,war: Wir müssen international miteinander verhandeln.Wir müssen die Beispiele aus den USA, die Sie eben ge-nannt haben, betrachten. Wir müssen die Schlussfolge-rungen aus internationalen Übereinkommen finden. Dasist völlig richtig. Man kann sicherlich auch über die Fragesprechen, ob nun 20 Jahre oder eine kürzere Zeit ange-messen sind. Aber wir müssen uns, wenigstens noch zur-zeit, im internationalen Bereich so bewegen, wie wir dieAbkommen auch in diesem Hause mit beschlossen haben.
Wir teilen mit Ihnen die Auffassung, dass der Schutzder Rechte von Programmierern und Unternehmen so ge-staltet sein muss, dass diese die Früchte ihrer Arbeit auchernten können, und dass die mittelständischen Unterneh-men auf diesem Gebiet nicht durch große Konzerne ge-fährdet werden dürfen.
Deswegen hat die F.D.P. – bereits einen Monat vor Ih-rer Aktivität – einen entsprechenden Antrag in Form einer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Dr. Martin Mayer
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Kleinen Anfrage eingebracht. Diese ist von der Bundes-regierung, wie ich meine, richtig beantwortet worden. Wirwerden jetzt anhand der Antwort auf unsere Kleine An-frage sowie aufgrund Ihres Antrages im Bundestag undnatürlich anschließend im Rechtsausschuss mit Ihnenhierüber beraten.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage
auf Drucksache 14/4384 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Kultur und Medien sowie zur Mitbera-
tung an den Rechtsausschuss, den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für die Ange-
legenheiten der Europäischen Union und den Haushalts-
ausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
20a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Meckel, Uta Zapf, Peter Zumkley, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeord-
neten Friedrich Merz, Michael Glos und der Frak-
tion der CDU/CSU, der Abgeordneten Angelika
Beer, Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
der Abgeordneten Dirk Niebel, Günther Friedrich
Nolting, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion
der F.D.P.
46. Plenartagung der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO vom
17. bis 21. November 2000 in Berlin
– Drucksache 14/4601 –
Beschlussfassung
b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Europäische Sicherheit und NATO
– Drucksache 14/4598 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
Die Kolleginnen und Kollegen Angelika Beer, Ulrich
Irmer und Wolfgang Gehrcke haben ihre Reden bereits zu
Protokoll gegeben1).
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD-
Fraktion hat der Kollege Markus Meckel.
Verehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde wol-len wir uns im Bundestag daran erinnern, dass ab morgendie Parlamentarische Versammlung der NATO hier inBerlin tagt. Es ist das zweite Mal nach dem Jahr 1990,nach einer völlig veränderten Situation in Europa. Dieshaben wir zum Anlass genommen, parteiübergreifend ei-nen Antrag einzubringen, der uns heute vorliegt und denwir diskutieren wollen.Ich möchte nun nicht die verschiedenen Aussagen die-ses Antrages, die ja grundsätzlichen Charakter haben, imEinzelnen diskutieren. Ich möchte aber doch daran erin-nern, dass die Parlamentarische Versammlung der NATOein ganz wesentliches Forum ist, schon aufgrund der Tat-sache, dass sie unmittelbar nach 1990 Parlamentarier derStaaten Ost- und Mitteleuropas als assoziierte Mitgliederund Beobachter aufgenommen hat.Seit zehn Jahren wird in der Versammlung eine ge-samteuropäische und gleichzeitig transatlantische Dis-kussion geführt. Das Forum war deshalb ungeheuer wich-tig, weil es durch diese unmittelbaren Kontakte vonParlamentariern aus ganz Europa, nicht nur der NATO-Staaten, sondern auch der anderen Staaten des früherenOstblocks, möglich war, Fragen der Sicherheit zu disku-tieren und zu oft ähnlichen Positionen – bei gewiss auchunterschiedlichen Vorstellungen – nach und nach zu ähn-lichen Positionen zu kommen. Wir haben wesentlicheFragen diskutiert, die für unsere europäische Sicherheiteine wichtige Rolle spielen. Wir werden dies auch bei derVersammlung in Berlin tun.Wir haben zum Beispiel verschiedene