Protokoll:
14129

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 129

  • date_rangeDatum: 8. November 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 13:04 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:34 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 12403 A Absetzung der Tagesordnungspunkte 11, 16 a und b, 21 a und b sowie 28 c . . . . . . . . . . . . . 12403 B Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 12403 B Tagesordnungspunkt 1: Befragung der Bundesregierung zurGrün- dung des Deutschen Forums für Krimi- nalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12404 C Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . 12404 C Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 12405 C Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . 12405 D Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ . . 12406 B Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 12406 C Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ . . 12406 C Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . 12406 D Wolfgang Dehnel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 12407 A Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . 12407 A Dirk Niebel F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12408 A Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . 12408 A Christa Nickels, Parl. Staatssekretärin BMG . 12408 B Dirk Niebel F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12408 B Christa Nickels, Parl. Staatssekretärin BMG . 12408 C Tagesordnungspunkt 2: Fragestunde (Drucksache 14/4468) . . . . . . . . . . . . . . . 12408 C Bewertung der Kompetenzzuweisung des Grundgesetzes im Kulturbereich an die Länder durch StMin Naumann MdlAnfr 1 Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P. Antw StMin Dr. Michael Naumann BK . . . . . 12408 D ZusFr Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P. . 12409 B ZusFr Eckart von Klaeden CDU/CSU . . . . . . 12410 A ZusFr Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . . . . . . 12410 C ZusFr Monika Griefahn SPD . . . . . . . . . . . . . 12411 A ZusFr Dirk Niebel F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 12411 D Kw-Vermerk auf Planstellen beim Bundes- grenzschutz in Schleswig-Holstein MdlAnfr 2 Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU Antw PStSekr Fritz Rudolf Körper BMI . . . . 12412 A ZusFr Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 12412 B Gleichmäßigkeit der Besteuerung von Ein- künften im Zusammenhang mit der Einführung einer Entferungspauschale MdlAnfr 3 Max Straubinger CDU/CSU Antw PStSekr’in Dr. Barbara Hendricks BMF 12413 D ZusFr Max Straubinger CDU/CSU . . . . . . . . 12413 D ZusFr Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P. . 12414 C ZusFr Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 12415 A Plenarprotokoll 14/129 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 129. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 I n h a l t : Kostenaufteilung zwischen Bund und Land Niedersachsen zwecks Deckung des Defizits der EXPO 2000; Höhe des Defizits MdlAnfr 4 Gudrun Kopp F.D.P. Antw PStSekr Siegmar Mosdorf BMWi . . . . 12415 B ZusFr Gudrun Kopp F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 12415 C ZusFr Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P. . 12416 A ZusFr Heidi Lippmann PDS . . . . . . . . . . . . . . 12416 B ZusFr Max Straubinger CDU/CSU . . . . . . . . 12416 B ZusFr Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . 12416 C Unterschiedliche Aussagen über die Kosten der PR-Kampagne in Tschechien MdlAnfr 6 Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P. Antw StMin Dr. Ludger Volmer AA . . . . . . . 12416 D ZusFr Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P. . 12417 B Beitritt Polens zur Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen; Ge- brauch von Minderheitensprachen in Polen MdlAnfr 7 Hartmut Koschyk CDU/CSU Antw StMin Dr. Ludger Volmer AA . . . . . . . 12417 D ZusFr Hartmut Koschyk CDU/CSU . . . . . . . 12418 B Stand des Gesetzgebungsprozesses im polni- schen Parlament über einen Gesetzentwurf zur Reprivatisierung von nach dem Zweiten Welt- krieg enteignetem Vermögen MdlAnfr8 Hartmut Koschyk CDU/CSU Antw StMin Dr. Ludger Volmer AA . . . . . . . 12418 D ZusFr Hartmut Koschyk CDU/CSU . . . . . . . 12418 D Kontakte von Außenminister Fischer zum Ex- Terroristen Hans-Joachim Klein im Jahre 1973; Dauer dieser Kontakte MdlAnfr 9, 10 Sylvia Bonitz CDU/CSU Antw StMin Dr. Ludger Volmer AA . . . . . . . 12419 B ZusFr Sylvia Bonitz CDU/CSU . . . . . . . . . . . 12419 B ZusFr Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 12420 A ZusFr Jörg van Essen F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . 12420 C ZusFr Bernd Schmidbauer CDU/CSU . . . . . . 12420 C Eckart von Klaeden CDU/CSU (zur GO) . . . 12421 A Dr. Uwe Küster SPD (zur GO) . . . . . . . . . . . . 12421 A Wolfgang Gehrcke PDS (zur GO) . . . . . . . . . 12421 A Steffi Lemke BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (zur GO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12421 B Eckart von Klaeden CDU/CSU (zur GO) . . . 12421 D Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer . . . . . . . . . 12421 D Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters . . . . . . 12422 A Zusatztagesordnungspunkt 1: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zur Rückkehr zu den Grundsätzen der Nettolohnanpassung im Jahr 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12422 A Roland Claus PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12422 A Ulrike Mascher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12423 A Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . . . . . . . . 12424 A Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12425 A Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P. . . . . . . . . . . . . 12426 A Erika Lotz SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12427 B Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . . . . . . . 12428 D Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12430 A Dr. Heidi Knake-Werner PDS . . . . . . . . . . . . 12431 C Angelika Krüger-Leißner SPD . . . . . . . . . . . . 12432 C Renate Diemers CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 12434 A Walter Riester, Bundesminister BMA . . . . . . 12435 A Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) CDU/CSU . . 12436 B Peter Dreßen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12437 C Tagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Helga Kühn- Mengel, Anni Brandt-Elsweier, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Monika Knoche, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Frau- enspezifische Gesundheitsversorgung (Drucksache 14/3858) . . . . . . . . . . . . . 12439 B b) Antrag der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz, Eva-Maria Kors, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion CDU/ CSU: Konkrete Gesundheitspo- litik für Frauen (Drucksache 14/4381) . . . . . . . . . . . . . 12439 B Helga Kühn-Mengel SPD . . . . . . . . . . . . . . . 12439 C Annette Widmann-Mauz CDU/CSU . . . . . . . 12442 A Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12444 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000II Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12445 D Christa Nickels BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12447 A Annette Widmann-Mauz CDU/CSU . . . . . . . 12447 D Petra Bläss PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12448 A Anni Brandt-Elsweier SPD . . . . . . . . . . . . . . 12449 A Beatrix Philipp CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 12450 B Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12452 B Tagesordnungspunkt 4: Große Anfrage der Abgeordneten Claudia Nolte, Birgit Schnieber-Jastram, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Reform des Behindertenrechts (Drucksachen 14/2290, 14/3681) . . . . . . . 12453 D Claudia Nolte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 12453 D Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bun- desregierung für die Belange der Behinderten 12455 B Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12457 D Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . 12458 D Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12460 B Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12462 B Matthäus Strebl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 12463 A Silvia Schmidt (Eisleben) SPD . . . . . . . . . . . 12464 B Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12466 A Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . 12466 C Silvia Schmidt (Eisleben) SPD . . . . . . . . . . . 12467 A Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . . 12467 A Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von den Abgeordneten Detlef Parr, Ina Lenke, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- serung der Möglichkeiten des medika- mentösen Schwangerschaftsabbruchs (Drucksache 14/4289) . . . . . . . . . . . . . . . 12468 B Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12468 B Hildegard Wester SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12469 A Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12469 D Annette Widmann-Mauz CDU/CSU . . . . . . . 12470 D Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12472 A Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P. 12472 D Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12473 A Petra Bläss PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12473 C Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12474 B Petra Bläss PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12475 A Dr. Hansjörg Schäfer SPD . . . . . . . . . . . . . . . 12475 B Anke Eymer (Lübeck) CDU/CSU . . . . . . . . . 12476 C Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12477 D Annette Widmann-Mauz CDU/CSU . . . . 12478 A Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P. 12478 D Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12479 C Tagesordnungspunkt 6: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung gefährli- cher Hunde (Drucksache 14/4451) . . . . . . . . . . . . . 12480 D b) Antrag der Abgeordneten Alfred Hartenbach, Margot von Renesse, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Obliga- torische Haftpflichtversicherung für Hunde (Drucksache 14/3825) . . . . . . . . . . . . . 12480 D c) Antrag der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Bevölkerung wirksam vor „Kampf- hunden“ schützen (Drucksache 14/3785) . . . . . . . . . . . . . 12480 D Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus Brähmig, Otto Bernhardt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine einmalige Entschädigung an die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet (Drucksache 14/4144) . . . . . . . . . . . . . . . 12481 A Klaus Brähmig CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 12481 B Gisela Schröter SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12483 B Jürgen Türk F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12484 B Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12485 A Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12486 A Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretärin BMI . . . . . . . . . . . . . . . 12486 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 III Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert, Peter Letzgus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Gemeinnützige Vereine von hohen Energiekosten ent- lasten (Drucksache 14/4386) . . . . . . . . . . . . . . . 12487 D Tagesordnungspunkt 9: a) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes (Doppelte Haushaltsführung) (Drucksache 14/4437) . . . . . . . . . . . . . 12488 A b) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes (Freibe- träge für Abfindungen) (Drucksache 14/4438) . . . . . . . . . . . . . 12488 A Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12488 B Jörg-Otto Spiller SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12489 B Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Dr. Eberhard Brecht, Gert Weisskirchen, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Rita Grießhaber, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Vereinten Nationen an der Schwelle zum neuen Jahrtausend (Drucksache 14/4439) . . . . . . . . . . . . . . . 12489 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Dr. Dietmar Bartsch, Petra Bläss, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion PDS: Deutsche Beiträge zur Umsetzung der Millenni- ums-Erklärung der Vereinten Nationen (Drucksache 14/4525) . . . . . . . . . . . . . . . 12490 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12490 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12491 A Anlage 2 Höhe der nicht realisierten Forderungen bei der Bundesanstalt für Arbeit MdlAnfr 5 Dirk Niebel F.D.P. Antw PStSekr’in Ulrike Mascher BMA . . . . . 12491 C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung ge- fährlicher Hunde zu den Anträgen: – Obligatorische Haftpflichtversicherung für Hunde – Bevölkerung wirksam vor „Kampfhunden“ schützen. (Tagesordnungspunkt 6 a bis c) Ernst Bahr SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12492 B Günter Baumann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 12493 A Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 12494 D Gudrun Kopp F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12495 B Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . . 12495 D Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 12496 B Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrages: Gemeinnützige Vereine von hohen Energiekosten entlasten (Tagesordnungspunkt 8) Dieter Grasedieck SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 12497 B Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . . . . . . . . 12497 D Norbert Barthle CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 12499 A Winfried Hermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12500 B Ernst Burgbacher F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 12501 A Gustav-Adolf Schur PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 12501 B Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe: – ... Gesetz zur Änderung des Einkommen- steuergesetzes (Doppelte Haushaltsführung) – ... Gesetz zur Änderung des Einkommensteu- ergesetzes (Freibeträge für Abfindungen) (Tagesordnungspunkt 9 a und b) Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU . . . . . . . 12502 A Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12504 B Gisela Frick F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12504 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000IV Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Die Vereinten Nationen an der Schwelle zum neuen Jahrtausend – Deutsche Beiträge zur Umsetzung der Mil- leniums-Erklärung der Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 10 und Zusatztagesord- nungspunkt 2) Dr. Eberhard Brecht SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 12505 B Clemens Schwalbe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 12506 A Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12507 C Birgit Homburger F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 12508 D Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 12509 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 V Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms 12490 (C)(A) 1) Anlage 6 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12491 (C) (D) (A) (B) Altmaier, Peter CDU/CSU 08.11.2000 Balt, Monika PDS 08.11.2000 Behrendt, Wolfgang SPD 08.11.2000* Bertl, Hans-Werner SPD 08.11.2000 Dr. Blank, CDU/CSU 08.11.2000 Joseph-Theodor Büttner (Ingolstadt), SPD 08.11.2000 Hans Ehlert, Heidemarie PDS 08.11.2000 Elser, Marga SPD 08.11.2000 Fischer (Berlin), BÜNDNIS 90/ 08.11.2000 Andrea DIE GRÜNEN Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 08.11.2000 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 08.11.2000 Gröhe, Hermann CDU/CSU 08.11.2000 Hempelmann, Rolf SPD 08.11.2000 Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 08.11.2000 DIE GRÜNEN Hiller (Lübeck), SPD 08.11.2000 Reinhold Hirche, Walter F.D.P. 08.11.2000 Hübner, Carsten PDS 08.11.2000 Jünger, Sabine PDS 08.11.2000 Lamers, Karl CDU/CSU 08.11.2000 Lehder, Christine SPD 08.11.2000 Lennartz, Klaus SPD 08.11.2000 Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 08.11.2000 Klaus W. Lötzer, Ursula PDS 08.11.2000 Müller (Berlin), PDS 08.11.2000 Manfred Schloten, Dieter SPD 08.11.2000 von Schmude, Michael CDU/CSU 08.11.2000 Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 08.11.2000 Christian Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 08.11.2000 Wiesehügel, Klaus SPD 08.11.2000 Wülfing, Elke CDU/CSU 08.11.2000 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Anlage 2 Antwort der Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher auf die Frage des Abgeordneten Dirk Niebel (F.D.P.) (Drucksache 14/4468, Frage 5): Wie hoch beziffern sich nach Ansicht der Bundesregierung die nicht realisierten Forderungen bei der Bundesanstalt für Arbeit und wie gedenkt sie, auf eine Realisierung dieser finanziellen Mit- tel hinzuwirken? Die eigenen Forderungen der Bundesanstalt für Arbeit beliefen sich zum Stichtag 30. September 2000 auf ins- gesamt rund 4,1 Milliarden DM. Hiervon entfielen rund 1,6 Milliarden DM (= rund 40 Prozent) auf Arbeitslosen- geld. Bei den Arbeitslosengeld-Forderungen haben die gesetzlichen Anspruchsübergänge einen Anteil von rund 50 Prozent. Der restliche Forderungsbestand verteilt sich insbesondere auf Darlehensforderungen (rund 19 Pro- zent), Erstattungsforderungen von Arbeitslosengeld ge- genüber Arbeitgebern (rund 8 Prozent) und Forderungen aus der Winterbau-Umlage (rund 4 Prozent). Rund 60 Prozent der Forderungen der Bundesanstalt sind keine Überzahlungen, sondern beruhen auf gesetzli- chen Regelungen, wie zum Beispiel Darlehensforderun- gen, Geldbußen und gesetzlichen Verpflichtungen der Bundesanstalt für Arbeit zu Vorleistungen, wie zum Bei- spiel Anspruchsübergänge gegen andere Sozialversiche- rungsträger oder Erstattung von Arbeitslosengeld durch Arbeitgeber. Die Bundesanstalt für Arbeit zieht jedoch nicht nur eigene Forderungen, sondern auch Forderungen des Bun- des und Forderungen sonstiger Stellen aufgrund ihrer Aufgabenstellung ein. Am Stichtag 30. September 2000 wurden von der Bundesanstalt für Arbeit folgende Forde- rungen nachgewiesen: Insolvenz-Forderungen: 7 152 Mil- lionen DM, Forderungen des Bundes: 1 334 Millionen DM, Forderungen sonstiger Stellen (zum Beispiel Länder): 22 Millionen DM. Die Einziehung der Insolvenzgeld-Forderungen in Höhe von 7,152 Milliarden DM erfolgt von der Bundes- anstalt für Arbeit treuhänderisch für die Unfallversiche- rungsträger. Einnahmen aus diesen Forderungen kommen deshalb nicht dem Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit zugute, sondern vermindern die Insolvenzgeld-Umlage entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht der Unfallversicherungsträger. Die von der Bundesanstalt verwalteten Forderungen des Bundes entfallen zu rund 70 Prozent auf die Arbeitslosenhilfe und zu rund 20 Pro- zent auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz und Bundeskindergeldgesetz. Für die Einziehung der For- derungen setzt die Bundesanstalt ein äußerst leistungs- fähiges, automatisiert ablaufendes Datenverarbeitungs- verfahren ein. In diesem Verfahren werden die Schuldner innerhalb von zehn Tagen nach Fristüberschreitung kos- tenpflichtig gemahnt. Wird auch dieser Termin nicht ein- gehalten, werden Vollstreckungsersuchen an die Haupt- zollämter in einem mit dem Bundesministerium der Fi- nanzen abgestimmten Datenverarbeitungsverfahren übermittelt. Allein in den ersten neun Monaten wurden den Hauptzollämtern insgesamt 507 000 Vollstreckungs- ersuchen mit einem Volumen von 1,029 Milliarden DM übermittelt. Soweit die Schuldner selbst Leistungen von der Bun- desanstalt beziehen, werden bestehende Aufrechnungs- möglichkeiten genutzt. In den ersten neun Monaten des Jahres 2000 wurden von der Bundesanstalt, bezogen auf alle verwalteten Forderungen, Einnahmen in Höhe von 2,787 Milliarden DM erzielt. Bis zum Jahresende werden Einnahmen in Höhe von rund 3,7 Milliarden DM erwar- tet. Bezogen auf den ausgewiesenen Forderungsbestand zum 30. September 2000 wären dies rund 30 Prozent. Der Bestand an Schuldnerkonten bei der Bundesanstalt ist einem starken Wechsel unterworfen. Dies wird dadurch deutlich, dass im bisherigen Jahresverlauf rund 994 000 Schuldnerkonten neu hinzugekommen sind, während bis- her rund 990 000 Schuldnerkonten abgeschlossen werden konnten. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung gefährlicher Hunde zu den Anträ- gen: – Obligatorische Haftpflichtversicherung für Hunde – Bevölkerung wirksam vor „Kampfhunden“ schützen (Tagesordnungspunkt 6 a bis c) Ernst Bahr (SPD): Hunde, die bellen, beißen nicht. Dieser Spruch wurde in den letzten Monaten immer wie- der auf tragische Weise bestätigt. Denn bestimmte Hunde halten sich erst gar nicht lange mit Bellen auf, sondern beißen gleich zu; schlimmer noch: Sie beißen ihre Opfer im Blutrausch tot. Die schrecklichen Bilder vom 26. Juni diesen Jahres sind uns allen noch gegenwärtig. Der sechs- jährige Volkan liegt, von einem dieser so genannten Kampfhunde totgebissen, auf einem Hamburger Spiel- platz. Diesem furchtbaren Unglück sind etliche vorange- gangen, etliche gefolgt. Wir alle wissen, dass auch Hunde durch Erziehung und Ausbildung in ihrem Verhalten bestimmt werden. Es liegt zum großen Teil am Ausbilder, ob aggressive Veranla- gungen in einem Hund verstärkt oder abgeschwächt wer- den und ob andere, „liebenswerte“ und nützliche Charak- tereigenschaften des Tieres hervorgehoben werden. Die Gründe für die Haltung von Hunden sind vielfältig. Hunde können ganz einfach Gefährten sein, Haustiere in der ureigensten Bedeutung, die als Familienangehörige betrachtet werden. Für uns Menschen dienen sie in vielen Lebensbereichen als Nutztiere, beispielsweise der Polizei, dem Blinden, dem Landwirt und dem Jäger. Hunde kön- nen gar als Lebensretter eingesetzt werden, zum Beispiel bei Lawinenunglücken oder bei Erdbeben. Leider gibt es auch die Gruppe von Hundehaltern, die einen Hund ha- ben, weil sie andere Bürger einschüchtern und Macht de- monstrieren wollen. Einschüchterung und Bedrohung sind das Ziel. Auf diese Weise wird der Hund als Waffe eingesetzt. Und genauso müssen diese Hunde auch einge- stuft werden: als lebende Waffen. Daher ändern wir die bestehenden Gesetze. Der vorlie- gende Gesetzentwurf trägt dem berechtigten Anspruch der Bürger nach Sicherheit stärker Rechnung, als das bis- her der Fall ist. Auf dem Spielplatz, auf der Parkbank, als Jogger und in der U-Bahn soll man sich vor Hunden nicht fürchten müssen. Der Erwerb und die Haltung gefähr- licher Hunde, die im Zweifelsfall als unkontrollierbare Waffen einzustufen sind, werden künftig untersagt. In drei Schwerpunkte gegliedert, erfüllt der Gesetzent- wurf die Forderungen, die sich aus der intensiven öffent- lichen Debatte ergeben haben. Zum einen regelt er die Einfuhr von Hunden. Pitbull-Terrier, American Stafford- shire-Terrier, Staffordshire-Bullterrier sowie deren Kreu- zungen müssen künftig draußen bleiben. Er greift zwei- tens umfassender als bisher die Belange des Tierschutzes auf. Oft leiden Tiere, auch Hunde, lebenslang durch ge- zielt gezüchtete Eigenschaften. Das wird es zukünftig nicht mehr geben. Drittens sieht er eine konsequentere und schärfere Verfolgung von Hundehaltern und Hunde- züchtern vor, die gegen das Gesetz verstoßen. Gesetzes- brecher müssen künftig mit Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren rechnen. Somit berührt der Gesetzentwurf auch Teile des Strafgesetzbuches. Der Gesetzentwurf ist eine sinnvolle Ergänzung län- derrechtlicher Regelungen. Die Abwehr von Gefahren, die durch gefährliche Hunde verursacht werden, ist in Deutschland in erster Linie Aufgabe der Bundesländer. Im Rahmen des Polizeirechts haben sie die entscheidenden Regelungen zu treffen. Die Länder müssen sich jedoch schnellstens um eine Harmonisierung ihrer Regelungen bemühen. Zurzeit ist es leider noch so, dass man ohne Problem mit einem Hund ins Ausland fahren kann, aber beim Überqueren der Bundesländergrenzen nicht weiß, wie und ob der Hund mitgeführt und gehalten werden darf. Auch die von vielen befürwortete Einführung einer ob- ligatorischen Haftpflichtversicherung für Hunde liegt nicht in der Kompetenz des Bundes. Der Komplex ist dem Ordnungsrecht zuzuordnen, das gleichfalls den Ländern obliegt. Hysterie, wie sie in der öffentlichen Diskussion häufig zu hören war, ist auch bei diesem Thema fehl am Platz. „Omas Liebling“ darf nicht zum Kampfhund abgestem- pelt werden, nur weil einzelne Halter ihre Hunde auf Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 200012492 (C) (D) (A) (B) Aggressivität züchten und entsprechend führen. Im Ent- wurf werden die angesprochenen Hunderassen auf ein notwendiges Minimum beschränkt. Diskriminierung von Hunden wird es nicht geben, aber die per Gesetz durch- setzbare Minimierung von Gefahr. Denn wir haben in- zwischen zu oft mit ansehen müssen, wenn „unser Hund nicht beißt“. Günter Baumann (CDU/CSU): Zwei Kampfhunde haben einen sechsjährigen Jungen am 26. Juni diesen Jah- res auf einem Schulgelände tot gebissen. Das Kind starb kurz nach dem Hundeangriff noch an der Unglücksstelle am Rande des Sportplatzes. Nach Erkenntnissen der Poli- zei hatte sich eine Gruppe von Kindern am Außenplatz auf den Sportunterricht vorbereitet, als ein Pitbull-Terrier und ein Staffordshire-Terrier den Jungen angriffen. Leider kein Einzelfall: In jüngster Zeit gab es vermehrt Angriffe von gefährlichen Hunden auf Menschen. Wir kennen alle die Berichte darüber, die Öffentlichkeit ist sehr aufge- bracht und stellt die Frage: „Was muss eigentlich noch alles passieren, damit endlich gehandelt wird?“ Die Gesellschaft kann Angriffe auf das Leben und die Gesundheit seiner Bürger nicht hinnehmen. Gefährliche Tiere bzw. das verantwortungslose Handeln bestimmter Hundehalter haben uns alle in Gefahr gebracht. Restrik- tive Maßnahmen zum Schutze der Menschen sind drin- gend geboten. Der Deutsche Bundestag hat sich am 30. Juni 2000 unverzüglich nach den Vorkommnissen von Hamburg in einer Aktuellen Stunde mit dem Thema be- schäftigt und es war für die Öffentlichkeit in unserem Lande positiv, dass sich die Parteien in der Grundtendenz einig waren, neue und härtere Vorschriften gegen Kampf- hunde zu erlassen. Die Abwehr von Gefahren, die durch Kampfhunde verursacht werden, ist in erster Linie Aufgabe der Bun- desländer. Sie haben Gesetze und Regelungen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu erlassen. Bereits in der Vergangenheit, im Jahr 1991, hatte es eine bemer- kenswerte Bundesratsinitiative der Länder Nordrhein- Westfalen, Bremen und Niedersachsen gegeben, die Ag- gressionsdressur und -züchtung auf Bundesebene zu ver- bieten. Das Gesetz sah vor, das Tierschutzgesetz, das Strafgesetzbuch und das Ordnungswidrigkeitengesetz zu ändern. Im Hinblick auf die Bedenken gegen die Zustän- digkeiten des Bundes und angesichts der Zuordnung der zu regelnden Materie zum Polizei- und Ordnungsrecht, die zur Zuständigkeit der Länder gehören – Art. 70Abs. 1 Grundgesetz –, scheiterte das Gesetzvorhaben. Seit Jahren versuchen Länder und Gemeinden, dem „Kampfhundeproblem“ mit hohen Steuern zu begegnen. Diese Bemühungen zeigen nur einen geringen Erfolg, da Hundehalter – teilweise erfolgreich – vor den Verwal- tungsgerichten die Rechtsverordnungen in verschiedenen Bundesländern zum Halten und Führen gefährlicher Hunde bzw. die Steuersatzung von Gemeinden angefoch- ten haben. In den einzelnen Bundesländern sind unterschiedliche gesetzliche Regelungen in Kraft, wobei die seit 1992 gel- tende Kampfhunde-Verordnung in Bayern am weitge- hendsten ist. Kampfhundezucht ist verboten. Pitbulls dür- fen gar nicht, andere nur unter strengsten Auflagen gehalten werden. Andere Landesregelungen gehen nicht so weit und beschränken sich auf Maulkorb- oder Lei- nenzwang. Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungs- gerichte haben in Normenkontrollverfahren wiederholt derartige Landesregelungen als rechtswidrig und damit als nichtig erklärt, wie zum Beispiel in Baden-Württem- berg, Hessen oder in Niedersachsen. Trotzdem sind die Bundesländer in der Pflicht. Die ständige Konferenz der Innenminister und Innen- senatoren der Länder haben sich durch Beschlüsse vom 5. Mai und 28. Juni 2000 auf eine Reihe von Maßnahmen verständigt, die von den einzelnen Ländern in Gesetze bzw. Verordnungen umgesetzt werden müssen. Es sind Regelungen der Länder bereits erlassen oder in Vorberei- tung, jedoch in jedem Bundesland andere Vorschriften. Der Bund kann bei so einem wichtigen Thema; ich ver- trete diese Meinung: Er muss die landesrechtlichen Rege- lungen durch Bundesregelungen ergänzen. Uns liegen heute drei Gesetzesanträge zur ersten Bera- tung vor: Erstens. Ein Gesetz der Bundesregierung. In dem Ent- wurf eines Gesetzes zur Bekämpfung gefährlicher Hunde soll das Verbringen gefährlicher Hunde in das Inland ge- regelt, sowie das Tierschutzgesetz, das Strafgesetzbuch und das Hundeeinfuhrbeschränkungsgesetz novelliert werden. Wesentliche Regelungen des Gesetzes sind: In Art. 1 wird ein absolutes Einfuhrverbot für die Hun- derassen Pitbull-Terrier, American Staffordshire-Terrier und Staffordshire-Bullterrier sowie Kreuzungen mit den genannten Tieren geregelt. Ferner wird für das Verbrin- gen sonstiger nach Landesrecht einem Haltungs-, Zucht- oder Handelsverbot unterworfener Hunde eine Genehmi- gungspflicht eingeführt. Der Antragssteller muss, für die Genehmigung ein „berechtigtes Interesse“ nachweisen, das sich nach den inhaltlichen Vorgaben des Landes rich- tet. Verstöße gegen das Verbringungsverbot sind strafbar: Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe. In Art. 2 werden tierschutzgesetzliche Normen geän- dert, insbesondere § 11 b, Qualzüchtungen, und § 12, Ver- bringungs-, Verkehrs- und Haltungsverbote. In § 11 b sind Verschärfungen vorgesehen. Zukünftig wird es verboten sein, Wirbeltiere zu züchten, wenn damit gerechnet wer- den muss, dass bei den Nachkommen unter anderem erb- lich bedingte Aggressionssteigerungen auftreten werden. Dieses Verbot gilt auch dann, wenn dem Tier selbst durch die Zucht kein Leid zugefügt wird. Im Übrigen wird für das Bundesministerium eine Verordnungsermächtigung eingeführt, für den Fall der Gefahr im Verzuge Regelun- gen zu treffen oder wenn dies durch Rechtsakte der EU erforderlich wird. In Art. 3 ist vorgesehen, einen neuen § 143 in das Straf- gesetzbuch einzufügen, der den Verstoß gegen landes- rechtliche Verbote, gefährliche Hunde zu züchten oder mit ihnen zu handeln, unter Strafe stellt: Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe. Gegenstände, auf die sich die Straftat bezieht, sollen eingezogen werden dür- fen. Zweitens. Gesetzentwurf der SPD und des Bündnis- ses 90/Die Grünen: Einführung einer obligatorischen Haftpflichtversicherung für Hunde. