Gesamtes Protokol
Guten Tag, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta-
gesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zur Rückkehr zu den Grundsätzen
der Nettolohnanpassung im Jahr 2001
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dietmar Bartsch,
Petra Bläss, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS: Deutsche Beiträge zur Umsetzung der
Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen – Drucksa-
che 14/4525 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Für die verbundene Tagesordnung dieser Woche ist
außerdem vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt
11 – ERP-Wirtschaftsplangesetz –, den Tagesordnungs-
punkt 16 a und b – Gesetzentwurf zur Reform der Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Gesetzent-
wurf zur Neuordnung der Versorgungsabschläge –, den
Tagesordnungspunkt 21 a und b – das ist der berühmte
Agrardiesel – sowie den ohne Debatte vorgesehenen
Tagesordnungspunkt 28 c – 4. Euro-Einführungsgesetz –
abzusetzen.
Weiterhin mache ich auf nachträgliche Überweisungen
im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 124. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Entschließungsantrag soll zu-
sätzlich dem Ausschuss für Gesundheit, dem Ausschuss
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
und dem Ausschuss für Kultur und Medien zurMitbera-
tung überwiesen werden.
Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Jürgen
Meyer , Joachim Poß. Günter Gloser, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Claudia Roth ,
Christian Sterzing, Volker Beck , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN zur vereinbarten Debatte zur EU-
Grundrechte-Charta
– Drucksache 14/4269 –
überwiesen:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Der in der 125. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf von den Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Ein-
führung einer Entfernungspauschale und zur
Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschus-
ses
– Drucksache 14/4242 –
überwiesen:
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Die in der 108. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlich
dem Sportausschuss und dem Ausschuss für Kultur und
Medien zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun
, Ernst Burgbacher, Paul K. Friedhoff,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.:
Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen
– Drucksache 14/3106 –
überwiesen:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
12403
129. Sitzung
Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Beginn: 13.04 Uhr
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Antrag der Abgeordneten Ute Vogt ,
Ernst Bahr, Eckhardt Barthel, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Annelie Buntenbach, Cem Özdemir,
Marieluise Beck , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-
keit, Antisemitismus und Gewalt
– Drucksache 14/3516 –
überwiesen:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Der in der 121. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder zur
Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Nachhaltige
Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und
Fremdenfeindlichkeit
– Drucksache 14/4067 –
überwiesen:
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Der in der 127. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Kultur und Medien zur Mitberatung
überwiesen werden.
Gesetzentwurf von Abgeordneten Rainer Funke,
Hans-Joachim Otto , Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. zur Umsetzung der EU-
Richtlinie über das Folgerecht des Urhebers des
– Drucksache 14/3555 –
überwiesen:
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Der in der 127. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur
Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Weiterent-
wicklung der sozialen Pflegeversicherung
– Drucksache 14/4391 –
überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Gründung des Deutschen Fo-
rums für Kriminalprävention. Das Wort für den einleiten-
den fünfminütigen Bericht hat der Herr Bundesminister
des Innern, Otto Schily.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kol-legen! Wir haben heute in der Kabinettssitzung die Grün-dung eines nationalen Präventionsgremiums in der Formdes Deutschen Forums für Kriminalprävention behandelt.Ich darf einleitend darauf hinweisen, dass wir erfreuli-cherweise auch in diesem Jahr eine positive Entwicklungverzeichnen können: Die Zahl der registrierten Straftatengeht zurück. Die Aufklärungsquote hat sich verbessert.Gleichwohl sind die Zahlen der registrierten Straftaten, ineinigen Schwerpunktbereichen des Kriminalitätsgesche-hens immer noch so hoch, dass wir uns trotz solch güns-tiger Entwicklungen nicht zurücklehnen und die Hände inden Schoß legen können.Die Bundesregierung vertritt bei der Kriminalitäts-bekämpfung ein umfassendes Konzept. Es beinhaltet denentschiedenen Einsatz repressiver Maßnahmen auf der ei-nen Seite und ein Engagement im präventiven Bereich aufder anderen Seite. Es gibt, wie Sie wissen, auf Landes-und vor allen Dingen auf kommunaler Ebene bereits einegroße Zahl von Präventionsgremien. Die Namen sind un-terschiedlich. Zum Teil heißen sie Sicherheitspartner-schaften, zum Teil kriminalpräventive Räte. Der Ansatzist jedenfalls überall der gleiche.Wir haben zu Beginn unserer Regierungszeit in derKoalitionsvereinbarung festgelegt, dass wir auch auf dernationalen Ebene, wie es in anderen Ländern bereits derFall ist, ein solches Präventionsgremium in der Gestaltdes Deutschen Forums für Kriminalprävention schaffenwollen. In engem zeitlichen Zusammenhang hat die Län-derinnenministerkonferenz ebenfalls beschlossen, einsolches Gremium zu schaffen. Dieses Gremium soll dieFunktion einer zentralen Informations- und Servicestelleerfüllen. Sie wird zudem konkrete Präventionsprojekteunterstützen und selber in Gang setzen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer12404
Wir haben uns dann mit den Ländern geeinigt, dass wireinen Aufbaustab gründen, der die Vorarbeiten leitet. AlsErgebnis dieser Aufbauarbeit haben wir uns vorgenom-men, eine Stiftung zu gründen, an der sich der Bund miteinem namhaften Betrag – natürlich vorbehaltlich derhaushaltsmäßigen Absicherung – von 2,5 Millionen DMbeteiligen wird. Das Stiftungskapital wird 10 Milli-onen DM betragen. Die Länder werden ebenfalls 2,5 Mil-lionen DM übernehmen. Der Rest soll aus privaten Mit-teln aufgebracht werden.Die Bedeutung eines solchen Forums für Kriminal-prävention liegt auf der Hand. Es geht darum, im Zusam-menwirken von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat dafürzu sorgen, dass Kriminalität erst gar nicht entsteht. Das ist– wir kennen das aus der Umweltpolitik – allemal billigerund besser, als später Gefängnisse zu bauen.Prävention hat die unterschiedlichsten Dimensionen.Darauf will ich im Einzelnen nicht eingehen. Aber es gehtdarum, das Fachwissen und die Kompetenz in den ver-schiedenen Bereichen – in der Wissenschaft, in der Wirt-schaft und beim Staat – zusammenzuführen.Wir haben in der Zwischenzeit – sozusagen im Vorlaufder Gründung dieses Forums – im Innenministerium zweiWorkshops unter Beteiligung der genannten Gruppendurchgeführt. Man kann an der Themenwahl ablesen,welche praktische Bedeutung solche eine präventive Ar-beit hat.Bei dem einen Workshop ging es um die Sicherheit desZahlungsverkehrs, konkret: um die Einführung des Euro.Das ist sicherlich ein einmaliges Ereignis; aber dass eshier bestimmte Sicherheitsprobleme geben kann, wird je-der einsehen. Auch beim Kreditkartenmissbrauch müssenwir leider eine starke Zunahme der Straftaten feststellen.Hier ist vor allem technische Prävention geboten.Der zweite Themenbereich betrifft das sichere Woh-nen. Ich glaube, man muss erkennen, dass die Frage derSicherheit des Wohnbereichs weit über die Frage des ma-teriellen Verlustes hinausgeht. Man erfährt immer wieder,dass die Menschen Furcht haben, Opfer eines Einbruch-diebstahls zu werden. Sie haben nicht nur Furcht vor demVerlust materieller Güter, sondern vor dem Eindringen indie Intimsphäre. Deshalb müssen wir an dieser Stelle et-was tun, um die Sicherheitsbelange besser in den Griff zubekommen.Ich hatte – das will ich als Letztes sagen – vor wenigenTagen eine Zusammenkunft mit Vertretern aus verschie-denen Wirtschaftszweigen. Ich fühle mich durch diesesGespräch sehr ermutigt; denn das Vorhaben der Gründungdes Deutschen Forums für Kriminalprävention wird vonder Wirtschaft entschieden unterstützt – natürlich mit un-terschiedlichem Engagement, auch finanzieller Art. ImGrundsatz wird das Ganze sowohl aus Eigeninteresse un-terstützt – dieses Eigeninteresse kann man etwa bei derVersicherungswirtschaft erkennen; sie ist daran interes-siert, dass solche Schäden erst gar nicht eintreten, sodasssie nicht entsprechende Schadensvergütungen vornehmenmuss – als auch – von Vertretern der Wirtschaft – unterdem Vorzeichen der „corporate citizenship“, also auf derGrundlage eines gesellschaftlichen Engagements aus derIndustrie und der Wirtschaft. Darüber freue ich mich sehr.Ich wäre dankbar, wenn die Kolleginnen und Kollegenaus allen Fraktionen dieses Vorhaben unterstützen wür-den. Ich kann nur darauf hinweisen: In der Innenminister-konferenz besteht diesbezüglich eine allgemeine Überein-stimmung, unabhängig davon, nach welcher Farbe dasLand regiert wird.Vielen Dank.
Danke schön,
Herr Innenminister. Gibt es zu dem eben angesprochenen
Themenbereich Fragen? – Bitte schön, Kollege Geis.
Herr Minister, wie schät-
zen Sie die generalpräventive Wirkung des Strafrechtes
ein, wenn Sie bedenken, dass im Justizministerium der-
zeit an einer Änderung dreier Vorschriften des Strafge-
setzbuches gearbeitet wird? Bei einem Punkt geht es da-
rum, bei einem Ersttäter eine Strafe von bis zu einem Jahr
nicht mehr als Freiheitsstrafe zu verhängen, sondern eine
andere Form der Bestrafung zu finden. Zweitens soll nach
diesen Plänen eine Ausweitung der zur Bewährung aus-
gesetzten Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf drei Jahre
ermöglicht werden. Das heißt, eine Freiheitsstrafe kann
nach diesen Plänen zur Bewährung ausgesetzt werden,
wenn sie bis zu drei Jahre beträgt. Es ist also eine Er-
höhung von zwei auf drei Jahre vorgesehen. Drittens soll
nach diesen Plänen die Haftstrafe auch für Schwerverbre-
cher bei der Erstverbüßung generell zur Hälfte erlassen
und der Rest zur Bewährung ausgesetzt werden. Was hal-
ten Sie angesichts dieser Pläne von der generalpräventi-
ven Wirkung des Strafrechtes?
Herr KollegeGeis, ich bedanke mich für Ihre Frage, weil sie mir Gele-genheit gibt, darauf hinzuweisen, dass es sich bei demDeutschen Forum für Kriminalprävention um ein ressort-übergreifendes Projekt handelt, das in allerbestem Ein-vernehmen zwischen dem Bundesjustizministerium unddem Bundesinnenministerium vorangetrieben wird. Wirhaben auch – wenn ich das an dieser Stelle sagen darf –darauf geachtet, auch andere Ressorts, die sich mit Fragender Prävention befassen, in diese Arbeit einzubeziehen.Dazu gehören das Bundesministerium für Familie, Seni-oren, Frauen und Jugend sowie das Bundesministeriumfür Gesundheit und das Bundesministerium für Bildungund Forschung.Ich bin der Überzeugung, dass das Strafrecht – wir ha-ben das während unseres Jurastudiums gelernt, es wirdaber häufig übersehen – auch in seinen präventiven Wir-kungen bedacht werden soll, das heißt sowohl hinsichtlichder Generalprävention als auch der Spezialprävention.Generalprävention und Spezialprävention müssen aber ineinem vernünftigen Verhältnis stehen. Was die Einzelhei-ten angeht, würde ich vorschlagen, dass Herr Staatssekre-tär Pick, der neben mir sitzt, die Frage ergänzend beant-wortet. Er kann das Problem von der Sache her besserdarstellen, weil es in seinen Zuständigkeitsbereich fällt.Herr Kollege Geis, ich will dem Kollegen Pick nichtvorgreifen, darf aber auf Folgendes hinweisen: Es macht,wenn man den Gesichtspunkt der Prävention insgesamt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Bundesminister Otto Schily12405
beachten will, durchaus Sinn, den Rahmen so abzu-stecken, dass sowohl der Aspekt der Generalpräventionals auch jener der Spezialprävention angemessen zurGeltung kommt. Manchmal ist es bei der Urteilsfindungso, dass die Entscheidungsspielräume des zuständigenRichters nicht ganz dem entsprechen, was von der Sacheher geboten wäre.Im Übrigen gibt es eine Meinung, die Sie wahrschein-lich auch kennen: Das Strafrecht ist wichtig, auch wegenseiner Signalwirkung, aber in gewissem Umfang kommtdas Strafrecht immer zu spät. Deshalb ist es wichtig, dasswir unsere Bemühungen verstärken, um dem entgegenzu-wirken. Ich sage nicht, wir könnten das Strafrecht verges-sen; wie Sie wissen, gibt es auch solche Theorien. Ichhabe zu diesem Thema in dem Standardwerk zur Krimi-nologie von Kaiser nachgelesen, Dort wird auch die Theseartikuliert, das Strafrecht solle man ganz aus der Weltschaffen. Diese Auffassung teile ich bekanntlich nicht.Ich glaube aber, wir sollten bei den hier zu diskutie-renden Problemen durchaus solche Argumente aufgrei-fen, die sich aufgrund Ihrer Frage stellen. Deshalb möchteich ausdrücklich einladen, an der Arbeit eines solchen Fo-rums teilzunehmen. In einem solchen Forum kann manderartige derartige Fragen unter Sachverständigenurteildiskutieren. Die besten Antworten auf die Probleme erge-ben sich aus der Rechtstatsachenforschung. Es ist wichtig,zu prüfen, welche Wirkungen die Verhängung einer Strafeaufgrund einer bestimmten Straftat erzielt und welchenicht. Auch das ist eine Frage, die in diesen Problemkreisgehört.Ich gebe zur näheren Erläuterung das Wort an denKollegen Pick.D
Herr Kollege Geis, ich möchte
zunächst an die Ausführungen von Herrn Bundesminister
Schily anknüpfen. Das Justizministerium stimmt in der
Frage der Funktion des Strafrechts hinsichtlich General-
prävention und Spezialprävention mit Ihnen überein. Sie
wissen, dass bereits die vorige Bundesregierung eine
Kommission unter der Leitung unseres früheren Kollegen
Eylmann eingesetzt hatte, die sich mit dem Thema der Re-
form des Sanktionensystems beschäftigen sollte. Diese
Kommission hat ihren Abschlussbericht vorgelegt und im
Bundesministerium der Justiz werden zurzeit die von der
Kommission unterbreiteten Vorschläge geprüft. Wir wer-
den sicher eine ganze Reihe von Vorschlägen aus diesem
Bericht aufnehmen.
Sie wissen, dass es auch Aufgabe dieser Kommission
war, alternative Sanktionsformen zu beraten. Auch hier
haben wir eine ganze Latte von Vorschlägen bekommen.
Ich will in diesem Zusammenhang auf gemeinnützige Ar-
beit, Entzug der Fahrerlaubnis und ähnliche Dinge hin-
weisen. Diese Vorschläge werden von uns auch unter dem
Gesichtspunkt geprüft, ob sie in unser System einzu-
passen sind.
Wichtig ist, dass der Gesetzgeber den Gerichten die
Möglichkeit gibt, möglichst individuell auf den einzelnen
Täter einzugehen und ihn entsprechend zu verurteilen.
Die Gerichte sollen flexibel und angemessen auf Strafta-
ten reagieren können.
Eine Nachfrage
des Kollegen Geis.
Herr Kollege Pick, ich
kenne natürlich den Schlussbericht der eben erwähnten
Kommission. In diesem wird gerade empfohlen, Haftstra-
fen bis zu zwei und nicht bis zu drei Jahren zur Be-
währung auszusetzen und den Grundsatz „Schwitzen statt
Sitzen“ bei Haftstrafen bis zu einem Jahr nicht anzuwen-
den. Ich weiß, dass man sich im Justizministerium über
diese Empfehlungen hinwegsetzen will. Ich möchte gerne
wissen, warum.
D
Sie sind etwas voreilig, wenn Sie
vermuten, dass wir uns über die Empfehlungen der Kom-
mission hinwegsetzen wollen. Wir nehmen die Vor-
schläge der Kommission ernst. Es ist eine ausgesprochen
hochrangig besetzte Kommission mit sehr viel Sachver-
stand gewesen. Einige Fragen konnten dort aus Zeitgrün-
den nicht abschließend beantwortet werden. Wir aber sind
nicht der Verantwortung enthoben, uns Gedanken über
Fragen zu machen, die entweder nicht oder im Gegensatz
zu unseren Vorstellungen beantwortet wurden. Die Bun-
desregierung wird die Argumente sehr sorgfältig gegen-
einander abwägen und dann entsprechend ihrer Verant-
wortung entscheiden.
Der Bundesin-
nenminister möchte noch etwas hinzufügen.
Herr KollegeGeis, erlauben Sie mir noch eine ergänzende Bemerkung.Ich bin mit Ihnen einer Meinung, wenn Sie sagen, dass einStrafrichter und ein Staatsanwalt bei ihren Entscheidun-gen auch generalpräventive Gesichtspunkte berücksichti-gen müssen. Das gilt nicht nur im Hinblick auf das Ge-richtsurteil, sondern auch im Hinblick auf andereEntscheidungen. Eine Staatsanwaltschaft oder ein Gericht– egal, mit welchem Fall es befasst ist – muss sich immerdarüber Gedanken machen, ob die rechtlichen Maßnah-men im individuellen Fall angemessen sind und welchegeneralpräventiven Wirkungen von einer rechtlichen Ent-scheidung ausgehen. Wenn ein Verfahren zum Beispielwegen Geringfügigkeit gegen Zahlung einer Geldbußeeingestellt werden soll, dann muss das Gericht oder diemit dem Fall betraute Staatsanwaltschaft selbstverständ-lich prüfen, ob generalpräventive Gesichtspunkte dage-gen sprechen.Ein anderes Beispiel: Jemand begeht einen Ladendieb-stahl und ist Ersttäter. Auch wenn die zuständige rechtli-che Instanz der Auffassung ist, die Einleitung des Verfah-rens solle eine Warnung sein, aber das Verfahren sollegegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt werden, wirdsie sich immer mit der Frage auseinander setzen müssen,ob der generalpräventive Gesichtspunkt bei einer solchenEntscheidung zu kurz kommt oder nicht. Ich finde, dasmuss man in jeder Richtung gelten lassen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Bundesminister Otto Schily12406
Jetzt hat der
Kollege Dehnel das Wort, bitte.
Herr Minister, ich
begrüße ausdrücklich, dass das Deutsche Forum für Kri-
minalprävention gegründet wird. Sie wissen, das Sicher-
heitsbedürfnis und das Sicherheitsempfinden der Bevöl-
kerung in Ostdeutschland – wir haben es gerade in
Sachsen und Brandenburg erlebt – sind stark ausgeprägt
und werden durch solche Fälle wie den Fall Schmökel
beeinträchtigt. Wird dieses Forum erst jetzt gegründet,
nachdem der Fall Schmökel – letzten Endes glücklich –
gelöst worden ist? Ich habe schon vor einem Jahr in einer
Regierungsbefragung eine stärkere Vernetzung im Be-
reich der Sicherheit und eine bessere Sicherung der Straf-
anstalten gefordert. Haben die Bundesländer nicht ihre
Aufsichtspflicht vernachlässigt, weil Straftäter unzurei-
chend beaufsichtigt wurden und deshalb immer wieder
ausbrechen und neue Straftaten begehen konnten?
Herr Kollege
Dehnel, Sie haben nach dem Zeitpunkt gefragt. Die Ko-
alitionsvereinbarung stammt vom 20. Oktober 1998. Der
Beschluss der Innenminister der Länder ist vom 20. No-
vember 1998. Mittlerweile ist eine gewisse Zeit vergan-
gen; wir schreiben das Jahr 2000. Man muss wissen: Viele
technische und organisatorische Fragen, die sich aus der
Arbeit des Aufbaustabs ergaben, sind zu klären. In den
Ländern und im Bund hat eine relativ große Zahl von In-
stitutionen – ich will das nicht übertreiben – mitzureden.
Bis man zu einem Einvernehmen kommt, vergeht eine ge-
wisse Zeit. Alle, die mit solchen Themen zu tun hatten und
entsprechende Erfahrungen gesammelt haben, wissen
das. Es hat also nichts mit dem von Ihnen gerade ange-
sprochenen Fall zu tun.
Ich möchte eine Bemerkung hinzufügen – ich habe das
schon vor vielen Jahren sehr deutlich gesagt und es ist bis
heute meine Überzeugung –: Im Hinblick auf Menschen,
die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ord-
nung, insbesondere für Kinder, darstellen, hat für mich
der Sicherungsgedanke absoluten Vorrang. Darüber muss
völlige Klarheit herrschen. An dieser Stelle muss sich je-
der fragen, ob er diesem Grundsatz gerecht geworden ist
oder nicht.
Wenn Sie sich umschauen, dann werden Sie feststellen:
Im Laufe der Jahre hat es in allen Ländern mitunter Pro-
bleme damit gegeben, dass der Sicherungsgedanke nicht
ganz befolgt worden ist. Ich bin da nicht derjenige, der mit
Steinen wirft. Wie gesagt, ganz unterschiedliche Regie-
rungen waren mit entsprechenden Situationen konfron-
tiert.
Bei den Vollzugsbeamten sollten wir unsere Schwie-
rigkeiten wahrlich nicht abladen. Vollzugsbeamte, gerade
im Strafvollzug, haben es besonders schwer. Ich habe
hohe Achtung vor der Arbeit dieser Menschen. Wer die
Verhältnisse dort kennt, der weiß, mit welchen Problemen
sie konfrontiert sind.
Das heißt nicht, dass man sagt, es sei alles in Ordnung.
Im Fall Schmökel mussten wir Hundertschaften von Poli-
zisten aussenden. Glücklicherweise ist es gelungen, den
Täter zu fassen. Jeder muss sich prüfen, ob die Siche-
rungsmaßnahmen ausgereicht haben oder nicht. Wie ge-
sagt, diese Frage muss in erster Linie in den Landtagen
erörtert werden, da sie in die Zuständigkeit der Länder
fällt. Von unserer Seite können wir wenig dazu beitragen.
Eine Nachfrage
des Kollegen Dehnel.
Ist Ihrem Bundesmi-
nisterium bekannt, ob es in den letzten zwei Jahren in ver-
stärktem Maße Ausbruchbemühungen von Schwerstver-
brechern gegeben hat? Oder war die Zahl im Gegenteil
sogar rückläufig und hat ein Einzelfall wie der Fall
Schmökel nur ein größeres Aufsehen erregt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir führen in
dieser Frage keine Statistik. Vollzug ist Ländersache, Herr
Kollege Dehnel.
Ist es nicht aber eine
Bundesangelegenheit, wenn verschiedene Länder betrof-
fen sind?
Nein, Straf-
vollzug ist Ländersache, Herr Kollege Dehnel.
Warum schaffen Sie
ein nationales Präventionsgremium, wenn Strafvollzug
Ländersache ist?
Jedes Land
kann selbstverständlich an einem nationalen Präventions-
gremium teilnehmen. Übrigens handelt es sich beim
Deutschen Forum für Kriminalprävention nicht nur um
eine Institution für den Bund, sondern auch die Länder
haben die Möglichkeit, dort solche Fragen anzusprechen.
Ich glaube allerdings nicht, dass man in diesem Forum
hinsichtlich der Sicherungsmaßnahmen großartige neue
Erkenntnisse gewinnt. Was Sicherungsmaßnahmen an-
geht, spielen Baulichkeiten und anderes eine Rolle. Es
steht allen Ländern frei, die Initiative zu ergreifen und
sich länderübergreifend zu überlegen, wie man mit be-
stimmten Situationen umgeht. Das ist durchaus möglich.
Nur, der Bund hat in diesem Bereich keine Zuständigkeit,
Herr Kollege Dehnel.
Es geht nicht um die
Zuständigkeit, sondern um die Auskunft bezüglich einer
Statistik.
Es tut mir
Leid: Wir führen da keine Statistik, weil das nicht in un-
sere Zuständigkeit fällt.
Gibt es zu die-sem Themenbereich noch weitere Fragen? – Das scheintnicht der Fall zu sein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12407
Gibt es andere Fragen an die Bundesregierung zur heu-tigen Kabinettssitzung? – Bitte, Herr Niebel.
In der Öffentlichkeit wurde be-
richtet, dass die Frage der Erwerbsunfähigkeitsrenten
auch ein Thema der Kabinettssitzung gewesen sein soll.
Wenn das so war, würde mich interessieren, aus welchem
Grund das Bundesgesundheitsministerium im Vorfeld der
geplanten Gesetzesänderung offenkundig erst in einer
sehr späten Phase – wir wollten ja heute abschließend da-
rüber beraten – bemerkt hat, dass die gesetzlichen Kran-
kenkassen von dieser Rechtsänderung finanziell betroffen
wären, und ob Sie Erkenntnisse dazu haben, warum Ver-
treter der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenver-
sicherungen an der in diesem Zusammenhang durchge-
führten Anhörung nicht teilgenommen haben.
Wir klären jetzt
erst einmal, ob diese Frage Thema der heutigen Kabi-
nettssitzung war. Wenn das nicht der Fall war, handelt es
sich um eine allgemeine Frage an die Bundesregierung.
Zunächst einmal der Herr Innenminister.
Diese Frage
war nicht Thema der Kabinettssitzung. Sie fällt außerdem
in die Zuständigkeit des Bundesgesundheitsministeriums.
Es liegt mir fern, etwas dazu zu sagen.
Wenn es keine
anderen Fragen zu Themen gibt, die während der Kabi-
nettssitzung behandelt wurden, kommen wir jetzt zu all-
gemeinen Fragen an die Bundesregierung.
Ich nehme die gestellte Frage auf und erteile dazu Frau
Staatssekretärin Nickels das Wort.
C
Herr Kollege, hierbei han-
delt es sich um ein Gesetz, das schon 1997 beschlossen
wurde und im Jahr 2000 in Kraft treten sollte. Das In-
Kraft-Treten ist auf das Jahr 2001 verschoben worden.
Dieses Gesetz ist also schon in der alten Legislaturperiode
beraten und beschlossen worden.
Aufgrund der vorliegenden Zahlenmaterialien und der
Berechnungsmodalitäten war nicht ohne weiteres ersicht-
lich, in welchem Umfang Belastungen auf die GKV zu-
kommen. Der Umgang mit diesen Belastungen ist Ge-
genstand von intensiven Gesprächen zwischen den
Häusern. Sie haben auch der Debatte, die gegenwärtig
hierüber in der Presse geführt wird, entnehmen können,
dass sich in dieser Frage der Koalitionsausschuss bzw. die
Spitzen der die Koalition tragenden Parteien eingeschal-
tet haben. Wir gehen davon aus, dass zu dieser Frage in
absehbarer Zeit eine Regelung getroffen wird.
Eine Nachfrage
des Kollegen Niebel.
Frau Kollegin, Sie haben gerade
gesagt, es handele sich um ein Gesetz aus der letzten Le-
gislaturperiode. Ist es nicht vielmehr so, dass Ihr Gesetz-
entwurf gerade dazu dienen sollte zu verhindern, dass
zum 1. Januar kommenden Jahres das in der letzten Le-
gislaturperiode von der alten Regierung beschlossene Ge-
setz zur Neuregelung der Erwerbsunfähigkeitsrente in
Kraft tritt? Dabei ist im Gesundheitsministerium offen-
kundig verpennt worden, dass die Krankenkassen hiervon
betroffen sind.
C
Nein, Herr Kollege.
Gibt es weitere
Fragen an die Bundesregierung? – Das ist nicht der Fall.
Damit beende ich die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksache 14/4468 –
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bun-
deskanzleramtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsmi-
nister Michael Naumann bereit.
Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Hans-Joachim
Otto auf:
Gibt Staatsminister Dr. Michael Naumann die Auffassung der
Bundesregierung wieder, wenn er die Kompetenzzuweisung des
Grundgesetzes im Kulturbereich an die Länder als „Verfassungs-
folklore“ und den Föderalismus als „Ausdruck der Angst der
Bitte, Herr Staatsminister.
D
Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, dass ich die
Frage wörtlich vorlese, weil meine Antwort dann ver-
ständlicher wird. Die Frage lautet:
Gibt Staatsminister Dr. Michael Naumann die Auffassung der
Bundesregierung wieder, wenn er die Kompetenzzuweisung des
Grundgesetzes im Kulturbereich an die Länder als „Verfassungs-
folklore“ und den Föderalismus als „Ausdruck der Angst der
Deutschen vor sich selbst“ bewertet …?
Herr Abgeordneter, Überschriften, die man selber nicht
zu verantworten hat, verhalten sich manchmal zu einem
Artikel wie zum Beispiel Herr Möllemann zum Wesen der
F.D.P. Mit anderen Worten: Irgendwie haben beide etwas
miteinander zu tun, aber zugleich wird eine Überspitzung
vorgenommen.
– Als Fallschirmspringer zum Beispiel.
Jetzt hat derStaatsminister erst einmal das Wort.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer12408
D
Mit anderen Worten: Die Überschrift „Zentralis-
mus schadet nicht“
– ich weiß, ich will es nur erklären – stammt natürlich
nicht von mir. Auch sage ich keineswegs, wie es in Ihrer
Frage heißt, dass „die Kompetenzzuweisung des Grund-
gesetzes im Kulturbereich an die Länder als Verfassungs-
folklore“ anzusehen sei. In Wirklichkeit sage ich – Sie
können es ja auch vorlesen, Herr Otto –, dass der Begriff
der Kulturhoheit im Grundgesetz nicht auftaucht und in-
soweit „Verfassungsfolklore“ ist. Wenn Sie mir eine
Fundstelle für diesen Begriff zeigten, wäre ich dankbar;
ich habe ihn im Grundgesetz nicht gefunden.
Das, was dieser Begriff bezeichnet, wird von mir aber
überhaupt nicht infrage gestellt, sondern in meinem Arti-
kel mehrfach lobend und selbstverständlich auch affirma-
tiv herausgestellt. Ich habe mich in meinem Artikel ledig-
lich gegen den politischen Gebrauch dieses Begriffes
gewehrt, also dagegen, mit diesem Begriff gleichsam wie
mit einer Monstranz in dem Augenblick auf den Bund zu-
zugehen, in dem er die im Grundgesetz positiv rechtlich
geregelten Kompetenzen wahrnimmt, die ihm kulturpoli-
tisch zustehen.
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Otto, bitte.
Selbstver-
ständlich, lieber Herr Dr. Naumann, habe ich den Artikel
gelesen. Deswegen habe ich die Frage auch nicht nach der
Überschrift gestellt. Allerdings gibt sie den Inhalt Ihres
Beitrages korrekt wieder.
Sie leiten die Aufforderung zu einer verstärkten Bun-
deskulturpolitik nicht aus einer Kompetenzzuweisung des
Grundgesetzes ab, sondern gebrauchen den, wie ich finde,
höchst nebulösen Begriff der „grundgesetzlichen Legiti-
mation einer Bundeskulturpolitik“. Meine erste, verfas-
sungsrechtliche Frage: Was dürfen wir denn darunter ver-
stehen? Darf jeder – nicht nur Michael Naumann – sich
aus einer vermeintlichen Legitimation heraus Kompeten-
zen in dem fein austarierten grundgesetzlichen Kompe-
tenzzuweisungskatalog anmaßen?
D
Zunächst reden wir hier über die Frage, ob es
überhaupt eine Bundeskulturpolitik geben darf. Da es im
Bundestag einen Kulturausschuss gibt, der genau diese
Politik mitformuliert, kontrolliert und bereichert, gehe ich
davon aus, dass es auch eine Bundeskulturpolitik geben
kann. Was nun eine solche Kulturpolitik im Kompetenz-
bereich des Bundes anbetrifft, muss sie ja offenkundig in
der von Ihnen eben zu Recht geschilderten sorgfältig aus-
tarierten Gemengelage von Bundes-, Landes- und Kom-
munalzuständigkeiten liegen. Das tut sie auch.
Zur verfassungsrechtlichen Frage einer prinzipiellen
Kompetenz gibt es – ich bin kein Verfassungsrechtler und
auch kein Jurist – sehr wohl Verfassungsgerichtsurteile,
die das relativ klar ausdrücken. Mit Erlaubnis der Frau
Präsidentin möchte ich aus einem Urteil zitieren
– BVerfGE 3,407 –: Nach der Rechtsprechung des Bun-
desverfassungsgerichts besteht „eine stillschweigende
Bundeszuständigkeit kraft Sachzusammenhang immer
dann, wenn eine dem Bund ausdrücklich zugewiesene
Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann,
ohne dass zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene
Materie mit geregelt wird, wenn also ein Übergreifen in
nicht ausdrücklich zugewiesene Materien unerlässliche
Voraussetzung ist für die Regelung einer der Bundesge-
setzgebung zugewiesenen Materie“. Im Rahmen der
Kompetenzen kraft Sachzusammenhang betreibt der
Bund damit, um nur ein Beispiel zu geben, Filmförderung
nach Maßgabe des Filmförderungsgesetzes, was zweifel-
los ein Bereich ist, der in Landeskulturkompetenzen liegt,
aber eben auch – mit Ihrer Mithilfe, Herr Otto – in Bun-
deskompetenz.
Eine zweite Zu-
satzfrage, Herr Otto.
Nachdem
ich eine verfassungsrechtliche Frage gestellt habe,
möchte ich natürlich auch eine politische stellen. Halten
Sie es bzw. – in meiner Ausgangsfrage habe ich ja auf die
Auffassung der Bundesregierung abgehoben – hält es die
Bundesregierung in der jetzigen Situation, gerade auch
angesichts der Verhandlungen um die Hauptstadtkultur-
förderung, für sinnvoll und zielführend, mit einem sol-
chen Beitrag, der auf Zentralismus hinzielt oder jedenfalls
hindeutet, die Verhandlungen mit den Ländern zu er-
schweren und aus allen 16 Bundesländern Protestaktio-
nen hervorzurufen?
D
Herr Otto, wir stehen im Augenblick keineswegsin finanziellen Verhandlungen mit den Ländern hinsicht-lich der föderal organisierten Stiftung „Preußischer Kul-turbesitz“, wenn Sie darauf abheben wollten. Diese Ver-träge laufen erst im Jahre 2005 aus.Ich werde mich aus Prinzip nicht sozusagen zur Kopf-wäsche beugen und sagen, die freie Meinungsäußerungeines Bürgers sei inopportun, wenn doch gleichzeitig klarist – das ist meine Erfahrung –, dass alle Reaktionen, dieich von führenden Politikern auch meiner Partei vernom-men habe, nachweisbar auf der schnellen Lektüre derÜberschrift und einer Unterzeile, die diese Thematikebenfalls verzerrend wiedergibt, beruhen. Der Unter-schied zwischen Überschrift und Inhalt eines Artikels be-ruht sicherlich auf dem nachvollziehbaren Bedürfnis derRedaktionen, Zoff zu machen.Der Artikel selbst ist ausgewogen. Er lobt und stellt ansehr vielen Stellen heraus – die kann ich Ihnen alle zitie-ren –, dass die föderative Struktur unseres Landes geradein dem Kernbereich der Kulturpolitik einen außerordent-lichen Vorteil im Konzert der Nationen Europas darstellt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12409
Ich weise darauf hin, dass wir 100 Opernhäuser haben;Spanien hat drei. Ich weise ferner auf die Vielfalt derTheater und Bühnen in Deutschland hin, die unvergleich-lich reichhaltiger ist als anderswo.Ich weise allerdings auch darauf hin, dass jedes Mal,wenn der Bund die ihm per Verfassung zugewiesenenKompetenzen wahrnimmt, aus gewissen Landesteilen– ich sage nicht: aus Hessen – mit einem geradezupawlowschen Reflex von der Kulturhoheit der Länder– in dem Sinne: er hat uns nichts zu sagen – gesprochenwird. Aber in dem Augenblick, in dem der Bund Zuwen-dungen an gewisse Regionen infrage stellt, scheint es mitdem Konkurrenzverhältnis zwischen Bund und Ländernnicht mehr so weit her zu sein und es wird über die kul-turpolitische Untätigkeit des Bundes geschimpft. Wennaber das Geld fließt, dann ist alles wieder in Ordnung.Auf diese merkwürdigen Verhältnisse hinzuweisen wardie Absicht meines Artikels. Dass auf Bundesebene undauf Landesebene die Notwendigkeit zur Koordination be-steht, ist allen klar, die in den entsprechenden Gremienmitarbeiten.
Jetzt hat der
Kollege von Klaeden die Möglichkeit, eine Zusatzfrage
zu stellen.
Herr Staatsminis-
ter, ich will einmal die Äußerung über Ihren Artikel von
Kurt Beck in Erinnerung rufen. Er sagte wörtlich: „Er will
das Grundgesetz rasieren“. Der stellvertretende Minister-
präsident von Nordrhein-Westfalen spricht von einer
„Überheblichkeit, die sich selbst richtet“. Wolfgang
Clement sagt: „bar jeder Realität und jedes Bezugs zur
Verfassung“.
Ihre Ausführungen lassen drei Möglichkeiten zu. Die
erste Möglichkeit ist: Diese Herren haben Ihren Artikel
nicht richtig lesen können.
Die zweite Möglichkeit ist: Sie kennen den Föderalismus
nicht. Die dritte Möglichkeit ist: Es trifft beides zu.
D
Ich ziehe natürlich die erste Möglichkeit vor. Ich
habe mich durch Telefonate versichert, dass sie dem Sach-
verhalt entspricht.
– Ich kann nur wiederholen: Das Verhältnis von Über-
schrift zum Inhalt eines Artikels entspricht dem Verhält-
nis von Herrn Möllemann zum Wesen seiner Partei. Das
bedeutet nichts anderes, dass die Partei angesichts von
Überspitzungen manchmal klarstellen muss – dies ist
auch bei dem Artikel der Fall – , dass sie es eigentlich ganz
anders meint.
Bitte, Herr Kol-
lege Koppelin, Ihre Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, da Sie
anscheinend von den genannten Ministerpräsidenten und
dem stellvertretenden Ministerpräsidenten missverstan-
den worden sind, darf ich zur Klarstellung folgende Frage
an Sie richten: Können Sie folgenden Satz aus Ihrem Ar-
tikel klarstellen? Dort heißt es wörtlich:
Unsere föderale Verfassung ist außerdem und immer
noch Ausdruck der Angst der Deutschen vor sich
selbst.
D
Herr Abgeordneter, angesichts der Tatsache, dass
wir hier Textexegese betreiben, wäre ich Ihnen dankbar,
wenn Sie die drei vorangegangenen Sätze zur föderalen
Struktur ebenfalls vorlesen würden.
Aber das ist Zeitverschwendung. Sie haben den Artikel ja
gelesen.
– Herr Koppelin, Sie wären der Erste, der mich schonen
wollte. Das ist ja fast ein Koalitionsangebot.
Um es klar zu sagen: Sie und ich wissen ganz genau,
dass unsere Verfassung 1949 unter dem Eindruck der Er-
fahrungen aus dem Dritten Reich geschrieben worden ist.
Man wollte mit all den Kautelen und Barrieren, die im
Grundgesetz verankert sind, sicherstellen, dass sich diese
Ereignisse nicht wiederholen. Das bedingte ein außeror-
dentlich ausdifferenziertes System von „checks and ba-
lances“.
– Das ist völlig in Ordnung.
Aber man darf doch sagen, dass das so ist. Man darf
auch die historische Herkunft der Verfassung benennen
und dann darauf hinweisen, dass in den Jahren, die seit-
dem vergangen sind, eine Sache nicht mehr zur Debatte
stehen sollte, nämlich die zivilisierte, grundgesetzlich
versierte und im Übrigen demokratische, da auf dem Bo-
den der Verfassung stehende Art und Weise aller Politiker
in diesem Haus, auch auf der Regierungsbank, Politik zu
machen. Das heißt mit anderen Worten: Die in der Ver-
fassung selbst mit festgeschriebene Furcht vor dem Wie-
deraufleben eines Totalitarismus in Deutschland, die sich
unter anderem darin manifestiert, dass meine Person von
Herrn Zehetmair indirekt mit Herrn Goebbels verglichen
wird, ist überflüssig. Weder bin ich Goebbels, noch halten
Sie mich dafür; nur Herr Zehetmair glaubt, diesen Ver-
gleich ziehen zu können.
Die KolleginGriefahn hat das Wort. Bitte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Staatsminister Dr. Michael Naumann12410
Ich habe zwei Fragen. Ers-
tens. Wie ist die Planung in Bezug auf Veränderungen im
Haushalt des nächsten Jahres gegenüber diesem Jahr hin-
sichtlich dessen, was die Länder anteilig bekommen sol-
len?
Zweitens. Wie sehen Sie im Zusammenhang mit der
Entwicklung der Europäischen Union den Stellenwert der
Frage, was die Länder und was der Bund jeweils mit der
Europäischen Union verhandeln sollten?
D
Frau Abgeordnete, was den ersten Teil der Frage
betrifft, möchte ich, um nur ein Beispiel zu nennen, am
Fall Sachsen, des Landes eines der schärfsten Kritiker die-
ses Artikels, nämlich Herrn Biedenkopf, exemplarisch
ausführen, was sich verändert hat. Im Jahr 1998, also un-
ter der Vorgängerregierung, bekam das Land Sachsen
vom Bund 17,7 Millionen DM kulturpolitisch begründe-
ter Zuwendungen. Im Jahr 1999 waren es über 55 Milli-
onen DM. Das heißt, wir haben die Zuwendung in einer
bundeskulturpolitisch wohl begründeten Entscheidung
vor allem für die neuen Länder mehr als verdoppelt. Da-
rüber hinaus haben wir sie über die gesamte Legislatur-
periode auf eine Gesamtsumme von mehr als 240 Milli-
onen DM verstetigt. Dies addiert sich, da es sich um eine
Komplementärfinanzierung handelt, aufgrund dieser Po-
litik zu einer neu zur Verfügung gestellten Summe von ei-
ner halben Milliarde DM, hauptsächlich für kulturelle
Bauinvestitionen in den neuen Ländern.
Ebenfalls neu für die neuen Länder ist: Nach zehn-
jähriger Verweigerungshaltung des Finanzministers
Waigel öffnet sich das Investitionsförderungsprogramm
„Aufbau Ost“, das in der Vergangenheit für kulturelle In-
vestitionen keinen Platz hatte, für ebensolche Projekte,
die von den Kulturministern und Wirtschaftsministern der
neuen Länder in dieses Programm hineingeschrieben
werden können. Hier obliegt es dann dem jeweiligen Land
auf der Empfängerseite, diese zusätzlichen kulturellen In-
vestitionsmittel im Verteilungskampf in den jeweiligen
Kabinetten zu mobilisieren. Das ist zum Beispiel in Sach-
sen, dem Land von Herrn Biedenkopf, ganz besonders gut
gelungen.
Ich glaube, dass der Schwerpunkt, den wir gesetzt ha-
ben, auch für das nächste Haushaltsjahr, nämlich die För-
derung der neuen Länder, nicht nur politisch berechtigt
ist, sondern auch einen nachhaltigen Effekt zeitigen wird.
Frau Abgeordnete, können Sie den zweiten Teil Ihrer
Frage bitte wiederholen?
Die Frage war, über welche
Teile die Länder und der Bund im Zusammenwachsen der
Europäischen Union verhandeln können.
D
Ich glaube, es gibt eine ganze Fülle von Aufga-
ben von kulturpolitischer Relevanz, die – Herr Otto, ver-
stehen Sie das nicht als Kritik am Föderalismus – in der
Vergangenheit vielleicht nicht mit der Emphase in Brüssel
verhandelt werden konnten, wie das jetzt dank dieser
neuen Funktion möglich ist.
Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen. Bei der sattsam
bekannten Debatte um die Buchpreisbindung habe ich für
Bund und Länder gefochten. Mein Kollege Herr
Zehetmair, von der KMK abgeordnet, ist zu den entspre-
chenden Sitzungen nicht gekommen, hat meines Wissens
auch keine diesbezüglichen Gespräche mit den Mitglie-
dern der zuständigen Generaldirektionen geführt und hielt
das Ganze aus München betrachtet für einen „Kampf ge-
gen die Windmühlen von Brüssel“. Mit anderen Worten:
Ich war der Don Quichotte. Wer er in diesem Gespann
war, möchte ich jetzt nicht vermuten.
– Vielleicht die Windmühle, aber vielleicht auch der
Komparse, den ich jetzt nicht beim Namen nennen
möchte, weil er dann möglicherweise geknickt wäre. –
Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, wie auf europä-
ischer Ebene Bundespolitik greifen kann.
Dasselbe trifft auf die gesetzlichen Harmonisierungs-
zwänge in den Bereichen der medialen Selbstkontrolle zu.
Dies gilt selbstverständlich auch für die duale Rundfunk-
ordnung. Die Länder werden in Brüssel die Beibehaltung
der dualen Rundfunkordnung in Deutschland verteidigen.
Das Interessante aber ist, dass der Bund in der Auseinan-
dersetzung mit der Kommission einen längeren Verhand-
lungshebel hat, weil wir in den Budgetdebatten mit den
anderen Mitgliedstaaten, die in Brüssel ein anderes Re-
präsentationssystem haben als wir, Bündnisse schmieden
können, die dadurch enger und haltbarer sind, dass von
mir ein unmittelbarer Etat-Verhandlungszusammenhang
mithilfe des Bundesfinanzministers hergestellt werden
kann und wird. Das heißt, hier ist dem Bund eine natür-
lich nicht überzubewertende europäische Verhandlungs-
macht zum Vorteil von Bund, Ländern und Kommunen
zugewachsen.
Herr Kollege
Niebel.
Herr Staatsminister, waren Ihre
Antworten auf die Fragen der Kollegen Otto, Koppelin
und von Klaeden dazu, ob die Kompetenzzuweisung des
Grundgesetzes im Kulturbereich an die Länder Verfas-
sungsfolklore sei bzw. inwieweit der Föderalismus als
Ausdruck der Angst der Deutschen zu bewerten sei, Ihre
Ansicht oder war das die Ansicht der Bundesregierung?
D
Ich bin ein Mitglied der Bundesregierung. Sie
werden wahrscheinlich nicht Herrn Funke für das haftbar
machen wollen, was ich sage. Solange ich ein Mitglied
der Bundesregierung bin, liegt es in Ihrem Belieben, wie
Sie meine Antworten interpretieren. Ich habe das jeden-
falls nicht als Privatmann gesagt.
Es gibt keineweiteren Nachfragen. Herr Staatsminister, ich danke Ih-nen für Ihre Antworten.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums des Innern. Der Herr Parlamentarische
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12411
Staatssekretär Fritz Rudolf Körper wird die Fragen zu die-sem Geschäftsbereich beantworten.Ich rufe die Frage 2 des Abgeordneten WolfgangBörnsen auf:Mit welchen konzeptionellen Überlegungen verbindet dieBundesregierung ihre Absicht, insgesamt 233 Planstellen beimBundesgrenzschutz Schleswig-Holstein auch weiterhinmit einem kw-Vermerk zu verbinden, obwohl nach den Erfahrun-gen an den Westgrenzen der Bundesrepublik Deutschland der Per-sonalaufwand für den BGS nach Schengen nicht geringer, sondernhöher ausgefallen ist und eine solche Situation sich auch nach demSchengenbeitritt des Königreiches Dänemark nach Aussagen vonExperten auch an dieser Grenze ergeben wird, das heißt, es einenerhöhten und nicht geringeren Stellenbedarf gibt?Bitte, Herr Staatssekretär.F
Herr Kollege Börnsen, die dem
Bundesgrenzschutzamt Flensburg im Rahmen der Neuor-
ganisation des Bundesgrenzschutzes zum 1. Januar 1998
zusätzlich zugewiesenen 233 Dienstposten mit kw-Ver-
merk dienen ausschließlich dazu, den bis zur Inkraftset-
zung des Schengener Durchführungsübereinkommens
bestehenden Verstärkungsbedarf zur Gewährleistung des
Schengener Kontrollstandards abzudecken. Diese
233 Dienstposten sind mit Planstellen unterlegt, die nach
dem Haushaltsplan ebenfalls mit kw-Vermerk versehen
sind.
Es handelt sich hierbei um Planstellen, die nach einer
Absprache zwischen den früheren Bundesministern
Kanther und Waigel 1997 zusätzlich in den Haushalt 1998
eingebracht wurden, um eine größere Anzahl von BGS-
Beamtinnen und BGS-Beamten nach ihrer Ausbildung
ohne zeitliche Verzögerung anstellen zu können. – Das
war der Hintergrund.
Sicherheitsdefizite in diesem Bereich sind durch den
Wegfall der kw-Dienstposten entsprechend den darge-
stellten haushaltsmäßigen Vorgaben nicht zu erwarten.
Die Personalausstattung mit 453 Dienstposten bleibt trotz
des Wegfalls der Grenzkontrollen gegenüber den vor der
Neuorganisation des Bundesgrenzschutzes ursprünglich
vorgesehenen 312 Dienstposten auf Dauer um 141 erhöht.
Dies gewährleistet – auch unter Berücksichtigung der
Personaldichte an den Westgrenzen – eine personell aus-
reichend ausgestattete polizeiliche Präsenz zur Wahrneh-
mung der verbleibenden gesetzlichen Aufgaben, insbe-
sondere zur Verhinderung illegaler Einreisen. – So weit
der Sachstand.
Bitte.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär. – Ich hatte nach den Zahlen
von Schleswig-Holstein gefragt. Sie haben in Ihrer Ant-
wort Zahlen lokalisiert auf die Fördestadt Flensburg ge-
nannt. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie
gesagt, dass die 233 kw-Stellen, um die es geht, nur theo-
retischen Charakter, aber keine Auswirkung auf den
Personalbestand des Bundesgrenzschutzes in Schleswig-
Holstein haben. Ich hatte Sie aber nach den konzeptionel-
len Überlegungen gefragt, die dahinter stehen. Sie wissen
wie ich, dass das Schengener Übereinkommen ab dem
21. März auch für Skandinavien/Deutschland gilt. Für die
Bürgerinnen und Bürger vor Ort stellt sich daher die
Frage, ob es ein Mehr oder ein Weniger an Sicherheit gibt,
wenn die Grenzen endgültig fallen.
Meine Frage dazu ist: Gehört zu Ihren konzeptionellen
Überlegungen auch die Aufnahme unseres Vorschlages,
wie in Offenburg an der deutsch-französischen Grenze
jetzt auch für die nordische Passunion – eingeschlossen
sind Dänemark, Schweden und Finnland – an der deutsch-
dänischen Staatsgrenze ein gemeinsames Lage- und Si-
cherheitszentrum einzurichten?
F
Herr Kollege Börnsen, zunächst
eine Bemerkung: Das, was sich jetzt an der Grenze zu
Dänemark abspielt – Sie haben das entscheidende Datum
genannt: 21. März 2001 –, ist von den Erfahrungswerten
her nicht neu. Deswegen habe ich versucht, mit der
Unterlegung der Zahlen deutlich zu machen, dass es
zu den ursprünglich vor der Neuorganisation des Bun-
desgrenzschutzes vorgesehenen 312 Dienstposten mit
453 Dienstposten eine Differenz gibt. Dies ist im Grunde
genommen die personelle Reaktion auf das, was auf-
grund der Veränderungen, des Beitritts Dänemarks zum
Schengener Abkommen, zu erwarten ist.
Die Arbeit zur Gewährleistung der Sicherheit ist an-
ders. Das haben wir an der Westgrenze erfahren. Die Hin-
terfeld- oder Vorfeldarbeit – egal, wie man sie bezeich-
net – ist natürlich stärker gefragt. Dies ist personell
unterlegt.
Bezogen auf Ihre Frage zu den 233 Dienstposten, habe
ich ganz bewusst einmal den Werdegang geschildert. Er
war – das sage ich Ihnen in aller Offenheit – nicht so sehr
sicherheitspolitisch unterlegt. Es gab vielmehr ein perso-
nelles Problem, das gelöst werden musste. Daher hat man
diese kw-Vermerke an zwei Stellen untergebracht. Eine
davon betrifft Schleswig-Holstein; dort geht es um
233 Dienstposten. Die anderen beziehen sich auf den
Köln/Bonner Raum.
Bitte.
Frau
Präsidentin, wenn ich nachfragen darf: Meine erste Frage,
die Frage nach dem gemeinsamen Lage- und Sicherheits-
zentrum, ist nicht beantwortet worden. Sie haben sehr
fundiert Auskunft gegeben. Die Frage aber schloss sich an
das gemeinsame deutsch-skandinavische Lage- und Si-
cherheitszentrum an.
F
Inwieweit dies einbezogen wer-den wird, ist derzeit nicht definitiv zu beantworten. Ichgebe Ihnen da gerne noch einen weiteren Sachstandsbe-richt. Ich gestehe Ihnen dabei in aller Offenheit ein, dasswir noch einmal überprüfen, ob die derzeit vorhandene
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer12412
Konzeption der Sachlage gerecht wird. Das zuständigePräsidium Nord ist gerade damit befasst. Ich denke, dasswir gute Lösungen finden werden.
Frau
Präsidentin, ich begrüße es, dass der Herr Staatssekre-
tär – –
Herr Kollege,
eigentlich dürfen Sie keine Zusatzfrage mehr stellen.
Das ge-
rade war eine Nachfrage zu meiner ersten Frage, weil die
Antwort nicht auf den Punkt gebracht worden ist, Frau
Präsidentin. Kann ich jetzt trotzdem zu meiner zweiten
Frage kommen?
Es liegt im Er-
messen der Antwortenden, sich gelegentlich so auszu-
drücken, wie sie es möchten.
Aber
wir haben es mit einem Staatssekretär zu tun, der in der
Sache ausgesprochen kompetent ist und insofern eine
zweite Frage zulässt.
Da sind wir uns
einig. Bitte.
Herr
Staatssekretär, ich habe Verständnis dafür, dass Sie noch
einmal darauf aufmerksam machen, dass Ihre Konzeption
für den Nordteil Deutschlands und damit für Skandina-
vien ähnlich der Konzeption der früheren Regierung an
der Westgrenze gewesen ist, den Personalbestand trotz
des Schengener Abkommens zu erweitern und zu verstär-
ken, um die Sicherheitssituation für die Bürger zu verbes-
sern.
In dem Zusammenhang möchte ich Sie gerne fragen,
ob Sie der Auffassung sind, dass eine elektronische Über-
wachung, wie es das Königreich Dänemark betreibt – ich
habe mir das mit meinem dänischen Kollegen Erik
Jacobsen angesehen –, auch von der Bundesrepublik
Deutschland durchgeführt werden sollte.
Sie wissen, dass wir allein in den letzten anderthalb
Jahren über 3 800 Aufgriffe hatten. Es erfolgten also über
die Hälfte aller Aufgriffe in Deutschland an der Nord-
grenze.
F
Herr Kollege Börnsen, Tatsache
ist, dass mit dem 21. März 2001 Grenzkontrollen wegfal-
len. Das heißt, diese Arbeit wird nicht mehr erledigt. Die
Sicherheit wird dann durch andere Verfahren und Metho-
den, die im Übrigen auch personell mit entsprechenden
Zahlen unterlegt sind, wie ich es geschildert habe, ge-
währleistet.
Ich habe das Schengener Abkommen immer so ver-
standen, dass man keine elektronischen Grenzkontrollen
haben wollte, und die Erfahrung ist, dass dies im Grunde
genommen auch nicht notwendig ist.
Was die konkreten diesbezüglichen Planungen der dä-
nischen Seite anbelangt, kann ich Ihnen derzeit Konkre-
teres nicht sagen. Eigentlich würde mich das, was Sie an-
führen, etwas verwundern.
Es gibt keine
weiteren Zusatzfragen zu diesem Punkt. Danke schön,
Herr Staatssekretär.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Finanzen. Die Fragen wird Frau Staats-
sekretärin Hendricks beantworten.
Wir kommen zur Frage 3 des Abgeordneten Max
Straubinger:
Ist der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung von
Einkünften mit den Plänen der Bundesregierung, eine Entfer-
nungspauschale in Höhe von 0,80 DM je Kilometer einzuführen,
noch gewährleistet, angesichts der Tatsache, dass ein Berufspend-
ler, der mit der Deutschen Bahn fährt, zum Beispiel auf der
20 000 DM bei der Jahressteuererklärung als Werbungskosten in
Ansatz bringen kann?
Bitte.
D
Herr Kollege Straubinger,
die Bundesregierung sieht in der geplanten Entfernungs-
pauschale von 0,80 DM keinen Verstoß gegen den Grund-
satz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, weil alle
Berufspendler, also auch die Kfz-Pendler, die Entfer-
nungspauschale erhalten.
Die Umstellung auf eine einheitliche verkehrsmittel-
unabhängige Entfernungspauschale schafft hinsichtlich
der steuerlichen Entlastungswirkung Wettbewerbsgleich-
heit zwischen den Verkehrsträgern, verbessert die Aus-
gangslage für den öffentlichen Personennahverkehr und
fördert die Bildung von Fahrgemeinschaften. Sie ist des-
halb auch ein wichtiger umweltpolitischer Beitrag.