Berichte überdie europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik,über die wir miteinander reden wollen und müssen. Wirkönnen feststellen, dass wir da in den letzten anderthalbJahren unglaublich vorangekommen sind. Niemand hättevor fünf Jahren geglaubt, dass das so schnell möglich ge-wesen wäre. Das ist natürlich auch eine Folge des Einsat-zes der NATO im Kosovo und der Erfahrung, dass wir Eu-ropäer dabei nicht so wahnsinnig gut ausgesehen haben –sowohl in Bezug auf die Art und die Dimension unsererBeteiligung als auch in Bezug auf die Entscheidung überdie Art der Luftangriffe, bei der man durchaus mancheFrage stellen konnte.Hier werden wir wesentlich vorankommen. Es ist deut-lich geworden, dass sich allein im Laufe dieses Jahresmanche – auch manche skeptische – Position der Ameri-kaner verändert hat. Heute gibt es in Amerika mehr Ak-zeptanz in diesem Bereich. Auch gibt es eine klarere Ab-stimmung zwischen den europäischen Initiativen, derNATO und den europäischen Nicht-EU- bzw. -NATO-Staaten. Das heißt: Hier ist in den letzten zwölf Monateneine ganze Menge Arbeit geleistet worden.Eine andere wesentliche Frage, mit der wir uns be-schäftigen werden, sind die amerikanischen Pläne für einenationale Raketenverteidigung. Wir wissen, dass esdazu noch großen Diskussionsbedarf gibt und dass sichdie USA wegen technischer Probleme eine endgültigeEntscheidung vorbehalten haben. In Bezug auf konkreteAkzentuierungen wird einiges davon abhängen, welcherder beiden Präsidentschaftskandidaten ein paar HundertStimmen mehr hat und Präsident wird. Der Trend in Ame-rika geht aber klar dahin, dieses Projekt umzusetzen. Indiesem Zusammenhang wird noch über einiges zu disku-tieren sein.Für uns ist wichtig – dies ist sowohl in Berichten alsauch in Resolutionsentwürfen enthalten –, über dieses
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. November 2000
Rainer Funke12905
1) Anlage 10Problem gemeinsam in der NATO zu diskutieren und unsüber die Konsequenzen hinsichtlich der Proliferation vonMassenvernichtungsmitteln Gedanken machen. Wirmüssen fragen, welche Gefahren mit einem Wettrüstenverbunden sind. In diesem Zusammenhang stehen nichtnur das Verhältnis zu Russland sowie der Bestand desABM-Vertrages zur Debatte, sondern auch die Frage, wieStaaten wie etwa Indien oder China auf ein solches Wett-rüsten reagieren. In diesem Zusammenhang bestehtdurchaus die Gefahr einer Aufrüstung. Die Frage, was unswirklich sicherer macht, ist ein zentrales Problemfeld. DieEuropäer haben sehr viel Zurückhaltung und Skepsis ge-gen diese Pläne zum Ausdruck gebracht, aber bisher nochkeine wirklich abgestimmten Positionen eingenommen.An der geplanten Parlamentarischen Versammlung derNATO wird auch eine Delegation der Duma teilnehmen.Ich denke, das ist ein ganz wesentlicher Aspekt. NachdemVertreter der Duma nach dem Kosovo-Krieg nicht an sol-chen Versammlungen teilgenommen haben, wird dieDuma nun das erste Mal wieder eine Delegation schicken.In der Zwischenzeit war eine Delegation des Föderations-rates anwesend, sodass der Dialog zwischen der NATOund Russland auch in dieser Zeit fortgeführt worden ist.Es ist aber wichtig, dass wir mit den Parlamentariern derDuma die Diskussion weiterführen, und zwar durchausauch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Perspekti-ven. Denn es ist immer gut, durch gemeinsame GesprächeSicherheit zu schaffen; denn eines wissen wir alle: OhneRussland wird es eine europäische Sicherheit von dauer-haftem Bestand nicht geben.Obwohl es heute noch kein aktuelles Thema ist, wirdnach dem Abschluss der amerikanischen Präsident-schaftswahl unter dem neuen Präsidenten die Frage derÖffnung der NATOwieder auf dem Prüfstand stehen. Esgibt eine Vereinbarung, bis zum Jahre 2002 zu neuen Ent-scheidungen zu kommen. Die Versammlung der Parla-mentarier der NATO war im nordatlantischen Dialog dasGremium, das sich auch in den vergangenen Jahrenintensiv für eine Öffnung der NATO eingesetzt hat; wirhaben heute drei neue Mitglieder. Die Parlamen-tarierversammlung setzt sich dafür ein, den Prozess derÖffnung fortzusetzen. Ich glaube, das ist richtig und an-gemessen, weil sowohl die Fortsetzung der Bemühungenum