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12493 (C) (D) (A) (B) Drittens. Gesetzentwurf der F.D.P. mit zum Teil sehr weitgehenden Maßnahmen, zum Beispiel bei Änderung des Waffengesetzes, den Waffenbegriff auf Kampfhunde zu erweitern oder auch den Bußgeldrahmen bei Verstoß gegen das „Halten gefährlicher Tiere“ auf 50 000 DM zu erhöhen. Ich denke, das Gesetz der Bundesregierung zielt in die richtige Richtung, aber so, wie es hier vorliegt, ist es nicht anwendbar. In der Beratung des Bundesrates am 20. Okto- ber 2000 gab es zu diesem Gesetz 30 Änderungsanträge, die alle angenommen wurden. Zum Beispiel § 1 Genehmi- gungspflicht: Hier ist geregelt, dass die drei Arten von Kampfhunden Pitbull-Terrier, Staffordshire-Terrier und Staffordshire-Bullterrier nicht in das Inland gebracht wer- den dürfen. Wer einen Hund, für den nach landesrechtli- chen Vorschriften – das Züchten oder Handeln verboten oder beschränkt oder – das Halten verboten ist, in das In- land bringen will, bedarf der Genehmigung. Maßgeblich sind die Vorschriften des Landes, in dem der Hund ständig gehalten werden soll. Die Genehmigung erteilt auf schriftlichen Antrag die nach Landesrecht zu- ständige Behörde, soweit ein berechtigtes Interesse nach- gewiesen werden kann. Soweit die Beförderung des Hun- des durch das Gebiet eines anderen Landes erforderlich ist, ist die Genehmigung dieses Landes erforderlich. Wer soll dies in der Praxis durchführen? Mit Recht kri- tisiert dies der Bundesrat und auch wir als CDU/CSU. Ge- rade hier zeigt sich, dass die im Gesetzentwurf der Bun- desregierung vorgesehene Regelung, im Hinblick auf die unterschiedlichen Regelungen der Länder, nicht nach- vollziehbar ist, weil vielfach die Einordnung des Hundes als gefährlich an eine Begutachtung und weitere Voraus- setzungen geknüpft wird. In der Praxis ist aber nicht zu gewährleisten, dass an der Grenzkontrollstelle aufgrund einer nach dem jeweils einschlägigen Landesrecht vorgesehenen Einzelfallprü- fung die Einordnung eines Hundes als „gefährlich“ oder nicht erfolgen kann. Das Beispiel zeigt, dass es für den Bund alleine schwierig ist, ein Gesetz zu schaffen, das das Halten und die Einfuhr von Kampfhunden verbietet. Dies geht nur mit den Ländern im Einklang. Gestatten Sie mir an dieser Stelle, die Forderung der CDU/CSU aufzuzeigen. Die Union hat aktuell wieder ge- fordert, die Zucht und auch den Import von Kampfhunden konsequent zu unterbinden. Zuwiderhandlungen hierge- gen müssen streng bestraft werden. Nicht jeder kann Kampfhunde halten. Wir brauchen eine Art Hundeführer- schein. Das Recht, gefährliche Hunde halten zu können, ist an strenge Voraussetzungen zu knüpfen. Straftäter dür- fen keine gefährlichen Hunde halten. Viele Menschen fühlen sich von Hunden bedroht, auch wenn es keine Kampfhunde sind. Hier kann ein Leinenzwang in be- stimmten Gebieten oder die Pflicht, in der Öffentlichkeit einen Maulkorb anzulegen, helfen. Wir wissen, dass die verfassungsrechtliche Kompe- tenzlage dem Bund nicht ermöglicht, all diese Fragen durch Bundesgesetze zu regeln. Aber: Wichtig ist uns, dass Kompetenzprobleme nicht dazu führen, dass es zu weiteren Verzögerungen bei den gebotenen Maßnahmen kommt. Wichtig ist für uns auch, dass schnell durch Ge- setz eine Pflichtversicherung für Hundehalter eingeführt wird, wie es im Gesetzentwurf der SPD und des Bündnis- ses 90/Die Grünen vorgeschlagen wurde, und zwar um für die Geschädigten, die bei Beißzwischenfällen erheblich verletzt und zum Teil mit bleibenden Schäden rechnen müssen, das Risiko der Zahlungsunfähigkeit des Schädi- gers abzuwenden und sicherzustellen, dass der Halter und nicht der Geschädigte die finanziellen Folgen trägt. Eine Beschränkung der Versicherungspflicht nur auf „gefährli- che Hunde“ ist nicht zweckmäßig, da bereits bei einem Beißzwischenfall mit einem bis dahin „nicht gefährlich“ eingestuften Hund schwerwiegende Schäden entstehen können. Hierbei könnte auf die Regelungen des Gesetzes über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter vor- bildhaft zurückgegriffen werden, um so Direktansprüche gegen den Versicherer zu ermöglichen und auch das Han- deln des Hundeführers mit einzubeziehen. Wir müssen in den Ausschüssen an den vorliegenden Gesetzentwürfen unter Beachtung der Vorschläge des Bundesrates zu einer vernünftigen, tragfähigen und um- setzbaren Regelung kommen. Die Bevölkerung erwartet dies von uns und das möglichst ohne Parteienstreit. Rea- gieren wir aber auch nicht überzogen: Kein „Kampf dem Hund“ sondern ein „Kampf dem Kampfhund“. Denken wir an die übergroße Zahl von Besitzern unauffälliger Hunde, an Blindenhunde, Rettungshunde usw. Der Hund gehört in unser Leben, in unsere Familien. Eines muss zum Schluss noch zu Kampfhunden oder auch zum Kampf erzogenen „normalen“ Hunden gesagt werden: „Das eigentliche Problemtier hängt meist am oberen Ende der Leine!“ Und dies ist ein Problem unserer Gesellschaft, bei dem wir alle gefordert sind. Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bürgerinnen und Bürger erwarten schon lange einen bes- seren Schutz vor gefährlichen Hunden. Die Probleme mit bestimmten Hunden – und ihren Haltern – sind seit vielen Jahren bekannt. Bekannt ist auch längst der tierschutzwid- rige Missbrauch dieser Tiere durch verantwortungslose Züchter und Halter. Bekannt ist – hier in Berlin vor allem am Schuhwerk zu besichtigen – der Vorrang öffentlicher Straßen und Grünanlagen für Hunde. Die Reaktion auf den Tod des kleinen Jungen in Ham- burg am 26. Juni ist ein typisches Beispiel für die Reak- tion der Politik. Nachdem jahrelang herumgeredet wurde, brach plötzlich allenthalben die große Normierungswut aus. Statt sich aber auf einheitliche Maßstäbe zu verstän- digen, haben wir nun einen Flickenteppich von Länderre- gelungen. Diese mangelnde Koordination der Länder un- tereinander ist gegenwärtig eines unserer Hauptprobleme. Ich fordere an dieser Stelle die Länder nachdrücklich zu einer besseren Abstimmung untereinander auf. Die Bürger haben wenig Verständnis für so viel Eigenbrötelei auf Kosten der Rechtsklarheit. Für diesen Schutz der Bürgerinnen und Bürger sind nach unserer Verfassung in erster Linie die Bundesländer verantwortlich. Sie haben nun einmal die Verantwortung für das Polizei- und Ord- nungsrecht. Der Bund kann nur im Bereich Tierschutz und Tierhandel als Gesetzgeber aktiv werden. Ich bin froh da- rüber, dass er jetzt endlich diese Kompetenz in Anspruch nimmt und Rahmenbedingungen für die Eindämmung der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 200012494 (C) (D) (A) (B) vielfältigen Missbräuche schafft. Der heute vorgelegte Gesetzentwurf ist der richtige Weg. Die F.D.P. hingegen macht es sich hier rechtlich zu ein- fach. Sie definiert den Hund als Waffe, um so die Bun- deszuständigkeit zu begründen. Gewundert hat mich auch im Antrag der F.D.P., dass Sie zwar Qual- und Aggressi- onszüchtungen verbieten wollen – vom Import aber nur Qualzüchtungen ausnehmen wollen. Ich habe den Ein- druck, Sie wollen sich hier um die Aussage herum- drücken, ein Importverbot für bestimmte Zuchtlinien zu verhängen. Gerade darum geht es aber hier. Sie wollen sich wohl bei den Züchtern und Haltern lieb Kind machen. Wenn wir Ihre Eckpunkte aufgreifen würden, bekämen wir kein Gesetz zur Bekämpfung gefährlicher Hunde, sondern eher ein Hunde-Einfuhr-Beschränkungs-Verhin- derungsgesetz. Ausreden und Halbheiten können nicht länger ange- hen. Ich weiß, wie sehr man sich auf Landesebene um diese Listen und den konkreten Umgang mit unter uns le- benden Tieren streitet. Hier geht es aber um die Verhinde- rung der Einfuhr immer neuer Tiere – oft genug aus äußerst problematischen Züchtungen. Wollen wir das in den Griff bekommen, müssen wir uns auf bestimmte Hun- derassen verständigen. Der Entwurf greift hier den Vor- schlag der Innenministerkonferenz vom 28. Juni auf. Eigentlich müssten sich die Kritiker der so genannten Rasselisten in den Ländern nun für ein totales Importver- bot aller Hunde aussprechen. Das wäre aber eine absurde Überreaktion. Ein Beharren auf der Gleichbehandlung aller Hunderassen würde daher den Bundesgesetzgeber lähmen und damit einen wirksamen Schutz der Menschen verhindern. Nein, wir müssen handeln, und zwar hier und jetzt! Der Import bestimmter Zuchtlinien wie des Pitbull und Staf- fordshire-Terrier muss verboten werden. Auch die Durch- setzung des Einfuhrverbots für landesrechtlich verbotene Tiere ist sicherzustellen. Geschäftemacher, die gegen diese Einfuhrverbote verstoßen, machen sich künftig strafbar. Der Weg der Bundesregierung und der Koalitionsfrak- tionen ist klar und unmissverständlich. Wir wollen, dass die Aggressionszucht wirksamer bekämpft werden kann. Sie wird künftig auch dann untersagt, wenn sie nicht mit Leiden für das Tier verbunden ist. Die bisherige Regelung war hier nicht konsequent genug. Aggressiv kann ein Tier auch dann sein, wenn es keine Schmerzen leidet. Einigkeit besteht – ich hoffe im ganzen Haus – darin, eine verbindliche Haftpflichtversicherung für Hunde ein- zuführen. Opfer von Beißattacken sollen wenigstens ein Schmerzensgeld bekommen. Bundeseinheitlich sollte außerdem geregelt werden: Registrierung gefährlicher Hunde durch Mikrochip oder Tätowierung, Einführung eines bundeseinheitlichen Hundeführerscheins und We- senstests. Ich hoffe auf eine zügige Beratung in den Ausschüssen. Das sind wir den Bürgerinnen und Bürgern schuldig. Gudrun Kopp (F.D.P.): Einige verantwortungslose Menschen mit ihren gefährlichen Hunden haben nicht nur Bissopfern zum Teil schwerstens geschadet, sondern die große Schar von friedfertigen Hunden und ihre Halter pauschal in Verruf gebracht. Eine generelle Angst vor Hunden geht in der Bevölkerung um. Halter werden stig- matisiert, Tiere vergiftet, totgeschlagen, ausgesetzt. Der Mischung aus Angst und politischem Aktionismus muss zum Schutz der Menschen vor gefährlichen Hun- den und deren Besitzern endlich wirksam entgegengetre- ten werden. Dabei helfen im Übrigen keine Rasselisten. Sie bieten eine trügerische Sicherheit, denn jeder Hund lässt sich mühelos zu einem aggressiven, gefährlichen Tier erziehen oder züchten. Die F.D.P.-Fraktion nennt in ihrem Antrag acht kon- krete Maßnahmen gegen gefährliche Hunde, wie zum Beispiel Import- bzw. Exportverbote, Zuchtvorgaben, hohe Bußgelder, Versicherungspflicht. Das Miteinander von Mensch und Tier bedarf darüber hinaus einer Maß- nahmenbündelung auf der Länderebene, wie beispiels- weise Hunde-TÜV – individuelle Verhaltensprüfung –, Hundeführerschein für Halter, Mikrochipkennzeichnung, Leinenzwang in Stadtzentren und Wohngebieten bei ent- sprechenden Freilaufzonen. Dabei gilt der Grundsatz: Frei laufende Menschen ha- ben Vorrang vor frei laufenden Hunden. In einem wichtigen Punkt haben wir Mitglieder der F.D.P.-Fraktion unseren Antrag korrigiert: Nach vielen Gesprächen mit Experten sind wir zu der Einsicht gelangt, Punkt eins unseres Maßnahmenkatalogs, die Aufnahme des Waffenbegriffs für so genannte Kampfhunde, ersatz- los zu streichen. Erkenntnisgewinne für alle mit dieser Problematik be- fassten Parlamentarier erhoffen wir uns auch von einer Expertenanhörung. Ich hoffe auf sachgerechte und ziel- führende Diskussionen zum Wohle von Mensch und Tier. Eva Bulling-Schröter (PDS): Im Juni dieses Jahres wurde ein Kind im Hamburg von einem so genannten Kampfhund totgebissen, und es ging ein Aufschrei durch diese Republik. Die F.D.P. beantragte eine aktuelle Stun- de, und die Medien überschlugen sich in ihrer Bericht- erstattung. Sie schürten eine Stimmung, die es jedem Hundebesitzer schwer macht, mit seinem Tier überhaupt noch auf die Straße zu gehen. Aufgrund dieser Hysterie landen viele Hunde in Tierheimen, weil ihre Besitzer mit der jetzigen Situation nicht umgehen können. Das kann keine Lösung sein. Dass derlei Übergriffe von gefährlichen Hunden vor- hersehbar waren, davon sprachen wenige, und dass Tier- schutzverbände schon seit Jahren auf diese Problematik hingewiesen hatten, davon war auch wenig zu hören. Jedes Bundesland hat inzwischen seine Hundeverord- nung, die mit heißer Nadel gestrickt wurde, und hofft da- mit die Bevölkerung zu beruhigen und das Problem „ge- fährlicher“ Hund in den Griff zu bekommen. Ob die Verordnungen den Gerichten standhalten werden ist frag- lich, hat doch das hessische Verwaltungsgericht bereits die Rasselisten so nicht bestätigt. Im Übrigen halten viele Sachverständige Rasselisten für wenig sachdienlich, weil Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12495 (C) (D) (A) (B) fast jeder Hund aggressiv gezüchtet und abgerichtet wer- den kann. Und wenn es in einigen Jahren bestimmte Hun- derassen aufgrund von Zuchtverboten nicht mehr gibt, könnten andere scharf gemacht werden. Das muss ver- hindert werden. Seit Jahren warnen Tierschutzverbände vor der Aus- wirkung der Zucht gefährlicher Hunde, aber erst jetzt hat sich der Gesetzgeber aufgemacht, dazu Gesetze und Ver- ordnungen vorzulegen. Denn Ziel muss es doch sein, dass es ein friedliches Zusammenleben zwischen Hundebesit- zern und Nichthundebesitzern gibt und nicht wieder ein- mal eine Gruppe der Bevölkerung auf die andere gehetzt wird, und vor allem, dass Menschen vor gefährlichen Hunden geschützt werden. Tierschutzvereine mahnen seit zehn Jahren ein Heim- tiergesetz an. In dem Gesetz sollten vorhandene Lücken bei Zucht, Haltung, Import und Handel mit Hunden ge- schlossen werden. Dass das nötig ist, zeigt die jetzige Situation. Wir, die PDS, fordern einen Hundführerschein, um Menschen die Befähigung zu geben, mit einem Tier um- zugehen. Wir unterstützen eine Pflichthundeversiche- rung, meinen aber, dass sie sozial verträglich gestaltet werden muss, das heißt, für Tierheimhunde sollte eine günstigere Gruppenversicherung abgeschlossen werden können. Sie sollte auch für Hunde gelten, die aus dem Tierheim geholt werden. Ansatz muss sein, Menschen, die sich ein Tier anschaffen wollen, nicht über hohe Versi- cherungsprämien sozial auszugrenzen. Wir fordern prä- ventive Gesetze, das heißt, wir brauchen umfassende Re- gelungen, und zwar bundesweit, anstatt nur durch Verbote und Beschränkungen erst dort einzuschreiten, wo Gefahr in Verzug ist. Und wir meinen natürlich auch, dass beste- hende Gesetze und Verordnungen überwacht werden müssen und Qualzuchten endlich konsequent geahndet werden müssen. Aber eines sollte für uns alle klar sein: Bevor immer weitere Verschärfungen beschlossen werden, ist eine kon- sequente Umsetzung der bereits bestehenden und dem- nächst zu beschließenden Regelungen und vor allem eine Vereinheitlichung notwendig, die beim Halter und Züch- ter ansetzt und nicht beim Hund. Ansonsten ist alles „für die Katz“. Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Innern: „6-Jähriger von zwei Kampfhun- den zu Tode gebissen.“ Uns allen wird das grauenvolle Schicksal dieses Kindes in Erinnerung bleiben. Dieser Vorfall in Hamburg war und blieb nicht der einzige. Auch weiterhin wird von Angriffen gefährlicher Hunde – so- genannte Kampfhunde – auf Menschen berichtet. Sie stimmen mir sicher zu, dass solche Vorfälle nicht hin- nehmbar sind. Leben und Gesundheit von Menschen dür- fen nicht durch gefährliche Tiere und durch das verant- wortungslose Handeln bestimmter Hundehalter in Gefahr gebracht werden. Die Abwehr von Gefahren, die durch gefährliche Hunde verursacht werden, ist in Deutschland in erster Li- nie Aufgabe der Bundesländer. Im Rahmen des Poli- zeirechts haben sie die entscheidenden Regelungen zu treffen. Die Länder haben deshalb unter Berücksichtigung der bisherigen Beschlüsse der IMK entsprechende Rege- lungen erlassen und bestehende Regelungen ergänzt. Da diese Regelungen teilweise erheblich voneinander abwei- chen bemühen sich die Länder derzeit um eine Harmoni- sierung der Grundsätze ihrer Regelungen. Die Bundesregierung kann und muss angesichts der Dringlichkeit der Situation die länderrechtlichen Rege- lungen durch Inanspruchnahme ihrer Kompetenzen schnell und sinnvoll ergänzen. Das Bundeskabinett hat deshalb ein Bundesgesetz, das „Gesetz zur Bekämpfung gefährlicher Hunde“, beschlossen. Dieses Gesetz unter- stützt die länderrechtlichen Regelungen im Rahmen der Kompetenzen des Bundes durch folgende Maßnahmen: ein Importverbot für gefährliche Hunde, ein Zuchtverbot im Rahmen des Tierschutzgesetzes, eine Strafnorm, die Verstöße gegen landesrechtliche Verbote ahndet. Das Gesetz regelt ein absolutes Verbot der Einfuhr von drei Hunderassen, die bereits im IMK-Beschluss vom 5. Mai 2000 als besonders gefährlich bezeichnet worden sind, nämlich Pitbull-Terrier, American Staffordshire-Ter- rier, Staffordshire-Bullterrier – Art. 1 § 1 Abs. 1 –, ein Genehmigungserfordernis für den Import sonstiger ge- fährlicher Hunde, für die nach landesrechtlichen Vor- schriften die Zucht, der Handel oder das Halten verboten sind – Art. 1 § 1 Abs. 2 –. Verstöße gegen diese Import- verbote werden unter Strafe gestellt. Zudem wird die Möglichkeit eröffnet, bei Verstößen gegen die genannten Bestimmungen die Hunde einzuziehen. Im Tierschutzge- setz wird ein Verbot der Zucht von Hunden ausge- sprochen, bei denen durch die Zucht erblich bedingte Aggressionssteigerungen verstärkt werden. In das Straf- gesetzbuch wird ein Tatbestand eingeführt, der es unter Strafe stellt, entgegen landesrechtlicher Verbote gefährli- che Hunde zu züchten oder mit ihnen zu handeln. Auch hier ist die Einziehung dieser Hunde vorgesehen. Darüber hinaus hat das Bundesministerium für Er- nährung, Landwirtschaft und Forsten am 29. September 2000 eine auf das Tierschutzgesetz gestützte Hundever- ordnung dem Bundesrat zugeleitet, in der die Haltung und Zucht von Hunden geregelt wird. Dadurch soll ein Rück- gang der insbesondere auf Haltungsfehlern beruhenden Aggressivität von Hunden erreicht werden. Das Problem wurde auch am 28. September 2000 in Brüssel auf der Sitzung des Rates der Justiz- und Innen- minister erörtert. Deutschland hat die Kommission gebe- ten, eine erste Stellungnahme dazu abzugeben, ob das an- gestrebte Ziel durch einen Rechtsakt auf der Grundlage des EU-Vertrages geregelt werden kann. Die Kommission hat daraufhin mitgeteilt, die Frage gegenwärtig zu prüfen. Die Bundesregierung hat also unverzüglich gehandelt, um einer Gefahrensituation in Ausschöpfung der Bun- deskompetenzen entschieden entgegenzutreten. Der Bundesrat hat am 20. Oktober 2000 zum Gesetz- entwurf der Bundesregierung – ohne inhaltlich die Syste- matik zu verändern – unter anderem empfohlen, zusätz- lich zu den oben genannten Hunderassen die Einfuhr auch des Bullterriers zu verbieten. Außerdem sollen Hunde weiterer Rassen, für die nach den Vorschriften des Landes – in dem der Hund ständig gehalten wird – eine Gefähr- lichkeit vermutet wird, ebenfalls nicht eingeführt werden Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 200012496 (C) (D) (A) (B) dürfen. Die Genehmigungsmöglichkeit nach Art. 1 § 1 Abs. 2 des Gesetzentwurfs soll entfallen, da die Bestim- mung wegen der verschiedenen Regelungen in den Län- dern nicht vollziehbar ist. In ihrer Gegenäußerung hat die Bundesregierung den Beschlüssen weitgehend zuge- stimmt. Zu den vorliegenden Anträgen der Regierungsfraktio- nen und der Fraktion der F.D.P. zum Thema „Schutz vor gefährlichen Hunden“ wird sich die Bundesregierung aus- führlich bei Beratung des Gesetzentwurfes in den Aus- schüssen äußern. Insbesondere die Frage der Einführung einer obligatorischen Haftpflichtversicherung für Hunde – die Gegenstand beider Anträge ist – bedarf eingehender Prüfung, ob eine Kompetenz des Bundes gegeben ist. Abschließend appeliere ich an die Länder, ihre Rege- lungen zu harmonisieren, damit hinsichtlich der Haltung von Hunden einheitliche Lebensverhältnisse in Deutsch- land hergestellt werden. Damit die getroffenen Regelungen ihre Schutzwirkung zugunsten unserer Bevölkerung entfalten können, wäre ich für eine zügige Beratung des Gesetzentwurfs dankbar. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrages: Gemeinnützige Ver- eine von hohen Energiekosten entlasten (Tages- ordnungspunkt 8) Dieter Grasedieck (SPD): Die Kolleginnen und Kol- legen von der CDU singen zum zehnten Mal die Litanei: „Die Ökosteuer muss weg!“ Heute singt nicht der ge- mischte CDU-Chor Tourismus, heute singt der CDU- Knabenchor Sport und Ehrenamt. „Ihre Koalition, SPD/Grüne, hat das Ehrenamt attrak- tiv gemacht“, sagten mir Vereinsvertreter aus meinem Wahlkreis. Die Koalition hat die Übungsleiterpauschale von 2 400 DM auf 3 600 DM erhöht. „Wir finden es wich- tig, dass endlich das Stiftungsrecht verbessert wurde. Wir gründen eine Sammelstiftung für behinderte Sportler.“ Sportliche Aktivitäten und Angebote gemeinnütziger Ver- eine sind in meinem Wahlkreis ausgebaut worden. Die Angebote können erweitert werden, weil viele Menschen im Ehrenamt enorm viel leisten. Sie erfüllen für unsere Gesellschaft wichtige Aufgaben: Kranke werden gepflegt. Mit Behinderten arbeiten junge Menschen. Kirchliche Jugendorganisationen versorgen Alkohol- kranke. Sie sehen die vielen Einzelschicksale der Men- schen und waren in ihrer Familie zum Teil selbst betroffen. Alt und Jung hilft. Wir fördern diese ehrenamtliche Arbeit. Jetzt schreiben Sie in Ihrem Antrag: „Die Energie- steuer ermuntert die Ölmultis, an der Preisschraube zu drehen.“ Haben Sie eigentlich zu Ihrer Regierungszeit da- ran gedacht? Sie haben am 1. Januar 1991, sechs Monate später zum zweiten und am 1. Januar 1994 zum drit- ten Mal die Mineralölsteuer erhöht – in einer Legislatur- periode zusammen 0,45 DM. Haben Sie da an die stei- genden Energiekosten der gemeinnützigen Vereine gedacht? Wo bleibt Ihre Glaubwürdigkeit? Nein, Sie gehen nach dem Motto vor: Wer nicht über- zeugen kann, sollte wenigstens Verwirrung stiften. So verwirren Sie Ihre Partei mit folgenden Themen: Erstens. Leitkultur. Ihr Ministerpräsident Müller will das Wort nicht verwenden; Ihr Fraktionsvorsitzender aber träumt Tag und Nacht von seiner Leitkultur. Zweitens. Die Ökosteuern abschaffen. Ihre Anträge sind im Bundestag abgelehnt worden. Jetzt suchen Sie sich die Vereine aus. Ihr ehemaliger Umweltminister Töpfer warnt: „Ökosteuer ist keine K.o.-Steuer.“ Und die Wirtschaftsinstitute stellen im Herbstgutachten fest: „Die Ökosteuer darf nicht verändert werden.“ Nein, Sie wollen verwirren. Überzeugende Themen finden Sie nicht. So fordern Sie eine Vereinfachung des Steuerrechts. Eine Erlassflut wäre die Folge Ihres Antrags. Warum ent- lasten Sie nicht städtische Schwimmbäder, warum nicht Krankenhäuser? Fragen über Fragen! Überzeugen können Sie nur durch Fakten. So schrei- ben die Wirtschaftsinstitute: Die Binnennachfrage be- schleunigt sich, rege Investitionstätigkeit in diesem Jahr. Im kommenden Jahr werden private Haushalte, Vereine und Unternehmen durch die Steuerreform 2000 um 45 Milliarden DM entlastet. Deshalb stieg die Zahl der Arbeitsplätze schon in diesem Jahr deutlich an. Vom Jahr 1997 bis 2000 erhöhte sich die Zahl der Arbeitsplätze von rund 37 Millionen auf 39 Millionen. 100 000 neue Unter- nehmungen sind gegründet worden. Sie hingegen suchen zwanghaft rein populistische The- men. Unsere Bürgerinnen und Bürger erkennen dieses fa- denscheinige und durchsichtige Spiel. Sie erkennen, dass unsere Koalition die Vereinssituation durch die erhöhte Übungsleiterpauschale und durch das neue Stiftungsrecht wesentlich verbesserte. Die Enquete-Kommission erarbei- tet mit den Vereinsvertretern ein neues Gesamtkonzept fürs Ehrenamt. Die Koalition ist auf dem richtigen Weg: Ge- meinnützige Vereine und das Ehrenamt werden gefördert. Die Vereine registrieren das mit Freude. Freude und Dankbarkeit sind bei Ihnen nur in Spuren- elementen vorhanden. Verständlich aus Ihrer Sicht: Denn die reinste Freude ist die Schadenfreude. Nur: Bei unserer guten und ausgewogenen Politik kann die nicht aufkom- men. Durch Ihren neuen Antrag wiederholen Sie Ihre al- ten Anträge. Kreativität in Ihrer Partei bedeutet, alte Vor- urteile neu zu ordnen. Dies ist zu wenig. Wir lehnen Ihren Antrag ab. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Der vorlie- gende Antrag der CDU/CSU-Fraktion „Gemeinnützige Vereine von hohen Energiekosten entlasten“ ermöglicht heute eine erneute Befassung des Deutschen Bundestages mit dem wichtigen Thema des Ehrenamts und des bürger- schaftlichen Engagements. Leider kann schon vorweg gesagt werden, dass der CDU/CSU-Antrag der Bedeutung der wichtigen Thema- tik nicht gerecht wird. Es handelt sich um einen popu- listischen Antrag, der die gemeinnützigen Vereine für die CDU/CSU-Kampagne gegen die Ökosteuer zu in- strumentalisieren sucht. Abgesehen von der fehlenden Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12497 (C) (D) (A) (B) Substanz des Antrags lässt dieser auch alle Fragen der Fi- nanzierung des von der CDU/CSU-Fraktion geforderten Anliegens unbeantwortet. Den Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion kann bescheinigt werden, dass sie wieder einmal die gemeinnützigen Vereine und das Ehrenamt für ihre durchsichtigen Zwecke benutzen wol- len. Letztlich besteht wirklich der Eindruck, dass Sie nach dem Motto handeln, jeden Monat einen Antrag oder Ge- setzentwurf zum Bereich Ehrenamt oder bürgerschaftli- ches Engagement vorzulegen, um ihre eigene Unfähigkeit zur Lösung der eigentlichen Sachfragen zu vertuschen. Sachkompetenz kann ich bei Ihnen weder für eine Ver- besserung der Situation der gemeinnützigen Vereine noch hinsichtlich der Problematik der hohen Energiepreise er- kennen. Der Antrag von CDU/CSU ist schon in seiner Ausge- staltung so unklar, dass es mir fast unmöglich ist, darauf inhaltlich einzugehen. So ist die Forderung, gemeinnützi- gen Vereinen sei für die durch Verteuerung der Energie- kosten bei der Bewirtschaftung vereinseigener Vereins- heime, Sporthallen, Schwimmbäder und sonstiger Sportstätten zusätzlich entstandenen Kosten ein finanziel- ler Ausgleich zu gewähren, eigentlich nicht handhabbar. Ich frage Sie, wer mit einem solchen Antrag etwas anfan- gen soll. Hier ist völlig unklar, in welchem finanziellen Rahmen eine Förderung gewährt werden soll. Wie soll der geforderte Ausgleich aussehen? Schließlich ist zu fragen, wer im Einzelnen begünstigt werden soll. Meinen CDU/CSU nur Sportvereine oder alle gemeinnützigen Vereine, wie sie in ihrem Antrag schreiben? Insgesamt entlarvt die Qualität des Antrags den heuch- lerischen Populismus der CDU/CSU-Fraktion, die Sport- vereine und das Ehrenamt für ihre parteipolitischen Zwecke nutzen will. Ein wirkliches Interesse an der För- derung des Ehrenamtes besteht nicht. Insofern ist es nicht überraschend, wenn CDU und CSU nach Ende ihrer 16- jährigen Regierungszeit, in denen nichts für das Ehrenamt getan worden ist, nun plötzlich die gemeinnützigen Ver- eine und das Ehrenamt für sich entdecken. Demgegenüber hat die rot-grüne Koalition in den zwei Jahren ihrer Amtszeit bereits viel für die gemeinnützigen Vereine, das Ehrenamt und das bürgerschaftliche Engage- ment erreicht. An erster Stelle ist dabei die solide finan- zierte Anhebung der Übungsleiterpauschale im Einkom- mensteuerrecht von 2 400 auf 3 600 DM jährlich zu nennen. Hiermit wurde insbesondere auch für die Vereine eine erhebliche Verbesserung der Rahmenbedingungen bei der Beschäftigung von Trainern und anderen Übungs- leitern erreicht. Wir haben weiterhin durch eine Änderung der Ein- kommensteuer-Durchführungsverordnung die direkte Spendenbescheinigungskompentenz für alle gemeinnüt- zigen Vereine eingeführt und damit die Möglichkeit der Vereine zur Akquisition von Spenden deutlich verbessert. Aufgrund einer Initiative der SPD-Bundestagsfraktion kam die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürger- schaftlichen Engagements“ zustande. Die Kommission arbeitet inzwischen so erfolgreich, dass wegweisende Vorschläge zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für das bürgerschaftliche Engagement zu erwarten sind. Dabei sind auch grundlegende Vorschläge zur Verbesse- rung der Situation der gemeinnützigen Vereine zu erwar- ten. Wir haben uns vorgenommen, die Ergebnisse der Enquete-Kommission im Rahmen der finanziellen Mög- lichkeiten aufzugreifen und konsequent umzusetzen. Ein weiterer bedeutsamer Schritt zur Förderung des Ehrenamtes war die Reform des Stiftungssteuerrechts, die vor wenigen Wochen in Kraft getreten ist. Die Stiftungs- reform schafft in einem hohen Maße den Anreiz für pri- vate Geldgeber, ihr Vermögen für gemeinnützige Zwecke einzusetzen. Dieses entlastet letztlich die öffentlichen Haushalte und legt die Förderung des gemeinnützigen Be- reichs verstärkt auch auf private Schultern. Darin liegt die grundlegende Unterscheidung des Ansatzes der Koalition von dem der CDU/CSU-Opposition, die auch mit ihrem Antrag wieder allein den Staat in Anspruch nehmen will. Insbesondere zur Reform des Stiftungssteuerrechts möchte ich anmerken, dass damit ein Meilenstein für die Stärkung der zivilen Bürgergesellschaft gesetzt wurde, der das Ehrenamt mehr stärken wird als die hier vorlie- genden unfinanzierbaren Vorschläge von CDU und CSU es jemals könnten. Ich möchte deshalb an dieser Stelle dazu aufrufen, in allen ehrenamtlichen Bereichen Stiftun- gen zu gründen und private Gelder zu mobilisieren, die den gemeinnützigen Sektor stärken. Der Aufbruch in die zivile Bürgergesellschaft ist mit der Stiftungsreform einen großen Schritt vorangekommen. Durch die von der rot-grünen Koalition auf den Weg gebrachten Verbesserungen für das Ehrenamt und den ge- meinnützigen Sektor haben wir insgesamt so günstige Rahmenbedingungen bewirkt, wie sie die Kohl-Regie- rung in 16 Jahren nicht zustande gebracht hatte. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion suchen auch weiterhin ständig nach neuen Impulsen zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements und der gemeinnützigen Vereine. So bereiten wir für den 23. November 2000 ei- nen Kongress vor, in dessen Mittelpunkt das Thema „Bür- gerschaftliches Engagement und Wirtschaft“ stehen wird. Mit Bundeskanzler Gerhard Schröder und hochrangigen Vertretern der Wirtschaft wollen wir ein noch intensiveres Engagement von Unternehmen zur Förderung des ehren- amtlichen Einsatzes erreichen. Erreicht werden sollen vor allem eine Verankerung des bürgerschaftlichen Engage- ments in der Unternehmenskultur und eine positive Be- achtung ehrenamtlicher Aktivitäten – etwa bei der Perso- nalauswahl oder bei der Freistellung von beruflicher Tätigkeit für den ehrenamtlichen Einsatz – in Unterneh- men. Dieses alles wird auch den gemeinnützigen Vereinen nützen und sie wirksam entlasten. Ich möchte hier nicht verschweigen, dass ich durchaus noch Probleme sehe. Dies betrifft insbesondere die Steuer- und Sozialversicherungspflicht von gezahlten Auf- wandsentschädigungen. Hier streben wir eine grundsätzli- che Regelung an, wie auch der Bundeskanzler auf dem Feuerwehrtag in Augsburg ausgeführt hat. Allerdings betone ich auch, dass dieses nicht bei hohen Zuwendun- gen gelten kann, die offensichtlich nicht als bloße Auf- wandsentschädigungen angesehen werden können. Diese Zuwendungen müssen auch weiterhin der Steuer- und Sozialversicherungspflicht unterliegen. Insgesamt werden wir nicht nachlassen, die zivile Bür- gergesellschaft noch weiter zu stärken. Dazu bedarf es der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 200012498 (C) (D) (A) (B) Mitarbeit aller. Dazu gehören die Politik, die im ehren- amtlichen Bereich tätigen Verbände, Vereine und Organi- sationen, die vielen Ehrenamtlichen sowie all diejenigen, die sich für die Stärkung der zivilen Bürgergesellschaft interessieren. Der hier vorliegende populistische Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist kein gutes Beispiel für die Ver- besserung der Situation der gemeinnützigen Vereine und des Ehrenamtes. Ich fordere Sie auf, sich den wirklichen Problemen des bürgerschaftlichen Engagements zuzu- wenden und auf ihre durchschaubaren parteipolitischen Aktionen zu verzichten. Norbert Barthle (CDU/CSU): In Deutschland gibt es derzeit rund 350 000 Vereine. In ihnen betätigen sich mehr als 40 Millionen Mitglieder. Viele von ihnen sind ehren- amtlich tätig und engagieren sich in ihrer Freizeit für an- dere, für unsere Gesellschaft. Sie entlasten Bund, Länder und Kommunen in vielen Bereichen von Aufgaben, die diese nicht oder nur ungenügend wahrnehmen könnten. Welchen Wert diese Arbeit hat, lässt sich nur schwer in Zahlen ausdrücken; ich denke, wir sind uns einig, dass sie eigentlich unbezahlbar ist. Welche Wertschätzung die Vereine in der Bevölkerung genießen, können Sie am Bei- spiel einer Gemeinde in meinem Wahlkreis ablesen: Dort gibt es mehr Vereinsmitglieder als Einwohner. In den vergangenen Jahren ist die Situation für unsere Vereine nicht einfacher geworden: Die Menschen werden häufig durch den Beruf stärker beansprucht. Viele Leis- tungen werden durch kommerzielle und private Anbieter übernommen, die bislang den gemeinnützigen Verbänden überlassen waren. Es gibt zunehmende Individualisie- rungstendenzen und eine fortschreitende Organisations- müdigkeit sowie die Abschwächung unserer traditionellen Wertesysteme. Der finanzielle Aufwand der ehrenamtlich Tätigen hat sich erhöht. Gleichzeitig verändert sich die ge- sellschaftliche Bewertung, Engagement wird kaum mehr wahrgenommen – und wenn, dann häufig nicht positiv be- wertet. Unsere Vereine leiden darunter, dass häufig diejenigen, die eine Aufgabe, ein Ehrenamt übernehmen, nicht mit mehr Ehre, sondern allenfalls mit mehr Mitleid rechnen können. All dies sollte für den Staat Grund genug sein, die Situation für unsere Vereine und die ehrenamtlich Tätigen zu verbessern. Die Handlungs- und Gestaltungsspiel- räume der Vereine müssten durch finanzielle und büro- kratische Entlastungsmaßnahmen erweitert werden. Die CDU-geführte Bundesregierung hat mit dem Ver- einsförderungsgesetz von 1989 eine sehr gute Grundlage geschaffen, jetzt wäre es an der neuen Bundesregierung, auf diesem Weg weiterzugehen. Aber nein, das tun Sie nicht. Sie haben in den zwei Jahren ihrer Regierungszeit die Vereine nicht entlastet, Sie haben sie belastet. Mit Ihren unseligen Gesetzen haben Sie die Vereine wirt- schaftlich geschwächt, dafür die Bürokratie vervielfacht und viele Menschen entmutigt, sich zu engagieren. Wie sieht Ihre Bilanz aus? Die Neuregelung der 630-Mark-Jobs belastet unsere Vereine und die dort Täti- gen erheblich. Das ist keine Vermutung mehr und keine Polemik – gehen Sie in die Vereine und hören Sie den Menschen zu. Unsere Vereine werden allein durch die zu- sätzliche Bürokratie über Gebühr belastet. Das führt zu Frustration und Demotivation. Eine erhebliche Anzahl von Mitarbeitern hat wegen Ihres 630-Mark-Gesetzes sein Engagement für einen Verein beendet. Allein in 35 Verei- nen des „Freiburger Kreises“ haben 190 630-Mark-Ar- beitskräfte ihre Tätigkeit aufgegeben. Warum hört die SPD nicht auf ihren eigenen parlamentarischen Geschäftsführer, den Kollegen Wilhelm Schmidt? Selbst er warnt in einem Schreiben an seine Genossinnen und Genossen vor einer Überforderung der ehrenamtlichen Strukturen, durch dieses unselige 630- Mark-Gesetz. Die Neuregelungen zur Scheinselbstständigkeit – ebenfalls ein Volltreffer, aber nur als Schuss in den Ofen. Neben zusätzlichen finanziellen Belastungen brachten sie auch eine erhebliche Rechtsunsicherheit mit sich, Versi- cherungsträger und Finanzämter bewerten gleiche Sach- verhalte völlig unterschiedlich. Auch das beschwert un- sere Vereine. Sie hören diese Vorwürfe nicht zum ersten Mal und Sie werden sie nicht zum letzten Mal hören – je länger die Vorschriften Gesetz sind, desto deutlicher werden die ne- gativen Auswirkungen. Ich sage Ihnen noch einmal: Ge- hen Sie in die Vereine und hören Sie den Menschen zu! Ich kann den Kolleginnen und Kollegen der SPD die- sen Vorwurf nicht ersparen: Sie stärken unsere Vereine nicht, Sie benützen unsere Vereine. Sie tragen die Pro- bleme der Sozialversicherungen auf dem Rücken der Ver- eine aus. Für Sie sind unsere Vereine und ihre Mitglieder zusätzliche Geldquellen, die es auszuschöpfen gilt. Welche Auswirkungen diese Politik hat, können Sie in jedem Verein abfragen, ich habe mich einmal beim „Frei- burger Kreis“ erkundigt: Die Vereine schränken ihre Angebote ein, besonders die Bereiche der Jugend- und Seniorenarbeit sind betroffen. Die Vereine verlieren Mit- arbeiter, da diese die Diskrepanz zwischen Ihren Sonn- tagsreden und der täglichen Realität nicht mehr ertragen wollen. Auf all diese Vorwürfe reagieren Sie gebetsmühlenar- tig, ich möchte fast wetten, dass wir auch wieder zu hören bekommen: Aber wir haben doch die Übungsleiterpau- schale erhöht. Wir haben doch den Bezugskreis um den „Betreuer“ erweitert. Und? – Von der erhöhten Übungsleiterpauschale haben die Vereine wenig, sie steht den einzelnen Steuerpflichti- gen zu. Und der „Betreuer“? – Finanzstaatssekretärin Dr. Hendricks selbst bezeichnet diesen Begriff als „nicht eindeutig“, das Finanzministerium will seine Definition den Gerichten überlassen. Na, das ist ja wirklich eine gute Nachricht für unsere Vereine: Klagt erst einmal, liebe Eh- renämtler! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist bei all dem nicht untätig geblieben. Wir haben den Vereinen zugehört, wir haben die Probleme erkannt und zu lösen versucht: Mit dem „Gesetz zur Verbesserung der Vereinsförderung und der Vereinfachung der Besteuerung der ehrenamtli- chen Tätigen“ sollte das Vereinsförderungsgesetz fortent- wickelt und den aktuellen Erfordernissen angepasst wer- den. SPD und Grüne sind dagegen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12499 (C) (D) (A) (B) Mit dem „Gesetz zur Förderung ehrenamtlicher Tätig- keit“ wollen wir im Sozialgesetzbuch IVdie Klarstellung, dass die Wahrnehmung von Ehrenämtern keine Beschäf- tigung im Sinne des § 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch IV dar- stellt und damit nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegt. In der ersten Lesung zeigten SPD und Grüne auch dafür wenig Begeisterung. Doch wir werden nicht aufhören, wir dürfen nicht aufhören, die Auswirkungen Ihrer konzeptionslosen und unsozialen Politik abzumildern oder zu beseitigen. Daher haben wir uns in unserem heutigen Antrag mit Ihrer miss- ratenen Ökosteuer befasst. Diese Ökosteuer ist wirklich der Gipfel. Sie belastet nicht allein die Unternehmen, Familien, Rentner und Stu- denten überdurchschnittlich, die Berufspendler, die Be- amten und Selbstständigen – auch für unsere gemein- nützigen Vereine ist sie eine erhebliche Belastung. Ehrenamtlich Tätige, Eltern und Betreuer, die Kinder und Jugendliche zu Wettkampf und Training fahren, müssen zahlen. Ihre Ökosteuer verteuert die Benutzung von Schwimmbädern, Vereinsheimen, Hallen und sonstigen Sportstätten, die Energie brauchen. Da langen sie zu, und zwar ohne Ausgleich. Den erhalten nur die Unternehmen, die besonders viel Energie verbrauchen. Können Sie mir diese Logik erklären, können Sie sich diese Logik selbst erklären? Mit Sicherheit nicht! Eine Umfrage bei größe- ren Vereinen hat gezeigt, dass allein die Ökosteuer diese Vereine mit durchschnittlich 8 740 DM pro Jahr zusätzlich belastet, und zwar ohne Ausgleich. Die explodierenden Ölpreise kommen hinzu. Es sind nicht nur die ölfördern- den Länder, die die Preise hochjagen. Eine Ursache liegt auch im schwachen Euro, den der Bundeskanzler als her- vorragende Basis für unseren überschäumenden Export lobt. Unsere Vereine aber werden mit den Schattenseiten dieser Entwicklung konfrontiert. Dabei will ich noch nicht einmal das Extrembeispiel der Skivereine bemühen, die Wochenende für Wochenende lange Fahrtstrecken zu- rücklegen müssen, um zu ihren Wettkampforten zu ge- langen. Kleine und mittlere Vereine können diese Belastungen auch nicht durch Erhöhung der Mitgliedsbeiträge auffan- gen. Dies träfe häufig vor allem sozial schwächere Bevölkerungsgruppen, für die das Angebot der Vereine oft die einzige Möglichkeit ist, sich sportlich oder kultu- rell zu betätigen. Mitgliedsbeiträge müssen bezahlbar bleiben, damit alle sozialen Schichten am Vereinsleben teilnehmen können. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, den gemeinnützigen Vereinen in Deutschland für die erhebliche Verteuerung der Energiekosten einen finan- ziellen Ausgleich zu gewähren. Um es deutlich zu sagen: Wir lehnen die Ökosteuer insgesamt ab. Die gehört weg – und es gibt ja auch schon deutliche Kritik aus den Reihen der Regierung. Aber Sie lieben es anscheinend, grundsätzlich falsche Gesetze nur punktuell nachzubes- sern. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lassen Sie mich eine Vorbemerkung zum Antrag der CDU/CSU machen: In ihrem Antrag beklagt die CDU/CSU die besondere Belastung der Vereine durch hohe Kosten und Energiepreise. Es gehörte zu den ersten Gesetzgebungsvor- haben der Regierungskoalition, die aufgelaufenen Fehlent- wicklungen der letzten Regierungskoalition zu korrigieren, Den Missständen bei den geringfügigen Beschäftigungs- verhältnissen (630-DM-Jobs) und der die Sozialversiche- rungspflicht unterlaufenden Scheinselbstständigkeit haben wir entgegengewirkt. Wir haben die jährliche Übungsleiter- pauschale um 50 Prozent auf 3 600 DM angehoben. Das neue Stiftungsrecht erlaubt steuerabzugsfähige Spenden an Vereine von bis zu 40000 DM pro Person und Jahr. Leider wird der große Zusammenhang bei der Opposi- tion wie üblich ausgeblendet. Auch Vereinsmitglieder leben in der „Einen Welt“. Die Klimakatastrophe trifft alle, wenn wir nichts dagegen tun. Mit dem kürzlich ver- abschiedeten Klimaschutzprogramm setzt sich die Bun- desregierung das hoch gesteckte Ziel, bis 2005 zu einer Absenkung der CO2-Emmissionen um 25 Prozent im Ver-gleich zu 1990 zu kommen. Dies ist eine gesamtstaatliche wie gesamtgesellschaftliche Aufgabe und es darf kein Ge- geneinander-Ausspielen der verschiedenen Akteure ge- ben. Anstatt sich Gedanken darüber zu machen, wie die dringend notwendigen Energieeinsparungen erreicht wer- den, schreit die CDU/CSU einzig nach Subventionierung der Energiekosten. Von der allseits geforderten Entbüro- kratisierung kann da keine Rede sein. Längst sind viele Vereine bei der Reduzierung ihrer Energiekosten viel wei- ter vorangekommen, als die Opposition meint, hier bekla- gen zu müssen. Gerne schließe ich mich jedoch der Überschrift Ihres Antrages an, wonach gemeinnützige Vereine von hohen Energiekosten entlastet werden sollten. Es kann nicht oft genug betont werden, dass die Bundesregierung zu die- sem Zweck eine Palette von Förderprogrammen aufgelegt hat, deren finanzielle Mittel auch Vereinen zugute kämen. Ich denke hier vor allem an das „100 000 Dächer-Solar- strom-Programm“, durch das ein anerkannter Durchbruch bei der Verwendung von Solarenergie in vielen Bereichen der Gesellschaft erzielt wurde. Wir werden dieses Pro- gramm noch weiter verbessern. Außerdem bestehen um- fangreiche Fördermöglichkeiten aus dem Programm „Förderung erneuerbarer Energien“ sowie aus dem „CO2-Minderungsprogramm“ und dem „Wohnraum-Modernisierungsprogramm“ der Kreditanstalt für Wieder- aufbau (KfW). Die Maßnahmen zur Verbesserung des Kli- maschutzes können daher nicht allein auf Maßnahmen im Zuge der ökologischen Steuerreform reduziert werden. Die Lenkung des Energieverbrauchs über Kosten läuft parallel zu aktiver Gestaltung und Durchführung von Um- weltschutzmaßnahmen vor Ort – auch für gemeinnützige Vereine. Zu begrüßen wäre ebenfalls die Verankerung des Um- weltschutzes in den Satzungen der Vereine, um auch die Aktivitäten der Vereine noch stärker auf eine nachhaltige Entwicklung auszurichten. Multiplikatoreffekte würden diese Maßnahmen auch in den privaten Bereich und in das Wirtschaftsleben tragen. Ein neuer ,,Umweltpolitischer Dreiklang zum Nutzen aller muss her: weniger verbrau- chen, effizienter nutzen und intelligenter einsetzen. Die Maßnahmen für den Umweltschutz und die not- wendige Haushaltskonsolidierung überwinden die kurz- fristorientierte „live now, but pay later“-Mentalität der letzten Regierungskoalition. Die notwendigen Anstren- gungen für den Umwelt- und Klimaschutz können nur Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 200012500 (C) (D) (A) (B) von allen gemeinsam getragen werden. Gemeinnützigkeit und Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit sowie der nachfolgenden Generationen sind daher zwei Seiten derselben Umweltschutzmedaille. Ernst Burgbacher (F.D.P.): Die eigentlichen Pro- bleme der gemeinnützigen Vereine sind Rot-Grün entwe- der nicht bekannt oder aber die Koalition will sie nicht wahrnehmen. Dies wurde vor vier Wochen deutlich, als im Bundestag eine Debatte über die Belastung der Vereine durch die Neuregelung der 630-DM-Jobs stattgefunden hat. Dabei hat sich gezeigt, dass für Rot-Grün das Ehren- amt vor allem in „Projektgruppen“ existiert. Aber nicht nur die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungs- verhältnisse, die mit höheren Kosten und vermehrter Bürokratie verbunden ist, sondern auch andere Maßnah- men der Bundesregierung belasten die gemeinnützigen Vereine über Gebühr. Die Ökosteuer trägt an den enormen Energiepreis- erhöhungen der letzten Zeit einen wesentlichen Anteil. Einführung und Erhöhung dieser Energiesteuer haben die Mineralölbranche geradezu ermuntert, ebenfalls an der Preisschraube zu drehen. Der schwache Euro kommt hinzu. Dies alles betrifft und belastet die Vereine in hohem Maße. Sie sind häufig nicht in der Lage, die gestiegenen Energiekosten etwa durch eine Erhöhung der Mitglieds- beiträge aufzufangen. Denn meistens lässt die soziale Struktur ihrer Mitglieder höhere Beitragszahlungen nicht zu. Daher sind die Vereine gezwungen, durch Reduzie- rung ihrer Angebote oder durch personelle Einsparungen zu reagieren. Das darf nicht sein. Unsere gemeinnützigen Vereine sind von großer ge- sellschaftlicher Bedeutung. Sie bieten vielen Menschen die Möglichkeit aktiver Freizeitgestaltung, sie integrie- ren, sie führen insbesondere junge Leute in das Gemein- schaftsleben ein. Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement müssen Unterstützung seitens der Politik er- fahren. Die Politik muss gemeinnützigen Vereinen bei ih- rer verantwortungsvollen Arbeit den Rücken stärken und darf ihnen keine Steine in den Weg legen. Viele Maßnahmen dieser Regierung – und dazu gehört auch die Ökosteuer – wirken sich in der Praxis aber als Ehrenamtskiller aus. Wir fordern die Koalition eindringlich auf: Verzichten Sie auf die geplante Erhöhung der Ökosteuer zum 1. Ja- nuar 2001. Noch besser: Zeigen Sie endlich Einsicht. Nehmen Sie die Ökosteuer insgesamt zurück! Solange Sie aber dazu nicht bereit sind, entlasten Sie zumindest die ge- meinnützigen Vereine von diesen hohen Belastungen! Gustav-Adolf Schur (PDS): Gemeinnützige Vereine von hohen Energiekosten zu entlasten, das ist eine sehr vernünftige Forderung, der ich mich ohne weiteres an- schließen kann, noch dazu, wenn von der CDU/CSU in so liebevoll vereinnahmender Weise von unseren Vereinen die Rede ist. Nur, meine Herren Antragsteller – bezeichnenderweise hat für diesen Antrag auch keine Frau votiert –, handelt es sich bei Ihrem Papier um eine simple „Milchbubenrech- nung“ oder, richtiger ausgedrückt, um eine Schaufens- teraktion, die ganz im Zeichen nahender Wahlkampfge- fechte zu stehen scheint. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wer hat denn mit einer über Jahre verfehlten Kommunalpolitik dafür gesorgt, dass Städte und Gemeinden einfach nicht mehr in der Lage sind, eine ordentliche sportliche Grund- förderung für die Vereine zu gewährleisten? Städtische Betriebe und private Unternehmen fressen bei Strafe ihres eigenen Unterganges mehr als 80 Prozent aller Einnahmen der gemeinnützigen Sportvereine auf. Statt Vereinsentwicklung im Sinne ihrer Satzungen wird die stetige Betriebskostendeckung zur alles bestimmen- den Rechnungsgröße. Dafür heute nur die horrenden Straßenreinigungskosten, Energiekostenbelastungen, ge- stiegenes Wassergeld und weitere erhöhte Nutzungsge- bühren für die Sportstätten in die Debatte zu werfen, um gegen eine ungeliebte Ökosteuer Sturm zu laufen, ver- stehe ich nicht als konstruktive Oppositionspolitik. Mir geht es um eine Politik, der man sich bei vernünf- tigem Herangehen schwer verschließen kann, was durch- aus schon durch praktiziertes einheitliches Abstimmungs- verhalten im Sportausschuss belegt worden ist. In dieser Richtung einige deutliche Gedanken: 15 Millionen DM für die Sportstätten des Breitensports durch den so genannten Goldenen Plan Ost, mit denen sich die Regierungskoalition bei jeder Gelegenheit brüs- tet, sind genau genommen ein schlechter Witz. Damit kann man nicht einmal in 30 Jahren die Qualität der Sport- stätteninfrastruktur der alten Länder erreichen, selbst bei dortigem immer stärker einsetzenden Verfall. Auch die lautstark gepriesene Anhebung der Übungs- leiterpauschale auf 3 600 DM pro Jahr kann nicht greifen, weil sie aufgrund der vorhandenen Vereinsbefindlichkeiten einfach nicht praktikabel ist. Auch die schlimme Schulsportentwicklung seit über 25 Jahren wird so keine Umkehr erfahren. Erfreulich war die heutige Sportausschusssitzung zum Thema, was Gutes für die Zukunft verspricht. Auch im Prozess der Herausbildung sportlicher Höchst- leistungen erweist sich das Netz der Zuständigkeiten als zu großmaschig. Immer weniger Aktive können systema- tisch zur Weltklasse geführt werden. Statt System herrscht das Prinzip Zufall. Auch mangelnde Finanzierungsmöglichkeiten können ausgeschlossen werden. Denn wenn gebraucht und er- wünscht, dann kann der Bund schon mal 287 Millionen über den Plan hinaus für den Umbau des Olympiastadions von Berlin herüberreichen. Im November 1987 fand in Berlin ein vom DSB initi- ierter Kongress „Menschen im Sport 2000“ statt. Seither sind 13 Jahre vergangen. Gesamtgesellschaftliche Zäsu- ren prägten die Entwicklung auch im Sport, deren einge- leitete Prozessdynamik bis heute weder zu einem Ab- schluss gebracht noch bewältigt werden konnte. Zusätzlich sind gänzlich neue, den Sport gravierend tangierende Probleme und Einflüsse hinzugekommen. Die Sportland- schaft in Deutschland hat sich sehr verändert, aber das gesamte System der Sportförderung nicht. Die Ergebnisse Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12501 (C) (D) (A) (B) der jüngsten Olympischen Spiele und der Paralympics sprechen eine deutliche Sprache. Es ist an der Zeit in einem „Deutschen Sportkongress“ die Wirklichkeit, die Realitäten im deutschen Sport in all seinen Facetten umfassend zu analysieren, um der zukünftigen Sportentwicklung in Deutschland und einem sich vereinigenden Europa auch nur annähernd entspre- chen zu können. Dazu, meine Herren Antragsteller, bedarf es eines konstruktiven Politikansatzes aller. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe: – ... Gesetz zur Änderung des Einkommensteu- ergesetzes (Doppelte Haushaltsführung) – ... Gesetz zur Änderung des Einkommensteu- ergesetzes (Freibeträge für Abfindungen) (Tagesordnungsordnungspunkt 9 a und b) Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Soweit mit dem Antrag 14/4437 beantragt wird, Aufwendungen für die doppelte Haushaltsführung länger als zwei Jahre als Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben zuzulassen, hat dies zunächst einen steuertechnischen Aspekt. In unserem Steuerrecht gilt das Nettoprinzip. Das heißt, alle Aufwen- dungen, die zur Erzielung von Einnahmen gemacht wer- den, sind von den Erlösen abzuziehen. Nur was dann als Differenz übrig bleibt, ist zu versteuern. Aufwendungen, die der privaten Lebensführung dienen, können nicht steuerlich geltend gemacht werden. Theoretisch ist die Abgrenzung von Aufwendungen der privaten Lebens- führung und der Aufwendung zur Erzielung von Einnah- men ganz einfach. In der Praxis gibt es jedoch Grenzbe- reiche und auch Aufwendungen, die beiden Bereichen dienen. Bei den Kosten für eine Zweitwohnung handelt es sich um einen solchen Grenzbereich. Zweifelsohne ist der mit der Arbeitsaufnahme an einem anderen Ort verbun- dene Aufwand zunächst einmal Aufwand zur Erzielung von Einkünften. Allerdings ist dies nicht von Dauer. Der natürliche Verlauf ist, dass man sich in die Nähe seiner Ar- beit mit seinem Lebensmittelpunkt begibt. Wer dies nicht tut, betreibt privaten Aufwand. Der Zeitpunkt, zu dem die Betriebskosten in Kosten der privaten Lebensführung umschlagen, kann objektiv nur schwer bestimmt werden, und es ist von Fall zu Fall sicherlich anders. Deshalb war es dem Gesetzgeber erlaubt, eine allgemeine Frist von zwei Jahren durch das Jahressteuergesetz 1996 einzu- führen. Sofern Sie eine Ungleichbehandlung zwischen Arbeit- nehmern und Abgeordneten als Begründung für Ihr Än- derungsbegehren anführen, verkennen Sie die Tatsachen. Ein Abgeordneter hat im Prinzip zwei Arbeitsplätze gleichzeitig. Er ist zum einen am Parlamentssitz tätig und zum anderen im Wahlkreis. Diese zwei Arbeitsorte hat er für die Dauer seiner Wahl. Deshalb können die Lebens- sachverhalte überhaupt nicht miteinander verglichen wer- den. Dem Antrag fehlt insoweit die sachliche Grundlage, deshalb kann ihm nicht zugestimmt werden. Soweit mit der Drucksache 14/4438 die Verbesserung bei der Besteuerung von Abfindungen bei Arbeitnehmern bei Kündigung oder Gerichtsurteil angestrebt wird, ist das berechtigt. Wir hatten hierzu bereits mit unserem Ent- schließungsantrag vom 11. Oktober 2000 –14/4285 – ent- sprechende Forderungen gestellt. Es gibt zwei Wege, um an dieser Stelle Gerechtigkeit herzustellen: erstens, Anhe- bung der Freibeträge nach § 3 Nr. 9 EkStG und/oder zwei- tens Einbeziehung in das Verfahren zur Besteuerung von außerordentlichen Einkünften mit dem halben Steuersatz nach 34 Abs. 3 EkStG. Diesen Weg wollen wir mit unserem Antrag zur Wie- dereinführung des halben Steuersatzes für Gewinne aus der Betriebsveräußerung und auch der selbstständigen Handelsvertreter auch auf die Arbeitnehmerabfindungen – zum Steuersenkungsergänzungsgesetz Umdruck Nr. 6 – gehen. Dies soll nicht nur für die Zukunft gelten, sondern rückwirkend ab 1. Januar, weil es häufig nicht in der freien Bestimmung der Betroffenen lag und liegt, wann sie aus- scheiden oder einen Betrieb aufgeben. Niemand darf in das durch den Pannenbetrieb der Koalition entstandene Loch fallen. Wir stützen uns bei unserem Vorschlag auf die eindeutigen Ergebnisse der Anhörung vom 25. Okto- ber 2000. Die Kürzungen durch das Steuerentlastungsgesetz ge- rade bei den Arbeitnehmern machen die soziale Schief- lage der Steuerreform von Rot-Grün deutlich. Während Konzerne künftig Veräußerungsgewinne steuerfrei kas- sieren dürfen, werden Arbeitnehmer nur in geringfügigem Umfang entlastet. Ich empfinde es als einen Skandal, dass ausgerechnet Sozialdemokraten eine solche Schieflage produzieren. Eine solch unsoziale Regelung hätten wir uns als Union einmal leisten sollen! Welchen verbalen Krieg hätten Sie hier im Hause mit Unterstützung der Ge- werkschaften angezettelt? Aber Sozialdemokraten mei- nen, alles zu dürfen. Aber wenn zwei das Gleiche tun, dann ist das eben noch nicht das Gleiche. Aber: Murks bleibt Murks. Das gilt für große Teile Ihrer „Reform“. Wie ungerecht Ihre Reform ist und wie unsozial auch Sie sind, macht auch die Stellungnahme der Kirchen zur Anpassung der Besteuerungsgrundlagen deutlich: Die Kirchen weisen darauf hin, dass durch das Halbeinkünf- teverfahren Personen nicht mehr nach ihrer Leistungsfä- higkeit zur Steuer herangezogen werden. Durch die 1975 unter Ihrem Kanzler Helmut Schmidt eingeführte Vollan- rechnung der Körperschaftsteuer auf die Einkommen- steuer und die damit erfolgte endgültige Versteuerung auf der personalen Ebene wurde dem Sozialstaatsprinzip vollends Rechung getragen. Nur in diesem System gibt es tatsächlich die Versteuerung nach Leistungsfähigkeit. Beim Halbanrechungsverfahren wird dieses verwischt, weil die Einkünfte aus Körperschaften nur noch zur Hälfte in den sozialen Ausgleich einbezogen werden. Die übrige Hälfte wird bei der Leistungsfähigkeit nicht berücksichtigt. Ausgerechnet Sozialdemokraten konzi- pieren ein solch kapitalfreundliches Recht. Die von der Regierung vorgelegte Steuerreform ist für den größten Teil der arbeitenden Menschen keine Steuer- entlastung, sondern eine Belastung. Die Beispiele zeigen, dass mit dem Tarif 2005 noch nicht einmal die heimlichen Steuererhöhungen kompensiert werden. Dabei muss man berücksichtigen, dass es bei der augenblicklichen Inflati- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 200012502 (C) (D) (A) (B) onsrate sicherlich nicht bei den im Beispiel unterstellten Lohnerhöhungen von 2,5 Prozent bleiben wird. Der mo- derne „Brotpreis“, nämlich die Preise für Benzin und Energie, treibt die Inflationsrate nach oben. Wir liegen gegenwärtig bei 2,5 Prozent. Da wären Lohnerhöhungen von 2,5 Prozent gerade der Inflationsausgleich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich die Gewerkschaften damit begnügen werden. Dementsprechend wird die Lohn- und Preisentwicklung noch stärker angeheizt und es bleibt nach der kalten Progression für den Arbeitnehmer nichts mehr übrig. Sie werden an dieser Stelle dem Druck nicht standhalten und zu einer Nachbesserung kommen. Dies sage ich Ihnen heute schon voraus. Im Übrigen hat bei Ihnen das Wort „Nachbesserung“ oder „Reparatur“ Konjunktur. Wir werden noch viele Korrekturen an Ihren vermurksten Steuerreformen vor- nehmen müssen. Eine ganze Kette zeichnet sich schon ab: Im Steuersenkungsgesetz mussten Sie die Zinsregelung aus dem Steuerentlastungsgesetz reparieren. Das Steuer- senkungsergänzungsgesetz ist eine einzige Reparatur. Um die Kirchen vor großem Schaden zu bewahren, muss für die Kirchensteuer eine gesonderte, zweite Bemessungs- grundlage geschaffen werden. Gestern hatten wir dazu eine Anhörung. Wieder die Reparatur einer Fehlleistung ihrer Steuerpolitik. Die nächste Reparatur des Steuerent- lastungsgesetzes steht ins Haus. Das Finanzgericht Müns- ter hat durch Urteil vom 7. September 2000 (Az.: 4 V 1612/00 – E und 4 V 1617/00 ) Steuervorauszahlungen in Folge der Anwendung ihrer Verlustverrechnungsregelung nach § 2 Abs. 3 EStG 1999 (das ist die Fassung des Steuer- entlastungsgesetzes) für verfassungswidrig erklärt. Sie werden auch hier kurzfristig nachbessern müssen. Diese Regelung hatten Sie aus ideologischen Gründen gegen unseren Rat und gegen die Meinung der Experten aufge- nommen. Sie hatten eine erneute Anhörung zu diesem im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wesentlich geänder- ten Fallenstellerparagraphen abgelehnt. Nun bekommen Sie die Quittung für Ihr arrogantes Verhalten. Die Ein- führung einer Heizkostenpauschale und einer Entfer- nungspauschale zur Beseitigung der Ökosteuerfolgen sind die nächste anstehende Reparatur. Meine Damen und Herren, Sie behaupten in Ihrer Halbjahresbilanz, Sie hätten den Reformstau aufgelöst. Dabei ist zunächst einmal festzustellen, dass die SPD in der Opposition unter der Führung der damaligen Minis- terpräsidenten Schröder, Eichel und Lafontaine in den Jahren 1996 bis 1998 den so genannten Reformstau über- haupt erst verursacht hat. Auch wenn Sie es nicht hören mögen, eine wesentlich bessere Steuerreform hätten wir schon 1996 haben können. Ich will in dem Zusammenhang noch einmal verdeut- lichen, dass die von der Koalition vorgelegten Vorstellun- gen im Wesentlichen Menschen mit höherem Einkommen und die großen Kapitalgesellschaften entlastet hätten. Handwerkern, Facharbeitern und insbesondere dem Mit- telstand hätten Ihre Vorstellungen wenig Entlastung ge- bracht. Der Mittelstand wurde zunächst einmal belastet und seine Entlastung tritt dann am Sankt-Nimmerleins- Tag oder im Jahre 2005 ein. Die wenigen Verbesserungen, die noch lange keine gute Reform ausmachen, sind aus- schließlich unserem harten Widerstand im Bundestag zu verdanken. Wir haben uns bei Gegenfinanzierungsmaß- nahmen immer um einen Gleichschritt mit den Entlas- tungsmaßnahmen bemüht. Davon kann hier keine Rede sein. Belastungen ab 1. Januar 2000 und Entlastungen ab 2005. Das ist der Unterschied zwischen der Koalitionspo- litik und einer Telefonzelle: Bei der Telekom müssen Sie erst bezahlen und können dann wählen. Bei Schröder wählen Sie erst und bezahlen dann. Mit der Steuerreform ist denn auch Ihr Erneuerungs- image schon weitgehend erloschen. Die Teilreform in der Rente, die diese Woche verabschiedet werden sollte, ha- ben Sie mangels Einigung in den eigenen Reihen und zwi- schen den Koalitionsparteien von der Tagesordnung neh- men müssen. Die „große Rentenreform“ wird von Ihnen nun in der vierten Nachbesserung diskutiert. Von einer kraftvollen Reform kann so lange keine Rede sein, bis im Deutschen Bundestag ein Entwurf eingebracht ist. Da hilft auch keine Kraftmeierei des Bundeskanzlers auf dem ÖTV-Kongress. Sie haben bisher nichts Endgültiges auf die Reise gebracht. Von einer Gemeindefinanzreform, wie sie den Kom- munen immer wieder in Aussicht gestellt worden ist, ist überhaupt keine Rede mehr. Am Beispiel der Ökosteuer wird die Politikmethode der rot-grünen Bundesregierung und ihres Kanzlers be- sonders deutlich. Nimm dir ein sympathisches Thema: „Ich tue etwas für die Umwelt und die Rente“. Vergiss deine Versprechen von gestern: „6 Pfennig sind genug, es bleibt bei der nettolohnbezogenen Rente, weitere Stufen der Ökosteuer gibt es nur im Rahmen der europäischen Union.“ Gib einigen Menschen ein kleines Stück, zum Beispiel Senkung der Lohnnebenkosten, das Gefühl, et- was für die Umwelt zu tun. Nimm vielen gleichzeitig ein Mehrfaches von dem, was du gegeben hast, unter einer anderen Überschrift, damit die Menschen nicht merken, zum Beispiel Steuersenkung und Erhöhung der Bemes- sungsgrundlage. Das ist „linke Tasche“, „rechte Tasche“. Auf der einen Seite gibt der Bundesfinanzminister mit dem Steuersenkungs- und dem Steuersenkungsergän- zungsgesetz, der Erhöhung der Kilometerpauschale und Heizkostenzuschüsse und auf der anderen Seite nimmt er ein Vielfaches davon über Abschreibungen und Ökosteuer wieder weg. Aus der linken Tasche nimmt er mehr als das, was er vorher in die rechte Tasche hineingetan hat. Ich nenne das „Eicheln“. Unter dem Strich macht der Staat immer ein gutes Geschäft dabei. Dieses „Eicheln“ scheint sich zu einer Regierungsmethode zu entwickeln. Ganz ne- benbei wird der Staatskuchen immer größer, was ja auch sozialistischer Ideologie entspricht. Im Ergebnis bedeutet dieses immer mehr Bevormundung der Menschen, weil sie anstelle der eigenen Entscheidung sich mit der kollek- tiven Wertschätzung abfinden müssen. Dazu wächst die Bürokratie, weil natürlich für die Verteilung auch Auf- wand entsteht. Für den Bürger bedeutet das im Endeffekt weniger Entscheidungsfreiheit und damit auch weniger Verantwortung; für mich heißt das Entmündigung und für die Verteilungskosten geht immer mehr von der Substanz verloren. Wenn durch die Ökosteuer rund 5 Milliarden DM ein- genommen und 3,2 Milliarden allein für die Wiedergut- machung von sozialen Folgen ausgegeben werden, dann wird der Unsinn hier besonders deutlich. Wer misst ei- gentlich die Bürokratiekosten? Wenn man hier einmal ehrlich wäre, dann erweist sich die Ökosteuer aus der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12503 (C) (D) (A) (B) Sicht des Fiskus als Nullsummenspiel. Dafür werden die Bürger mit viel Ärger überzogen und es gibt Verzerrun- gen, weil die Reparaturmaßnahmen natürlich nicht unbe- dingt bei denen ankommen, die belastet werden. Trotz aller Bürokratie wird dies nie richtig möglich sein. Des- halb: Sinnvoll ist nur, den Unsinn mit Stumpf und Stiel auszurotten und die Ökosteuer abzuschaffen. Ein anderes Beispiel für die Regierungsmethoden: Ver- sprich den Menschen etwas und lass es andere bezahlen. Ein beredtes Beispiel für diese Politik ist das Kindergeld. Es wird zu zwei Dritteln von Ländern und Gemeinden fi- nanziert, während sich der Bund als „Spender“ abfeiern lässt. Das nenne ich „Schrödern“. Zum Schrödern gehört auch, den Menschen etwas wegzunehmen und sich dafür noch als Held abfeiern zu lassen. Den Bürgern wird ange- droht, ihnen etwas zu nehmen, was sie nicht entbehren wollen oder notwendig brauchen, wie zum Beispiel im Rahmen der Steuerreform bei den Abschreibungen. Wenn der Widerstand dann groß wird, stellt sich der Kanzler hin, nimmt ein kleines Stück davon zurück und lässt sich dafür feiern. Die Verbände reden nur über das Zurückgenom- mene, weil sie ja ihre Leistung gegenüber ihrer Mitglied- schaft rechtfertigen müssen. Im Ergebnis merken die Menschen aber gar nicht, dass unter dem Strich ihnen durch die Regierung etwas genommen ist. Symbolhaft: Durch ein Kabinettsmitglied lässt der Kanzler androhen: Wir hauen euch den Arm ab. – Der Kanzler sorgt dann dafür, dass es nur die Hand ist. Die Menschen meinen, weil sie den Arm behalten haben, sei ihnen etwas Gutes geschehen, und übersehen dabei, dass am Ende die Hand fehlt. Langsam, aber sicher verstehen die Bürger Ihre Me- thode und kommen Ihnen auf die Schliche. Ihre Politik besteht aus „Schrödern“ und „Eicheln“. Aber sie dient nicht den Menschen. Nutzen Sie die Gelegenheit des jetzt laufenden Gesetzgebungsverfahrens, etwas für die Men- schen zu tun, und verbessern Sie den Entwurf noch während der Beratung, sodass nicht schon wieder die nächste Reparaturnovelle vorbereitet werden muss, bevor das Gesetz überhaupt in Kraft getreten ist. Übernehmen Sie unser Steuerkonzept ganz und nicht nur in Teilen, dann liegen Sie richtig. Sie sind und bleiben die Koalition der Steuererhöhun- gen. Auch wenn Sie mit Ihrer ständig wiederholten Flos- kel, es handle sich um die größte Steuerreform in der Ge- schichte Deutschlands, den Menschen etwas anderes weismachen wollen: Die Fakten sind andere. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Be- reits Anfang August habe ich das Thema Abfindungen für Arbeitnehmer in die politische Diskussion eingebracht, nachdem der Bundesrat die Wiedereinführung des halben Steuersatzes bei der Veräußerung von Personengesell- schaften eingefordert hat. Im Kern geht es dabei um eine Gleichbehandlung von Unternehmern und Arbeitneh- mern: einerseits im Falle eines Unternehmers bei Aufgabe seines Betriebes und Übergang in den Ruhestand oder dauernder Berufsunfähigkeit und andererseits im Falle ei- nes Arbeitnehmers bei Abfindung aus einem Arbeitsver- hältnis ab Vollendung des 55. Lebensjahres oder bei dau- ernder Berufsunfähigkeit. Im Rahmen der Verabschiedung des Steuersenkungs- gesetzes wurde der Freibetrag für Gewinne aus Betriebs- veräußerungen und -aufgaben von bisher 60 000 DM auf 100 000 DM erhöht. Durch die Beschlusslage des Bun- desrates wird nun im Steuersenkungsergänzungsgesetz der halbe Steuersatz bei Betriebsveräußerungen einmal im Leben wieder eingeführt. Diese steuerlichen Begünsti- gungen von Veräußerungsgewinnen sollen der Altersvor- sorge des betroffenen Unternehmers dienen. Wenn der Übergang in den Ruhestand der wesentliche Begründungszusammenhang für eine Steuerbegünsti- gung ist, dann kann diese Begünstigung nicht auf Unter- nehmer beschränkt bleiben, sondern es muss eine ver- gleichbare Steuerbegünstigung auch für Arbeitnehmer geregelt werden. Wenn einem Arbeitnehmer ab Vollen- dung des 55. Lebensjahres eine Abfindung für die Entlas- sung aus einem Arbeitsverhältnis oder wegen dauernder Berufsunfähigkeit gezahlt wird, dann handelt es sich um die Lebenssituation des Übergangs in den Ruhestand. Diese Situation kommt nur einmal im Leben vor, sodass eine vergleichbare Situation mit dem Unternehmer, der seinen Betrieb wegen Übergang in den Ruhestand ver- kauft, gegeben ist. Aus diesem Grunde setzt sich Bünd- nis 90/Die Grünen dafür ein, dass auch für Arbeitnehmer ab dem 55. Lebensjahr oder Berufsunfähigkeit einmal im Leben ein erhöhter Freibetrag im Fall von Abfindungen gewährt wird. Ich habe bislang eine Freibetragshöhe von 100 000DM in die Debatte eingebracht. Die Regierungskoalition will mehrere Modelle prüfen, bevor sie eine Entscheidung trifft. Eventuell kommt auch eine Verknüpfung mit der Altersvorsorge infrage. Wir sind in der Diskussion, um ei- nen Weg gemeinsam zu finden. Der PDS-Gesetzentwurf will erhöhte Freibeträge für Arbeitnehmer, die älter als 50 Jahre sind unabhängig von der Dauer eines Dienstverhältnisses. Richtig daran ist der Gedanke, dass die Dauer von Dienstverhältnissen auf mo- dernen Arbeitsmärkten eine abnehmende Rolle spielt. Falsch ist der Gedanke, ab dem 50. Lebensjahr erhöhte Freibeträge zu fordern; denn in dem Alter geht es um die Reintegration in den Arbeitsmarkt und nicht um den Übergang in einen vorgezogenen Ruhestand. Für uns geht es um den gleitenden und abgefederten Übergang von älteren Arbeitnehmern ab dem 55. Lebens- jahr in die Situation eines vorgezogenen Ruhestands. Nur so wird auch der adäquate Vergleich mit dem Unterneh- mer, der seinen Betrieb wegen Altersaufgabe verkauft, hergestellt. Gisela Frick (F.D.P): Die PDS legt heute zwei Ge- setzentwürfe vor, über deren Inhalt man durchaus disku- tieren kann. Es sollen jeweils Regelungen korrigiert wer- den, die die Koalition zu vertreten hat. Die Einschränkung der Abzugsfähigkeit der Kosten für die doppelte Haus- haltsführung auf zwei Jahre wurde 1995 vom damaligen SPD-geführten Bundesrat durchgesetzt, weil die SPD nicht bereit war, die Bürger umfassend zu entlasten, und auf Gegenfinanzierungsmaßnahmen bestand. Die Kappung der Freibeträge für Abfindungen ist Be- standteil der Steuererhöhungsorgie des früheren Bundes- finanzministers Lafontaine. Ich stimme der PDS in ihrer Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 200012504 (C) (D) (A) (B) Feststellung zu, dass die künftige Steuerfreistellung von Veräußerungsgewinnen der Kapitalgesellschaften und die eingeschränkte Wiedereinführung der Steuervergünsti- gung bei Betriebsaufgaben für Personengesellschaften zu einer weiteren Spreizung der Steuerbelastung für die aus dem Berufsleben ausscheidenden Unternehmer einerseits und die Arbeitnehmer andererseits führt. Auch die F.D.P. ist dafür, diese Spreizung möglichst zügig zu beseitigen. Die PDS muss sich aber die Frage gefallen lassen, warum sie ihre Vorschläge nicht in die seit Monaten andauernden parlamentarischen Beratungen eingebracht hat. Inhaltlich hätte gerade die Besteuerung von Abfin- dungen im heute im Finanzausschuss verabschiedeten Steuersenkungsergänzungsgesetz angesprochen werden können bzw. müssen. Auch die F.D.P. hat noch viele Vorschläge und Ideen, wie unser Steuerrecht zu ändern und insbesondere zu ver- einfachen ist. Wir haben unsere Änderungsanträge in die Beratungen des Finanzausschusses eingebracht, es wurde demokratisch darüber abgestimmt. Es ist nicht verständ- lich, warum die PDS nicht genauso vorgegangen ist, zu- mal gerade Änderungen bei den Arbeitnehmerabfindun- gen auch in den anderen Fraktionen gefordert werden. Ich gehe davon aus, dass beide Gesetzentwürfe zum jetzigen Zeitpunkt keine Mehrheit finden werden. Die PDS sollte ihre Anträge rechtzeitig einbringen, damit sie parallel zu den Vorschlägen der anderen Fraktionen beraten werden können. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Die Vereinten Nationen an der Schwelle zum neuen Jahrtausend – Deutsche Beiträge zur Umsetzung der Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 10 und Zusatztagesord- nungspunkt 2) Dr. Eberhard Brecht (SPD): Deutschland ist nicht nur aufgrund seiner Geschichte, sondern auch aufgrund seiner eigenen nationalen Interessen an einer multilatera- len Weltordnung ausgerichtet, mehr als andere Staaten, wie die USA oder Russland. So ist das deutsche Interesse an den Vereinten Nationen eben nicht nur von moralischer Natur. Deutschland hat ein massives Interesse an funkti- onsfähigen Vereinten Nationen, die zunehmend in der Ge- fahr stehen, ihre Glaubwürdigkeit durch die Lücke zwischen Anspruch und tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten zu verlieren. Die Koalitionsparteien haben deshalb anlässlich der Millenniums-Generalversammlung einen Antrag vorge- legt, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, noch mehr für die politische, administrative und finanzielle Stärkung der Weltorganisation zu unternehmen. Dazu gehören im sicherheitspolitischen Bereich unter anderem folgende Aspekte: Wir Deutschen müssen auch unseren Freunden deutlich sagen, dass es nicht sein kann, dass man die Vereinten Nationen mit Aufgaben über- frachtet, aber gleichzeitig die Vereinten Nationen mit zurückgehaltenen Beitragszahlungen gefügig machen will. Natürlich sollten wir nicht nur auf die anderen zei- gen, sondern auch selbst unsere freiwilligen Leistungen für Programme und Sonderorganisationen mittelfristig wieder erhöhen. Zu einer konstruktiven UN-Politik gehört auch, dass Deutschland sich noch stärker als bisher am Stand-by-System für friedenserhaltende Maßnahmen be- teiligt. Ich begrüße ausdrücklich die Präzisierungen, die Rudolf Scharping kürzlich diesbezüglich vorgenommen hat. Dennoch darf dies lediglich erst ein Anfang sein. Ziel muss es sein, dass UN-Einsätze schnell und effektiv um- gesetzt werden. Dabei kann und darf der deutsche Parla- mentsvorbehalt nicht beschädigt werden. Deutschland hat für Peacekeeping seit dem ersten Einsatz in Kambodscha 1991 mehr als 3,3 Milliarden DM aufgewendet und meh- rere Tausend Soldaten in internationale Einsätze entsandt. Schon aus diesem Grunde muss es daher Ziel deutscher Außenpolitik sein, Konflikte zu verhindern. Für künftige zivile oder militärische Einsätze ist es dringend geboten, die Ergebnisse der Brahimi-Kommission zu beherzigen. Es ist doch widersinnig, dass Einsätze gegenwärtig durch den Sicherheitsrat beschlossen werden, ohne dass eine langfristige Finanzierung sichergestellt ist oder eine ent- sprechende Einsatzplanung vorliegt. Die Empfehlungen werden von allen UNO-Staaten Opfer verlangen. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass ineffiziente peace- keeping-Einsätze letztendlich eine unverantwortliche Verschwendung von Steuergeldern sind. Deutschland sollte auch an einer weiteren Verrechtli- chung der internationalen Beziehungen interessiert sein. Die Bundesregierung hat sich im Rahmen der Verhand- lungen und Ratifizierung zum Internationalen Strafge- richtshof vorbildlich verhalten. Dennoch gilt es, auf allen Ebenen darauf zu drängen, dass so viele Staaten wie mög- lich, auch die Großmächte, dem römischen Statut beitre- ten. Schließlich sollten wir uns auch weiterhin aktiv und konstruktiv an der Reformdiskussion beteiligen. Es ist nicht oberste Priorität deutscher Außenpolitik, einen stän- digen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu bekommen. Es geht nicht um Prestige. Vielmehr muss dieses nun wirklich wichtige Gremium reformiert werden, um den Anforde- rungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein. Wenn dabei ein ständiger Sitz Deutschlands im Weltsicherheits- rat hilfreich ist, werden wir ihn bestimmt nicht ablehnen. Dabei sollten wir jedoch nicht vergessen, dass ein solcher Status mehr Pflicht als Zierde ist. Der von den Koalitionsfraktionen vorgelegte Antrag erhebt nicht Anspruch auf Vollständigkeit. Er beschreibt aber die wichtigsten Linien deutscher UNO-Politik für die nächsten Jahre. Unser Land muss sich, einer guten Tradi- tion folgend, für eine Stärkung der Vereinten Nationen einsetzen. Aus diesem Grunde werbe ich darum, dass auch andere Fraktionen sich während der Ausschussbera- tungen konstruktiv mit dem Koalitionsantrag auseinander setzen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12505 (C) (D) (A) (B) Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Wir alle wissen, wie sich die Welt in den vergangenen zehn Jahren gewan- delt hat. Der Kalte Krieg ist durch die deutsche Wieder- vereinigung beendet worden. Die Aufteilung der Welt in Ost und West ist hinfällig. Das heutige Koordinaten- system ist ein anderes. Dennoch spiegelt sich die alte Struktur bei den VN wider, die ein Spiegelbild dieses Schwarz-Weiß-Schemas war und in den organisatori- schen Grundstrukturen weitestgehend erhalten geblieben ist. Dieser bis 1989 undenkbare Veränderungsprozess der Weltordnung, der in einer unfassbaren Geschwindigkeit friedlich vor sich ging, hat die internationalen Gremien natürlich aufs Äußerste gefordert. Diese friedliche Verän- derung ist aber nicht zuletzt auch das Ergebnis langjähri- ger Konsultationsprozesse und ernsthafter internationaler Bemühungen, in Konfliktsituationen friedlich miteinan- der nach Lösungen zu suchen. Die strukturellen Veränderungen und die Öffnung in- ternationaler Gremien seit der Wiedervereinigung, sei es in der EU oder der NATO, haben vielen Ländern Hoff- nung und Chancen gegeben, diese Handreichungen wie EU- und NATO-Osterweiterung aufzunehmen, und de- mokratischen Strukturen zum Durchbruch verholfen. Die Vereinten Nationen haben dabei eine immer bedeutendere Rolle gespielt. Allerdings erwiesen sich ihre Strukturen oft als zu schwerfällig und nicht mehr zeitgemäß. Ich er- innere an die Rolle im ehemaligen Jugoslawien, wo eine schnelle Entscheidung des Sicherheitsrates durch altes Blockdenken verhindert wurde. Im Computerzeitalter und an der Schwelle zum 21. Jahrhundert darf die Staa- tengemeinschaft nicht die Schwerfälligkeit eines Tankers besitzen, wie wir dies in den letzten Jahren erlebt haben. Die Bundesrepublik ist bereit, heute, fünfzig Jahre nach Kriegsende, in den VN mehr Verantwortung zu über- nehmen. Durch die friedliche Revolution in der DDR und den friedlichen Prozess der Wiedervereinigung hat die BRD die Lehren aus ihrer Geschichte gezogen. Somit ist ihr – international gesehen – ein höheres politisches Ge- wicht zugewachsen. Obwohl Deutschland der drittgrößte Beitragszahler der VN ist, bleibt der politische Einfluss Deutschlands innerhalb der Gremien nach wie vor zu ge- ring. Besser und deutlicher gesagt: Die Beiträge der Bun- desrepublik Deutschland in den VN können nicht mehr nur auf die finanziellen beschränkt bleiben. Ich will damit die Bedeutung der sicheren Finanzierung der VN nicht in Abrede stellen. Der Hinweis in dem Antrag von SPD/Bündnis 90/Die Grünen, dass wir unsere amerikanischen Freunde auf die Erfüllung ihrer Pflichten hinweisen sollten, ist deshalb zwar richtig, aber ich frage mich, ob dies wirklich den ge- wünschten Erfolg bringt. Besser sollten wir darauf setzen, Einrichtungen der VN zu dezentralisieren, und – wie dies auch in dem Antrag angesprochen wird – den Standort Bonn mit seiner hervorragenden Infrastruktur und seiner Nähe zu Brüssel fördern. Deutschland muss also nicht nur aufgrund seines fi- nanziellen Beitrages in das machtpolitische und vor allem moralische Gefüge der UN angemessen und gerecht inte- griert werden. Das bezieht sich insbesondere auf die Arbeit und die Rolle des Sicherheitsrates, der in seiner heutigen Zusam- mensetzung die weltpolitischen Realitäten nicht mehr an- gemessen widerspiegelt. Eine Verbessung und Reform der Arbeitsmethoden des Sicherheitsrates ist dringend notwendig. Dabei geht es um die Erweiterung des Sicherheitsrates und um mehr Trans- parenz in seiner Arbeit, besonders im Verhältnis zur Ge- neralversammlung, aber auch um verbesserte Konsulta- tionen mit truppenstellenden Staaten und Konfliktparteien bei UN-Friedensoperationen. Deutschland sollte dabei keinen Zweifel lassen, dass es einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat anstrebt. Ich frage mich jedoch, wie stark die Bundesregierung auf unsere Verbündeten aus NATO und EU einwirkt, um in diesem Anliegen Partei für uns zu ergreifen. Die jetzige Regelung, dass an Friedensmissio- nen beteiligte Länder nicht einmal als Zuhörer im Sicher- heitsrat teilnehmen dürfen, zeigt deutlich alte Strukturen und Eitelkeiten im Sicherheitsrat. Die hier gemachten per- sönlichen Erfahrungen bei unserer letzten Reise nach New York und die Gespräche mit den Botschaftern der ständigen Mitglieder haben bei mir doch starke frustrie- rende Gefühle ausgelöst. Wenn zum Beispiel auf unsere Nachfrage über eine Teilnahme an der Sicherheitsratssit- zung bezüglich Kosovo vom russischen Botschafter mit- geteilt wurde, wenn Deutschland Interesse hätte, zu wis- sen, was dort gesprochen wurde, solle man doch die Pressekonferenz des russischen Botschafters besuchen. – Und dies war kein Einzelfall! Dennoch zeigt gerade der stattgefundene Milleniums- gipfel, dass die Mehrheit der Mitglieder der Staatenge- meinschaft eine Reform der VN und insbesondere des Si- cherheitsrates für dringend erforderlich hält. Auch die starre Haltung der USA in der Frage der Größe des Si- cherheitsrates ist ins Wanken geraten. Die Reformdiskussion, die wir zurzeit hier führen, ist allerdings für die UN nichts Neues. Sie hat schon kurz nach ihrer Gründung begonnen und wurde seitdem, mit gewissen Auf- und Abschwüngen der Intensität, kontinu- ierlich weitergeführt. Aufgrund der Anforderungen der Praxis unterlagen die VN einem permanenten Verände- rungs- und Anpassungsdruck. Man denke nur an die außerhalb der Charta erfolgte Entwicklung der „peace- keeping“-Einsätze Mitte der Fünfzigerjahre und die da- malige Erweiterung des Sicherheitsrates. Allerdings liefen und laufen all diese Prozesse nur sehr schwerfällig und langsam. Die anstehenden Probleme der Weltgemeinschaft haben diese Zeit jedoch nicht mehr. Es sind immer noch große Anstrengungen notwendig, um aus den VN eine weiterhin wirksame Weltorganisation für das 21. Jahrhundert zu machen. Mit Kofi Annan als Ge- neralsekretär sind dabei das Ansehen der VN und damit auch der Reformwille und die Erfolgschancen stark ange- stiegen. Die laufende Milleniums-Generalversammlung bestätigt dies nachdrücklich. Das Hauptanliegen der Re- formanstrengungen wird auf den folgenden Bereichen liegen müssen, die ich noch einmal zusammenfassen möchte: Reform des Sicherheitsrates mit der Erweiterung sei- ner Mitgliederzahlen und damit meine ich ganz deutlich auch die Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 200012506 (C) (D) (A) (B) sowie die Verbesserung der Arbeitsmethoden des Sicher- heitsrates. Die Prävention und die Fortentwicklung des „peace- keeping“ zu wirkungsvolleren Friedensoperationen, vor allem in Bezug auf die neuen Konflikttypen, die sich welt- weit ausbreiten und Unheil stiften. Die kritische Bestandsaufnahme der Erfolge, aber auch der Misserfolge der VN und ihrer Sonderorganisationen auf den Gebieten der Armutsbekämpfung, Entwicklungs- hilfe, Umwelt, usw. und der künftigen Bedeutung dieser Bereiche im Verhältnis zur Friedenssicherung. Die Modernisierung und Straffung der administrativen Strukturen sowie qualitative Verbesserung des Personals in den verschiedenen Bereichen. Eine solide Finanzierung der UN und ihrer Friedens- operationen; hierzu sind neben den Beiträgen der Staaten zum regulären UN-Haushalt und zum „peace-keeping“- Haushalt eventuell auch unkonventionelle Maßnahmen notwendig. Gegenwärtig mag man zu Recht bezweifeln, ob die Re- gierungen der Mehrheit der Mitgliedstaaten und ihnen voran die der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates tatsächlich bereit sind, die Ärmel umzukrempeln und alle notwendigen Reformen energisch und erfolgreich voran- zutreiben. Bisher geschieht das, von einigen löblichen Ausnahmen abgesehen, im Wesentlichen nur rhetorisch. Diesbezüglich erwarte ich auch von der Bundesregierung, dass sie ihre Versprechen in die Tat umsetzt, um bereits gewonnenes Vertrauen nicht zu verspielen. Leider lässt auch der anhaltende negative Stimmungsschwung in den USA die Schwierigkeiten der Reformbestrebungen erah- nen. Ohne die USA ist jedoch eine UN-Reform mit tatsächlicher Substanz nicht durchzuführen. Auch hierzulande habe ich manchmal das Gefühl, es herrsche immer noch große Unsicherheit und Unent- schlossenheit, wie mit der neuen weltpolitischen Rolle umzugehen ist. Es ist kein Großmannsdenken, wenn man eine wichtigere Rolle Deutschlands in der Weltgemein- schaft einfordert. Die Welt schaut auf Deutschland und er- wartet auch mehr Einsatz. Die Richtung, in der wir uns be- wegen müssen, ist eindeutig: Deutschland hat aufgrund seiner geographischen Lage im Herzen Europas und an der Schnittstelle zwischen ehemals Ost und West ein über- ragendes Interesse an der Stärkung und Einbindung in die multilateralen Strukturen. Die Vereinten Nationen sind ein wichtiger Pfeiler dieser Strukturen, in regionaler wie in globaler Hinsicht. Denn die politische Bedeutung Deutschlands liegt in den VN. Ein weiterer Punkt, den wir gemeinsam dringend vo- rantreiben müssen, ist auch die Verstärkung deutschen Personals in verantwortlichen Positionen der VN, die un- seren Beiträgen angemessen ist. Es kann doch nicht sein, dass unser ehemaliger Kollege Klaus Töpfer nach wie vor der einzige deutsche Vertreter im Range eines USG ist. Hier ist von der Bundesregierung eine kontinuierliche und strategisch langfristige Personalpolitik zu entwickeln, die diesen Missstand beseitigt. Nebenbei bemerkt kann man von der Bundesregierung erwarten, dass diese die Arbeit von UNEP-Exekutivdirektor Töpfer mehr unterstützt, nicht zuletzt im Hinblick auf sein Engagement als Deut- scher; gerade wo Umweltpolitik doch ein wesentliches Kernelement der Politik der Bundesregierung sein soll. Es ließen sich noch viele Punkte aus dem Antrag be- trachten, dies kann ich jedoch aus Zeitgründen nicht ma- chen. Ich möchte jedoch abschließend feststellen, dass Sie einen guten Antrag eingebracht haben und stimme des- halb namens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Überweisung des Antrages in die entsprechenden Fach- ausschüsse. Ich würde es begrüßen, wenn wir uns ange- sichts der Wichtigkeit der vor uns liegenden Aufgaben in Sachen UN uns zusammensetzen und diesen Antrag zu ei- nem gemeinsamen interfraktionellen Antrag gestalten. Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nicht erst seit 1989 hat die veränderte weltpolitische Aus- gangslage dazu geführt, dass neue Anforderungen an die Vereinten Nationen gestellt werden. Viele politische Ak- teure suchen nach Orientierung, wie in einer durcheinan- der geratenen Weltordnung sowohl Friedenssicherung als auch wirtschaftlicher Ausgleich und der Erhalt der natür- lichen Lebensgrundlagen gewährleistet werden können. Die Zahl der Friedenssicherungsmissionen der Verein- ten Nationen ist in der letzten Dekade stark angestiegen und die VN mussten bitterste Erfahrungen mit dem Scheitern ihrer Missionen machen: ich nenne nur Soma- lia, Ruanda und Srebrenica. In Fragen der Sicherheitspolitik hat es für die VN seit ihrer Gründung 1945 massive historische Verschiebungen gegeben. Zunächst bestand das entscheidende Gebot in einer Verhinderung weiterer Angriffskriege, die mit der Gefahr eines direkten Waffengangs der Großmächte ge- geneinander verbunden waren. Weltweit zu einer mög- lichst geordneten Entkolonialisierung beizutragen, war die zweite große Zielsetzung. Heute ist abzusehen, dass eine Tendenz zur militä- rischen Zuspitzung von innerstaatlichen Konflikten be- stehen bleiben wird. Die heutigen Einsätze haben nicht mehr viel mit den Blauhelmeinsätzen der Vergangenheit gemeinsam. „Während sich die traditionelle Friedens- sicherung hauptsächlich auf die Überwachung von Waf- fenruhen konzentriert hat, sehen die komplexen Friedens- einsätze heute ganz anders aus“ – so der Generalsekretär in seinem Milleniumsbericht. Heute müssen die VN Not- hilfe gewähren, ehemalige Kämpfer demobilisieren, Mi- nen räumen, Wahlen organisieren und abhalten und teil- weise „exekutive“ Aufgaben wahrnehmen. Dafür brauchen sie die entsprechenden Mittel und das notwendige Personal. Es ist erfreulich, dass das Auswär- tige Amt seine Bemühungen fortsetzt, Mitarbeiter für sol- che Einsätze zu schulen und die Lehrgänge dafür nun auch für Teilnehmer aus anderen Ländern geöffnet hat. Wir wünschen dem Auswärtigen Amt viel Erfolg beim Aufbau eines Pools, um schnell auf erprobte Kräfte zurückgreifen zu können. Die konkreten und realistischen Empfehlungen für er- forderliche Reformen für Friedenseinsätze der Vereinten Nationen, die von der Expertengruppe um Herrn Brahimi abgegeben wurden, verdienen unsere volle Unterstüt- zung. Der Brahimi-Bericht weist auf die Notwendigkeit hin, dass die Blauhelme in der Lage sein müssen, sich selbst und andere Teile der Mission und deren Mandat Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12507 (C) (D) (A) (B) verteidigen zu können. Er stellt fest, dass die Prinzipien von Unparteilichkeit und Konsens nicht länger zur Dul- dung massiver Menschenrechtsverletzungen oder gar Völkermorde führen dürfen. Wir wollen die möglichst ra- sche Umsetzung dieser Empfehlungen. Auch der Anspruch, sich Friedenseinsätzen zu verwei- gern, wenn sie finanziell und materiell nicht ausreichend ausgestaltet werden, ist hilfreich, um weitere Misserfolge zu verhindern. Außerdem stellen sich der Weltöffentlich- keit die Dringlichkeit und Legitimität dieser Einsätze dann in anderer Weise dar. Um ein friedvolles Zusammenleben langfristig zu ga- rantieren bzw. wieder zu installieren, muss es nach einem Konflikt zur Konfliktbearbeitung und -bereinigung kom- men können. Deshalb ist es auch so wichtig, die rasche Aufnahme der Arbeit des internationalen Strafgerichtsho- fes zu ermöglichen. Meiner Ansicht nach braucht die Auseinandersetzung mit dem Erbe totalitärer Regime und bewaffneter Kon- flikte auch eine Dimension der Schuldbewältigung. Las- sen Sie mich ein Papier der Deutschen Bischofskonferenz zitieren, in welchem auf die Bedeutung der Konfliktnach- sorge als Teil einer Konfliktvorbeugung hingewiesen wird. Dort heißt es: „Es gibt keinen Frieden ohne Versöh- nung und keine Versöhnung ohne Wahrheit und Gerech- tigkeit.“ Die Nachricht, dass der serbische Präsident Kostunica der Errichtung einer Niederlassung des internationalen Kriegsverbrechertribunals in Belgrad zugestimmt hat und die Ankündigung, nach dem Vorbild Südafrikas eine Wahrheitskommission einzusetzen, sind notwendige Schritte, um die Verbrechen der jüngsten Vergangenheit aufzuarbeiten, damit auch im ehemaligen Jugoslawien die Wahrheit der Versöhnung und der Gerechtigkeit einen Weg bahnen kann. Der Ruf nach Reformen ist so alt wie die VN selbst. Reformvorschläge gibt es zuhauf. Die Frage ist, ob wir den Stapeln von Reformplänen weitere akademische Pa- piere hinzufügen wollen? Insbesondere zum Sicherheits- rat gibt es mehr oder weniger ideale Papierlösungen, aber wenig Bewegung in der Sache. Kritik am Weltsicher- heitsrat gibt es zuhauf und sie ist berechtigt. Wir können dem Bundeskanzler und dem Außenminister nur zu- stimmen, wenn sie beide betonen, dass der Sicherheitsrat effizienter und repräsentativer werden muss. Dass ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat auch – wie es die stellver- tretende Generalsekretärin der Vereinten Nationen, Louise Frèchette, auf dem Forum „Globale Fragen“ des Auswärtigen Amtes gesagt hat – „more burden than honour“, also mehr Last als Ehre bedeutet, dürfte hier im Hause allen klar sein. Aber es heißt auch, bereit zu sein, Verantwortung zu übernehmen und die eigenen Kompe- tenzen voll einzubringen. Die vordringlichsten Gründungsziele der Organisation der Vereinten Nationen sind Freiheit von Furcht und Frei- heit von Not. Freiheit von Furcht: Das heißt für uns auch, dass wir uns weiterhin für den Ausbau internationaler Rüstungskontrollregime einsetzen werden. Ebenso wich- tig ist es, darauf hinzuwirken, dass in den ärmeren Län- dern die exzessive Anhäufung von Kleinwaffen gestoppt wird. Freiheit von Not auf der anderen Seite bedeutet in ers- ter Linie die Verbesserung von sozio-ökonomischen Le- bensgrundlagen; noch greifbarer heißt das: Armuts- bekämpfung. Im Milleniumsbericht werden konkrete Ziele im Kampf gegen Hunger und Unterdrückung ge- nannt. So soll bis zum Jahr 2015 der Anteil der Welt- bevölkerung, der von weniger als einem Dollar täglich lebt, halbiert werden, ebenso wie der Anteil an Menschen, der keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hat. Die größten Erfolge, die in den letzten Jahrzehnten auf diesem Gebiet erzielt wurden, sind sicherlich die Halbierung der Säuglingssterblichkeitsraten, die Erhöhung des An- teils der Kinder in Primarschulen und die Steigerung der Lebenserwartung in den Entwicklungsländern. Aber auf diesem Weg müssen wir weitere Schritte unternehmen. Gerade die Industrieländer sind in der Pflicht, die Ärms- ten der Armen zu unterstützen und die von Deutschland initiierte Kölner Schuldeninitiative ist ein wichtiger Mei- lenstein auf diesem Weg. Weitere Marksteine sollten weit- gehende zoll- und quotenfreie Zugänge zu den Weltmärk- ten für die am wenigsten entwickelten Länder und eine Erleichterung der Nutzung von neuester Informations- und Kommunikationstechnologie sein. Freiheit von Not und Furcht gibt es nur auf der Grund- lage des Erhalts und Schutzes unserer natürlichen Um- welt. Die Schaffung einer ökologisch bestandsfähigen Zukunft ist unsere gemeinsame Aufgabe. Wenn heute schon etwa ein Drittel der Weltbevölkerung in Ländern lebt, die als von einer Wasserkrise bedroht gelten, dürfen wir keine Mühe scheuen, den Umweltbelangen endlich den Stellenwert zu verschaffen, der ihrer Bedeutung ge- recht wird. Die Bilanz des Milleniumsgipfels macht Mut. Zwar wird es auf der Ebene der Vereinten Nationen keine insti- tutionelle Revolution geben, aber noch nie waren so viele so sehr von ihrer Alternativlosigkeit überzeugt wie heute. Tun wir das Unsere dazu, dass den vielen Reden mög- lichst viele konkrete Schritte folgen. Birgit Homburger (F.D.P.): Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass die Koalitionsfraktionen die Bundesregie- rung auffordern, das deutsche Engagement im Rahmen der Vereinten Nationen zu verstärken. Dies ist auch bitter nötig, da die rot-grüne Außenpolitik im ersten Amtsjahr viel UNO-politisches Porzellan zerschlagen hat. Ohne Not verkündete Außenminister Fischer der staunenden Weltöffentlichkeit, dass Deutschland kein vorrangiges In- teresse an einem Sitz im Sicherheitsrat habe und machte damit die kontinuierlichen Bemühungen der lange Zeit unter liberaler Verantwortung stehenden deutschen UN- Diplomatie zunichte. Ein Verweis auf die halbherzige Äußerung des Bundeskanzlers, dass Deutschland bereit sei, mehr „Verantwortung für Frieden und internationale Sicherheit zu übernehmen“, reicht nicht aus. Was fehlt, ist eine klare Aufforderung an die Bundesregierung, daraus Konsequenzen zu ziehen. Es ist äußerst bedauerlich, dass der vorliegende Antrag in dieser Frage nur vage formu- liert wurde. Stattdessen betont der Antrag ausführlich die sozial- politischen und entwicklungspolitischen Funktionen von WTO, IWF und Weltbank und fordert sogar ihre ver- stärkte Anbindung an das System der Vereinten Nationen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 200012508 (C) (D) (A) (B) Aus liberaler Sicht ist es aber gerade die Unabhängigkeit der Bretton-Woods-Institutionen, die dafür sorgt, dass diese wichtigen Instrumente zur Stabilisierung der inter- nationalen Finanzmärkte und zur Finanzierung nachhalti- ger Entwicklungsprojekte ihre Aufgaben effizient wahr- nehmen. Ebenso wäre es falsch, die WTO zu einem Instrument der Nord-Süd-Ausgleichspolitik zu machen. Hierfür sind im Rahmen der multilateralen und bilatera- len Entwicklungshilfe eine Fülle von anderen Instrumen- ten vorhanden, die gestärkt werden müssen. So ist es unverständlich, wenn im Antrag für ein stär- keres Engagement im Bereich Entwicklung und Umwelt plädiert wird, die gleichen Fraktionen aber präzedenzlose Kürzungen im deutschen Entwicklungshilfeetat beschlie- ßen. Einerseits wird eine stärkere Rolle für den UNHCR gefordert, andererseits werden aber bei den deutschen Beiträgen für den UNHCR wie auch für UNICEF und UNRWA circa 10 Prozent eingespart. Vollkommen igno- riert wird die Initiative von Generalsekretär Kofi Annan, im Sinne des „Global Compact“ gemeinsam mit multina- tionalen Unternehmen nach Lösungen für Entwicklungs- probleme zu suchen und Verhaltenskodizes zu erarbeiten. Schließlich soll der Deutsche Bundestag mit dem An- trag begrüßen, dass die Bundesregierung den Vereinten Nationen ein ziviles und militärisches Stand-by-Angebot unterbreitet hat. Auch für uns sind die notwendige Straf- fung und Verbesserung der Effizienz von UNO-Friedens- missionen im Sinne des Brahimi-Reports wichtige Anlie- gen. Jedoch ist es schon ausgesprochen fragwürdig, wenn der Bundesverteidigungsminister in New York, um eini- ger schneller Schlagzeilen willen, einen ungedeckten Scheck ausstellt. Ungedeckt deswegen, weil erstens die Erfüllung der derzeitigen internationalen Verpflichtungen die Bundeswehr schon jetzt vor enorme Schwierigkeiten stellt und der Verteidigungsminister hier nicht leichtfertig die Übernahme zusätzlicher Aufgaben ankündigen kann, ohne die Mittel zu haben. Zweitens legt sich Deutschland mit einer derartigen Zusicherung Verpflichtungen auf, die einer vorherigen Zustimmung des Deutschen Bundesta- ges bedürfen. Es ist schon bemerkenswert, wie die Regie- rungskoalition immer nur Maßnahmen der jetzigen Bun- desregierung abnickt, während die gleichen Fraktionen von der alten Bundesregierung immer die vorherige Zu- stimmung des Parlamentes gefordert haben. Aufgrund der erwähnten Punkte wird die F.D.P.-Bundestagsfraktion dem hier vorliegenden Antrag nicht zustimmen können. Wolfgang Gehrcke (PDS): Der grundlegende Unter- schied zwischen der politischen Konzeption der Regie- rungsparteien und der PDS gegenüber den Vereinten Na- tionen besteht darin: SPD und Grüne zerbrechen sich den Kopf darüber, wie der deutsche Einfluss in der UNO ge- stärkt werden kann, die PDS denkt darüber nach, wie die UNO gerade gegenüber den Groß- und Weltmächten mehr Einfluss gewinnen kann. Dies gipfelt darin, dass die Bundesregierung ihre Kraft einsetzt, um für Deutschland einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erzielen, während es meine Fraktion für die universellen An- sprüche der Vereinten Nationen wichtiger findet, wenn ein demokratisches Land aus Afrika, Lateinamerika oder Asien einen solchen Platz einnimmt. Aus meiner ganz persönlichen Sicht wäre es von einer hohen politischen Symbolik, wenn Deutschland ein Land wie Südafrika oder Vietnam – so diese dazu bereit wären – vorschlüge. Beide Länder sind ein Ausdruck für das Ende der Kolonialzeit. Sie haben große Opfer gebracht, um ihre Unabhängigkeit zu erreichen und sind einen Weg der Ver- söhnung und des Neubeginns gegangen. Die deutschen Beiträge in der UNO sollten sich auf den zivilen Bereich konzentrieren. Der UNO militärisches Gerät und deutsche Soldaten zur Verfügung zu stellen, wie dies der Verteidigungsminister ohne Debatte im Parlament getan hat, spricht nicht nur von einer Missach- tung des Bundestages, sondern gibt auch über die irrige Auffassung der Regierung Auskunft, dass die Weltmacht- rolle Deutschlands auch militärisch unterstrichen werden soll. Für ein Land mit der deutschen Geschichte ist es wahr- haft wichtig, die Vereinten Nationen zu stärken, aber die Mitgliedsländer der UNO würden es verstehen, wenn das nicht gerade „deutsches Militär“ heißen muss. Ziviles En- gagement und militärische Zurückhaltung – das ent- spricht dem Platz Deutschlands. Klärungsbedürftig hingegen ist, wie es Deutschland mit dem Gewaltmonopol der UNO hält. Die Ergebnisse des Washingtoner NATO-Gipfels lassen – wie Sie wissen – eine Selbstmandatierung der NATO zu. Dem hat Deutsch- land zugestimmt. Dies ist ein klarer Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen. Wenn die Bundesrepublik ihr Verhältnis zu den Vereinten Nationen verbessern will – und das sollte sie –, ist ein wichtiger Schritt dazu eben die Wiederherstellung des Gewaltmonopols der UNO. Das hieße, die Ergebnisse des Washingtoner Gipfels da- hin gehend zu revidieren. Deutschland soll konstruktive Beiträge zur Umsetzung der Beschlüsse des Millenium- Gipfels leisten und sich an den Debatten zu einer gründli- chen UNO-Reform beteiligen. Die PDS-Fraktion wird Ih- nen ihre diesbezüglichen Vorschläge vorlegen. Eine Bitte zum Schluss: Ich bitte die Bundesregierung auf der morgigen Sitzung der Vollversammlung der UN sich für eine Aufhebung der Blockade gegen Kuba einzu- setzen, und auch der Resolution, in der dies gefordert wird, zuzustimmen. An SPD und GRÜNE gewandt: Las- sen Sie Ihren freundlichen Worten zu Kuba freundliche Taten folgen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 129. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000 12509 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412900000
Guten Tag, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta-
gesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zur Rückkehr zu den Grundsätzen
der Nettolohnanpassung im Jahr 2001