Ihre erste Zu-
satzfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin,betrachten Sie es aber nicht trotzdem als riesige steuerli-che Subvention, wenn die Entfernungspauschale letzt-endlich solche Verwerfungen verursacht, wie ich sie inmeiner Frage aufgezeigt habe, indem bei einer Entfernungvon 125 Kilometern – das ist ein Beispiel aus meinemWahlkreis – und bei unterstellten 200 Arbeitstagen je-mand, der einen Jahresaufwand von 3 487 DM hat – ichhabe mich extra nochmals kundig gemacht –, 20 000 DMals Werbungskosten steuerlich geltend machen kann unddies im Endeffekt bei einem 50-prozentigen Steuersatz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper12413
bedeutet, dass der Steuerpflichtige für einen Aufwand von3 487 DM dann 10 000 DM effektiv herausbekommt? Wi-derspricht das nicht eklatant den Grundsätzen der Gleich-mäßigkeit der Besteuerung von Einkünften?D
Herr Kollege Straubinger,
es kann selbstverständlich zu Überkompensationen kom-
men. Das liegt im Übrigen in der Natur einer Pauschalie-
rungsregelung und das ist auch nicht neu. Auch die der-
zeit geltende Kilometerpauschale von 0,70 DM kann je
nach der Art des verwendeten Kraftfahrzeugs und der Ent-
fernung zu einer Überkompensation führen.
Es ist in der Tat so, dass eine Pauschalierung nicht auf
die tatsächlichen Aufwendungen abstellt, und insofern
geht es hier um die Gleichstellung der zurückgelegten
Entfernung, unabhängig von dem dazu benutzten Ver-
kehrsmittel. Pauschalierungen haben immer – jeweils ab-
hängig von den persönlichen Einkommensteuerverhält-
nissen – unterschiedliche Auswirkungen.
Bitte.
Frau Staatssekretärin,
ich habe ja Verständnis für Pauschalierungen, weil sie
manches im Vollzug erleichtern, aber wenn dann solche
Ergebnisse zutage treten, wie ich sie aufgezeigt habe,
müsste man dann nicht darüber nachdenken, unterschied-
liche Pauschalsätze einzuführen? Nach dem Steuerrecht
müsste ja eigentlich gegeben sein, dass nur die tatsächli-
chen Aufwendungen oder die zu erwartenden Aufwen-
dungen abgesetzt werden können, aber nicht irgendwel-
che fiktiven Höchstbeträge.
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Betrieben er-
laubt wird, dass sie in der Betriebsmittelrechnung den
Jahreshöchststand des Heizölpreises in Ansatz bringen
können.
D
Herr Kollege Straubinger,
es können natürlich nur die tatsächlich angefallenen Be-
triebskosten geltend gemacht werden. Das ist klar und
selbstverständlich. Diese lassen sich in der Bilanz nach-
weisen. Hierbei handelt es sich auch nicht um Pauschalen.
Ich habe gerade schon versucht, deutlich zu machen,
dass Pauschalen immer auch einen Vereinfachungstatbe-
stand beinhalten und dass Pauschalen bei einem mit einer
Progression arbeitenden Steuerrecht auch eine progres-
sive Wirkung haben. Ich kann mir schlechterdings nicht
vorstellen, dass wir hier nach Einkommenshöhe degressiv
gestaffelte Pauschalen vorsehen könnten. Dies wäre ja der
Vorschlag, der in Ihrer Frage enthalten ist. Wenn man den
tatsächlichen Aufwand ohne irgendeine Pauschalierungs-
regelung geltend machen könnte, würde dies zu einem
unvertretbaren Verwaltungsmehraufwand führen.
Insofern stellt die Einführung einer Entfernungspau-
schale von 80 Pfennig je Kilometer zwar einen neuen Tat-
bestand im Sinne der Erfüllung einer Höchstforderung
und im Sinne der Gleichstellung der Verkehrsträger dar.
Aber auch die Entfernungspauschale wirkt wie jede an-
dere Pauschale.
Zusatzfrage des
Kollegen Otto.
Frau Staats-
sekretärin, der entscheidende Unterschied – das teilen Sie
aber nicht mit – zur Kilometerpauschale liegt aber darin,
dass bei der Kilometerpauschale ein Aufwand tatsächlich
entstanden sein muss. Bei der Entfernungspauschale hin-
gegen ist das nicht gefordert. Deswegen ist die Frage des
Kollegen Straubinger berechtigt.
Ich frage Sie ganz präzise: Halten Sie es wirklich für
vertretbar, dass ein Fußgänger oder ein Fahrradfahrer, die
überhaupt keinen messbaren Aufwand haben, trotzdem
die Entfernungspauschale geltend machen können?
D
Herr Kollege Otto, da Sie
auf das Beispiel des Herrn Kollegen Straubinger abheben,
der in seiner Frage beispielhaft die Strecke zwischen Lan-
dau und München von 125 Kilometern angeführt hat,
gehe ich davon aus, dass hiermit kein Fußgänger gemeint
ist.
– Gut. Ich wollte dies nur zunächst einmal klarstellen.
Kosten können in der Größenordnung, die Herr Kol-
lege Straubinger in seiner Frage aufgezeigt hat, für
Fußgänger niemals entstehen, weil Fußgänger diese Ent-
fernung schlechterdings arbeitstäglich nicht zurücklegen
können.
Wenn Sie davon ausgehen, dass ein Fußgänger auf dem
Weg zur Arbeit eine Entfernung zurücklegt, die einiger-
maßen plausibel erscheint, nämlich zum Beispiel fünf Ki-
lometer für einen Weg – was schon bedeuten würde, dass
man dann, wenn man geht und nicht rennt oder läuft, etwa
eine Stunde braucht –, bedeutet das, dass die Entfer-
nungspauschale zu keiner besonderen Entlastung führt,
denn man muss sich mindestens elf Kilometer von zu
Hause bis zur Arbeitsstätte bewegen, um überhaupt über
den Arbeitnehmerpauschbetrag in Höhe von 2 000 DM,
den man sowieso hat, zu kommen. Wenn man also nicht
zugleich noch andere Aufwendungen wie zum Beispiel
Beiträge für Gewerkschaften, Berufsverbände, Aufwen-
dungen für Berufskleidung und anderes hat, müsste man
als Fußgänger mindestens elf Kilometer am Tag zurück-
legen, um überhaupt in den Genuss einer naturgemäß be-
grenzten Entfernungspauschale zu kommen. Ansonsten
wäre dies schon durch den normalen Arbeitnehmer-
pauschbetrag abgegolten.
Zusatzfrage desKollegen Deß.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Max Straubinger12414
Frau Staatssekretärin
Hendricks, entsteht durch diese neue Entfernungspau-
schale nicht eine Ungerechtigkeit dahin gehend, dass es
auf dem flachen Land, wo keine öffentlichen Verkehrs-
mittel zur Verfügung stehen, viele Arbeitnehmer gibt, die
tagtäglich auf ihr Auto angewiesen sind und die oft in der
Niedriglohngruppe arbeiten, also fast nichts steuerlich ab-
setzen können, während ein gut verdienender Angestell-
ter, der mit seinen Fahrten in die nächste Großstadt unter
die Entfernungspauschale fällt, gewaltige Summen „ab-
stauben“ kann? Entsteht hier nicht eine soziale Schief-
lage?
D
Herr Kollege Deß, Sie
müssen sich vorstellen, dass nun erstmals zum Beispiel
Menschen aus dem ländlichen Raum, wo keine öffentli-
chen Verkehrsmittel in nennenswertem Umfang zur Ver-
fügung stehen – diese Menschen sind also auf ihr Auto an-
gewiesen –, in der Weise steuerlich gefördert werden, dass
jeder Einzelne jetzt auch in einer Fahrgemeinschaft die
Fahrtkosten steuerlich geltend machen kann, was vorher
nur für einen möglich war. Insofern ist eine Möglichkeit
gegeben, die gerade auch für Arbeitnehmer im ländlichen
Raum wirken kann.
Im Übrigen ist es natürlich auch möglich, seine Ver-
kehrsmittel zu kombinieren, also zum Beispiel mit einem
Auto, einem Motorrad oder einem Fahrrad zum nächstge-
legenen Bahnhof zu fahren und dann eine Fahrkarte des
öffentlichen Personennahverkehrs zu lösen.
Ich glaube, jetzt
gibt es keine weiteren Zusatzfragen. Dann danke ich Ih-
nen, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Wirtschaft und Technologie. Der Parlamenta-
r
Bleibt es bei der am 11. Oktober 2000 im Ausschuss für Wirt-
schaft und Technologie genannten hälftigen Kostenaufteilung für
die Weltausstellung EXPO 2000 zwischen dem Bund und dem
Land Niedersachsen und gibt es Anzeichen für eine Überschrei-
tung des derzeit bekannten Defizits der EXPO 2000 in Höhe von
2,4 Milliarden DM?
S
Frau Präsiden-
tin! Liebe Frau Kopp, Sie haben noch einmal die EXPO-
Frage aufgeworfen. Ich möchte darauf hinweisen, dass es
am 24. August ein Gespräch des Bundesfinanzministers
mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten gab und
dass in diesem Gespräch Übereinstimmung erzielt wurde,
dass alle Anstrengungen darauf gerichtet werden müssen,
den Verlust der EXPO Hannover GmbH so gering wie
möglich zu halten. Im Übrigen sollen die Gespräche nach
Abschluss der Weltausstellung in Kenntnis ihres wirt-
schaftlichen Ergebnisses fortgesetzt werden.
Durch die, wie Sie wissen, in den letzten Wochen an-
ziehenden Besucherzahlen kann es sein, dass die Ergeb-
nisse besser ausfallen, als wir befürchten mussten.
Aber die Entscheidung ist noch nicht abzusehen. Ich kann
Ihnen nur sagen: Wir hoffen sehr, dass die Überschrei-
tung, die Sie befürchtet haben, nicht eintritt und man sich
dann in sinnvoller Weise auf ein Verfahren einigt.
Bitte.
Herr Staatssekretär, haben Sie
denn derzeit Kenntnis von einer möglichen Überschrei-
tung dieses Defizits von 2,4 Milliarden DM? Denn darum
geht es mir speziell.
S
Nein, habe ich
nicht. Die abschließenden Zahlen liegen noch nicht vor.
Ich habe die Besucherzahlen der letzten Wochen gesehen,
die deutlich angestiegen sind. Wir haben im Gesamter-
gebnis, auch weil Herr Otto selber noch einmal da war, be-
achtliche Besucherzahlen erreicht.
Deshalb will ich einfach abwarten, wie das ausgeht, und
lieber später positive Meldungen verbreiten. Wir haben
keine Anhaltspunkte dafür, dass das Defizit überschritten
wird.
Bitte.
Ich hätte auch gern eine Ant-
wort zu Teil zwei, zu der Kostenaufteilung 50:50.
Aber darf ich noch die Frage anschließen: Wann rech-
net denn die Bundesregierung mit einem Ergebnis? Wann
werden Sie Sicherheit haben?
S
Wir sind jetzt
dabei, die Prozesse im Einzelnen abzuwickeln. Ich kann
es nicht auf einen Tag genau sagen.
– Ich kann auch nicht sagen, dass wir Ihnen das zu Weih-
nachten liefern. Ich bin sicher, dass wir darüber im Wirt-
schaftsausschuss berichten werden.
Zusatzfrage des
Kollegen Otto.
– Sie hatten schon zwei Fragen.
S
Zu Teil zwei
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12415
wollte ich nur sagen: Es gibt keine neuen Verabredungen.Die Vereinbarungen zwischen dem MinisterpräsidentenGabriel und dem Finanzminister gelten weiterhin.
In diesem
Zusammenhang die Frage an Sie, Herr Staatssekretär:
Sind Sie nicht der Auffassung, dass es die Verhandlungs-
position des Bundes erheblich verfestigen würde, wenn
Sie klipp und klar vor dem Deutschen Bundestag erklär-
ten, dass es bei der hälftigen Aufteilung bleibt? Bisher gab
es windelweiche Erklärungen: Wir reden darüber; das war
vereinbart worden. – Sind Sie nicht der Auffassung, dass
es für die finanziellen Interessen des Bundes vorteilhaft
wäre, dass Sie heute vor dem Deutschen Bundestag er-
klären, dass es dabei bleibt?
S
Jede Erklärung
eines Staatssekretärs vor dem Deutschen Bundestag ist in
ihrem Wert nicht zu unterschätzen. Deshalb bleibt es bei
dem, was ich eben schon Frau Kopp, die die Fragestelle-
rin war, gesagt habe, nämlich dass es bei der Verabredung
zwischen dem Finanzminister und dem Ministerpräsiden-
ten bleibt.
– Ja, das war die Prämisse. Dabei bleibt es.
Zusatzfrage der
Kollegin Lippmann.
Herr Staatssekretär, ich
möchte genau da anknüpfen. In der niedersächsischen
Presse ist in den vergangenen Monaten immer wieder da-
rauf hingewiesen worden, dass es Absprachen zwischen
Bundeskanzler Schröder und dem Ministerpräsidenten
Sigmar Gabriel über eine anderweitige Aufteilung gege-
ben habe: Der niedersächsische Anteil werde niedriger
sein als bisher. Sie haben dies bisher nicht bestätigt. Kön-
nen Sie uns sagen, in welchem Verfahren dies gegebe-
nenfalls vom Haushaltsausschuss oder vom Parlament
verabschiedet werden müsste?
S
Ich kann nur das
wiederholen, was ich eben gesagt habe: Wir sind dabei,
die Prozesse abzuwickeln. Wir werden dann mit den im
Vertrag vorgesehenen Verfahren, wenn alle betriebswirt-
schaftlichen Ergebnisse vorliegen, eine Einigung her-
beiführen, wobei die Grundpfeiler eben von mir dargelegt
worden sind.
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Straubinger.
Herr Staatssekretär,
werden bei möglichen Verhandlungen über eine höhere
Beteiligung des Bundes, die über die 50 Prozent beim zu
erwartenden Defizit hinausgehen – das kennen wir noch
nicht genau –, getätigte Infrastrukturmaßnahmen in die
Rechnung einbezogen, um auch diese bewerten zu kön-
nen und damit zu einer ganz neuen Form der Gemein-
schaftsfinanzierung zu kommen?
S
Es ist vereinbart
worden, dass der Bund und das Land Niedersachsen über
das, was am Ende unterm Strich übrig bleibt, sprechen. Da
der niedersächsische Ministerpräsident gesagt hat, dass es
gar kein Defizit gibt, weil wir Steuereinnahmen haben,
sind wir sehr zuversichtlich, dass die EXPO ein Erfolg
wird und dass wir auch die Finanzierung gut abschließen
werden, Herr Straubinger.
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Seifert.
Herr Staatssekretär, da Sie von
einem „möglicherweise etwas besseren Ergebnis“ spra-
chen, mit dem man rechnen kann, möchte ich dazu etwas
anmerken. Es handelt sich doch hier, wenn ich das richtig
sehe, um eine privatrechtliche Gesellschaft mit be-
schränkter Haftung. Wäre es bei einem Verlust von
2,5 Milliarden DM nicht angemessener, bestenfalls von
einem „etwas weniger schlechten Ergebnis“ zu reden?
Denn ein besseres Ergebnis ist die Steigerung eines guten
Ergebnisses.
S
Ich glaube, Sie
haben die Kategorien verwechselt. Ein besseres Ergebnis
kann man auch gegenüber einem schlechteren Ergebnis
erzielen. Besser ist nicht unbedingt die Steigerung von
gut – jedenfalls nach meinem Sprachempfinden. Mehr
will ich dazu nicht sagen.
Weitere Nach-
fragen liegen nicht vor. Danke schön, Herr Staatssekretär.
Die Frage 5 wird schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Aus-
wärtigen Amtes. Der Staatsminister Ludger Volmer wird
die Fragen beantworten.
Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Otto auf:
Wie bringt die Bundesregierung ihre mir in der Fragestundeam 25. Oktober 2000 zu Frage 8 erteilte Auskunft, sie habe keine Kosten verursa-chende PR-Kampagne in Tschechien gestartet, in Einklang mit derPressemitteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundes-regierung vom 2. Oktober 2000, wonach dieses von Ende Augustbis Ende September 2000 zur „Förderung nachbarschaftlichenZusammenlebens und des Nachbarschaftsgefühls“ unter derSchirmherrschaft des Bundeskanzlers eine PR-Aktion in Polenund Tschechien mit Kosten von „circa 2,4 Millionen DM“ veran-staltet habe?
Bitte, Herr Staatsminister.
D
Herr Kollege Otto, die Antwort von Staatsminister
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf12416
Dr. Zöpel auf Ihre Frage „Trifft es zu, dass die Bundesre-gierung angesichts des als schlecht kritisierten Images derBundesrepublik Deutschland in Tschechien eine PR-Kampagne in den dortigen Medien startet und welcheKosten sind dafür geplant?“ lautete am 25. Oktober 2000korrekt: Nein. Die Bundesregierung hat in der Tat keinesolche PR-Kampagne in den tschechischen Mediendurchgeführt oder geplant.Das Presse- und Informationsamt der Bundesre-gierung, auf das Sie sich jetzt in Ihrer Frage beziehen,
hat vielmehr in der Zeit vom 26. August bis 30. Septem-ber dieses Jahres in sechs Orten entlang der deutsch-pol-nischen und deutsch-tschechischen Grenze – davon ei-nem in der Tschechischen Republik – Bürgerfeste unterdem Motto „Nachbarn treffen Europa“ veranstaltet. DieBürgerfeste fanden in Eisenhüttenstadt am 26. August, inGörlitz am 2. September, in Pirna am 16. September, inReichenberg – das ist in Tschechien – am 23. September,
in Schwedt am 23. September und in Swinemünde in Po-len am 30. September 2000 statt.Es handelte sich dabei nicht um eine PR-Aktion in Po-len und Tschechien, sondern, wie aus der von Ihnen zi-tierten Pressemitteilung des Bundespresseamtes erkenn-bar, um eine Veranstaltungsreihe mit Schwerpunkten inBrandenburg und Sachsen. Die sechs Bürgerfeste dientenim Vorfeld der EU-Erweiterung dem Ziel, das nachbar-schaftliche Zusammenleben und das Nachbarschaftsge-fühl beiderseits der deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenze, vor allem unter den Bürgerinnenund Bürgern, weiter zu fördern.
Bitte.
Herr Staats-
sekretär – –
Er ist Staatsmi-
nister.
Hans-Joachim Otto (F.D:P.): Entschuldi-
gung, Herr Staatsminister. Das war ein schweres Verse-
hen. Herr Staatsminister, ich hoffe, Sie verzeihen mir die-
ses schwere Versehen? – So ganz nicht, das merke ich.
Was erwidern Sie mir, wenn ich behaupte, dass die Ant-
wort des Herrn Staatsministers Dr. Zöpel auf meine Frage
symptomatisch für die wirklich inakzeptable Informati-
onspolitik der Bundesregierung gegenüber den Abgeord-
neten in der Fragestunde ist; zumal ein Großteil der Kos-
ten dieser Aktion, die Sie erwähnt haben,
Schaltungskosten in tschechischen Medien waren? Was
erwidern Sie auf meinen Vorwurf?
D
Ich erwidere auf ihre Frage, dass ich Ihre Einschät-
zung nicht teile.
Bitte.
Herr Staats-
minister, kann ich in Zukunft auch vom Auswärtigen Amt
erwarten, dass ich, wenn ich eine präzise Frage nach einer
PR-Aktion und nach Schaltungen in tschechischen Me-
dien stelle, wahrheitsgemäße und nicht – wie dieses Mal –
nicht wahrheitsgemäße Antworten erhalte, zumal in die-
ser Aktion in Tschechien Schaltungskosten in erhebli-
chem Maße angefallen sind? Kann ich von Ihnen in
Zukunft präzisere und wahrheitsgemäße Antworten er-
warten?
D
Sehr geehrter Herr Abgeordneter, wenn Sie nach
Schaltungskosten fragen, erhalten Sie Antworten zu
Schaltungskosten. Wenn Sie nach PR-Aktionen fragen,
erhalten Sie Antworten zu PR-Aktionen.
Sie bekommen immer auf das eine Antwort, wonach Sie
fragen.
Wir kommen
zur Frage 7 des Abgeordneten Koschyk:
Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung über eine et-
waige polnische Bereitschaft, der Europäischen Charta der Re-
gional- oder Minderheitensprachen vom 5. Oktober 1992 beizu-
treten, und wie beurteilt die Bundesregierung das vom Parlament
der Republik Polen am 7. Oktober 1999 beschlossene Gesetz über
die polnische Sprache vor allem hinsichtlich des Gebrauchs von
regional- und Minderheitensprachen in Polen, zum Beispiel der
deutschen Sprache in den Hauptwohngebieten der deutschen Min-
derheit in Polen, im öffentlichen Raum?
D
Herr Kollege Koschyk, die Bundesregierung würdees begrüßen, wenn möglichst viele europäische Staatender Europäischen Charta der Regional- oder Minderhei-tensprachen beitreten würden. Die Republik Polen hatnach Kenntnis der Bundesregierung die EuropäischeCharta der Regional- oder Minderheitensprachen bislangnicht unterzeichnet. Der Bundesregierung liegen hin-sichtlich der polnischen Bereitschaft keine konkreten An-gaben vor.Das polnische Gesetz über die polnische Sprache istam 8. Mai 2000 in Kraft getreten. Das Gesetz regelt – wieim Übrigen auch anderswo üblich –, dass die Landesspra-che zugleich Amtssprache ist. Darüber hinaus gilt der all-gemeine Grundsatz der Verwendung der polnischen Spra-che bei öffentlichen Tätigkeiten und im Rechtsverkehr.Hierdurch ist nicht nur die öffentliche Verwaltung imHinblick auf ihre eigenen Verwaltungshandlungen gebun-den, sondern zugleich auch jede Person, die gegenüber
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Staatsminister Dr. Ludger Volmer12417
den in Art. 4 des Gesetzes ausdrücklich aufgezählten Ver-waltungsorganen Erklärungen abgibt. Dies bedeutet, dasszum Beispiel Genehmigungsanträge an die Organe der öf-fentlichen Verwaltung oder die lokalen Selbstverwal-tungsorgane in polnischer Sprache einzureichen sind. ImVergleich mit dem vorherigen Rechtszustand in Polen be-deutet dies keine Änderung. Art. 2 des Gesetzes besagt,dass durch das Gesetz die Rechte nationaler Minderheitenund ethnischer Gruppen nicht beeinträchtigt werden.Die nationalen und ethnischen Minderheiten in der Re-publik Polen haben laut Art. 35 der polnischen Verfassungdas Recht auf Wahrung und Entwicklung der eigenenSprachen sowie auf Entwicklung der eigenen Kultur undWahrung ihrer Bräuche und Traditionen. Darüber hinausregelt Art. 27 der polnischen Verfassung in Ausübung desRechts eines Staates zur Einführung und Verwendung ei-ner einheitlichen Amtssprache, dass in der Republik Po-len Polnisch Amtssprache ist.Die Interessen der ethnischen und nationalen Minder-heiten in Polen zur Verwendung der jeweiligen Minder-heitensprache sollen in einem Minderheitengesetz gere-gelt werden. Dies liegt seit geraumer Zeit zur Beratung inden Ausschüssen des Sejm. Der Gesetzentwurf sieht inder jetzigen Fassung vor, dass Minderheitensprachen inMinderheitengebieten im Verkehr mit den Behörden alsso genannte Hilfssprachen verwandt werden können.
Herr Kollege.
Herr Staatsminister,
herzlichen Dank.
Ich entnehme Ihrer Antwort, dass sich die Bundesre-
gierung sehr ausführlich mit diesem polnischen Gesetz
über die polnische Sprache befasst hat.
Wie bewertet die Bundesregierung Art. 10 Abs. 2 die-
ses Gesetzes, wonach Namen und Texte in polnischer
Sprache auch unter den durch Verordnung des Ministers
für öffentliche Verwaltung bestimmten Bedingungen und
Voraussetzungen durch fremdsprachliche Übersetzungen
ergänzt werden können, im Hinblick auf die – auch in Fra-
gestunden – immer wieder bestätigten Bemühungen der
Bundesregierung, gemäß dem Briefwechsel zum deutsch-
polnischen Nachbarschaftsvertrag zur Verwendung deut-
scher Ortsnamen in den Hauptwohngebieten der deut-
schen Minderheit in Polen zu gelangen? Das ist ja nach
der von mir zitierten Gesetzesstelle möglich. Hat die Bun-
desregierung unter Bezugnahme auf dieses polnische Ge-
setz einen entsprechenden Vorstoß gegenüber der polni-
schen Regierung unternommen?
D
Nach unserem Eindruck geht die polnische Gesetz-
gebung in Bezug auf die Sprachenfrage in eine Richtung,
die unserem Interesse entspricht. So ist in dem Gesetz
über die Minderheitensprachen vorgesehen, dass diese
zumindest als Hilfssprachen benutzt werden können.
Wenn dies praktisch zu dem führen würde, was Sie gerade
nennen, dann wäre das eine sehr begrüßenswerte Ent-
wicklung.
Eine zweite Zu-
satzfrage.
Herr Staatsminister,
kann ich davon ausgehen, dass die Bundesregierung unter
Bezugnahme auf dieses Gesetz sowie auf die Aussage des
Briefwechsels zum deutsch-polnischen Nachbarschafts-
vertrag auf die polnische Regierung zugehen und unter
Hinweis auf die polnische Rechtslage ein Entgegenkom-
men von Polen bei der Verwendung von topographischen
Namen in deutscher Sprache in Hauptwohngebieten der
deutschen Minderheit erbitten wird?
D
Die Bundesregierung befindet sich ständig mit der
polnischen Seite im Gespräch, und zwar nicht nur auf der
Basis des Nachbarschaftsvertrages, sondern auch mit der
Perspektive einer möglichen EU-Mitgliedschaft Polens.
Dies ist ein weiterer Anlass, die gutnachbarschaftlichen
Beziehungen auszubauen und auf alle Fragen zu er-
strecken, die von beiderseitigem Interesse sind.
Ich glaube, es
besteht nicht der Wunsch nach weiteren Zusatzfragen.
Wir kommen zur Frage 8 des Abgeordneten Hartmut
Koschyk:
Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung über denStand des Gesetzgebungsprozesses im polnischen Parlament übereinen Gesetzentwurf zur Reprivatisierung von nach dem ZweitenWeltkrieg enteignetem Vermögen und in welcher Weise werden inden derzeitigen Beratungen zu diesem Gesetzentwurf Personen,die zum Zeitpunkt des Verlustes des Vermögens nicht im Besitzder polnischen Staatsangehörigkeit waren, bei Rückgabe- oderEntschädigungsregelungen berücksichtigt?
D
Herr Koschyk, das polnische Parlament beschäftigt
sich seit mehr als einem Jahr mit dem Entwurf eines Ge-
setzes über Reprivatisierung von Liegenschaften, die vom
Staat übernommen wurden; so zumindest der Text des
Entwurfs. Der Gesetzentwurf wird noch in zweiter Le-
sung behandelt, ein Termin der Verabschiedung ist dem
Auswärtigen Amt nicht bekannt. Nach Art. 4 Ziffer 2 des
Gesetzentwurfes haben Personen, die die polnische
Staatsangehörigkeit nach Maßgabe des Dekrets vom
13. September 1946 über den Ausschluss von Personen
deutscher Volkszugehörigkeit aus der polnischen Gesell-
schaft endgültig verloren haben, sowie Personen, die zwar
die polnische Staatsangehörigkeit nachträglich erworben,
Polen jedoch bis zum 8. März 1984 verlassen haben, kei-
nen Anspruch auf Reprivatisierungsleistungen. Anderer-
seits haben Deutsche, die nachträglich die polnische
Staatsangehörigkeit erworben und diese bis zum 31. De-
zember 1999 noch innehatten sowie länger als bis zum
8. März 1984 in Polen geblieben sind, einen Restitutions-
anspruch.
Bitte.
Herr Staatsminister,hat die Bundesregierung aufgrund der Umstände, die Sie
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Staatsminister Dr. Ludger Volmer12418
eben geschildert haben, nämlich dass es unter bestimmtenGesichtspunkten einen Restitutionsanspruch gibt, ge-prüft, in welcher Weise dies dann auch für Angehörige derdeutschen Minderheit in Polen zutreffen würde?D
Wir haben vor kurzem in einem Gespräch auf Be-
amtenebene darauf hingewiesen, dass beim EU-Beitritt
Polens – mit der Folge eines gemeinsamen Binnenmark-
tes – kein Grund vorhanden wäre, bestimmte Volksgrup-
pen vom Grunderwerb auszuschließen.
Eine weitere Zu-
satzfrage.
Wie hat die polni-
sche Seite darauf reagiert?
D
Wir haben den Eindruck, dass immer dann, wenn
völkerrechtliche oder staatsrechtliche Fragen nicht pro-
nonciert in den Vordergrund gestellt werden, sondern man
sich pragmatisch um Einzelfragen bemüht, die Bereit-
schaft vorhanden ist, zu vernünftigen Lösungen zu kom-
men.
Ich rufe jetzt die
Frage 9 der Abgeordneten Sylvia Bonitz auf:
Wie steht der Bundesminister des Auswärtigen, JosephFischer, heute zu der Tatsache, dass 1973 der Ex-Terrorist Hans-Joachim Klein, gegen den jetzt vor dem Frankfurter Landgerichtdas Gerichtsverfahren wegen dreifachen Mordes sowie versuch-ten Mordes beim Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien imJahr 1975 begonnen hat, im Auto von Joseph Fischer gestohleneSchusswaffen transportiert hatte?
D
Frau Präsidentin, ich möchte die Fragen 9 und 10,
die miteinander im Zusammenhang stehen, gemeinsam
beantworten.
Dann rufe ich
auch die Frage 10 der Abgeordneten Sylvia Bonitz auf:
Welcher Art waren die Kontakte des Bundesministers des Aus-wärtigen, Joseph Fischer, zum Ex-Terroristen Hans-JoachimKlein und bis zu welchem Zeitpunkt – bitte Jahresangabe – be-standen diese Kontakte fort?
D
Frau Kollegin, auf Wunsch der Bundesanwaltschaft
hat es Anfang der 80er-Jahre zu dem gesamten Problem-
komplex, den Sie angesprochen haben, ein ausführliches
Gespräch mit dem damaligen MdB Fischer gegeben. Dem
ist keine weitere Erklärung hinzuzufügen.
Bitte, Frau Ab-
geordnete, eine Zusatzfrage.
Das ist keine Beantwor-
tung meiner Fragen. Ich erlaube mir daher nachzufragen.
Da Sie offensichtlich weder meine erste noch meine
zweite Frage beantworten wollen, konkretisiere ich meine
Fragen dahin gehend, ob der heutige Außenminister
Fischer Erkenntnisse hat, um welche Art von Waffen es
sich handelte, die in seinem Wagen von dem Ex-Terroris-
ten Hans-Joachim Klein transportiert worden sind, gegen
den jetzt vor dem Frankfurter Landgericht ein Gerichts-
verfahren wegen dreifachen Mordes sowie versuchten
Mordes beim Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien
im Jahre 1975 begonnen hat.
D
Frau Kollegin, soweit es den ehemaligen Abgeord-
neten Fischer betrifft, habe ich Ihre Frage beantwortet.
Soweit Ihre Frage auf das zurzeit laufende Verfahren ge-
gen Herrn Klein Bezug nimmt, möchte die Bundesregie-
rung keinen Kommentar abgeben, weil sie sich nicht in
laufende Gerichtsverfahren einmischt.
Haben Sie noch
eine weitere Zusatzfrage?
Ja, natürlich. Meine Fra-
gen beziehen sich auf Herrn Fischer und weniger auf das
laufende Gerichtsverfahren. Deshalb frage ich noch ein-
mal: Wann hat Herr Joschka Fischer – heute Bundes-
außenminister, damals MdB – konkret erfahren, dass in
seinem Wagen gestohlene Schusswaffen transportiert
wurden, bzw. wusste er davon, bevor er seinen Wagen an
den Ex-Terroristen Hans-Joachim Klein verliehen hat?
D
Ich kann nur wiederholen, dass diese Fragen Anfang
der 80er-Jahre in einem Gespräch mit dem BKA ab-
schließend geklärt worden sind.
Das beantwortet meine
Fragen nicht. – Ich möchte gern noch weitere Zusatzfra-
gen stellen.
Sie können ins-
gesamt vier Zusatzfragen stellen, weil Sie zwei Fragen
schriftlich eingereicht haben.
Ich stelle also eine wei-
tere Zusatzfrage: Wie beurteilt der heutige Bundesaußen-
minister Joschka Fischer heute seine Kontakte zum Ex-
Terroristen Hans-Joachim Klein?
D
Das hat der heutige Bundesaußenminister in diver-
sen Büchern und Interviews mit aller Klarheit deutlich ge-
macht.
Ich möchte nicht überBücher unterrichtet werden. Ich habe hier im Parlament
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Hartmut Koschyk12419
eine Frage dazu gestellt und möchte, dass meine Frageauch hier im Parlament beantwortet wird.D
Ich denke, dass ich die Antwort mit aller Klarheit
gegeben habe.
Meine vierte und letzte
Zusatzfrage: Über welchen Zeitraum hinweg hatte Herr
Fischer Kontakt zu dem Ex-Terroristen Hans-Joachim
Klein?
D
Auch diese Frage habe ich Ihnen vorhin beantwor-
tet.
Sie können
keine weiteren Zusatzfragen mehr stellen.
Jetzt hat der Abgeordnete Deß eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, da Sie
sich immer auf die Erkenntnisse von 1980 berufen,
möchte ich die Frage stellen: Hat die Bundesregierung in-
zwischen Erkenntnisse darüber, ob das Auto, das dem
heutigen Bundesaußenminister Fischer gehörte, von
Herrn Klein gelegentlich benutzt wurde?
D
Da dies damals Gegenstand von Ermittlungen war
und diese Ermittlungen mit dem bekannten Ergebnis ab-
geschlossen worden sind, gibt es für die Bundesregierung
gar keinen Anlass, von sich aus zu recherchieren.
Herr Kollege
Deß darf eine weitere Zusatzfrage stellen, weil zwei
schriftlich eingereichte Fragen im Zusammenhang beant-
wortet wurden. – Bitte.
Herr Staatsminister, hat die
Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob im Rahmen
der damaligen Ermittlungen Fingerabdrücke auf den
Schusswaffen festgestellt wurden?
D
Die Bundesregierung sieht keinen Anlass, zu Er-
mittlungen, die 1980 stattgefunden haben, heute Stellung
zu nehmen.
Jetzt hat der
Kollege van Essen eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, gibt es
in der Zwischenzeit neue, insbesondere nachrichten-
dienstliche Erkenntnisse über den damaligen Vorgang, die
der Bundesregierung bekannt sind?
D
Ich wiederhole, dass wir nicht aus eigener Voll-
macht recherchieren. Sollten nachrichtendienstliche Er-
kenntnisse vorliegen, würde ich sie hier nicht öffentlich
ausbreiten.
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Schmidbauer.
Herr Staatsminis-
ter, glauben Sie nicht, dass es besser wäre und im Interesse
des Bundesaußenministers, hier anständige Antworten auf
die Fragen zu geben, anstatt ausweichend zu antworten?
Herr Abgeord-
neter Schmidbauer, Sie müssen schon eine Zusatzfrage
zum Thema stellen. Sie dürfen sich nicht melden, um ei-
nen Kommentar zur Art und Weise einer Antwort zu ge-
ben. Das ist keine Frage im Sinne unserer Geschäftsord-
nung. Sie können nur zur Sache nachfragen.
Im Übrigen verweise ich auf die Praxis in diesem
Hause. Sie werden sich daran erinnern, dass Sie einmal
selbst in dieser Rolle waren.
Frau Präsidentin!
Ich bin mir sehr bewusst, was in Fragestunden möglich ist
und was nicht.
Außenminister Fischer ist in diesem Verfahren eine der
Hauptpersonen. Danach wurde von einer Kollegin ge-
fragt. Meine Frage an den Staatsminister war, ob er nicht
glaube, dass im Zusammenhang mit dieser – ich gebe zu:
sensiblen – Fragestellung eine andere Auskunft besser
wäre, als sich die ganze Zeit vor dem Parlament um eine
entsprechende Aussage zu drücken. Er kann natürlich
Nein sagen. Wie Sie zu Recht betont haben, ist das seine
Angelegenheit. Das ist richtig.
D
Herr Kollege, ich weise Ihre Unterstellung zurück,
dass Herr Fischer Gegenstand des Verfahrens gegen Herrn
Klein sei.
Es ist beantragtworden, die Sitzung zu unterbrechen, und zwar vonder Fraktion der Bündnisgrünen. Es gibt jetzt mehrere
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Sylvia Bonitz12420
Wortmeldungen zur Geschäftsordnung. Das Wort hatzunächst Eckart von Klaeden.
Frau Präsidentin!
Ich möchte für meine Fraktion den Geschäftsordnungsan-
trag stellen, die Fragestunde abzubrechen, weil angesichts
dieser Auskunftsverweigerung der Bundesregierung eine
Fragestunde keinen Sinn macht.
Es gibt eine wei-
tere Wortmeldung zur Geschäftsordnung. Herr Küster,
bitte.
Frau Präsidentin! Der Antrag
der Unionsfraktion ist mir sehr wohl zu Ohren gekom-
men. Da es sich um eine grundsätzliche Erwägung han-
delt, bitte ich, dass sich der Ältestenrat auf seiner morgi-
gen Sitzung damit befasst. Ich gebe im Hinblick auf den
Antrag der Unionsfraktion jetzt gerne nach. Brechen wir
die Fragestunde ab! Wegen grundsätzlicher Erwägungen
bitte ich, dass sich der Ältestenrat und der Geschäftsord-
nungsausschuss morgen damit befassen. Dann können
wir darüber weiterdiskutieren.
Eine Wortmel-
dung zur Geschäftsordnung des Kollegen Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Man kann sehr unter-
schiedlicher Auffassung sein, inwiefern der Herr Staats-
minister die Fragen überhaupt beantwortet hat oder nicht.
Den Stil, den die Regierung praktiziert, muss der Herr
Staatsminister selber verantworten. Ich halte es aber nicht
für angebracht, die Fragestunde jetzt abzubrechen, weil
andere Kollegen andere wichtige Fragen gestellt haben.
Ich möchte beantragen, dass die Sitzung fortgeführt wird.
Zur Geschäfts-
ordnung hat die Parlamentarische Geschäftsführerin von
Bündnis 90/Die Grünen, Steffi Lemke, das Wort.
– Sehr geehrter Herr von Klaeden, jede Fraktion hat das
Recht, sich zu Wort zu melden, wenn ein Geschäftsord-
nungsantrag gestellt worden ist.
Frau Lemke, bitte.
Frau
Präsidentin! Herr von Klaeden hat für die CDU/CSU-
Fraktion den Abbruch der Fragestunde beantragt. Ich
möchte deshalb den Geschäftsordnungsantrag auf Sit-
zungsunterbrechung zurückziehen. Wir können die Fra-
gestunde jetzt abbrechen. Ich finde es unmöglich, wie
diese Fragestunde seitens der Opposition missbraucht
wird,
um irgendwelche Schuldvorwürfe zu konstruieren, die
auf keiner juristischen Grundlage basieren.
Wir werden dieses Verfahren im Ältestenrat noch ein-
mal erörtern. Ich finde jedenfalls, dass es dem Parlament
nicht gerecht wird, wie hier aufgrund solcher Fragen ver-
sucht wird, irgendwelche theoretischen Vorwürfe in Rich-
tung des Außenministers zu konstruieren. Wir sollten die
Fragestunde an dieser Stelle abbrechen.
Gibt es noch
weitere Meldungen zur Geschäftsordnung? – Das ist nicht
der Fall.
Als Präsidentin muss ich jetzt entscheiden, wie wir
weiter verfahren. Ich sehe – auch nach Rücksprache – fol-
gendes Problem und bitte auch die Kollegen Geschäfts-
führer, das zu bedenken: Wenn wir die Fragestunde jetzt
abbrechen, schränken wir das in der Geschäftsordnung
verankerte Recht der Abgeordneten ein, eine Antwort auf
ihre Fragen zu erhalten. Hierbei handelt es sich um ein
Minderheitenrecht. Minderheitenrechte dürfen meines
Erachtens nicht durch Mehrheitsentscheidungen aufgeho-
ben werden.
Vor diesem Hintergrund entscheide ich in diesem Falle,
dass ich Ihrem Antrag nicht stattgeben kann. Ich verweise
aber auf die morgige Ältestenratssitzung, wo wir darüber
noch einmal sprechen sollten. Nach meinem Verständnis
der Geschäftsordnung entscheide ich richtig, wenn ich
eine Abstimmung darüber jetzt nicht zulasse; ein solches
Vorgehen ist nämlich grundsätzlich ausgeschlossen. Wir
werden das sicherlich morgen noch behandeln. Ich bitte,
jetzt so zu verfahren, wie ich es gesagt habe.
Gibt es noch weitere Anträge zur Geschäftsord-
nung? – Bitte.
Frau Präsidentin,
ich beantrage im Namen meiner Fraktion, dass wir die
Fragestunde unterbrechen und zu einer Sondersitzung des
Ältestenrates zusammenkommen.
Jetzt sofort? –
Dem Antrag wird üblicherweise entsprochen. Wir verfah-ren so.Ich unterbreche die Sitzung und bitte die Geschäfts-führer, kurz zu mir zu kommen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer12421
Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wie-
der eröffnet.
Der Vorgang, der zur Unterbrechung der Sitzung ge-
führt hat, wird morgen im Ältestenrat anhand der dann
vorliegenden Bundestagsprotokolle erörtert. Die Fraktio-
nen haben sich verständigt, die Fragestunde jetzt nicht
fortzusetzen, sondern mit der Aktuellen Stunde fortzufah-
ren.
Ich rufe also den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
PDS
Haltung der Bundesregierung zur Rückkehr zu
den Grundsätzen der Nettolohnanpassung im
Jahr 2001
Ich gebe als Erstem dem Antragssteller, dem Kollegen
Roland Claus, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Am Montagabend erreichteuns die Neuigkeit, dass bei der beabsichtigten Rentenre-form erhebliche Veränderungen vorgesehen seien. Das hatunsere Fraktion veranlasst, zu diesem Thema von großemöffentlichen Interesse eine Aktuelle Stunde zu beantragen.Die Koalitionsvertreterinnen und -vertreter, die nach mirsprechen, werden wahrscheinlich feststellen, dass sie derPDS-Fraktion dafür dankbar sind, weil sie dadurch wie-der in die Lage versetzt werden, dem Hause ihre erfolg-reiche Politik vorzustellen. Ich darf Ihnen vorsichtshalberversichern, dass das nicht unser Hauptmotiv war.Wir wollten zuallererst – das sollte uns hier im Hauseeinen – für Aufklärung in der Sache sorgen, dafür, dass dieÖffentlichkeit erfährt, was Sache ist. Diese gesellschaftli-che Diskussion mit erheblicher Tragweite muss hier imPlenum und nicht nur in so genannten Konsensrundenstattfinden.
Die eigentlich spannende Frage lautet: Wie wollen Sieerreichen, dass die versprochene Rückkehr zur Netto-lohnanpassung bei der Rente zum 1. Juli 2001 erreichtwird? Ich weiß, Sie haben dieses Versprechen mit der Be-merkung „im Grundsatz“ verbunden. Ich hoffe einmal,dass es nicht so ist, wie wir es schon manchmal von derKoalition erlebt haben, dass nämlich „im Grundsatz“ beiIhnen bedeutet, dass die Ausnahme zur Regel erklärt wird.Wir haben es hier – das ist, glaube ich, unbestritten –mit einer großen Verunsicherung der Öffentlichkeit zutun. Das Vertrauen in die Zukunft, in die Sicherheit derRente wächst mit solchen Schritten eben nicht. Man be-gegnet heute einer ganzen Reihe junger Leute – ich hoffeeinmal, dass es nicht mehr werden –, die sagen: Über dieRente lassen wir die Alten reden; wir werden von der ge-setzlichen Rentenversicherung wohl ohnehin nicht mehrprofitieren.
Ich hoffe einmal, dass das nicht gewollt ist.Ich will Ihnen noch einmal unsere Grundkritik an IhrerRentenreform vortragen. Nicht die 4 Prozent der privatenVorsorge sind unser Problem – es ist kein quantitativesProblem –, sondern es ist die Tatsache, dass eine sozialde-mokratisch geführte Bundesregierung den Einstieg in denAusstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung undder paritätischen Rentenversicherungszahlung vornimmtund damit einen Rückfall hinter Bismarck organisiert.
– Aber es wäre möglich, Herr Kollege, Bismarck zu über-holen. Sie jedoch fallen hinter ihn zurück. Das ist doch un-ser Problem.
Die Arbeitgeber werden aus dem Solidarprinzip ent-lassen und selbst die Rentenreform von Blüm mit dem de-mographischen Faktor wäre vor dem Hintergrund dessen,was Sie vorschlagen, sozial gerechter; allerdings nach derzweifelhaften Logik: gleiches Unrecht für alle.Dennoch – ich bin an dieser Stelle, wie manche mei-nen, ein hoffnungsloser Optimist – bietet diese vertrackteSituation auch Chancen. Meine Damen und Herren vonder Regierungskoalition, Sie müssen sich eingestehen:Der am 17. Dezember begonnene Weg, einen Rentenkon-sens zu suchen, ist gescheitert. Die CDU/CSU-Fraktionhat Ihnen ziemlich unmissverständlich erklärt, dass sie andiesem Konsens nicht mitwirken wird. Deshalb wolltenwir Sie an dieser Stelle auffordern: Suchen Sie einenneuen Konsens mit den Gewerkschaften, den Kirchen,den Sozialverbänden und den Rentenversicherungsträ-gern, meinethalben auch mit der PDS, aber wir wollen unsselbst nicht so wichtig nehmen.
Suchen Sie diesen Konsens mit dem Ziel einer exis-tenzsichernden Rente für alle, bei der die Beiträge vonallen aufgebracht werden, ohne Absenkung des Rentenni-veaus und unter Beibehaltung der paritätischen Finan-zierung. Ich gebe zu: Das ist keine einfache, aber eine lös-bare Aufgabe. Einen Rat erhalten wir aus der Schweiz, woes den interessanten Spruch gibt: Die Millionäre brauchendie gesetzliche Rentenversicherung nicht, aber die ge-setzliche Rentenversicherung braucht die Millionäre. Daswäre auch für Deutschland ein Weg zur Finanzierung ei-ner gerechten und für alle auf Dauer gesicherten Rente.
Ich bemerke bei anderen Zweifel, die fragen, welcheHoffnung man noch haben könne, dass sich überhaupt et-was ändert. Ich sage Ihnen: Solange eine Sache in der par-lamentarischen Behandlung ist – ich verweise darauf,dass die Rentenreform im Bundestag noch nicht einge-bracht ist –, sind wir Parlamentarierinnen und Parlamen-tarier verpflichtet, die Hoffnung nicht aufzugeben, denEntwurf im Parlament noch zu ändern. Also: nichts mit„basta“ an dieser Stelle!
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 200012422
Ich sage Ihnen zum Schluss: Wer heute von der Ren-tenreform spricht, muss sich zwischen Ellenbogengesell-schaft und Solidargemeinschaft entscheiden; er muss sichentscheiden zwischen der Formel „Stärkere besiegenSchwächere“ und der Formel „Einer trage des anderenLast“. Es ist an der Zeit, dieser Bundesregierung und die-ser Koalition zu sagen: Die sozialen Spannungen in die-sem Land sind größer, als Sie es wahrhaben wollen. Es istunverantwortlich, diese sozialen Spannungen in die Zu-kunft zu transportieren. Die Zukunft braucht soziale Ge-rechtigkeit. Auf eine solche hinzuwirken wäre eine mo-derne Politik.Vielen Dank.
Ich gebe das
Wort der Kollegin Katrin – – Ulrike Mascher für die SPD-
Fraktion. Katrin kommt anschließend.
Nein, das ist kein Problem.
Ich habe eine Schwester, die Katharina heißt.
Liebe Grüße.
Herr Präsident! Ich finde essehr lobenswert, dass die PDS mit großer Geste im Bun-destag klären will, was Sache ist. Wir werden in dernächsten Woche bei der ersten Lesung unseres Gesetzent-wurfes sehr ausführlich darüber diskutieren können, wasin der Rentenreform Sache ist.
Wir werden auch in den Ausschussberatungen klären kön-nen, was Sache ist. Warum soll es aber nicht eine vorge-zogene Erklärung geben?Wie wir – Arbeitsminister Walter Riester hat es mehr-mals getan – bereits mehrfach, auch im Deutschen Bun-destag, erklärt haben, wird es am 1. Juli 2001 eine Ren-tenerhöhung entsprechend den Grundsätzen der nettolohn-bezogenen Anpassung geben. Herr Claus, ich erkläre Ih-nen gerne die Grundsätze der nettolohnbezogenen Anpas-sung. Die mathematische Berechnungsformel wirdentsprechend den Grundsätzen des europäischen Systemsvolkswirtschaftlicher Gesamtrechnung erfolgen, das heißt,der geplante Kapitalvorsorgebeitrag wird für die Feststel-lung des Nettoeinkommens berücksichtigt und das Net-toeinkommen selbstverständlich erst dann mindern, wenntatsächlich eine Kapitalvorsorge vorgesehen ist.Darüber hinaus werden auch die Beiträge bzw. die Ver-änderungen der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversi-cherung einbezogen, aber nicht mehr die Veränderungenim Steuerrecht, weil die Veränderungen in der Steuerpoli-tik, die zum Beispiel zur Entlastung der Familien geführthaben, nicht die Rentenversicherung belasten sollten. Da-rüber sollten wir uns im Bundestag auch verständigenkönnen.Wir wollen, dass die Rentner und Rentnerinnen wei-terhin an der Entwicklung der tatsächlich verfügbarenLöhne und Einkommen teilhaben. Dieser Grundsatz, derdie gesetzliche Rentenversicherung seit 1957 prägt, sollauch in Zukunft gelten, und zwar auch für die neuen Bun-desländer; denn wenn Sie sich die Entwicklung der letz-ten zehn Jahre ansehen, dann werden Sie erkennen, dasssich die Renten dynamisch entwickelt haben, auch wennman berücksichtigt, dass die hohe Arbeitslosigkeit derletzten zehn Jahre die Dynamik abgeschwächt hat. Mankann wirklich nicht behaupten, dass künftigen Rentnerin-nen und Rentnern massenhaft Armut und Sozialhilfebe-zug drohen.Herr Claus, Sie haben gesagt, es gebe in der Schweizein wunderbares Rentenmodell, demgemäß Millionäreentsprechend der Höhe ihrer Einkommen herangezogenwerden. Aber Sie haben dabei unterschlagen, dassEinzelpersonen in der Schweiz nur eine Rente in Höhevon maximal 2 000 Franken erhalten. Das Prinzip derdeutschen Rentenversicherung, eine leistungsbezogeneRente zu gewähren, also eine Rente entsprechend derHöhe der Beiträge, die geleistet worden sind, gibt es in derschweizerischen Rentenversicherung nicht.Die Schweizer haben sich 1948 in einem Volksent-scheid für ihr jetziges Rentensystem entschieden. Ein sol-ches System hat sicher erhebliche Umverteilungseffekte,die man für wünschenswert halten kann. Aber nach unse-rer verfassungsrechtlichen Ordnung sind die durchBeiträge finanzierten Rentenleistungen wie Eigentum ge-schützt. Deswegen ist die Methode Schweiz – hoheBeiträge bei gleichzeitiger Kappung der Leistungen –nicht auf die Bundesrepublik übertragbar. Ich halte des-wegen den immer wieder gemachten Hinweis auf dieSchweiz nicht für sinnvoll, weil er uns bei der Lösung derProbleme der deutschen Rentenversicherung nicht voran-bringt.Auch die immer wiederholte Behauptung, die zusätzli-che private Kapitalvorsorge sei ein Einstieg in den Aus-stieg aus der Parität, ist wirklich nicht zielführend. Esbleibt bei der paritätischen Finanzierung der gesetzlichenRentenversicherung. Nach wie vor zahlen Arbeitnehmerund Arbeitgeber einen hälftigen Beitrag. Der Bund – dieSteuerzahler – beteiligt sich erheblich. Der Anteil an Bun-desmitteln wird im nächsten Jahr bei gut 136Milliar-den DM liegen.In den Bereichen der betrieblichen Altersvorsorge undder privaten Vorsorge wird es wie bisher unterschiedlicheFinanzierungssysteme geben. Die betriebliche Altersvor-sorge wird von den Arbeitgebern teilweise voll finanziert.Die Beiträge zu Pensionskassen werden hälftig von denArbeitgebern und den Arbeitnehmern finanziert. Die Ar-beitnehmer werden ihre private Altersvorsorge vollstän-dig allein finanzieren, wenn sie Geld in eine Direktversi-cherung einzahlen. Das Märchen, hier werde der Weg derparitätischen Finanzierung verlassen, wird auch durchWiederholung nicht wahr.Ich bitte Sie, über realistische Perspektiven – wenn Sieeinen konstruktiven Beitrag zur Rentendiskussion leistenwollen – zu diskutieren, sich nicht mit dem Hinweis aufdie Schweiz an einer Fata Morgana zu orientieren und
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Roland Claus12423
nicht immer wieder zu behaupten, der Weg der paritäti-schen Finanzierung werde verlassen. Ich wünsche nicht,dass das, was hier immer wieder beschworen wird, Rea-lität wird; denn ich halte die paritätische Finanzierung fürein wesentliches Element der gesetzlichen Rentenversi-cherung.Vielen Dank.
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Karl-Josef
Laumann.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
gut, dass wir heute auch im Deutschen Bundestag – das
geschieht in der gesamten deutschen Öffentlichkeit schon
seit langem – erneut darüber diskutieren, wie die Renten
demnächst angepasst werden sollen. Diese Diskussion ist
notwendig geworden, weil Sie, Herr Riester, der erste
Arbeitsminister seit 1957 sind, der die Rentenerhöhungen
von der Lohnentwicklung abgekoppelt hat. 2Millio-
nen Menschen, die in Deutschland dazu Einsprüche ein-
gelegt haben, sind der schlagende Beweis, dass Sie ganz
allein die Verantwortung dafür tragen, dass niemand mehr
Ihrer Rentenpolitik traut.
Auch heute haben wir es gesehen: Sie mussten Ihre Par-
lamentarische Staatssekretärin ins Gefecht schicken, weil
keiner aus der Fraktion diese Pläne noch verteidigt.
Mit großem Interesse habe ich im „Focus“ der letzten Wo-
che von Ihrem Auftritt in Ennepetal und vom Verhalten
des damaligen sozialpolitischen Sprechers gelesen. Auch
das macht deutlich, dass Sie mit Ihrer Rentenpolitik iso-
liert sind.
Um es ganz deutlich zu sagen: Sie sind mit Ihrer Ren-
tenpolitik bis jetzt auch deswegen gescheitert, weil Sie
unausgereifte Konzepte in die Diskussion eingebracht ha-
ben. Sie verlangen von uns, von der CDU/CSU, immer,
dass wir Ihrer Rentenpolitik zustimmen. Hätten wir das
getan, dann hätten wir schon viermal – so oft haben Sie
bis dato Ihr Rentenkonzept in wesentlichen Punkten geän-
dert – etwas Falschem zugestimmt.
Sehr geehrter Herr Riester, so kann man den Rentenkon-
sens in Deutschland nicht organisieren.
Bedenken Sie doch einfach einmal Folgendes:
Wenn Sie die blümsche Rentenreform auch im Bereich
der demographischen Formel wieder in Kraft setzten,
dann kämen wir zu Beitragssätzen von 22,3 Prozent.
Überlegen Sie sich allen Ernstes einmal, ob sich Ihr
ganzer Zauber, den Sie nur veranstalten, weil Sie die de-
mographische Formel nicht wollen – damit wollen Sie
auch keine verlässliche Größe für die Rentenanpassung
mehr –, für 0,3 Prozentpunkte Beitrag lohnt oder ob Sie
nicht durch Ihre Sturheit hier, die natürlich politisch mo-
tiviert ist, einen großen politischen und vor allen Dingen
rentenpolitischen Fehler machen.
Die demographische Formel ist die einzig nachvoll-
ziehbare Lösung, einen Abschlag von der Nettolohnent-
wicklung vorzunehmen, den wir zur Konsolidierung der
Rentenversicherung brauchen; ich erinnere an die längere
Lebenserwartung. Kehren Sie schlicht und ergreifend zu
dieser Formel zurück! Wenn Sie das tun, haben Sie in der
Rentenpolitik wahrscheinlich einen Konsens. Ich wun-
dere mich, wer jetzt alles für die demographische Formel
ist: alle Rentenversicherungsträger, der VdK, der Reichs-
bund, große Teile der Gewerkschaften und die Union als
Erfinder dieser genialen Formel ohnehin.
Also: Übernehmen Sie die demographische Formel und
Sie stellen in einem wesentlichen Punkt den Rentenkon-
sens her.
Lassen Sie sich nicht von dem beeindrucken, was Sie und
andere im letzten Wahlkampf fälschlicherweise gesagt
haben.
Wenn ich an die Aufführungen des Arbeitsministeri-
ums in den letzten zwei Wochen in Sachen Rente denke,
lieber Herr Riester, dann kommt mir das vor, als wäre dort
eine Multikultitruppe lustig dabei, in Rente zu machen.
Sie hat aber keine Leitfigur. Dies muss der Minister
sein.