Öffnung als auch die Kooperation mit Russland zuden Säulen einer künftigen europäischen Sicherheitgehören.Ich will als Letztes kurz das Problem eines gemeinsa-men Engagements in Bosnien und im Kosovo anspre-chen. Für das Kosovo ist das ganz aktuell: Wir haben nachdem Sturz Milosevics in Serbien einen wesentlichen Er-folg erreicht. Unter der Bezeichnung „wir“ verstehe ichnatürlich zuallererst die Serben, das heißt die Demokratenin Serbien und das serbische Volk. Ich denke, für uns alsEuropäer in einer euro-atlantischen Allianz entsteht da-durch ein Vorteil. Denn das letzte Bollwerk einer Diktaturim Zentrum Europas ist überwunden worden.Aber unsere Aufgaben bleiben natürlich weiterhingroß. Es sind nicht nur Aufgaben, die die NATO zu be-wältigen hat. Gerade ein Fortschritt in der zivilen Ent-wicklung dieser Region ist von besonderer Bedeutung.Aber eines ist auch klar: Ohne eine Präsenz der NATOwird der Prozess einer zivilen Entwicklung nicht voran-kommen. Wir sollten uns dessen bewusst sein und deut-lich feststellen, dass im Kosovo eine langfristige NATO-Präsenz nötig sein wird, um dort eine friedlicheEntwicklung gewährleisten zu können. Wir sollten in allerDeutlichkeit sagen – wir sind froh, dass eine große ame-rikanische Delegation an der Versammlung teilnehmenwird –, dass wir künftig im Kosovo auch die amerikani-sche Präsenz brauchen. Wir sollten uns gemeinsam ver-pflichten, diesen Friedensprozess durch die Präsenz derNATO und der KFOR abzusichern.Ich möchte meine Rede schließen, indem ich die Hoff-nung äußere, dass wir gerade in der Form der Kommuni-kation, wie sie in der Versammlung stattfindet, sehr deut-lich machen, dass Sicherheit nicht mehr national zugewährleisten ist, sondern nur noch in Absprachen zwi-schen der Allianz, mit einer weiteren Integration und ei-ner verbindlichen Kooperation mit den Staaten Osteuro-pas, mit Russland und mit der Ukraine. Dafür sindGrundlagen geschaffen und dies gilt es zu implementie-ren. Wir müssen weiterhin miteinander reden und streiten,weil dies die Grundlage für Sicherheit in Europa ist, diewir miteinander verbindlich gewährleisten müssen.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte und am heutigen Tag ist der Kollege Karl
Lamers für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Kollege Markus Meckel hat Recht,wenn er sagt, dass die NATO als Lichtgestalt sicherlichauch das Licht einer Tagesdiskussion verdient hätte, ins-besondere im Hinblick auf die Parlamentarische Ver-sammlung, die morgen hier in Berlin stattfindet. Aber ichglaube, die NATO überstrahlt auch so das Dunkel dieserNacht.
Die Parlamentarische Versammlung der NATO, dasNATO-Parlament, wird am kommenden Wochenendehier in der deutschen Hauptstadt Berlin ihre 46. Plenarta-gung abhalten. Dies geschieht zehn Jahre nach der Wie-dervereinigung Deutschlands.Zehn Jahre sind auch vergangen, seit die NATO-Part-ner auf dem Londoner Gipfel im Juli 1990 den ehemali-gen Gegnern des Warschauer Paktes die ausgestreckteHand der Freundschaft anboten. Zehn Jahre ist es auchher, dass dem vereinigten Deutschland in den so genann-ten Zwei-plus-vier-Verhandlungen das Recht zugestan-den wurde, seine Bündniszugehörigkeit frei zu bestim-men. Neun Jahre sind vergangen, seit die NATO 1991 denNordatlantischen Kooperationsrat gründete und die ehe-maligen Warschauer-Pakt-Staaten sowie die Nachfolge-staaten der Sowjetunion als Kooperationspartner auf-nahm.
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Markus Meckel12906
Die Kooperation der NATO im Nordatlantischen Ko-operationsrat, im Programm „Partnership for Peace“, imNATO-Russland-Rat und in der NATO-Ukraine-Kom-mission ist seither zentraler Punkt der Außenpolitik derBündnispartner. Heute, zehn Jahre nach dem Beginn die-ser Politik, können wir sagen, dass die Gräben der Kon-frontation, die in 40 Jahren Kalten Krieges entstanden wa-ren, eingeebnet wurden. Europa ist heute – zum Glück –weitgehend frei von den alten Klischees des Freund-Feind-Denkens.
Die 1990 und 1991 oft gehörte Meinung, nicht nur derWarschauer Pakt, sondern auch die NATO müsse aufge-löst werden,
wird heute nurmehr noch von den Unbelehrbaren der PDSvertreten und artikuliert.