2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dietmar Bartsch,
Petra Bläss, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS: Deutsche Beiträge zur Umsetzung der
Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen – Drucksa-
che 14/4525 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Für die verbundene Tagesordnung dieser Woche ist
außerdem vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt
11 – ERP-Wirtschaftsplangesetz –, den Tagesordnungs-
punkt 16 a und b – Gesetzentwurf zur Reform der Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Gesetzent-
wurf zur Neuordnung der Versorgungsabschläge –, den
Tagesordnungspunkt 21 a und b – das ist der berühmte
Agrardiesel – sowie den ohne Debatte vorgesehenen
Tagesordnungspunkt 28 c – 4. Euro-Einführungsgesetz –
abzusetzen.

Weiterhin mache ich auf nachträgliche Überweisungen
im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

Der in der 124. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Entschließungsantrag soll zu-
sätzlich dem Ausschuss für Gesundheit, dem Ausschuss
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
und dem Ausschuss für Kultur und Medien zurMitbera-
tung überwiesen werden.

Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Jürgen
Meyer (Ulm), Joachim Poß. Günter Gloser, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg),
Christian Sterzing, Volker Beck (Köln), weiterer

Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN zur vereinbarten Debatte zur EU-
Grundrechte-Charta
– Drucksache 14/4269 –
überwiesen:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

Der in der 125. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit zur Mitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf von den Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Ein-
führung einer Entfernungspauschale und zur
Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschus-
ses
– Drucksache 14/4242 –
überwiesen:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Die in der 108. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlich
dem Sportausschuss und dem Ausschuss für Kultur und
Medien zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun

(Augsburg), Ernst Burgbacher, Paul K. Friedhoff,

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.:
Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen
– Drucksache 14/3106 –
überwiesen:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

12403


(C)



(D)



(A)



(B)


129. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 8. November 2000

Beginn: 13.04 Uhr

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Antrag der Abgeordneten Ute Vogt (Pforzheim),
Ernst Bahr, Eckhardt Barthel, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Annelie Buntenbach, Cem Özdemir,
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-
keit, Antisemitismus und Gewalt
– Drucksache 14/3516 –
überwiesen:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien

Der in der 121. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder zur
Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Nachhaltige
Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und
Fremdenfeindlichkeit
– Drucksache 14/4067 –

(vom 11. September 2000)

überwiesen:
Innenausschuss (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

Der in der 127. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Kultur und Medien zur Mitberatung
überwiesen werden.

Gesetzentwurf von Abgeordneten Rainer Funke,
Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. zur Umsetzung der EU-
Richtlinie über das Folgerecht des Urhebers des

(Folgerechtsanpassungsgesetz)

– Drucksache 14/3555 –
überwiesen:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

Der in der 127. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur
Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Weiterent-
wicklung der sozialen Pflegeversicherung
– Drucksache 14/4391 –
überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Haushaltsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung

Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Gründung des Deutschen Fo-
rums für Kriminalprävention. Das Wort für den einleiten-
den fünfminütigen Bericht hat der Herr Bundesminister
des Innern, Otto Schily.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1412900100
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kol-
legen! Wir haben heute in der Kabinettssitzung die Grün-
dung eines nationalen Präventionsgremiums in der Form
des Deutschen Forums für Kriminalprävention behandelt.

Ich darf einleitend darauf hinweisen, dass wir erfreuli-
cherweise auch in diesem Jahr eine positive Entwicklung
verzeichnen können: Die Zahl der registrierten Straftaten
geht zurück. Die Aufklärungsquote hat sich verbessert.
Gleichwohl sind die Zahlen der registrierten Straftaten, in
einigen Schwerpunktbereichen des Kriminalitätsgesche-
hens immer noch so hoch, dass wir uns trotz solch güns-
tiger Entwicklungen nicht zurücklehnen und die Hände in
den Schoß legen können.

Die Bundesregierung vertritt bei der Kriminalitäts-
bekämpfung ein umfassendes Konzept. Es beinhaltet den
entschiedenen Einsatz repressiver Maßnahmen auf der ei-
nen Seite und ein Engagement im präventiven Bereich auf
der anderen Seite. Es gibt, wie Sie wissen, auf Landes-
und vor allen Dingen auf kommunaler Ebene bereits eine
große Zahl von Präventionsgremien. Die Namen sind un-
terschiedlich. Zum Teil heißen sie Sicherheitspartner-
schaften, zum Teil kriminalpräventive Räte. Der Ansatz
ist jedenfalls überall der gleiche.

Wir haben zu Beginn unserer Regierungszeit in der
Koalitionsvereinbarung festgelegt, dass wir auch auf der
nationalen Ebene, wie es in anderen Ländern bereits der
Fall ist, ein solches Präventionsgremium in der Gestalt
des Deutschen Forums für Kriminalprävention schaffen
wollen. In engem zeitlichen Zusammenhang hat die Län-
derinnenministerkonferenz ebenfalls beschlossen, ein
solches Gremium zu schaffen. Dieses Gremium soll die
Funktion einer zentralen Informations- und Servicestelle
erfüllen. Sie wird zudem konkrete Präventionsprojekte
unterstützen und selber in Gang setzen.




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
12404


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben uns dann mit den Ländern geeinigt, dass wir
einen Aufbaustab gründen, der die Vorarbeiten leitet. Als
Ergebnis dieser Aufbauarbeit haben wir uns vorgenom-
men, eine Stiftung zu gründen, an der sich der Bund mit
einem namhaften Betrag – natürlich vorbehaltlich der
haushaltsmäßigen Absicherung – von 2,5 Millionen DM
beteiligen wird. Das Stiftungskapital wird 10 Milli-
onen DM betragen. Die Länder werden ebenfalls 2,5 Mil-
lionen DM übernehmen. Der Rest soll aus privaten Mit-
teln aufgebracht werden.

Die Bedeutung eines solchen Forums für Kriminal-
prävention liegt auf der Hand. Es geht darum, im Zusam-
menwirken von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat dafür
zu sorgen, dass Kriminalität erst gar nicht entsteht. Das ist
– wir kennen das aus der Umweltpolitik – allemal billiger
und besser, als später Gefängnisse zu bauen.