Ich kann Sie nur bitten, dass Sie sich zu einer Leitfigur in
der Rentenpolitik entwickeln. Sollten Sie es nicht schaf-
fen, wird die schwere Aufgabe einer Rentenreform si-
cherlich von einem anderen Minister organisiert werden
müssen.
Schönen Dank.
Nun sprichtdie Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Ulrike Mascher12424
zuletzt zu der „Multikultitruppe“ und zu der „Leitfigur“gesagt haben, das finde ich in der Tat so unpassend, dassich Sie ganz ernsthaft bitte, darüber nachzudenken.
Was Ihr Fraktionsvorsitzender zum Thema Leitkulturin Deutschland abgeliefert hat – es ist eine Ausgren-zungsdebatte sondergleichen – –
– Ich lenke nicht ab. – Die Frage, wie wir in dieser Ge-sellschaft zusammenleben, ist mir zu ernst. Dass Sie die-ses Thema auf diese Weise benutzen und hier lächerlichmachen – es handelt sich um eine Ausgrenzungsdebatte –,ist des Überdenkens in der Tat wert.
Frau Kollegin Schwaetzer, zu dem Thema will ichnatürlich etwas sagen. Herr Kollege Claus, Herr KollegeLaumann, Sie beide haben hier über einen Rentenkonsensgesprochen. Bei diesem Anliegen ging es gerade um dieFrage, inwieweit man – auch langfristiges – Vertrauen ineine Rentenreform, in die Altersvorsorge in Deutschlandschaffen kann. Genau aus diesem Grunde – nicht, weil esbequemer oder so nett wäre, mit Ihnen zusammen amTisch zu sitzen – haben wir gesagt, wir streben einen Ren-tenkonsens an.Dass Sie selber für Verunsicherung sorgen und sienicht abbauen wollen, haben wir in den letzten Wochenund Monaten in der Tat gemerkt. Wir finden es bedauer-lich, dass Ihre Art, die Leute in Deutschland zu verunsi-chern und ihnen Angst zu machen, dazu führt, dass dasVertrauen in die Altersvorsorge künftig weiter sinkenwird. Genau aus diesem Grunde – das will ich an dieserStelle auch sagen – werden wir in dieser Legislaturperi-ode eine Rentenreform verabschieden – mit Ihnen oderohne Sie –, die deutlich machen wird, dass wir für tatsäch-liche und wahre Generationengerechtigkeit auf eine neueArt und Weise sorgen.Was bedeutet das?
Aus unserer Sicht bedeutet das: Jede Generation musseinen Beitrag leisten.
Genau das haut nicht hin, wenn man auf einen demogra-phischen Faktor zurückgreift. Jede Generation muss einenBeitrag leisten und jede Generation muss auch wissen,was auf sie zukommt. Das heißt erstens, dass sich gemäßunserem Vorschlag die jetzige Rentnergeneration in Formeiner geringeren Rentenanpassung beteiligt. Deswegenmuss mit der Umsetzung dieser Reform in dieser Legisla-turperiode begonnen werden. Zweitens heißt das, dasssich die jüngere Generation auf der Basis eines Aus-gleichsfaktors und im Übrigen auch dadurch, dass siezusätzlich privat vorsorgt, daran beteiligt. Durch dasZusammenspiel dieser beiden Faktoren wird Generatio-nengerechtigkeit auf intelligente Weise hergestellt; zu-gleich ist dieser Ausgleich solidarisch.Hinzu kommen noch – das haben Sie während IhrerRegierungszeit nie erreicht – Veränderungen innerhalbdes Systems, die dafür sorgen, dass diejenigen, die am we-nigsten von der gesetzlichen Rentenversicherung profitie-ren, nämlich Frauen mit unterbrochenen Erwerbsbiogra-fien, so gestellt werden, dass deutlich wird, dass hierSolidarität herrscht, also Solidarität zwischen Menschen,die Kinder haben, und solchen, die keine Kinder haben.Das ist ein wesentliches Ziel dieser Reform; deswegenwerden wir sie auch machen.
Herr Claus, Sie haben in diesem Zusammenhang ge-sagt, es stünden sich Stärkere und Schwächere gegenüber.Genau darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, so-ziale Spannungen aufzulösen, die ja gerade in der Renten-frage in den letzten Jahren zu Tage traten. Deswegen findeich es richtig, wenn Familien mit Kindern besser gestelltwerden, als es bisher der Fall war. Dieses Ziel verfolgtdiese Regierung in verschiedenen Bereichen und wirdsich auch in der Rentenfrage, bei der zusätzlichen Vor-sorge und innerhalb dieses Rentenkonzeptes danach rich-ten. Ich erinnere an die Anrechnung von Kindererzie-hungszeiten und an die Zuschüsse, die gerade fürFamilien mit Kindern gezahlt werden.
Man kann soziale Spannungen natürlich auch herbei-beten. Es gibt einige in diesem Lande, die das tun, man-che offensichtlich auch gern. Wir wollen Sicherheit füralle, wir wollen, dass alle wissen, worauf sie sich einlas-sen, und wir wollen Solidarität innerhalb der Gesellschaftauch in Bezug auf die Altersvorsorge. Generationenge-rechtigkeit ist nämlich nicht für die derzeit lebenden Ge-nerationen von Bedeutung, sondern auch über die nächsteund übernächste Generation hinaus, für die Generationunserer Kindeskinder und für die, die danach kommt. Dasist der Sinn dieser Reform. Wir werden sie durchsetzen,da können Sie ganz sicher sein.
Sie haben nach wie vor die Chance, sich mit sachlichenBeiträgen daran zu beteiligen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12425
Wir glauben, dass diese Reform dringend notwendigist, und ich hoffe, dass wir zu einer sachlichen politischenAuseinandersetzung zurückkehren.
Ich appelliere noch einmal an Sie, mit dafür zu sorgen,dass wieder Vertrauen in die gesetzliche Rentenversiche-rung hergestellt werden kann.Vielen Dank.
Ich gebe das
Wort der Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer für die F.D.P.-
Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Verunsicherung derRentner ist die Opposition in diesem Lande überhauptnicht nötig. Das machen Sie schon selber.
Angesichts der Ausführungen von Frau Mascher undFrau Göring-Eckardt frage ich mich, ob sie die Agentur-meldungen, die heute den ganzen Tag über kamen, und dieTagesordnung für diese Woche nicht gelesen haben, ob sieheute Morgen nicht im Ausschuss gewesen sind und
nicht mitbekommen haben, was sie alles zu verantwortenhaben, da sie ihre Versprechungen in diesem Zusammen-hang nicht gehalten haben.
Ich rekapituliere: Bei der Konsensrunde im Juni hatHerr Riester zugesagt, am 15. September – das ist nunacht Wochen her – liege ein Gesetzentwurf auf dem Tisch.
Wir haben jetzt zur Kenntnis nehmen müssen, dass dasBundeskabinett nach viermaligem Verschieben in dernächsten Woche darüber beschließen will. Ich bin ge-spannt, ob das tatsächlich der Fall sein wird.Danach haben Herr Riester und die Koalition denmehrstufigen ungeordneten Rückzug angetreten.
Es kam – das war ja auch so verabredet – ein Extra-Ge-setzentwurf zur Erwerbsminderungsrente auf den Tisch.Verabredet war aber zusätzlich, dass er zusammen mitdem Gesetzentwurf zur großen Rentenreform auf denTisch kommen soll. Das ist nicht gehalten worden, weilSie sich nicht einigen konnten.
– Du kannst mich ruhig weiterhin duzen, Ulla. Ich wäre jafroh, wenn wir das in der nächsten Woche zusammen be-handeln könnten.
Aber die Geschichte ist nun weiß Gott sehr viel ernster,als Sie sie hier gerade zu nehmen versuchen. Die Er-werbsminderungsrente wird ja nur deswegen in dieserWoche nicht verabschiedet, weil die Grünen und diegrüne Gesundheitsministerin plötzlich gemerkt haben,dass ihre Beamten gepennt haben
Es geht nämlich um Mehrausgaben in der Größenordnungvon 1 bis 1,5 Milliarden DM zulasten der gesetzlichenKrankenversicherung.
Der zweite Rückzug, auch in dieser Woche: Die För-derung der privaten Vorsorge sollte im nächsten Jahr be-ginnen, und zwar – das hätte Sinn gemacht – zusammenmit einer veränderten Nettolohnanpassung. Aber Sie sindsich nun nicht einig,
ob Sie diese Veränderung vornehmen wollen oder nicht.Die veränderte Nettolohnanpassung wird von den Grünenkritisiert und von der SPD gewollt. Frau Kollegin Scheelsagte in der „Wirtschaftswoche“, das alles mache gar kei-nen Sinn, wenn die Nettolohnanpassung nicht gemeinsammit der privaten Vorsorge in Gang gesetzt werde.
Das ist also die zweite Stufe des Rückzugschaos in derKoalition.Aber warum gibt es denn diese Stufe des Rückzugs?Auch das ist eigentlich sehr einsichtig: Die Zulage zur pri-vaten Vorsorge ist natürlich ein Bonbon und soll im Jahre2002 ausgezahlt werden. Dazu muss man wissen, dass imHerbst 2002 Bundestagswahl ist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Die konsequenterweise damit einhergehenden Abstrichebei der Anpassung der Renten werden erst im Jahr 2003sichtbar, also erst später. Dies war ja wohl der „Genie-streich“ – so wurde es aus der SPD-Bundestagsfraktionapostrophiert – von Herrn Eichel. Aber es ist des Rück-zugs zweiter Teil.Deswegen sollten Sie, meine Damen und Herren, indieser Debatte Antwort auf folgende Frage geben, dieauch nicht von mir kommt, sondern vom 1. Parlamentari-schen Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion,Wilhelm Schmidt.
Er sagte nämlich laut „dpa“-Meldung von heute,12.19 Uhr, auf die Frage, ob Arbeitsminister WalterRiester bei der Rentendebatte noch Herr des Verfahrenssei, wörtlich: „Wir wollen in der Sache Dinge lösen.“Dann heißt es, Personen seien dabei „zweitrangig“.
Ich zitierte weiter: Der Ressortchef sei im Amt und werdeöffentlich gehalten.
Wer ein bisschen von politischer Sprache in der Ausei-nandersetzung hier in Berlin versteht, der weiß, was dasbedeutet.
Deswegen möchte ich in dieser Debatte nicht Auskunftdarüber haben, welche Hirngespinste Sie für das Jahr Xhaben und was Sie hier schon 25-mal an Absichts- undWillenserklärungen abgegeben haben, sondern ichmöchte wissen, worauf Sie sich in dieser Chaoskoalitioneinigen können und ob Sie Herrn Riester halten oder ihnfür überfordert halten.
Für die
SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Erika Lotz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,liebe Kollegen!
Frau Schwaetzer, ich muss mich schon sehr wundern: IhrGedächtnis wird immer kürzer. Das merken wir bei jederDebatte.
– 16 Jahre Regierung, genau das!
Sie scheinen überhaupt nicht mehr zu wissen, was Siein den letzten Jahren alles angestellt haben.
Wir kassieren jetzt sozusagen die Urteile des Bundesver-fassungsgerichts hinsichtlich des Kindergeldes, derKriegsopferrente Ost oder der Einmalzahlung. Wir müs-sen einmal darüber reden, was Sie 1997 beschlossen ha-ben: Die Regelungen in Bezug auf die Erwerbsminde-rungsrente, die Sie jetzt beklagen, stimmen doch mit IhrerBeschlussfassung überein. Das scheinen Sie überhauptnicht mehr zu wissen.
Sie tun jetzt so, als ob diese Regelungen vom Himmel ge-fallen wären, aber sie waren Teil Ihres Gesetzes. Wir wol-len jetzt Nachbesserungen erreichen.
Frau Schwaetzer sagt, sie wolle jetzt Auskünfte haben.Die von der PDS beantragte Aktuelle Stunde hat die Ren-tenanpassung zum Thema. Herr Kollege Claus sagt in die-sem Zusammenhang, er wolle wissen, was Sache ist. Mitdieser Aktuellen Stunde wird einmal mehr der Versuch ge-macht, die Rentnerinnen und Rentner zu verunsichern.Das ist einfach nicht in Ordnung.
Die Rentenanpassung – das weiß doch jeder; das wis-sen auch Sie von der PDS – wird zum 1. Juli erfolgen. An-fang März liegen die Zahlen des Statistischen Bundesam-tes vor. Im März wird der Bundestag dann das Gesetzverabschieden.
Im April wird im Bundesrat darüber abgestimmt. DieMenschen wissen, dass im nächsten Jahr eine Rentenan-passung erfolgt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Dr. Irmgard Schwaetzer12427
Die Rentnerinnen und Rentner wissen auch, dass sie wei-terhin am Wachstum der Wirtschaft beteiligt werden. Aufdiesen Punkt hat die Kollegin Mascher schon hingewie-sen.Die Menschen wissen aber auch, dass die gestiegeneLebenserwartung dazu führt, dass Rentner und Beitrags-zahler ihr Scherflein zur Bewältigung der Aufgabe beitra-gen müssen.
Ein Beitrag der Rentner war, dass die Rente ab Juli 2000um 0,6 Prozent in Höhe der Preissteigerung angehobenwurde.
Ich will noch einmal darin erinnern, wie die Rentener-höhungen bei der Vorgängerregierung ausfielen: 1995hatten wir eine Preissteigerungsrate von 1,9 Prozent undeine Rentenanpassung von 0,61 Prozent;
1996 gab es eine Preissteigerungsrate von 1,3 Prozent undeine Rentenanpassung von 0,46 Prozent; 1997 betrug diePreissteigerung 2,3 Prozent und die Rentenanpassung1,65 Prozent; 1998 gab es eine Preissteigerung von1,4 Prozent und eine Rentenanpassung von 0,33 Prozent.In diesem Jahr betragen die Preissteigerungsrate und dieRentenanpassung 0,6 Prozent. Die Kaufkraft bleibt alsounverändert.
– Sie wissen ganz genau, dass die Preissteigerung des vor-herigen Jahres die Anpassung bestimmt.Die Diskussion um die Rentenanpassung wird meinerMeinung nach sehr widersprüchlich geführt. HerrLaumann hat dazu einen Beitrag geleistet. Wenn Sie dieEinsprüche ansprechen, die bei den Rentenversicherungs-trägern eingegangen sind, dann hätten Sie der Ehrlichkeithalber auch sagen müssen, dass diesen Einsprüchen nichtstattgegeben worden ist. Sie tun ja so, als ob wir etwas Un-rechtes getan hätten.
Ich will Ihnen aber auch ganz deutlich sagen: Es istnicht seriös, auf der einen Seite zu beklagen, dass die Jün-geren durch den Aufbau einer zusätzlichen privaten Al-tersversorgung zu stark belastet werden, aber auf der an-deren Seite die Rentnerinnen und Rentner nicht an derStabilisierung der Rentenbeiträge zu beteiligen. Das istein Widerspruch, der nicht hingenommen werden kann.Die Menschen wissen, dass angesichts der demographi-schen Entwicklung die Kosten letztendlich von allen ge-tragen werden müssen.
Wir müssen auch darauf hinweisen, dass wir im Rah-men der Rentenreform eine ganze Reihe von positivenRegelungen auf den Weg bringen werden. Wir werden imRahmen der eigenständigen Altersversorgung der Frauendie Kindererziehungszeiten in der Art der Rente nachMindesteinkommen berücksichtigen. Das wird auch beidenjenigen Gültigkeit haben, die nicht mehr arbeiten kön-nen, weil sie zwei oder drei Kinder haben.
Auch für sie werden die Rentenbezüge höher ausfallen,als es unter Ihrer Regierung der Fall gewesen wäre.
Wir werden bei der Förderung der privaten Altersver-sorgung den Eltern jährlich zusätzlich Zulagen in Höhevon 360 DM pro Kind geben. Ich denke, Herr Laumann,es lässt sich ganz einfach feststellen, dass der Weg, dervon uns eingeschlagen wird, der richtige ist.
Ihr Demographiefaktor war willkürlich
und wird von uns nicht verfolgt werden. Unser Weg ist derrichtige.Ich will Ihnen noch eines sagen, Herr Laumann: DieCDU hat ein Problem mit der Leitkultur, aber wir habenkein Problem mit der Leitfigur.
Das Wort
hat der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Frau Lotz, wenn Sie sagen, dieAktuelle Stunde sei nur provoziert, um Rentnerinnen undRentner zu verunsichern – dass das eine Parlamentarierinsagt, ist völlig unverständlich –, gestatten Sie mir, Ihnenhier einmal deutlich zu machen, wo die Verunsicherungtatsächlich liegt. Das können Sie in der Zeitung nachle-sen. Dieser Aktuellen Stunde sind zwei Tage lang Presse-berichte mit folgenden Überschriften vorausgegangen:„Vorsorgeförderung wird verschoben“; „Keine Einigungüber Invalidenrente“; „Grüne gegen Rentenplan“; „Koali-tion streitet über Basta-Rente“; „SPD und Grüne streitenum Reform der Invalidenrente“. Ich könnte die Zitatewahllos fortführen. Das ist die Verunsicherung, die von
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Erika Lotz12428
dieser Bundesregierung und diesem Arbeitsminister aus-geht! Deshalb debattieren wir heute hier!
Es tut mir fast Leid, dass wir das hier wochenweise dis-kutieren müssen, Herr Minister.
– Es ist wirklich so. Nehmen Sie einem das doch einmalab! Meinen Sie, es macht Freude, jede Woche im Obleu-tegespräch nachzufragen, wann eigentlich die Reform-schritte kommen, jede Woche nachzulesen, was diskutiertwird, und hier immer Aktuelle Stunden zu haben und dochkeine Antworten zu bekommen?
Ich bin einmal gespannt, ob das alles wirklich nächsteWoche passiert. Eigentlich sollte alles diese Woche pas-sieren. Doch es ist verschoben worden, weil Sie nichtklarkommen, weil Sie kein Konzept haben, weil Sie ein-fach nichts auf den Tisch legen. Das ist der Grund der Ver-unsicherung der Rentnerinnen und Rentner in Deutsch-land.
Es ist doch schon fast peinlich, wenn man gebets-mühlenartig wiederholen muss, was eigentlich in denzwei Jahren passiert ist. Es war ein mutiger Schritt, imWahlkampf zu sagen: Wir machen nicht alles anders, abervieles besser. Heute wissen wir: Sie machen alles anders,aber nichts besser! Das ist doch das Ergebnis nach zweiJahren, gerade in der Rentenpolitik.
Im Wahlkampf haben Sie den Eindruck verbreitet, Siekönnten bei einer immer größer werdenden Zahl vonRentnern und einer immer kleiner werdenden Zahl vonbeitragszahlenden jungen Leuten eine höhere Rente undniedrigere Beiträge erreichen. Nach dem Wahlsieg Funk-stille, Blüms Reform ausgesetzt mit der Begründung: Wirwollen darüber nachdenken. Das war das erste Erstaunli-che. Dann haben Sie wirklich Woche für Woche, Monatfür Monat die Rentner verunsichert.
– Von Ihnen kam doch das Kanzlerversprechen: Wir blei-ben bei der nettolohnbezogenen Rente. Ein paar Wochenspäter galt das alles nicht mehr. Stattdessen haben Sie voneinem Inflationsausgleich gesprochen, sind also aus dembisherigen Rentensystem, aus der Sicherheit ausgestie-gen. Kaum war das ausgesprochen, merkte man: Siemeinten gar nicht Inflationsausgleich bezogen auf diesesJahr, sondern nur bezogen auf das zurückliegende Jahr.Die Rentner erhalten in diesem Jahr nämlich nur einenAusgleich von 0,6 Prozentpunkten für 1,8 oder 1,9 Pro-zent Preissteigerung.
Das ist Ihre Rentenpolitik. Das war Verunsicherung derRentner und darüber müsste hier geredet werden.Sie haben die zwei Jahre jetzt fast ausgenutzt; das istdas Problem. Warum legen Sie nicht das Konzept auf denTisch? Herr Minister, Sie haben uns eine Diskussions-grundlage auf den Tisch gelegt. Man war der Meinung,das könnte möglicherweise der Gesetzentwurf sein. DieseWoche erfahren wir, Sie sind weit davon entfernt; es be-steht bis in die letzten Stunden hinein nach wie vor Bera-tungsbedarf.In dieser Woche, in zwei Tagen, sollte das Gesetz zurErwerbsminderungsrente verabschiedet werden; das warIhr Plan. Am selben Tag sollte das große Rentenreform-paket eingebracht werden. Ich weiß noch, was wir in denObleutegesprächen hinsichtlich der Anhörungen unter-einander ausgemacht haben. Da gab es aufseiten der SPDund der Grünen das große Bedürfnis – –
– Das Bedürfnis, das Sie hatten, kenne ich wohl. Sie hat-ten die übernächste Woche ins Auge gefasst. Glauben Sie,dass wir da mitgemacht hätten, wenn Sie diese Woche ge-sagt hätten, nächste Woche kommt erst die Einführungund vier Tage später die Anhörung? Das ist eine Zumu-tung für die beteiligten Kolleginnen und Kollegen, für dieExperten, die zur Anhörung eingeladen werden, sowie füralle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Denn nie-mand weiß, was Sie wirklich wollen; das ist das Problem.
„Wir machen das, basta“, sagte der Bundeskanzler amletzten Sonntag auf einem Gewerkschaftskongress. Dasist erst ein paar Tage her. Was er machen wollte, ist in denletzten zwei Tagen schon wieder infrage gestellt worden.Es wäre schön gewesen, Herr Arbeitsminister, wenn derBundeskanzler Ihnen gesagt hätte: Nimm einmal einenTag frei, setze dich hin und bilanziere einmal, was wir imBereich Rente in den letzten zwei Jahren wirklich getanhaben und wo wir stehen.
Das wäre für den Minister selber ein großer Erkenntnis-tag und für uns alle ein Tag gewesen, an dem wir keineweiteren Nachrichten über neue Vorschläge bekommenhätten. Dieser eine Tag hätte uns allen sicherlich geholfen.
Herr Minister, Sie haben auf die Kritik des KollegenSeehofer geantwortet – das ist nun mein wirklich letztesZitat; ich kann mir aber nicht verkneifen, es am Ende zuerwähnen –, die Union habe sich nun selbst zuzuschrei-ben, dass der Zug abfährt und sie nicht dabei ist. GlaubenSie wirklich, Herr Arbeitsminister, dass – zumindest aufder Seite der Union – ein einziger Kollege bzw. eine ein-zige Kollegin sitzt, der bzw. die zurzeit in dem Rentenzugsitzen möchte, den Sie aufgrund ständiger Rückwärts-fahrten und der Tatsache, dass er immer wieder auf Ne-bengleise gebracht und den Berg ein Stück hinauf- unddann wieder hinuntergefahren wird, nicht voranbringen?Das ist ein Zickzackkurs und kein klarer Kurs.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Wolfgang Meckelburg12429
Ich fordere Sie dringlich auf: Bringen Sie nächste Wo-che in Bezug auf die anstehende Rentenreform einen Ge-setzentwurf ein, auf dessen Grundlage man diskutierenkann! Dann wären wir nach zweijähriger Verunsicherungder Rentner ein großes Stück weiter.
Das Wort
hat für das Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Thea
Dückert.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrMeckelburg hat sich wieder einmal über einen angebli-chen Informationsmangel beklagt. Ich möchte an dieserStelle darauf hinweisen, dass es Ihre Fraktion, dieCDU/CSU, war, die die Konsensgespräche aufgekündigthat,
die das, was wir wollten, nämlich mit Ihnen gemeinsam ineinem sehr ruhigen und nach einem Konsens suchendenVerfahren eine umfassende Rentenreform auf den Weg zubringen, nicht wollte.
Deswegen, so finde ich, sollten Sie etwas zurückhaltenderklagen.
Nun zum Thema der heutigen Aktuellen Stunde. Vie-len Menschen in diesem Land, dem überwiegenden Teilder Bevölkerung ist eines ganz klar: Wir brauchen eineumfassende Rentenreform. Wir müssen die gesetzlicheSäule der Rente durch betriebliche und private Altersvor-sorge stärken und wir müssen sehr viel tun, um beispiels-weise die eigenständige Absicherung der Frauen zu ver-bessern.
Mir scheint, wenn ich mir den Titel dieser AktuellenStunde ansehe, dass zum Beispiel die PDS den wahrenund umfassenden Reformbedarf noch nicht erkannt hat.Denn anders kann ich mir nicht erklären, warum hier al-lein die Nettoanpassung, das heißt allein die Entwicklungdes Rentenniveaus, zum Thema gemacht wurde.Das Problem ist viel komplexer. Es geht nicht nur umdas Rentenniveau, sondern auch um die Beiträge und, wiegesagt, darum, wie wir die gesetzliche Rentenversiche-rung stärken und ergänzen können. Handlungsbedarf er-gibt sich – auch das liegt auf der Hand; die Bevölkerungweiß das sehr genau – aus der demographischen Ent-wicklung, der wir zurzeit ausgesetzt sind, zum Beispielaus der Tatsache, dass heute gemäß dem derzeit geltendenUmlageverfahren 2,3 Beitragszahlerinnen bzw. Beitrags-zahler für eine Rentnerin bzw. einen Rentner zahlen, imJahre 2030 aber nur noch 1,3 Personen für eine Rentnerinbzw. einen Rentner zahlen werden. Gleichzeitig verlän-gert sich die Rentenlaufzeit. Das ist zwar gut; denn diesbedeutet, dass die Menschen älter werden. In den letzten30 Jahren haben die Männer ungefähr vier Jahre und dieFrauen ungefähr 7,9 Jahre länger Rente erhalten.
Das ist die Grundlage dafür, dass wir sehr viel mehr brau-chen als nur eine Diskussion über das Rentenniveau bzw.die Rentenanpassung, die Sie hier führen wollen.
Was wir tun müssen, ist, diese Lasten, die aufgrund derdemographischen Entwicklung auf uns zukommen, fairauf die Generationen zu verteilen.
Was wir brauchen, ist nicht nur eine neue Anpassung derRenten, sondern ein neuer Generationenvertrag. Ichdenke, dass die Jungen, die Beitragszahlerinnen und Bei-tragszahler, sehr wohl dazu bereit sind, eine große Last zuübernehmen, dass aber auch die ältere Generation bereitist, über die Entwicklung ihres Rentenniveaus ihren Bei-trag zu leisten, weil eben diese Gesellschaft in eine anderedemographische Entwicklung gekommen ist.Deswegen finde ich es unverantwortlich, wenn in einerDebatte über diese Thematik suggeriert wird, dass wir indieser Gesellschaft weiterhin bis in die ferne Zukunft mitdiesem Rentenniveau leben könnten, ohne dass das Ren-tensystem insgesamt gefährdet würde.
– Die reine Nettolohnanpassung ist das Thema dieser Ak-tuellen Stunde, Frau Schwaetzer.
Das wird von der PDS gefordert. Genau diese Forderungbedeutet – das wurde hier auch vorgetragen – die Fort-schreibung der Renten auf dem heutigen Niveau.
Das ist der Bevölkerung Sand in die Augen streuen.Wir wissen nämlich genau, dass das gesetzliche Renten-system, die umlagefinanzierte Rente, dieses Rentenni-veau nicht mehr sichern kann, ohne dass die Beiträge
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Wolfgang Meckelburg12430
explodieren. Genau das wollen wir nicht. Das heißt, wirbrauchen eine Rentenreform, die beides in Einklang mit-einander bringt: die Entwicklung des Rentenniveaus unddie Beitragsentwicklung. Deswegen ist es falsch, hier einesolche einseitige Diskussion zu führen.
Sicher haben die Rentnerinnen und Rentner ein Rechtauf einen wirklich fairen Anteil an der Wohlstandsent-wicklung. Deswegen brauchen wir selbstverständlich dieGrundsätze der Nettolohnanpassung bei der Rentenfor-mel. Das ist völlig klar. Aber wir brauchen sie mit Modi-fikationen, um die Beitragsentwicklung tatsächlich imGriff zu halten, um eine stabile Beitragsentwicklung zugarantieren.Genau darauf hat die junge Generation einen An-spruch. Sie hat den Anspruch auf stabile Beiträge und aufeine Garantie, auf eine Chance auf eine Altersversorgungauf einem Niveau, die ihren Lebensstandard sichern kann,und zwar durch die Ergänzung durch die private Alters-vorsorge. Diesen Anspruch und dieses Recht hat die jungeGeneration genauso wie die alte.Die gesetzliche Rentenversicherung allein kann diesnicht leisten. Deswegen brauchen wir die private Ergän-zung, die umfassende Reform und eine modifizierte Ren-tenanpassung.Wir werden den Entwurf in der nächsten Woche haben.Wir werden über die Details reden müssen. Es gibt eineReihe von guten Gründen beispielsweise für den Vor-schlag, den Aufbau der privaten Vorsorge statt in achtSchritten in vier zu machen. Es gibt auch Gründe, denZeitpunkt dafür um ein Jahr zu verschieben. Aber aus mei-ner persönlichen und politischen Überzeugung gibt es ge-nauso gute Gründe, mit der Senkung des Rentenniveausin dieser Legislaturperiode zu beginnen, wie wir das vor-geschlagen haben.Wir wollen die Beitragsstabilität und gleichzeitig denAufbau der privaten Vorsorge voranbringen. Wir werdendie Diskussion in dieser Woche noch engagiert führen.Insgesamt aber muss klar sein, dass wir an der Strategieder Senkung der Sozialversicherungsbeiträge festhaltenwollen.
Das ist der politische Kurs dieser Bundesregierung nichtnur in der Rentenreform, sondern beispielsweise auch inden anderen Sozialversicherungszweigen. Diesen Kurswerden wir bis 2002 weiterhin verfolgen.Ich danke Ihnen.
Frau Kolle-
gin Dr. Heidi Knake-Werner spricht für die PDS-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe KolleginDückert, ich hätte Ihnen ja zugetraut, dass Sie wenigstensden Titel der von uns beantragten Aktuellen Stunde rich-tig lesen können,
und ganz besonders hätte ich Ihnen zugetraut, dass Sie ihnauch verstehen.
Natürlich ist es so, dass die Menschen außerhalb die-ses Hauses wissen, dass wir eine große Rentenreformnötig haben, aber sie trauen es Ihnen bei dem Hickhackund dem Hin und Her, das Sie hier Woche für Woche vor-führen, eben einfach nicht mehr zu.
Ich sage Ihnen auch sehr deutlich: Das Rentenniveauist in der Tat für uns eine zentrale Frage, weil es erstensdarüber entscheidet, wen Sie entlasten und wen Sie belas-ten. Sie entlasten die Arbeitgeber und belasten einseitigdie abhängig Beschäftigten. Das Rentenniveau entschei-det zweitens darüber, ob Sie Generationengerechtigkeitschaffen und ob Sie Altersarmut verhindern. Ich sage Ih-nen: Beides tun Sie mit dieser Rentenreform, die Sie vor-haben, nicht. Wir aber wollen das.
Ein Wort zu Frau Mascher, die nun leider schon gehenmusste: Das Märchen von der zusätzlichen privaten Vor-sorge wird durch Wiederholung auch nicht spannender.
Es geht hier nicht um eine private Vorsorge, die zusätzlichgeleistet wird, sondern die Menschen müssen sie leisten,um die Kürzung der Rente auszugleichen.
Das ist nicht Zusatz, sondern Ersatz. Deshalb wollen Siedas auch steuerlich fördern und sozial abfedern; dafür ha-ben Sie ja einen Grund gehabt.Was war nun heute unsere Frage? – Ich will es Ihnennoch einmal erklären, Frau Dückert. Sie haben gesagt, Siewollen die steuerliche Förderung der privaten Vorsorgeauf das Jahr 2002 verschieben. Dafür geben Sie eineReihe haushälterischer Gründe an, und man kommt leiderwieder in die Situation anzunehmen, dass hier Rentenre-form nach Kassenlage stattfindet. Das will ich auch inaller Deutlichkeit sagen.
Sie sagen gleichzeitig, dass Sie, falls Sie das tun, dieAnwendung der neuen Rentenformel natürlich verschie-ben müssen. Ja, was heißt das denn? Da stellen doch nichtnur wir uns Fragen, sondern auch die Öffentlichkeit stelltsich Fragen. Was bedeutet das denn eigentlich?
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Dr. Thea Dückert12431
Was machen Sie denn dann mit Ihrem Versprechen, wie-der zur Nettolohnanbindung – meinetwegen nach denGrundsätzen, die Sie neu formulieren – zurückzukehren?Was wollen Sie denn tun? Wie wollen Sie das denn jetztbewerkstelligen? Wollen Sie das tun, was Ihr Koalitions-partner vorschlägt, nämlich die Leute belasten, ohnegleichzeitig den sozialen Ausgleich zu schaffen?
Wollen Sie im nächsten Jahr wieder zum Inflationsaus-gleich zurückkehren, oder was machen Sie im Jahr 2001?Wollen Sie zu der ursprünglichen Nettolohnformelzurückkehren? – Die Rentnerinnen und Rentner wärenIhnen natürlich dankbar, denn dann würde ihre Rentehöher ausfallen, als sie es jetzt erwarten.Was heißt das Ganze eigentlich, wenn Sie zu der ur-sprünglichen Nettolohnanbindung zurückkehren, für dieRentenkasse? Kann es auch sein, dass dann die Beiträgezur Rentenversicherung doch nicht gesenkt werden, wieSie angekündigt haben? – Das sind doch Fragen, die dieLeute bewegen. Es tut mir Leid, ich habe auf diese Fragenhier überhaupt noch keine Antworten gehört.Ob Sie es wollen oder nicht: Die Verunsicherung ent-steht daraus, dass bei dieser Rentenreform ein Finanz-schacher im Vordergrund steht. Das schafft eben nicht dasVertrauen darauf, dass die Probleme der Renten wirklichim Interesse der Älteren und vor allen Dingen auch derjungen Generation gelöst werden.Ich sage Ihnen, was aus dem derzeit bestehenden De-saster deutlich wird. Ich habe den Eindruck, dass das Re-gierungsprojekt, die Rente wirklich zukunftsfähig zu re-formieren, im Moment zu scheitern droht. Sie bekommenden Kompromiss mit der rechten Opposition nicht hin;mit der linken haben Sie es gar nicht versucht. Es gelingtIhnen nicht, die Widersprüche in der eigene Fraktion zuklären, und Sie können die Kritik, den Protest und den Wi-derstand in den Gewerkschaften, in den Sozialverbändenund in den Kirchen nicht einfangen – im Gegenteil, dieEnttäuschung und der Frust sind dort vorherrschend, undich finde, zu Recht.
– Nein, Sie sind im Moment diejenigen, die den Unmutund die Unzufriedenheit massiv schüren und auch dietiefe Verunsicherung herbeiführen. Das Beispiel Invali-denrente, das Sie uns jetzt vorführen, ist Ausdruck dafür,wie wenig solide Sie bestimmte Dinge auch zwischenIhren Ressorts abstimmen.
Wie kann es passieren, dass eine Gesundheitsministerinerst zwei Tage vor der endgültigen Verabschiedung ent-deckt, dass damit ihr Haushalt belastet wird?
Das wäre übrigens auch schon nach der Regelung von1997 so gewesen.Ich finde, Sie müssen aufhören, Ihr Konzept in dieserForm und unter Zeitdruck durchzuziehen. Denken Sie andas, was Ihnen die Gewerkschaften empfehlen. Haben Sieden Mut zum Umsteuern. Wir brauchen wirklich eineRentenreform, die solidarisch und armutsfest ist, die Jungund Alt gerecht wird und die für die Zukunft tragfähig ist.Wenn Sie sich dahin umlenken lassen, können Sie auchauf die PDS zählen.
Nunmehr
gebe ich der Kollegin Angelika Krüger-Leißner für die
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrundmeiner vielen Diskussionsrunden mit Bürgern in Bran-denburg weiß ich sehr genau, dass die Menschen von derNotwendigkeit einer umfassenden Rentenreform über-zeugt sind und dass sie aufgrund ihrer Kenntnisse über diedemographische Entwicklung in den nächsten 30 Jahreneinen sehr ehrlichen und mutigen Schritt erwarten, der ih-nen wieder eine langfristige, planbare Altersvorsorge er-möglicht und dauerhaft Verlässlichkeit bringt.
Sie wissen inzwischen auch, dass es mit kleinen Korrek-turen nicht getan ist.Unsere Rentenreform hat viele positive Kernelemente,die Antworten auf die brennenden Fragen der Bürger ge-ben. Die erste wichtige Aussage für mich ist, dass die ge-setzliche Rentenversicherung das wichtigste Instrumentund die Hauptsäule in der Alterssicherung bleibt.
Ich sage das so deutlich, weil ich manchmal den Eindruckhabe, dass einige daran zweifeln. Dieses Vorhaben ent-spricht auch dem Willen der Mehrheit der Bürger. Sie wis-sen auch, dass die gesetzliche Rentenversicherung für dieHerausforderungen der Zukunft leistungsfähiger gestaltetwerden muss, und zwar für beide Seiten, für die Beitrags-erbringer und die Leistungsempfänger. Beide müssenihren Teil dazu leisten.
Deshalb haben wir auch Maßnahmen zur Stabilisie-rung der gesetzlichen Rentenversicherung vorgesehen.Dazu gehören die langfristige Stabilisierung der Beitrags-sätze,
die Festlegung der Entwicklung des Rentenniveaus fürdie nächsten Jahre und auch die Einführung des Aus-gleichsfaktors.
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Dr. Heidi Knake-Werner12432
Mit all diesen Maßnahmen muss es uns gelingen, dasGenerationengleichgewicht zwischen den heutigen Rent-nern, denjenigen, die bald in Rente gehen, und den Jun-gen zu erhalten. Dabei müssen wir sehr ehrlich sein – mitGeschwätz kommen wir hier nicht weiter – und sagen,dass wir von allen einen Beitrag zur Stabilisierung diesesgesetzlichen Rentensystems brauchen, damit es bezahlbarbleibt.
Die zweite wichtige Aussage unseres Konzepts ist,
dass wir zusätzlich zur gesetzlichen Rentenversicherungdie kapitalgedeckte private Altersvorsorge einführen. Ichsage „zusätzlich“ gerade auch für Frau Knake-Werner, diees immer noch nicht verstanden hat. Wir lassen dabei kei-nen allein. Mit großer Unterstützung vonseiten des Staa-tes kann sich jeder ein Vermögen aufbauen, das ihm imAlter gemeinsam mit der gesetzlichen Rentenversiche-rung einen angemessenen Lebensstandard sichern wird.Das ist ein notwendiger Schritt. Die Gespräche mit demBürger zeigen, dass sie diesen Schritt mehrheitlich mit-tragen.
Damit verbindet sich für mich auch die Chance, dieSäule der betrieblichen Alterssicherung auszubauen. Daswäre gerade für die Bürger in den neuen Bundesländerneine ungeheure Chance, die wir ergreifen sollten.
Mit dieser Rentenreform werden wir auch zu denGrundsätzen der Nettolohnanpassung zurückkehren. Diesbegrüße ich als ostdeutsche Abgeordnete außerordentlich.Ich will Ihnen das auch begründen. Der Solidaritätsbei-trag, den wir unseren Seniorinnen und Senioren in diesemJahr abverlangt haben, war für mich kein leichter Schritt,aber er war angesichts der finanziellen Lage der Renten-versicherung unabwendbar, wissen wir doch alle, dass indiesem Jahr aufgrund der gleichen Anpassung in Ost undWest in Höhe der Inflationsrate der Angleichungsprozesszwischen Ost und West stillstand.
Ab 1. Januar 2001 werden sich die Renten nun wiederim Gleichklang mit den Arbeitnehmereinkommen ent-wickeln. Dabei werden wir die Anpassungsformel verein-fachen.
Das heißt, wir werden diese Formel besser auf das Alters-sicherungssystem ausrichten. Auch das ist eine notwen-dige Veränderung, die die Beitragsstabilität langfristig si-chern hilft.Wir werden, so wie bisher, die Lohn- und Gehaltsent-wicklung für die neuen und die alten Bundesländer je-weils getrennt ermitteln. Ich erinnere: Am 1. Juli 1999 be-trug die Anpassung in den alten Bundesländern 1,34 Pro-zent und in den neuen Ländern 2,79 Prozent. Das heißt imKlartext: Der Prozess der Rentenangleichung zwischenOst und West, gebunden an die zukünftige Veränderungder Bruttolöhne und -gehälter, wird kontinuierlich fortge-setzt. Das ist eine wichtige Botschaft für die Bürger in denneuen Bundesländern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich weiß ich,dass das Verhältnis der Standardrente Ost zur Standard-rente West derzeit noch 86,7 Prozent beträgt. Es entsprichtdem Verhältnis bei den Erwerbseinkommen. Interessan-terweise sehen aber die aktuellen Rentenniveaus wie folgtaus: Das Rentenniveau West liegt bei 70,1 Prozent unddas Rentenniveau Ost bei 71,2 Prozent. Der Grund dafürsind die erheblich längeren Arbeits- und Beitragszeitender Männer, vor allen Dingen aber auch der Frauen imOsten
und die Tatsache, dass im Osten meist beide EhepartnerAltersrente beziehen. Im Westen ist das bei 40 Prozentund im Osten bei 77 Prozent der Fall.
Ich finde, wir sollten uns an dieser Stelle daran erin-nern, dass dank einer gewaltigen gemeinsamen Anstren-gung die Renteneinheit in Ost und West hergestellt wurde
und dass diese solidarische Leistung in einem relativ kur-zen Zeitraum erreicht wurde und nur auf der Grundlageeines umlagefinanzierten Rentensystems möglich war.Dieses wollen wir auch für die zukünftigen Jahre stärken.Seit der deutschen Vereinigung sind die Renten inWestdeutschland um 20 Prozent und die in Ostdeutsch-land um 159 Prozent gestiegen. Das hat wirtschaftlicheSicherheit gebracht
und die Lebensbedingungen der Rentner deutlich verbes-sert.
Bei unseren
Sozialpolitikern auf die Einhaltung der Redezeiten zu
drängen ist fast aussichtslos. Das gilt für alle Seiten. –
Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit lange überschrit-
ten. Kommen Sie bitte gleich zum Schluss.
Gut. – UnsereRentenreform bringt also für die Menschen in Ost undWest keine Unterschiede und keine einseitigen Nachteile.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, dass dasThema Rente es wert sein sollte, dass wir alle Emotionenhintanstellen und dass wir in den zukünftigen Debatten
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Angelika Krüger-Leißner12433
vielleicht etwas mehr Sachverstand und solide Argumenteeinbringen,
um gemeinsam vernünftige Entscheidungen treffen zukönnen.Es gab und gibt auch immer noch viele Möglichkeitender Opposition, unsere Rentenreform mitzugestalten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, verpassen Sie nicht IhreChancen!
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Renate Diemers.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Das Jahr 2000 ist ein olympi-sches Jahr und der Beitrag der rot-grünen Bundesregie-rung dazu läuft unter dem Motto: Wir wollen unbedingtauf den letzten Platz.Die Verrenkungen, die Sie, Herr Minister, bei der Ren-tenreform vorführen, um einer Tatsache nicht ins Auge se-hen zu müssen, sind nicht nachvollziehbar. Ich sprechevom demographischen Wandel. In den nächsten Jahrenwird der Anteil der über 60-Jährigen auf ein Drittel unse-rer Bevölkerung steigen. Daraus sind Konsequenzen zuziehen. Das bedeutet, dass sich aufgrund der verändertenBevölkerungsstruktur die Grundlagen und auch die finan-ziellen Belastungen verändern. Das ist ein Fakt und zu-gleich eine Notwendigkeit und kann nicht ignoriert wer-den.Auf die Rente bezogen heißt das, dass sich der demo-graphische Wandel in einem demographischen Faktor beider Rentenberechnung niederschlagen muss. Je eher Siezu dieser Erkenntnis kommen und diese in Ihrer Arbeitumsetzen, desto ehrlicher sind Sie gegenüber den Rent-nerinnen und Rentnern.
Ich gestehe Ihnen zu, dass Sie schon seit Jahren ver-zweifelt nach einem Ersatz für den demographischen Fak-tor suchen. Aber Sie haben ihn bis zum heutigen Tagenicht gefunden. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden auchkeinen finden. Das, was Sie den Rentnerinnen und Rent-nern in diesem Jahr zugemutet haben, nämlich unter an-derem die Abkopplung von der Nettolohnentwicklung,trifft insbesondere Frauen, die nur oder vorwiegend vonder abgeleiteten Rente ihrer Männer leben müssen. Wir,die CDU/CSU-Fraktion, schweigen nicht dazu. Wir wei-sen die Menschen auf Ihre Verschaukelungen hin undklären sie über die Konsequenzen auf.
Es ist doch auch Ihnen bewusst, dass wir eine Renten-reform brauchen, die bei steigender Lebenserwartung al-len, Männern und Frauen – ich denke insbesondere an dieFrauen, die aufgrund von Kindererziehung nicht außer-häuslich erwerbstätig waren –, einen finanziell gesicher-ten Ruhestand garantiert und dabei vor allem die jüngereGeneration nicht durch zu hohe Beiträge belastet.
Wir hatten eine wirkungsvolle und faire Reform aufden Weg gebracht, mit einem stabilen Beitragssatz und ei-ner sehr langsamen, über Jahre verteilten Niveauabsen-kung.
Sie haben diese notwendigen Schritte im letzten Bundes-tagswahlkampf als unsozial bezeichnet. Ich erinnere michnoch an viele unappetitliche Podiumsdiskussionen zu die-sem Thema.
Sie haben die letzte Bundestagswahl deswegen ge-wonnen, weil Sie den Menschen zum Beispiel bei der Al-terssicherung Dinge versprochen haben, die nicht gehal-ten werden können. Ich zitiere den Bundeskanzler vomFebruar 1998, auch wenn Sie an das Zitat nicht gerne er-innert werden. Er sagte:Ich stehe dafür, dass die Renten steigen wie die Net-toeinkommen.Sie haben vorgegaukelt, ein demographischer Faktor inder Rente sei nicht notwendig. Die Menschen in unseremLand haben danach von Ihnen erwartet, dass Sie eine Al-ternative anbieten. Und was tun Sie? Sie kündigen nureine ungerechte, schnelle Niveauabsenkung an, die quasivon heute auf morgen die Rentnerinnen und Rentner trifft,und setzen andere, extrem falsche Schritte um, wie dieAbkopplung von der Nettolohnentwicklung.
Was die anderen Punkte in der Diskussion angeht, sowird von Ihnen immer nur alles vertagt, verschoben undausgesetzt. Die Aussetzung der Aussetzung wird von Ih-nen sogar noch als Erfolg verkauft.
Wir haben Sie von Anfang an unter anderem immerwieder aufgefordert, zur Nettolohnentwicklung zurück-zukehren. Allerdings fällt nicht nur uns auf, dass nun dieRückkehr zur Nettolohnentwicklung gerade in dem Mo-ment kommt, in dem davon ausgegangen wird, dass dieInflationsrate höher als die Nettoanpassung sein wird.
Darüber hinaus ist es kaltschnäuzig und der nieder-schmetternde Beweis für Ihre verfehlte Politik, dass Siedie Verschiebung der Förderung der privaten Altersver-sorgung als Erfolg für die jetzige Rentengeneration be-zeichnen.
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Angelika Krüger-Leißner12434
Sie verschweigen, dass Sie durch Ihre Verschleppungs-taktik das Rentensystem und den Generationenvertragaufs Spiel setzen und somit eine der Säulen unseres Sozi-alsystems hochgradig gefährden. Die Pläne zur privatenVorsorge sind zwar bis jetzt unzureichend; aber die an-gekündigte Verschiebung ist schlichtweg ein Offenba-rungseid.
Richten Sie nicht noch mehr Schaden an und gestehenSie wenigstens ein, dass Sie zu unserer Rentenreformkeine Alternative haben! Dass das so ist, wird durch denvon Ihnen gelieferten Anlass zu dieser heutigen AktuellenStunde überdeutlich bewiesen.Danke schön.
Nun sprichtder Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, WalterRiester.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Da hier der Zwischenruf kommt: „Jetzt klärt es sich auf!“,ist es wichtig, bei der Debatte einmal darauf hinzuweisen,welches Thema diese Aktuelle Stunde eigentlich hat,nämlich „Haltung der Bundesregierung zur Rückkehr zuden Grundsätzen der Nettolohnanpassung im Jahr 2001“.Ich nehme das ernst.Im Gesetzentwurf, der in der nächsten Woche einge-bracht wird, wird stehen, dass zum 1. Juli 2001 eine lohn-bezogene Anpassung der Renten erfolgen wird.
Wir werden den Unterschied in der Lohnentwicklung von2000 zu 1999 berücksichtigen.
Ich kann Ihnen jetzt noch nicht auf das Zehntel genau sa-gen, wie die Pro-Kopf-Entwicklung sein wird; das wirdsich bis zum Februar herausstellen. Aber eines kann ichIhnen mit Sicherheit schon sagen: Die Anhebung wirdetwa um ein halbes Prozent höher sein, als nach der Net-toformel der alten Regierung vorgesehen.
Ich kann Ihnen für die Zeit, in der ich in der Regierungfür die Rentenanpassungen Verantwortung trage, nochmehr sagen und werde es mit Zahlen belegen: Für das Jahr1999 haben wir eine Rentenanpassung von 1,34 Prozentvorgenommen;
nach der alten Formel wären es 0,84 Prozent gewesen. Indiesem Jahr waren es 0,6 Prozent; nach der alten Formelwären es 0,82 Prozent gewesen.
Im nächsten Jahr werden es etwa 2 bis 2,1 Prozent sein;nach der alten Formel wären es 1,59 Prozent gewesen.
Das heißt, im Zeitraum von drei Jahren werden wir ins-gesamt höhere Anpassungen haben als nach der altenFormel. Das ist der erste Teil der Wahrheit.
Nun komme ich zum zweiten Teil der Wahrheit: Es gibtnicht nur die Frage der Rentenanpassung, sondern es giltauch aufzuzeigen, welchen Beitrag die Beschäftigten fürdie Rentenanpassung zu zahlen haben.
Der Rentenversicherungsbeitrag wird im nächsten Jahr19,1 Prozent betragen; hätten wir nichts verändert, läge erbei 20,4 Prozent. Das ist ein um 1,3 Prozent niedrigererRentenversicherungsbeitrag.
Um Ihnen das Ganze einmal plastisch zu verdeutli-chen – denn die Leute leben nicht von Prozentwerten –,möchte ich sagen: Die Beschäftigten und die Betriebemüssen 20 Milliarden DM weniger für eine Rentenanhe-bung zahlen, die bei uns höher ausfällt.
Nun hat der Kollege Laumann, der sich schon zu einemganz anderen Thema zu Wort gemeldet hat, angekündigt,er möchte wissen, wo es Verschiebungen gibt. KollegeLaumann, ich freue mich bereits auf die Debatte zur EU-Rente in der nächsten Woche. Dann werde ich Ihnen ein-mal die Streitschriften zwischen Seehofer und Blümvorlegen und Ihnen aufzeigen, von welch einem Ver-schiebebahnhof die Rede war.
– Auf wessen Kosten haben Sie sich geeinigt? KolleginFischer und die Krankenkassen merken jetzt, dass Sie sichauf Kosten der Krankenkassen geeinigt haben.
Nicht Kollegin Fischer hat gepennt und nicht ich habeverschoben, sondern die Krankenkassen haben die abseh-baren Kosten, die Sie durch Ihre Entscheidung verursacht
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Renate Diemers12435
haben, offensichtlich nicht in ihre Haushaltspläne einge-stellt; sonst kann ich mir nicht vorstellen, dass sie jetzt mitder Anmeldung dieser Kosten kommen.
Sie brauchen gar nicht zu versuchen, einen Keil zwischendie Kollegin Fischer und mich zu treiben.
– Da liegen Sie völlig falsch. Ich werde Ihnen anhand desBriefwechsels von Blüm und Seehofer aufzeigen, wieIhre zwei Kollegen dieses Problem gelöst haben, undzwar zulasten der Krankenversicherungen.
Nun hatten Sie ja noch ein anderes Anliegen, meinHerr. Sie haben gesagt: Die Regierung bittet uns immer,der Rentenreform zuzustimmen. Ja, wir werden den Ent-wurf einbringen und bitten um Ihre Zustimmung. Aberzunächst einmal möchte ich Sie darum bitten, dass Sieendlich mal einen produktiven Vorschlag zur Lösung desProblems machen. Darauf warte ich immer noch. Das ha-ben wir uns eigentlich unter konstruktiver Mitarbeit ander Rentenreform vorgestellt.
Das war ganz offensichtlich eine Fehlannahme.Ich lade Sie weiterhin ein, konstruktiv mitzuarbeiten.
Aber ich habe im Moment das Gefühl, Sie merken, derZug fährt ab, die Entscheidung rollt. Wir werden siedurchsetzen. Wir möchten sie durchaus mit Ihnen durch-setzen; aber wenn Sie nicht bereit sind mitzumachen,dann müssen wir leider auf Sie verzichten.Herzlichen Dank.
Jetzt spricht
der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich für die CDU/CSU-
Fraktion.
HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kol-legen! Zunächst einmal, Herr Minister, wollen wir bei derWahrheit bleiben
und zugeben, dass wir jetzt eine Rentenreform brauchen,weil Ihre Koalition unsere Rentenreform – eine tragfähigeund gute Reform – zurückgenommen hat. Das ist dieWahrheit.
Herr Minister, es ist gut, dass Sie einsehen, dass es eingroßer Fehler war, von der bisherigen Anpassungsformelwegzugehen und sich auf dieses Spiel des Inflationsaus-gleichs einzulassen. Es ist nett, dass Sie jetzt wieder aufden rechten Weg zurückkehren. Es ist aber nicht redlich,wenn Sie auf verschiedenen Bemessungsgrundlagen undAusgangspunkten basierende Prozentzahlen vergleichen.Das ist nicht in Ordnung.
Die Verunsicherung der Menschen, liebe Frau KolleginLotz, kommt nicht daher, dass wir im Bundestag über dieRentenreform debattieren, sondern sie kommt daher, dassRot-Grün jede Woche oder jeden Monat neue Vorschlägeauf den Tisch legt. Ich finde es ein bisschen witzig, dassFrau Krüger-Leißner eine gerechte Rente fordert und an-schließend Herrn Riester applaudiert, obwohl doch für je-den sichtbar ist, dass die von Ihnen vorgelegte Rentenre-form mit Gerechtigkeit überhaupt nichts zu tun hat.
Herr Minister, wer sein Leben lang arbeitet, leistet ei-nen Beitrag für die Gesellschaft und hat einen Anspruchdarauf, am Wohlstand angemessen beteiligt zu werden.
Deswegen ist die Diskussion über die Höhe des Renten-niveaus keine unsinnige Diskussion, sondern eine Dis-kussion, die die Menschen bewegt, und darüber darf mannicht mit einem „basta“ hinweggehen. Man muss viel-mehr versuchen, mit Argumenten auf die Menschen ein-zugehen
und ihnen die Ängste zu nehmen.Ich habe bisher noch keine Entschuldigung, insbeson-dere nicht von der SPD, für die Rentenlüge von 1998gehört.
Sie haben den Menschen vor der Wahl die Unwahrheit ge-sagt: Sie haben ihnen steigende Renten bei gleich blei-benden Beiträgen versprochen und Herr Schröder selbsthat die Kopplung der Renten an die Nettoeinkommenversprochen.
Kurz nach der Wahl haben Sie mit seinem Einverständnisdieses Versprechen gebrochen. Das vergessen die Men-schen nicht.Das Außerkrafttreten der Anpassungsmechanismenund die offene Willkür von Rot-Grün bei der Renten-erhöhung haben verheerende Auswirkungen und diese
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Bundesminister Walter Riester12436
Auswirkungen beruhen nicht nur auf Mark- oder Pfen-nigbeträgen, sondern sind ein tiefer Vertrauensverlust,den die Menschen erlitten haben.
Bei der Rente, Herr Minister, brauchen Sie das Vertrauender Menschen über Jahrzehnte, weil die heute Jungen wis-sen müssen, was in zehn, 20 oder 30 Jahren aus ihrenBeiträgen wird.
Die Unwahrhaftigkeit, mit der Sie diese Rentenreformangehen, findet ihre Fortsetzung in dem, was Sie zumThema Bundeszuschuss gesagt haben. Sie wollen nunplötzlich die Finanzierung der Renten von der Höhe derMineralölsteuer abhängig machen. In Wahrheit ist dies einganz schäbiges Abkassieren, das insbesondere die heuti-gen Rentner schwer trifft.
Die heutigen Rentner sollen jetzt einen Teil ihrer Renten,die sie sich hart erarbeitet haben, über die Mineralölsteuerein zweites Mal finanzieren.Ich sage Ihnen noch eines: Diese Finanzierungstricksund diese Verschiebebahnhöfe werden Sie auf Dauer nichtdurchhalten. Die Realitäten werden Sie wieder einholen;denn allmählich begreifen die Menschen, dass Rot-Gründas Vertrauen der Bürger kaltschnäuzig missbraucht. HerrMinister, Sie haben die Höhe der Rente zum Lotteriespielgemacht. Eine objektiv vorhersehbare und nachrechen-bare Rentenhöhe ist ein Stück Verlässlichkeit, das dieMenschen brauchen, Sie aber bieten anstelle dieser Ver-lässlichkeit eine Rente nach Kassenlage.