– Ich freue mich, wie lebendig Sie noch zu dieser spätenStunde sind. Großartig! – Die Geschichte ist zum Glückdarüber hinweg gegangen. Denn die NATO hat gezeigt,dass sie mit ihrer Stabilitätspolitik und dem von ihr gesi-cherten Stabilitätsraum unverzichtbar für den Weltfriedenist.
Ja, viele Länder möchten nach wie vor möglichst schnellunter den Schutzschirm der NATO kommen und ichmeine, sie alle haben einen guten Grund. Sie haben auchnichts gegen den Stabilitätsexport. Denn das ist es, wasviele Länder seit 1990 wollen: innere und äußere Stabi-lität, um in Frieden und Freiheit leben zu können.
Auf zwei weitere Entwicklungen seit 1990/91 möchteich hinweisen:Erstens. Die NATO nahm auf ihrem Jubiläumsgipfel inWashington im Jahre 1999 die am weitesten fortgeschrit-tenen Reformstaaten des ehemaligen Ostblocks alsgleichberechtigte Mitglieder auf: Polen, die TschechischeRepublik und Ungarn. Gleichzeitig beschloss sie, dass dieTür für weitere Mitglieder offen bleiben soll und muss.Zweitens. Die NATO griff im Auftrag der VereintenNationen zweimal auf dem Balkan ein: zum einen in dielaufenden Bürgerkriegsauseinandersetzungen in Bos-nien-Herzegowina und zum anderen im Kosovo, um dieethnischen Auseinandersetzungen zwischen den Volks-gruppen zu beenden sowie Frieden und Wiederaufbauvoranzubringen. Dies sind die ersten Out-of-area-Ein-sätze des Bündnisses gewesen.Die SED-Nachfolgepartei PDS behauptet in ihrem An-trag,
dies sei „militärisch gestützte Machtpolitik“ gewesen.
Meine Kolleginnen Renate Diemers und Ursula Lietz hat-ten durchaus Recht, als sie vorhin in der Diskussion sag-ten, sie seien über eine solche Äußerung empört.
Ich muss sagen: Das, was hier betrieben wird, ist geradezuGeschichtsfälschung; denn die NATO musste handeln,nachdem sich die UNO im Weltsicherheitsrat trotz massivs-ter Menschenrechtsverletzungen selbst blockierte. Wäreman der Linie der PDS-Altkommunisten gefolgt,
dann hätte man dem Völkermord der Serben tatenlos zu-sehen und auf ein Eingreifen der OSZE warten müssen.Wir alle wissen, das wäre das Todesurteil für weitere Hun-derttausende Menschen auf dem Balkan gewesen; denndie serbische Diktatur war weder durch Gebete – mit de-nen haben Sie es sowieso nicht so – noch durch guteWorte zu beschwichtigen.
– Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen, wennich hier die Fakten aufzähle. –
Die OSZE ihrerseits war der konkreten Herausforderungin diesem Moment in keiner Weise gewachsen.Die OSZE ist zwar ein wichtiger Teil der europäischenSicherheitsarchitektur. Aber zu der Absicht, den Grund-satz „OSZE first“ baldmöglichst durchzusetzen, vielleichtauch noch auf Kosten der NATO – das ist eine Forderung,die auch in diesem Hause immer wieder erhoben wird –,möchte ich klar sagen: Für uns gilt ohne jede Einschrän-kung, dass die NATO zentrales Instrument der Sicher-heitsarchitektur in Europa ist und bleibt. Sie allein ist Ga-rant des Friedens.
Sie sorgt nicht nur mit Worten, sondern vor allem auch mitTaten für die Einhaltung der Menschenrechte.
– Das ist ein guter Begriff.
Die Parlamentarische Versammlung der NATO, früherNAV genannt, hat bei all diesen Epoche machenden Ent-wicklungen und Ereignissen, die ich angesprochen habe,wesentliche Schrittmacherdienste geleistet, ja, sogar eineVorreiterrolle gespielt. Ich denke an die parlamentarischeEinbindung der ehemaligen Ostblockländer. Wichtig istnicht nur, dass Beschlüsse auf Gipfelkonferenzen von Re-gierungen gefasst werden, sondern auch, dass wir uns aufparlamentarischer Ebene mit den Dingen befassen undüber sie diskutieren. Das NATO-Parlament ist so zu einemwichtigen Faktor für die Meinungsbildung im Bündnisgeworden und stellt das parlamentarische Gleichgewichtzu den Beschlüssen der Bündnisregierungen und Minis-terräte her. Trotzdem bleibt noch viel zu tun.
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Karl Lamers12907
Eine zentrale Herausforderung für das Bündnis undauch für die Parlamentarische Versammlung der NATO istdas Verhältnis zu Russland.