Prävention hat die unterschiedlichsten Dimensionen.
Darauf will ich im Einzelnen nicht eingehen. Aber es geht
darum, das Fachwissen und die Kompetenz in den ver-
schiedenen Bereichen – in der Wissenschaft, in der Wirt-
schaft und beim Staat – zusammenzuführen.

Wir haben in der Zwischenzeit – sozusagen im Vorlauf
der Gründung dieses Forums – im Innenministerium zwei
Workshops unter Beteiligung der genannten Gruppen
durchgeführt. Man kann an der Themenwahl ablesen,
welche praktische Bedeutung solche eine präventive Ar-
beit hat.

Bei dem einen Workshop ging es um die Sicherheit des
Zahlungsverkehrs, konkret: um die Einführung des Euro.
Das ist sicherlich ein einmaliges Ereignis; aber dass es
hier bestimmte Sicherheitsprobleme geben kann, wird je-
der einsehen. Auch beim Kreditkartenmissbrauch müssen
wir leider eine starke Zunahme der Straftaten feststellen.
Hier ist vor allem technische Prävention geboten.

Der zweite Themenbereich betrifft das sichere Woh-
nen. Ich glaube, man muss erkennen, dass die Frage der
Sicherheit des Wohnbereichs weit über die Frage des ma-
teriellen Verlustes hinausgeht. Man erfährt immer wieder,
dass die Menschen Furcht haben, Opfer eines Einbruch-
diebstahls zu werden. Sie haben nicht nur Furcht vor dem
Verlust materieller Güter, sondern vor dem Eindringen in
die Intimsphäre. Deshalb müssen wir an dieser Stelle et-
was tun, um die Sicherheitsbelange besser in den Griff zu
bekommen.

Ich hatte – das will ich als Letztes sagen – vor wenigen
Tagen eine Zusammenkunft mit Vertretern aus verschie-
denen Wirtschaftszweigen. Ich fühle mich durch dieses
Gespräch sehr ermutigt; denn das Vorhaben der Gründung
des Deutschen Forums für Kriminalprävention wird von
der Wirtschaft entschieden unterstützt – natürlich mit un-
terschiedlichem Engagement, auch finanzieller Art. Im
Grundsatz wird das Ganze sowohl aus Eigeninteresse un-
terstützt – dieses Eigeninteresse kann man etwa bei der
Versicherungswirtschaft erkennen; sie ist daran interes-
siert, dass solche Schäden erst gar nicht eintreten, sodass
sie nicht entsprechende Schadensvergütungen vornehmen
muss – als auch – von Vertretern der Wirtschaft – unter
dem Vorzeichen der „corporate citizenship“, also auf der
Grundlage eines gesellschaftlichen Engagements aus der
Industrie und der Wirtschaft. Darüber freue ich mich sehr.

Ich wäre dankbar, wenn die Kolleginnen und Kollegen
aus allen Fraktionen dieses Vorhaben unterstützen wür-
den. Ich kann nur darauf hinweisen: In der Innenminister-
konferenz besteht diesbezüglich eine allgemeine Überein-
stimmung, unabhängig davon, nach welcher Farbe das
Land regiert wird.

Vielen Dank.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412900200
Danke schön,
Herr Innenminister. Gibt es zu dem eben angesprochenen
Themenbereich Fragen? – Bitte schön, Kollege Geis.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1412900300
Herr Minister, wie schät-
zen Sie die generalpräventive Wirkung des Strafrechtes
ein, wenn Sie bedenken, dass im Justizministerium der-
zeit an einer Änderung dreier Vorschriften des Strafge-
setzbuches gearbeitet wird? Bei einem Punkt geht es da-
rum, bei einem Ersttäter eine Strafe von bis zu einem Jahr
nicht mehr als Freiheitsstrafe zu verhängen, sondern eine
andere Form der Bestrafung zu finden. Zweitens soll nach
diesen Plänen eine Ausweitung der zur Bewährung aus-
gesetzten Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf drei Jahre
ermöglicht werden. Das heißt, eine Freiheitsstrafe kann
nach diesen Plänen zur Bewährung ausgesetzt werden,
wenn sie bis zu drei Jahre beträgt. Es ist also eine Er-
höhung von zwei auf drei Jahre vorgesehen. Drittens soll
nach diesen Plänen die Haftstrafe auch für Schwerverbre-
cher bei der Erstverbüßung generell zur Hälfte erlassen
und der Rest zur Bewährung ausgesetzt werden. Was hal-
ten Sie angesichts dieser Pläne von der generalpräventi-
ven Wirkung des Strafrechtes?


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1412900400
Herr Kollege
Geis, ich bedanke mich für Ihre Frage, weil sie mir Gele-
genheit gibt, darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem
Deutschen Forum für Kriminalprävention um ein ressort-
übergreifendes Projekt handelt, das in allerbestem Ein-
vernehmen zwischen dem Bundesjustizministerium und
dem Bundesinnenministerium vorangetrieben wird. Wir
haben auch – wenn ich das an dieser Stelle sagen darf –
darauf geachtet, auch andere Ressorts, die sich mit Fragen
der Prävention befassen, in diese Arbeit einzubeziehen.
Dazu gehören das Bundesministerium für Familie, Seni-
oren, Frauen und Jugend sowie das Bundesministerium
für Gesundheit und das Bundesministerium für Bildung
und Forschung.

Ich bin der Überzeugung, dass das Strafrecht – wir ha-
ben das während unseres Jurastudiums gelernt, es wird
aber häufig übersehen – auch in seinen präventiven Wir-
kungen bedacht werden soll, das heißt sowohl hinsichtlich
der Generalprävention als auch der Spezialprävention.
Generalprävention und Spezialprävention müssen aber in
einem vernünftigen Verhältnis stehen. Was die Einzelhei-
ten angeht, würde ich vorschlagen, dass Herr Staatssekre-
tär Pick, der neben mir sitzt, die Frage ergänzend beant-
wortet. Er kann das Problem von der Sache her besser
darstellen, weil es in seinen Zuständigkeitsbereich fällt.

Herr Kollege Geis, ich will dem Kollegen Pick nicht
vorgreifen, darf aber auf Folgendes hinweisen: Es macht,
wenn man den Gesichtspunkt der Prävention insgesamt




Bundesminister Otto Schily

12405


(C)



(D)



(A)



(B)


beachten will, durchaus Sinn, den Rahmen so abzu-
stecken, dass sowohl der Aspekt der Generalprävention
als auch jener der Spezialprävention angemessen zur
Geltung kommt. Manchmal ist es bei der Urteilsfindung
so, dass die Entscheidungsspielräume des zuständigen
Richters nicht ganz dem entsprechen, was von der Sache
her geboten wäre.

Im Übrigen gibt es eine Meinung, die Sie wahrschein-
lich auch kennen: Das Strafrecht ist wichtig, auch wegen
seiner Signalwirkung, aber in gewissem Umfang kommt
das Strafrecht immer zu spät. Deshalb ist es wichtig, dass
wir unsere Bemühungen verstärken, um dem entgegenzu-
wirken. Ich sage nicht, wir könnten das Strafrecht verges-
sen; wie Sie wissen, gibt es auch solche Theorien. Ich
habe zu diesem Thema in dem Standardwerk zur Krimi-
nologie von Kaiser nachgelesen, Dort wird auch die These
artikuliert, das Strafrecht solle man ganz aus der Welt
schaffen. Diese Auffassung teile ich bekanntlich nicht.

Ich glaube aber, wir sollten bei den hier zu diskutie-
renden Problemen durchaus solche Argumente aufgrei-
fen, die sich aufgrund Ihrer Frage stellen. Deshalb möchte
ich ausdrücklich einladen, an der Arbeit eines solchen Fo-
rums teilzunehmen. In einem solchen Forum kann man
derartige derartige Fragen unter Sachverständigenurteil
diskutieren. Die besten Antworten auf die Probleme erge-
ben sich aus der Rechtstatsachenforschung. Es ist wichtig,
zu prüfen, welche Wirkungen die Verhängung einer Strafe
aufgrund einer bestimmten Straftat erzielt und welche
nicht. Auch das ist eine Frage, die in diesen Problemkreis
gehört.

Ich gebe zur näheren Erläuterung das Wort an den
Kollegen Pick.

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1412900500
Herr Kollege Geis, ich möchte
zunächst an die Ausführungen von Herrn Bundesminister
Schily anknüpfen. Das Justizministerium stimmt in der
Frage der Funktion des Strafrechts hinsichtlich General-
prävention und Spezialprävention mit Ihnen überein. Sie
wissen, dass bereits die vorige Bundesregierung eine
Kommission unter der Leitung unseres früheren Kollegen
Eylmann eingesetzt hatte, die sich mit dem Thema der Re-
form des Sanktionensystems beschäftigen sollte. Diese
Kommission hat ihren Abschlussbericht vorgelegt und im
Bundesministerium der Justiz werden zurzeit die von der
Kommission unterbreiteten Vorschläge geprüft. Wir wer-
den sicher eine ganze Reihe von Vorschlägen aus diesem
Bericht aufnehmen.

Sie wissen, dass es auch Aufgabe dieser Kommission
war, alternative Sanktionsformen zu beraten. Auch hier
haben wir eine ganze Latte von Vorschlägen bekommen.
Ich will in diesem Zusammenhang auf gemeinnützige Ar-
beit, Entzug der Fahrerlaubnis und ähnliche Dinge hin-
weisen. Diese Vorschläge werden von uns auch unter dem
Gesichtspunkt geprüft, ob sie in unser System einzu-
passen sind.

Wichtig ist, dass der Gesetzgeber den Gerichten die
Möglichkeit gibt, möglichst individuell auf den einzelnen
Täter einzugehen und ihn entsprechend zu verurteilen.
Die Gerichte sollen flexibel und angemessen auf Strafta-
ten reagieren können.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412900600
Eine Nachfrage
des Kollegen Geis.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1412900700
Herr Kollege Pick, ich
kenne natürlich den Schlussbericht der eben erwähnten
Kommission. In diesem wird gerade empfohlen, Haftstra-
fen bis zu zwei und nicht bis zu drei Jahren zur Be-
währung auszusetzen und den Grundsatz „Schwitzen statt
Sitzen“ bei Haftstrafen bis zu einem Jahr nicht anzuwen-
den. Ich weiß, dass man sich im Justizministerium über
diese Empfehlungen hinwegsetzen will. Ich möchte gerne
wissen, warum.

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1412900800
Sie sind etwas voreilig, wenn Sie
vermuten, dass wir uns über die Empfehlungen der Kom-
mission hinwegsetzen wollen. Wir nehmen die Vor-
schläge der Kommission ernst. Es ist eine ausgesprochen
hochrangig besetzte Kommission mit sehr viel Sachver-
stand gewesen. Einige Fragen konnten dort aus Zeitgrün-
den nicht abschließend beantwortet werden. Wir aber sind
nicht der Verantwortung enthoben, uns Gedanken über
Fragen zu machen, die entweder nicht oder im Gegensatz
zu unseren Vorstellungen beantwortet wurden. Die Bun-
desregierung wird die Argumente sehr sorgfältig gegen-
einander abwägen und dann entsprechend ihrer Verant-
wortung entscheiden.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412900900
Der Bundesin-
nenminister möchte noch etwas hinzufügen.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1412901000
Herr Kollege
Geis, erlauben Sie mir noch eine ergänzende Bemerkung.
Ich bin mit Ihnen einer Meinung, wenn Sie sagen, dass ein
Strafrichter und ein Staatsanwalt bei ihren Entscheidun-
gen auch generalpräventive Gesichtspunkte berücksichti-
gen müssen. Das gilt nicht nur im Hinblick auf das Ge-
richtsurteil, sondern auch im Hinblick auf andere
Entscheidungen. Eine Staatsanwaltschaft oder ein Gericht
– egal, mit welchem Fall es befasst ist – muss sich immer
darüber Gedanken machen, ob die rechtlichen Maßnah-
men im individuellen Fall angemessen sind und welche
generalpräventiven Wirkungen von einer rechtlichen Ent-
scheidung ausgehen. Wenn ein Verfahren zum Beispiel
wegen Geringfügigkeit gegen Zahlung einer Geldbuße
eingestellt werden soll, dann muss das Gericht oder die
mit dem Fall betraute Staatsanwaltschaft selbstverständ-
lich prüfen, ob generalpräventive Gesichtspunkte dage-
gen sprechen.

Ein anderes Beispiel: Jemand begeht einen Ladendieb-
stahl und ist Ersttäter. Auch wenn die zuständige rechtli-
che Instanz der Auffassung ist, die Einleitung des Verfah-
rens solle eine Warnung sein, aber das Verfahren solle
gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt werden, wird
sie sich immer mit der Frage auseinander setzen müssen,
ob der generalpräventive Gesichtspunkt bei einer solchen
Entscheidung zu kurz kommt oder nicht. Ich finde, das
muss man in jeder Richtung gelten lassen.




Bundesminister Otto Schily
12406


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412901100
Jetzt hat der
Kollege Dehnel das Wort, bitte.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1412901200
Herr Minister, ich
begrüße ausdrücklich, dass das Deutsche Forum für Kri-
minalprävention gegründet wird. Sie wissen, das Sicher-
heitsbedürfnis und das Sicherheitsempfinden der Bevöl-
kerung in Ostdeutschland – wir haben es gerade in
Sachsen und Brandenburg erlebt – sind stark ausgeprägt
und werden durch solche Fälle wie den Fall Schmökel
beeinträchtigt. Wird dieses Forum erst jetzt gegründet,
nachdem der Fall Schmökel – letzten Endes glücklich –
gelöst worden ist? Ich habe schon vor einem Jahr in einer
Regierungsbefragung eine stärkere Vernetzung im Be-
reich der Sicherheit und eine bessere Sicherung der Straf-
anstalten gefordert. Haben die Bundesländer nicht ihre
Aufsichtspflicht vernachlässigt, weil Straftäter unzurei-
chend beaufsichtigt wurden und deshalb immer wieder
ausbrechen und neue Straftaten begehen konnten?


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1412901300
Herr Kollege
Dehnel, Sie haben nach dem Zeitpunkt gefragt. Die Ko-
alitionsvereinbarung stammt vom 20. Oktober 1998. Der
Beschluss der Innenminister der Länder ist vom 20. No-
vember 1998. Mittlerweile ist eine gewisse Zeit vergan-
gen; wir schreiben das Jahr 2000. Man muss wissen: Viele
technische und organisatorische Fragen, die sich aus der
Arbeit des Aufbaustabs ergaben, sind zu klären. In den
Ländern und im Bund hat eine relativ große Zahl von In-
stitutionen – ich will das nicht übertreiben – mitzureden.
Bis man zu einem Einvernehmen kommt, vergeht eine ge-
wisse Zeit. Alle, die mit solchen Themen zu tun hatten und
entsprechende Erfahrungen gesammelt haben, wissen
das. Es hat also nichts mit dem von Ihnen gerade ange-
sprochenen Fall zu tun.

Ich möchte eine Bemerkung hinzufügen – ich habe das
schon vor vielen Jahren sehr deutlich gesagt und es ist bis
heute meine Überzeugung –: Im Hinblick auf Menschen,
die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ord-
nung, insbesondere für Kinder, darstellen, hat für mich
der Sicherungsgedanke absoluten Vorrang. Darüber muss
völlige Klarheit herrschen. An dieser Stelle muss sich je-
der fragen, ob er diesem Grundsatz gerecht geworden ist
oder nicht.

Wenn Sie sich umschauen, dann werden Sie feststellen:
Im Laufe der Jahre hat es in allen Ländern mitunter Pro-
bleme damit gegeben, dass der Sicherungsgedanke nicht
ganz befolgt worden ist. Ich bin da nicht derjenige, der mit
Steinen wirft. Wie gesagt, ganz unterschiedliche Regie-
rungen waren mit entsprechenden Situationen konfron-
tiert.

Bei den Vollzugsbeamten sollten wir unsere Schwie-
rigkeiten wahrlich nicht abladen. Vollzugsbeamte, gerade
im Strafvollzug, haben es besonders schwer. Ich habe
hohe Achtung vor der Arbeit dieser Menschen. Wer die
Verhältnisse dort kennt, der weiß, mit welchen Problemen
sie konfrontiert sind.

Das heißt nicht, dass man sagt, es sei alles in Ordnung.
Im Fall Schmökel mussten wir Hundertschaften von Poli-
zisten aussenden. Glücklicherweise ist es gelungen, den

Täter zu fassen. Jeder muss sich prüfen, ob die Siche-
rungsmaßnahmen ausgereicht haben oder nicht. Wie ge-
sagt, diese Frage muss in erster Linie in den Landtagen
erörtert werden, da sie in die Zuständigkeit der Länder
fällt. Von unserer Seite können wir wenig dazu beitragen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412901400
Eine Nachfrage
des Kollegen Dehnel.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1412901500
Ist Ihrem Bundesmi-
nisterium bekannt, ob es in den letzten zwei Jahren in ver-
stärktem Maße Ausbruchbemühungen von Schwerstver-
brechern gegeben hat? Oder war die Zahl im Gegenteil
sogar rückläufig und hat ein Einzelfall wie der Fall
Schmökel nur ein größeres Aufsehen erregt?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412901600
Wir führen in
dieser Frage keine Statistik. Vollzug ist Ländersache, Herr
Kollege Dehnel.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1412901700
Ist es nicht aber eine
Bundesangelegenheit, wenn verschiedene Länder betrof-
fen sind?


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1412901800
Nein, Straf-
vollzug ist Ländersache, Herr Kollege Dehnel.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1412901900
Warum schaffen Sie
ein nationales Präventionsgremium, wenn Strafvollzug
Ländersache ist?


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1412902000
Jedes Land
kann selbstverständlich an einem nationalen Präventions-
gremium teilnehmen. Übrigens handelt es sich beim
Deutschen Forum für Kriminalprävention nicht nur um
eine Institution für den Bund, sondern auch die Länder
haben die Möglichkeit, dort solche Fragen anzusprechen.
Ich glaube allerdings nicht, dass man in diesem Forum
hinsichtlich der Sicherungsmaßnahmen großartige neue
Erkenntnisse gewinnt. Was Sicherungsmaßnahmen an-
geht, spielen Baulichkeiten und anderes eine Rolle. Es
steht allen Ländern frei, die Initiative zu ergreifen und
sich länderübergreifend zu überlegen, wie man mit be-
stimmten Situationen umgeht. Das ist durchaus möglich.
Nur, der Bund hat in diesem Bereich keine Zuständigkeit,
Herr Kollege Dehnel.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1412902100
Es geht nicht um die
Zuständigkeit, sondern um die Auskunft bezüglich einer
Statistik.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1412902200
Es tut mir
Leid: Wir führen da keine Statistik, weil das nicht in un-
sere Zuständigkeit fällt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412902300
Gibt es zu die-
sem Themenbereich noch weitere Fragen? – Das scheint
nicht der Fall zu sein.






(C)



(D)



(A)



(B)


Gibt es andere Fragen an die Bundesregierung zur heu-
tigen Kabinettssitzung? – Bitte, Herr Niebel.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1412902400
In der Öffentlichkeit wurde be-
richtet, dass die Frage der Erwerbsunfähigkeitsrenten
auch ein Thema der Kabinettssitzung gewesen sein soll.
Wenn das so war, würde mich interessieren, aus welchem
Grund das Bundesgesundheitsministerium im Vorfeld der
geplanten Gesetzesänderung offenkundig erst in einer
sehr späten Phase – wir wollten ja heute abschließend da-
rüber beraten – bemerkt hat, dass die gesetzlichen Kran-
kenkassen von dieser Rechtsänderung finanziell betroffen
wären, und ob Sie Erkenntnisse dazu haben, warum Ver-
treter der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenver-
sicherungen an der in diesem Zusammenhang durchge-
führten Anhörung nicht teilgenommen haben.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412902500
Wir klären jetzt
erst einmal, ob diese Frage Thema der heutigen Kabi-
nettssitzung war. Wenn das nicht der Fall war, handelt es
sich um eine allgemeine Frage an die Bundesregierung.
Zunächst einmal der Herr Innenminister.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1412902600
Diese Frage
war nicht Thema der Kabinettssitzung. Sie fällt außerdem
in die Zuständigkeit des Bundesgesundheitsministeriums.
Es liegt mir fern, etwas dazu zu sagen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412902700
Wenn es keine
anderen Fragen zu Themen gibt, die während der Kabi-
nettssitzung behandelt wurden, kommen wir jetzt zu all-
gemeinen Fragen an die Bundesregierung.

Ich nehme die gestellte Frage auf und erteile dazu Frau
Staatssekretärin Nickels das Wort.

C
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412902800
Herr Kollege, hierbei han-
delt es sich um ein Gesetz, das schon 1997 beschlossen
wurde und im Jahr 2000 in Kraft treten sollte. Das In-
Kraft-Treten ist auf das Jahr 2001 verschoben worden.
Dieses Gesetz ist also schon in der alten Legislaturperiode
beraten und beschlossen worden.

Aufgrund der vorliegenden Zahlenmaterialien und der
Berechnungsmodalitäten war nicht ohne weiteres ersicht-
lich, in welchem Umfang Belastungen auf die GKV zu-
kommen. Der Umgang mit diesen Belastungen ist Ge-
genstand von intensiven Gesprächen zwischen den
Häusern. Sie haben auch der Debatte, die gegenwärtig
hierüber in der Presse geführt wird, entnehmen können,
dass sich in dieser Frage der Koalitionsausschuss bzw. die
Spitzen der die Koalition tragenden Parteien eingeschal-
tet haben. Wir gehen davon aus, dass zu dieser Frage in
absehbarer Zeit eine Regelung getroffen wird.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412902900
Eine Nachfrage
des Kollegen Niebel.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1412903000
Frau Kollegin, Sie haben gerade
gesagt, es handele sich um ein Gesetz aus der letzten Le-

gislaturperiode. Ist es nicht vielmehr so, dass Ihr Gesetz-
entwurf gerade dazu dienen sollte zu verhindern, dass
zum 1. Januar kommenden Jahres das in der letzten Le-
gislaturperiode von der alten Regierung beschlossene Ge-
setz zur Neuregelung der Erwerbsunfähigkeitsrente in
Kraft tritt? Dabei ist im Gesundheitsministerium offen-
kundig verpennt worden, dass die Krankenkassen hiervon
betroffen sind.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Niebel, denken Sie doch nicht immer an sich!)


C
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412903100
Nein, Herr Kollege.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412903200
Gibt es weitere
Fragen an die Bundesregierung? – Das ist nicht der Fall.
Damit beende ich die Befragung der Bundesregierung.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksache 14/4468 –

Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bun-
deskanzleramtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsmi-
nister Michael Naumann bereit.

Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Hans-Joachim
Otto auf:

Gibt Staatsminister Dr. Michael Naumann die Auffassung der
Bundesregierung wieder, wenn er die Kompetenzzuweisung des
Grundgesetzes im Kulturbereich an die Länder als „Verfassungs-
folklore“ und den Föderalismus als „Ausdruck der Angst der

(„Die Zeit“ vom 2. November 2000)


Bitte, Herr Staatsminister.

D
Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412903300
Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, dass ich die
Frage wörtlich vorlese, weil meine Antwort dann ver-
ständlicher wird. Die Frage lautet:

Gibt Staatsminister Dr. Michael Naumann die Auffassung der
Bundesregierung wieder, wenn er die Kompetenzzuweisung des
Grundgesetzes im Kulturbereich an die Länder als „Verfassungs-
folklore“ und den Föderalismus als „Ausdruck der Angst der
Deutschen vor sich selbst“ bewertet …?

Herr Abgeordneter, Überschriften, die man selber nicht
zu verantworten hat, verhalten sich manchmal zu einem
Artikel wie zum Beispiel Herr Möllemann zum Wesen der
F.D.P. Mit anderen Worten: Irgendwie haben beide etwas
miteinander zu tun, aber zugleich wird eine Überspitzung
vorgenommen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Wie verhält er sich denn zur F.D.P.? Das ist ja ganz spannend!)


– Als Fallschirmspringer zum Beispiel.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412903400
Jetzt hat der
Staatsminister erst einmal das Wort.




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
12408


(C)



(D)



(A)



(B)


D
Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412903500
Mit anderen Worten: Die Überschrift „Zentralis-
mus schadet nicht“


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Danach habe ich nicht gefragt! Ich habe den Artikel hier!)


– ich weiß, ich will es nur erklären – stammt natürlich
nicht von mir. Auch sage ich keineswegs, wie es in Ihrer
Frage heißt, dass „die Kompetenzzuweisung des Grund-
gesetzes im Kulturbereich an die Länder als Verfassungs-
folklore“ anzusehen sei. In Wirklichkeit sage ich – Sie
können es ja auch vorlesen, Herr Otto –, dass der Begriff
der Kulturhoheit im Grundgesetz nicht auftaucht und in-
soweit „Verfassungsfolklore“ ist. Wenn Sie mir eine
Fundstelle für diesen Begriff zeigten, wäre ich dankbar;
ich habe ihn im Grundgesetz nicht gefunden.

Das, was dieser Begriff bezeichnet, wird von mir aber
überhaupt nicht infrage gestellt, sondern in meinem Arti-
kel mehrfach lobend und selbstverständlich auch affirma-
tiv herausgestellt. Ich habe mich in meinem Artikel ledig-
lich gegen den politischen Gebrauch dieses Begriffes
gewehrt, also dagegen, mit diesem Begriff gleichsam wie
mit einer Monstranz in dem Augenblick auf den Bund zu-
zugehen, in dem er die im Grundgesetz positiv rechtlich
geregelten Kompetenzen wahrnimmt, die ihm kulturpoli-
tisch zustehen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412903600
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Otto, bitte.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1412903700
Selbstver-
ständlich, lieber Herr Dr. Naumann, habe ich den Artikel
gelesen. Deswegen habe ich die Frage auch nicht nach der
Überschrift gestellt. Allerdings gibt sie den Inhalt Ihres
Beitrages korrekt wieder.

Sie leiten die Aufforderung zu einer verstärkten Bun-
deskulturpolitik nicht aus einer Kompetenzzuweisung des
Grundgesetzes ab, sondern gebrauchen den, wie ich finde,
höchst nebulösen Begriff der „grundgesetzlichen Legiti-
mation einer Bundeskulturpolitik“. Meine erste, verfas-
sungsrechtliche Frage: Was dürfen wir denn darunter ver-
stehen? Darf jeder – nicht nur Michael Naumann – sich
aus einer vermeintlichen Legitimation heraus Kompeten-
zen in dem fein austarierten grundgesetzlichen Kompe-
tenzzuweisungskatalog anmaßen?

D
Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412903800
Zunächst reden wir hier über die Frage, ob es
überhaupt eine Bundeskulturpolitik geben darf. Da es im
Bundestag einen Kulturausschuss gibt, der genau diese
Politik mitformuliert, kontrolliert und bereichert, gehe ich
davon aus, dass es auch eine Bundeskulturpolitik geben
kann. Was nun eine solche Kulturpolitik im Kompetenz-
bereich des Bundes anbetrifft, muss sie ja offenkundig in
der von Ihnen eben zu Recht geschilderten sorgfältig aus-
tarierten Gemengelage von Bundes-, Landes- und Kom-
munalzuständigkeiten liegen. Das tut sie auch.

Zur verfassungsrechtlichen Frage einer prinzipiellen
Kompetenz gibt es – ich bin kein Verfassungsrechtler und

auch kein Jurist – sehr wohl Verfassungsgerichtsurteile,
die das relativ klar ausdrücken. Mit Erlaubnis der Frau
Präsidentin möchte ich aus einem Urteil zitieren
– BVerfGE 3,407 –: Nach der Rechtsprechung des Bun-
desverfassungsgerichts besteht „eine stillschweigende
Bundeszuständigkeit kraft Sachzusammenhang immer
dann, wenn eine dem Bund ausdrücklich zugewiesene
Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann,
ohne dass zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene
Materie mit geregelt wird, wenn also ein Übergreifen in
nicht ausdrücklich zugewiesene Materien unerlässliche
Voraussetzung ist für die Regelung einer der Bundesge-
setzgebung zugewiesenen Materie“. Im Rahmen der
Kompetenzen kraft Sachzusammenhang betreibt der
Bund damit, um nur ein Beispiel zu geben, Filmförderung
nach Maßgabe des Filmförderungsgesetzes, was zweifel-
los ein Bereich ist, der in Landeskulturkompetenzen liegt,
aber eben auch – mit Ihrer Mithilfe, Herr Otto – in Bun-
deskompetenz.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412903900
Eine zweite Zu-
satzfrage, Herr Otto.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1412904000
Nachdem
ich eine verfassungsrechtliche Frage gestellt habe,
möchte ich natürlich auch eine politische stellen. Halten
Sie es bzw. – in meiner Ausgangsfrage habe ich ja auf die
Auffassung der Bundesregierung abgehoben – hält es die
Bundesregierung in der jetzigen Situation, gerade auch
angesichts der Verhandlungen um die Hauptstadtkultur-
förderung, für sinnvoll und zielführend, mit einem sol-
chen Beitrag, der auf Zentralismus hinzielt oder jedenfalls
hindeutet, die Verhandlungen mit den Ländern zu er-
schweren und aus allen 16 Bundesländern Protestaktio-
nen hervorzurufen?

D
Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412904100
Herr Otto, wir stehen im Augenblick keineswegs
in finanziellen Verhandlungen mit den Ländern hinsicht-
lich der föderal organisierten Stiftung „Preußischer Kul-
turbesitz“, wenn Sie darauf abheben wollten. Diese Ver-
träge laufen erst im Jahre 2005 aus.