Aber nicht nur die heutigen Rentner fühlen sich vonRot-Grün hinters Licht geführt und zum Spielball IhrerWillkür gemacht; auch die zukünftigen Rentner, die heutenoch im aktiven Arbeitsleben stehen, erkennen, dass siesich auf Rot-Grün nicht verlassen können. Ihnen drohteine radikale Kürzung des Rentenniveaus, und zwar un-abhängig davon, ob sie tatsächlich privat vorsorgen odernicht.An die Stelle von Vertrauen und Verlässlichkeit tritt po-litische Willkür. An die Stelle von Argumenten und Über-zeugungskraft treten – das wurde bei der Rede von HerrnSchröder auf der Tagung der ÖTV deutlich – Arroganzund Kaltschnäuzigkeit.
Der Gipfel ist das, was Sie sich in dieser Woche ge-leistet haben, nämlich eine offenkundige Manipulationder Rentenreform im Hinblick auf einen bestimmtenWahltermin. Durch die vorgestern beschlossene Ände-rung des so genannten Riester-Konzepts wird das Durch-einander ein weiteres Mal vergrößert. Wer die Durch-führung einer Rentenreform so manipuliert, HerrMinister, dass die positiven Effekte dieser Reform vor derWahl und die negativen Effekte erst nach der Wahl auf-treten, täuscht und belügt die Menschen.
Ich fordere Sie deswegen auf: Beenden Sie das Renten-chaos! Geben Sie den Menschen das, was sie durch ihrelebenslange Arbeitsleistung tatsächlich verdient haben!Vielen Dank.
Als letzter
Redner in dieser Aktuellen Stunde spricht nun der Kollege
Peter Dreßen für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Ich habe es nicht schwer. Ich möchte Ihnen,Herr Friedrich, nur eines sagen, weil Sie gerade von Ge-rechtigkeit gesprochen haben: Ihre Gerechtigkeit sah soaus, dass den Menschen in den ihnen zugeschickten Ren-tenauszügen zum Beispiel 623 DM als Rente zugesichertwurden, dass sie aber, wenn sie zwei Jahre später in Rentegegangen sind, nur 400 DM bekommen haben. So sahIhre Gerechtigkeit aus! Auf diese Gerechtigkeit pfeifenwir gern.
Kollege Laumann, man kann zwar über die Rentenre-form unterschiedlicher Meinung sein. Aber man sollte beider Wahrheit bleiben.
Verunsicherung und Halbwahrheiten helfen Ihnen von derOpposition zwar kurzfristig. Aber sie helfen nicht denBeitragszahlern und den Rentnerinnen und Rentnern.
– Kollege Laumann, es ist bekannt, dass ich auf die eineoder andere Verbesserung insbesondere bei der Ausge-staltung der Betriebsrenten im Rahmen des Gesetzge-bungsverfahrens setze.Ich möchte auf zwei Gesetze, die im Vorfeld der Ren-tenreform verabschiedet wurden, hinweisen, bei derenUmsetzung Sie die rot-grüne Koalition hätten voll unter-stützen sollen, erst recht Sie als Sozialpolitiker. Die jet-zige Koalition hat im Gegensatz zur alten Regierung – daswar Ihr Manko; Sie haben uns doch ein Chaos auf dem Ar-beitsmarkt hinterlassen – erst die Voraussetzungen füreine Rentenreform geschaffen, und zwar durch das 630-Mark-Gesetz und das Gesetz zur Bekämpfung der Schein-selbstständigkeit. Das haben Sie alles bis heute bekämpft.
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Dr. Hans-Peter Friedrich
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Durch diese Gesetze sind Milliarden DM zusätzlich in dieKassen der Sozialversicherungen geflossen. HerrLaumann, wir haben Ihr Chaos beseitigt.
– Jetzt rede ich! Sie können später reden, wenn Sie Lusthaben.Ich möchte Ihnen nur eines sagen: Wir haben dafür ge-sorgt – das haben wir den Menschen im Wahlkampf auchversprochen –, dass die versicherungsfremden Leistungenjetzt endlich aus Steuermitteln bezahlt werden.
Sie haben den Leuten ungerechterweise in die Tasche ge-griffen. Sie haben die Beitragszahler und die Rentner fürLeistungen bluten lassen, die sie eigentlich nichts angin-gen.
Wir haben das geändert. Trotzdem bekämpfen Sie unserePolitik mit allen parlamentarischen und außerparlamenta-rischen Mitteln. Das ist zwar Ihr gutes Recht. Aber ichhalte Ihnen entgegen: Wir haben durch die eben erwähn-ten beiden Gesetze erst die Voraussetzungen für die jet-zige Rentenreform geschaffen.
– Durch unsere Gesetze haben wir für Gerechtigkeit ge-sorgt, Kollege Laumann. Das muss man ehrlicherweisesagen, bei aller Kritik, die Sie an der jetzigen Rentenre-form üben.
Durch diese beiden Gesetze haben wir dafür gesorgt, dassdas Rentenniveau für diejenigen, die bis 2010 – hören Siegut zu! – in Rente gehen, auf dem heutigen Stand gehal-ten werden kann.
Der Demographiefaktor, den Sie einführen wollten, hättedazu geführt, dass die in Rente gehenden Menschen schonab 1999 Abschläge hätten in Kauf nehmen müssen. Wirgarantieren den Menschen, die bis 2010 in Rente gehen,dagegen das heutige Rentenniveau.
Kollege Laumann, der zweite große Unterschied zu Ih-rer Rentenreform ist: Sie wollten das Rentenniveau auf64 Prozent – bei Bedarf wahrscheinlich noch weiter – sen-ken; denn Sie wussten genauso gut wie wir, dass der De-mographiefaktor, den Sie zu 50 Prozent angesetzt haben,nie und nimmer ausgereicht hätte. Also hätten Sie an denStellschrauben weiterdrehen müssen.
Ich rufe es Ihnen, Kollege Laumann, noch einmal insGedächtnis: Sie wollten das Rentenniveau bei 64 Prozentbelassen. Unsere rot-grüne Koalition macht sich Gedan-ken über das Ziel – darin sind wir uns alle einig –, dasRentenniveau von 70 Prozent aufrechtzuerhalten. Wirstreiten zwar über den Weg dahin; aber das Ziel von70 Prozent – Ihr Ziel war das nie – steht außer Frage.
Sie hätten das Rentenniveau auf 64 Prozent gesenkt undviele Menschen in die Sozialhilfe getrieben. Das war dochIhre Politik.
– Die Verkäuferin, die 4 Prozent ihres Einkommens fürdie zusätzliche Altersvorsorge ausgibt, kann vom Staat biszu 90 Prozent steuerliche Zuschüsse bekommen.
– Kollege Laumann, wir haben gerade für die Bezieherkleiner Einkommen ganz hohe Zuschüsse vorgesehen.Das wissen Sie.
Wir wissen genau, wie schwer zusätzliche Abgaben imunteren Einkommensbereich fallen. Sie sollten sich alldas, was Sie hier vorgetragen haben, reiflich überlegen.Diese Rentenreform enthält einiges, was man wirklich of-fensiv vertreten kann. Wenn uns im weiteren Gesetzge-bungsverfahren einige Verbesserungen gelingen, dannsoll es mir recht sein.Ich will noch etwas zur blümschen Glorifizierung derRentenreform – Herr Kollege Laumann, Sie haben davongesprochen – sagen.
– Nein, ich habe Ihnen bewiesen, dass es nichts war. Siehätten die Menschen in die Sozialhilfe getrieben. DieseKoalition macht sich Gedanken, wie wir um diesen Wegherumkommen.
Was Blüm uns vorgelegt hat, war also eine schlechte Lö-sung.Hinzu kommt, Kollege Laumann: Bei uns sind dieBeiträge auf 19,3 Prozent gesunken und demnächst sin-ken sie auf 19,1 Prozent. Bei Ihnen wären die Beiträge zur
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gesetzlichen Rentenversicherung im Endeffekt bis auf24 Prozent gestiegen.
Selbst Ihnen nahe stehende Arbeitgeberverbände gebenuns darin Recht, dass man so, wie Sie es wollten, nichtverfahren kann.Unsere Rentenreform – wir bringen den entsprechen-den Gesetzentwurf demnächst in den Bundestag ein –enthält einige Punkte mit Pfiff – wenn Sie ehrlich sind,müssen Sie das zugeben – und sie trägt dazu bei, dass we-niger Menschen Sozialhilfe beziehen müssen. Ihr Politikhätte zu mehr Sozialhilfeempfängern geführt.
Die Aktuelle
Stunde ist beendet.
Wir kommen zu einer etwas ruhigeren Diskussion mit
sieben Rednerinnen und einem Redner.
Herr Kollege Parr, ich darf Ihnen schon jetzt meine Aner-
kennung aussprechen.
Ich rufe also die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helga
Kühn-Mengel, Anni Brandt-Elsweier, Dr. Carola
Reimann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Monika Knoche,
Irmingard Schewe-Gerigk, Christa Nickels, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Frauenspezifische Gesundheitsversorgung
– Drucksache 14/3858 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Widmann-Mauz, Eva-Maria Kors, Dr. Sabine
Bergmann-Pohl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Konkrete Gesundheitspolitik für Frauen
– Drucksache 14/4381 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Das Haus ist damit
einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst
der Kollegin Helga Kühn-Mengel für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob es bei die-sem Thema ruhiger sein wird, wissen wir noch nicht sogenau.Das Thema „Frauen, Gesundheit, medizinische For-schung und Versorgung“ wird noch immer von vielen Ak-teuren im Gesundheitswesen unterschätzt. Einigebelächeln es. Viele halten es allenfalls für ein Randthemades gesundheitspolitischen Handelns. Dabei wird schonseit einigen Jahren – ich zitiere Erika Zoike vomBKK-Bundesverband – „verstärkt auf die Geschlechts-blindheit unseres Gesundheitssystems hingewiesen“.
Hierzu einige Beispiele: Vera John-Mikolajwski vomUniversitätsklinikum Essen betont, dass jahrelang dasGeschlecht von Teilnehmern an Arzneimittelstudiennicht einmal erwähnt worden sei. Dies habe zu großen Da-tendefiziten, etwa beim Bluthochdruck oder bei derPrimärprävention des Herzinfarkts, geführt. Kaum er-forscht ist, ob Medikamente bei Frauen wegen des unter-schiedlichen Hormonhaushaltes in gleicher Dosis wirken.Eine groß angelegte Untersuchung über 1 081 internatio-nale Publikationen im Arzneimittelbereich ergab, dass inzwei Drittel der Fälle die an Männern gewonnenen Er-gebnisse einfach auf Frauen übertragen worden sind.Es muss uns doch zu denken geben, wenn deutlichmehr Männer suchtkrank sind, aber rund 70 Prozent allerMedikamentenabhängigen Frauen sind. Warum erhaltendoppelt so viele Frauen wie Männer regelmäßig Beruhi-gungsmittel? Warum werden Frauen überhaupt über-durchschnittlich häufig zu Arzneimittelpatienten? Solltennicht vielmehr die Ärzte gelegentlich vom Rezeptblockhoch auf die Frau schauen und ihre Lebenssituation zurKenntnis nehmen,
die häufig von Doppel- und Dreifachbelastungen – Be-ruf, Familie und Pflege von Angehörigen – geprägt ist?Nicht abschließend geklärt ist, warum Frauen deutlichhäufiger vom Schlaganfall als vom Herzinfarkt betroffensind, häufiger aber am ersten Herzinfarkt sterben. Ebensoungeklärt ist, warum in den neuen Bundesländern 18 Pro-zent mehr Männer, aber 53 Prozent mehr Frauen als inWestdeutschland einen Herzinfarkt erleiden. Es bedarfdringend der Forschung, wenn für Frauen die Wahr-scheinlichkeit um 87 Prozent höher ist, während der By-passoperation zu sterben. Das ist eine Frage, mit der sichder letzte große Kardiologenkongress beschäftigt hat.Die immer wieder angeführte Tatsache, dass Frauen zu
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diesem Zeitpunkt älter seien, ist richtig, erklärt das Ge-schehen aber nur unzureichend; denn Männer – das be-stätigen Kardiologinnen und Kardiologen immer wieder –haben andere Vorschädigungen. Überhaupt wird die Häu-figkeit koronarer Herzkrankheiten bei Frauen unter-schätzt, und zwar nicht nur von den Patientinnen, die dieersten Anzeichen in ihrer Lebenssituation vielleicht nichtgut genug wahrnehmen, sondern auch von Ärzten. EineHypothese ist auch, dass Ärzte nicht daran gewöhnt sind,solche Managerkrankheiten der Frauenrolle zuzuschrei-ben.
Frauen werden im Bereich ihrer Lebenszyklen und Re-produktionsfunktionen systematisch zu Patientinnen ge-macht. 70 bis 80 Prozent der Schwangerschaften werdeninzwischen zu Risikoschwangerschaften erklärt. Damithängt eine Ausweitung der gesamten Pränatalmedizin zu-sammen, in einem Umfang, der uns veranlasst hat, uns da-mit in der Enquete-Kommission „Recht und Ethik in derMedizin“ zu befassen. Hier geht es wirklich um dieSelbstbestimmung der Frau, um gute Beratung und Infor-mation.Die SPD hat schon im Jahr 1998 einen Antrag zumThema gestellt und in den Bundestag eingebracht – schondamals mit der Forderung, frauenspezifische Aspektestärker zu berücksichtigen, kontinuierliche Berichterstat-tung zu gewährleisten und die Forschung zu verstärken.Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUund der F.D.P., haben damals unseren Antrag mit demHinweis darauf abgelehnt,
dass Frauen und Männer gleichen Zugang zum Gesund-heitswesen haben – das ist sicherlich richtig – und Frauenohnehin älter würden – auch das ist richtig. Aber es gehtja auch um die Qualität des Älterwerdens. Ich sage esnoch einmal: Das Thema wird überall diskutiert.Heute legen Sie ebenfalls einen Antrag zu diesemThema vor. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Sie aufeinen anfahrenden Zug aufspringen wollen.
Der Zug ist aber abgefahren, das Thema wird bereits über-all diskutiert. Im Übrigen, meine ich, schauen Sie ein we-nig einseitig auf diesen Bereich. Es geht nicht nur um dieEigenwahrnehmung der Frau. Sie vermeiden jeden kriti-schen Blick auf ärztliches Verhalten und wiederholenstattdessen die stereotype Forderung nach Aufhebung derBudgetierung.
– Dann beantworten Sie mir bitte die Frage, ob 35 000 Ei-erstockentfernungen im Jahr etwas mit einem zu geringenBudget zu tun haben. Ich würde sagen, sie haben etwasmit Fehlversorgung zu tun. Die Studie des BMG ist keineErfindung der deutschen Sozialdemokratie.
Es gibt weitere Beispiele in diesem Bereich; das wissenSie auch. Warum gibt es bei Arztfrauen 50 Prozent weni-ger Totaloperationen? Das sind doch Fragen, die wir indiesem Zusammenhang einmal klären müssen.Wir nehmen uns heute, diesmal glücklicherweise alsRegierungskoalition – glücklicherweise auch für dieFrauen in diesem Lande –, noch einmal des Themas an,
weil wir die Diskussion intensivieren und Forschungsan-reize schaffen wollen. Wir müssen das auch tun, weil Siewährend Ihrer Regierungszeit das Thema negiert undnicht aufgearbeitet haben.
Unser Antrag „Frauenspezifische Gesundheitsversor-gung“ nennt beim Namen, was wir ändern wollen und wasauch schon geändert worden ist. Schauen Sie bitte auf dievielen Ansätze, die in den drei genannten Ministerien inunserer Regierungszeit schon angelaufen sind. Ich findesie recht beeindruckend.Wir wollen, dass auch in Zukunft alle Entscheidungenüber die Bewilligung von Projektanträgen generell nachdem Kriterium „Berücksichtigung frauenspezifischerBelange“ bewertet werden, dass eine kontinuierliche Be-richterstattung über die gesundheitliche Situation vonMädchen und Frauen stattfindet, dass die Gesundheits-versorgung von Frauen, deren Gesundheit besonderer Be-lastung ausgesetzt ist, auch in besonderer Weise berück-sichtigt wird. Wir denken an höhere Fördermittel etwa imBereich der Forschung und an Studien zu behindertenFrauen, Migrantinnen, älteren Frauen. Diese Liste ließesich problemlos verlängern. Sie kennen die Studie ausdem Frauenministerium zur Lebenssituation erwerbstäti-ger Frauen. Sie gibt reichlich Hinweise auf Bereiche, umdie wir uns auch kümmern werden.Wir wollen – das muss einmal deutlich gesagt werden –die Benachteiligungen, die es beim Verlauf der Karrierenvon Frauen im Bereich der Medizin und der Gesund-heitsforschung gibt, abbauen. Es ist ganz wichtig, dass wiruns die Gremien und ihre Besetzung einmal anschauen.Im Gesundheitswesen nehmen überwiegend Männer lei-tende Funktionen ein. Sie leiten Krankenkassen, Kran-kenhäuser, Fachkliniken, kassenärztliche Vereinigungen,und – ich sage es bei jeder passenden Gelegenheit – unterden 30 Mitgliedern im Bundesausschuss Ärzte und Kran-kenkassen gibt es keine einzige Frau.
Laut Statistik sind nur etwa 2,3 Prozent aller Lehr-stühle in der klinischen, Betten führenden Medizin vonFrauen besetzt. Frauen stellen die Hälfte der Erstsemesterim Bereich der Medizin. Mit jeder Stufe der Karrierelei-ter nimmt der Frauenanteil ab: 45 Prozent der Absolven-tinnen im Fach Medizin, 30 Prozent bei den Promotionen,8 Prozent nur noch bei den Habilitationen und 2 Prozentbei den C-4-Professuren. Auch das gehört zum Thema.Das ist ein nicht zu akzeptierender Zustand. Wie soll hier
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Helga Kühn-Mengel12440
prägender Einfluss von Frauen auf Frauen in den Studien-inhalten, bei Behandlungskriterien und für patientinnen-orientierte Verhaltensweisen ausgeübt werden?
Auf die Liste der vielen Projekte, die die drei Ministe-rien, die für Frauen, Gesundheit und Forschung zuständigsind, in Angriff genommen haben, will ich wegen der kur-zen Redezeit nicht weiter eingehen.
Unseren Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder CDU, verstaubt zu nennen
– Sie tun das, wie ich glaube, auf Ihrer Homepage – istunklug, zeigt es doch, dass Sie offensichtlich die Diskus-sionen unter den Gesundheitswissenschaftlerinnen undÄrztinnen nicht kennen. Unser Antrag hat bereits dazu ge-führt, dass einige Stiftungen, die ich vorher nicht kannte,mir geschrieben oder gesagt haben, dass sie ihren Förder-schwerpunkt verändern wollen. Ich halte es für ein gutesZeichen, wenn ein Antrag Bewegung in einen solchen Be-reich bringt. Damit haben wir, wie ich denke, schon einenTeil unserer Absichten erreicht.
Mit der Gesundheitsreform haben wir die Weichenfür Veränderungen im System gestellt, von denen geradeauch Frauen profitieren werden. Wir haben die Qualitäts-sicherung als durchgreifendes und durchgehendes Prinzipeingeführt und den Koordinationsausschuss etabliert, derim Jahr mindestens für zehn Krankheiten Behandlungs-leitlinien festlegen soll. Wir werden darauf drängen, dasszum Beispiel auch Osteoporose, Gebärmutterhalskrebsund andere geschlechtsspezifische Krankheiten dort the-matisiert werden. Wir haben die Prävention, den vorbeu-genden Gesundheitsschutz, wieder in das Gesetz aufge-nommen – den haben Sie ja in Ihrer Regierungszeitabgeschafft – und Selbsthilfe sowie Patientinnen- und Pa-tientenrechte gestärkt. Auch dieses ist erwähnenswert.Nun muss ich aber noch etwas zum Brustkrebs sagen.Dieses Thema ist uns einige Anmerkungen und auch eineInitiative wert. Auch Sie gehen ja in Ihrem Antrag daraufein. Vieles von dem, was Sie schreiben, könnten ich undauch die SPD unterschreiben. Ihre Stellungnahme ist aberdann, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt betrachtet,was sie weglässt, populistisch. Hier haben wir es nämlichmit Unter- und Fehlversorgung zu tun. An der Mammo-graphie wird in Deutschland viel verdient und – das mussman einmal sagen – nicht immer zum Nutzen der Frauen.
Sie wird etwa 4 Millionen Mal im Jahr durchgeführt. Da-bei fallen Kosten in Höhe von etwa 600Millionen DM an.Sie wird nicht immer systematisch, nicht immer mit opti-malen Geräten und teilweise mit falschen Befundendurchgeführt. 30 Prozent falsch positive Befunde sind derHaken, an dem weitere Untersuchungen aufgehangenwerden; damit verbunden ist eine erneute Strahlenbelas-tung, andauernde psychische Belastung der Frauen undihrer Angehörigen. Während in Deutschland 30 Prozentder Befunde falsch positiv ausfallen, sind es nur 1 Prozentder Befunde in den Niederlanden. Hier müssen wir weni-ger über eine Anhebung des Budgets als über die der Qua-lität nachdenken und uns ernsthaft mit der Frage von Nut-zen und Schaden der Mammographie beschäftigen. VonBeliebigkeitsmedizin war bei Insidern des Systems dieRede.Heuchlerisch sind Ihre Forderungen, wenn Sie mit kei-nem Wort erwähnen, dass die Mortalitätsrate bei Brust-krebs seit Mitte der 80er-Jahre in Deutschland nicht nurnicht gesunken, sondern über die gesamte Ära Kohl an-gestiegen ist.
Sie haben nichts für die Verbesserung der Qualität derFrüherkennung in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeitgetan, während in den Nachbarländern – in den Nieder-landen, in England und in den skandinavischen Ländern –
die Mortalitätsrate nach einer Krebserkrankung, die Zahlder Amputationen und die Verweildauer der Kranken imKrankenhaus deutlich gesunken sind.
Deshalb werden wir Screenings nicht einführen, bevornicht die Qualität gesichert ist, denn Frauen nehmenScreenings nur an, wenn sie sich darauf verlassen können,dass das System transparent ist und dass sie auf qualitativhohem Niveau versorgt werden.
Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass wir hier fürkonkrete Verbesserungen gesorgt haben. Frau Schaich-Walch und ich haben mit Vertretern des Bundesausschus-ses Ärzte und Krankenkassen sowie mit Vertretern vonAOK und VdAK über die schnelle Verbesserung imMammographiebereich gesprochen. Wir haben uns auf ei-nige Maßnahmen verständigen können.
Die beiden Organisationen der Selbstverwaltung werdenin dem Ausschuss nach § 136 a, dem Qualitätsausschuss– den haben wir eingeführt; das nur einmal am Rande –,darauf hinwirken, dass für die kurative Mammographie,die jeden Tag zur Abklärung von Befunden angewandtwird, nachhaltige Verbesserungen stattfinden werden.Diese Verbesserungen werden unter anderem die Geräte-sicherheit betreffen; denn sie spielt für die Qualität der
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Bilder und damit für die Sicherheit der Befunde einegroße Rolle. Ich halte das für wichtig, weil es nicht nur umScreenings geht. Vielmehr geht es um die umgehendeVerbesserung der Mammographie; denn es sind vieleFrauen betroffen. Sie sehen daran, dass wir die Verbünde-ten im System auch ansprechen und zu einem Dialog ein-laden.Wir werden bei diesem Thema überhaupt mit allen Ver-bündeten und Netzwerken, die es gibt, weiter im Kontaktbleiben. Das kann nur im Sinne der Frauen sein. Ich werdemich ferner dafür einsetzen, dass es zu diesem Themaauch eine Anhörung geben wird.Ich danke Ihnen.
Nun erteile ich der
Kollegin Annette Widmann-Mauz, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Kühn-Mengel, es ist ja schön, Ihre Ausführungen zu hören.
Ihre Analysen sind interessant, ebenso Ihre Hinweise undAnregungen sowie die Aufzählung Ihrer Gesprächspart-ner. Einzig und allein frage ich mich, warum Sie, wennSie dann einen Antrag stellen, um Gottes willen nicht kon-kret werden.
Das erwarten die Frauen in dieser Republik von Ihnen.Hier aber wird von Ihnen nichts Konkretes geleistet.
Die Forderungen nach einer konkreten frauenspezifi-schen Gesundheitspolitik werden immer lauter. Nicht zu-letzt der Protestmarsch brustkrebskranker Frauen jüngsthier in Berlin hat den politischen Handlungsbedarf deut-lich aufgezeigt.
Fakt ist, die Bundesregierung tut gesundheitspolitisch fürFrauen in Deutschland zu wenig.Grundsätzlich – das will ich an dieser Stelle auch sa-gen – kommen Fortschritte der Medizin und der Medizin-technik Frauen und Männern gleichermaßen zugute, undzwar in ganz Deutschland. Dennoch gibt es zahlreichefrauenspezifische Gesundheitsprobleme, die Anlass zurBesorgnis geben. Hierzu zählen vor allem Essstörungen,Depressionen, Osteoporose, also Knochenschwund, rheu-matoide Arthritis, Herz- und Kreislaufkrankheiten,Demenz sowie Brust- und Gebärmutterhalskrebs. Dierot-grüne Budgetierungswut erschwert zudem die Eta-blierung wichtiger neuer Versorgungsangebote sowie in-novativer Behandlungsmethoden. Budgetierung heißtRationierung und Rationierung bedeutet Einschränkungnotwendiger Leistungen.Das geht häufig zulasten der frauenspezifischen Ge-sundheitsversorgung. Im Ergebnis bekommen wir eineZweiklassenmedizin. Frauen, die sich teure medizinischeUntersuchungen und Behandlungen leisten können, ste-hen besser da. Wir kommen zusehends in eine sozialeSchieflage.Der von der SPD und den Grünen vorgelegte Antragist – das mögen Sie hier bestreiten – ein reines Alibipapier.
Auf der Basis überholter wissenschaftlicher Erkenntnissehaben Sie einen drei bis vier Jahre alten und – ichwiederhole dies – verstaubten Antrag aus der Schubladegeholt,
der nicht in einem einzigen Punkt konkret auf die wich-tigsten gegenwärtigen Herausforderungen frauenspezifi-scher Gesundheitspolitik eingeht.
Am 2. Juli 1996, also vor über vier Jahren, haben Sieaus der Opposition heraus eine Große Anfrage an die Bun-desregierung gerichtet. Obwohl die medizinische For-schung in Bezug auf die frauenspezifische Gesundheits-vorsorge seitdem erhebliche Fortschritte gemacht hat,obwohl die geschlechtsspezifischen Datenerhebungen,Statistiken und Prognosen wesentlich präziser gewordensind, obwohl es neue, Erfolg versprechende Behand-lungsmethoden für frauenspezifische Krankheiten gibt,obwohl so vieles in den letzten Jahren in Bewegung gera-ten ist, legen Sie uns einen Antrag vor, der nichts von al-ledem aufnimmt.
Im Ergebnis muten Sie uns einen Antrag zu, der veral-tet ist und der nicht in einem einzigen Punkt konkret wird.Sollten Sie ihn mit Ihrer Mehrheit im Bundestag be-schließen, wird er nachhaltig nichts für die Gesundheit derFrauen in Deutschland bewirken. Unwichtiges wird indiesem Antrag von Ihnen überhöht; Wichtiges wird über-haupt nicht berührt. Selbst bei den Punkten, die anzuspre-chen ich gut finde – zum Beispiel Public Health, derAIDS-Virus und HIV-Infektionen oder die Entwicklungvon Maßnahmen für Migrantinnen –, fordern Sie keinekonkreten Konzepte ein. Das ist für eine Regierungsfrak-tion beim besten Willen zu wenig.Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben deshalb einen ei-genen Antrag „Konkrete Gesundheitspolitik für Frauen“vorgelegt, der den drängendsten Problemen gerecht wird.
Was wir in Deutschland brauchen, sind konkrete Maß-nahmen zumindest in den Kernbereichen frauenspezifi-scher Gesundheitspolitik. Zu den Kernbereichen gehören:
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Essstörungen, Depressionen, Osteoporose, Rheuma,Herz- und Kreislaufkrankheiten, Demenz sowie Brust-und Gebärmutterhalskrebs. Ich will hier nicht auf alle Be-reiche eingehen, sondern nur ein paar ansprechen.Erstens. Beim Brustkrebs besteht ganz dringenderHandlungsbedarf. Die Brustkrebs-Demonstration vorzwei Wochen, der einstimmige Beschluss der Gesund-heitsministerkonferenz vom Juni dieses Jahres, die klarenAufforderungen der Women’s Health Coalition, dieBrustkrebs-Initiative oder die Arbeit der zahlreichen en-gagierten Gruppen in unserem Land zeigen doch, dass dieBundesregierung endlich aufwachen und handeln muss.Es reicht nicht, wenn Sie weitere drei bis sechs Jahre war-ten wollen, bis die laufenden Modellversuche ausgewer-tet worden sind. Es ist wissenschaftlich unumstritten, dassdas Screening-Verfahren die derzeit beste Methode zurErkennung von Brustkrebs ist.
Bedenkt man, dass in Deutschland die Sterbequote nachder Therapie deutlich höher ist als zum Beispiel in denUSA, dann liegt auf der Hand, dass sofortiger Hand-lungsbedarf gegeben ist.Brustkrebs gehört bei uns mit etwa 45 000 Neuerkran-kungen und rund 19 000 Todesfällen jährlich zu den häu-figsten und gefährlichsten Erkrankungen der Frauen. Ne-ben den direkten Folgen der Tumorerkrankung kommenzusätzlich frauenspezifische Beeinträchtigungen der Le-bensqualität hinzu, die mit zunehmendem Alter – beson-ders in der Phase nach der Menopause – immer größerwerden. Probleme der Brustkrebsfrüherkennung, der Dia-gnose, der Behandlung und Nachsorge begleiten vieleFrauen über mehrere Lebensjahrzehnte hinweg. Jedeachte bis zehnte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens anBrustkrebs. Mehr als bei jeder anderen Erkrankung bedarfes einer allgemein verständlichen Information, um dieFrau in den Entscheidungsprozess über Diagnostik undTherapie einzubinden.Entstehung, Verlauf und Folgen einer Brustkrebser-krankung erfordern eine langfristige, qualitätsgesicherteärztliche Begleitung. Dafür wird unsere politische Unter-stützung gebraucht.
Wir müssen ein flächendeckendes, qualitätsgesichertesund fachübergreifendes Brustkrebsfrüherkennungskon-zept fördern, und zwar auch ohne Vorliegen eines Ver-dachts oder eines besonderen Risikos. Das Problem, daswir in Deutschland haben, ist die Finanzierung derFrüherkennung. Heute wird die Brustkrebsfrüherken-nung durch Mammographie nur erstattet, wenn ein Ver-dacht oder ein besonderes Risiko vorliegt. Das ist wider-sinnig; denn die Früherkennung hilft, nutzt und sie istwissenschaftlich gesichert. Die Bundesregierung musssich einfach mehr einfallen lassen, als nur immer wiederneue Modellversuche aufzulegen. Deshalb gilt: Die Bun-desregierung muss endlich konkret handeln.
Erforderlich ist dabei in erster Linie die rasche Umset-zung der europäischen Leitlinie in eine bindende Richtli-nie des Bundesausschusses für Ärzte und Krankenkassen.Ich weiß gar nicht, worauf Gesundheitsministerin Fischereigentlich noch wartet. Wir dürfen nicht länger warten,gerade weil es heute wissenschaftlicher Standard ist, dassunter Beachtung der Qualitätsstandards der Leitliniendie Brustkrebssterblichkeit deutlich zurückgeführt wer-den kann.Zu den Qualitätsstandards gehören insbesondere dieregelmäßige Doppelbefundung des Bildmaterials, einespezielle Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte und auchdes nicht ärztlichen Personals im Bereich der radiologi-schen Diagnostik, ein hoher technischer Standard derGeräte und eine laufende Kontrolle ihrer technischenQualität. Wir müssen die Qualitätssicherung der Brust-krebsfrüherkennung durch gezielte Projekte fachüber-greifend fördern, und zwar einschließlich radiologischerScreening-Verfahren. Das heißt, wir müssen die Screening-Mammographie einführen, und zwar eingebettet in ein in-terdisziplinäres medizinisches Früherkennungskonzept.
Standardisierte Maßnahmen zur Früherkennung dürfennicht auf die Mammographie beschränkt sein, sondernmüssen um Maßnahmen zum Erlernen von Selbstunter-suchungen der Brust und um Abklärung der familiärenBelastung ergänzt werden. Die Vorschläge zur medizini-schen Therapie nach Befund und mögliche Nachsorgebe-handlungen müssen grundsätzlich von den unterschiedli-chen Fachdisziplinen gemeinsam erarbeitet werden. Dasheißt, wir müssen die sorgfältige Aufklärung fördern, da-mit Früherkennungsuntersuchungen und Nachsorgebe-handlungen nicht zu übermäßigen psychischen Belastun-gen führen.Ein zweiter Bereich. Rund 6 000 Frauen erkranken und2 800 Frauen sterben jährlich in Deutschland an Gebär-mutterhalskrebs. Damit nimmt Deutschland in Westeu-ropa den drittschlechtesten Rang ein. Weltweit ist dieseKrebsart mit etwa 500 000 Fällen im Jahr die zweithäu-figste Krebsart bei Frauen.Neueste Forschungen zeigen: In fast 100 Prozent derFälle ist das so genannte Humane Papillomavirus Verur-sacher von Gebärmutterhalskrebs. Wenn die Krebsursa-che rechtzeitig entdeckt wird, gibt es sehr gute Hei-lungschancen. Wie Studien der Universitäten Hannoverund Tübingen jetzt belegen, hat der herkömmliche Pap-Abstrichtest eine Genauigkeit von nur etwa 50 Prozent.Der neu entwickelte HPV-Test hingegen hat eine Genau-igkeit von nahezu 100 Prozent. Zudem erkennt er die Prä-disposition für Gebärmutterhalskrebs, während der Pap-Abstrichtest erst die bestehende Krankheit bzw. derenVorstufe aufdeckt.Wir müssen überlegen, ob der Test von den Kranken-kassen im Rahmen der jährlichen Vorsorgeprogramme er-stattet werden sollte. Wir müssen untersuchen, ob derHPV-Test eine effiziente Vorsorge bieten kann. Ihre Bud-getierungspolitik darf auch an dieser wichtigen Stellenicht zulasten der Frauen gehen.
Drittens. Bei der Osteoporose blamiert sich die Bun-desregierung bis auf die Knochen. In Deutschland sind
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über 6 MillionenMenschen an Osteoporose erkrankt. DasVerhältnis Frauen zu Männern liegt bei drei zu eins. Wirbrauchen dringend ein konkretes Programm zur Früh-erkennung, Prophylaxe und Therapie, um Osteoporose-folgen frühzeitig zu vermeiden und nicht erst nach einerFraktur zu behandeln. Ich kann es überhaupt nicht verste-hen, warum Sie, SPD und Grüne, in Ihrem Antrag mitnicht einer Silbe auf dieses Problem eingehen. Wir jeden-falls sehen hier großen Handlungsbedarf.Ein vierter Bereich: die Demenz. In Deutschland sindgut 1 Million Menschen an Demenz erkrankt, Tendenzsteigend. Frauen haben ein höheres Risiko, diese Erkran-kung zu erleiden – nicht weil Demenz eine frauenspezifi-sche Krankheit ist, sondern weil Frauen eine höhere Le-benserwartung haben. Wir müssen deshalb endlichDemenzkranke, die in einem bestimmten Umfang der all-gemeinen Betreuung bedürfen, in die soziale Pflegeversi-cherung einbeziehen.Was Frau Fischer jetzt vorgeschlagen hat, hilft wederden Betroffenen noch den Angehörigen. Das wissen Sieauch. Ich will das an dieser Stelle gar nicht vertiefen. Überdas Thema Demenz in der Pflegeversicherung werden wirnoch an anderer Stelle debattieren müssen.Das sind im Groben die wichtigsten Punkte. Wir wer-den in der Gesundheitspolitik für Frauen nur vorankom-men, wenn wir konkrete Maßnahmen beschließen. IhrAntrag verliert sich leider in Plattitüden. Sie verweigernsich damit einer konstruktiven Gesundheitspolitik fürFrauen. Wir haben konkrete Vorschläge gemacht, an de-nen wir uns orientieren sollten, wenn wir wirklich etwasfür Frauen in unserem Land tun wollen.
Das Wort hat nun die
Kollegin Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Da-men! Ich bin heute mit einem ganz guten Gefühl hierhergekommen und hätte nicht erwartet, dass die CDU/CSUauch dieses sehr wichtige Thema verhunzt, indem sie esfür ihre Oppositionsattacken nutzt.
Frau Kollegin, es wäre gut gewesen, wenn Sie unserenAntrag korrekt gewürdigt und darauf Ihre Rede aufgebauthätten oder wenn Sie auf Ihren Antrag verwiesen hätten,den ich sehr wohlwollend gelesen habe.
Denn Sie erkennen an, dass ein über Jahrzehnte hinweg inDeutschland aufgelaufenes Problem, das durch Defiziteentstanden ist, einer Behebung bedarf. Wenn Sie daraufhingewiesen und in diesem Zusammenhang im Hinblickauf die Bereiche der Demenz, der Osteoporose und derneuesten Entwicklungen in der Mammographiefor-schung, also im Hinblick auf das Mammographiescree-ning und dessen Bewertung, einige wichtige Anregungengegeben hätten, dann hätte ich das nicht nur mit Großzü-gigkeit, sondern auch mit Sachlichkeit und Fairness zurKenntnis genommen.
Sie aber attackieren an diesen Stellen, sodass ich feststel-len muss: Das passt nicht hierher.Sie haben die Mammographie angesprochen. Wir ha-ben uns zu Beginn dieser Legislatur und danach noch ein-mal in einer Anhörung intensiv mit den Fragen des Brust-krebses befasst. Ich kann allerdings angesichts IhresRedebeitrages nicht voraussetzen, dass Sie über den heu-tigen Stand der Kenntnisse Bescheid wissen. Sie solltenaber wissen, in welcher Weise man heute über die Fragedes Mammographiescreenings diskutiert.
In Deutschland gibt es – die Frau Staatssekretärin wirddies gerne näher erläutern, wenn Sie noch entsprechendenFragebedarf haben sollten – im Bereich des Mammogra-phiescreenings Modellprojekte. Als Gesundheitspolitike-rin wissen Sie aber so gut wie ich, dass im Aachener Raumein entsprechendes Forschungsprojekt daran gescheitertist, dass sich die niedergelassene Ärzteschaft nicht daranbeteiligen wollte. Es gibt hier ein Geflecht, das wir bei ei-ner Umsetzung dieses Vorhabens nicht außer Acht lassenkönnen.Dass wir als Grüne dieses Thema aufgegriffen haben,können Sie schon allein daran erkennen, dass es Gegen-stand unseres Antrages ist und dass die Gesundheitsminis-terin die Schirmherrin einer diesbezüglichen Veranstal-tung war, die ich außerordentlich begrüßt habe.
Nichts ist wichtiger, als dass Frauen, die mit diesem Ge-sundheitsproblem leben, darauf hinweisen, dass es einenfrauenspezifischen Krankheitsbereich gibt, der von denniedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, was die Qua-litätssicherung der Maßnahmen angeht, noch zu wenigbeachtet wird. Sie haben einen Anspruch darauf, einzu-fordern, dass eine gute Gesundheits- und Krankenversor-gung sowie die wissenschaftliche Forschung nur dannvon allgemeiner Art sein können, wenn die Frauenspezi-fik berücksichtigt wird.
Das sollte die zentrale Aussage der gesamten Debattesein. Ich habe von Fachverbänden, Frauenorganisationenund Frauengesundheitszentren sehr viele positive Rück-meldungen auf diese Initiative erhalten.
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Annette Widmann-Mauz12444
Wir als Parlamentarierinnen wollen das verstärken undvertiefen, indem wir zu dieser Thematik eine öffentlicheAnhörung durchführen. Denn keine von uns erhebt denAnspruch, hier über den letzten Stand des Wissens zu ver-fügen. Ich möchte, dass diese Anregungen in den weite-ren parlamentarischen Prozess aufgenommen werden unddass wir das Antragsbegehren vervollständigen.Sie haben hier Ihren Antrag vorgestellt und lautstarkHandlungsdefizite reklamiert. Ich hätte erwartet, dass Siezum Beispiel zur Kenntnis nehmen, dass wir in unseremAntrag nicht nur schichten-, rollen- und geschlechtsspezi-fische Sozialisationsfragen zum Gegenstand machen– das muss einfach Stand der Wissenschaft sein –, sonderndass wir uns auch der besonderen Problematik von Mi-grantinnen in Bezug auf deren Gesundheitsversorgung inDeutschland zuwenden.
Was bedeutet das? Nichts ist wichtiger – dies ist vor demHintergrund der in Ihrer Fraktion entstandenen unsägli-chen Leitkulturdebatte zu sehen –, als dass wir in der Ge-sundheitsversorgung anerkennen, dass die Nichtkenntnisvon kulturellen Zusammenhängen, die in der Sozialisa-tion hier lebender Migrantinnen eine wesentliche Rollespielen, zu Unterversorgung im Gesundheitswesen führt.Dass wir die Gesundheitsversorgung von Migrantin-nen positiv benennen, ist ein sehr wichtiger Beitrag dafür,frauengerecht und kulturell offen zu sein und dies im Ge-sundheitssystem zu verankern.
Wir haben in unserer Gesundheitspolitik beispiels-weise die Drogenfrage, die Suchtprävention fest inte-griert. Die Tatsache, dass das Suchtverhalten und dasSuchtproblem von Männern, Alkoholprobleme in Verbin-dung mit Zivilisationskrankheiten im ärztlichen Bereichweniger beachtet werden, ist Beweis für ein großes ge-schlechtsspezifisches Defizit in der deutschen Gesund-heitsversorgung.Die Tatsache, dass Frauen oft psychopathologisiertwerden, ist auch ein Ausdruck geschlechtsspezifischerWahrnehmung von biografischen Problemen. Tatsäch-lich gibt es aber auch die verstärkte Medikamentenabhän-gigkeit bei Frauen.Wir haben also ein Zusammenspiel von verschiedenenbiologisch bedingten, sozial und kulturell bedingten Fra-gen und daraus sich ergebenden Defiziten in der For-schung allgemein und in der Forschung der medizini-schen Versorgung.Das in einer gesundheitspolitischen Debatte zum Ge-genstand zu machen, halte ich für ein sehr wichtiges Sig-nal und für eine sehr selbstbewusste Geste. Wir sagen: Wirkennen die frauenspezifischen Versorgungsdefizite inder Gesundheitsversorgung und -politik.Da, wo wir mit aktuellen Maßnahmen eine Gleichstel-lung sofort herbeiführen konnten, haben wir es getan. Ichnenne nur die Zuzahlung in der Psychotherapie, die dieFrauen nicht mehr leisten müssen. Ihnen einen versor-gungsgerechten Zugang zu sichern und ihn für alle gleichzu gestalten – das mussten wir tun, weil Sie gerade da,ohne auf die Relevanz dieser Frage für Frauen zu achten,Zuzahlungen eingeführt haben.
Das sind sehr wichtige Aussagen. Das sind sehr wich-tige Punkte, die wir zu Anfang angegangen sind. Nir-gendwo mehr als zum Beispiel in der Psychotherapie undbeim Zugang zur Versorgung in diesem Bereich spielt dieGeschlechtsspezifikation eine größere Rolle.
Wir wissen sehr wohl, dass das Gesundheitssystem alssolches von Frauen getragen wird, sie aber in der For-schung und bei der Bewertung von Leistungen nach wievor vollkommen unterrepräsentiert sind.
Wenn Sie sagen, es sei nicht zukunftstauglich, dass wirhier „gender mainstreaming“ in die Überschrift und injedes Unterkapitel setzen,
dann haben Sie nicht begriffen, um was es geht.
Nun, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, erteile ich dem Herrn Kollegen Detlef
Parr, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Ich möchte zunächst dem Herrn PräsidentenSeiters für den Zuspruch danken, dass ich zu diesemThema rede. Ich denke, es täte uns Männern vielleichtganz gut, häufiger einmal aus der Rolle zu fallen.
Im April 1989 haben wir über eine Große Anfrage derSPD zum Thema frauenspezifische Gesundheitsversor-gung debattiert, damals noch unter stark ideologisch ge-prägten Aspekten. Daraus erklärt sich auch die Distanz zuder damaligen Anfrage. In der Debatte haben wir dazu jasehr eindeutig Stellung genommen.Heute liegen uns zwei Anträge vor, mit denen man sichwesentlich sachlicher auseinander setzen kann. Ich be-dauere, dass sich die Debatte in einer solchen Art undWeise entwickelt hat. Ich meine, wir können sehr sachlichdarüber reden. Beide Anträge haben Gutes, dem man zu-stimmen kann, beide Anträge haben auch Positionen, dieman kritisch beleuchten kann.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Monika Knoche12445
Das damalige Postulat der SPD, dass es in Deutschlandeine ausschließlich an männlichen Patienten ausgerichteteMedizin gebe, wird in Ihrem Antrag wiederholt.
Es gibt kostentreibende und im Ergebnis zweifelhafteVorschläge für Projekte und Programme, auf die man gutund gern verzichten könnte. Darüber werden wir im Aus-schuss zu diskutieren haben. Ich möchte nicht die Studienwegdiskutieren, die belegen, dass die Geschlechter unter-schiedliche Gesundheitsprobleme haben und auch unter-schiedlich mit Erkrankungen umgehen.Wir vergeben uns nichts, wenn wir diese Tatsachen inder Gesundheitspolitik zukünftig stärker berücksichtigen.Wir dürfen aber nicht der Gefahr erliegen, dass allein dieKategorie „weiblich“ – Frau Kollegin Knoche hat das jaan einem Beispiel deutlich gemacht – als ausschlagge-bendes Kriterium für eine Differenzierung der Gesund-heitsversorgung zugrunde gelegt wird. Damit würden wirweitere Vorurteile gegen Frauenpolitik eher auf- als ab-bauen. Das wird der Sache nicht gerecht, liebe Kollegin-nen und Kollegen.Für die F.D.P. wird die aktuelle Situation von drei Be-reichen bestimmt, in denen dringend etwas verbessertwerden muss. Es sind das erstens die Forschung über ge-schlechtsspezifische Krankheitsbilder, zweitens diePrävention – Stichwort: Früherkennung – und drittens dieKrebsdiagnostik und -therapie.Ich fange einmal mit dem letzten Punkt an. Wir teilendie Auffassung, dass Früherkennungskonzepte ver-stärkt ausgebaut werden müssen. Ich bin 1994 noch fürneun Monate im Bundestag gewesen. Ich habe mich be-reits damals in diesen wenigen Monaten mit dem Problemdes Brustkrebses in Deutschland intensiv beschäftigt unddas vorbildliche Screening-Programm der Niederländerkennen gelernt. Ich bin nach Nimwegen gefahren undhabe die Chancen, die Frauen in Nimwegen im Vergleichzu den Frauen haben, die etwa in Kleve zu Hause sind, mitgroßem Interesse wahrgenommen.Ich war nach meiner Rückkehr in den Bundestag vorknapp zwei Jahren über den Stand der Entwicklung er-schüttert. Es hatte sich nämlich wirklich wenig getan.
Das gilt für die zwei Jahre der neuen Bundesregierung wieauch für die Zeit der alten Bundesregierung. Wir habendarauf viel zu wenig geachtet.
Noch heute erliegen deutsche Frauen Brustkrebsleiden inerheblich höherem Ausmaß als Frauen in unserem Nach-barland.Jetzt möchte ich aber ein besonderes Wort an FrauKühn-Mengel richten, die vorhin das Hohelied der neuenBundesregierung gesungen hat. Ich habe die NRW-Ge-sundheitsministerin Birgit Fischer, SPD, vor kurzem auf-gefordert, im größten Bundesland beim Ausbau desKrebsregisters den Anschluss an andere Bundesländer zusuchen. Ich habe nur den lapidaren Hinweis erhalten, derKrebsregisterbereich Münster reiche für notwendige Er-kenntnisse aus. Eine Ausdehnung des Registerbezirkssolle unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten irgendwanneinmal geprüft werden. Von einer flächendeckenden Re-gistrierung war erst gar nicht die Rede. Und das im größ-ten Bundesland dieses Landes!
Wir müssen die Länder auffordern, mehr Einsatz beider Erfassung von Brustkrebsfällen durch die Krebsre-gister zu zeigen und eine vollständige Erfassung zu ga-rantieren. Erst daraus können gezieltere Maßnahmen ent-wickelt werden, die wir alle fordern. Die Datenlage istund bleibt unbefriedigend und es bleibt unbefriedigend,dass die Forschung zu weiteren geschlechtsspezifischenKrankheitsbildern, wie sie vorhin schon genannt wordensind – Essstörungen, Osteoporose, Karzinome, Depres-sionen –, deutliche Defizite aufweist.Hierzu finden sich in beiden Anträgen Forderungen,die auch wir unterstützen können. Es ist absehbar, dass be-stimmte Erkrankungen in der Zukunft zunehmen werden.Entsprechende Forschungsanstrengungen sind zwingenderforderlich. Dazu ist es auch wichtig, nach Brüssel,Straßburg und Luxemburg zu schauen. AnnetteWidmann-Mauz hat darauf hingewiesen. Die Orientie-rung an bestimmten EU-Programmen und -Richtlinienkann uns auch hier weiterbringen.In Bremen soll jetzt innerhalb von drei Jahren einflächendeckendes Screening für Brustkrebs aufgebautwerden. Ich denke, das ist ein gutes Signal. In den Nie-derlanden sank die Mortalitätsrate seit Einführung desScreenings um 30 Prozent. Dort gibt es bereits seit vierJahren flächendeckende Reihenuntersuchungen.Wodurch zeichnet sich das niederländische Modellaus? – Es zeichnet sich durch sein striktes System derQualitätssicherung aus. Das ist der entscheidende Punkt.Um die europäischen Richtlinien zu erfüllen, haben dieNiederländer 54 Mammographiezentren errichtet. Dasmuss man sich einmal vorstellen. 80 Prozent der eingela-denen Frauen nehmen an der Reihenuntersuchung teil.Die Rate der Fehlbefunde liegt bei etwa 1 Prozent. Wir se-hen, wohin die Entwicklung gehen kann.Zum Thema Gebärmutterhalskrebs hat AnnetteWidmann-Mauz einiges gesagt. Auch wir wollen dieBundesregierung dringend auffordern zu prüfen, ob zumBeispiel Tests zur Feststellung einer Infektion mit huma-nen Papilloma-Viren in den Leistungskatalog der GKVaufgenommen werden können.Im Übrigen ist noch ein weiteres Beispiel zu nennen,das die Schwierigkeiten der Bundesregierung mit einerGesundheitsförderung für die Frauen aufzeigt. Ich haltedas drohende Aus für den medikamentösen Schwanger-schaftsabbruch für ein weiteres Beispiel mangelhafterFrauenpolitik. Wir werden ja im Verlaufe des Abends da-rüber noch diskutieren.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Detlef Parr12446
Ich hoffe sehr, dass die Ausschussberatungen uns wei-terführen. Beide Anträge sind eine gute Grundlage für dieBeratungen im Ausschuss. Ich hoffe, dass wir gemeinsamGrundlagen schaffen können, die die Gesundheitsversor-gung der Frauen da verbessern, wo es wirklich dringenderforderlich ist.Danke.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich Kollegin Christa Nickels das Wort.
Vie-
len Dank, Frau Präsidentin. – Ich beziehe mich mit mei-
ner Kurzintervention auf die Äußerungen von Herrn Kol-
legen Parr, aber auch auf Frau Kollegin Widmann-Mauz,
und zwar hinsichtlich der Forderung nach einem EU-leit-
liniengestützten, qualitätsgesicherten Screening für
Mammographieverfahren. Das ist absolut notwendig.
Ich brauche hier nicht noch einmal an die Argumente zu
erinnern, die Frau Kühn-Mengel genannt hat.
Es gibt in großem Maßstab kurative Mammographien,
die aber nicht qualitätsgesichert sind und auch nicht nach
den EU-Leitlinien funktionieren. Wenn man mit dem, was
zum Teil zulasten der Gesundheit der Frauen geht, auf-
hören würde, Frau Widmann-Mauz, dann würden die
Budgets in großem Maße entlastet. Das ist keine Frage zu
geringer Budgets, es ist eine Frage der Methode.
Wir sind hier schon erheblich weiter. Sie müssen zur
Kenntnis nehmen, dass wir in der Bundesrepublik kein
staatliches Gesundheitswesen haben, sondern ein geglie-
dertes, vielfältiges Gesundheitswesen, in dem eben auch
die Selbstverwaltungsorgane eine große und wichtige
Rolle spielen.
Kollege Parr, Sie haben gerade von der Modellregion
Bremen gesprochen. Das ist eine von drei Modellregio-
nen, die die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die
Spitzenverbände der Krankenkassen seit langem planen.
Ich komme aus der Aachener Gegend, wo ich auch
wohne. Dort wurde viele Jahre lang in einem Verbund von
engagierten Frauen, der Krebshilfe und auch der Univer-
sitätsklinik Aachen solch ein Modellversuch vorbereitet.
Es gab auch eine Ausschreibung der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der Kran-
kenkassen dazu. Aachen hat dann zunächst neben Bremen
und einer weiteren Region den Zuschlag bekommen.
Frau Widmann-Mauz, allerdings haben die KBV und
die Spitzenverbände der Krankenkassen klar gesagt:
Wenn die niedergelassenen Radiologen nicht mitmachen,
können sie es nicht machen. – Aufgrund dieser Tatsache
hat unsere Region den Zuschlag dann doch nicht bekom-
men. Da sind 70 000 Frauen herausgefallen.
Diese Studie ist auch eine Implementierungsstudie.
Das, was Sie in Ihrem Antrag verlangen, ist auf dem Weg.
Es scheitert in bestimmten Regionen am Widerstand der
niedergelassenen Radiologen, die offensichtlich Befürch-
tungen hinsichtlich der Möglichkeiten in ihren eigenen
Praxen hegen. Wir brauchen aber bestimmte Vorgaben,
bestimmte Geräte, bestimmte Erfahrungen, bestimmte
Einladungsverfahren. Von daher ist hier überhaupt nicht
die Politik verantwortlich. Vielmehr ist es erforderlich,
auch mit den Ärzten – mit den Radiologen vor allem –
stärker ins Gespräch zu kommen, damit es auch wirklich
unverzüglich umgesetzt werden kann. In Bremen läuft es
Gott sei Dank. In einer anderen Region ist es auf dem
Weg. In Aachen ist es leider nicht möglich gewesen, son-
dern ist am Widerstand der niedergelassenen Ärzte – nicht
am Widerstand der Politik – gescheitert.
Unser Haus unterstützt das Vorhaben mit allen ihm zur
Verfügung stehenden Mitteln. Wir sind diesbezüglich
schon so weit, dass es gemacht werden kann.
Was den anderen Punkt angeht, der hier auch von Ih-
nen, Herr Kollege Parr, angesprochen worden ist – über
das Thema Mifegyne werden wir gleich noch reden –,
werden wir – Sie haben ja selbst darauf hingewiesen –,
glaube ich, auch feststellen, dass das keine Frage der Po-
litik ist, sondern eine Frage dessen, wie im unternehmeri-
schen Alltag bestimmte Prozesse gestaltet werden müs-
sen. Wir werden uns darüber zu unterhalten haben, wie
wir es vernünftig fördern können.
Danke schön.
Frau Kollegin,
möchten Sie antworten? – Bitte sehr.
Frau Kolle-gin Nickels, zunächst möchte ich darauf hinweisen: DieBudgetierung habe ich nicht – wenn Sie meinen Aus-führungen zugehört haben – auf den Bereich des Scree-ning-Verfahrens bezogen, sondern vor allen Dingen aufmedikamentöse Behandlungsformen, zum Beispiel auchwas den Gebärmutterhalskrebs und neue, innovative Me-thoden zur Früherkennung bzw. zur Behandlung anbe-langt.Zweitens: Ich habe in meinen Ausführungen – darauflege ich großen Wert – einen Schwerpunkt auf ein qua-litätsgesichertes Screening-Verfahren gelegt. Mir ist sehrwohl bekannt, worin die Schwierigkeiten an dieser Stelleliegen. Sie haben einen Punkt angesprochen.Aus unserer Sicht ist es unerlässlich, dass wir einflächendeckendes und damit unter Einschluss der nieder-gelassenen Ärzte stattfindendes Screening-Verfahren be-kommen. Deshalb muss ich schon fragen: Was tut denndie Bundesregierung konkret, um die niedergelassenenRadiologen dazu zu ermutigen, sie zu fördern und zu for-dern,
die Qualität in den Screening-Verfahren zu verbessern?Ich muss Sie, da Sie am Schluss Ihrer Ausführungen ge-rade gesagt haben: „Wir sind so weit, dass man es machenkann“, fragen: Warum tun Sie es dann nicht? Es ist jetzt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Detlef Parr12447
die Zeit, Entscheidungen zu treffen, und sie dürfen nichtauf die lange Bank geschoben werden.