– Sehr richtig, das haben auch Sie begriffen. – Ohne einefunktionierende Zusammenarbeit mit Russland kann we-der die neue europäische Sicherheitsarchitektur noch dieFriedenssicherung in der Welt funktionieren. Das erfolg-reiche Eingreifen der NATO im Kosovo hat das Verhält-nis zu Russland belastet. Aber nachdem es einen Macht-wechsel in Russland gegeben hat und Vladimir PutinPräsident wurde, gibt es glücklicherweise Anzeichen füreinen Neustart in der Zusammenarbeit.Ein weiteres Feld ist das Verhältnis zwischen NATOund Europäischer Union. Die Entscheidungen für einegemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik,für eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Ver-teidigungspolitik, für eine Integration der WEU in die EUund für die Errichtung einer neuen Krisenreaktionsstreit-macht in Europa sind Meilensteine auf dem Weg, an des-sen Ende die Europäer einen größeren Beitrag zur Siche-rung des Friedens in der Welt als bisher übernehmenwerden.
Sowohl der NATO als auch der Europäischen Union istklar: NATO und europäische Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik sind kein Widerspruch. Sie sind zwei Seiteneiner Medaille. Die EU wird künftig mehr Verantwortungfür die Sicherheit in Europa übernehmen müssen. Wir er-warten insbesondere vom bevorstehenden Gipfeltreffenin Nizza weit reichende Entscheidungen zur gemeinsa-men Sicherheits- und Verteidigungspolitik.Das Thema „National Missile Defense“ – MarkusMeckel hat es angesprochen – hat in der Parlamentari-schen Versammlung der NATO zu einer intensiven Dis-kussion geführt. Wir werden auch am Wochenende da-rüber sprechen, um hier zu einem gemeinsamen Vorgehenzwischen unseren amerikanischen Freunden und den Eu-ropäern zu gelangen.Meine Damen und Herren, am Herzen liegt uns auchdie Fortführung des Stabilitätsexports der NATO, dasheißt die Fortsetzung der Politik der offenen Tür.
Über unser Verhältnis zu Russland habe ich bereits ge-sprochen. Zugleich geht es uns aber auch darum, nukleareAbrüstung zu forcieren und den Anti-Ballistic-Missile-Vertrag, obwohl dieser teilweise als überholt gelten muss,
auch für die Zukunft als rüstungskontrollpolitisches Ele-ment zu erhalten. Deswegen erscheint es uns notwendig,dass wir insbesondere mit den Russen ins Gespräch kom-men, um eventuell im Wege einer Modifizierung zum Er-halt des ABM-Vertrages beizutragen.
Meine Damen und Herren, schließlich fordern wir einegemeinsame Strategie der Allianz zur Eindämmung derProliferation von Massenvernichtungswaffen und der ent-sprechenden Trägertechnologie. Die ParlamentarischeVersammlung der NATO fordern wir auf, ihre vorandrän-gende Rolle bei der Öffnung des Bündnisses für weitereMitglieder auch weiterhin wahrzunehmen.Wir laden die russische Staatsduma ausdrücklich ein,an der Plenartagung der Parlamentarischen Versammlungder NATO teilzunehmen und die parlamentarische Dis-kussion über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Eu-ropa und in der Welt aufzunehmen, sich in diese Diskus-sion hineinzubegeben und so den Versuch zu machen, dasvon uns als richtig Erkannte mit zu verwirklichen, näm-lich einen gemeinsamen Weg zu finden. Frieden und Si-cherheit durch Kooperation sowie demokratische Stabi-lität in ganz Europa zu fördern ist und bleibt unser großesZiel.
Meine Fraktion ist bereit, die geeigneten Maßnahmenmitzutragen, die uns diesem Ziel gemeinsam näher brin-gen.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell ist vereinbart, dass die Anträge auf
Drucksachen 14/4601 und 14/4598, anders als in der Ta-
gesordnung vorgesehen, nicht überwiesen werden, son-
dern sofort zur Abstimmung gestellt werden. – Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung über den
Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. zur 46. Plenar-
tagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO in
Berlin. Wer stimmt für diesen Antrag auf Drucksa-
che 14/4601? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der PDS mit dem Titel „Europäische Sicherheit
und NATO“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksa-
che 14/4598? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ab-
gelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich bedanke
mich ausdrücklich bei allen Kolleginnen und Kollegen für
die Geduld und das Vermögen, hier bis zu dieser späten
Stunde auszuharren, und wünsche Ihnen allen eine gute
Nacht.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 17. November 2000,
9.00 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.