Ich werde mich aus Prinzip nicht sozusagen zur Kopf-
wäsche beugen und sagen, die freie Meinungsäußerung
eines Bürgers sei inopportun, wenn doch gleichzeitig klar
ist – das ist meine Erfahrung –, dass alle Reaktionen, die
ich von führenden Politikern auch meiner Partei vernom-
men habe, nachweisbar auf der schnellen Lektüre der
Überschrift und einer Unterzeile, die diese Thematik
ebenfalls verzerrend wiedergibt, beruhen. Der Unter-
schied zwischen Überschrift und Inhalt eines Artikels be-
ruht sicherlich auf dem nachvollziehbaren Bedürfnis der
Redaktionen, Zoff zu machen.

Der Artikel selbst ist ausgewogen. Er lobt und stellt an
sehr vielen Stellen heraus – die kann ich Ihnen alle zitie-
ren –, dass die föderative Struktur unseres Landes gerade
in dem Kernbereich der Kulturpolitik einen außerordent-
lichen Vorteil im Konzert der Nationen Europas darstellt.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Das steht da nicht drin!)







(C)



(D)



(A)



(B)


Ich weise darauf hin, dass wir 100 Opernhäuser haben;
Spanien hat drei. Ich weise ferner auf die Vielfalt der
Theater und Bühnen in Deutschland hin, die unvergleich-
lich reichhaltiger ist als anderswo.

Ich weise allerdings auch darauf hin, dass jedes Mal,
wenn der Bund die ihm per Verfassung zugewiesenen
Kompetenzen wahrnimmt, aus gewissen Landesteilen
– ich sage nicht: aus Hessen – mit einem geradezu
pawlowschen Reflex von der Kulturhoheit der Länder
– in dem Sinne: er hat uns nichts zu sagen – gesprochen
wird. Aber in dem Augenblick, in dem der Bund Zuwen-
dungen an gewisse Regionen infrage stellt, scheint es mit
dem Konkurrenzverhältnis zwischen Bund und Ländern
nicht mehr so weit her zu sein und es wird über die kul-
turpolitische Untätigkeit des Bundes geschimpft. Wenn
aber das Geld fließt, dann ist alles wieder in Ordnung.

Auf diese merkwürdigen Verhältnisse hinzuweisen war
die Absicht meines Artikels. Dass auf Bundesebene und
auf Landesebene die Notwendigkeit zur Koordination be-
steht, ist allen klar, die in den entsprechenden Gremien
mitarbeiten.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412904200
Jetzt hat der
Kollege von Klaeden die Möglichkeit, eine Zusatzfrage
zu stellen.


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1412904300
Herr Staatsminis-
ter, ich will einmal die Äußerung über Ihren Artikel von
Kurt Beck in Erinnerung rufen. Er sagte wörtlich: „Er will
das Grundgesetz rasieren“. Der stellvertretende Minister-
präsident von Nordrhein-Westfalen spricht von einer
„Überheblichkeit, die sich selbst richtet“. Wolfgang
Clement sagt: „bar jeder Realität und jedes Bezugs zur
Verfassung“.

Ihre Ausführungen lassen drei Möglichkeiten zu. Die
erste Möglichkeit ist: Diese Herren haben Ihren Artikel
nicht richtig lesen können.


(Dr. Michael Naumann, Staatsminister: Da haben Sie Recht, Herr Abgeordneter!)


Die zweite Möglichkeit ist: Sie kennen den Föderalismus
nicht. Die dritte Möglichkeit ist: Es trifft beides zu.

D
Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412904400
Ich ziehe natürlich die erste Möglichkeit vor. Ich
habe mich durch Telefonate versichert, dass sie dem Sach-
verhalt entspricht.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Alle sind doof, nur Naumann nicht! – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Kultur light!)


– Ich kann nur wiederholen: Das Verhältnis von Über-
schrift zum Inhalt eines Artikels entspricht dem Verhält-
nis von Herrn Möllemann zum Wesen seiner Partei. Das
bedeutet nichts anderes, dass die Partei angesichts von
Überspitzungen manchmal klarstellen muss – dies ist
auch bei dem Artikel der Fall – , dass sie es eigentlich ganz
anders meint.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412904500
Bitte, Herr Kol-
lege Koppelin, Ihre Zusatzfrage.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1412904600
Herr Staatsminister, da Sie
anscheinend von den genannten Ministerpräsidenten und
dem stellvertretenden Ministerpräsidenten missverstan-
den worden sind, darf ich zur Klarstellung folgende Frage
an Sie richten: Können Sie folgenden Satz aus Ihrem Ar-
tikel klarstellen? Dort heißt es wörtlich:

Unsere föderale Verfassung ist außerdem und immer
noch Ausdruck der Angst der Deutschen vor sich
selbst.

D
Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412904700
Herr Abgeordneter, angesichts der Tatsache, dass
wir hier Textexegese betreiben, wäre ich Ihnen dankbar,
wenn Sie die drei vorangegangenen Sätze zur föderalen
Struktur ebenfalls vorlesen würden.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Die sind noch schlimmer!)


Aber das ist Zeitverschwendung. Sie haben den Artikel ja
gelesen.


(Zuruf des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

– Herr Koppelin, Sie wären der Erste, der mich schonen
wollte. Das ist ja fast ein Koalitionsangebot.


(Heiterkeit bei der F.D.P.)

Um es klar zu sagen: Sie und ich wissen ganz genau,

dass unsere Verfassung 1949 unter dem Eindruck der Er-
fahrungen aus dem Dritten Reich geschrieben worden ist.
Man wollte mit all den Kautelen und Barrieren, die im
Grundgesetz verankert sind, sicherstellen, dass sich diese
Ereignisse nicht wiederholen. Das bedingte ein außeror-
dentlich ausdifferenziertes System von „checks and ba-
lances“.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Das ist doch in Ordnung!)


– Das ist völlig in Ordnung.
Aber man darf doch sagen, dass das so ist. Man darf

auch die historische Herkunft der Verfassung benennen
und dann darauf hinweisen, dass in den Jahren, die seit-
dem vergangen sind, eine Sache nicht mehr zur Debatte
stehen sollte, nämlich die zivilisierte, grundgesetzlich
versierte und im Übrigen demokratische, da auf dem Bo-
den der Verfassung stehende Art und Weise aller Politiker
in diesem Haus, auch auf der Regierungsbank, Politik zu
machen. Das heißt mit anderen Worten: Die in der Ver-
fassung selbst mit festgeschriebene Furcht vor dem Wie-
deraufleben eines Totalitarismus in Deutschland, die sich
unter anderem darin manifestiert, dass meine Person von
Herrn Zehetmair indirekt mit Herrn Goebbels verglichen
wird, ist überflüssig. Weder bin ich Goebbels, noch halten
Sie mich dafür; nur Herr Zehetmair glaubt, diesen Ver-
gleich ziehen zu können.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412904800
Die Kollegin
Griefahn hat das Wort. Bitte.




Staatsminister Dr. Michael Naumann
12410


(C)



(D)



(A)



(B)



Monika Griefahn (SPD):
Rede ID: ID1412904900
Ich habe zwei Fragen. Ers-
tens. Wie ist die Planung in Bezug auf Veränderungen im
Haushalt des nächsten Jahres gegenüber diesem Jahr hin-
sichtlich dessen, was die Länder anteilig bekommen sol-
len?

Zweitens. Wie sehen Sie im Zusammenhang mit der
Entwicklung der Europäischen Union den Stellenwert der
Frage, was die Länder und was der Bund jeweils mit der
Europäischen Union verhandeln sollten?

D
Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412905000
Frau Abgeordnete, was den ersten Teil der Frage
betrifft, möchte ich, um nur ein Beispiel zu nennen, am
Fall Sachsen, des Landes eines der schärfsten Kritiker die-
ses Artikels, nämlich Herrn Biedenkopf, exemplarisch
ausführen, was sich verändert hat. Im Jahr 1998, also un-
ter der Vorgängerregierung, bekam das Land Sachsen
vom Bund 17,7 Millionen DM kulturpolitisch begründe-
ter Zuwendungen. Im Jahr 1999 waren es über 55 Milli-
onen DM. Das heißt, wir haben die Zuwendung in einer
bundeskulturpolitisch wohl begründeten Entscheidung
vor allem für die neuen Länder mehr als verdoppelt. Da-
rüber hinaus haben wir sie über die gesamte Legislatur-
periode auf eine Gesamtsumme von mehr als 240 Milli-
onen DM verstetigt. Dies addiert sich, da es sich um eine
Komplementärfinanzierung handelt, aufgrund dieser Po-
litik zu einer neu zur Verfügung gestellten Summe von ei-
ner halben Milliarde DM, hauptsächlich für kulturelle
Bauinvestitionen in den neuen Ländern.

Ebenfalls neu für die neuen Länder ist: Nach zehn-
jähriger Verweigerungshaltung des Finanzministers
Waigel öffnet sich das Investitionsförderungsprogramm
„Aufbau Ost“, das in der Vergangenheit für kulturelle In-
vestitionen keinen Platz hatte, für ebensolche Projekte,
die von den Kulturministern und Wirtschaftsministern der
neuen Länder in dieses Programm hineingeschrieben
werden können. Hier obliegt es dann dem jeweiligen Land
auf der Empfängerseite, diese zusätzlichen kulturellen In-
vestitionsmittel im Verteilungskampf in den jeweiligen
Kabinetten zu mobilisieren. Das ist zum Beispiel in Sach-
sen, dem Land von Herrn Biedenkopf, ganz besonders gut
gelungen.

Ich glaube, dass der Schwerpunkt, den wir gesetzt ha-
ben, auch für das nächste Haushaltsjahr, nämlich die För-
derung der neuen Länder, nicht nur politisch berechtigt
ist, sondern auch einen nachhaltigen Effekt zeitigen wird.

Frau Abgeordnete, können Sie den zweiten Teil Ihrer
Frage bitte wiederholen?


Monika Griefahn (SPD):
Rede ID: ID1412905100
Die Frage war, über welche
Teile die Länder und der Bund im Zusammenwachsen der
Europäischen Union verhandeln können.

D
Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412905200
Ich glaube, es gibt eine ganze Fülle von Aufga-
ben von kulturpolitischer Relevanz, die – Herr Otto, ver-
stehen Sie das nicht als Kritik am Föderalismus – in der
Vergangenheit vielleicht nicht mit der Emphase in Brüssel
verhandelt werden konnten, wie das jetzt dank dieser
neuen Funktion möglich ist.

Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen. Bei der sattsam
bekannten Debatte um die Buchpreisbindung habe ich für
Bund und Länder gefochten. Mein Kollege Herr
Zehetmair, von der KMK abgeordnet, ist zu den entspre-
chenden Sitzungen nicht gekommen, hat meines Wissens
auch keine diesbezüglichen Gespräche mit den Mitglie-
dern der zuständigen Generaldirektionen geführt und hielt
das Ganze aus München betrachtet für einen „Kampf ge-
gen die Windmühlen von Brüssel“. Mit anderen Worten:
Ich war der Don Quichotte. Wer er in diesem Gespann
war, möchte ich jetzt nicht vermuten.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Windmühle!)

– Vielleicht die Windmühle, aber vielleicht auch der
Komparse, den ich jetzt nicht beim Namen nennen
möchte, weil er dann möglicherweise geknickt wäre. –
Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, wie auf europä-
ischer Ebene Bundespolitik greifen kann.

Dasselbe trifft auf die gesetzlichen Harmonisierungs-
zwänge in den Bereichen der medialen Selbstkontrolle zu.
Dies gilt selbstverständlich auch für die duale Rundfunk-
ordnung. Die Länder werden in Brüssel die Beibehaltung
der dualen Rundfunkordnung in Deutschland verteidigen.
Das Interessante aber ist, dass der Bund in der Auseinan-
dersetzung mit der Kommission einen längeren Verhand-
lungshebel hat, weil wir in den Budgetdebatten mit den
anderen Mitgliedstaaten, die in Brüssel ein anderes Re-
präsentationssystem haben als wir, Bündnisse schmieden
können, die dadurch enger und haltbarer sind, dass von
mir ein unmittelbarer Etat-Verhandlungszusammenhang
mithilfe des Bundesfinanzministers hergestellt werden
kann und wird. Das heißt, hier ist dem Bund eine natür-
lich nicht überzubewertende europäische Verhandlungs-
macht zum Vorteil von Bund, Ländern und Kommunen
zugewachsen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412905300
Herr Kollege
Niebel.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1412905400
Herr Staatsminister, waren Ihre
Antworten auf die Fragen der Kollegen Otto, Koppelin
und von Klaeden dazu, ob die Kompetenzzuweisung des
Grundgesetzes im Kulturbereich an die Länder Verfas-
sungsfolklore sei bzw. inwieweit der Föderalismus als
Ausdruck der Angst der Deutschen zu bewerten sei, Ihre
Ansicht oder war das die Ansicht der Bundesregierung?

D
Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412905500
Ich bin ein Mitglied der Bundesregierung. Sie
werden wahrscheinlich nicht Herrn Funke für das haftbar
machen wollen, was ich sage. Solange ich ein Mitglied
der Bundesregierung bin, liegt es in Ihrem Belieben, wie
Sie meine Antworten interpretieren. Ich habe das jeden-
falls nicht als Privatmann gesagt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412905600
Es gibt keine
weiteren Nachfragen. Herr Staatsminister, ich danke Ih-
nen für Ihre Antworten.

Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums des Innern. Der Herr Parlamentarische






(C)



(D)



(A)



(B)


Staatssekretär Fritz Rudolf Körper wird die Fragen zu die-
sem Geschäftsbereich beantworten.

Ich rufe die Frage 2 des Abgeordneten Wolfgang
Börnsen (Bönstrup) auf:

Mit welchen konzeptionellen Überlegungen verbindet die
Bundesregierung ihre Absicht, insgesamt 233 Planstellen beim
Bundesgrenzschutz (BGS) Schleswig-Holstein auch weiterhin
mit einem kw-Vermerk zu verbinden, obwohl nach den Erfahrun-
gen an den Westgrenzen der Bundesrepublik Deutschland der Per-
sonalaufwand für den BGS nach Schengen nicht geringer, sondern
höher ausgefallen ist und eine solche Situation sich auch nach dem
Schengenbeitritt des Königreiches Dänemark nach Aussagen von
Experten auch an dieser Grenze ergeben wird, das heißt, es einen
erhöhten und nicht geringeren Stellenbedarf gibt?

Bitte, Herr Staatssekretär.

F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1412905700
Herr Kollege Börnsen, die dem
Bundesgrenzschutzamt Flensburg im Rahmen der Neuor-
ganisation des Bundesgrenzschutzes zum 1. Januar 1998
zusätzlich zugewiesenen 233 Dienstposten mit kw-Ver-
merk dienen ausschließlich dazu, den bis zur Inkraftset-
zung des Schengener Durchführungsübereinkommens
bestehenden Verstärkungsbedarf zur Gewährleistung des
Schengener Kontrollstandards abzudecken. Diese
233 Dienstposten sind mit Planstellen unterlegt, die nach
dem Haushaltsplan ebenfalls mit kw-Vermerk versehen
sind.

Es handelt sich hierbei um Planstellen, die nach einer
Absprache zwischen den früheren Bundesministern
Kanther und Waigel 1997 zusätzlich in den Haushalt 1998
eingebracht wurden, um eine größere Anzahl von BGS-
Beamtinnen und BGS-Beamten nach ihrer Ausbildung
ohne zeitliche Verzögerung anstellen zu können. – Das
war der Hintergrund.

Sicherheitsdefizite in diesem Bereich sind durch den
Wegfall der kw-Dienstposten entsprechend den darge-
stellten haushaltsmäßigen Vorgaben nicht zu erwarten.
Die Personalausstattung mit 453 Dienstposten bleibt trotz
des Wegfalls der Grenzkontrollen gegenüber den vor der
Neuorganisation des Bundesgrenzschutzes ursprünglich
vorgesehenen 312 Dienstposten auf Dauer um 141 erhöht.
Dies gewährleistet – auch unter Berücksichtigung der
Personaldichte an den Westgrenzen – eine personell aus-
reichend ausgestattete polizeiliche Präsenz zur Wahrneh-
mung der verbleibenden gesetzlichen Aufgaben, insbe-
sondere zur Verhinderung illegaler Einreisen. – So weit
der Sachstand.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412905800
Bitte.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1412905900
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär. – Ich hatte nach den Zahlen
von Schleswig-Holstein gefragt. Sie haben in Ihrer Ant-
wort Zahlen lokalisiert auf die Fördestadt Flensburg ge-
nannt. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie
gesagt, dass die 233 kw-Stellen, um die es geht, nur theo-
retischen Charakter, aber keine Auswirkung auf den
Personalbestand des Bundesgrenzschutzes in Schleswig-
Holstein haben. Ich hatte Sie aber nach den konzeptionel-

len Überlegungen gefragt, die dahinter stehen. Sie wissen
wie ich, dass das Schengener Übereinkommen ab dem
21. März auch für Skandinavien/Deutschland gilt. Für die
Bürgerinnen und Bürger vor Ort stellt sich daher die
Frage, ob es ein Mehr oder ein Weniger an Sicherheit gibt,
wenn die Grenzen endgültig fallen.

Meine Frage dazu ist: Gehört zu Ihren konzeptionellen
Überlegungen auch die Aufnahme unseres Vorschlages,
wie in Offenburg an der deutsch-französischen Grenze
jetzt auch für die nordische Passunion – eingeschlossen
sind Dänemark, Schweden und Finnland – an der deutsch-
dänischen Staatsgrenze ein gemeinsames Lage- und Si-
cherheitszentrum einzurichten?

F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1412906000
Herr Kollege Börnsen, zunächst
eine Bemerkung: Das, was sich jetzt an der Grenze zu
Dänemark abspielt – Sie haben das entscheidende Datum
genannt: 21. März 2001 –, ist von den Erfahrungswerten
her nicht neu. Deswegen habe ich versucht, mit der
Unterlegung der Zahlen deutlich zu machen, dass es
zu den ursprünglich vor der Neuorganisation des Bun-
desgrenzschutzes vorgesehenen 312 Dienstposten mit
453 Dienstposten eine Differenz gibt. Dies ist im Grunde
genommen die personelle Reaktion auf das, was auf-
grund der Veränderungen, des Beitritts Dänemarks zum
Schengener Abkommen, zu erwarten ist.

Die Arbeit zur Gewährleistung der Sicherheit ist an-
ders. Das haben wir an der Westgrenze erfahren. Die Hin-
terfeld- oder Vorfeldarbeit – egal, wie man sie bezeich-
net – ist natürlich stärker gefragt. Dies ist personell
unterlegt.

Bezogen auf Ihre Frage zu den 233 Dienstposten, habe
ich ganz bewusst einmal den Werdegang geschildert. Er
war – das sage ich Ihnen in aller Offenheit – nicht so sehr
sicherheitspolitisch unterlegt. Es gab vielmehr ein perso-
nelles Problem, das gelöst werden musste. Daher hat man
diese kw-Vermerke an zwei Stellen untergebracht. Eine
davon betrifft Schleswig-Holstein; dort geht es um
233 Dienstposten. Die anderen beziehen sich auf den
Köln/Bonner Raum.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412906100
Bitte.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1412906200
Frau
Präsidentin, wenn ich nachfragen darf: Meine erste Frage,
die Frage nach dem gemeinsamen Lage- und Sicherheits-
zentrum, ist nicht beantwortet worden. Sie haben sehr
fundiert Auskunft gegeben. Die Frage aber schloss sich an
das gemeinsame deutsch-skandinavische Lage- und Si-
cherheitszentrum an.

F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1412906300
Inwieweit dies einbezogen wer-
den wird, ist derzeit nicht definitiv zu beantworten. Ich
gebe Ihnen da gerne noch einen weiteren Sachstandsbe-
richt. Ich gestehe Ihnen dabei in aller Offenheit ein, dass
wir noch einmal überprüfen, ob die derzeit vorhandene




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
12412


(C)



(D)



(A)



(B)


Konzeption der Sachlage gerecht wird. Das zuständige
Präsidium Nord ist gerade damit befasst. Ich denke, dass
wir gute Lösungen finden werden.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1412906400
Frau
Präsidentin, ich begrüße es, dass der Herr Staatssekre-
tär – –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412906500
Herr Kollege,
eigentlich dürfen Sie keine Zusatzfrage mehr stellen.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1412906600
Das ge-
rade war eine Nachfrage zu meiner ersten Frage, weil die
Antwort nicht auf den Punkt gebracht worden ist, Frau
Präsidentin. Kann ich jetzt trotzdem zu meiner zweiten
Frage kommen?


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412906700
Es liegt im Er-
messen der Antwortenden, sich gelegentlich so auszu-
drücken, wie sie es möchten.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: „Gelegentlich“ ist eine freundliche Formulierung!)



Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1412906800
Aber
wir haben es mit einem Staatssekretär zu tun, der in der
Sache ausgesprochen kompetent ist und insofern eine
zweite Frage zulässt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412906900
Da sind wir uns
einig. Bitte.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1412907000
Herr
Staatssekretär, ich habe Verständnis dafür, dass Sie noch
einmal darauf aufmerksam machen, dass Ihre Konzeption
für den Nordteil Deutschlands und damit für Skandina-
vien ähnlich der Konzeption der früheren Regierung an
der Westgrenze gewesen ist, den Personalbestand trotz
des Schengener Abkommens zu erweitern und zu verstär-
ken, um die Sicherheitssituation für die Bürger zu verbes-
sern.

In dem Zusammenhang möchte ich Sie gerne fragen,
ob Sie der Auffassung sind, dass eine elektronische Über-
wachung, wie es das Königreich Dänemark betreibt – ich
habe mir das mit meinem dänischen Kollegen Erik
Jacobsen angesehen –, auch von der Bundesrepublik
Deutschland durchgeführt werden sollte.

Sie wissen, dass wir allein in den letzten anderthalb
Jahren über 3 800 Aufgriffe hatten. Es erfolgten also über
die Hälfte aller Aufgriffe in Deutschland an der Nord-
grenze.

F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1412907100
Herr Kollege Börnsen, Tatsache
ist, dass mit dem 21. März 2001 Grenzkontrollen wegfal-
len. Das heißt, diese Arbeit wird nicht mehr erledigt. Die
Sicherheit wird dann durch andere Verfahren und Metho-
den, die im Übrigen auch personell mit entsprechenden

Zahlen unterlegt sind, wie ich es geschildert habe, ge-
währleistet.

Ich habe das Schengener Abkommen immer so ver-
standen, dass man keine elektronischen Grenzkontrollen
haben wollte, und die Erfahrung ist, dass dies im Grunde
genommen auch nicht notwendig ist.

Was die konkreten diesbezüglichen Planungen der dä-
nischen Seite anbelangt, kann ich Ihnen derzeit Konkre-
teres nicht sagen. Eigentlich würde mich das, was Sie an-
führen, etwas verwundern.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412907200
Es gibt keine
weiteren Zusatzfragen zu diesem Punkt. Danke schön,
Herr Staatssekretär.

Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Finanzen. Die Fragen wird Frau Staats-
sekretärin Hendricks beantworten.

Wir kommen zur Frage 3 des Abgeordneten Max
Straubinger:

Ist der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung von
Einkünften mit den Plänen der Bundesregierung, eine Entfer-
nungspauschale in Höhe von 0,80 DM je Kilometer einzuführen,
noch gewährleistet, angesichts der Tatsache, dass ein Berufspend-
ler, der mit der Deutschen Bahn fährt, zum Beispiel auf der

(Entfernung 125 km x 200 Arbeitstage x 0,80 DM)

20 000 DM bei der Jahressteuererklärung als Werbungskosten in
Ansatz bringen kann?

Bitte.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1412907300
Herr Kollege Straubinger,
die Bundesregierung sieht in der geplanten Entfernungs-
pauschale von 0,80 DM keinen Verstoß gegen den Grund-
satz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, weil alle
Berufspendler, also auch die Kfz-Pendler, die Entfer-
nungspauschale erhalten.

Die Umstellung auf eine einheitliche verkehrsmittel-
unabhängige Entfernungspauschale schafft hinsichtlich
der steuerlichen Entlastungswirkung Wettbewerbsgleich-
heit zwischen den Verkehrsträgern, verbessert die Aus-
gangslage für den öffentlichen Personennahverkehr und
fördert die Bildung von Fahrgemeinschaften. Sie ist des-
halb auch ein wichtiger umweltpolitischer Beitrag.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412907400
Ihre erste Zu-
satzfrage, bitte.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1412907500
Frau Staatssekretärin,
betrachten Sie es aber nicht trotzdem als riesige steuerli-
che Subvention, wenn die Entfernungspauschale letzt-
endlich solche Verwerfungen verursacht, wie ich sie in
meiner Frage aufgezeigt habe, indem bei einer Entfernung
von 125 Kilometern – das ist ein Beispiel aus meinem
Wahlkreis – und bei unterstellten 200 Arbeitstagen je-
mand, der einen Jahresaufwand von 3 487 DM hat – ich
habe mich extra nochmals kundig gemacht –, 20 000 DM
als Werbungskosten steuerlich geltend machen kann und
dies im Endeffekt bei einem 50-prozentigen Steuersatz




Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper

12413


(C)



(D)



(A)



(B)


bedeutet, dass der Steuerpflichtige für einen Aufwand von
3 487 DM dann 10 000 DM effektiv herausbekommt? Wi-
derspricht das nicht eklatant den Grundsätzen der Gleich-
mäßigkeit der Besteuerung von Einkünften?

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1412907600
Herr Kollege Straubinger,
es kann selbstverständlich zu Überkompensationen kom-
men. Das liegt im Übrigen in der Natur einer Pauschalie-
rungsregelung und das ist auch nicht neu. Auch die der-
zeit geltende Kilometerpauschale von 0,70 DM kann je
nach der Art des verwendeten Kraftfahrzeugs und der Ent-
fernung zu einer Überkompensation führen.

Es ist in der Tat so, dass eine Pauschalierung nicht auf
die tatsächlichen Aufwendungen abstellt, und insofern
geht es hier um die Gleichstellung der zurückgelegten
Entfernung, unabhängig von dem dazu benutzten Ver-
kehrsmittel. Pauschalierungen haben immer – jeweils ab-
hängig von den persönlichen Einkommensteuerverhält-
nissen – unterschiedliche Auswirkungen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412907700
Bitte.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1412907800
Frau Staatssekretärin,
ich habe ja Verständnis für Pauschalierungen, weil sie
manches im Vollzug erleichtern, aber wenn dann solche
Ergebnisse zutage treten, wie ich sie aufgezeigt habe,
müsste man dann nicht darüber nachdenken, unterschied-
liche Pauschalsätze einzuführen? Nach dem Steuerrecht
müsste ja eigentlich gegeben sein, dass nur die tatsächli-
chen Aufwendungen oder die zu erwartenden Aufwen-
dungen abgesetzt werden können, aber nicht irgendwel-
che fiktiven Höchstbeträge.

Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Betrieben er-
laubt wird, dass sie in der Betriebsmittelrechnung den
Jahreshöchststand des Heizölpreises in Ansatz bringen
können.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1412907900
Herr Kollege Straubinger,
es können natürlich nur die tatsächlich angefallenen Be-
triebskosten geltend gemacht werden. Das ist klar und
selbstverständlich. Diese lassen sich in der Bilanz nach-
weisen. Hierbei handelt es sich auch nicht um Pauschalen.

Ich habe gerade schon versucht, deutlich zu machen,
dass Pauschalen immer auch einen Vereinfachungstatbe-
stand beinhalten und dass Pauschalen bei einem mit einer
Progression arbeitenden Steuerrecht auch eine progres-
sive Wirkung haben. Ich kann mir schlechterdings nicht
vorstellen, dass wir hier nach Einkommenshöhe degressiv
gestaffelte Pauschalen vorsehen könnten. Dies wäre ja der
Vorschlag, der in Ihrer Frage enthalten ist. Wenn man den
tatsächlichen Aufwand ohne irgendeine Pauschalierungs-
regelung geltend machen könnte, würde dies zu einem
unvertretbaren Verwaltungsmehraufwand führen.

Insofern stellt die Einführung einer Entfernungspau-
schale von 80 Pfennig je Kilometer zwar einen neuen Tat-
bestand im Sinne der Erfüllung einer Höchstforderung
und im Sinne der Gleichstellung der Verkehrsträger dar.

Aber auch die Entfernungspauschale wirkt wie jede an-
dere Pauschale.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412908000
Zusatzfrage des
Kollegen Otto.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1412908100
Frau Staats-
sekretärin, der entscheidende Unterschied – das teilen Sie
aber nicht mit – zur Kilometerpauschale liegt aber darin,
dass bei der Kilometerpauschale ein Aufwand tatsächlich
entstanden sein muss. Bei der Entfernungspauschale hin-
gegen ist das nicht gefordert. Deswegen ist die Frage des
Kollegen Straubinger berechtigt.

Ich frage Sie ganz präzise: Halten Sie es wirklich für
vertretbar, dass ein Fußgänger oder ein Fahrradfahrer, die
überhaupt keinen messbaren Aufwand haben, trotzdem
die Entfernungspauschale geltend machen können?

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1412908200
Herr Kollege Otto, da Sie
auf das Beispiel des Herrn Kollegen Straubinger abheben,
der in seiner Frage beispielhaft die Strecke zwischen Lan-
dau und München von 125 Kilometern angeführt hat,
gehe ich davon aus, dass hiermit kein Fußgänger gemeint
ist.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Richtig!)