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ich denke, diese Debatte zeigt sehrdeutlich, dass wir es bei der frauenspezifischen Ge-sundheitspolitik mit einem wichtigen Thema zu tun ha-ben, das sehr zu Unrecht jahrelang ein Schattendasein ge-führt hat. Dem kontinuierlichen und professionellenEngagement von Frauen aus Politik, Medizin, Wissen-schaft und Gesellschaft ist es überhaupt zu verdanken,dass wir hier und heute darüber sprechen.Im Übrigen haben wir hier ein recht gutes, praktischesBeispiel dafür, dass und wie ein geschlechtsspezifischerZugang eine wichtige und sehr notwendige Bereicherungder fachpolitischen Debatte sein kann. Das ist für mich„gender mainstreaming“ ganz konkret.Die Frau hat das Recht, das für sie erreichbare Höchst-maß an körperlicher und geistiger Gesundheit zu ge-nießen, heißt es in der 1995 in Peking verabschiedetenAktionsplattform zur Vierten Weltfrauenkonferenz. Vonder Verwirklichung dieses Rechts sind wir auch in derBundesrepublik noch recht weit entfernt. Offensichtlichdient der medizintechnische und pharmazeutische Fort-schritt nicht automatisch der Erfüllung spezifischer Be-dürfnisse von Frauen in der Gesundheitsvorsorge. Auf derPeking-plus-Fünf-Nachfolgekonferenz in New York indiesem Jahr wurde denn auch festgestellt, dass besagterFortschritt einen ganzheitlichen Ansatz bei der Gesund-heitsversorgung von Frauen und Mädchen, der den ge-samten Lebenszyklus umfasst, sogar behindert.Es fehlt – das ist auch in dieser Debatte schon deutlichgeworden – an geschlechtsspezifischer Forschung undTechnologie, an benutzerinnenfreundlichen Indikatorensowie an Daten, die nach Alter und Geschlecht aufge-schlüsselt sind. Die bloße Apparate- und Schulmedizinwird den meisten Frauen nicht gerecht. Frauen wollennicht länger Objekt von medizinischer Behandlung, son-dern handelndes und entscheidendes Subjekt eines um-fassenden Präventions-, Diagnose- und Heilungsprozes-ses sein.In beiden heute vorliegenden Anträgen steht eineMenge wichtiger und richtiger Details zur Frauengesund-heitspolitik. Doch was wir brauchen, ist ein tatsächlicherParadigmenwechsel in der Gesundheitspolitik und eineneue medizinische Ethik. Frauen mit ihren Bedürfnissenund ihren eigenen Entscheidungen müssen im Mittel-punkt stehen. Ärztinnen und Ärzte und das gesamtemedizinische Personal sollten sich als Partnerinnen undPartner der Frauen begreifen. Wir brauchen einen verant-wortungsbewussten Umgang mit der Verschreibung vonMedikamenten und wir brauchen andere Abrechnungs-methoden. Die so genannte sprechende und hörendeMedizinmuss Vorrang vor der eingreifenden Medizin ha-ben.Tausende Frauen könnten ihre Gebärmütter noch ha-ben, wenn es in der Gynäkologieausbildung nicht so frau-enfeindliche Regelungen gegeben hätte. Ich erinnere da-ran, dass angehende Frauenärztinnen und Frauenärzte ersteinmal 40 Gebärmütter entfernt haben mussten, bevor sieüberhaupt ihren Facharzttitel bekamen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, „fordern statt dul-den“ – mit diesem Slogan haben im September dieses Jah-res mehrere Hundert Frauen für eine konzertierte Aktiongegen Brustkrebs demonstriert. Ich war dabei und dieEntschlossenheit dieser Frauen hat mich sehr beeindruckt.Sie haben eine ungeheure Kraft, Selbstbewusstsein undWut demonstriert, und das zu Recht: Wut zum Beispielüber den Fall in Essen, bei dem 300 Frauen ihre Brüsteverloren haben, weil ein Arzt die Bilder der Mammogra-phie nicht richtig deuten konnte. 300 Frauen wurden inTodesangst versetzt und trugen schwere körperliche Ver-letzungen davon.Zu Recht fordern die Aktivistinnen der Brustkrebsbe-wegung in der Bundesrepublik die Einführung qualitäts-gesicherter Früherkennungsprogramme nach EU-Richtlinien, wie es sie in den Niederlanden, in Englandund in Schweden gibt. Wir unterstützen diese Forderungausdrücklich. Dazu gehört auch, dass die mit Mammo-graphien befassten Ärztinnen und Ärzte besser ausgebil-det werden, um Interpretationsfehler zu verhindern. Dazugehört, dass Frauen wie in den Niederlanden das Rechthaben, ihre Mammographien von einer zweiten Ärztinbzw. von einem zweiten Arzt begutachten zu lassen. Si-cher ist das erst einmal teurer. Aber gerettete Menschen-leben und ersparte Operationen wiegen das mehrfach auf.Wir sollten darüber diskutieren, ob wir wie in HollandReihenuntersuchungen einführen. Die bereits erwähntenModellversuche an drei Standorten sollten so schnell wiemöglich flächendeckend ausgeweitet werden.Fest steht: Je besser die Ausbildung des ärztlichen Per-sonals, je besser die Betreuung der Frauen und je besserdie technische Ausstattung sind, desto größer ist dieWahrscheinlichkeit, dass Krebserkrankungen früh ent-deckt werden. Natürlich muss die Teilnahme an solchenReihenuntersuchungen immer freiwillig bleiben.Ich schlage vor, dass wir uns möglichst bald zu einerinterfraktionellen Initiative zusammenfinden, um umfas-sende Früherkennungsprogramme zur Brustkrebs-bekämpfung nach EU-Richtlinie einzurichten. Das wäremeines Erachtens – um den Titel Ihres Antrags aufzuneh-men – „konkrete Gesundheitspolitik für Frauen“ und wirkönnten jenseits von Partei- und Fraktionsgrenzen ein zu-kunftsweisendes Signal setzen. Denn zu Recht schreibtdie Women’s Health Coalition, ein Zusammenschluss vonFrauen aus Medizin, Wissenschaft, Gesundheit und Jour-nalismus zur Verbesserung der Gesundheit von Frauen:„Um eine frauenspezifische Forschung, Aus- und Weiter-bildung und Versorgung in Deutschland im Parlamentdurchzusetzen, halten wir eine überparteiliche Initiativefür notwendig.“Bei aller Schärfe der Auseinandersetzung ist heute inder Debatte deutlich geworden, dass es viele fachlicheÜbereinstimmungen gibt. Deshalb denke ich, ist es an der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Annette Widmann-Mauz12448
Zeit, die Bekenntnisebene zu verlassen und im ganzenHaus gemeinsam an einem Strang zu ziehen.Ich danke.
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Anni Brandt-Elsweier.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Weibliche und männliche Lebenszusammenhängeunterscheiden sich deutlich voneinander. Das spiegeltsich nicht zuletzt auch im Erleben und Umgehen mit Ge-sundheit und Krankheit wider. Bis heute finden jedoch ge-schlechtsspezifische Aspekte hinsichtlich der Ursache,Ausprägung und Empfindung von Gesundheit undKrankheit in den medizinisch-naturwissenschaftlichenWissenschaftszweigen nicht die erforderliche Aufmerk-samkeit.Das ist eine Tatsache, die die SPD bereits in der letztenLegislaturperiode erkannt hat. Frau Kollegin Kühn-Mengel hat bereits auf den Entschließungsantrag derSPD-Fraktion von 1998 hingewiesen, der seinerzeit mitden Stimmen der damaligen Regierungskoalition abge-lehnt wurde. Deswegen wundert es mich, dass jetzt einAntrag der CDU/CSU-Fraktion vorliegt. Sie hätten be-reits 1998 die Gelegenheit gehabt, in diesem Bereich tätigzu werden.
Der jetzt vorliegende Antrag hat zwar den Titel „KonkreteGesundheitspolitik für Frauen“. Ihre Ausführungen sindaber zum Beispiel im Bereich der Demenzkranken wenigkonkret.
Die rot-grüne Regierung ist bereits tätig geworden undhat in dieser kurzen Zeit – es sind immerhin nur zweiJahre – schon eine Vielzahl von Vorhaben im Gesund-heitsbereich mit frauenspezifischer Ausrichtung auf denWeg gebracht. Ich möchte an dieser Stelle als Beispiel ei-nige Studien und Projekte nennen, die unter der Feder-führung des Bundesministeriums für Familie, Senioren,Frauen und Jugend laufen.Wichtig ist die „Wissenschaftliche Untersuchung zurgesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschlandunter Berücksichtigung der unterschiedlichen Entwick-lungen in West- und Ostdeutschland“, von der wir unsaufschlussreiche Daten erhoffen. Auch erwähnen möchteich, dass wir eine Förderung von 8 Millionen DM für dieModernisierung und Sanierung des Deutschen Mütter-genesungswerkes sowie für die wissenschaftliche Beglei-tung des Berliner Modellprojektes „Signal“ durchgesetzthaben. Dieses Projekt soll durch Sensibilisierung desmedizinischen Sektors für das Gewaltproblem eine ver-besserte gesundheitliche Versorgung misshandelterFrauen erreichen.
Leider ist es immer noch so, dass sich Studien, Thera-pien und Diagnosen in der Medizin vornehmlich an dermännlichen Lebenssituation orientieren. So wurdenzum Beispiel Frauen lange Zeit von klinischen Tests aus-genommen, da sie aufgrund der Schwankungen ihres Zy-klus als „unsichere Versuchskandidatinnen“ galten, ob-wohl es gerade diesbezüglich sinnvoll gewesen wäre,wissenschaftlich zu klären, ob Medikamente bei Frauenwegen des unterschiedlichen Hormonhaushaltes bei glei-cher Dosis ebenso wie bei Männern wirken.
Bei der Diagnose und Therapie von kranken Frauenwerden die Lebensumstände häufig zu wenig beachtet.Ungünstige soziale Lebensbedingungen – das ist bereitserwähnt worden –, Mehrfachbelastungen durch Familie,Beruf, Haushalt und Pflege von pflegebedürftigen An-gehörigen werden als Einflussfaktoren in Bezug auf dieGesundheit der Frau vernachlässigt. Durch diese Ver-säumnisse ist es zu erklären, dass es bei Frauen inDeutschland trotz hoch spezialisierter Medizin zu ver-gleichsweise schlechten Behandlungsergebnissen kommt.Ein Beispiel hierfür ist die Häufigkeit koronarer Herz-krankheiten, die bei Frauen oft unterschätzt werden.Es gibt zurzeit noch keine gesicherten Erkenntnisse da-rüber, weshalb Frauen deutlich geringer vom Herzinfarkt,hingegen aber deutlich höher vom Schlaganfall betroffensind. Andererseits sterben doppelt so viele Frauen wieMänner schon am ersten Herzinfarkt. Ein möglicherGrund ist, dass Frauen, bedingt durch mangelndes Pro-blembewusstsein und Fehldiagnosen, eine sachgerechtemedizinische Betreuung zu spät erfahren. Herzuntersu-chungen erfolgen in der Regel bei Frauen später als beiMännern: eine der Ursachen für die höhere weiblicheSterblichkeitsrate bei koronaren Herzerkrankungen.Aus diesem Grunde unterstützen wir die zurzeitlaufenden frauenspezifischen Studien des Bundesministe-riums für Bildung und Forschung zur Herzinfarktrehabi-litation und auch die Förderung des HerzinfarktregistersAugsburg, aus dessen Daten interessante frauenspezifischeErgebnisse abgeleitet werden können.Ein weiteres Themenfeld ist bereits mehrfach erwähntworden, nämlich die Verbesserung der Früherkennung imBereich der Krebsvorsorge. Mit jährlich rund 45 000Neuerkrankungen ist Brustkrebs die häufigste Krebs-erkrankung bei Frauen; die Tendenz ist steigend. Lautoffizieller Schätzung würden bei besserer Früherkennungdie Heilungschancen um 30 bis 40 Prozent höher liegen.Die weltweit anerkannte Methode zur Früherkennungist die Mammographie, die allerdings – das ist auch gesagtworden – qualitätsgesichert sein muss.
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Petra Bläss12449
In Schweden gibt es seit über 20 Jahren ein systemati-sches Früherkennungsprogramm, das so genannte Mam-mographie-Screening – das ist bereits erwähnt worden,am Beispiel der Niederlande –; dort ist es ebenfalls ge-lungen, die Todesrate um circa 30 Prozent zu reduzieren.Zu erwähnen sind noch drei Modellprojekte im Be-reich Mammographie-Screening, die zurzeit in Wiesba-den, im Rheingau-Taunus-Kreis sowie in Bremen undNiedersachsen laufen. Im Juli dieses Jahres hat die Auf-bauphase dieses gemeinsamen Projektes der Kassenärzt-lichen Vereinigungen und der Krankenkassen begonnen.Ab Januar 2001 werden alle Frauen zwischen 50 und69 Jahren mit Wohnsitz in der Modellregion die Möglich-keit einer kostenlosen Mammographie-Untersuchung er-halten. Ich hoffe, diese Studie hat den gewünschten Erfolgund wir können darauf aufbauen; die notwendigen Vo-raussetzungen bei den Radiologen müssen aber vorliegen.Genauso wichtig ist es in diesem Zusammenhang, dieLänder zu unterstützen, die Fälle von Brustkrebs in deneingerichteten Krebsregistern vollständig zu erfassen. Ichhoffe und wünsche mir, dass damit alle Länder beginnen– auch Bayern.
Wir befinden uns also auf dem richtigen Weg. Der vor-liegende Antrag soll den weiteren Handlungsbedarfaufzeigen. Lehre und Forschung müssen die nötigen wis-senschaftlichen Grundlagen schaffen, um die Berücksich-tigung frauenrelevanter Belange im Gesundheitssystemdurchsetzen zu können. Dieses Bewertungskriteriummuss zukünftig bei allen Fördervorhaben im Gesund-heitsbereich eingeführt werden.Genauso wichtig ist es, eine kontinuierliche Bericht-erstattung über die gesundheitliche Situation von Frauenvorzunehmen sowie die Prävention und den Gesundheits-schutz zu stärken.Ich hoffe, wir werden das entsprechende Anliegen imInteresse der Frauen gemeinsam unterstützen können.
Nun spricht zu uns die
Kollegin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Parlamen-tarische Staatssekretärin, im Zusammenhang mit dem,was Sie und Frau Brandt-Elsweier vorhin zum Mammo-graphie-Screening ausgeführt haben, würde mich einmalinteressieren, ob vielleicht auch schon einige Dinge imBereich der Osteoporose auf dem Weg sind; denn dieserBereich ist mindestens genauso wichtig und ebenfallsfrauenspezifisch. Vielleicht könnten Sie das gleich etwasnäher ausführen.Zum Herrn Parr muss ich sagen: Männer, die aus derRolle fallen, hatten wir in der letzten Woche eine ganzeMenge.
Ich nenne nur einmal das Wort „basta“. Deswegen meineich: Es gibt keinen Nachholbedarf.
Frau Kühn-Mengel, ich möchte auch an Sie eine Bitterichten und hoffe, dass ich es nicht umsonst tue. Ichglaube, es ist ein grundsätzliches Problem, dass wir vielzu viel in die Diagnose investieren und viel zu wenig indie Therapie. Von den Forschungsausgaben werden im-mer wieder große Summen für den Bereich der Diagnoseverschiedenster Art aufgewandt, aber viel zu wenig fürden Bereich der Therapie. Das wird eine große Rolle spie-len, wenn wir gleich über frauenspezifische Ansätze spre-chen.Ich gebe die Hoffnung ja nicht auf – das wissen einige,die mich schon länger kennen –, dass es einzelne Berei-che gibt, in denen es einfach notwendig ist, dass alle amselben Strick ziehen und in dieselbe Richtung gehen.Ganz sicher ist dieses ein solcher Bereich.Ich habe gestern im Internet nachgeschaut und festge-stellt: Wenn man dort die Stichworte „Frauen und Ge-sundheit“ abfragt, erhält man Informationen zu Sportein-richtungen, Fitnessstudios, Details zu Schlankheitskurenund Wellness-Angebote; alles Angebote, die Frauen at-traktiv oder fit machen oder fit halten sollen.
– Doch, Herr Parr, das ist so. Es entspricht dem alten vonMännern öfters geäußerten Spruch: Gott erhalte mirmeine Gesundheit und die Arbeitskraft meiner Frau.
Aber nun ganz ernsthaft: Die gesundheitliche Sorgeum Frauen kann nicht auf diesen Aspekt reduziert werden.Es ist unbestritten, dass Frauen ein anderes Verhältnis zuihrem Körper haben, ihn anders wahrnehmen als Männer.Allein daraus ergibt sich die Notwendigkeit, geschlech-terspezifische Ansätze in der Gesundheitspolitik zu ent-wickeln. Darauf haben mehrere der Vorrednerinnen be-reits hingewiesen. Ich bin fest davon überzeugt, dass einwesentliches Ergebnis der Diskussion – und zwar der Dis-kussion beider Anträge – eine Bewusstseinsschärfungsein muss. Es muss das Bewusstsein dafür geschärft wer-den, dass es einen enormen Nachholbedarf an gesund-heitspolitischen Maßnahmen konkret für Frauen gibt.Deshalb sollte man sich mit beiden Anträgen auseinandersetzen, denn – ich muss das ausdrücklich sagen – Ihr An-trag allein hilft nicht weiter.
Ich begrüße ihn zwar, muss aber ganz ehrlich sagen– um Sie nicht zu sehr zu loben –, dass er sich liest, als seier zusammengestückelt. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, woich Verständnisschwierigkeiten habe und an der Umsetz-barkeit des Antrages zweifle:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Anni Brandt-Elsweier12450
Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ...die Karriereverläufe und Situationen von Frauen inMedizin- und Gesundheitsforschung sowie die Be-rücksichtigung der Ansätze und Ergebnisse derFrauen- und Genderforschung in Lehre, Ausbildung,Forschung und Pflegewissenschaft umfassend zu un-tersuchen und Maßnahmen zu ergreifen, die geeignetsind, Benachteiligungen abzubauen und frauenspezi-fische Krankheitsursachen und -verläufe stärker indie Ausbildung einzubeziehen ...Frau Nickels, herzlichen Glückwunsch, ich frage michnur, wann Sie das alles machen wollen, denn so viel Zeithaben Sie in der Regierung nicht mehr.
Ich möchte nur einmal darauf aufmerksam machen. AberSpaß beiseite: Von der Wiege bis zur Bahre alles auf denPrüfstand stellen zu wollen ist kaum leistbar und kaumumsetzbar. Insofern ist Ihr Antrag an manchen Stellennicht nur positiv zu sehen.Eine Grundvoraussetzung – auch das, Frau Kühn-Mengel, muss ich hier loswerden – für ein qualifiziertes,hochwertiges Gesundheitssystem, das Frauen und Män-nern nutzt, ist zweifellos, dass gute Ansätze und Ideenauch wirklich umgesetzt werden können.
Das setzt voraus – da können Sie reden, wie Sie wollen –,dass die Budgetierung fällt.
Lassen Sie uns nicht wie die Blinden von der Farbe reden:Wenn die Budgetierung fiele, würden Sie es den Ärztenwieder erlauben.
– Frau Schmidt-Zadel, Sie können krakeelen, wie Siewollen, an den Fakten kommen Sie nicht vorbei! –, denPatienten das zukommen zu lassen, was sie für dringendnotwendig halten.
Das ist im Augenblick nicht der Fall. Frau Schmidt-Zadel,das steht doch nicht nur in CDU-freundlichen Zeitungen;das steht überall. Wir haben schon öfter darüber gespro-chen: Auch wir haben den Fehler schon einmal gemacht –nur haben wir daraus gelernt. Sie wollten die Erfahrungselbst machen – aber lernen nicht daraus und ziehen da-raus auch keine Konsequenzen.
Darüber hinaus gibt es in Ihrem Antrag auch Wider-sprüche zwischen Forderungen und Ihrem tatsächlichenHandeln. In Ihrem Antrag steht, dass Knochenerkran-kungen stärker als bisher erforscht und behandelt werdensollen. Dazu gehört natürlich auch die Osteoporose. DieEntkalkung von Knochen ist ein normaler Vorgang undsicher – so alt wie Sie und ich sind, Frau Schmidt-Zadel,auch bei uns schon fortgeschritten. Bei der Osteoporoseaber handelt es sich um eine Beschleunigung dieses Pro-zesses. Deswegen wäre es richtig und wichtig, recht früh-zeitig, das heißt zwischen dem 45. und dem 50. Lebens-jahr, diese Knochendichtemessung zu machen, um dannsagen zu können, ob ein Eingreifen erforderlich ist.
– Doch, es ist einfach so.Wenn man dann eingreift, verhindert man, dass dieKnochen brechen. Auf diese Weise macht sich letztlicheine Knochendichtemessung bezahlbar. Es kann dochnicht stimmen: Jetzt muss ich mir erst die Knochen bre-chen, damit die Kasse dann eine Knochendichtemessungbezahlt.
Das hat der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassenso beschlossen. Ich muss in Richtung des Bundesgesund-heitsministeriums sagen: Meiner Meinung nach wäre daseiner der wenigen Punkte gewesen, bei dem die Bun-desgesundheitsministerin von ihrem Vetorecht hätte Ge-brauch machen müssen. Denn diese Regelung ist einfachnicht in Ordnung und verstößt ganz massiv gegen die Inte-ressen der Betroffenen, hauptsächlich von Frauen.
Wir alle wissen: Über 6 Millionen Menschen sind anOsteoporose erkrankt; das sind mehr, als es in Deutsch-land Diabetiker gibt. Experten sprechen bereits von einerstummen Epidemie. 4,8 Millionen Frauen und 1,6 Mil-lionen Männer sind betroffen. Von dieser Krankheit sindalso besonders Frauen, aber nicht nur Frauen betroffen.Zudem wird nur bei der Hälfte aller Betroffenen dasKrankheitsbild der Osteoporose überhaupt erkannt, ob-wohl es, wie ich eben gesagt habe, durch eine Knochen-dichtemessung möglich wäre, die Krankheit frühzeitig zuerkennen. Nur 20 Prozent der Betroffenen werden ent-sprechend dem neuesten Stand der Wissenschaft behan-delt, und das, obwohl die Krankheit, wenn sie nicht adä-quat behandelt wird, fortschreitet.Ich möchte auch darauf hinweisen: Es geht hier umMenschen und nicht um ein statistisches Abhaken. Wennich mir Frauen, die unter Osteoporose im fortgeschritte-nen Stadium leiden, anschaue und weiß, dass denen mitden heutigen wissenschaftlichen und medikamentösenMöglichkeiten hätte geholfen werden können, wenn dieKrankheit rechtzeitig erkannt worden wäre, und dass diesnicht geschieht, weil die Krankenkasse sich weigert, dieentsprechende Untersuchung zu bezahlen, dann halte ichdas für einen Skandal,
der nach meiner Meinung dazu führen müsste, dass wiruns alle gemeinsam auf die Forderung, die Knochendich-temessung als verbindliche Untersuchung für den Be-reich, den ich expressis verbis erwähnt habe, einzuführen,verständigen sollten.
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Die WHO hat die Osteoporose als eine der zehn be-deutendsten Erkrankungen weltweit eingestuft. Das Jahr2001 – man darf es eigentlich gar nicht laut sagen – ist vonder WHO zum „Jahr der Osteoporose“ erklärt worden. Ichweiß nicht, was noch alles passieren muss, damit endlicherkannt wird, dass es sich hier um eine Krankheit handelt,die eine der zukünftigen bzw. schon existierendenGeißeln der Menschheit, insbesondere der Frauen, seinwird bzw. ist. Deswegen nutzt es gar nichts, sich hinter ir-gendwelchen parteiprogrammatischen Forderungen wieder nach mehr Selbstverwaltung zu verstecken. Hier istdringender Handlungsbedarf geboten. Deshalb fordernwir, endlich zu handeln.
Ich möchte noch zwei Probleme ansprechen, die miram Herzen liegen und die in den beiden vorliegenden An-trägen nicht ausdrücklich erwähnt werden. Ich bin derMeinung, dass die Gesundheitserziehung in der Schule– damit meine ich nicht nur die gesundheitliche Auf-klärung – viel früher beginnen sollte, als das heute der Fallist. Wir wissen, dass das eine sinnvolle Sache ist. Mansieht am Beispiel der Kariesprophylaxe, dass gesundheit-liche Aufklärung durchaus Erfolg haben kann.Wir alle wissen, dass sich ein Großteil der Frauen lie-ber von Frauen und dass sich Männer lieber von Männernuntersuchen und beraten lassen. Das ist eine bekannte Tat-sache. Wir haben schon öfter in anderen Zusammenhän-gen darüber gesprochen – das liegt mir schon lange amHerzen –, ob es nicht überlegenswert wäre, eine ArtMädchengynäkologie einzuführen. Ich halte zwar, wiealle wissen, sehr viel von der Stärkung der Stellung derHausärztin und des Hausarztes. Aber ich bin der Meinung,dass diesbezüglich Mädchen einer bestimmten Alters-gruppe bei der Hausärztin bzw. beim Hausarzt nicht so gutaufgehoben sind – das sollten wir inhaltlich einmal ver-tiefen – wie bei einer speziellen Fachärztin für Mädchen-gynäkologie.Letzte Bemerkung: Wir sollten bei allen Auseinander-setzungen, die sicherlich auch richtig und notwendig sind– dafür gab es eben einige Beispiele; weitere werden nochfolgen –, unsere Gemeinsamkeiten, die es in einzelnenBereichen gibt, auch nach außen deutlich machen. Des-wegen hoffe ich, dass im Ausschuss über beide Anträgeerfolgreich beraten wird.Vielen Dank.
Als Letzte in dieserDebatte spricht die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,Bündnis 90/Die Grünen.
Kollegen! Um die Situation der Frauen im Gesundheits-wesen zu beschreiben, möchte ich gerne einen Chefarztzitieren, der in einem Bewerbungsgespräch gegenübereiner Ärztin Folgendes äußerte:Sie haben nur eine Chance, diese Stelle zu bekom-men, wenn Sie Ihren Uterus im Einmachglas auf denTisch stellen.Diese Einstellung ist leider kein Einzelfall. So wundert esauch nicht, dass in leitenden Funktionen des Gesundheits-wesens gerade einmal 1,2 Prozent Frauen vertreten sind.Eine Frau zu sein zählt noch immer zu den Hindernissenim Gesundheitswesen. Das gilt sowohl für die Karriere-verläufe der Beschäftigten als auch für die Patientinnen.
– Ich finde das überhaupt nicht lustig, liebe Kolleginnenund Kollegen von der CDU/CSU.
Männer entscheiden über frauenspezifische Belange imGesundheitswesen. Darunter verstehen viele nur die Be-reiche „gynäkologische Krankheiten“ oder „Schwanger-schaft und Geburt“. Dies ist viel zu begrenzt.Die medizinische Forschung berücksichtigt ge-schlechtsspezifische Unterschiede nicht ausreichend. Sieist auf einem Auge blind. Dabei ist wissenschaftlich unbe-stritten, dass Krankheiten von Frauen und Männern unter-schiedliche Krankheitsbilder und -ursachen haben. Heutegibt es zwar gewisse Erkenntnisse über geschlechtsspezi-fische Unterschiede bei einzelnen Krankheiten, wie beiKrebserkrankungen, Herz- und Kreislauferkrankungenoder auch Depressionen. Der medizinische Fortschrittkommt Frauen allerdings weniger zugute als Männern, weilsich die Forschung an Männern, ihren Lebenssituationenund ihrem Gesundheitsempfinden orientiert.Deutlich wird das bei Herzerkrankungen. In weitenTeilen der Gesellschaft, aber auch der Ärzteschaft, giltdiese Erkrankung als typische Männerkrankheit; meistwird sie sogar als Managerkrankheit benannt. Dabei ist esfür Frauen die zweithäufigste Todesursache. Statistikenbelegen, dass mehr Frauen als Männer unter 50 den ers-ten Herzinfarkt nicht überleben. Es besteht der Verdacht,dass sie an dieser Krankheit leichter sterben, weil die ent-sprechenden Symptome eher in die Kategorie „Hysterie“gepackt werden. Der Grund für die höhere Mortalitätsratefür Frauen liegt oftmals in einer ärztlichen Fehlwahrneh-mung und in der darauf folgenden Fehldiagnose. Für dieFrau, die den Herzinfarkt erlitten hat, kommt die Hilfedann womöglich zu spät; denn – Sie wissen das – mancheBehandlungsmethoden, wie die Erstbehandlung, machendann keinen Sinn mehr.Außerdem wählen Ärzte für Frauen andere Therapienals für Männer. Bei dem gleichen Krankheitsbild werdenFrauen beispielsweise doppelt so häufig Beruhigungsmit-tel verordnet. Sie erhalten dementsprechend auch sehrviel häufiger eine psychiatrische Diagnose. Psychophar-maka werden verabreicht; Medikamentenabhängigkeit istnicht selten die Folge.Ich komme nun zu einem Thema, das in Fachkreisenseit Jahren diskutiert wird, ohne dass, zumindest inDeutschland, Erfolge für die Betroffenen zu verzeichnenwären. Ich rede vom Brustkrebs, der häufigsten Todes-ursache bei Frauen zwischen dem 35. und dem 64. Le-
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bensjahr. Jährlich sterben inzwischen 18 000 Frauen inDeutschland an dieser Krankheit. Circa 46 000 Frauen er-kranken pro Jahr daran. Das ist jede zehnte Frau. Vorzwanzig Jahren war es „nur“ jede 18. Frau. Diese Tendenzist in Deutschland leider steigend. Das müssen wir, liebeKolleginnen und Kollegen, stoppen.
Bei uns werden 80 Prozent der Erkrankungen durchSelbstuntersuchung festgestellt. Dabei ist der Tumormeist schon in einem fortgeschrittenen Stadium, dasheißt, der Knoten ist meist 1 oder 2 Zentimeter groß undhäufig nicht mehr heilbar.In den meisten Fällen wird erst danach eine Mammo-graphie vorgenommen. Die Qualität dieser Untersuchunghängt, wie wir schon vorhin häufiger gehört haben, ganzvon der Arztpraxis ab: Mal ist sie besser, meistens ist sieschlechter. Die so genannten grauen Mammographien ha-ben eine Fehlerquote von bis zu 80 Prozent. Für dieFrauen ist das eine Katastrophe. Sie werden unnötig inAngst und Schrecken versetzt und vielfach unnötig ope-riert. Das Gleiche gilt für Gebärmuttererkrankungen.Neuere Studien zeigen eine alarmierende Entwicklung.Demnach werden neun von zehn Gebärmutterentfernun-gen wegen gutartiger Erkrankung vorgenommen. FrauKollegin, da mangelt es nicht am Budget. Da werden Ope-rationen einfach vorgenommen.
Bei dem Umgang mit Brustkrebs werden immer wie-der die Niederlande als positives Vorbild genannt. FrauKollegin Brandt-Elsweier ist schon darauf eingegangen:Die Sterberate wurde dort durch ein qualitätsgesichertesScreening um ein Drittel gesenkt. Würde man das aufDeutschland übertragen, könnte in Deutschland jährlichdas Leben von 5 400 Frauen gerettet werden. Das mussunser aller Ziel sein.
Das hat auch die Anti-Brustkrebs-Initiative gefordert,deren Vorsitzende ich hier heute begrüßen kann. Ich freuemich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,dass auch Sie die Frauengesundheit entdeckt haben; zumalIhr damaliger Gesundheitsminister Seehofer viele Leis-tungen zurückgeschraubt hat, die besonders Frauen be-troffen haben. Ich stimme mit Ihnen überein: Wir braucheneine flächendeckende, eine qualitätsgesicherte Früher-kennung, Diagnostik und Therapie. Leider können wirdas nicht sofort umsetzen, da wir die Ergebnisse der dreiModellversuche abwarten müssen. So ist das halt mit derSelbstverwaltung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, frauenspezifischeGesundheitsversorgung war bis vor kurzem ein vernach-lässigtes Thema. Die rot-grüne Koalition wird dafür sor-gen, dass sie nicht länger ein Schattendasein fristen wird.Ich habe von der Staatssekretärin im Gesundheitsministe-rium gerade gehört, dass sie dem Informationsbedürfnisder CDU-Kolleginnen sehr gerne nachkommen will undMaterial zur Verfügung stellen möchte über Mammogra-phie-Screening und auch über Osteoporose.
Unsere Gesellschaft darf es sich nicht länger leisten,dass Frauen medizinisch schlechter versorgt werden alsMänner. 1997 haben 16 Prozent der deutschen Frauen aufeine entsprechende Frage geantwortet, dass ihre Ge-sundheitsprobleme ungenügende Aufmerksamkeit fän-den. Ich finde, das sollte für uns ein Ansporn sein, mehrfür die Frauengesundheit zu tun. Lassen Sie uns diese bei-den Anträge in diesem Sinne im Ausschuss behandeln!Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3858 und 14/4381 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne-
ten Claudia Nolte, Birgit Schnieber-Jastram,
Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Reform des Behindertenrechts
– Drucksachen 14/2290, 14/3681 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Claudia Nolte für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehrgeehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Vorbereitung zurheutigen Debatte ist mir ehrlich gesagt nicht ganz leichtgefallen. Das hat vor allen Dingen mit der Art und Weiseder Beantwortung der Großen Anfrage meiner Fraktion zutun; denn alles in allem ist diese Antwort ziemlich unprä-zise und zum Teil nichts sagend. Es macht eine Debatteimmer wahnsinnig schwierig, wenn man über „nichts“ re-den muss.
Für mich ist die Antwort enttäuschend, wobei schwerauszumachen ist, ob das an den Ländern liegt, weil sie zuwenige Zahlen geliefert haben, oder aber am Bundesar-beitsministerium, das zurzeit so mit anderen Themen
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Irmingard Schewe-Gerigk12453
beschäftigt ist, dass man dort keine Zeit und vielleichtauch nicht so viel Ehrgeiz zur Beantwortung dieser Fragehatte.
– Der Vertreter des Bundesministeriums kommt bereits.Das ist schon in Ordnung.
Es ist festzuhalten, dass – mangels Masse – entwederkeine Angaben gemacht wurden oder eben die Antwortenwenig informativ sind. Man kann der Bundesregierung inden Fällen, in denen einfach zu viel Zeit über die Dingevergangen ist, keinen Vorwurf machen. Das ist besondersim Bereich des Arbeitsmarkts der Fall. Da hat die Novelledes Schwerbehindertengesetzes die Antworten auf vieleunserer Fragen ersetzt bzw. die Fragen erübrigt; dadurchist das nicht mehr sonderlich aktuell. Das gilt aber nichtfür alle Fragen.Um meine Kritik einmal an einem Beispiel festzuma-chen, gebe ich eine Kostprobe aus der Antwort auf dieFrage 4, in der wir ganz präzise nach den Qualifikations-merkmalen fragen, die für integrative Kinderbetreuungin Regelkindergärten und integrativen Unterricht in allge-mein bildenden Schulen gelten sollen, und in der wir da-nach fragen, wie dies in den einzelnen Ländern durchge-führt werden soll; da geht es um die Größe der Gruppenund Klassen und um die Zahlenverhältnisse zwischen be-hinderten und nicht behinderten Kindern. In der Antwortwird zuerst die Gesamtzahl der Plätze nach Ländern auf-geschlüsselt. Dann heißt es:Die Größe der Gruppen schwankt zwischen der re-gulären Gruppengröße in manchen Fällen der Einzel-integration, also bis zu etwa 25 Kindern, und etwa15 Kindern in Integrationsgruppen mit mehreren be-hinderten Kindern. Das Zahlenverhältnis zwischenbehinderten und nicht behinderten Kindern in ge-meinsam besuchten Gruppen ist ebenfalls von derArt der Integration abhängig. Bei Einzelintegrationbeträgt es bis zu 1 zu 24, in Integrationsgruppen da-gegen häufig 1 zu 2.Das heißt, dazwischen sind alle Zahlenverhältnisse denk-bar. Man weiß nicht, was „häufig“ heißt. Was ist eigent-lich der Regelfall in den Ländern? Wie ist die Situationvor Ort zu charakterisieren? Ich kann anhand dieser Ant-wort nicht bewerten, wie und mit welcher Qualität die In-tegration in den Ländern durchgeführt wird und in wel-chem Betreuungsverhältnis die Kinder betreut bzw.geschult werden. Man kann aus der Antwort vielleicht ei-nen Trend ablesen: In den neuen Bundesländern besuchenanscheinend mehr behinderte Kinder integrative Re-gelkindergärten als in den alten Bundesländern. So wirdder Anteil der integrativ betreuten behinderten Kinder inden neuen Bundesländern auf 62 Prozent und für dasfrühere Bundesgebiet auf 36 Prozent beziffert. Ich mussschon sagen, dass dies – wenn die Zahlen stimmen – al-lerdings ein positives Zeichen wäre; denn es wäre ein Zei-chen dafür, dass die Umstrukturierung des Betreuungs-systems in den neuen Bundesländern im Hinblick auf dieFrühförderung und vor allen Dingen im Hinblick auf dieIntegration von behinderten Kindern erfolgreich war.Man hat also die Umstrukturierung genutzt, bewusst Inte-grationsmöglichkeiten in den neuen Bundesländern zuetablieren. Das heißt, wir in den neuen Ländern sind einenSchritt weiter. Das hat, wie ich denke, in großem Maßemit dem Engagement der dortigen Erzieherinnen zu tun,die hier einen neuen Schwerpunkt setzen. Ich finde, dafürverdienen diese Erzieherinnen Anerkennung und Dank.
Bei dem Besuch von Regelschulen scheint das anderszu sein. In diesem Punkt wird überhaupt nicht auf dieneuen Bundesländer eingegangen, wobei die Antwort of-fen lässt, ob es daran liegt, dass die neuen Bundesländerkein Zahlenmaterial geliefert haben, dort aber sehr wohlintegrative Beschulung in Regelschulen existiert, oderdaran, dass es in diesem Bereich überhaupt keine Ent-wicklung gibt. Ich finde es arg bedenklich, dass hier kaumAufklärung stattfindet und der Informationsgehalt äußerstgering ist, weil gerade dieser Aspekt für mich in derBehindertenpolitik unendlich wichtig ist. Wenn wir wirk-lich Integration wollen, müssen wir nämlich dafür Sorgetragen, dass so früh wie möglich ein normaler Kontaktzwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern undjungen Erwachsenen gepflegt und eingeübt wird, damitdas spätere Zusammensein, Zusammenleben und Zusam-menarbeiten eine Selbstverständlichkeit wird. Wer Inte-gration will, muss früh damit anfangen.Kinder haben ja auch einen viel unkomplizierteren Zu-gang zu allem, was mit Behinderungen zusammenhängt.Sie müssen nur auch eine Chance bekommen, diesen Um-gang zu pflegen. Deshalb lege ich auf diesen Aspekt sehrviel Wert. Es wäre schön gewesen, wenn die Datenbasishier valider ausgefallen wäre, sodass es möglich gewesenwäre, die Entwicklungen auf diesem Gebiet zu beobachten.
Meine Damen und Herren, ich möchte einen anderenPunkt nennen, bei dem die Antworten ebenfalls sehr un-befriedigend ausfallen. Das betrifft den gesamten Bereichder Sozial- und Eingliederungshilfe und die Frage desRegresses. Aus Ihrer Darstellung, dass dazu keine Anga-ben gemacht werden können, ergeben sich für mich zweiFragen: Zum einen frage ich mich, warum es Länder gibt,die relativ detaillierte Angaben machen können – bei-spielsweise kennen wir Zahlen aus Bayern und Hoch-rechnungen für die Bundesrepublik Deutschland –, zumanderen frage ich mich, auf welcher Datenbasis man ei-gentlich Gesetze erarbeiten will.Viele Praktiker vor Ort sagen ganz klar, dass der Re-gress bei der Eingliederungshilfe eigentlich kaum eineRolle spielt, weil alle wissen, wie man ihn umgehen kann.Das heißt also, dass sich mögliche Mehraufwendungenbei einem Verzicht auf den Regress in überschaubarenGrenzen halten und keine große Rolle spielen dürften.Das kann man aber scheinbar nicht untermauern.
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Claudia Nolte12454
Ich frage mich wirklich, wie man in den Verhand-lungen mit den kommunalen Spitzenverbänden, mit denSozial- und Finanzministern der Länder und mit demeigenen Finanzminister in der Bundesregierung argumen-tieren will, um zum Beispiel bessere Leistungen bei derEingliederungshilfe und der Rehabilitation oder andereStrukturen für Behinderte zu erreichen, wenn man keinevalide Zahlenbasis hat. Ich will nun nicht einer Zunahmeder Bürokratie das Wort reden und glaube der Bundesre-gierung, wenn sie sagt, dass die Sozialhilfestatistik dieseDinge nicht erfasst und dass sie nicht aufgenommen wer-den. Trotzdem, denke ich, ist es an der Zeit, hier die Da-tenbasis zu verbessern, sodass man auf dieser Grundlageauch Entscheidungen fällen und ordentliche Aussagenmachen kann.
– Die Richtigkeit dieser Aussage, Herr Kollege, hängt jawohl nicht von der Stärke des Beifalls ab.Wir haben in der nächsten Zeit ein wichtiges Gesetzes-vorhaben zu beraten. Das ist jedenfalls meine Hoffnung.Es wurde angekündigt, dass hier demnächst die erste Le-sung zum Sozialgesetzbuch IX stattfinden wird. Aberauch dafür – viele Antworten auf unsere Große Anfrageverweisen auf das zu schaffende SGB IX – braucht manDaten. Deshalb besteht auch der Wunsch bzw. die Forde-rung, hier entsprechend nachzuarbeiten und valide Zahlenzu besorgen.
Meine Kollegen werden noch vertieft auf die Themen„Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt“und „Eingliederungshilfe“ zu sprechen kommen. Fürmich bleibt eigentlich nur festzuhalten, dass ich größereErwartungen an die Beantwortung unserer Fragen ge-knüpft hatte und dass das, was wir hier vorliegen haben,eine sehr schwache Datenbasis darstellt. Davon ausge-hend können kaum politische Entscheidungen gefälltwerden.Vielen Dank.
Ich erteile nun dasWort dem Beauftragten der Bundesregierung für die Be-lange der Behinderten, dem Kollegen Karl-HermannHaack.
Karl-Hermann Haack,Beauftragter der Bundesregie-rung für die Belange der Behinderten: Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte michzunächst recht herzlich beim Bundesarbeitsministeriumfür die ausführliche Beantwortung der Großen Anfragebedanken. Zugleich nehme ich die Kritik von Frau Nolteauf und bestätige, dass es tatsächlich sehr schwierig ist,valide Zahlen zu bekommen. Wir haben uns aber dafürentschieden, im Rahmen der Neuordnung des gesamtenBehindertenrechts eine Berichtspflicht einzuführen. Da-rüber, wie das organisiert werden kann, wird mit dem Sta-tistischen Bundesamt und verschiedenen anderen Ein-richtungen zu reden sein.Wir haben heute Gelegenheit, meine sehr geehrten Da-men und Herren, auf der Grundlage der Beantwortung derGroßen Anfrage auch darüber zu debattieren, wie sich dieBundesregierung die Lebensentwürfe für Menschenmit Behinderungen vorstellt. Wir begrüßen also die par-lamentarische Anfrage der CDU/CSU-Fraktion sowie dieAntwort der Bundesregierung und wollen die Gelegenheitnutzen, etwas tiefer in die Materie einzusteigen. In diesemZusammenhang möchte ich deutlich machen, wie ich dienotwendigen nächsten Reformschritte im Einzelnen sehe.Für diese Reformschritte haben wir eine gemeinsameGrundlage, nämlich die Entschließung vom 19. Mai die-ses Jahres, in der wir uns einmütig auf eine bestimmteStruktur der Reform des gesamten Behindertenrechts fest-gelegt und festgeschrieben haben, wie wir den Menschenmit Behinderungen Lebensperspektiven eröffnen wollen.Die Anfrage der CDU/CSU-Fraktion besteht aus vierBlöcken: erstens „Entwicklungsangebote für Kinder undJugendliche mit Behinderungen“, zweitens „Chancen fürMenschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Ar-beitsmarkt“, drittens „Eingliederungshilfe und Nachrangder Sozialhilfe“ und viertens „Menschen mit Behinderun-gen und ihre Stellung in der Gesellschaft“. Im letztenBlock ist auch die Frage eines Gleichstellungsgesetzestangiert. Die Bundesregierung hat ausführlich geantwor-tet, ich beschränke mich an dieser Stelle auf drei Perspek-tiven der Behindertenpolitik.Erstens erkennen wir den hohen Standard an, den dieMittel und Einrichtungen der Behindertenhilfe inDeutschland insgesamt erreicht haben. Dies ist nicht einVerdienst der Bundesregierung, die seit dem 28. Septem-ber 1998 im Amt ist; das betone ich ausdrücklich. Es isteine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern undGemeinden, von den Wohlfahrtsverbänden und Kirchen,die in den letzten 50 Jahren Enormes an Aufbauarbeit ge-leistet haben.
– Das war 16 Jahre lang die alte Regierung, die allerdingsauch einiges abgebaut hat. Das zu sagen wollte ich Ihnenheute eigentlich ersparen.
Zweitens wird deutlich, dass dennoch die Notwendig-keit besteht, neue Ansätze einzuflechten und Verbesse-rungen mit den und für die betroffenen Menschen zu ge-stalten, da sich in den letzten Jahren in der Betrachtungder Lebensperspektiven von Menschen mit Behinderun-gen ein Paradigmenwechsel angekündigt hat, der demGrundsatz gerecht zu werden versucht, vom Fürsorge-prinzip weg und hin zu einer Form selbstbestimmten Le-bens zu kommen, soweit dies in Rahmen eines Wunsch-und Wahlrechtes sinnvoll und möglich ist.
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Claudia Nolte12455
Drittens können wir heute erläutern, in welcher Formdie Bundesregierung die notwendigen Reformen des Be-hindertenrechtes vorantreibt.Ich möchte mich vor allem dem zweiten und dem drit-ten Punkt widmen.Was ist mit neuen Ansätzen in der Behindertenpolitikgemeint? Menschen mit Behinderungen definieren sichselbst nicht mehr als Empfänger von sozialen Leistungen.Das heißt, auch sozialpolitische Gesetzgebung findet vordem Hintergrund der Forderung statt, die Gleichstellungvon Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen. AlleMaßnahmen fokussieren sich in Zukunft also auf diesesgesellschaftspolitische Ziel. So heißt es dann auch in § 1des Referentenentwurfs zum Sozialgesetzbuch IX, Zieldieses Gesetzes sei es, „ihre Selbstbestimmung undgleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaftzu fördern“.Die Forderung nach Teilhabe und Selbstbestimmungheißt für uns aber auch, dass wir uns von der Vorstellungverabschieden müssen, wir machten Gesetze für behin-derte Menschen. Nein, wir brauchen den fortwährendenDialog mit den Betroffenen, den Austausch über ihre Er-fahrungen und die Einbeziehung ihrer Kenntnisse in dasGesetzgebungsverfahren. Dies ist eine wesentliche Vo-raussetzung für eine erfolgreiche Reform des Behinder-tenrechtes.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir habendamit in vielfältiger Weise begonnen: Mit In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosig-keit Schwerbehinderter hat die Bundesregierung einenKurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik für behin-derte Menschen eingeleitet, der uns von einer Verwal-tung des Mangels in eine Politik der aktiven Eingliede-rung und Integration geführt hat. Eine grundlegendeVoraussetzung für dieses Gesetz war, dass die Vertreterder Betroffenen, so der Deutsche Behindertenrat, aberauch die Gewerkschaften und die Arbeitgeber, gemein-sam die Kompromisslösungen entwickelt und getragenhaben, die als Teil des Gesetzes am 1. Oktober dieses Jah-res in Kraft getreten sind. Auf der Ebene des Bündnissesfür Arbeit ist hier der Erfolg gesucht und auch erreichtworden.In diesen Tagen wird der Referentenentwurf für einNeuntes Buch des Sozialgesetzbuches diskutiert. Auchhier haben wir aus zahlreichen Gesprächen Gewinn gezo-gen, die wir mit Behindertenorganisationen, aber auch mitbehinderten Menschen geführt haben. Wir haben nichtausschließlich mit Vertretern der Verbandsebene geredet,sondern insbesondere mit den Praktikern des selbstbe-stimmten Lebens mit Behinderung, die beispielsweise anWerkstattgesprächen der Koalitionsarbeitsgruppe „Behin-dertenpolitik“ zum Sozialgesetzbuch IX teilgenommenhaben. Der Referentenentwurf füllt das aus, was Struktur-vorgabe des gemeinsamen Antrages vom 19. Mai diesesJahres gewesen ist.Das Sozialgesetzbuch IX wird auch durch die Veran-kerung von Beteiligungsrechten dafür sorgen, dass an ent-scheidenden Stellen, an denen es um die inhaltliche Ge-staltung der Leistungen zur Teilhabe geht – etwa in derBeratung und in der Sicherung der Qualität –, die Kom-petenz der Behindertenorganisationen und der Selbsthil-fegruppen eingebunden wird.Auch durch den Kongress „Gleichstellungsgesetzejetzt“, an dem auf Einladung des Deutschen Behinder-tenrates und meiner Person etwa 700 Personen teilge-nommen haben, konnte es gelingen, sich auf Wege zur Er-arbeitung eines Entwurfes eines Gleichstellungsgesetzeszu verständigen. Auch in diesem Punkt sind wir wiederauf die Kenntnisse und die Kompetenz der selbst betrof-fenen Menschen angewiesen. Die wesentliche inhaltlicheGrundlage des Kongresses war der Gesetzentwurf des Fo-rums behinderter Juristinnen und Juristen. Als Experten ineigener Sache haben sie ein Dokument zu einem Gleich-stellungsgesetz erarbeitet, das auf diesem Kongress vonvielen Seiten große fachliche Anerkennung gefunden hat.
Die durchweg positive Resonanz der Teilnehmer desKongresses und die offensichtliche Bereitschaft von Ver-tretern der Behindertenorganisationen und der Wirt-schaftsverbände, die dort vertreten waren, miteinanderzielorientiert zu diskutieren, Gemeinsamkeiten zu findenund nicht Trennendes zu betonen stellen wesentliche in-haltliche Grundlagen für die weiteren Schritte zur Umset-zung des Benachteiligungsverbotes des Grundgesetzesdar.
An dieser Stelle will ich bemerken, dass Vertreter allerBundestagsfraktionen teilgenommen haben und sich andiesem Prozess beteiligt haben: Frau Nolte von der Frak-tion der CDU/CSU, Herr Beck von der Fraktion der Grü-nen, Frau Schwaetzer von der Fraktion der F.D.P., HerrSeifert von der Fraktion der PDS und Frau Silvia Schmidtvon der Fraktion der SPD. Ihnen gebührt der Dank, dasssie sich als Sprecher ihrer Fraktionen bereit erklärt haben,an dieser Diskussion teilzunehmen. Darüber hinaus warenVertreter der Wirtschaft, der Verbände und anderer Orga-nisationen anwesend. Es wird erwartet, dass Follow-up-Konferenzen mit der Maßgabe stattfinden, Eckdaten fürein Gleichstellungsgesetz zu entwickeln.Wir werden unter meiner Führung in den nächstenWochen und Monaten die Ergebnisse des Kongresses aus-werten. Mir liegt persönlich sehr viel daran, dabei wie-derum die Kompetenz behinderter Menschen als Betrof-fene von Barrieren und Diskriminierungen und auch alsjuristische Experten einzubeziehen. Das Forum behin-derter Juristinnen und Juristen hat sich angesichts derErgebnisse des Gleichstellungskongresses daran ge-macht, seinen eigenen Entwurf zu überarbeiten, kritischeEinwände der Länder, des Deutschen Städte- und Ge-meindebundes und der Wirtschaft zu berücksichtigen, umeine weitere Plattform zu konstruieren, damit nächsteSchritte in Angriff genommen werden können. Das heißt,
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Karl-Hermann Haack12456
mit diesem Kongress sind die Gesprächsfäden weiter ge-sponnen worden. Die Gespräche sind nicht abgeschlossenworden.
Ich nenne drei strategisch wichtige Punkte, die wir inden nächsten Monaten abarbeiten müssen.Erstens geht es um den Begriff „Barrierefreiheit“.Die 16 Landesbauordnungen in der BundesrepublikDeutschland zum Beispiel definieren die Begriffe„Barrierefreiheit“ und „Zugänglichkeit“ unterschiedlich.Der Punkt ist: Wir müssen uns auf Bundesebene mit denLändern, den Verbänden und den Organisationen auf ei-nen inhaltlich juristisch tragenden Begriff von Barriere-freiheit verständigen. Dieser Begriff muss politisch tragenund in der konkreten Alltagsgestaltung umsetzbar seinund er muss offen sein für Kompromisse.Zweitens müssen wir im Zusammenhang mit demGleichstellungsgesetz über eine plausible Stichtagsrege-lung reden, wenn sich die Alltagssituation von Menschenmit Behinderungen tatsächlich verändern soll. Die De-batte mit der Wirtschaft wird sehr schwierig werden, aberdie Wirtschaft hat zugesagt, sich an dieser Debatte zu be-teiligen und sich ihr nicht zu verschließen.Drittens gehört zu einer mündigen Gesellschaft, dassein Gleichstellungsgesetz bei der Durchsetzung seinerZiele weniger auf Sanktionen setzt, sondern mehr darauf,dass sowohl Betroffene als auch diejenigen, die über dieabstrakte und konkrete Infrastruktur im Alltag verfügen,in unterschiedlichen Gebieten aufeinander zugehen undZielvereinbarungen treffen mit der Maßgabe, die Situa-tion in konkreten Bereichen zu verändern.
– Bei Nichteinhaltung, Herr Seifert, gibt es dann dieStichtagsregelung. Aber ich bin der Meinung: In einerBürgergesellschaft, die sich im Prinzip der Aufklärungverpflichtet, gehört es sich, zunächst einmal in einen ge-meinsamen Dialog einzutreten. Sie sagen zu Recht, eswerde seit Jahren geredet; aber jetzt packen wir es wirk-lich an. Wenn deutlich wird, dass ein solcher Dialog in be-stimmten Bereichen unfruchtbar ist, soll die Stichtagsre-gelung greifen mit der Maßgabe – wie das im elterlichenErziehungsrecht heißt –: Wer nicht hören will, mussfühlen.
– Nein, ich bin da anderer Meinung und wer mich kennt,weiß, dass ich das ernst meine. – Sie können sich daraufverlassen, dass das entsprechend in der Regelung stehenwird.Das am 1. Oktober in Kraft getretene Gesetz zur Be-kämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderterhabe ich bereits erwähnt. Wir werden vor dem Hinter-grund der allgemeinen Verbesserungen auf dem Arbeits-markt, die die Bundesregierung erreicht hat, auch dasehrgeizige Ziel schaffen, 50 000 schwerbehinderte Men-schen in Arbeit und Beruf einzugliedern.Dies wird oft bezweifelt. Aber ich darf darauf hinwei-sen, dass wir alle, egal in welchem politischen Lager wirstehen, uns in unseren Wahlkreisen durch Dialog, Auf-klärung und Gespräche an Kampagnen beteiligt haben,die dazu dienen, dass Ausbildungsplätze bereitgestelltwerden. Diese Kampagnen waren jedes Jahr erfolgreich.So glauben wir, dass eine solche Kampagne auch auf demGebiet der Arbeitsbeschaffung für Menschen mit Behin-derungen Erfolg haben wird, wenn wir als Abgeordnetebereit sind, uns in unseren Wahlkreisen vor Ort entspre-chend zu engagieren.
Zu dem zweiten großen Reformvorhaben der Bundes-regierung, dem SGB IX, ist in diesen Tagen der Referen-tenentwurf vorgelegt worden. Wir werden also bald Gele-genheit haben, uns in diesem Haus darüber auseinander zusetzen. Dieser Entwurf steht im Zusammenhang mit derEntschließung des Deutschen Bundestages vom 19. Maidieses Jahres. In dem entsprechenden Protokoll könnenSie das nachlesen, was Sie damals gemeinsam gewünschthaben.Im Sozialgesetzbuch IX geht es um den sozialpoliti-schen Pfeiler unseres behindertenpolitischen Gesamtkon-zeptes. Aus dem eingangs von mir dargestellten Zusam-menhang von selbstbestimmter Integration und Teilhabewird klar, dass das Sozialgesetzbuch IX der sozialpoliti-sche Instrumentenkasten sein muss, um Teilhabe tatsäch-lich zu ermöglichen.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bun-
desregierung für die Belange der Behinderten: Nein, ich
habe nur noch 52 Sekunden.
Das wird doch nicht
angerechnet!
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesre-
gierung für die Belange der Behinderten: Ach ja, dann
darf er.
Herr Kollege, bitte
schön, Ihre Zwischenfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin,dass Sie Herrn Haack aufgeklärt haben.Herr Haack, Sie sprachen davon, dass das SGB IX der„sozialpolitische Instrumentenkasten“ für die Teilhabesi-cherung sein soll, und beriefen sich auf unsere gemein-same Entschließung. Sagen Sie bitte: Warum ordnen Siedas Bürgerrecht auf Anerkennung der deutschen Gebär-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Karl-Hermann Haack12457
densprache in das Sozialgesetzbuch ein? Dafür gibt esmeines Erachtens keinen Grund. Das ist ein Bürgerrecht.Sie können es in einem eigenen Gesetz regeln, das auszwei Sätzen besteht: Hiermit erkennt der Deutsche Bun-destag die Gebärdensprache an. Die Kosten für das Dol-metschen müssen übernommen werden.Das hat nichts mit dem Sozialgesetzbuch zu tun.Warum regeln Sie das auf die von Ihnen vorgeseheneWeise und nicht wie ein Bürgerrecht? Denn Sie sagten ge-rade, Menschen mit Behinderungen empfänden sich nichtmehr als Leistungsempfänger, sondern als mündige Bür-ger, die entsprechende Leistungen in Anspruch nehmenkönnen.Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundes-regierung für die Belange der Behinderten: Ich möchteSie gerne aufklären: In einem Gleichstellungsgesetz wirdder Satz stehen: Die Gebärdensprache wird der Laut-sprache gleichgestellt. – Der Satz, den Sie zitiert haben,wird deswegen im SGB IX stehen, weil wir die rechtlicheGrundlage schaffen müssen, Leistungen, wie die Bereit-stellung von Gebärdendolmetschern, zum Beispiel in be-stimmten Alltagssituationen oder am Arbeitsplatz, so-zialpolitisch zu ermöglichen. Wir wollen diese Stringenzherstellen. Das ist der Grund, warum das dort stehen soll.Dieses Problem wird also in beiden Gesetzen, im SGB IXund in einem entsprechenden Gleichstellungsgesetz,geregelt. Insofern ist das dann in Ordnung.
Das Sozialgesetzbuch IX wird also, wie schon festge-stellt, der sozialpolitische Instrumentenkasten sein, um inunserer Gesellschaft eine Gleichstellung zu ermöglichen.Das ist eine erneuerte und bürgernahe Sozialpolitik. Wirlösen uns dadurch von dem reinen Fürsorgegedanken undschaffen in Bezug auf entsprechende Leistungen statt ei-ner Versorgungsstruktur eine Angebotsstruktur, mit derZielsetzung, sich in den Prozess der Emanzipation und dergesellschaftlichen Teilhabe in unserer Gesellschaft einzu-bringen. Das ist das Ziel des Sozialgesetzbuches IX.Drei wichtige Komplexe will ich herausgreifen: Dererste Punkt ist, dass die Träger der Sozial- und Jugend-hilfe integriert werden sollen. Sie wissen, dass wir achtSysteme kompatibel machen müssen und den Ver-schiebebahnhof, der angesichts dieser acht verschiedenenSysteme existiert, beenden müssen. Dies soll durch Koor-dination und Kooperation der Leistungsträger im Bereichder medizinischen, beruflichen und sozialen Integrationgeschehen.Der zweite Punkt ist, dass wir auf Landkreisebene Ser-vicestellen, also Auskunfts- und Beratungsstellen, ein-richten werden. Das ist etwas Neues. Wir wollen denGrundsatz einführen: Die Dienstleistung folgt dem Men-schen und nicht der Mensch der Dienstleistung.
Bisher ist es so, dass alle diejenigen, die Leistungen inForm von Teilhabe in der Gesellschaft in Anspruch neh-men wollen, acht Versicherungssysteme abklappern müs-sen, um zu erfahren, woher sie die entsprechende Leis-tung bekommen. Das wird vereinfacht, indem wir aufLandkreisebene die acht bestehenden sozialen Siche-rungssysteme in Auskunfts- und Beratungsstellen zusam-menfassen. Heute Morgen habe ich den Vertretern desHauptpersonalrates der BfA gesagt: Damit werden keineneuen Bürokratien aufgebaut. Vielmehr können solcheAuskunfts- und Beratungsstellen von der Selbstverwal-tung im Wege der Zusammenführung bestehender perso-neller Kapazitäten eingerichtet werden.Der dritte Punkt ist: Die Mitwirkungs- und Beteili-gungsrechte der Betroffenen werden sichergestellt. Dasheißt, auch da lösen wir ein, was den Organisationen ver-sprochen worden ist.Ich lade Sie ein, auf der Grundlage des gemeinsam am19. Mai dieses Jahres verabschiedeten Antrages den indiesem Zusammenhang vorliegenden Gesetzentwurf ei-ner kritischen Prüfung zu unterziehen. Der Beratungspro-zess wird weiterhin offen gestaltet werden. Wir freuen unsschon darauf, mit Ihnen über das SGB IX zu diskutieren.Herzlichen Dank.
Es ist in der Tat so,
dass gemäß der Geschäftsordnung die Antwort auf eine
Zwischenfrage nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
Ich will damit aber niemanden ermuntern, pausenlos
Zwischenfragen zu stellen. Ich selbst habe, als ich noch
aktiver war, dieses Instrument sehr häufig genutzt. Denn
man kann in einer solchen Zwischenfrage sehr viel unter-
bringen; aber bitte nicht heute Abend.
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Heinrich Kolb,
F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es hat mich verwundert, dassKollege Haack, der doch eine gewisse Erfahrung hat, andieser Stelle ermuntert werden musste, eine Zwischen-frage zuzulassen. Aber ich finde es gut, dass er demgefolgt ist. Auch ich bin bereit, Zwischenfragen zuzu-lassen – das sage ich schon einmal vorab –, und dies nichtnur deswegen, weil ich eine Redezeit von nur siebenMinuten habe.
Kollegin Nolte hat zu Recht darauf hingewiesen, dassdie heutige Debatte nicht einfach ist, wenn man die Ta-gesordnung wörtlich nimmt. Denn es geht um die Bera-tung der Antwort der Bundesregierung auf die Große An-frage der CDU/CSU zur Reform des Behindertenrechts.Die Antwort der Bundesregierung umfasst zwar 41 Seitenbedrucktes Papier; aber deren Inhalt gibt für diese Debattenicht sehr viel her.
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Dr. Ilja Seifert12458
Eine Sache ist mir dann aber doch aufgefallen.
Dazu gibt es, Herr Haack, konkrete Zahlen. Denn in Vor-bereitung des Entwurfes eines Gesetzes zur Verbesserungder Beschäftigung Schwerbehinderter wurde ein wenigRecherche betrieben. Es geht um die Beschäftigung vonSchwerbehinderten auf dem ersten Arbeitsmarkt. Sie be-richten uns, dass die Zahl der behinderten Beschäftigenbei den beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern, alsodenen, die mehr als 16 Beschäftigte haben, seit 1980sinkt. Das waren 1980 noch 879 000, 1989 nur noch739 000 und 1998 schließlich nur noch 666 000, wovon586 000 im Westen arbeiten. Allerdings – das ist auch in-teressant – ist ebenfalls die Arbeitslosenquote der Schwer-behinderten im gleichen Zeitraum zurückgegangen, näm-lich von 7,6 im Jahr 1980 auf nunmehr 5,7.Im gleichen Zeitraum ist die Ausgleichsabgabe ge-stiegen. Bei der Debatte im Rahmen des Gesetzes zur Ver-besserung der Beschäftigung Schwerbehinderter habenwir darüber ja diskutiert. Das heißt, dass sich die Unter-nehmen offensichtlich eher freikaufen, als einen Schwer-behinderten einstellen. Herr Haack, das ist die eine Seite,die vielleicht nicht ganz überraschend ist.Was ich mit Interesse zur Kenntnis genommen habe, istdie andere Seite, dass in den Ausführungen der Bundesre-gierung nämlich steht, dass der BeschäftigungsanteilSchwerbehinderter bei den nicht beschäftigungspflichti-gen Unternehmen im gleichen Zeitraum von 63 000 auf109 000 angestiegen ist, sich also nahezu verdoppelt hat.
Das muss man sich doch einmal – ich habe das getan –auf der Zunge zergehen lassen und man muss sich fragen,weshalb die Entwicklung, also auf der einen Seite Rück-gang, wo Beschäftigung Pflicht ist, auf der anderen SeiteBeschäftigungsausbau, wo es keine Beschäftigungs-pflicht gibt, so ist, also praktisch die Freiwilligkeit zumTragen kommt. Bedauerlicherweise sind die Zuwächsebei den beschäftigungspflichtigen Unternehmen nichtnach Größenklassen aufgeschlüsselt worden. Ich könntemir vorstellen, dass die Zuwächse gerade in den Berei-chen stattfinden, in denen es den besonderen Kündi-gungsschutz für Schwerbehinderte nicht gibt.Hier sollten wir – dazu lade ich wirklich ein – noch ein-mal offen miteinander nachdenken. In dem Gesetz zur Be-schäftigung Schwerbehinderter haben Sie die Regelungfür Betriebe mit bis zu 50 Beschäftigten bewusst lockergelassen. Es gibt auch ganz kleine Unternehmen, in denender besondere Kündigungsschutz nicht gilt. Wir solltenüberlegen, was wir in dem Zwischenbereich, also denkleinen bis mittleren Unternehmen, tun können, um auchsie mehr als bisher, möglichst auf der Basis der Freiwil-ligkeit, in die Beschäftigung von Schwerbehinderten ein-zubeziehen.
Herr Haack, Sie haben ja selbst den Vorwurf der In-haltslosigkeit, den auch ich mir zu Eigen mache, dadurchunterstrichen, dass Sie in die Zukunft geschaut und ge-fragt haben: Was wollen wir da jetzt machen?Ich muss dazu eine Bemerkung machen. Sie haben ge-sagt, das müsse man alles an dem gemeinsamen Beschlussmessen, den am 19. Mai dieses Jahres alle Fraktionen die-ses Hauses gefasst haben. Dieser Beschluss ist wichtig.Wir stehen dazu. Ich freue mich, dass er so zustande ge-kommen ist. Er stellt so etwas wie einen gemeinsamenNenner der behindertenpolitischen Auffassungen in die-sem Haus dar. Aber Sie müssen schon zulassen, dass wirSie nicht nur daran messen, Herr Haack, sondern natürlichauch an dem, was Sie vor der letzten Bundestagswahl undauch kurz danach gesagt haben.
Da fällt mir auf, dass es an der einen oder anderenStelle Wunden gibt, in die wir natürlich nicht zögern wer-den den Finger zu legen und an ihnen vielleicht auch nochein bisschen zu rühren.Ich will einige Aspekte nennen. Mir fällt dazu dieFrage der Nachrangigkeit der Sozialhilfe ein. Von IhrerSeite gab es dazu immer wieder sehr vollmundige Aussa-gen,
dass das eigentlich ein Urübel der Versorgung behinderterMenschen in unserem Land sei. Dazu ist – zumindest ge-messen an dem, was wir bisher kennen – in Ihrem Ge-setzentwurf nichts enthalten. Nun kann man sagen: Nagut, er ist jetzt in der Evolution vom Diskussionsentwurfüber mehrere Vorreferentenentwürfe immerhin zum nichtabgestimmten Referentenwurf mutiert;
da passiert vielleicht noch etwas, bis das Ganze im Ge-setzgebungsverfahren in erster Lesung hier landet. – Ichmuss dazu sagen: Die Nachrangigkeit der Sozialhilfe isteine zentrale Forderung, an der wir Sie messen werden.
Es ist sicherlich wichtig und richtig, dass jetzt Bera-tungsstellen geschaffen werden und ein Behinderter nichtmehr von Pontius zu Pilatus laufen muss, um am Schlusszu wissen, in welcher Höhe und vor allen Dingen gegenwen er einen Anspruch hat. Wir müssen – weil das meinesErachtens mit Art. 3 Abs. 3 auf Dauer nicht vereinbarist – den unwürdigen Zustand der Nachrangigkeit der So-zialhilfe beenden, weil er insbesondere in den Bereichen,in denen behinderte Menschen den Schutz und die Be-treuung einer Werkstatt für Behinderte suchen, zu unwür-digen Zuständen führt.
Jetzt wäre übrigens der richtige Zeitpunkt, mir eineZwischenfrage zu stellen. Meine Redezeit läuft nämlichab.
Die würde ich jetztnicht mehr zulassen, Herr Kollege.
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Dr. Heinrich L. Kolb12459
Wir sind in der Situa-
tion, dass erstmals nach dem Kriege in Deutschland eine
Generation behinderter Menschen in die Lage kommt,
Vermögen zu erben. Ich werde nicht müde, zu sagen – das
muss infolge Zeitablaufs mein letzter Punkt sein –: Eine
Neuregelung muss es auch leisten, dass behinderte Kinder
nicht mehr gegenüber ihren nicht behinderten Geschwis-
tern benachteiligt werden
und dass auf irgendwelche Stiftungskonstruktionen
zurückgegriffen wird. Es muss vielmehr möglich sein
– auch das verstehe ich unter gleichberechtigter Teil-
habe –, dass diese Menschen einen neuen Status bekom-
men und eben nicht mehr mit der Sozialhilfe abgefunden
werden und vor allen Dingen nicht mehr ihr Vermögen
einbringen müssen.
Ich hätte gern noch mehr zu anderen Fragen gesagt, die
in Ihrem Entwurf offen sind, aber Sie haben uns ja Hoff-
nungen gemacht, dass der abgestimmte Referentenent-
wurf jetzt bald vorliegen und die erste Lesung stattfinden
wird. Dann werde ich gern Gelegenheit nehmen, die wei-
teren Punkte vorzutragen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kol-legin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Nolte, dass Ihnen die Vorbereitung auf diese Debatteschwer gefallen ist, mag ja auch daran liegen, dass Sie dieBewegung, die in die Behindertenpolitik gekommen ist,anerkennen,
dass wir eine ganze Reihe von sehr, sehr positiven Maß-nahmen schon ergriffen haben und auch noch ergreifenwerden.Auf einen Punkt, den Sie hier angesprochen haben,würde ich gern eingehen, weil er mich mindestens ge-nauso aufregt wie Sie: Das ist die Integration von behin-derten Kindern gerade in Regelschulen. Ich bitte Sie ein-fach, einen Blick in das von uns beiden geliebte Thüringenzu werfen, weil gerade dort die Integration von behin-derten Kindern an Regelschulen das wohl Hinterwäld-lerischste ist, was wir in Deutschland haben. Dazu kannich nur sagen: Hier regiert die Union allein, hier könnteman Integration verwirklichen. Schon bei Einzelfällen,deren ich mich angenommen habe, war es katastrophalschwierig, nur an der einen oder anderen Stelle dafür zusorgen, dass es solche Integration tatsächlich gibt. Hier istnicht der Ruf nach mehr Zahlen, sondern eindeutig dasEngagement im eigenen Bundesland der richtige Ansatz-punkt.
Trotzdem freut es mich, dass wir aufgrund dieser An-frage hier diskutieren können.Ich möchte keine weitere Rückschau auf das, waswährend der Zeit der alten Bundesregierung passierteoder auch nicht passierte, halten, sondern mich auf das,was wir in der ersten Halbzeit dieser Legislaturperiodegeschafft haben, und auf das, was wir uns noch vorge-nommen haben, konzentrieren. Über einiges davon isthier schon diskutiert und berichtet worden.Neben den Verbesserungen, die wir bereits in der Ge-sundheitsreform für Menschen mit Handicap durch-setzen konnten – ich erinnere besonders an die Stärkungder Selbsthilfe, die ja eine ganz zentrale Frage für Men-schen mit Behinderung ist –, haben wir im Sommer dasGesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwer-behinderter verabschiedet. Wir können dazu heute natür-lich noch keine Bilanz ziehen, denn es ist erst vor ein paarTagen in Kraft getreten. Dennoch sind wir der Meinung,dass die spezifische Arbeitslosigkeit von Menschen mitBehinderung in unserem Land immer noch viel zu hochist. Sie zu senken, darauf zielen die entsprechenden Maß-nahmen in unserem Gesetz, das zusammen mit Arbeitge-bern, Arbeitnehmern, Gewerkschaften und Behinderten-verbänden verabredet worden ist.Wir wollen in den nächsten zwei Jahren50 000 Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap zusätz-lich schaffen. Die Bundesregierung beabsichtigt, die Mit-tel aus der Ausgleichsabgabe zukünftig vorrangig für dieIntegration von Behinderten am allgemeinen, also am ers-ten Arbeitsmarkt einzusetzen. Dazu gehört die Förderungund der Auf- und Ausbau von Integrationsfachdiensten,dazu zählen Arbeitsmarktprogramme für besondere Grup-pen von Schwerbehinderten, die Ausbildung von Jugend-lichen und die berufliche Förderung und Integration vonschwerbehinderten Frauen.Ich glaube, die Tatsache, dass wir am ersten Arbeits-markt den deutlichen Schwerpunkt setzen, zeigt in derTat, dass wir es hier mit einem Paradigmenwechsel zu tunhaben. Gerade wir Grüne haben immer eingefordert, dassMenschen mit Handicap – im Übrigen für jeden von unsselbstverständlich – das Recht auf Selbstbestimmung undgleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaftzugestanden wird. Auch dafür stehen die bisherigen ge-setzlichen Initiativen.
Deswegen freut es mich besonders, dass wir im novel-lierten Schwerbehindertengesetz endlich den Rechtsan-spruch auf Arbeitsassistenz festschreiben konnten. Dieentsprechenden Verordnungen werden erstellt und damiterhoffen wir uns ganz wesentliche Verbesserungen für dieBetroffenen. Statt wie vormals viel zu schnell in Sonder-einrichtungen gefördert und „aufbewahrt“ zu werden, be-kommt nun jede und jeder, die das möchten, individuellepersönliche Hilfe. Das bedeutet: Keine Aussonderungmehr von Menschen mit Behinderungen.Dazu zählen auch die Integrationsfachdienste, die seitJahren eine gute Arbeit vor Ort leisten und eine wichtige
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Lücke in der Vermittlung von schwerbehinderten Men-schen gefüllt haben.
Und dazu zählen die Integrations- und Teilzeitfirmen, dielängst ihren Platz insbesondere im Dienstleistungsbereichgefunden haben.Die neue Politikausrichtung findet sich auch im ge-planten Sozialgesetzbuch IX – Rehabilitation und Teil-habe von Menschen mit Behinderungen. Nach zahlrei-chen Beratungen mit den Behindertenorganisationen, denVertretern der Länder und der Sozialleistungsträger hatdas federführende Ministerium einen Referentenentwurfvorgelegt. Wir werden darüber in den nächsten Wochen zudiskutieren haben. Lassen Sie mich jedoch bereits auf ei-nige Punkte eingehen, die uns in diesem Zusammenhangbesonders wichtig sind.Grundsätzlich geht es darum: Rehabilitation soll frühund umfassend geleistet werden. Dazu bedarf es einerraschen Abklärung des Rehabilitationsbedarfs; HerrDr. Kolb hat es angesprochen. Hierzu werden Service-stellen eingerichtet, die nicht nur beraten sollen, sonderndie den Rehabilitationsbedarf feststellen und den Rehabi-litationsträger ausfindig machen sollen, die den Men-schen während des gesamten Zeitraums der Antragstel-lung zur Seite stehen und die Hilfe zwischen Trägern undBeteiligten koordinieren, die von der Antragstellung biszum endgültigen Bescheid Unterstützung leisten und da-rauf drängen, dass eine rasche Bearbeitung der jeweiligenAnträge erfolgt. Wir können uns natürlich vorstellen, dasssolche Servicestellen einen noch viel weiter gefasstenAuftrag erhalten, denken aber, dass dies ein erster wichti-ger Schritt ist.
Außerdem geht es natürlich darum, den Fokus auf am-bulante Maßnahmen zu richten. Dazu gehört die Ermög-lichung – und auch das ist ein wirklich großer Schritt nachvielen Jahren Behindertenbewegung – eines persönli-chen Budgets, mit dem sich die Betroffenen ihre Hilfeselbst organisieren können, mit dem sie endlich mehrWahlmöglichkeiten bekommen.
– Nicht à la Rheinland-Pfalz; da sind wir uns einig, HerrSeifert. Trotzdem ist, glaube ich, das persönliche Budgetein riesiger Schritt, den wir auch gemeinsam gehen soll-ten.Eine seit vielen Jahren erhobene Forderung setzen wirnun um: Die Sozialhilfe und die Jugendhilfe werden inden Kreis der Rehabilitationsträger aufgenommen. Wasuns wichtig ist: Die Verbände und die Selbsthilfegruppen,einschließlich der Interessenvertretungen behinderterFrauen, bekommen explizit festgeschriebene Beteili-gungsrechte, und zwar nicht nur beim Erstellen und beider Diskussion der Gesetzentwürfe, wie wir das in derVergangenheit gehandhabt haben, sondern sie werden ander Erarbeitung der Vereinbarungen mit dem Rehaträger,an der Bereitstellung der erforderlichen Rehabilitations-einrichtung und -dienste, an der Vorbereitung der Verein-barungen eines gemeinsamen Qualitätssicherungssys-tems der Rehaträger, an den gemeinsamen Servicestellenund an der Beratung sowie der Erörterung des Berichtsder Rehaträger über die mit den gemeinsamen Service-stellen gemachten Erfahrungen beteiligt
– ein sehr umfassendes Beteiligungsrecht. Ich glaube,dass das auch eine neue Qualität in die Bearbeitung bringt,eine neue Qualität vor allem auch im Sinne von Selbstbe-stimmung.Dienstleistungen und Einrichtungen sollen Menschenmit Handicap einen möglichst weiten Raum für eine ei-genverantwortliche und selbstbestimmte Gestaltung desLebens belassen bzw. ermöglichen. Wir stärken dasWunsch- und Wahlrecht.Lassen Sie mich auch noch ein Wort zur Gebärden-sprache sagen, Herr Dr. Kolb, dazu, weshalb die Gebär-densprache – Herr Haack hat es schon erwähnt – bereitsim SGB IX eine Rolle spielt.
Das eine ist natürlich, dass wir die Maßnahmen desSGB IX, die vermutlich vor den Bestimmungen des Anti-diskriminierungsgesetzes in Kraft treten werden, daraufabstimmen wollten, dass hörbehinderte Menschen dieseMaßnahmen auch tatsächlich in Anspruch nehmen kön-nen und die entsprechenden Hilfen bekommen, und dafürSorge tragen wollten, dass die entsprechenden Kriterienentwickelt werden. Zugleich ist es – da stimmen wir voll-kommen überein – notwendig, das im Antidiskriminie-rungsgesetz zu machen. Ich gebe zu, dass die Reihenfolgeungewöhnlich ist. Aber ich glaube, es geht im Wesentli-chen darum, dass diejenigen, die davon betroffen sind, dastatsächlich in Anspruch nehmen können.
Das Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsge-setz – ich habe es gerade erwähnt – wird das dritte großeVorhaben sein.Der Gleichstellungskongress ist hier bereits erwähntworden.Wir können feststellen, dass Gleichstellung für Men-schen mit Handicap inzwischen auf einen breiten gesell-schaftlichen Konsens bis hinein in die Wirtschaft stößt.Deshalb werden wir konsequent dafür eintreten, dass dasVersprechen der Koalition, ein Antidiskriminierungsge-setz für Menschen mit Behinderungen in dieser Legisla-turperiode auf den Tisch zu legen, eingehalten wird.
Wir haben als Fraktion ein Eckpunktepapier aufGrundlage des Gesetzentwurfes der behinderten Juristin-nen und Juristen verabschiedet und werden es schon in dernächsten Woche in die Arbeitsgruppe der Koalition zudiesem Thema einbringen. Wir setzen uns dabei für diebarrierefreie Gestaltung neuer öffentlicher Verkehrsmittel
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Katrin Göring-Eckardt12461
und Gebäude ein. Wir setzen uns dabei für eine bürger-rechtsorientierte Definition von Behinderung ein. Wir set-zen uns für wirksame Durchsetzungsinstrumente wie einVerbandsklagerecht ein – auch hier ein Wechsel im Para-digma. Wir setzen uns für die Verbesserung der Gleich-stellung behinderter Frauen und für den Abbau von Bar-rieren im Bereich der Kommunikation – wir haben geradedarüber gesprochen – für hör- und sehgeschädigte Men-schen ein.Auch dabei geht es um die Einbeziehung der Betrof-fenen. Der Kongress war dafür, wie ich denke, ein wirk-lich guter Beginn. Ich hoffe, dass der Wechsel in der He-rangehensweise an solche Methoden nicht daran scheitert,dass wir uns parteipolitisch auseinander dividieren. Viel-mehr sollten wir das in der Tat gemeinsam diskutieren.„Behindert ist man nicht, behindert wird man“, wie derSlogan der Aktion Grundgesetz richtig sagt. Dem gilt esweiter entgegenzutreten. Ich glaube, dass wir mit dem,was wir getan haben, und mit dem, was wir in dieser Le-gislaturperiode noch vorhaben, an dieser Stelle wirklichauf dem richtigen Weg sind, und zwar nicht mit kleinenTrippelschritten, sondern mit großen Schritten. Es gilt,weiter Barrieren und Behinderungen durch die Gesell-schaft abzubauen. Ich wünsche uns, dass wir das gemein-sam in aller Konsequenz tun können.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die PDS-
Fraktion hat der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren aufden Tribünen! Die erste Hälfte der Legislaturperiode kannman als Zeit der Ankündigungen verbuchen. Die zweiteHälfte der ersten Hälfte war die Zeit der Vorentwürfe,Rohentwürfe, Vorrohentwürfe und Rohvorentwürfe. Ichwill darauf hinweisen: Inflation entwertet. Wenn man ir-gendetwas zu oft ankündigt, zu oft vorlegt, immer wiederverändert und meistens eher verschlimmbessert, wird esimmer wertloser.
Jetzt sollen wir in die Phase der Taten eintreten, wennich Herrn Haack richtig verstanden habe. Ich bin gerne be-reit, diese Debatte dazu zu nutzen, darüber zu reden. Denndie Antwort auf die Große Anfrage ist wirklich der Redenicht wert.
Die Große Anfrage – das will ich gern konzedieren, meinelieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU – istschon okay. Aber die Antwort ist nicht der Rede wert.
Nun aber zur Sache. Jetzt geht es also in die Phase desUmsetzens. Wir haben das Schwerbehindertengesetz no-velliert. Wir wollen einmal abwarten, welche Wirkungenes entfaltet. Fakt ist, dass dort zwar ein Rechtsanspruchauf Arbeitsassistenz formuliert wurde, aber nicht drinsteht, was Arbeitsassistenz ist. Wenn ich jetzt von denHauptfürsorgestellen, den Integrationsfachdiensten undsonstigen Leuten, die damit beschäftigt sind, erfahre, dasses darauf hinausläuft, dass sich Assistenten einen Behin-derten „halten“ und damit eine Beschäftigung für sich ha-ben, dann kann das nicht der Zweck des Schwerbehinder-tengesetzes sein.Wir sollten in dieser Woche Ihr neu vorgelegtes Er-werbsminderungsrentengesetz verabschieden. Es ist dochsymptomatisch, dass es nicht daran gescheitert ist, dassdie dort festgelegten Leistungen schlecht sind und Men-schen mit Behinderungen daran hindert zu arbeiten,sondern daran, dass der Verschiebebahnhof zwischen ge-setzlicher Rentenversicherung und gesetzlicher Kran-kenversicherung aufgeflogen ist. Wenn es weiterhin im-mer nur auf das Monetäre hinausläuft und nicht dieTeilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben derGemeinschaft im Mittelpunkt steht – das Projekt scheitert,wenn dieser Teilhabeaspekt zu gering oder gar nicht vor-handen ist –, dann sehe ich nicht den Paradigmenwechsel,von dem Sie hier immer reden. Es nützt nichts, davon zu re-den. Sie müssen handeln. Hier bin ich wieder bei meinemeinleitenden Satz, dass Inflation entwertet. Reden Sie nichtso häufig von einer Sache, sondern tun Sie lieber etwas!Erlauben Sie mir noch einmal darauf hinzuweisen:Wenn wir Gleichstellung erreichen wollen, dann reicht es,liebe Frau Kollegin Göring-Eckardt, nicht aus, ein Anti-diskriminierungsgesetz zu machen, sondern dann brau-chen wir neben dem Verbot der Diskriminierung auchnoch das Gebot der Gleichstellung. Das wiederum gehtnicht ohne einen realen Nachteilsausgleich. Es gibt nuneinmal bestimmte Benachteilungen, die in den Behinde-rungen begründet sind. Dafür können die Menschennichts, die diese Handicaps haben, sondern die meistendieser Behinderungen werden von anderen verursacht:durch Stufen, durch unbenutzbare Straßenbahnen undBusse, durch unbedachtsames Verhalten und so weiter.Diese Nachteile müssen konkret ausgeglichen werden.Dann bringen ein Diskriminierungsverbot und ein Gleich-stellungsgebot wirklich reale Verbesserungen im Leben.Dazu brauchen wir das Leistungsgesetz. Sie habenaber klipp und klar gesagt, dass Sie dies nicht machenwollen. All das, was Sie sagen und tun, darf am Endenichts kosten. Wer in der Behindertenpolitik ehrlich ist,der weiß, dass die echte Verbesserung der Teilhabe vonMenschen mit Behinderungen am Leben der Gemein-schaft Geld kostet. Dass es am Ende in einer gesellschaft-lichen Gesamtrechnung etwas bringt, will ich nicht großausführen. Aber erst einmal muss vonseiten des Staatesund auf allen Ebenen – von der Kommune über den Land-kreis, das Land und den Bund bis zur EU – etwas getanwerden. Das kostet Geld, Initiativen und Ideen. Es gilt,nicht nur zu reden; denn das führt dazu, dass am Ende guteGedanken eher inflationär entwertet werden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Katrin Göring-Eckardt12462
Ich danke Ihnen trotz des Dazwischenmurmelns für dieAufmerksamkeit. Ich gehe davon aus, dass zumindestdraußen im Lande das gehört wird, was hier gesagt wird.Vor allen Dingen wird darauf geachtet, was Sie wirklichtun.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Redner ist
der Kollege Matthäus Strebl für die Fraktion der
CDU/CSU.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wennich die gestrigen Arbeitsmarktzahlen aus Nürnberg be-trachte, dann stelle ich fest, dass sie eine leichte Entspan-nung zeigen. Dieser Arbeitsmarkttrend ist im Übrigennicht das Produkt dieser Bundesregierung. Die stärksteEntspannung auf dem Arbeitsmarkt hatten wir bereits– ich darf daran erinnern – 1998 mit über 400 000 Ar-beitslosen weniger.Die demographische Entwicklung – mehr Arbeitneh-mer gehen in Rente, als junge Arbeitnehmer nachkom-men –, aber auch die Neugestaltung der geringfügigen Be-schäftigungsverhältnisse haben die Wirkungen in diesemJahr zumindest statistisch verstärkt. Bei aller Bescheiden-heit: Diese Bundesregierung erntet die Früchte, die ihreVorgängerregierung gesät hat.
Die Arbeitslosigkeit von Behinderten verläuft parallelzur allgemeinen Arbeitslosigkeit. Deshalb sind Wachstumund die Bekämpfung der allgemeinen Arbeitslosigkeitauch Schritte zur Integration von Behinderten auf dem Ar-beitsmarkt. Erst wenn dieses Ziel umfassend erreicht ist,haben wir das Diskriminierungsverbot, das die unionsge-führte Bundesregierung am 27. Oktober 1994 im Grund-gesetz verankerte, mit Leben erfüllt.Heute geht es in der Behindertenpolitik weniger umFürsorge als vielmehr um Hilfe zur Selbsthilfe;
es geht um die Selbstbestimmung von behinderten Men-schen. Deshalb unterstützen wir das Vorhaben, in einemSozialgesetzbuch IX das Behindertenrecht zu straffen,Überschaubarkeit zu schaffen und eine höhere Effizienzzu erreichen. Das geht jedoch nicht zum Nulltarif, meinesehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. Wir werdenauch zusätzliche Gelder – so möchte ich feststellen – mo-bilisieren müssen. Darüber sollten wir ehrlich diskutieren.Mittelpunkt all unserer Bemühungen muss jedoch dieVermittelbarkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt sein. Vondaher sind die Bemühungen der Arbeitsämter zu verstär-ken, um eine wirksame Hilfe zur Integration zu sein. Wiedringend diese Aufgabe ist, zeigt die Zahl von über800 000 Bewerbern für Ausbildungsstellen – davon39 000 Behinderte –, die im letzten Jahr bei der Bundes-anstalt für Arbeit gemeldet waren. Von diesen 39 000 ha-ben 6 729 eine betriebliche Ausbildung begonnen.Dass diese Integration nicht nur menschlich geboten,sondern auch finanziell sinnvoller ist, versteht sich vonselbst. Ein wichtiges Instrument kann die persönliche Ar-beitsassistenz sein. Sie entlastet das Unternehmen oderauch die Dienststelle und schafft eine Vertrauensgrund-lage für die Betroffenen. Grundsätzlich halte ich sehr vielvon der Idee, vorrangig den Menschen selbst zu fördern,beispielsweise über ein persönliches Budget.
Die skandinavischen Länder zeigen uns, wie aus Leis-tungsempfängern auf dem Dienstleistungsmarkt Kundenwerden.
Dies stärkt das Selbstwertgefühl und fördert die Selbstbe-stimmung des behinderten Menschen. Eine Verlagerungvon der Objektförderung zur Subjektförderung sollten wirparteiübergreifend nicht nur bei diesem Thema, sondernauch bei der Familienförderung prüfen und ebenfalls dis-kutieren. Die 7 Millionen Behinderten fordern unsere So-lidarität. Diese müssen wir auf allen Ebenen leisten.Wie sieht es mit barrierefreiem Bauen aus – auchwenn sich ein Unternehmen neu gründet?
Durch Neugründungen entstehen die meisten Arbeits-plätze gerade in kleinen und mittleren Unternehmen. Des-wegen sollten die Förderrichtlinien hier ebenfalls verein-facht werden.Wir könnten uns auch ein Kombilohnmodell vorstel-len, das über die Sozialhilfe und über die Arbeitslosen-hilfe behinderten Menschen, wenn sie eine Arbeit auf-nehmen, einen höheren Hinzuverdienst ermöglicht.Warum sollte es bei dieser Zielgruppe nicht möglichsein – meinetwegen befristet auf fünf Jahre –, ein Er-werbseinkommen mit einem 25-prozentigen Zuschussaus der Sozialhilfe oder der Arbeitslosenhilfe zu kombi-nieren?
Lohnkostenzuschüsse auf dem ersten Arbeitsmarkt helfenden Unternehmen und den Arbeitnehmern, die dann eineneue Perspektive finden. Sozialhilfe und Arbeitslosen-hilfe könnten so als Brücke auf den Arbeitsmarkt genutztwerden. Hierüber bieten wir eine vorurteilsfreie und er-gebnisoffene Diskussion an.
Die neuen Technologien – ein weiterer Schritt – unddie Stärkung des Dienstleistungssektors helfen auch denBehinderten. Elektronische Heimarbeitsplätze, Nachbar-schaftsbüros und mobile Kommunikation können die In-tegrationskräfte ebenfalls stärken.
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Dr. Ilja Seifert12463
Es ist gut, dass der frühere Widerstand einiger Ge-werkschafter und Sozialdemokraten gegen diese neuenFormen der Arbeit einer realistischen Sichtweise gewi-chen ist, sodass wir heute weniger eine Risikodebatteführen müssen, sondern vielmehr eine Chancendebatteführen können. Wir wollen bei diesem wichtigen Themaeinen parteiübergreifenden Konsens. Wir wollen eine Ver-netzung von kommunaler, tariflicher, Landes- und Bun-desebene mit den freien Trägern.Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat haben hiergute Zeichen gesetzt. Die Zusammenarbeit zwischen Op-position, wichtigen gesellschaftlichen Gruppierungenund Regierung funktioniert aber nur, wenn auf gleicherAugenhöhe diskutiert wird. Auch ein Bundeskanzlersollte zusammenführen und nicht als Sonnenkönig an-dere, zum Beispiel den ÖTV-Vorsitzenden Herbert Mai,brüskieren, wie dies am vergangenen Sonntag – ich kanndas sagen, weil ich dabei war – auf dem 14. Gewerk-schaftstag der ÖTV in Leipzig geschehen ist.
Äußerungen, wie sie auf dem ÖTV-Kongress gefallensind, vergiften das Klima; das war kein Machtwort, daswar eine verbale Rüpelei, ich möchte fast sagen: eine eis-kalte Arroganz gegenüber den Kolleginnen und Kollegender ÖTV.Ich möchte zum Schluss appellieren: Etwas mehr Ver-lässlichkeit würde unserer Politik besser nützen. Seien Siezur Zusammenarbeit bereit! Das Ziel ist die vollständigegesellschaftliche Integration der behinderten Mitbürge-rinnen und Mitbürger. Über die Wege zu diesem Ziel wün-sche ich mir eine tabufreie Diskussion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss im
Vorfeld auf einige Punkte eingehen: Es ist nicht gerade
sehr angenehm, wenn die CDU von den Früchten der Vor-
gängerregierung spricht. In diesem Zusammenhang erin-
nere ich an die Drucksache 13/9514 vom 28. Juli 1998, in
der es heißt: Gleichstellungs- oder Antidiskriminierungs-
gesetze zugunsten behinderter Menschen, nach amerika-
nischem oder anderen Vorbildern gefordert, würden
nach Auffassung der Bundesregierung jedoch in der Sa-
che kaum weiterführen.
– Schauen Sie sich vor Ort um.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kolb?
Vielleicht nachher,sehr geehrter Herr Kolb.
Es ging auch um Barrierefreiheit, es ging darum, wieArbeitsplätze geschaffen werden können. Wenn der Prä-sident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitge-berverbände, Herr Hundt, sagt, es genüge oftmals, einenArbeitsplatz zu modernisieren, um behinderungsbedingteLeistungsdefizite auszugleichen und darüber hinaus einehöhere Produktivität zu erreichen, sehe ich das als einenFortschritt. Daran sollte sich die CDU einmal orientieren.Herr Kolb, das muss man einmal auf sich wirken lassen.Frau Nolte, Sie sagen, die Antworten seien mangelhaft.
Der Behindertenbeauftragte hat ganz deutlich gesagt,wir wollen eine Berichtspflicht einführen und man hättedies bereits tun können. In dem Bericht wurden relativgute Aussagen nicht nur von Bayern und Hessen, sondernauch von anderen – SPD-geführten – Ländern gemacht.Wir werden diese Sache nunmehr vorantreiben.Zunächst möchte ich mich bei der Opposition für dieheutige Debatte bedanken: Ihre Große Anfrage an dieBundesregierung zeigt, dass Sie die Anliegen der behin-derten Menschen durchaus ernst nehmen.
Behindertenpolitik bedeutet für die Regierungskoalitioneine konsequente Reformpolitik zum Wohle unserer be-hinderten Mitbürger und Mitbürgerinnen. Der Behinder-tenbeauftragte der Bundesregierung hat hier sehr deutlichzum Ausdruck gebracht, was wir in dieser Legislaturperi-ode noch umsetzen wollen und weiter umsetzen werden,um dem Gleichstellungsauftrag des Grundgesetzes ge-recht zu werden. Aber wir wollen heute nicht nur über un-sere Vorhaben und den Stand der Gesetzgebung beimSGB IX sprechen. Vielmehr können wir auch beachtlicheErfolge vorweisen.Die CDU/CSU-Fraktion hat im Rahmen ihrer heutigenGroßen Anfrage an die Bundesregierung auch danach ge-fragt, welche Chancen Menschen mit Behinderungen aufdem allgemeinen Arbeitsmarkt haben. Darauf antworteich: Am 1. Oktober ist das Schwerbehindertengesetz inKraft getreten. Knapp einen Monat nach In-Kraft-Tretendieses Gesetzes ist der erste Arbeitsmarkt für Schwer-behinderte bereits nachhaltig in Bewegung gekommen.Ich habe gestern und heute ausführliche Gespräche mitden zuständigen Vertretern der örtlichen Arbeitsämter und
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Matthäus Strebl12464
der Landesarbeitsämter geführt. Die Informationen, dieich erhielt, machen mich wirklich stolz. Alle unsere Er-wartungen wurden übertroffen. So sind zum Beispiel inSachsen-Anhalt, Thüringen, Berlin und Brandenburg dieVerträge zwischen den einzelnen Arbeitsämtern, denHauptfürsorgestellen und den eingerichteten Integrations-fachdiensten bereits ausgehandelt worden. Unterschiedli-che Träger haben Verbundlösungen gefunden und sich inIntegrationsfachdiensten zusammengeschlossen. DieseKooperationsbereitschaft zeugt von einer Aufbruchstim-mung und von einem festen Willen, die Chancen desneuen Schwerbehindertengesetzes zu nutzen.Auch die Arbeitgeberverbände haben sich dieser Ini-tiative uneingeschränkt angeschlossen. Arbeitgeberpräsi-dent Hundt unterstützt – nachzulesen in der Zeitschrift derArbeitgeberverbände – die Zielsetzung des Schwerbehin-dertengesetzes mit Nachdruck. Wenn man das nachliest,muss man feststellen: Unsere Arbeitgeber werden immerflexibler. Hut ab! Hundt erwartet von der verbesserten Be-ratung und Vermittlung durch professionelle Integrations-fachdienste eine besondere Unterstützung für die Unter-nehmen. Herr Hundt, ich kann Ihnen nur sagen: IhreErwartungen werden schon jetzt erfüllt.Beispiel: Nicht nur in Sachsen-Anhalt gibt es bereitsSchulungen und wöchentliche Lehrgänge für Mitarbeitervon Integrationsfachdiensten. Nur hoch qualifizierteMitarbeiter dieser Fachdienste, vor allem die behindertenMitarbeiter, können optimale Ergebnisse bei der Vermitt-lung erreichen.Noch ein Beispiel: In Berlin und Brandenburg habenMitte Oktober 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derArbeitsämter in 2 800 Betrieben für die Einstellung vonqualifizierten Schwerbehinderten geworben. Das Ergeb-nis macht Mut: In Berlin wurden so 157 und in Branden-burg 220 Arbeits- und Ausbildungsplätze für Schwer-behinderte gefunden. Angesichts dieses Erfolges in sokurzer Zeit kann ich nur sagen: Machen wir so weiter!Die groß angelegte Kampagne, die wir mit In-Kraft-Treten des Schwerbehindertengesetzes in Gang gesetzthaben, hat zu dieser erfreulichen Entwicklung beigetra-gen. Damit meine ich nicht nur die Pressekampagne desBMA, die öffentlichen Veranstaltungen, die Plakate unddie Broschüren, sondern auch die engagierte Öffentlich-keitsarbeit der Schwerbehindertenverbände und nicht zu-letzt auch die Unterstützung der Arbeitgeberverbände bishin zum Präsidenten des Arbeitgeberverbandes selbst.Es hat sich etwas bei der Einstellung der Arbeitgebergetan. Eine Veränderung fängt in den Köpfen an. Schwer-behinderte Menschen haben oftmals eine bessere Ausbil-dung, sind flexibler in unterschiedlichsten Lebenssitua-tionen und zeigen mehr Engagement im Job. Grund: Siewollen gesellschaftliche Akzeptanz und keine Almosen.Sie sind genau die richtigen Partner für jede Firma.Wie Sie wissen, lässt sich bereits jetzt – das belegen dieneuesten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit – ein erfreu-licher Rückgang auch der Arbeitslosigkeit Schwerbe-hinderter verzeichnen. Natürlich, Herr Strebl, ist das nochnicht die Folge des neuen Schwerbehindertengesetzes.Aber die Tatsache, dass wir die Arbeitslosigkeit Schwer-behinderter zum öffentlichen Thema gemacht haben,
hat diese positive Entwicklung hervorgerufen.
– Das tue ich nicht.Als besonders erfolgreich innerhalb unserer Kampa-gne hat sich das Beratungstelefon „50 000 Jobs fürschwerbehinderte Menschen“ erwiesen. So haben bei-spielsweise die Mitarbeiter des Beratungstelefons in Ros-tock allein im Oktober 1 133 Beratungsgespräche geführt.Erfreulich war dabei die große Resonanz der Arbeitgeberauf diese Initiative: Ein Drittel der Beratungsgesprächewurde mit Arbeitgebern geführt. Viele Arbeitgeber nutz-ten das Beratungstelefon, um freie Stellen, die sie mitschwerbehinderten Arbeitslosen besetzen möchten, anzu-zeigen. Allein im Monat Oktober haben 41 Arbeitgeber208 Arbeitsstellen beim Beratungstelefon in Rostock an-geboten. In den Gesprächen brachten die Arbeitgeber ihreHoffnung zum Ausdruck, dass die Zusammenarbeit mitden Arbeitsämtern flexibler gestaltet werde.Aber auch die Resonanz der anrufenden schwerbehin-derten Arbeitnehmer war nach Erläuterung der Ziele undder Inhalte sehr positiv. Die schwerbehinderten Mitbürgererwarten zukunftsorientierte Qualifizierung entsprechendihren Fähigkeiten, um den Anforderungen auf dem erstenArbeitsmarkt gerecht zu werden; denn nur so besteht eineChance, dass sie dort bleiben können.
Dabei setzen sie große Hoffnungen auf die Integrations-fachdienste. Ich glaube, das ist berechtigt. Sie sehen, dassdurch die Arbeit mit den Beratungstelefonen Erfahrungengesammelt wurden, die unserer BeschäftigungsinitiativeRecht geben.Die schon eingangs angesprochene zügige flächen-deckende Einrichtung von Integrationsfachdiensten fin-det tatsächlich statt. Zum Beispiel Herr Stadler von FAF,ein Vertreter der Integrationsprojekte „Firmen, Unterneh-men, Abteilungen“, hat mir noch gestern gesagt, dass dasSchwerbehindertengesetz bei den Integrationsprojektengroße Resonanz gefunden hat. Viele Projekte stehen inden Startlöchern. Bei den Hauptfürsorgestellen liegenzahlreiche Konzepte und auch Anträge vor. Diese Unter-nehmen können die Integration auf dem ersten Arbeits-markt – ich sage das besonders deutlich – nur flankierendunterstützen.Ein Anliegen möchte ich besonders hervorheben:Schwerbehinderte Frauen werden besonders diskrimi-niert. Sie sind doppelt benachteiligt. Deshalb haben wirbei den Beratungen zum Schwerbehindertengesetz aus-drücklich gefordert, dass schwerbehinderte Frauen im be-sonderen Maße die Unterstützung unserer Zivilgesell-schaft erfahren müssen. Das Bundesministerium fürArbeit und Sozialordnung hat daraufhin den Rechtsan-spruch auf Teilzeitarbeit festgeschrieben. Danach hat
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dieser Anspruch für behinderte Frauen eine sehr hohe Be-deutung. Hierbei ist ihre persönliche Lebenssituation zuberücksichtigen und dazu zählen jetzt auch Erziehungs-pflichten. Darauf können wir stolz sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, der
Kollege Seifert möchte eine weitere Zwischenfrage stel-
len. Gestatten Sie die noch?
Ja, mache ich.
Liebe Frau Kollegin Schmidt,
Sie sprachen im Zusammenhang mit der doppelten Be-
nachteiligung von behinderten Frauen von dem Rechts-
anspruch auf Teilzeitarbeit, der in Zukunft garantiert wer-
den soll. Ist Ihnen und der Koalition eigentlich bewusst,
dass damit die konkrete Betrachtungsweise in der von
Ihnen geplanten Erwerbsminderungsrente zum Nach-
teil von Menschen mit Behinderungen ausfällt, sodass alle
diejenigen, die eine Rente wegen verminderter Erwerbs-
fähigkeit – also weil sie nur zwischen drei und sechs Stun-
den arbeiten können – bekommen sollen, nicht mehr un-
ter die konkrete Betrachtungsweise fallen, weil es dann
auf dem Arbeitsmarkt theoretisch unbegrenzt viele Teil-
zeitarbeitsplätze geben könnte?
Herr Seifert, schö-
nen Dank, dass Sie darauf hingewiesen haben. Ich sehe
das aber nicht so. Sie wissen ganz genau, dass sich sehr
viele Selbsthilfegruppen von Frauen mit Behinderungen
mit der Bitte an uns gewandt haben, dieses Problem zu
berücksichtigen. Sogar in der letzten Ausschusssitzung
haben wir noch mit festgeschrieben, dass auch die Erzie-
hungspflicht hineinkommt. Ich sehe hier eine sehr große
Chance. Ich empfehle Ihnen die Lektüre des Aufsatzes
„Arbeitsplätze für Schwerbehinderte“ von Dieter Hundt.
Dort wird dieses Anliegen im Grunde genommen begrüßt
und nicht abgelehnt.
– Darüber gibt es noch Diskussionsbedarf.
Herr Kolb, möchten Sie noch eine Zwischenfrage
stellen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kolb hat
bereits eine Kurzintervention angemeldet.
Noch ein Wort zu
Ihrer Kritik in der Debatte über das Schwerbehinderten-
gesetz. Sie monierten, dass die Einrichtung der Integrati-
onsfachdienste im Sinne des Gesetzes nicht funktionieren
könne. Sie sehen: Sie funktionieren bereits sehr gut.
Sie kritisierten, dass wir dieses Gesetz übers Knie bre-
chen wollten. Ich sage Ihnen: Die Behinderten brauchen
die Unterstützung der Zivilgesellschaft jetzt.
Sie bekommen jetzt die Chance, die Sie ihnen über Jahre
hinweg nicht ermöglicht haben. Wie sagte eine Vertrete-
rin des Landesarbeitsamtes Sachsen-Anhalt und Thürin-
gen auf meine Frage, wann die Umsetzung des neuen
Gesetzes denn losgehe: „Es geht schon los. Wir sind mit-
tendrin.“
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb
das Wort.
Liebe Kollegin
Schmidt, Sie hatten eine Zwischenfrage von mir nicht zu-
gelassen, vermutlich weil ich sie direkt nach Beginn Ihrer
Rede stellen wollte. Es ist normalerweise auch unge-
wöhnlich, dass man erst einen Satz gesagt hat und gleich
etwas gefragt wird.
Ich hatte mich aber gemeldet – das möchte ich hier
doch noch klarstellen dürfen –, weil Sie die alte Bundes-
regierung zitiert haben. Sie haben gesagt, die alte Bun-
desregierung habe in einer Drucksache, deren Nummer
ich nicht mehr in Erinnerung habe, zum Ausdruck ge-
bracht, dass sie kein Gleichstellungsgesetz nach amerika-
nischem Vorbild wolle.
Nur soll man – deswegen melde ich mich – nicht mit Stei-
nen werfen, wenn man im Glashaus sitzt. Nach meinen In-
formationen lehnt es die derzeitige rot-grüne Bundesre-
gierung trotz Koalitionsvereinbarung ab, ein solches
Gleichstellungsgesetz selbst in das Gesetzgebungsverfah-
ren einzubringen.
Vielmehr – zumindest wurde das unlängst bei einer Dis-
kussionsveranstaltung hier in Berlin so bekannt gegeben –
wird die Fraktion ein entsprechendes Gesetz einbringen.
Wenn man also schon kritisiert, dann muss man bitte Glei-
ches auch gleich abhandeln. Das, was die Bundesregie-
rung damals getan hat, ist mindestens mit dem vergleich-
bar, was jetzt Ihre Bundesregierung tut.
Das war der Grund meiner Kurzintervention.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau KolleginSchmidt zur Erwiderung.
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Herr Kollege Kolb,
da gebe ich Ihnen nicht Recht. Ich denke, es ist schon ein
Unterschied, ob man etwas ganz ablehnt, oder ob man
sich wirklich intensiv daransetzt, mitarbeitet und mit al-
len Verbänden und Vereinen zusammen noch einen Kon-
gress macht. Wir befinden uns in unserer eigenen Regie-
rung jetzt in der Abstimmungsphase darüber, wer was
macht.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn schondie Beantwortung der Großen Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion durch die Bundesregierung nicht sehrviel Ertrag gebracht hat und wenn es sich schon nichtlohnt, nur über Ankündigungen zu diskutieren, dannmöchte ich den Abschluss dieser Debatte doch wenigstensdazu nutzen, auf eine in diesen Tagen neu aufgeworfeneFrage grundsätzlicher Art zu sprechen zu kommen: Stim-men eigentlich noch die ethischen Grundüberzeugun-gen, auf denen unsere Hilfen und Angebote für Mit-menschen mit Behinderungen aufbauen?Neu aufgeflammt ist diese Debatte durch den Beitragdes Molekularbiologen und Nobelpreisträgers JamesWatson in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom26. September 2000 über die Ethik des Genoms. In derTat hat er darin Recht, „dass der Erfolg der Entschlüsse-lung des menschlichen Erbguts unsere Gesellschaft mitvöllig neuen ethischen Fragestellungen konfrontierenwird.“ Wenn nämlich alles machbar und auch erklärbarist, haben wir dann nicht auch alle Mittel in der Hand, umzum Beispiel die Geburt eines behinderten Menschen zuverhindern? Watson schreibt, dass im Falle der Tötung ei-nes genetisch behinderten Fötus „die Erleichterung darü-ber im Vordergrund stehen“ müsse, „dass niemand ge-zwungen wurde, ein Kind zu lieben und zu unterstützen,dessen Leben niemals Anlass zur Hoffnung auf Erfolgegegeben hätte.“ Und weiter: „Dass erbkranke Föten diegleichen existenziellen Rechte haben wie jene, denen eingesundes und produktives Leben gegeben ist,“ sei seinerÜberzeugung nach „von hohlklingender moralischer Ver-kündigung geprägt, die man angesichts des modernenFortschritts demnächst ignorieren werde.“Die Konsequenzen eines solchen Denkens, das weitverbreitet ist und auch in verschiedenen Publikationenseinen Widerhall gefunden hat, liegen meines Erachtensauf der Hand. Wer künftig angesichts der modernenmedizinischen Möglichkeiten noch ein behindertes Kindzur Welt bringt, wird – aus der Sicht derjenigen, die sodenken – nicht selbstverständlich mit der Solidarität undder Unterstützung der Gesellschaft zu rechnen haben,sondern sich für sein Tun womöglich noch entschuldigenmüssen – eine schreckliche Vision.
Es ist gut, dass der Bundespräsident in seiner kürzlichgehaltenen Rede über „Glaube in der Wissensgesell-schaft“ Watson klar und deutlich widersprochen hat.
Je mehr nämlich technisch und medizinisch machbar ist,umso größer ist die Verantwortung der Wissenschaft wieder Politik, das Bewusstsein wach zu halten, dass jegli-ches Leben lebens- und liebenswert ist. Gerade der Um-gang mit Menschen mit Behinderungen ist der Prüfsteindafür, wie es um Solidarität und Humanität in unsererGesellschaft generell bestellt ist. Oder anders gesagt: DieWürde des Menschen zu achten und zu schützen – nachunserer Verfassung die Verpflichtung aller staatlichen Ge-walt – findet in der Achtung und dem Schutz der Würdedes behinderten Menschen ihren besonderen und nach-drücklichsten Ausdruck.
Deshalb glaube ich, dass in allen Debatten um die vielenpraktischen Aspekte der Behindertenpolitik immer auchdie Aufgabe im Vordergrund stehen muss, die ethischenGrundüberzeugungen, die uns leiten, noch stärker zumAusdruck zu bringen.
Ich sehe vor allen Dingen zwei generelle Herausforde-rungen, durch die unsere Gesellschaft auf den Prüfstandgestellt wird und zwar in der Frage, ob uns diese ethischenGrundüberzeugungen tatsächlich noch leiten und tragen.Herausforderung Nummer eins ist: Die Zahl derschwerst mehrfach behinderten Mitmenschen nimmtdeutlich zu. Dringend werden zusätzliche Förder- und Be-treuungsgruppen benötigt. Für sie muss das Instrumentder Eingliederungshilfe gestärkt werden. Der Zielsetzungder Eingliederungshilfe würde man meines Erachtens inZukunft am besten gerecht, wenn sie in eigenständigesLeistungsgesetz überführt würde. Dieses Leistungsgesetzmüsste ganzheitliche Hilfe anbieten, statt die Hilfe inpädagogische, rehabilitative und pflegerische Einzelleis-tungen zu zerlegen und unterschiedlichen Leistungsträ-gern zuzuordnen.
Herausforderung Nummer zwei ist: Es wird immermehr behinderte Menschen geben, die erfreulicherweiseein hohes Lebensalter erreichen. Das ist nicht nur ein Er-folg des medizinischen Fortschritts, sondern hat – in die-sem Sinne: leider – auch mit traurigen Ereignissen derVergangenheit zu tun. Die Euthanasiepolitik des DrittenReiches hat es mit sich gebracht, dass Deutschland in denkommenden Jahren erstmals Verantwortung für eine Ge-neration geistig behinderter Menschen tragen muss, die
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im Alter umfassend auf die Hilfe der Gemeinschaft an-gewiesen sind. Menschen mit geistiger oder mehrfacherBehinderung werden jedoch im Alter nicht automatischzu Pflegefällen. Ihre Behinderung macht es allerdings er-forderlich, sie gezielt auf ein Leben im Alter vorzuberei-ten und ihren Tagesablauf neu zu strukturieren. Notwendigsind neue Tagesbetreuungsangebote und neue Pflege-strukturen für ältere Menschen.
Mit einem eigenen Leistungsgesetz für Menschenmit Behinderungen könnten diese wichtigen Aufgabender Zukunft erfolgreich gemeistert werden. Deshalb findeich es schade, dass in allen Ankündigungen zu einem SGBIX die Regierungskoalition nicht den Mut aufbringt, dasfrüher auch von ihr geforderte Leistungsgesetz für Behin-derte zu schaffen.
Meine Damen und Herren, ich würde mich freuen,wenn der Diskussionsprozess der nächsten Wochen undMonate Sie dazu bringen würde, Anstrengungen zu un-ternehmen, um die Eingliederungshilfe aus dem BSHGherauszulösen und in einem eigenen Leistungsgesetz mitentsprechenden Rechtsansprüchen zu verankern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Detlef
Parr, Ina Lenke, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse-
rung der Möglichkeiten des medikamentösen
Schwangerschaftsabbruchs
– Drucksache 14/4289 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion sieben Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zur
Einbringung des Antrages dem Kollegen Detlef Parr von
der F.D.P.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren!
Es geht nur noch um die Frage, wie wir den Frauen
die Präparate für diese Abbruchmethode verfügbar
machen.
Das sagte Kollegin Schmidt-Zadel am 24. Juni 1999 bei
der Verabschiedung des Gesetzes. Weiter sagte sie:
Deshalb stelle ich zunächst fest: Prinzipiell ist ein
Sondervertriebsweg sicher nicht notwendig.
Das große Aber kam danach. Von drohendem
Schwarzhandel und Missbrauch des Medikaments war
die Rede. Die Notwendigkeit strengster Kontrollen wurde
herausgestellt, als gäbe es kein Betäubungsmittelgesetz,
kein Transfusionsgesetz und keine strengen Dokumenta-
tionspflichten für die Apotheken. Wochenlang wurde die
Firma Femagen mit Auflagen malträtiert, bis das Mittel
über einen personal- und kostenintensiven Weg doch end-
lich im November 1999 auf den Markt kam. Inzwischen
war die Marge für das ärztliche Honorar zwar nicht allein,
aber auch durch die Verteuerung des Medikaments auf-
grund des Sondervertriebswegs gesunken. Dadurch er-
gaben sich für die Ärzte bei den zu erbringenden Bera-
tungs- und Betreuungsleistungen nur noch Nachteile.
Anfang des Jahres, nach nur drei Monaten, waren diese
Probleme der SPD bereits bekannt. Mitte des Jahres, am
5. Juli, räumte die Parlamentarische Staatssekretärin
Nickels auf eine F.D.P.-Frage in der Fragestunde Klärungs-
bedarf bei der Kostenregelung für medikamentöse Ab-
brüche ein. Im Frühherbst, am 27. September, verstieg
sich auf eine erneute Anfrage der F.D.P.-Fraktion die Par-
Ich denke, dass wir so weitermachen sollten, wie wires im Moment tun.Welch eine Fehleinschätzung, meine Damen und Herren!
Bis dahin hätten bei Ihnen doch längst ebenso wie bei derF.D.P. alle Alarmglocken schrillen müssen.Aber Sie haben sich wohl auf die Beschwichtigungenvon Frau Schmidt-Zadel verlassen. Sie hat nämlich am24. Juni 1999 auch gesagt:Wir kommen Ihnen ja entgegen, indem wir zu die-sem Gesetzentwurf eine Entschließung eingebrachthaben, die nach zwei Jahren – zwei Jahre sind einekurze Zeit – einen Bericht über die Erfahrungen mitdem Sondervertriebsweg fordert.Bereits nach einem Jahr waren die Konsequenzen klar, dieich in der damaligen Debatte mit einem Satz des Schrift-stellers Robert Musil kommentierte: „Sie irren vorwärts.“
Kommen Sie jetzt aus der Sackgasse heraus, bauen Siedie formalen Hürden ab. Ändern Sie erstens den Ver-triebsweg und vertrauen Sie den Apotheken, wie Sie esauch bei der Abgabe anderer hoch sensibler Medikamentetun. Machen Sie zweitens einen Weg für eine Kostenre-gelung frei, die den Ländern nach dem Vorbild vonSchleswig-Holstein und Baden-Württemberg eine kos-tendeckende Honorierung der ärztlichen Leistung mög-lich macht.
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PeterWeiß
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Die Vergütung für den Schwangerschaftsabbruch darfnicht der Budgetierung unterliegen. Die Vertragspartner,also die Krankenkassen und die Ärzteschaft, sollten ver-pflichtet werden, eine angemessene Vergütung zu verein-baren. Das Honorar muss die für die Abtreibung entstehen-den Kosten und insbesondere die durch medikamentösenAbbruch höheren Aufwendungen abdecken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nehmenSie den Satz Ihrer neuen gesundheitspolitischen Spreche-rin vom 24. Juni 1999 ernst, den ich noch einmal zitiere:Es geht nur noch um die Frage, wie wir den Frauendie Präparate für diese Abbruchmethode verfügbarmachen.Der bisherige Weg hat in die Irre geführt. Sie sind dabei,viele Frauen im Stich zu lassen. Haben Sie jetzt den Mutzur Korrektur!
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Hildegard Wester von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Es ist schon mehr als bedrückend, dass
wir heute hier im Plenum des Deutschen Bundestages da-
rüber debattieren müssen, ob Frauen in Deutschland die
Möglichkeit behalten können, mit einem zugelassenen
Arzneimittel behandelt zu werden.
Nach jahrelangem Ringen um den straffreien Schwan-
gerschaftsabbruch haben wir seinerzeit alle gemeinsam
einen frauenpolitischen Kompromiss gefunden. Wir ha-
ben die Pflichtberatung im Schwangerschaftskonfliktge-
setz verankert und die Frage der finanziellen Hilfen geklärt.
Mit der Aussicht auf einen Schwangerschaftsabbruch mit
einem Mittel, das schon rund ein Jahrzehnt früher in an-
deren europäischen Ländern auf dem Markt war, begann
bei uns aber erneut eine Debatte mit dem Versuch unter-
schiedlicher Interessensbereiche, das Erreichte infrage zu
stellen.
Die ohne Zweifel schonendere Methode des Abbruchs
mit diesem Medikament wurde den Frauen in Deutsch-
land vorenthalten. Wir haben über zumindest einige Frak-
tionsgrenzen hinweg gemeinsam dafür gekämpft, den
Frauen den medikamentösen Abbruch mit Mifegyne zu
ermöglichen. Seit nunmehr fast einem Jahr ist Mifegyne
auf dem Markt und nun soll alles wieder infrage gestellt
werden, wofür die Frauen gekämpft haben. Der Vertrieb
des Arzneimittels Mifegyne soll voraussichtlich zum
Ende dieses Jahres eingestellt werden. Die Begründung
dafür lautet, das Geschäft sei unrentabel.
Unser Ziel muss es aber sein – in diesem Punkt sind wir
Frauen uns einig –, dass wir den Frauen die Möglichkeit
erhalten müssen, den medikamentösen Schwanger-
schaftsabbruch vornehmen zu lassen. Frauen, die sich für
einen Abbruch entschieden haben, müssen diese Wahl-
freiheit behalten und somit auch weiterhin diese Methode
wählen können.
Es muss schon erlaubt sein, sich mit den Argumenten
dieser Firma, die eben schon vorgetragen wurden, kritisch
auseinander zu setzen. Ich kann nicht nachvollziehen,
dass dieser Sondervertriebsweg, den wir damals aus
guten Gründen vorgeschrieben haben, die Hauptursache
für die Unwirtschaftlichkeit der Geschäfte dieser Ver-
triebsfirma sein soll.
Ich habe erhebliche Zweifel an dieser Darstellung und
– das folgt daraus – an der Wirksamkeit der Lösung, die
von der F.D.P. vorgeschlagen wird.
Aus guten Gründen haben wir also damals diesen Son-
dervertriebsweg vorgeschrieben. Wir sollten gründlich
überprüfen, ob wir an diesem Weg etwas ändern können
und wollen. Wir müssen nämlich beachten, dass die Zeit
noch nicht reif dafür ist, zu einem endgültigen Urteil zu
kommen.
Es scheint mir nicht gerechtfertigt zu sein, diesen Ver-
triebsweg als Hauptursache für die Unwirtschaftlichkeit
anzuführen. Wir sollten vielmehr einen anderen Punkt be-
denken: Die Zeitspanne seit Einführung des Präparates
ist, wie ich eben schon sagte, noch sehr kurz. Wir wissen
doch alle, dass es immer auch eine Frage der Zeit ist, bis
Neuerungen bei den Betroffenen akzeptiert werden. Das
ist bei Neuerungen auf dem Medikamentenmarkt genauso
wie bei Neuerungen in anderen Bereichen.
Als Indiz dafür möchte ich darauf hinweisen, dass nach
Auskunft des Statistischen Bundesamtes die Zahl der
medikamentösen Abbrüche im ersten Quartal 2000 bei
2 Prozent lag und im zweiten Quartal auf 3 Prozent ge-
stiegen ist. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass die
Zahl dieser Abbrüche von 764 im ersten Quartal auf 985
im zweiten Quartal angestiegen ist.
Frau Kol-
legin Wester, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Parr?
Bitte.
Bitte
schön, Herr Parr.
Frau Kollegin, die Zahlen, die Siegerade genannt haben, unterscheiden sich von den Zah-len, die mir vorliegen: Der Anteil der medikamentösenSchwangerschaftsabbrüche ist von 6 über 4 auf 2 Prozent
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gesunken. Worauf basieren Ihre Zahlen? Uns hat der Ab-wärtstrend bei der Nutzung dieser Methode alarmiert. Wirsind deswegen aktiv geworden.
Ich habe schon gesagt, dass
es sich um Zahlen des Statistischen Bundesamts handelt.
Ich habe sie gesehen, kann sie an dieser Stelle aber nicht
verifizieren. Mehr kann ich im Moment dazu nicht sagen.
Die mir bekannten Zahlen führen mich zu der Frage, ob
es nicht eine sehr voreilige Entscheidung der Firma war,
schon jetzt von einer nicht gegebenen Rentabilität zu
sprechen. Es muss auch die Frage gestellt werden, ob
nicht mehr an Aufklärung hätte geleistet werden können
und müssen, wodurch dem Einsatz des neuen Präparates
eine bessere Grundlage verschafft worden wäre, anstatt
voreilig den Vertriebsweg zu kritisieren.
Die Abschaffung dieses Vertriebsweges dürfte dazu
führen, dass die zusätzlichen Kosten, die durch Apothe-
ken- und Großhandelszuschlag entstehen, das Medika-
ment teurer machen. Das würde letzten Endes weder den
Frauen noch den Ländern, die an den Kosten in erhebli-
chem Ausmaß beteiligt sind, zugute kommen.
Von größerer Bedeutung für den geringen Einsatz von
Mifegyne scheint mir ein weiterer Grund zu sein: Die Kos-
tenerstattung für den medikamentösen Abbruch liegt
unter der des instrumentellen Abbruchs. Die Bewertung
der einzelnen ärztlichen Leistungen hat aber der Bewer-
tungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen vorzuneh-
men. Der Ausschuss hat zwar grundsätzlich für beide Me-
thoden identische Sätze für die ärztlichen Leistungen
vorgesehen, doch nur beim instrumentellen Eingriff kann
darüber hinaus ein Zuschlag für das ambulante Operieren
sowie eine Vergütung für die Betreuungsleistungen abge-
rechnet werden. Damit bleibt der Aufwand der Betreuung
der Frauen während und nach der Medikamentenabgabe
unberücksichtigt.
Es bleibt ferner außer Acht, dass bei einem medika-
mentösen Abbruch ebenfalls eine bestimmte räumliche
und apparative Ausstattung vorhanden sein muss, die eine
qualitativ angemessene Versorgung der Frauen gewähr-
leistet. Aber diese Bewertung hat, wie gesagt, ein Selbst-
verwaltungsorgan vorgenommen, und hier haben wir
keine gesetzlichen Einflussmöglichkeiten. Es bleibt nur
der wiederholte Appell an den Bewertungsausschuss,
diese getroffene Entscheidung zu überdenken und gege-
benenfalls zu revidieren.
Aber das führt uns auch zu einem Grundproblem, mit
dem wir uns heute hier eigentlich auseinander zu setzen
haben, nämlich der Vermutung, dass die Bezahlung einer
ärztlichen Leistung Einfluss darauf hat, ob diese Leistung
eingesetzt wird oder nicht. Bereits im Mai dieses Jahres
hat uns Pro Familia mitgeteilt, dass ihre Einrichtungen,
die nicht gewinnorientiert arbeiten, den medikamentösen
Abbruch mit den geltenden Sätzen nicht kostendeckend
bestreiten können. Von den 91 Prozent der ambulanten
Abbrüche werden 75 Prozent, also die Mehrzahl, in gynä-
kologischen Praxen vorgenommen. Das macht doch deut-
lich, dass Kostengesichtspunkte für die Ärzte eine ent-
scheidende Rolle spielen, ja vielleicht sogar spielen müs-
sen, wenn sie eine Methode empfehlen. Umso deutlicher
wird die Notwendigkeit, die Ärzteschaft aufzufordern, da-
rauf hinzuwirken, dass der Bewertungsausschuss eine
sachgerechte Bewertung des medikamentösen Schwan-
gerschaftsabbruchs vornimmt.
Ein weiterer Appell geht an die Länder, nämlich bei
den Kostenerstattungen höhere Kostenpauschalen zu zah-
len. Dafür bedarf es keiner Gesetzesänderung. Es gibt
nämlich schon heute Länder, die dies praktizieren. Ärz-
tinnen und Ärzte müssen unter rein medizinischen Ge-
sichtspunkten die individuell beste Methode des Ab-
bruchs für die Patientin auswählen, diese entsprechend
empfehlen und die Frau auch beraten. Es darf nicht sein,
dass Frauen aus materiellen Gründen eine für sie geeig-
nete schonendere Maßnahme vorenthalten wird.
Eine Aufklärung nicht nur der Frauen, sondern auch
der Ärzteschaft über diese Möglichkeit scheint mir drin-
gend vonnöten zu sein. Unbefriedigende finanzielle Leis-
tungen dürfen nicht dazu führen, dass das schwächste
Glied in der Kette, die schwangere Frau, mit ihrem Pro-
blem allein gelassen wird.
Vorschnelle Gesetzesänderungen, die die Situation
nicht grundsätzlich ändern, sind hier aber genauso wenig
angebracht wie einseitige Schuldzuweisungen. Deswegen
wiederhole ich meine Appelle an die Vertreiberfirma, an
die Länder und an den Bewertungsausschuss, hier für Lö-
sungen zu sorgen.
Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annette Widmann-
Mauz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir vernehmen indieser Woche, die Gesundheitsministerin will erneut ei-nen Vorstoß unternehmen, um das drohende Aus für dasAbtreibungspräparat Mifegyne in Deutschland zu ver-hindern. Ihr Ministerium werde, so die Meldung in dieserWoche, dem Bewertungsausschuss von Ärzten und Kran-kenkassen einen neuen Vorschlag für eine bessere Vergü-tung des medikamentösen Abbruchs unterbreiten. Ich zi-tiere Ministerin Fischer: „Ich werde dafür kämpfen, dassMifegyne bleibt.“
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Detlef Parr12470
Das sind starke Worte mit problematischem Gehalt.Wenn ein Hersteller sein Produkt vom Markt nehmenwill, dann ist das eine rein wirtschaftliche Entscheidung.Eine solche Entscheidung gehört auch zum legitimenGeschäftsinteresse eines jeden Unternehmens. Auf jedenFall ist es keine Frage der Politik, zumal es sich bei demPräparat Mifegyne nicht um einen unwidersprochenenSegen für die Menschheit handelt, den wir politisch un-bedingt, wie Sie das immer nennen, fördern müssten.Nein, hier geht es um ein Abtreibungspräparat eines flo-rierenden Pharmakonzerns. Schon bei der Einführungdieses Präparats hat sich die Bundesregierung, allen voranKanzler Schröder und seine Ministerin Bergmann, in ei-ner bedenklichen Grauzone bewegt. Ich will hier nichtvon Lobbyismus sprechen und auch keinen solchen Vor-wurf erheben.Aber zur Sache. Fakt ist, dass sich dieses Präparatschlecht verkauft. Der Pharmakonzern will den Vertriebin Deutschland einstellen. Punkt. Was sind die Gründedafür? Die F.D.P. meint, der Sondervertriebsweg für dasPräparat sei schuld, und will diese Sonderregelung än-dern.
Das ist der Kern des F.D.P.-Antrages, über den wir hierdebattieren.
Im vergangenen Jahr, als es um die Einführung von Mi-fegyne ging, standen zwei Vorschläge, zwei klare Alter-nativen für den Vertriebsweg zur Diskussion. Die Regie-rung hat vorgeschlagen, die Apotheken außen vor zulassen, wollte also einen Vertriebsweg ohne Apotheken.Wir plädierten indes zusammen mit der F.D.P. für die di-rekte Belieferung der Ärzte durch die Apotheken, also füreinen Vertriebsweg mit den Apotheken.Dann hatten wir im Gesundheitsausschuss eine An-hörung. Das Ergebnis der Anhörung war im Übrigen ein-deutig: Alle Sachverständigen – ich betone: alle – habensich für einen Vertriebsweg über die Apotheken ausge-sprochen. Selbst die auf Wunsch der SPD extra aus Frank-reich angereiste Sachverständige Dr.Aubeny aus Paris hatden deutschen Vertriebsweg über die Apotheken für vor-bildlich erklärt.Nur die Bundesregierung bzw. die Gesundheitsminis-terin und die sie tragenden Fraktionen waren gegen dieApothekenlösung. Sie wollten unbedingt eine Sonderre-gelung und haben sie gegen jeglichen Sachverstanddurchgeboxt.
Jetzt haben wir ein Fiasko auf der ganzen Linie. HättenSie nur damals wenn schon nicht auf uns, so zumindestauf Ihre eigenen Experten gehört! Das Lamentieren überdiese permanenten Fehlentscheidungen aber hilft unsheute leider nicht weiter. Gestehen Sie diesen Fehler einund nehmen Sie diese vermurkste Sonderregelung zu-rück! Wir hätten zumindest ein Problem weniger.
Wenn ich aber Frau Fischer in ihren Meldungen richtigverstehe, denkt sie nicht daran, die in Bezug auf den Ver-triebsweg bestehende Sonderregelung zurückzunehmen.Vielmehr erwägt sie, eine weitere Sonderregelung, näm-lich bei der Vergütung der Ärzte, hinzuzufügen. Richtigist, dass die Ärzte derzeit für den chirurgischen Abbruchrund doppelt so viel Geld bekommen wie für den medi-kamentösen Schwangerschaftsabbruch. Grund ist die zu-sätzliche Vergütung der Nutzung der Geräte. Der Vor-schlag, jetzt den medikamentösen Schwangerschafts-abbruch einfach höher zu vergüten, damit die Ärzte mehrPillen verschreiben, ist ein weiterer Systembruch. Siewollen eine Sonderregelung, die einen Präzedenzfallschaffen würde, der den Druck auf die Vergütung andererLeistungen erhöht.Zudem – das muss ich hier ganz deutlich sagen – be-leidigen Sie mit diesem Vorstoß jeden Arzt und jede Ärz-tin. Die Ärzte in unserem Land sind doch keine „Schläch-ter“, die nur um des Geldes willen einen chirurgischenEingriff bevorzugen und vermeintlich sanftere Methodenausschließen. Nein, Ärzte und Frauen wollen Mifegyneoftmals nicht einsetzen, weil Mifegyne in der Praxis ebennicht so sanft ist, wie Sie das immer bezeichnen.
Sie machen hier den Menschen etwas vor. Der Schwan-gerschaftsabbruch mit Mifegyne ist eine enorme psychi-sche und auch körperliche Belastung der Frauen.
Eine vermurkste Sonderregelung kann man nicht durchweitere Sonderregelungen ausbessern – so geht es nicht –,
zumal Sie den Bewertungsausschuss gar nicht zwingenkönnen, den Schwangerschaftsabbruch mit Mifegyne auf-zuwerten.Bevor Sie an das System der Vergütung herangehen,sollten Sie einmal zum Beispiel nach Baden-Württembergschauen. In Baden-Württemberg – Frau Wester hat es an-gedeutet – sind die Kassenärztlichen Vereinigungen, diedie Vergütung beim rechtmäßigen Abbruch festlegen, umMitteilung gebeten worden, welche Positionen des Ein-heitlichen Bewertungsmaßstabes bei einem medika-mentösen Schwangerschaftsabbruch in Ansatz gebrachtwerden können. In Baden-Württemberg wird im Rahmendes § 3 Abs. 3 HIG aufgrund einer Liste der abrech-nungsfähigen Positionen verfahren. Auf dieser Liste fin-den sich Positionen, die der Bewertungsausschuss bei derKassenärztlichen Bundesvereinigung noch nicht als ab-rechnungsfähig ansieht, vor allem was die Nachsorge an-belangt. Diese Divergenz führt dazu, dass es in Ländern,die sich nur auf die Beurteilung des Bundesausschussesstützen, zu einer anderen Handhabung und damit auch zueiner anderen Vergütung kommen kann als zum Beispielin Baden-Württemberg. Das heißt, in Baden-Württem-berg ist über das Schwangerenhilfegesetz eine adäquateHandhabung der Vergütung möglich.
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Annette Widmann-Mauz12471
Es ist also kein weiterer Systembruch notwendig. Per-manente Sonderregelungen helfen hier nicht weiter. Des-halb müssen wir zunächst im Gesundheitsausschuss die-sen heute vorgelegten Gesetzentwurf intensiv beraten.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Monika
Knoche vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Her-
ren und Damen! Dieses Thema war noch nie dazu geeig-
net, ideologische Debatten zu führen. Dies sollten wir
auch heute Abend nicht tun. Allen war klar: Wenn ein
Hersteller plant, in Deutschland ein Produkt auf den
Markt zu bringen, das Frauen in den engen Grenzen der
Arzneimittelzulassung und des § 218 des Strafgesetzbu-
ches einen hormonell eingeleiteten Schwangerschaftsab-
bruch ermöglicht, dann entscheidet darüber nicht die Po-
litik. Das war sehr wichtig zu vermitteln. Dies ist eine
Entscheidung, die an sich beim BfArM liegt.
Nicht die hier angesprochene Frage, ob eine Verände-
rung des Vertriebsweges zu einer höheren Indikationsstel-
lung in Bezug auf den hormonellen Schwangerschaftsab-
bruch führen wird, ist von Bedeutung. Vielmehr sollte
zusammen mit der betroffenen Frau in der ärztlichen Pra-
xis die Entscheidung getroffen werden, welcher Weg der
richtige ist.
Niemand von denen, die die Debatte kennen, hat ange-
nommen oder prognostiziert, dass die Einführung eines
solchen Präparats zum vollständigen Ersatz anderer Ver-
fahren führen würde. Dies liegt schon in der Natur der Sa-
che, denn Mifegyne stellt zwar in einem sehr frühen
Schwangerschaftsstadium das wirksamste Mittel dar, aber
viele Schwangerschaftsabbrüche finden auch aufgrund
der Zwangsberatung etwas später statt. Aber das soll hier
jetzt nicht weiter vertieft werden.
Die Schwierigkeiten, die die Ärztinnen und Ärzte, die
diesen Schwangerschaftsabbruch durchführen, haben, lie-
gen, objektiv betrachtet, wirklich in den Grundlagen der
Honorierung dieser Leistung. Zu dem Zeitpunkt, zu dem
das Schwangerenhilfegesetz gemacht wurde, war Mi-
fegyne noch nicht am Markt. Die besonderen Leistungen,
die zu einer korrekten Behandlung mit diesem Präparat
gehören, sind in dem Leistungsgeschehen nicht abgebil-
det. Deshalb kann das auch nicht honoriert werden.
Das bedeutet also: Wir als Gesetzgeberinnen und Ge-
setzgeber haben hier überhaupt nicht über Defizite oder
falsche Vertriebswege zu reden, sondern es gibt schlicht
und einfach durch die Tatsache, dass dieses Präparat jetzt
eingesetzt werden kann, seitens des Bewertungsausschus-
ses einen Nachholbedarf, dies im Leistungsgeschehen
adäquat abzubilden.
Es sind viele Diskussionen geführt worden, ob denn
nun die Gesetzgebung hier unterstützend begleiten kann.
Wir wissen, das SGB V ist der falsche Ort dafür. In den
§ 218 StGB zugehörigen Gesetzesregelungen sind in An-
erkennung der Besonderheit der nicht medizinisch be-
gründeten Abtreibung Regelungen vorgegeben worden,
welche sachgerechte Ausstattung eine solche Praxis ha-
ben soll.
Es bleibt hier also noch einmal der deutliche Appell:
Der Bewertungsausschuss muss nachvollziehen, was der
Gesetzgeber gewollt und was sich durch eine Verbreite-
rung der Maßnahmen, der medizinischen Möglichkeiten
ergeben hat. Wir als Gesetzgeberinnen und Gesetzgeber
werden genau beobachten, ob die Leistungserbringer hier
die notwendigen Nachregulierungen vornehmen. Ande-
renfalls müssen wir bei einer sehr zeitnahen Beobachtung
auf andere Weise darauf hinwirken, dass Frauen in der
ärztlichen Praxis tatsächlich eine Entscheidungsalterna-
tive haben und dass Frauen – wir haben vor eineinhalb
Stunden über eine frauengerechte Gesundheitsversorgung
gesprochen – nicht durch Hindernisse, die in ärztlicher
Honorierung oder falscher Bewertung begründet sind, da-
ran gehindert werden, den Schwangerschaftsabbruch in
der für sie richtigen Form durchführen zu lassen.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich nun der Kollegin Leutheusser-
Schnarrenberger von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Recht herzlichen Dank, Herr Präsident! – Ihr Wortbeitrag,Frau Knoche, veranlasst mich zu einer Kurzintervention.Ich habe den Eindruck, dass die Relationen und Gewichtein dieser Debatte bisher nicht richtig gesehen oder ver-schoben werden.Natürlich ist es gut, wenn wir an die Firma appellieren,das Präparat auf dem Markt zu lassen. Aber wenn die Be-dingungen nicht stimmen, dann – das wissen wir alle dochganz genau – wird dieser Appell nicht einmal diesenRaum verlassen
und wir werden draußen nicht ernst genommen werden,wenn wir es allein dabei bewenden lassen.Wenn Analysen und Untersuchungen ergeben, dass esHindernisse gibt, die mit dazu beitragen, dass dieses Me-dikament, das nach Entscheidung des Arztes eben eineschonendere Methode des Abbruchs sein kann, keine An-wendung findet, müssen wir uns hier als Vertreterinnenund Vertreter der Politik überlegen, womit wir – nebenden Appellen – unseren Beitrag leisten können.
Ich muss ganz ehrlich sagen, mir fehlt aufseiten der Re-gierungskoalition ein bisschen die Aufgeschlossenheit ge-genüber Überlegungen, wo wir gemeinsam ansetzen kön-nen.
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Annette Widmann-Mauz12472
Wir wissen: Allein der Vertriebsweg wird es nicht rich-ten. Aber dass das bis zu 30 oder 40 DM zusätzliche Kos-ten bedeutet, weiß jeder, der sich mit der Firma in Ver-bindung setzt, sich nach Fakten erkundigt und sich einmalwirklich über diesen Sachverhalt informiert.Nur an diesem Punkt versuchen wir als F.D.P.-Fraktionanzusetzen und zu sagen: Da, wo wir es in der Hand ha-ben, durch Gesetzesänderungen die vorhandenen Hürdenzu beseitigen, sollten wir das auf alle Fälle tun.Ich weiß, dass der Bewertungsausschuss selbstständigist und man ihm keine Weisungen geben kann, sondernAppelle an ihn richten und Gespräche mit ihm führenmuss. Aber ich fände es unverantwortlich, wenn wir jetzt,nachdem wir uns seit 25 Jahren mit dem Abtreibungsrechtbeschäftigen, nachdem wir uns viele Jahre lang – auch ge-gen damalige Mehrheiten in der Regierungskoalition – alsFrauen über die Fraktionsgrenzen hinweg für diese Pilleeingesetzt haben, nicht einen gemeinsamen Weg fänden,wenigstens das zu tun, was in unserer Macht steht.
Frau Kol-
legin Knoche, möchten Sie erwidern? – Bitte schön.
Man muss dies jetzt auch nicht übermäßig inszenieren.
Aber, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, weil
Sie mich darauf angesprochen haben: In Ihrem Antrag re-
duzieren Sie die Problematik in der Tat auf eine Verände-
rung des Vertriebsweges.
Sie erkennen an, dass der Politik ein Hineinregulieren
in den Bewertungsausschuss nicht möglich ist.
Ich habe doch in sehr deutlichen Worten gesagt, dass
wir damit nicht am Ende der Möglichkeiten sind. Wichtig
ist mir, deutlich zu machen, dass wir hier im Parlament
insgesamt ein sehr starkes Interesse daran haben, diese
Möglichkeiten in der Praxis auch zur Anwendung kom-
men zu lassen. Ich denke nicht, dass es nur in diesem
Raum bleibt oder verpufft, wenn wir von hier aus noch
einmal diese deutlichen Worte an die ärztliche Selbstver-
waltung richten, im Bewertungsausschuss die notwendi-
gen Korrekturen vorzunehmen.
Ich bin nicht der Überzeugung – davon war auch in der
Anhörung zur Einführung die Rede; wir haben gesagt, wir
beobachten das –, dass dieser Sondervertriebsweg ein
Hindernis zur Verordnung darstellt. Sie werden sich erin-
nern, dass wir damals auch gehört haben, das Präparat
werde sich, wenn wir den Weg über die Apotheken wähl-
ten, nicht verbilligen und dies werde auch die Zugäng-
lichkeit zu dem Präparat nicht verändern.
Es handelt sich also um eine Debatte, die zu dem Ziel
Ihres Antrags, das zugrunde liegende Problem im ge-
meinsamen Interesse zu lösen, keinen wirklichen Beitrag
zu leisten vermag, denn dieses jetzt aufgekommene Pro-
blem resultiert maßgeblich aus der nicht sachgerechten
Honorierung der Leistungen.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Petra Bläss von der
PDS-Fraktion das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Allein dass wir heute darüber disku-tieren müssen, ob und wie Frauen mithilfe des Medika-ments Mifegyne abtreiben können, ist schlimm genug.Durch die offizielle Zulassung im vergangenen Jahrhaben Frauen in einer ohnehin schwierigen persönlichenSituation nun die Möglichkeit, die sie am wenigsten be-lastende Methode zum Schwangerschaftsabbruch zuwählen – leider muss man sagen: vorausgesetzt, sie zah-len selbst. Sind die Frauen auf finanzielle Unterstützungangewiesen, haben sie diese Wahl nämlich derzeit nicht,denn der Abbruch mit Mifegyne wird von den Ländern sogering honoriert, dass die Ärztinnen und Ärzte de factodas Medikament nicht bzw. kaum einsetzen. Dies führtdazu, dass Mifegyne ganz vom Markt verschwinden wird,wenn wir nicht eingreifen.Ich will an dieser Stelle auch noch einmal sagen: Hiergeht es nicht darum, dieses Medikament ohne irgendwel-che Einschränkungen hochzuloben. Bei den Debatten, diewir anlässlich der Zulassung geführt haben, ging es wirk-lich nur um eine gleichberechtigte Möglichkeit für denAbbruch. Ich finde auch, dass es uns Parlamentarierinnenund Parlamentariern überhaupt nicht zusteht, Debattenüber die medizinische Seite zu führen. Wir haben es hiertatsächlich mit einem komplexen Problem zu tun und allevorgeschlagenen Lösungen, über die diskutiert wird, sindin der Tat widersprüchlich.Ich halte es für einen Skandal, dass die Durchführungdes medikamentösen Abbruchs an privatwirtschaftlichenKalkulationen scheitern könnte. Skandalös ist auch, dasssich niemand wirklich für zuständig hält. Es kann dochnicht sein, dass sich alle Beteiligten auf dem Rücken derFrauen gegenseitig die Verantwortung zuschieben.
Deshalb ist jetzt das Parlament gefordert. Wir müssen eineLösung finden.Wie bereits in der Debatte betont worden ist: UnserEinfluss als Politikerinnen und Politiker auf den Bewer-tungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen ist in derTat begrenzt. Dieser ist autonom und hat schon mehrfachbekundet, dass er die Leistungskennziffern nicht ändernwird. Also müssen wir den Weg über die Gesetzgebungbeschreiten.Uns liegt jetzt der Gesetzentwurf der F.D.P.-Fraktionvor, der sich vor allem gegen den Sondervertriebsweg vonMifegyne wendet. Ich muss mich der Position der Kolle-gin Wester und der anderen Kolleginnen anschließen; ich
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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger12473
sehe hierin tatsächlich nicht das Kernproblem. Es ist einProblem, aber nicht das Hauptproblem.
Die Verluste der Firma Femagen werden sich auchdann nicht wesentlich verringern, wenn sie die 30 Markpro Lieferung sparen kann. Der Verkauf in Deutschlandbeträgt tatsächlich nur etwa ein Zehntel des französischenUmsatzes. Das liegt eindeutig an der schlechteren Hono-rierung der ärztlichen Leistungen.
Deshalb müssen wir hier ansetzen.Über Ergänzungen im Schwangerschaftskonfliktge-setz und im Schwangerenhilfegesetz können wir festle-gen, dass bei medikamentösem Abbruch ein höherer Zeit-aufwand für Beratung und Betreuung honoriert wird.Und wir sollten eindeutig festlegen, dass die Länderbei der Übernahme der Kosten für Schwangerschaftsab-brüche nicht an den Bewertungsausschuss gebunden sind.Dann – und nur dann – könnte eine bundeseinheitlichePauschalvergütung für alle ambulanten Abbrüche festge-legt werden. Der medikamentöse Abbruch stünde gleich-berechtigt neben dem operativen und die Frauen hättentatsächlich Wahlfreiheit.Wenn wir uns darauf nicht verständigen können,schlage ich vor, auf Bundesebene ein Budget einzurich-ten, das die höheren Kosten von medikamentösenSchwangerschaftsabbrüchen übernimmt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten nicht ver-gessen, dass es sich bei Mifegyne nicht um ein normalesMedikament handelt. Eine ungewollte Schwangerschaftist keine Krankheit, die wie ein Gebrechen behandelt wer-den kann. Es geht um nicht weniger als um das Selbstbe-stimmungsrecht von Frauen und das ist bekanntlichdurch den § 218 StGB ohnehin unzumutbar einge-schränkt. Solange er nicht ersatzlos gestrichen ist – ichkann es nicht oft genug sagen –, werden wir hier immerwieder solche Probleme wie das heute zur Debatte ste-hende diskutieren müssen.Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es in die-sem Hause schon keine Mehrheit für die Festschreibungdes Selbstbestimmungsrechts von Frauen gibt, dann las-sen Sie uns jetzt wenigstens eine Lösung finden, die denbetroffenen Frauen nicht noch weitere Steine in den Weglegt, sondern die Möglichkeit des medikamentösen Ab-bruchs rettet.Ich danke Ihnen.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Christa Nickels
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Schö-nen Dank, Herr Präsident! Ich möchte kurz auf das einge-hen, was die Kollegin Bläss gesagt hat. Frau Kollegin Bläss,es ist ja so, dass der Gesetzgeber bestimmte Möglichkeitenhat, Regelungen zur Durchführung eines Schwanger-schaftsabbruchs zu treffen. Dies hat er im SGB V, imSchwangerenhilfegesetz und im Schwangerschaftskonflikt-gesetz – § 13 – gemacht.Wir haben – Herr Kollege Parr, das haben wir in eineranderen Debatte heute schon einmal gesagt –, angesichtsdes gegliederten Krankenkassenwesens, in dem auch dieSelbstverwaltungsorgane weit reichende Rechte haben– Stichwort Bewertungsausschuss –, und angesichts derTatsache, dass wir eben keine Staatsmedizin haben, son-dern natürlich auch Unternehmer in gewisser Weise agie-ren,
nicht die Möglichkeit, hier wie Rumpelstilzchen aufzu-stampfen und zu sagen: So geht’s! Man kann das so nichteinfach machen; man muss auch dann, wenn es Schwie-rigkeiten gibt, wenn man bestimmte Sachen will, dendafür vorgesehenen Weg gehen. Dieser Weg ist von denbeiden zuständigen Häusern in enger Absprache konse-quent beschritten worden. Es ist so gewesen, Frau Bläss,dass wir von Anfang an intensiv mit dem Bewertungsaus-schuss gesprochen haben, und zwar in Ausschöpfung derMöglichkeiten, die bestehen. Man darf nämlich keinePräzedenzfälle schaffen, die unter Umständen in das ge-samte Krankenkassenwesen eingreifen, die zum Beispielfür den Bereich „Ambulantes Operieren“ unwirtschaftli-che Strukturen vorantreiben. Das ist eine komplexe Mate-rie. Ich kann mich gern noch einmal mit Ihnen hinsetzenund das erläutern.Wir haben das Problem ausgelotet. Eine Frage dabeiwar: Schreibt § 13 Schwangerschaftskonfliktgesetz vor,dass in allen entsprechenden Einrichtungen auch tatsäch-lich die Möglichkeiten für operative Eingriffe vorzuhaltensind? Wir haben das federführende Ministerium dazu be-fragt. Es hat dies bestätigt. Das ist ein Punkt, der im Be-wertungsausschuss immer noch strittig ist. Wenn es hiereinen Ansatzpunkt gibt, dann nur aufgrund der spezialge-setzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, dernicht medizinisch indiziert ist. Hierzu und auch bezogenauf die Frage des Beratungsbedarfs, der noch nicht abge-golten zu sein scheint, werden Gespräche geführt. Das istder eine Punkt.Der andere Punkt betrifft das, was auch Sie, Frau Kol-legin Bläss, hinsichtlich des Sondervertriebsweges an-gesprochen haben: Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie gesagthaben: Das ist nicht das eigentliche Problem. Ich möchtedas noch einmal erläutern. Hier wird nicht gesagt, dassdieser Sondervertriebsweg sehr viele Vorteile hat: DieAnonymität der Frauen ist sowohl in den Apotheken alsauch gegenüber dem Unternehmer absolut gewahrt.Im Vorfeld ist von bestimmten Kreisen ganz massiv dieGefahr des Missbrauchs und der Abzweigung gemutmaßtworden. Diese ist mit dem Sondervertriebsweg absolutausgeschlossen. Die Verfügbarkeit in 20 000 Apothekenwurde von vielen als zu breit angesehen. Das war einPunkt.Der Sondervertriebsweg ist auch nicht teurer. BeimVertrieb über Apotheken fielen 16 Prozent Mehrwert-steuer und 40 bis 50 Prozent Großhandels- und Apothe-kenvertriebskosten an.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Petra Bläss12474
Es stimmt nicht, dass das der Hauptpunkt ist. Dasmöchte ich auch in Richtung F.D.P. noch einmal sagen.Ich bin froh, Frau Bläss, dass Sie das noch einmal ange-sprochen haben.
Frau Kol-
legin Nickels, bitte kommen Sie zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – Es ist natürlich ein Problem,
wenn sich ein Unternehmen am Anfang der Markteinfüh-
rung eines Medikaments mit der Tatsache konfrontiert
sieht, dass es erst langsam anläuft. Dazu muss man Lö-
sungen finden. Dazu gibt es auch marktwirtschaftliche
Möglichkeiten. Hier muss gesprochen werden. Aber das,
was hier vorgeschlagen wird, ist nicht hilfreich.
Frau Kol-
legin Bläss, Sie haben Gelegenheit zu erwidern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Nickels, so dank-
bar ich Ihnen für die fachlichen Erläuterungen bin, ver-
stehe ich doch Ihre Aufregung nicht. Wir sind in der guten
Situation, dass wir jetzt endlich eine parlamentarische
Vorlage haben, um in den Fachausschüssen diskutieren zu
können. Ich bin dafür, dass dort ganz präzise und transpa-
rent deutlich gemacht wird, wo es Möglichkeiten für An-
ordnungen welcher Stellen gibt.
Es ist einfach so, dass die Öffentlichkeit nicht adäquat
informiert worden ist. Das laste ich Ihnen nicht an. Das ist
einfach eine hochkomplizierte Materie.
Wir sollten gemeinsam gucken: Wo haben wir tatsäch-
lich gesetzgeberischen Handlungsbedarf? Das sehe ich
nicht als schon abgegolten. Ich sehe durchaus die Mög-
lichkeit und die Chance, dass wir hier wirksam handeln.
Denn die Praxis im letzten Jahr hat gezeigt, dass es allein
über Appelle nicht weitergeht.
Als
nächster Redner hat der Kollege Hansjörg Schäfer von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Nachdem jahrelang Schwanger-schaftsabbrüche in Deutschland ausnahmslos chirurgischdurchgeführt wurden, bietet sich seit mittlerweile einemJahr die Möglichkeit zum medikamentösen Abbruch. DieErfahrungen mit dieser Methode sind in der Bundesrepu-blik genau wie in anderen Ländern, in denen diese Me-thode angewandt wird, hervorragend. Der Abbruch mitMifegyne ist eine schonende, von den betroffenen Frauenhöchst akzeptierte Methode. Die Erfahrungen zeigen,dass die physische, vor allem aber auch die psychischeBelastung deutlich geringer ist. Es kann festgestellt wer-den: Der Schwangerschaftsabbruch mit Mifegyne ist eineschonende, sichere und das Leid der betroffenen Frauenbegrenzende Methode.
Trotzdem stößt diese schonende Art des Schwanger-schaftsabbruchs bei den durchführenden Ärzten vor allenDingen wegen der ungerechten Honorierung auf wenigGegenliebe. Die Folge ist, dass die Mehrzahl der Schwan-gerschaftsabbrüche immer noch operativ geschieht. Dasdürfte nach wie vor in mehr als 95 Prozent der Fälle sosein, wenn die statistischen Zahlen stimmen; Herr Parr,das kann ich hier nicht untersuchen.Mifegyne verstaubt in den Regalen der Vertreiber-firma. Die Firma hat angekündigt, sich bis zum Ende desJahres aus dem Vertrieb zurückzuziehen, zum einen, weilsich die Umsatzerwartungen nicht erfüllt haben, zum an-deren, weil sich der Vertrieb nach ihren Angaben defizitärgestaltet. Das ist eine innerbetriebliche Entscheidung derFirma, die ich hier nicht kommentieren möchte.Einen Gewinn zu erwirtschaften scheint für mich beieinem adäquaten Umsatz durchaus realistisch. Denn es istfestzuhalten: Der Verkaufspreis von Mifegyne schwanktin Europa zwischen 130 und 170 DM. Man könnte des-wegen von einem Firmenabgabepreis von etwa 100 DMausgehen. In Deutschland wird das Präparat zurzeit mit154 DM vergütet. Ich persönlich gehe deswegen davonaus, dass die französische Herstellerfirma Exelgyne wohlkeine Schwierigkeiten haben wird, einen neuen Vertreiberfür den deutschen Markt zu finden. Die Firma Exelgynehat bereits angekündigt, dass sie innerhalb der nächstenWochen einen neuen Vertreiber vorstellen wird. Wo liegtalso das Problem? Theoretisch könnte der Vertrieb auchaus anderen Mitgliedstaaten erfolgen, wenn die entspre-chenden deutschen Regelungen eingehalten würden. Daswürde zwar die Überwachung verkomplizieren, aber eswäre durchaus legal und möglich.Die im Entwurf der F.D.P. vorgesehene Alternative bie-tet keine Vereinfachung und birgt die Gefahr einer neuer-lichen Verteuerung des Medikaments. Vorgeschlagenwird ein anderer Vertriebsweg. Ähnlich wie bei der An-gabe von Medikamenten nach dem Betäubungsmittelge-setz würde ein besonderes Rezept die Abgabe in Apothe-ken erfordern. Wäre das eine Vereinfachung? – Ich glaubenicht. Zumindest die Dokumentation des Vertriebs würdesich nicht vereinfachen. Auch für die Wahrung der Ano-nymität der Frau sehe ich zusätzliche Probleme. Sie habendarauf hingewiesen.Sicher ist: Es würden höhere Kosten entstehen. Somuss man auf jeden Fall mit Aufschlägen für die Mehr-wertsteuer und für die Kosten des Großhandels und derApotheken rechnen. Dies würde den Abgabepreis, jedochnicht den Gewinn der Firma erhöhen. Hinzu kommt, dassder jetzige Vertriebsweg durch die Direktabgabe sicherererscheint. Die Entstehung eines Schwarzmarktes ist beidem bisherigen Weg mit hoher Wahrscheinlichkeit ausge-schlossen.Was können wir stattdessen tun, um die existierendenProbleme zu lösen? – Wir können dafür sorgen, dass die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Christa Nickels12475
Hindernisse für den Einsatz von Mifegyne aus dem Weggeräumt werden. Hindernisse sind zum einen Details desVertriebsweges und zum anderen die nicht angemesseneBezahlung der ärztlichen Leistung.
Es ist angebracht, über eine Verfeinerung des Ver-triebsweges nachzudenken. Bisher darf nur eine sehr be-grenzte Packungszahl geliefert werden. Das können wirändern. Denkbar wäre, dass die prospektive Jahresmengean die zugelassenen Ärzte ausgeliefert und dann im ein-zelnen Fall nachrezeptiert wird. Diese mögliche Praxissetzt den logistischen Aufwand herab und senkt damit ent-scheidend die Vertriebskosten, ohne zulasten der Sicher-heit des Vertriebsweges zu gehen. Damit bliebe auch derPreis des Präparates in vernünftigen Grenzen. Sie sehen,dieses Problem ist recht einfach zu lösen und rechtfertigtauf keinen Fall einen Gesetzentwurf, der nur komplizier-ter macht, was einfach funktioniert.
– Genau zu diesem Gesetzentwurf spreche ich.Das zweite und weitaus gravierendere Problem ist dieHonorierung der ärztlichen Leistung. Das darf mannicht herabwürdigen; denn ich muss sagen: Die Leistungder Ärzte, die bisher Abbrüche durchgeführt haben, istsehr positiv zu sehen. Die Vorleistungen, die gemachtwerden, um einen OP vorzuhalten, müssen ebenfalls ge-sehen werden.
Die ausführenden Mediziner führen an, dass Leistungund Entgelt nicht in einem korrekten Verhältnis zueinan-der stünden. Der zeitliche, räumliche und personelle Auf-wand werde nicht entsprechend honoriert. Der zeitlicheAufwand ist in der Tat recht hoch, was in der notwendi-gen und lang andauernden intensiven Überwachung derPatientinnen sowohl nach Einnahme von Mifegyne selbstals auch zwei Tage später nach der Einnahme von Pros-taglandinen begründet ist. Die Ausstattung der Praxenmuss der besonderen Situation gerecht werden. Weiterhinergeben sich besondere Anforderungen an das notwen-dige Fachpersonal. Sieht man von der Bereitstellung einesOperationssaals und der Anästhesie ab, ist der Aufwandfür medikamentöse und chirurgische Abbrüche durchausvergleichbar. Gleichwohl werden sie unterschiedlich ho-noriert.Eine Lösung könnte in der verbesserten Vergütung derÜberwachungszeit liegen. Die empfohlene Dauer dieserÜberwachung von vier Stunden nach der Einnahme derProstaglandine wird derzeit überhaupt nicht vergütet.Dies könnte ein Ansatz für die weitere Diskussion sein.Der Ansatz der F.D.P. eignet sich nicht dazu, die ange-sprochenen Probleme zu lösen. Er bietet keinen korrektenAnsatz zur Verbesserung der Honorarsituation. Es istkeine Lösung, dass – so wie es Ihr Antrag vorsieht – dierechtlich geduldeten Abbrüche im Rahmen der Fristenlö-sung durch die Bundesländer besser vergütet werden sol-len als die medizinisch indizierten Abbrüche. Dies kannnicht gewünscht sein und tritt als Lösung deutlich zu kurz.Die bei der Verwendung von Mifegyne aufgetretenenProbleme sind für meine Begriffe nicht dazu geeignet,längst geschlagene Schlachten erneut zu schlagen; dazusind die Gemeinsamkeit in diesem Haus zu groß und dieDifferenzen zu gering.
– Herr Kollege, die Diskussion haben wir vor Monatenund Jahren geführt. Sie hier bei jedem Moment wieder an-zuführen macht Ihre Meinung nicht bedeutend besser.Es geht hier um den praxisnahen Einsatz einer gutenMethode und um deren Bezahlung im Interesse der be-troffenen Frauen – um sonst nichts.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Anke Eymer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegenund Kolleginnen! Es kann heute nicht Sinn dieser Debattesein – das war es bisher auch nicht –, die Auseinanderset-zungen über den Schwangerschaftsabbruch erneut hier imBundestag zu führen.
Denn die Grundsatzentscheidung ist gefallen. Gemein-sam haben wir festgestellt, dass es Aufgabe der Politik ist,ungeborenes Leben zu schützen. Nicht eine scheinbareErleichterung des Schwangerschaftsabbruchs ist Inhaltder politischen Auseinandersetzung. Vielmehr müssen dieKonzepte zum Schutz des entstehenden Lebens und zurFörderung von Eltern und Kindern weiter ausgebaut wer-den.Wir dürfen uns durch diese Diskussion um ein Mittelzum Schwangerschaftsabbruch nicht von unserem ge-meinsamen Anliegen ablenken lassen, schwangerenFrauen in Konfliktsituationen Hilfe anzubieten, um sie fürdas ungeborene Leben zu gewinnen.
Hat die Frau jedoch nach gesetzlich vorgeschriebenerBeratung die Entscheidung getroffen, die Schwanger-schaft abzubrechen, dann ist die Anwendung von Mi-fegyne nicht die angeblich schonendere Methode. Dennes muss darauf hingewiesen werden, dass seine Anwen-dung nach bisherigen Erkenntnissen zu zahlreichen
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Dr. Hansjörg Schäfer12476
erheblichen gesundheitlichen Risiken und schweren psy-chischen Folgen für die Frau führen kann.
Ich halte den Versuch, zu suggerieren, dass diese Methodeein sanfter Schwangerschaftsabbruch sei, für verantwor-tungslos.
– Herr Kollege, warten Sie doch erst einmal ab, was ichweiter zu sagen habe.Das Hormonpräparat Mifegyne ist – soweit wir wis-sen – keinesfalls unproblematisch. In Frankreich ist dieAnwendung von Mifegyne auf Frauen unter 35 Jahreneingeschränkt. Sie müssen zusätzlich eine stabile Ge-samtverfassung aufweisen und dürfen keine Raucherin-nen sein. Nicht umsonst wird eine umfassende ärztlicheBetreuung bei einem Abbruch mittels Mifegyne für not-wendig gehalten. Neben Mifegyne müssen Wehen auslö-sende Mittel verabreicht werden; in manchen Fällen istzusätzlich ein chirurgischer Schwangerschaftsabbruchnotwendig.Es können – ich habe nicht gesagt: müssen – auch Ne-benwirkungen wie starke Blutverluste, Schmerzen undÜbelkeit auftreten. Keinesfalls darf unterschätzt werden,dass ein Abbruch durch Mifegyne erhebliche psychischeBelastungen für die Frauen mit sich bringen kann, da dieFrauen nicht nur die Entscheidung über den Schwanger-schaftsabbruch treffen, sondern den Abbruch selber vor-nehmen.Problematisch ist der Einsatz von Mifegyne insbeson-dere vor dem Hintergrund der Pflichtberatung. Da dasPräparat nur bis zur siebten Woche eingesetzt werdendarf, entsteht hinsichtlich der Entscheidung in einemSchwangerschaftskonfliktfall ein hoher zeitlicher Druck.Die Zielsetzung der Pflichtberatung, nämlich zum Lebenzu beraten, gerät in ernsthafte Gefahr, da der Zeitdruck ei-nen sorgfältigen und zeitintensiven Beratungsprozess ver-hindern kann. Das bedeutet, dass die Anwendung von Mi-fegyne besonders intensiver ärztlicher Beratung undUnterstützung bedarf.Es gibt auch Hinweise für die Vermutung, dass diepsychische Belastung bei einem Abbruch mit Mifegynefür manche Frauen größer ist als bei einem chirurgischenEingriff, weil die Frau durch die Einnahme der Pillen denSchwangerschaftsabbruch selbst auslöst und den Vorgangüber mehrere Tage hinweg bewusst an sich erlebt. Dabeiübernimmt die Frau eine aktive Rolle; stärkere Schuldge-fühle könnten die Folge sein. Auch von daher ist eine hel-fende Begleitung durch den Arzt notwendig und geboten.Aus all diesen Gründen ist es nicht verständlich, dassdiese Methode des Schwangerschaftsabbruchs finanziellanders abgegolten wird als der chirurgische Schwanger-schaftsabbruch,
zumal für eine Reihe von Frauen der Abbruch mittels Mi-fegyne der schonendere sein kann. Von daher kann esnicht Aufgabe des Bundesgesetzgebers sein, die Vergü-tung der Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Kran-kenversicherung an sich zu ziehen.
Aber die gesetzliche Krankenversicherung bleibt aufge-fordert, die Anpassung vorzunehmen.
Auch die Länder haben im Rahmen ihrer Zuständigkeitdie Aufgabe, diesen Frauen die Möglichkeit zu geben, denfür sie schonendsten Weg eines von ihnen gewünschtenSchwangerschaftsabbruchs zu wählen und diesen dannauch finanziell zu tragen.Über den Vertriebsweg muss in den Ausschussbera-tungen weiter diskutiert werden. Dabei muss es oberstesZiel sein, dass eine missbräuchliche Nutzung von Mi-fegyne ausgeschlossen ist.
Wir wollen den Frauen helfen, die sich nach ausführli-cher Beratung für einen Schwangerschaftsabbruch ent-scheiden.
Das Worthat jetzt die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk vomBündnis 90/Die Grünen.
legen! Ich möchte gerne wieder auf den Gesetzentwurfzurückkommen, den wir hier beraten. Zunächst begrüßeich es, dass sich die F.D.P. Gedanken darüber gemacht hat,wie ein mögliches Aus für den medikamentösen Schwan-gerschaftsabbruch verhindert werden kann. Immerhinkämpfen Frauen in allen Parteien seit Jahren dafür, dassdie gesundheitsschonendere – das ist sie in vielen Fällen –medikamentöse Abbruchmethode auch Frauen inDeutschland zur Verfügung steht.Frau Widmann-Mauz, Sie müssen sich in Ihrer Argu-mentation schon entscheiden: Sie sagen, Sie seien gegenMifegyne, aber für einen anderen Vertriebsweg.
Man ist entweder für das eine oder das andere.In nahezu allen europäischen Ländern ist die Pille er-hältlich. In Schweden wird jeder zweite Abbruch und inFrankreich jeder dritte Abbruch medikamentös vorge-nommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Dr. Hansjörg Schäfer12477
Frau Kol-
legin Schewe-Gerigk, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Widmann-Mauz?
Frau Kol-
legin Widmann-Mauz, bitte schön.
Frau Kolle-
gin Schewe-Gerigk, wollen Sie zur Kenntnis nehmen,
dass ich mich nie gegen dieses Präparat ausgesprochen
habe, dass ich im Übrigen bei der Frage der Einführung
bzw. des Vertriebsweges im Parlament bereits zweimal
gesprochen habe und jedes Mal gesagt habe: „Wenn
dieses Präparat den gesetzlichen Bestimmungen des
BfArM für die Einführung eines Schwangerschaftsprä-
parates entspricht, habe ich diese Entscheidung nicht zu
kritisieren“, dass ich aber sehr wohl eine andere Auffas-
sung bezüglich des besten Vertriebsweges für dieses Prä-
parat habe, wie ich dies bereits in der Vergangenheit im
Parlament zum Ausdruck gebracht habe? Durch die
Diskussion über den Vertriebsweg sehe ich meine Haltung
und die Haltung meiner Fraktion auch bestätigt.
werten, die Sie gerade gehalten haben. Darin ist für mich
zum Ausdruck gekommen, dass Sie gegen Mifegyne, aber
für einen anderen Vertriebsweg sind. Insofern habe ich
Ihre jetzigen Ausführungen zu bewerten und nicht das,
was Sie vorher einmal gesagt haben.
Nach einem Jahr muss festgestellt werden, dass ledig-
lich 2 bis 3 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche in
Deutschland mit Mifegyne vorgenommen werden. Herr
Parr, die Zahl, die Sie genannt haben – 6 Prozent –, kann
nicht stimmen. Ich kann Ihnen gleich die Zahlen des Sta-
tistischen Bundesamtes geben.
– Nein, es waren noch nie 6 Prozent. Wir müssen das jetzt
nicht diskutieren. Wie gesagt, ich gebe Ihnen die Zahlen
des Statistischen Bundesamtes.
Diese niedrigen Prozentzahlen haben den Hersteller
dazu veranlasst, das Mittel Ende dieses Jahres aus ökono-
mischen Gründen vom Markt zu nehmen. Damit hätten
Frauen in Deutschland keine Möglichkeit mehr, die für sie
am besten geeignete Abbruchmethode zu wählen. Dies
möchte die rot-grüne Koalition verhindern. Insoweit stim-
men wir mit dem Ziel, das die F.D.P. mit ihrem Gesetz-
entwurf verfolgt, überein. Dieser Entwurf ist allerdings
nicht geeignet, eine Lösung für das heutige Problem an-
zubieten. Er bietet nur eine Teillösung an.
Es ist mitnichten der Vertriebsweg, der den Einsatz von
Mifegyne erschwert. Der Sondervertriebsweg, der extra
wegen der gesetzlichen Regelungen des straffreien
Schwangerschaftsabbruchs gewählt wurde, erhöht zwar
die Kosten für das Medikament um 30 DM. Aber Han-
delsaufschläge für Großhändler und Apotheken in Höhe
von 40 Prozent fallen weg. Diese spart das Unternehmen
also ein. Insofern zählt auch das Preisargument nicht.
Die erheblichen Zusatzkosten, Frau Leutheusser-
Schnarrenberger, bestehen also nicht.
Dass die Ursache für die niedrige Verschreibungsrate
nicht der Vertriebsweg ist, kann sogar statistisch bewiesen
werden. Länder wie Baden-Württemberg und Schleswig-
Holstein verzeichnen im Vergleich zu anderen Bundes-
ländern einen höheren Einsatz von Mifegyne. Der Grund
liegt auf der Hand: Diese Länder zahlen den Ärzten ange-
messene Honorare. Genau da liegt auch das Problem.
Während für einen medikamentösen Abbruch 279 DM
inklusive 160 DM für die Pille gezahlt werden, ist die Er-
stattung für einen chirurgischen Eingriff mehr als doppelt
so hoch. Diese Sätze sind vom Bewertungsausschuss,
dem Selbstverwaltungsorgan der Ärzte und Krankenkas-
sen, festgelegt worden. Es hat sich jedoch herausgestellt,
dass der Satz für den medikamentösen Abbruch nicht aus-
reichend und angemessen ist; denn es wird ja nicht nur die
Pille verabreicht. Vielmehr sind umfangreiche Beratungs-
und Beobachtungszeiten notwendig. Herr Schäfer hat das
gerade sehr eindrucksvoll dargestellt.
Die Gesundheitsministerin hat nun angekündigt, dass
sie in den Ausschuss eine neue Vorlage einbringen
möchte, die eine bessere Vergütung vorsieht. Was daraus
wird, müssen wir abwarten. Es ist sicherlich richtig, wenn
erneut versucht wird, den medikamentösen Abbruch sach-
gerecht zu bewerten.
Frau Kol-
legin Schewe-Gerigk, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger?
Bitte
schön, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Schewe-Gerigk, ich frage Sie, ob Sie sich noch erin-nern, dass der Vorschlag vom 23. Oktober, die tatsächlichanfallenden Kosten bei der Behandlung mit Mifegyne imGesetz festzuschreiben, damit gewährleistet wird, dassLeistungen wie der Einsatz von medizinischen Apparatenauch bezahlt werden können, von Ihrer Fraktion gemachtworden ist. Wenn Sie dies jetzt im Rahmen eines eigenenGesetzentwurfes oder Änderungsantrages zu unseremGesetzentwurf einbringen würden, dann hätten wir eineGrundlage, auf der wir über viele Ansätze beraten und unseine eigene Meinung bilden könnten.
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zen auf ein Stufenverfahren. Zunächst einmal versuchenwir beim Bewertungsausschuss – hier liegt das eigent-liche Problem – Verständnis dafür zu wecken,
dass der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch nichtnur aus dem Verabreichen der Pille besteht,
sondern dass er auch Beobachtungszeiten von vier Stun-den und das Vorhalten von Apparaten für einen möglichenchirurgischen Eingriff notwendig macht. Genau darüberwird die Gesundheitsministerin mit den Mitgliedern desBewertungsausschusses sprechen. Das Ergebnis diesesGesprächs wollen wir abwarten.In der nächsten Stufe werden wir mit den Ländern ver-handeln. Auch Sie haben solche Verhandlungen mit denLändern in Ihrem Antrag gefordert, damit die Länderaufgrund entsprechender gesetzlicher Änderungen mehrfür den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch zah-len können. Das können die Länder schon jetzt. Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein zahlen schon heutemehr als die anderen Bundesländer. Das, was Sie fordern,ist schon aufgrund der jetzigen gesetzlichen Grundlagenmöglich.
– Warten Sie ab!Ich appelliere an dieser Stelle an den Bewertungsaus-schuss, eine sachgerechte Bewertung des medikamentö-sen Schwangerschaftsabbruchs vorzunehmen. Aufgrundder jetzigen Diskussion sieht man, wie dringend notwen-dig eine Neubewertung ist. Es wäre auch hilfreich, wenndie Ärzte selbst ihre Kollegen im Bewertungsausschussdavon überzeugen würden, dass die bisherige Honorie-rung des medikamentösen Abbruchs nicht adäquat ist.Den Weg, den Sie vorgeschlagen haben – die Länder ent-sprechend aufzufordern –, habe ich gerade schon ange-sprochen.Allerdings muss ich Folgendes sagen: Ich möchtenicht, dass es von einem einzelnen Bundesland abhängt,ob eine Frau frei wählen kann, welche Abbruchmethodefür sie die richtige ist.
Wenn sich die Länder hinsichtlich der angebotenenSchwangerschaftsabbruchmethoden unterschiedlich ent-scheiden, dann sollte man die Frauen nicht dafür bestra-fen, in welchem Bundesland sie leben. Daher bliebe fürmeine Fraktion als letztes Mittel, wenn dies alles nichtfruchtet – jetzt kommt das, worauf sie so lange gewartethaben, Frau Leutheusser-Schnarrenberger –, eine gesetz-liche Änderung und eine Klarstellung, welche Leistungenhonoriert werden müssen.
Eine mangelnde Finanzierung darf nicht verhindern, dassFrauen eine gesundheitsschonendere Methode vorenthal-ten wird. Dafür werden wir uns einsetzen. Ich hoffe, dassSie auf unserer Seite stehen werden.Vielen Dank.
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin
Ina Lenke von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin,ich platze fast vor Wut. Sie haben den Gesetzentwurfüberhaupt nicht richtig gelesen. Er besteht nämlich nichtnur aus einem Teil, sondern aus drei Teilen.
Es geht darum, dass die Kosten für ärztliche Leis-tungen nicht adäquat bezahlt werden.
Es geht aber auch um den Vertriebsweg. Sie haben IhreArgumentation sehr detailliert auf den Vertriebsweg ab-gestellt. Ich zitiere gleich zu Anfang Frau Bergmann:Wir sind in Deutschland offensichtlich die Oberide-ologen.
In anderen Ländern scheint es diese Probleme nichtzu geben.Diese ganze Diskussion zeigt: Appelle, Appelle, Appelleund nichts Konkretes von Ihnen.
Wir haben immer nur die Ablehnung unseres Entwurfesvor die Nase gesetzt bekommen, während Sie nichts Kon-kretes gemacht haben, nach dem Motto: Warten wir ein-mal ab! Schauen wir einmal! Wir wollen appellieren; viel-leicht kommt etwas. – Schon am vorletzten Freitag wolltedie Ministerin Fischer Ihnen etwas vorschlagen. Bisheute, Viertel vor neun, liegt nichts auf dem Tisch, obwohlSie die Möglichkeit gehabt hätten, zu dieser Diskussionetwas vorzulegen.
Frau Fischer hat uns zu Anfang, bei der Einführung vonMifegyne, im Stich gelassen. Da hat sie überhaupt nichtsgesagt. Schröder musste kommen und ein Machtwortsprechen.
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Was hier letztendlich abläuft, ist doch skurril.
Ich muss sagen, liebe Kollegen von der Regierung: Siehaben bisher nichts Konkretes vorgelegt. Wir haben einenGesetzentwurf eingebracht.
Das, was ich in der Fragestunde von Frau Niehuis gehörthabe, war genau das Gleiche, was Sie hier heute gemachthaben, Appelle nach dem Motto: Schauen wir einmal! Wirmüssen einwirken; aber eigentlich können wir nicht, weilder Bewertungsausschuss unabhängig ist. – Was soll denndas alles?Wir haben bald den 31. Dezember. Ich fange an, Weih-nachtsgeschenke einzukaufen.
Sie wissen, dass in der ersten Dezemberwoche die letzteMöglichkeit besteht, im Parlament noch in diesem Jahr et-was auf den Weg zu bringen. Was wollen Sie denn ei-gentlich?Unser Gesetzentwurf besteht aus drei Teilen; vieles istvon Ihnen vergessen worden. Der erste Teil betrifft dieÄnderung des Arzneimittelgesetzes. Der zweite Teil be-trifft die Änderung des Gesetzes zur Hilfe für Frauen beiSchwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen. Da-rauf sind Sie gar nicht eingegangen. Der dritte Teil betrifftdas Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung vonSchwangerschaftskonflikten. Wenn Sie sich ernsthaft mitdiesen drei Teilen unseres Gesetzentwurfs beschäftigt hät-ten, dann wären wir heute zu einem besseren Ergebnis ge-kommen.
Ich stelle hier fest: Die Bundesregierung macht nichts.Mifegyne wird am 31. Dezember vom Markt genommenwerden. Die F.D.P. wird die einzige Kraft gewesen sein,die, zum Beispiel mit ihrem Antrag, dagegen gekämpfthat. Die Leidtragenden werden die Frauen sein, die Mi-fegyne in Deutschland nicht mehr bekommen.
Frau Kol-
legin Lenke, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich lasse keine Zwischen-
frage zu. Frau Schewe-Gerigk würde nichts anderes als
Appelle oder sonst etwas von sich geben und das ist mir
politisch zu leichtgewichtig.
Wir von der F.D.P.-Fraktion, Herr Parr – da haben wir
einmal einen Mann, der für Fraueninteressen ein-
tritt –,
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, andere Frauen und ich
werden jedenfalls bis zum 31. Dezember weiterkämpfen,
damit etwas geändert wird. Mit Ihren Appellen erreichen
Sie nichts, überhaupt nichts.
Heute Abend haben wir gesehen, dass nichts Substanziel-
les in Ihren Reden vorhanden ist.
Wenn Sie noch etwas ändern wollen, dann bewegen Sie
sich in den Ausschusssitzungen inhaltlich auf unseren An-
trag zu. Wenn Sie Ihre politische Aussage wirklich in die
Realität umsetzen wollen,
wenn Sie die Wahlmöglichkeiten für Frauen erhalten wol-
len, dann können Sie nicht so herumreden. Mit Appellen
geht im Bundestag schon gar nichts.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 14/4289 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurBekämp-fung gefährlicher Hunde– Drucksache 14/4451 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten AlfredHartenbach, Margot von Renesse, Hans-JoachimHacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck
, Hans-Christian Ströbele, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENObligatorische Haftpflichtversicherung fürHunde– Drucksache 14/3825 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forstenc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. GuidoWesterwelle, Ulrich Heinrich, Dr. EdzardSchmidt-Jortzig, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P.
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Ina Lenke12480
Bevölkerung wirksam vor „Kampfhunden“schützen– Drucksache 14/3785 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenEs ist vereinbart worden, dass die Reden zu Protokollgegeben werden; sie liegen mir hier vor1). Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/4451, 14/3825 und 14/3785 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4451 soll zusätzlichan den Rechtssausschuss überwiesen werden. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten KlausBrähmig, Otto Bernhardt, Friedrich Bohl, weiterenAbgeordneten und der Fraktion der CDU/CSUeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eineeinmalige Entschädigung an die Heimkehreraus dem Beitrittsgebiet– Drucksache 14/4144 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschuss gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Klaus Brähmig von der CDU/CSU-Fraktion dasWort.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Heute, am Vorabenddes 9. Novembers, debattiert der Deutsche Bundestageinen Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktionüber eine einmalige Entschädigung an die Heimkehreraus dem Beitrittsgebiet.Sehr herzlich begrüße ich die Landesvorsitzenden desVerbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Ver-misstenangehörigen in Berlin und Brandenburg, HerrnEngert und Herrn Altmeyer, die auf der Tribüne des Ple-narsaals Platz genommen haben.
Gleichzeitig möchte ich die Gelegenheit nutzen, umIhrem Verband und seinen Verantwortungsträgern im Na-men der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Ihr jahrzehn-telanges ehrenamtliches Engagement im Dienste unsererKriegsgeneration Dank zu sagen.
Mit dem 9. November verbinde ich die schrecklichstenAbgründe und die positivsten Erscheinungen der deut-schen Geschichte im 20. Jahrhundert. Beide Termine sindin historischer Hinsicht eng mit dem Thema der heutigenDebatte verbunden.Als in der so genannten Reichskristallnacht am9. November 1938 organisierte Nazihorden durch deut-sche Städte und Gemeinde zogen, um dabei jüdische Ge-schäfte und Kultureinrichtungen zu zerstören bzw. inBrand zu setzen, als am 9. November 1938 deutsche Mit-bürger jüdischen Glaubens um ihres Glaubens willenmisshandelt, ermordet oder in Konzentrationslager einge-liefert wurden, als am 9. November 1938 der offene Ter-ror gegen Andersgläubige und Andersdenkende zur ober-sten Maxime des Nationalsozialismus erhoben wurde,hatte sich Deutschland dem eigenen Untergang geweiht.Die Reichskristallnacht ist der Kristallisationspunkt dernationalsozialistischen Ideologie, einer Ideologie, die nurauf Hass, Terror, Größenwahn, Kampf und Mord basierteund die sich letztendlich gegen das eigene Volk richtete.Am Ende des Zweiten Weltkrieges brach dann ein Sturmüber Deutschland hinweg, der bereits am 9. November1938 in Deutschland gesät worden war und an dessenEnde die totale Zerstörung Deutschlands, Millionen vontoten Soldaten und Zivilpersonen, Millionen von Kriegs-gefangenen und Verschleppten, Millionen von Heimat-vertriebenen und die deutsche Teilung standen.Der 9. November 1989 dagegen zeigt uns, dass einVolk aus seiner Geschichte lernen kann. Die monatelan-gen friedlichen Demonstrationen in der ehemaligenDDR und die Fluchtwellen von verzweifelten DDR-Bür-gern, die nicht länger auf Freiheit und Menschenrechteverzichten wollten, veranlassten das totalitäre Regime derSED zur Reformierung der Reisegesetze. Als am 9. No-vember das Politbüromitglied Günter Schabowski um18.57 Uhr in einer internationalen Pressekonferenz dieneuen Reisegesetze bekannt gab, brach sich der Ruf nachFreiheit einen Weg durch die Berliner Mauer. Jenes Sym-bol der Trennung und der Unfreiheit wurde durch dieDeutschen aus Ost und West förmlich überrannt. AmEnde dieser Entwicklung stand die friedliche und glückli-che Wiedervereinigung unseres deutschen Vaterlandes.Ohne die zwölfjährige Schreckensherrschaft der Na-tionalsozialisten, ohne den 9. November 1938, ohne denZweiten Weltkrieg hätte die deutsche Geschichte im20. Jahrhundert einen anderen Verlauf genommen. DochGeschichte ist nun einmal unumkehrbar und unauslösch-bar. Dieser Tatsache haben sich im westlichen TeilDeutschlands die Nachkriegspolitiker aller Parteien ver-pflichtet gefühlt und sich durch die umfangreichenKriegsfolgenbereinigungsgesetze zur politischen, morali-schen und finanziellen Verantwortung gegenüber den aus-ländischen und deutschen Opfern bekannt.Als Beispiel ist hier das Kriegsgefangenenentschädi-gungsgesetz zu nennen, das damals einstimmig von denMitgliedern des Deutschen Bundestages eingefordert undam 2. Juli 1953 mit den Stimmen aller Fraktionen bei we-nigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen ange-nommen wurde. Nach diesem Gesetz hat jeder in dieBundesrepublik Deutschland Heimgekehrte für jeden
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms12481
1) Anlage 3Kalendermonat in fremdem Gewahrsam ab 1. Januar1947 30 DM, ab 1. Januar 1949 60 DM Entschädigungund für längere Gefangenschaft weitere Nachzahlungenerhalten. Die Heimkehrer, die in die Westzonen bzw. dieBundesrepublik Deutschland entlassen wurden, hattendamit einen verbürgten Rechtsanspruch auf eine einma-lige Entschädigung. Während der Geltungszeit desKriegsgefangenenentschädigungsgesetzes wurden 1,4Milli-arden DM an die Heimkehrer in Westdeutschland ausge-zahlt. Später konnten weitere 500Millionen DM, die überdie Heimkehrerstiftung an bedürftige Heimkehrer gezahltwurden, dazu beitragen, das Leid dieser Gruppen zu lin-dern.Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Gegensatzdazu haben die Machthaber der SED-Diktatur eine Ver-antwortung für die Folgen des Zweiten Weltkriegs stetsgeleugnet. Dies betraf nicht nur die Entschädigungsleis-tungen an die jüdischen Opfer im In- und Ausland, son-dern auch Entschädigungsleistungen gegenüber Heimat-vertriebenen, Kriegsgefangenen und verschlepptenMitbürgern. Die Heimkehrer, die aus der Gefangenschaftin die sowjetische Besatzungszone bzw. DDR kamen, ha-ben dort nach ihrer Rückkehr gerade einmal 50 Ostmarkals Reisegeld erhalten. Seit 1993 konnten Heimkehrer ausdem Beitrittsgebiet auch Leistungen aus der Heimkehrer-stiftung in Anspruch nehmen. Bei diesen Zahlungen han-delt es sich allerdings um Zahlungen auf der Basis einerKann-Bestimmung, die individuell von der Bedürftigkeitder Einzelperson abhängig ist.Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktionwill 55 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegessicherstellen, dass die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebietihren westdeutschen Leidensgenossen gleichgestellt wer-den und es keine Zweiklassengesellschaft bei den Opferndes Krieges gibt. Die Forderung in unserem Antrag lautetdaher: Jeder Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet erhälteine einmalige Entschädigung für die Reparationsleis-tungen, die er durch die Zwangsarbeit während seinerKriegsgefangenschaft bzw. Geltungskriegsgefangen-schaft für das deutsche Volk erbracht hat.
Die Höhe der einmaligen Entschädigung für jeden Be-rechtigten beträgt, gestaffelt nach der Dauer des Gewahr-sams, für die Entlassungsjahrgänge 1947 und 19481 000 DM, für die Entlassungsjahrgänge 1949 und 19502 000 DM und für die Entlassungsjahrgänge ab 19513 000 DM. Ich bin mir mit meinen Kollegen ErwinMarschewski und Hartmut Büttner bewusst, dass diesePauschalbeträge lediglich als symbolische Geste für dasvor Jahrzehnten erlittene Unrecht verstanden werden kön-nen.
Bei einer Zahl von rund 30 000 Heimkehrern und20 000 zur Zwangsarbeit verschleppten Deutschen erge-ben sich für den Bund Kosten in Höhe von 90 MillionenDM, die im Haushalt 2001 eingestellt werden müssen.
Die genannten Zahlen beruhen auf Angaben des Statisti-schen Bundesamtes. Bei den Berechnungen der Gesamt-summe von 90 Millionen DM wurden die Erfahrungs-werte der Heimkehrerstiftung zu Hilfe genommen. Vonden circa 50 000 Anspruchsberechtigten entfallen danachjeweils 40 Prozent auf die Fallgruppen der Entlassungs-jahrgänge 1947/48 und 1949/50, weitere 20 Prozent ent-stammen den Entlassungsjahrgängen ab 1951.Die Ausführung dieses Gesetzes obliegt der bundesun-mittelbaren Stiftung des öffentlichen Rechts „Heimkeh-rerstiftung – Stiftung für ehemalige Kriegsgefangene“,die bereits seit 1993 Zahlungen an heute noch bedürftigeHeimkehrer aus dem Beitrittsgebiet leistet.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie bereitserwähnt, war in den 50er-Jahren die Entschädigung derdeutschen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter allenpolitischen Fraktionen des Deutschen Bundestages einbesonderes Anliegen; dieses mündete damals in ein Ge-setzeswerk, das von Vertretern aller Fraktionen getragenwurde. Daher haben sich Kollege Friedrich Bohl als Vor-sitzender des parlamentarischen Beirates des VdH und ichmich darum bemüht, mit anderen Fraktionen einen ge-meinsamen Antrag vor der Sommerpause vorzulegen.
Leider erhielt Herr Kollege Hacker von der Führung derSPD-Fraktion keine Rückendeckung für einen gemeinsa-men Antrag zu dieser Problematik. Als Begründung fürdie Ablehnung eines gemeinsamen Antrags wurde mir dieangespannte Finanzlage des Bundes genannt.Sie können sich sicher vorstellen, dass eine solche Ar-gumentation angesichts von sprudelnden Steuereinnah-men und zusätzlichen Milliardeneinnahmen aus denUMTS-Erlösen auf die Betroffenen und ihre Angehörigenwie Hohn wirkt. Weiterhin hat die anhaltende Debatte umdie Entschädigung für Zwangsarbeiter in Deutschlandeine zusätzliche Dynamik in diese Angelegenheitgebracht. Dies wurde mir in einigen persönlichen Ge-sprächen im Wahlkreis verdeutlicht. Deutsche Kriegsge-fangene und deutsche Zwangsarbeiter machten mir un-missverständlich klar, unter welchen Bedingungen sieReparationsleistungen für Deutschland unter anderem inder ehemaligen Sowjetunion erbringen mussten.Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei diesenGesprächen wurde kein Unmut über die Stiftungsinitia-tive „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ laut,die der Bundestag in seiner Sitzung vom 6. Juli 2000 aufden Weg gebracht hat. Vielmehr hörte ich in den Ge-sprächen Verbitterung darüber, dass das Leid, das dieseMenschen in den Gefangenenlagern erlebt hatten, sowohlin der DDR als auch in der Bundesrepublik Deutschlandfast völlig in Vergessenheit geraten ist. Einen Beweis fürdiese Behauptung sehe ich in der Tatsache, dass nur dieKollegen Otto Graf Lambsdorff, Wolfgang Bosbach undDr. Hans-Peter Uhl in der Debatte vom 6. Juli auf die Lei-den unserer Landsleute hingewiesen haben.Erfreulicherweise berichtet das Nachrichtenmagazin„Focus“ in dieser Woche ausführlich über die Situationder deutschen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Klaus Brähmig12482
nach der Kapitulation Deutschlands. Ich kann die Lektüreallen Kollegen nur empfehlen. Weiterhin sendet die ARDam 16., 21. und 22. November 2000 jeweils um 20.15 Uhr,also zur besten Fernsehzeit, ihren Dreiteiler „Soldatenhinter Stacheldraht“. Spätestens dann wird eine breite Öf-fentlichkeit noch einmal eindringlich über das wirklicheSchicksal der circa 11 Millionen deutschen Kriegsgefan-genen und Zwangsarbeiter informiert.Ausgehend vom Grundsatz, dass es nicht zweierleiRecht gibt, bitte ich daher die Mitglieder der anderenFraktionen, noch einmal genau darüber nachzudenken, obes gerecht ist, wenn wir am Ende dieses Jahrhunderts50 000 Landsleuten diese symbolische Geste verweigernund uns zugleich an anderer Stelle zu der Verantwortungfür die Kriegsfolgen bekennen.
Ich glaube, zehn Jahre nach der staatlichen EinheitDeutschlands gehört zur Vollendung der inneren EinheitDeutschlands eine Entschädigung der rund 50 000 heutenoch lebenden Heimkehrer und Geltungskriegsgefange-nen aus der ehemaligen DDR.
– Da können Sie ruhig klatschen, ja.Ich bitte um zügige Beratung des Gesetzes in den Aus-schüssen und den Beitritt der anderen Fraktionen zu demAntrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Meine Damen und Herren, die Zeit der Worte ist55 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg vorbei.
Nun sind Taten gefragt.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Gisela Schröter von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Kollege Brähmig, gestatten Siemir zu Beginn den Hinweis, dass Sie von 1990 bis 1998acht Jahre lang Zeit hatten, dafür zu sorgen, dass dasgeschieht, was Sie jetzt einfordern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus nächster Nähe,dem eigenen Verwandtenkreis, bin ich mit dem schwerenSchicksal der Menschen vertraut, die in der Nachkriegs-zeit, oft belastet mit ganz schlimmen Erlebnissen, in dieDDR zurückgekehrt sind. Es handelt sich dabei um Men-schen im hohen Lebensalter, die nach der Wende zum ers-ten Mal überhaupt frei über diese schlimmen Erlebnissesprechen konnten. Bis dahin war dieses Thema ziemlichtabu, mitunter sogar in den eigenen Familien. Für die Be-troffenen war das eine zusätzliche Belastung. Ich emp-finde tiefen Respekt vor dem Schicksal dieser Menschenund ihrer Lebensleistung.Für die Spätheimkehrer, die damals in den Westen, alsoin die alte Bundesrepublik, kamen, wurde 1953 dasKriegsgefangenenentschädigungsgesetz beschlossen.Ich möchte betonen: Sinn und Zweck dieses Leistungsge-setzes – damit komme ich einmal zum Thema, Herr Kol-lege Brähmig – war es, den oft für viele Jahre aus ihrerHeimat und ihren Familien gerissenen Menschen zu hel-fen, ihnen eine Chance in der Gesellschaft zu geben undsie möglichst schnell wieder in die Gesellschaft zu inte-grieren. Bis zu drei Jahre nach ihrer Rückkehr aus der Ge-fangenschaft konnten sie entsprechende Anträge stellen.Die wichtige Aufgabe der Eingliederung dieser Menschenist seit Ende 1967 erfüllt.Die Heimkehrer, die heute in den neuen Ländern le-ben, müssen nicht mehr integriert werden. Rund fünfJahrzehnte sind seit ihrer Rückkehr vergangen. Sicherlichgibt es unter ihnen und ihren Angehören sowohl in den al-ten als auch in den neuen Ländern Menschen, die auf einebesondere Unterstützung angewiesen sind. Für dieseMenschen gibt es seit 1970 – für die neuen Länder seit1993 – die Heimkehrerstiftung. Das hat zuletzt dasKriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 – der Name istein Wortungetüm – geregelt. Die SPD hat diesem Gesetzdamals ausdrücklich zugestimmt. Damit wurde das ersteMal etwas für diese Menschen getan. In diesem Jahr gibtder Bund 22 Millionen DM an diese Stiftung.Ich wiederhole: Die Leistungen nach dem Kriegsge-fangenenentschädigungsgesetz sollten keinesfalls einenAusgleich oder eine Wiedergutmachung für das erfahreneLeid darstellen. Das kann man überhaupt nicht erreichen.
Im Häftlingshilfegesetz ist ausgeführt, dass es sich – ichbetone dies nachdrücklich – um Eingliederungshilfenhandelt. Mit Geld ist also kein Ausgleich möglich.Was die Menschen heute vor allem erwarten – das weißich aus meinen persönlichen Gesprächen –, ist der Res-pekt der Gesellschaft für ihr erlittenes Schicksal und dieAnerkennung ihrer Lebensleistung.Mit Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf, sehr verehrteKolleginnen und Kollegen von der Union, lassen Sie die-sen Respekt vermissen. Ich will Ihnen sagen, weshalb. Siewecken damit bei den Betroffenen Hoffnungen. LassenSie uns doch bitte aufrichtig diskutieren! Sie wollen einGesetz schaffen, das einen Systembruch mit den bisheri-gen Regelungen bedeutet.
Das heißt, wenn wir hier über Entschädigungen fürSpätheimkehrer in die DDR diskutieren
– hören Sie mir bitte zu! –, dann müssen wir zugleich zumBeispiel über die Menschen sprechen, die Opfer desDDR-Regimes geworden sind. Wir müssen über die An-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
Klaus Brähmig12483
sprüche der Menschen reden, die jenseits von Oder undNeiße verschleppt wurden.
Im Einigungsvertrag ist die von Ihnen vorgeschlagene Lö-sung nicht vorgesehen.Das bereits angesprochene Kriegsfolgenbereinigungs-gesetz von 1993 hat Klarheit darüber gebracht, wie es mitdem Kriegsfolgenrecht im vereinigten Deutschland ge-halten werden sollte. Die damalige Bundesregierung – siewurde von Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen vonder Union, gestellt – hat in der Begründung des entspre-chenden Gesetzentwurfes festgehalten – ich zitiere –:Einer uneingeschränkten Übertragung des Kriegs-gefangenenentschädigungsgesetzes steht entgegen,dass auch dort inzwischen mehr als 45 Jahre vergan-gen sind. Die Betroffenen sind eingegliedert.Wenn wir jetzt erneut über dieses Thema sprechen, müs-sen wir es mit großer Sensibilität und Aufrichtigkeit tun.Wir dürfen auch keine falschen Erwartungen wecken.Ich danke Ihnen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Jürgen Türk von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte KolleginSchröter, es kann kein Argument sein, dass wir die Dingeweiterhin offen lassen, nur weil wir sie bisher noch nichtgemeinsam in Ordnung bringen konnten. Das ist ein offe-nes Problem und darüber muss man reden.
Ich halte es auch für notwendig, dass gerade im Zugeder Diskussion um die Entschädigung ausländischerZwangsarbeiter – es ist richtig, dass wir da etwas tun – diedeutschen Zwangsarbeiter nicht vergessen werden dür-fen. Das ist ganz legitim und muss einmal gesagt werden.Aus diesem Grunde begrüße ich ausdrücklich den vor-liegenden Gesetzentwurf, der vorsieht, den in die ehema-lige DDR entlassenen deutschen Kriegsgefangenen, zudenen übrigens auch Zigtausende in den Osten entlasseneverschleppte Frauen zählen, eine Entschädigung zu zah-len. Diese ist ihnen in der DDR, wie wir wissen, aus poli-tischen Gründen verwehrt worden. Ich sage Ihnen ganzklar: Wir sollten das in der Bundesrepublik nicht weiter-hin genauso handhaben.
Das heißt, wir sollten keine Aufrechnung des an Deut-schen begangenen Unrechts mit dem durch Nazideutsch-land begangenen Unrecht an ausländischen Zwangsar-beitern zulassen.Gertrud Böttcher, die laut „Welt am Sonntag“ im März1945 im Alter von 14 Jahren mit ihren Eltern in das Ar-beitslager Swerdlowsk verschleppt wurde, sagt über dieDiskussion und die Entschädigung der ausländischenZwangsarbeiter:Es kränkt mich ganz furchtbar.Das ist doch zu verstehen.Wir waren auch Zwangsarbeiter und teilen dasschwere Schicksal mit diesen Menschen,– also den ausländischen Zwangsarbeitern –aber von uns redet niemand. Es geht nach so vielenJahrzehnten vor allem um die Anerkennung.
Über die Art und Weise der Anerkennung können wir unsja vielleicht noch verständigen.In der Tat kann man diesen damals jungen und miss-brauchten Frauen und Männern nicht pauschal die SchuldNazideutschlands aufladen.
Das haben wir bisher unbewusst gemacht, und wenn esnur durch Verdrängung war. Auch sie waren Opfer undkeine Täter.
Auch wenn die Entschädigung nicht hoch ist und vielesie nicht mehr erleben, schließt sie doch eine Gerechtig-keitslücke,
die es heute mit Sicherheit gibt. Denn die Kriegsgefange-nen, die das Glück hatten, in den Westen entlassen zu wer-den, haben längst eine Abfindung erhalten, nicht nur alsEingliederungshilfe, sondern auch als Anerkennung fürden Schaden, den sie erlitten haben, und für ihr schweresSchicksal.
Es gab mehr als 11 Millionen deutsche Kriegsgefan-gene, die über die ganze Welt verstreut waren. Ich erin-nere hier nur an die sowjetischen Gulags; sie waren aberebenso in anderen Ländern interniert. Auch in West-deutschland hat man sich in den letzten Jahren mit diesemThema schwer getan. Aber es bringt uns nicht weiter, dieGeschichte zu verdrängen; wir müssen uns ihr stellen,nach Möglichkeit gemeinsam. Zur Aufarbeitung unsererGeschichte gehört, dass wir nach 50 Jahren nicht nur denausländischen Zwangsarbeitern Gerechtigkeit widerfah-ren lassen, sondern auch den deutschen,
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Gisela Schröter12484
die bislang nur deshalb leer ausgingen, weil sie in denOsten, die DDR, entlassen worden sind.Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, könnte einStück weit dazu beitragen, die innere Einheit zu vollen-den, die wir wollen und, so hoffe ich, gemeinsam an-streben.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Cem Özdemir
vom Bündnis 90/Die Grünen.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Es geht hier um einbesonders beschämendes Kapitel der Nachkriegsge-schichte der DDR.Gerade die jüngeren Abgeordneten desHauses können sich nur sehr schwer vorstellen, was dievielen Kriegsgefangenen zu erleiden hatten. Ich erinnereausdrücklich an das Schicksal der Kriegsgefangenen inDeutschland, die zu Millionen zur Zwangsarbeit ver-pflichtet und umgebracht wurden. Ich weiß aber auch,was deutsche Kriegsgefangene an Misshandlungen, Hun-ger und anderen schlimmsten Menschenrechtsverletzun-gen erlitten haben. Ihr Schicksal kann und darf uns nichtegal sein. Ich glaube, das kann man im Namen aller Frak-tionen hier sagen.
Für die Zurückkehrenden war die Wiedereingliederungin das normale Leben oftmals von großen Problemen be-gleitet: psychische und physische Bewältigung des Erleb-ten, Orientierung in der Freiheit, die private und nicht zu-letzt auch die finanzielle Situation. Gerade die Menschen,die in die DDR entlassen worden sind, bekamen stattHilfe vom Staat die Weisung, über ihr Schicksal zuschweigen. Das ist besonders schwer zu verstehen. Alles,was sie an schlimmen Dingen erlebt hatten, war tabu. Dergroße Bruder und Freund Sowjetunion durfte nicht indunklen Farben gezeichnet werden. Für die Wiederein-gliederung in die Gesellschaft wurde materielle Unter-stützung benötigt. All dies ist den heimkehrenden Men-schen in der DDR verweigert worden.Aber – auch darauf wurde bereits hingewiesen – es wardie Vorgängerregierung, die Regierung Kohl, die dasKriegsgefangenenentschädigungsgesetz aufgehoben hat,dessen Regelungen Sie wieder einsetzen wollen. Mich ir-ritiert auch, dass die Union das Thema Entschädigung derNS-Zwangsarbeiter mit dem Schicksal der Kriegsgefan-genen in der Sowjetunion verknüpft.
Ich möchte Sie dringend bitten, diesen gefährlichen Ver-gleich schnell in den Akten verschwinden zu lassen.
Ich will Ihnen den Grund dafür nennen, dass das gefähr-lich ist.
– Lassen Sie mich das erklären. – Sie selber wissen, dasshier große internationale Probleme auf uns zukommenkönnen. Wir in Deutschland können nicht damit begin-nen, den Unterschied zwischen Kriegsgefangenen und Zi-vilisten zu verwischen. Tun wir dies, so eröffnen wir aufinternationaler Ebene ohne Not eine neue Runde von Re-parationszahlungen. Ich glaube, Graf Lambsdorff, der indiesem Zusammenhang wichtige Verhandlungen geführthat, kann uns allen erklären, welche Begehrlichkeiten wirin diesem Falle zu erwarten hätten.Lassen Sie uns auch damit aufhören, die Betroffenenzu verunsichern. Gerade im Interesse der hochbetagtenBetroffenen sollten wir im Gespräch bleiben. Ich kann Ih-nen seitens meiner Fraktion bzw. – da bin ich sicher – sei-tens beider Fraktionen und der Regierung anbieten, dasGespräch mit Ihnen zu suchen. Solange noch Betroffeneleben, kann das Kapitel Entschädigung nicht abge-schlossen werden. Wir sollten dabei aber falsche Verglei-che vermeiden. Wenn Sie Ihre Aussage hier richtig stellenoder sagen, dass Sie falsch verstanden worden sind, dannwäre das umso besser. Dies alles nützt niemanden, am we-nigsten den Menschen, um die es hier geht.Doch zurück zum vorliegenden Gesetzentwurf. Siewollen mit diesem Gesetzentwurf den Zustand wiederherstellen, den die unionsgeführte Regierung 1992 besei-tigt hat. Damals wurde im Einvernehmen mit den Ver-bänden davon Abstand genommen, weiter Zahlungen inForm von Kriegsgefangenenentschädigung zu leisten.Stattdessen wurde der Weg gefunden, bedürftigen ehema-ligen Kriegsgefangenen über die HeimkehrerstiftungMittel zukommen zu lassen. Heute müsste erklärt werden,was daran falsch gewesen sein soll. Gerade von den Be-dürftigen aus den neuen Ländern ist diese über die Stif-tung gewährte Hilfsmöglichkeit rege in Anspruch genom-men worden.Zum Schluss nochmals der Appell: Lassen Sie uns auf-passen, dass wir die Betroffenen nicht verunsichern. Aberlassen Sie uns auch ehrlich sein. Die derzeitige Haus-haltslage ist allen bekannt. Sie wäre nicht anders, wennSie regieren würden.
Auch Sie hätten keine anderen Mittel zur Verfügung alsdie, die wir haben. Wir sollten mit Blick auf das Schick-sal der Menschen das Gespräch suchen. Die derzeitigenHaushaltsberatungen bieten dazu Gelegenheit. Ich
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Jürgen Türk12485
wiederhole das Angebot: Lassen Sie uns zu einer ver-nünftigen Lösung kommen.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Petra Pau von
der PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Damit kein Missverständnis entsteht: Das
Anliegen, das ich nicht nur aus dem vorliegenden Gesetz-
entwurf herausgelesen, sondern das ich auch heute Vor-
mittag im Innenausschuss, als wir dort die Haushaltsan-
träge behandelt haben, herausgehört habe, unterstützt
meine Fraktion. Über eine Einmalzahlung – wenn ich es
einmal so übersetzen darf – das Schicksal dieser betroffe-
nen Menschen anzuerkennen und ihnen damit so etwas
wie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – darüber sollten
wir in den Ausschussberatungen sprechen, auch darüber,
wie so etwas zu realisieren ist, wie man damit umgeht.
Als heute während der Haushaltsberatungen im Innen-
ausschuss sozusagen durch die Hintertür schon einmal ein
entsprechender Haushaltstitel eingeführt werden sollte,
habe ich mich deshalb enthalten, um meine Unterstützung
des Anliegens, die Tatsache, dass man darüber nachden-
ken muss, deutlich zu machen.
Wir sollten aber auch das aufnehmen, was die Kolle-
ginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen völlig
zu Recht festgestellt haben: Das Anliegen des damals be-
stehenden Gesetzes war tatsächlich, die dringend notwen-
dige Hilfe zur Eingliederung, zum Fußfassen und auch
zum Zusammenführen der versprengten Familien, zum
Wieder-Zusammenführen von Menschen, zu gewähren.
Im Jahr 2000 und darüber hinaus geht es um die Aner-
kennung des Schicksals und um das Klarmachen, dass
auch hier Unrecht geschehen ist, aber nicht um eine Wie-
dereingliederung.
Es stellen sich aber auch ein paar Fragen. Sie sind hier
schon genannt worden. Es ist nun das Schicksal der letz-
ten Rednerin im Reigen der Fraktionen, diese zu wieder-
holen. Es handelt sich zum Beispiel um die Frage, was sei-
tens der damaligen Regierungskoalition in den Debatten
der Jahre 1989/90 und im Einigungsvertrag zur Lösung
dieses Problems eigentlich unternommen worden ist.
Warum ist nicht wenigstens der Vorbehalt angebracht
worden, dass entsprechende Regelungen zu einem be-
stimmten Zeitpunkt geschaffen werden, wenn man aner-
kennt, dass das 1990 nicht möglich war?
Ein zweite Frage – diese bewegt mich sehr viel mehr
und deshalb habe ich über Intentionen, die ich aus dem
Gesetzentwurf herausgelesen und aus der Debatte heraus-
gehört habe, gesprochen – besteht bezüglich des Textes
des Gesetzentwurfes. Denn problematisch ist nicht nur
das, was Sie, Herr Brähmig und Herr Türk, hier soeben in
der Debatte gesagt haben. Der erste Satz unter der Über-
schrift „Problem“ hat mich angesichts der Debatten, die
wir hier im Zusammenhang mit der Entschädigung von
Zwangsarbeitern und der damit verbundenen Verant-
wortung der Bundesrepublik und auch der jungen Gene-
ration geführt haben, sehr betroffen gemacht.
Tun Sie uns, aber auch den Betroffenen, deren Vertre-
ter hier sitzen, folgenden Gefallen: Werfen Sie Zwangsar-
beiter und Kriegsgefangene nicht in einen Topf.
Lassen Sie uns vielmehr auf der einen Seite endlich unse-
rer Verantwortung in Bezug auf die Entschädigung der
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in der Nazizeit
nachkommen und Druck auf diejenigen ausüben, die sich
immer noch verweigern,
und lassen Sie uns auf der anderen Seite die Verantwor-
tung dafür wahrnehmen, dass diese Menschen in unserem
Land Anerkennung für ihr Leid, für ihr Schicksal erfah-
ren, dass sie wissen: Sie sind nicht vergessen. – Aber wer-
fen Sie es nicht zusammen.
Wir tun uns keinen Gefallen, wir tun ihnen keinen Ge-
fallen und außerdem leisten wir dann einen Beitrag dazu,
dass Geschichte verharmlost wird. Deshalb fand ich es ein
bisschen unpassend, dieses Thema hier am Vorabend des
9. November in dieser Weise aufzurufen. Ich glaube, hier
werden Ursache und Wirkung zusammengeworfen oder
verwechselt.
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun für die
Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast das Wort.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man nur dasspontane Empfinden und die menschliche Teilnahmesprechen ließe, wäre die Sache leichter. Denn wer gönntes diesen Menschen nicht, um deren Schicksal wir sie nunwirklich nicht beneiden können?Tatsache ist, dass über die Frage nach einer anders ge-arteten Zuwendung an Kriegsheimkehrer in den vergan-genen Jahren wieder stärker und öfter diskutiert wird. Daswar so im Vorfeld von Landtagswahlen, vor allen Dingenin den ostdeutschen Ländern. Das ist so im Zuge der öf-fentlichen und intensiven Debatte um die Entschädigungfür Zwangsarbeiter.Doch gilt es, die Unterschiede deutlich zu machen. Ichmuss es auch noch einmal betonen. Damit meine ich ins-besondere, dass die Gruppe der Zwangsarbeiter nichtmit der Gruppe gleichgesetzt werden kann, über die wiruns heute Abend Gedanken machen. Man muss sich auchdie Geschichte der Gesetzgebung, Sinn und Konzept derdamaligen und der jetzigen Regelungen in dieser Fragevor Augen führen.
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Cem Özdemir12486
Ihr Gesetzesvorschlag, Herr Brähmig, läuft darauf hi-naus, das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz in ver-änderter Form quasi wieder aufleben zu lassen.
Dieses Gesetz aber ist durch Art. 5 des Kriegsfolgenbe-reinigungsgesetzes mit Wirkung vom Januar 1993 aufge-hoben worden. Ich möchte Ihnen, liebe Kolleginnen undKollegen aus der CDU/CSU, ein Zitat der damaligen vonIhnen geführten Bundesregierung in Erinnerung rufen.Sie hat seinerzeit festgestellt:Das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz zähltzu den Gesetzen, die ihren Zweck heute weitgehenderfüllt haben. Die ehemaligen Kriegsgefangenen inder bisherigen Bundesrepublik Deutschland sindentschädigt und eingegliedert.Dann wird darauf hingewiesen, dass als so genannteGeltungskriegsgefangene – das ist auch so ein Wortun-getüm; das sind Menschen, die aus militärischen Gründeninterniert oder deportiert waren – hauptsächlich Aussied-ler entschädigungsberechtigt waren – das waren 96 Pro-zent – und dass deshalb Entschädigung und Eingliederungfür die betroffenen Russlanddeutschen fortgeführt werdensollten.Weiter heißt es, diese Überlegungen ließen sich aller-dings nicht uneingeschränkt auf die ehemaligen Kriegs-gefangenen in der einstigen DDR übertragen. Zwar hät-ten diese noch keine Leistungen erhalten, die denen desKriegsgefangenenentschädigungsgesetzes vergleichbarseien. Aber nun seien mehr als 45 Jahre vergangen, dieBetroffenen seien eingegliedert. Von Entschädigungszah-lungen sollte abgesehen werden; jedoch sollten die Leis-tungen der Heimkehrerstiftung, soweit noch zeitgerecht,auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen werden.Mit anderen Worten: Die Heimkehrerstiftung führt dasweiter, was sinnvoll und nach dem Gang der Entwicklungüber all die Jahre hin notwendig ist: Bedürftige ehemaligeKriegsgefangene werden unterstützt, allerdings ohne ei-nen Rechtsanspruch.Die Aufhebung des Kriegsgefangenenentschädi-gungsgesetzes stieß damals auf allgemeines Einverneh-men. Ich habe die Begründung der damaligen Regierungso ausführlich wiedergegeben, weil sie seinerzeit bereitszu dem Schluss kam, dass der Grundgedanke dieser Ent-schädigung, nämlich Hilfe bei der Wiedereingliederung,nicht mehr zeitgemäß ist, also durch die Wirklichkeitüberholt ist. Sie ist auch heute, über acht Jahre später,nicht mehr zeitgemäß. Jedenfalls sind keine neuen, zwin-genden Argumente aufgetaucht, die die Angelegenheit ineinem anderen Licht erscheinen ließen.
Auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus derUnion, haben in Ihrer Regierungszeit eine entsprechendeInitiative eben nicht ergriffen.Deshalb ist es nicht vorstellbar, nicht ratsam und viel-leicht auch nicht redlich, ein für abgeschlossen erachtetesund im Konsens aufgehobenes Gesetz – wenn auch in ab-gewandelter Form – wieder zum Leben zu erwecken.Eines will ich aber auch betonen: Mit einer umfangrei-chen, sozialstaatlich geprägten Gesetzgebung ist zumin-dest der Versuch gemacht worden, erlittene Lebens-schicksale auszugleichen, aber einen vollen Ausgleich fürdurchlebte Not und Entbehrung dieser Art wird es nichtgeben können.Vielen Betroffenen geht es eigentlich auch nicht umMark und Pfennig, wie ich sehr wohl aus manchen Ge-sprächen weiß, sondern wirklich in erster Linie um eineWürdigung ihres Lebensschicksals. Deswegen begrüßeich auch die vielfältigen Gespräche, die wir im Bundesin-nenministerium, die ich selbst und die auch der Parla-mentarische Beirat der Heimkehrerstiftung in dieser undanderen Fragen führen. Es geht einfach auch um das Be-wusstmachen einer Problematik, die – zumindest in Zei-ten der ehemaligen DDR – verdrängt worden ist.
Ich will eines zum Schluss noch sagen: Die bestehendeRegelung hat sich durchaus bewährt. Das darf man ruhigauch einmal erwähnen. Bedürftige können ja weiterhin– bis zum Jahr 2005 – durch die Heimkehrerstiftung un-terstützt werden und davon haben die Betroffenen in denneuen Ländern durchaus profitiert.Von den Unterstützungs- und den Rentenzusatzleistun-gen, die in den vergangenen 30 Jahren von der Stiftunggewährt wurden, sind immerhin 20 bzw. 12 Prozent anAntragsteller in den neuen Ländern geflossen, obwohldiese ja erst seit Januar 1993 ihre Anträge einreichen kön-nen. Ich meine, für diese Bilanz brauchen wir uns auchnicht zu schämen.Danke schön.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfsauf Drucksache 14/4144 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf.Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausRiegert, Peter Letzgus, Norbert Barthle, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUGemeinnützige Vereine von hohen Energiekos-ten entlasten– Drucksache 14/4386 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
SportausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschussZu diesem Tagesordnungspunkt ist verabredet, die Re-den zu Protokoll zu nehmen. Ich habe sie hier vorliegen.1)Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
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Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast12487
1) Anlage 4Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/4386 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf:9.a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, Dr. Uwe-JensRössel, Roland Claus und der Fraktion der PDSeingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zurÄnderung des Einkommensteuergesetzes
– Drucksache 14/4437 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschussgemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, Dr. Uwe-Jens Rössel, Roland Claus und der Fraktion derPDS eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzeszur Änderung des Einkommensteuergesetzes
– Drucksache 14/4438 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschussgemäß § 96 GOZu diesem Tagesordnungspunkt ist vereinbart, dasseine Reihe von Reden zu Protokoll genommen werden.1)Sprechen werden nur die Kollegin Barbara Höll von derPDS und Kollege Jörg-Otto Spiller von der SPD-Fraktion.Sind Sie damit einverstanden? – Dann verfahren wir so.Ich erteile Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Die Regierung von CDU/CSU undF.D.P. hat in ihrer Regierungszeit eine Reihe arbeitneh-merfeindlicher Maßnahmen auf steuerpolitischem Gebietverwirklicht. Ein Beispiel dafür sind die PetersbergerBeschlüsse.
Dort wurde insbesondere die Senkung der Werbungskos-tenpauschale und der Kilometerpauschale geprobt;Nacht- und Überstundenzuschläge wollten Sie sogar ganzbesteuern. Zum Glück ist dies auf Druck der parlamenta-rischen und außerparlamentarischen Opposition zumgroßen Teil abgewendet worden.Allerdings waren Sie in Ihrer Regierungszeit mit derzweijährigen Befristung der Absetzbarkeit der Kostender doppelten Haushaltsführung erfolgreich. Jeder, dersich mit diesem Thema schon einmal beschäftigt hat,weiß, dass die Begrenzung auf zwei Jahre natürlich will-kürlich ist und absolut nicht der realen Situation zahlrei-cher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auchSelbstständiger entspricht.
Im Ergebnis dieser jahrelangen arbeitnehmerfeindli-chen Steuerpolitik heißt die Lohnsteuer im Volksmund in-zwischen „Dummensteuer“. Rot-Grün hat diesen Marschin den Lohnsteuerstaat leider nicht aufgehalten. Sie habenzum Beispiel im Steuerentlastungsgesetz zu Beginn IhrerRegierungszeit die Besteuerung von Abfindungen dras-tisch verschärft.Ich meine, es ist endlich an der Zeit, die Fehlentschei-dungen der Vorgängerregierung und eigene Fehlentschei-dungen zu korrigieren, zumal man sich tatsächlich in Wi-dersprüche verwickelt. Einerseits fordern Sie zumBeispiel eine erhöhte Mobilität von Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern, wenn es um einen Arbeitsplatz unddie Sicherstellung des eigenen Lebensunterhaltes geht.Dafür sollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ei-nen Arbeitsplatz außerhalb ihres Wohnortes annehmen.Rund 380 000 Menschen tun dies in der Bundesrepu-blik. Ihnen entstehen damit natürlich zusätzliche Kostendurch das Mieten einer Nebenwohnung. Diese Kostendürfen sie aber nach Ablauf der Frist von zwei Jahrennicht mehr steuerlich absetzen. Nun könnte man natürlichsagen: Sie können ja umziehen; dann haben sie die dop-pelte Haushaltsführung aus beruflichen Gründen nichtmehr. Aber wir alle wissen, dass sich viele Menschen ge-rade angesichts der Unsicherheit des Arbeitsplatzes, denman vielleicht schon nach zweieinhalb Jahren nicht mehrhat, und im Interesse des Erhalts und der weiteren Pflegevon sozialen Beziehungen, im Interesse besserer Bedin-gungen für die Kinder, die eingebunden sind in Schule,Freizeitbereich und Freundschaften, eben dafür entschei-den, neben ihrer Hauptwohnung am Arbeitsort noch eineNebenwohnung zu unterhalten.Hier stellt sich dann die Frage, ob es richtig ist, nur dieAufnahme der Arbeit am Hauptwohnsitz zu fördern bzw.die Aufnahme von Arbeit woanders steuerlich zu sanktio-nieren; denn letztendlich bestrafen Sie die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer sowie die Selbstständigen, diesich dafür entscheiden müssen, auch nach Ablauf vonzwei Jahren eine Nebenwohnung zu unterhalten.Da die Regierung – auch die Regierungskoalition – bis-her nicht initiativ geworden ist, haben wir Ihnen einen Ge-setzentwurf vorgelegt, der kurz und knapp gehalten ist,mit dem Sie diesen Missstand sofort beseitigen können.
Gleichzeitig beraten wir heute einen zweiten Gesetz-entwurf, mit dem wir Ihnen ebenfalls ein kleines bisschenauf die Sprünge helfen wollen. Wir haben heute im Fi-nanzausschuss das Steuersenkungsergänzungsgesetz ver-abschiedet. Es wird also am Freitag in der zweiten unddritten Lesung hier im Hohen Hause vereinbart werden,dass, nachdem schon im Sommer die Freibeträge bei derVeräußerung von Personenunternehmen auf 100 000 DMangehoben wurden, jetzt für Unternehmerinnen und
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms12488
1) Anlage 5Unternehmer, die aus dem Berufsleben ausscheiden, mitdem Argument der Altersvorsorge – ihm können wir auchfolgen, auch wenn wir die Auffassung über das Instrumentnicht voll teilen – der halbe Steuersatz für Veräußerungs-gewinne eingeführt werden soll.Man mag zu dieser Maßnahme stehen, wie man will;auf alle Fälle ist es dann notwendig, gleichermaßen Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer, die eine Abfindung erhal-ten, zumindest einmal in ihrem Leben – ab dem 55. Lebens-jahr – mit den Personenunternehmen gleichzustellen. Da-rum geht es in unserem zweiten Antrag. Denn Sie wissen,dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gerade wennsie älter sind, kaum noch Chancen haben, eine neue Ar-beit zu finden, und Abfindungen, die sie erhalten, dannnatürlich auch ihrer Altersvorsorge dienen.Wir meinen, dies ist ein substanzieller Beitrag zur ge-zielten Entlastung einer breiteren Schicht von Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern und dient dazu, Löhne undGehälter einerseits und Vermögens- und Unternehmens-einkünfte andererseits steuerlich tatsächlich gleichzustel-len. Dies würde eine große Gerechtigkeitslücke schlie-ßen. Gerade mit dieser Forderung sind Sie ja vor zweiJahren im Wahlkampf angetreten. Sie haben es ganz ein-fach: Stimmen Sie unseren Gesetzentwürfen in den Aus-schussberatungen und dann hier in der zweiten und drit-ten Lesung zu und Sie sind ein Stück weiter in derVerwirklichung Ihres Wahlprogramms.Ich danke.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Jörg Spiller von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Dr. Höll, in
der Begründung des Gesetzentwurfs, zu dem Sie am
Schluss Ihrer Rede gesprochen haben, heißt es, dass die
Besteuerung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
den letzten Jahren verschärft worden sei. Ich weiß ja
nicht, was Sie mit den „letzten Jahren“ meinen.
Es kann auch sein, dass Sie einfach gern mit Stehsatz
arbeiten, weil Sie doch auch eine Partei der Traditions-
pflege sind.
Aber eines möchte ich doch in aller Deutlichkeit sagen:
In den letzten beiden Jahren hat diese Koalition es erfolg-
reich geschafft,
für mehr Steuergerechtigkeit zu sorgen und eine deutliche
Entlastung der breiten Arbeitnehmerschaft durchzuset-
zen.
Ich nenne nur ein Beispiel: Ein verheirateter Arbeitneh-
mer mit zwei Kindern und einem Durchschnittseinkom-
men hat heute, im Jahr 2000, durch steuerliche Entlastung
und Kindergelderhöhung etwa 2 000 DM mehr in der Ta-
sche als 1998. Im nächsten Jahr werden es rund 3 000 DM
sein.
Frau Kollegin Höll, Sie haben sich nachher offenbar
von Ihrem Gesetzentwurf distanziert. In Ihrer Rede sag-
ten Sie, Sie wollten etwas für Altersvorsorge tun. In Ihrem
Gesetzentwurf steht etwas ganz anderes. Da steht undif-
ferenziert: Jeder Arbeitnehmer, der bei einer durch den
Arbeitgeber oder ein Gericht veranlassten Auflösung sei-
nes Arbeitsverhältnisses eine Abfindung bekommt, hat ei-
nen Freibetrag von 48 000 DM. Das ist etwas für das mitt-
lere Management. Denn da kommt es relativ häufig vor,
dass man mit einer Abfindung aufhört und nach einem
Monat in einem neuen Betrieb anfängt.
Dann haben Sie gesagt, die Altersgrenze solle bei
55 Jahren liegen. In Ihrem Gesetzentwurf haben Sie
50 Jahre geschrieben. Lesen Sie doch wenigstens Ihre ei-
genen Entwürfe!
Mein Vorschlag ist: Wir sollten uns mit diesem Thema
sehr genau befassen, wenn es um Altersvorsorge geht. Da
werden Sie in uns immer einen Partner für eine sachliche
Diskussion finden.
Wir werden im Hinblick darauf auch bei Arbeitnehmer-
abfindungen etwas tun, sofern ein bestimmtes Alter, bei-
spielsweise 55 oder 60 Jahre, erreicht worden ist.
– Dass es Ihnen Leid tut, freut mich. – Ich hoffe, dass wir
eine fruchtbare Debatte haben, wenn wir unsere Vor-
schläge unterbreiten.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 14/4437 und 14/4438 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos-sen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatz-punkt 2 auf:10. Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Eberhard Brecht, Gert Weisskirchen, BrigitteAdler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
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Dr. Barbara Höll12489
SPD sowie der Abgeordneten Rita Grießhaber,Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Vereinten Nationen an der Schwelle zumneuen Jahrtausend– Drucksache 14/4439 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungZP 2 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Dietmar Bartsch, Petra Bläss, WolfgangGehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder PDSDeutsche Beiträge zur Umsetzung der Millen-niums-Erklärung der Vereinten Nationen– Drucksache 14/4525 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungAuch zu diesem Tagesordnungspunkt ist vereinbart,dass die Reden zu Protokoll genommen werden.1) Ichhabe sie hier. Sind Sie mit dem Vorgehen einverstanden?– Das ist der Fall.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/4439 und 14/4525 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-nung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages auf morgen, Donnerstag, den 9. November 2000,9 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.