– Gut. Ich wollte dies nur zunächst einmal klarstellen.

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Einverstanden! Insoweit sind wir uns einig!)


Kosten können in der Größenordnung, die Herr Kol-
lege Straubinger in seiner Frage aufgezeigt hat, für
Fußgänger niemals entstehen, weil Fußgänger diese Ent-
fernung schlechterdings arbeitstäglich nicht zurücklegen
können.

Wenn Sie davon ausgehen, dass ein Fußgänger auf dem
Weg zur Arbeit eine Entfernung zurücklegt, die einiger-
maßen plausibel erscheint, nämlich zum Beispiel fünf Ki-
lometer für einen Weg – was schon bedeuten würde, dass
man dann, wenn man geht und nicht rennt oder läuft, etwa
eine Stunde braucht –, bedeutet das, dass die Entfer-
nungspauschale zu keiner besonderen Entlastung führt,
denn man muss sich mindestens elf Kilometer von zu
Hause bis zur Arbeitsstätte bewegen, um überhaupt über
den Arbeitnehmerpauschbetrag in Höhe von 2 000 DM,
den man sowieso hat, zu kommen. Wenn man also nicht
zugleich noch andere Aufwendungen wie zum Beispiel
Beiträge für Gewerkschaften, Berufsverbände, Aufwen-
dungen für Berufskleidung und anderes hat, müsste man
als Fußgänger mindestens elf Kilometer am Tag zurück-
legen, um überhaupt in den Genuss einer naturgemäß be-
grenzten Entfernungspauschale zu kommen. Ansonsten
wäre dies schon durch den normalen Arbeitnehmer-
pauschbetrag abgegolten.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412908300
Zusatzfrage des
Kollegen Deß.




Max Straubinger
12414


(C)



(D)



(A)



(B)



Albert Deß (CSU):
Rede ID: ID1412908400
Frau Staatssekretärin
Hendricks, entsteht durch diese neue Entfernungspau-
schale nicht eine Ungerechtigkeit dahin gehend, dass es
auf dem flachen Land, wo keine öffentlichen Verkehrs-
mittel zur Verfügung stehen, viele Arbeitnehmer gibt, die
tagtäglich auf ihr Auto angewiesen sind und die oft in der
Niedriglohngruppe arbeiten, also fast nichts steuerlich ab-
setzen können, während ein gut verdienender Angestell-
ter, der mit seinen Fahrten in die nächste Großstadt unter
die Entfernungspauschale fällt, gewaltige Summen „ab-
stauben“ kann? Entsteht hier nicht eine soziale Schief-
lage?

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1412908500
Herr Kollege Deß, Sie
müssen sich vorstellen, dass nun erstmals zum Beispiel
Menschen aus dem ländlichen Raum, wo keine öffentli-
chen Verkehrsmittel in nennenswertem Umfang zur Ver-
fügung stehen – diese Menschen sind also auf ihr Auto an-
gewiesen –, in der Weise steuerlich gefördert werden, dass
jeder Einzelne jetzt auch in einer Fahrgemeinschaft die
Fahrtkosten steuerlich geltend machen kann, was vorher
nur für einen möglich war. Insofern ist eine Möglichkeit
gegeben, die gerade auch für Arbeitnehmer im ländlichen
Raum wirken kann.

Im Übrigen ist es natürlich auch möglich, seine Ver-
kehrsmittel zu kombinieren, also zum Beispiel mit einem
Auto, einem Motorrad oder einem Fahrrad zum nächstge-
legenen Bahnhof zu fahren und dann eine Fahrkarte des
öffentlichen Personennahverkehrs zu lösen.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Danke, aber das scheidet im ländlichen Raum oft aus!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412908600
Ich glaube, jetzt
gibt es keine weiteren Zusatzfragen. Dann danke ich Ih-
nen, Frau Staatssekretärin.

Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Wirtschaft und Technologie. Der Parlamenta-
r
Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1412908700


Bleibt es bei der am 11. Oktober 2000 im Ausschuss für Wirt-
schaft und Technologie genannten hälftigen Kostenaufteilung für
die Weltausstellung EXPO 2000 zwischen dem Bund und dem
Land Niedersachsen und gibt es Anzeichen für eine Überschrei-
tung des derzeit bekannten Defizits der EXPO 2000 in Höhe von
2,4 Milliarden DM?

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1412908800
Frau Präsiden-
tin! Liebe Frau Kopp, Sie haben noch einmal die EXPO-
Frage aufgeworfen. Ich möchte darauf hinweisen, dass es
am 24. August ein Gespräch des Bundesfinanzministers
mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten gab und
dass in diesem Gespräch Übereinstimmung erzielt wurde,
dass alle Anstrengungen darauf gerichtet werden müssen,
den Verlust der EXPO Hannover GmbH so gering wie
möglich zu halten. Im Übrigen sollen die Gespräche nach
Abschluss der Weltausstellung in Kenntnis ihres wirt-
schaftlichen Ergebnisses fortgesetzt werden.

Durch die, wie Sie wissen, in den letzten Wochen an-
ziehenden Besucherzahlen kann es sein, dass die Ergeb-
nisse besser ausfallen, als wir befürchten mussten.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Weniger schlecht, nicht besser!)


Aber die Entscheidung ist noch nicht abzusehen. Ich kann
Ihnen nur sagen: Wir hoffen sehr, dass die Überschrei-
tung, die Sie befürchtet haben, nicht eintritt und man sich
dann in sinnvoller Weise auf ein Verfahren einigt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412908900
Bitte.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1412909000
Herr Staatssekretär, haben Sie
denn derzeit Kenntnis von einer möglichen Überschrei-
tung dieses Defizits von 2,4 Milliarden DM? Denn darum
geht es mir speziell.

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1412909100
Nein, habe ich
nicht. Die abschließenden Zahlen liegen noch nicht vor.
Ich habe die Besucherzahlen der letzten Wochen gesehen,
die deutlich angestiegen sind. Wir haben im Gesamter-
gebnis, auch weil Herr Otto selber noch einmal da war, be-
achtliche Besucherzahlen erreicht.


(Heiterkeit des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.])


Deshalb will ich einfach abwarten, wie das ausgeht, und
lieber später positive Meldungen verbreiten. Wir haben
keine Anhaltspunkte dafür, dass das Defizit überschritten
wird.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412909200
Bitte.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1412909300
Ich hätte auch gern eine Ant-
wort zu Teil zwei, zu der Kostenaufteilung 50:50.

Aber darf ich noch die Frage anschließen: Wann rech-
net denn die Bundesregierung mit einem Ergebnis? Wann
werden Sie Sicherheit haben?

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1412909400
Wir sind jetzt
dabei, die Prozesse im Einzelnen abzuwickeln. Ich kann
es nicht auf einen Tag genau sagen.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: In etwa!)

– Ich kann auch nicht sagen, dass wir Ihnen das zu Weih-
nachten liefern. Ich bin sicher, dass wir darüber im Wirt-
schaftsausschuss berichten werden.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412909500
Zusatzfrage des
Kollegen Otto.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Teil zwei!)

– Sie hatten schon zwei Fragen.

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1412909600
Zu Teil zwei






(C)



(D)



(A)



(B)


wollte ich nur sagen: Es gibt keine neuen Verabredungen.
Die Vereinbarungen zwischen dem Ministerpräsidenten
Gabriel und dem Finanzminister gelten weiterhin.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1412909700
In diesem
Zusammenhang die Frage an Sie, Herr Staatssekretär:
Sind Sie nicht der Auffassung, dass es die Verhandlungs-
position des Bundes erheblich verfestigen würde, wenn
Sie klipp und klar vor dem Deutschen Bundestag erklär-
ten, dass es bei der hälftigen Aufteilung bleibt? Bisher gab
es windelweiche Erklärungen: Wir reden darüber; das war
vereinbart worden. – Sind Sie nicht der Auffassung, dass
es für die finanziellen Interessen des Bundes vorteilhaft
wäre, dass Sie heute vor dem Deutschen Bundestag er-
klären, dass es dabei bleibt?

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1412909800
Jede Erklärung
eines Staatssekretärs vor dem Deutschen Bundestag ist in
ihrem Wert nicht zu unterschätzen. Deshalb bleibt es bei
dem, was ich eben schon Frau Kopp, die die Fragestelle-
rin war, gesagt habe, nämlich dass es bei der Verabredung
zwischen dem Finanzminister und dem Ministerpräsiden-
ten bleibt.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Hälftig?)


– Ja, das war die Prämisse. Dabei bleibt es.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412909900
Zusatzfrage der
Kollegin Lippmann.


Heidi Lippmann-Kasten (PDS):
Rede ID: ID1412910000
Herr Staatssekretär, ich
möchte genau da anknüpfen. In der niedersächsischen
Presse ist in den vergangenen Monaten immer wieder da-
rauf hingewiesen worden, dass es Absprachen zwischen
Bundeskanzler Schröder und dem Ministerpräsidenten
Sigmar Gabriel über eine anderweitige Aufteilung gege-
ben habe: Der niedersächsische Anteil werde niedriger
sein als bisher. Sie haben dies bisher nicht bestätigt. Kön-
nen Sie uns sagen, in welchem Verfahren dies gegebe-
nenfalls vom Haushaltsausschuss oder vom Parlament
verabschiedet werden müsste?

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1412910100
Ich kann nur das
wiederholen, was ich eben gesagt habe: Wir sind dabei,
die Prozesse abzuwickeln. Wir werden dann mit den im
Vertrag vorgesehenen Verfahren, wenn alle betriebswirt-
schaftlichen Ergebnisse vorliegen, eine Einigung her-
beiführen, wobei die Grundpfeiler eben von mir dargelegt
worden sind.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412910200
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Straubinger.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1412910300
Herr Staatssekretär,
werden bei möglichen Verhandlungen über eine höhere
Beteiligung des Bundes, die über die 50 Prozent beim zu

erwartenden Defizit hinausgehen – das kennen wir noch
nicht genau –, getätigte Infrastrukturmaßnahmen in die
Rechnung einbezogen, um auch diese bewerten zu kön-
nen und damit zu einer ganz neuen Form der Gemein-
schaftsfinanzierung zu kommen?

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1412910400
Es ist vereinbart
worden, dass der Bund und das Land Niedersachsen über
das, was am Ende unterm Strich übrig bleibt, sprechen. Da
der niedersächsische Ministerpräsident gesagt hat, dass es
gar kein Defizit gibt, weil wir Steuereinnahmen haben,
sind wir sehr zuversichtlich, dass die EXPO ein Erfolg
wird und dass wir auch die Finanzierung gut abschließen
werden, Herr Straubinger.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412910500
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412910600
Herr Staatssekretär, da Sie von
einem „möglicherweise etwas besseren Ergebnis“ spra-
chen, mit dem man rechnen kann, möchte ich dazu etwas
anmerken. Es handelt sich doch hier, wenn ich das richtig
sehe, um eine privatrechtliche Gesellschaft mit be-
schränkter Haftung. Wäre es bei einem Verlust von
2,5 Milliarden DM nicht angemessener, bestenfalls von
einem „etwas weniger schlechten Ergebnis“ zu reden?
Denn ein besseres Ergebnis ist die Steigerung eines guten
Ergebnisses.

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1412910700
Ich glaube, Sie
haben die Kategorien verwechselt. Ein besseres Ergebnis
kann man auch gegenüber einem schlechteren Ergebnis
erzielen. Besser ist nicht unbedingt die Steigerung von
gut – jedenfalls nach meinem Sprachempfinden. Mehr
will ich dazu nicht sagen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412910800
Weitere Nach-
fragen liegen nicht vor. Danke schön, Herr Staatssekretär.

Die Frage 5 wird schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Aus-

wärtigen Amtes. Der Staatsminister Ludger Volmer wird
die Fragen beantworten.

Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Otto auf:
Wie bringt die Bundesregierung ihre mir in der Fragestundeam 25. Oktober 2000 zu Frage 8 (Plenarprotokoll 14/126S. 12074 D) erteilte Auskunft, sie habe keine Kosten verursa-chende PR-Kampagne in Tschechien gestartet, in Einklang mit derPressemitteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundes-regierung vom 2. Oktober 2000, wonach dieses von Ende Augustbis Ende September 2000 zur „Förderung nachbarschaftlichenZusammenlebens und des Nachbarschaftsgefühls“ unter derSchirmherrschaft des Bundeskanzlers eine PR-Aktion in Polenund Tschechien mit Kosten von „circa 2,4 Millionen DM“ veran-staltet habe?

Bitte, Herr Staatsminister.

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412910900
Herr Kollege Otto, die Antwort von Staatsminister




Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
12416


(C)



(D)



(A)



(B)


Dr. Zöpel auf Ihre Frage „Trifft es zu, dass die Bundesre-
gierung angesichts des als schlecht kritisierten Images der
Bundesrepublik Deutschland in Tschechien eine PR-
Kampagne in den dortigen Medien startet und welche
Kosten sind dafür geplant?“ lautete am 25. Oktober 2000
korrekt: Nein. Die Bundesregierung hat in der Tat keine
solche PR-Kampagne in den tschechischen Medien
durchgeführt oder geplant.

Das Presse- und Informationsamt der Bundesre-
gierung, auf das Sie sich jetzt in Ihrer Frage beziehen,


(Norbert Otto [Erfurt] [CDU/CSU]: Schon damals!)


hat vielmehr in der Zeit vom 26. August bis 30. Septem-
ber dieses Jahres in sechs Orten entlang der deutsch-pol-
nischen und deutsch-tschechischen Grenze – davon ei-
nem in der Tschechischen Republik – Bürgerfeste unter
dem Motto „Nachbarn treffen Europa“ veranstaltet. Die
Bürgerfeste fanden in Eisenhüttenstadt am 26. August, in
Görlitz am 2. September, in Pirna am 16. September, in
Reichenberg – das ist in Tschechien – am 23. September,


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das heißt Liberec!)

in Schwedt am 23. September und in Swinemünde in Po-
len am 30. September 2000 statt.

Es handelte sich dabei nicht um eine PR-Aktion in Po-
len und Tschechien, sondern, wie aus der von Ihnen zi-
tierten Pressemitteilung des Bundespresseamtes erkenn-
bar, um eine Veranstaltungsreihe mit Schwerpunkten in
Brandenburg und Sachsen. Die sechs Bürgerfeste dienten
im Vorfeld der EU-Erweiterung dem Ziel, das nachbar-
schaftliche Zusammenleben und das Nachbarschaftsge-
fühl beiderseits der deutsch-polnischen und deutsch-
tschechischen Grenze, vor allem unter den Bürgerinnen
und Bürgern, weiter zu fördern.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412911000
Bitte.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1412911100
Herr Staats-
sekretär – –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412911200
Er ist Staatsmi-
nister.

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (F.D:P.): Entschuldi-
gung, Herr Staatsminister. Das war ein schweres Verse-
hen. Herr Staatsminister, ich hoffe, Sie verzeihen mir die-
ses schwere Versehen? – So ganz nicht, das merke ich.


(Heiterkeit)

Was erwidern Sie mir, wenn ich behaupte, dass die Ant-

wort des Herrn Staatsministers Dr. Zöpel auf meine Frage
symptomatisch für die wirklich inakzeptable Informati-
onspolitik der Bundesregierung gegenüber den Abgeord-
neten in der Fragestunde ist; zumal ein Großteil der Kos-
ten dieser Aktion, die Sie erwähnt haben,
Schaltungskosten in tschechischen Medien waren? Was
erwidern Sie auf meinen Vorwurf?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412911300
Ich erwidere auf ihre Frage, dass ich Ihre Einschät-
zung nicht teile.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412911400
Bitte.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1412911500
Herr Staats-
minister, kann ich in Zukunft auch vom Auswärtigen Amt
erwarten, dass ich, wenn ich eine präzise Frage nach einer
PR-Aktion und nach Schaltungen in tschechischen Me-
dien stelle, wahrheitsgemäße und nicht – wie dieses Mal –
nicht wahrheitsgemäße Antworten erhalte, zumal in die-
ser Aktion in Tschechien Schaltungskosten in erhebli-
chem Maße angefallen sind? Kann ich von Ihnen in
Zukunft präzisere und wahrheitsgemäße Antworten er-
warten?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412911600
Sehr geehrter Herr Abgeordneter, wenn Sie nach
Schaltungskosten fragen, erhalten Sie Antworten zu
Schaltungskosten. Wenn Sie nach PR-Aktionen fragen,
erhalten Sie Antworten zu PR-Aktionen.


(Uwe Hiksch [PDS]: Also: Anständige Fragen schreiben! Setzen, sechs! – Heidi Lippmann [PDS]: Es gibt keine schlechten Fragen, nur schlechte Antworten!)


Sie bekommen immer auf das eine Antwort, wonach Sie
fragen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412911700
Wir kommen
zur Frage 7 des Abgeordneten Koschyk:

Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung über eine et-
waige polnische Bereitschaft, der Europäischen Charta der Re-
gional- oder Minderheitensprachen vom 5. Oktober 1992 beizu-
treten, und wie beurteilt die Bundesregierung das vom Parlament
der Republik Polen am 7. Oktober 1999 beschlossene Gesetz über
die polnische Sprache vor allem hinsichtlich des Gebrauchs von
regional- und Minderheitensprachen in Polen, zum Beispiel der
deutschen Sprache in den Hauptwohngebieten der deutschen Min-
derheit in Polen, im öffentlichen Raum?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412911800
Herr Kollege Koschyk, die Bundesregierung würde
es begrüßen, wenn möglichst viele europäische Staaten
der Europäischen Charta der Regional- oder Minderhei-
tensprachen beitreten würden. Die Republik Polen hat
nach Kenntnis der Bundesregierung die Europäische
Charta der Regional- oder Minderheitensprachen bislang
nicht unterzeichnet. Der Bundesregierung liegen hin-
sichtlich der polnischen Bereitschaft keine konkreten An-
gaben vor.

Das polnische Gesetz über die polnische Sprache ist
am 8. Mai 2000 in Kraft getreten. Das Gesetz regelt – wie
im Übrigen auch anderswo üblich –, dass die Landesspra-
che zugleich Amtssprache ist. Darüber hinaus gilt der all-
gemeine Grundsatz der Verwendung der polnischen Spra-
che bei öffentlichen Tätigkeiten und im Rechtsverkehr.
Hierdurch ist nicht nur die öffentliche Verwaltung im
Hinblick auf ihre eigenen Verwaltungshandlungen gebun-
den, sondern zugleich auch jede Person, die gegenüber




Staatsminister Dr. Ludger Volmer

12417


(C)



(D)



(A)



(B)


den in Art. 4 des Gesetzes ausdrücklich aufgezählten Ver-
waltungsorganen Erklärungen abgibt. Dies bedeutet, dass
zum Beispiel Genehmigungsanträge an die Organe der öf-
fentlichen Verwaltung oder die lokalen Selbstverwal-
tungsorgane in polnischer Sprache einzureichen sind. Im
Vergleich mit dem vorherigen Rechtszustand in Polen be-
deutet dies keine Änderung. Art. 2 des Gesetzes besagt,
dass durch das Gesetz die Rechte nationaler Minderheiten
und ethnischer Gruppen nicht beeinträchtigt werden.

Die nationalen und ethnischen Minderheiten in der Re-
publik Polen haben laut Art. 35 der polnischen Verfassung
das Recht auf Wahrung und Entwicklung der eigenen
Sprachen sowie auf Entwicklung der eigenen Kultur und
Wahrung ihrer Bräuche und Traditionen. Darüber hinaus
regelt Art. 27 der polnischen Verfassung in Ausübung des
Rechts eines Staates zur Einführung und Verwendung ei-
ner einheitlichen Amtssprache, dass in der Republik Po-
len Polnisch Amtssprache ist.

Die Interessen der ethnischen und nationalen Minder-
heiten in Polen zur Verwendung der jeweiligen Minder-
heitensprache sollen in einem Minderheitengesetz gere-
gelt werden. Dies liegt seit geraumer Zeit zur Beratung in
den Ausschüssen des Sejm. Der Gesetzentwurf sieht in
der jetzigen Fassung vor, dass Minderheitensprachen in
Minderheitengebieten im Verkehr mit den Behörden als
so genannte Hilfssprachen verwandt werden können.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412911900
Herr Kollege.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1412912000
Herr Staatsminister,
herzlichen Dank.

Ich entnehme Ihrer Antwort, dass sich die Bundesre-
gierung sehr ausführlich mit diesem polnischen Gesetz
über die polnische Sprache befasst hat.

Wie bewertet die Bundesregierung Art. 10 Abs. 2 die-
ses Gesetzes, wonach Namen und Texte in polnischer
Sprache auch unter den durch Verordnung des Ministers
für öffentliche Verwaltung bestimmten Bedingungen und
Voraussetzungen durch fremdsprachliche Übersetzungen
ergänzt werden können, im Hinblick auf die – auch in Fra-
gestunden – immer wieder bestätigten Bemühungen der
Bundesregierung, gemäß dem Briefwechsel zum deutsch-
polnischen Nachbarschaftsvertrag zur Verwendung deut-
scher Ortsnamen in den Hauptwohngebieten der deut-
schen Minderheit in Polen zu gelangen? Das ist ja nach
der von mir zitierten Gesetzesstelle möglich. Hat die Bun-
desregierung unter Bezugnahme auf dieses polnische Ge-
setz einen entsprechenden Vorstoß gegenüber der polni-
schen Regierung unternommen?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412912100
Nach unserem Eindruck geht die polnische Gesetz-
gebung in Bezug auf die Sprachenfrage in eine Richtung,
die unserem Interesse entspricht. So ist in dem Gesetz
über die Minderheitensprachen vorgesehen, dass diese
zumindest als Hilfssprachen benutzt werden können.
Wenn dies praktisch zu dem führen würde, was Sie gerade
nennen, dann wäre das eine sehr begrüßenswerte Ent-
wicklung.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412912200
Eine zweite Zu-
satzfrage.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1412912300
Herr Staatsminister,
kann ich davon ausgehen, dass die Bundesregierung unter
Bezugnahme auf dieses Gesetz sowie auf die Aussage des
Briefwechsels zum deutsch-polnischen Nachbarschafts-
vertrag auf die polnische Regierung zugehen und unter
Hinweis auf die polnische Rechtslage ein Entgegenkom-
men von Polen bei der Verwendung von topographischen
Namen in deutscher Sprache in Hauptwohngebieten der
deutschen Minderheit erbitten wird?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412912400
Die Bundesregierung befindet sich ständig mit der
polnischen Seite im Gespräch, und zwar nicht nur auf der
Basis des Nachbarschaftsvertrages, sondern auch mit der
Perspektive einer möglichen EU-Mitgliedschaft Polens.
Dies ist ein weiterer Anlass, die gutnachbarschaftlichen
Beziehungen auszubauen und auf alle Fragen zu er-
strecken, die von beiderseitigem Interesse sind.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412912500
Ich glaube, es
besteht nicht der Wunsch nach weiteren Zusatzfragen.

Wir kommen zur Frage 8 des Abgeordneten Hartmut
Koschyk:

Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung über denStand des Gesetzgebungsprozesses im polnischen Parlament übereinen Gesetzentwurf zur Reprivatisierung von nach dem ZweitenWeltkrieg enteignetem Vermögen und in welcher Weise werden inden derzeitigen Beratungen zu diesem Gesetzentwurf Personen,die zum Zeitpunkt des Verlustes des Vermögens nicht im Besitzder polnischen Staatsangehörigkeit waren, bei Rückgabe- oderEntschädigungsregelungen berücksichtigt?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412912600
Herr Koschyk, das polnische Parlament beschäftigt
sich seit mehr als einem Jahr mit dem Entwurf eines Ge-
setzes über Reprivatisierung von Liegenschaften, die vom
Staat übernommen wurden; so zumindest der Text des
Entwurfs. Der Gesetzentwurf wird noch in zweiter Le-
sung behandelt, ein Termin der Verabschiedung ist dem
Auswärtigen Amt nicht bekannt. Nach Art. 4 Ziffer 2 des
Gesetzentwurfes haben Personen, die die polnische
Staatsangehörigkeit nach Maßgabe des Dekrets vom
13. September 1946 über den Ausschluss von Personen
deutscher Volkszugehörigkeit aus der polnischen Gesell-
schaft endgültig verloren haben, sowie Personen, die zwar
die polnische Staatsangehörigkeit nachträglich erworben,
Polen jedoch bis zum 8. März 1984 verlassen haben, kei-
nen Anspruch auf Reprivatisierungsleistungen. Anderer-
seits haben Deutsche, die nachträglich die polnische
Staatsangehörigkeit erworben und diese bis zum 31. De-
zember 1999 noch innehatten sowie länger als bis zum
8. März 1984 in Polen geblieben sind, einen Restitutions-
anspruch.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412912700
Bitte.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1412912800
Herr Staatsminister,
hat die Bundesregierung aufgrund der Umstände, die Sie




Staatsminister Dr. Ludger Volmer
12418


(C)



(D)



(A)



(B)


eben geschildert haben, nämlich dass es unter bestimmten
Gesichtspunkten einen Restitutionsanspruch gibt, ge-
prüft, in welcher Weise dies dann auch für Angehörige der
deutschen Minderheit in Polen zutreffen würde?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412912900
Wir haben vor kurzem in einem Gespräch auf Be-
amtenebene darauf hingewiesen, dass beim EU-Beitritt
Polens – mit der Folge eines gemeinsamen Binnenmark-
tes – kein Grund vorhanden wäre, bestimmte Volksgrup-
pen vom Grunderwerb auszuschließen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412913000
Eine weitere Zu-
satzfrage.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1412913100
Wie hat die polni-
sche Seite darauf reagiert?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412913200
Wir haben den Eindruck, dass immer dann, wenn
völkerrechtliche oder staatsrechtliche Fragen nicht pro-
nonciert in den Vordergrund gestellt werden, sondern man
sich pragmatisch um Einzelfragen bemüht, die Bereit-
schaft vorhanden ist, zu vernünftigen Lösungen zu kom-
men.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412913300
Ich rufe jetzt die
Frage 9 der Abgeordneten Sylvia Bonitz auf:

Wie steht der Bundesminister des Auswärtigen, JosephFischer, heute zu der Tatsache, dass 1973 der Ex-Terrorist Hans-Joachim Klein, gegen den jetzt vor dem Frankfurter Landgerichtdas Gerichtsverfahren wegen dreifachen Mordes sowie versuch-ten Mordes beim Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien imJahr 1975 begonnen hat, im Auto von Joseph Fischer gestohleneSchusswaffen transportiert hatte?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412913400
Frau Präsidentin, ich möchte die Fragen 9 und 10,
die miteinander im Zusammenhang stehen, gemeinsam
beantworten.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412913500
Dann rufe ich
auch die Frage 10 der Abgeordneten Sylvia Bonitz auf:

Welcher Art waren die Kontakte des Bundesministers des Aus-wärtigen, Joseph Fischer, zum Ex-Terroristen Hans-JoachimKlein und bis zu welchem Zeitpunkt – bitte Jahresangabe – be-standen diese Kontakte fort?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412913600
Frau Kollegin, auf Wunsch der Bundesanwaltschaft
hat es Anfang der 80er-Jahre zu dem gesamten Problem-
komplex, den Sie angesprochen haben, ein ausführliches
Gespräch mit dem damaligen MdB Fischer gegeben. Dem
ist keine weitere Erklärung hinzuzufügen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412913700
Bitte, Frau Ab-
geordnete, eine Zusatzfrage.


Sylvia Bonitz (CDU):
Rede ID: ID1412913800
Das ist keine Beantwor-
tung meiner Fragen. Ich erlaube mir daher nachzufragen.

Da Sie offensichtlich weder meine erste noch meine
zweite Frage beantworten wollen, konkretisiere ich meine
Fragen dahin gehend, ob der heutige Außenminister
Fischer Erkenntnisse hat, um welche Art von Waffen es
sich handelte, die in seinem Wagen von dem Ex-Terroris-
ten Hans-Joachim Klein transportiert worden sind, gegen
den jetzt vor dem Frankfurter Landgericht ein Gerichts-
verfahren wegen dreifachen Mordes sowie versuchten
Mordes beim Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien
im Jahre 1975 begonnen hat.

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412913900
Frau Kollegin, soweit es den ehemaligen Abgeord-
neten Fischer betrifft, habe ich Ihre Frage beantwortet.
Soweit Ihre Frage auf das zurzeit laufende Verfahren ge-
gen Herrn Klein Bezug nimmt, möchte die Bundesregie-
rung keinen Kommentar abgeben, weil sie sich nicht in
laufende Gerichtsverfahren einmischt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412914000
Haben Sie noch
eine weitere Zusatzfrage?


Sylvia Bonitz (CDU):
Rede ID: ID1412914100
Ja, natürlich. Meine Fra-
gen beziehen sich auf Herrn Fischer und weniger auf das
laufende Gerichtsverfahren. Deshalb frage ich noch ein-
mal: Wann hat Herr Joschka Fischer – heute Bundes-
außenminister, damals MdB – konkret erfahren, dass in
seinem Wagen gestohlene Schusswaffen transportiert
wurden, bzw. wusste er davon, bevor er seinen Wagen an
den Ex-Terroristen Hans-Joachim Klein verliehen hat?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412914200
Ich kann nur wiederholen, dass diese Fragen Anfang
der 80er-Jahre in einem Gespräch mit dem BKA ab-
schließend geklärt worden sind.


Sylvia Bonitz (CDU):
Rede ID: ID1412914300
Das beantwortet meine
Fragen nicht. – Ich möchte gern noch weitere Zusatzfra-
gen stellen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412914400
Sie können ins-
gesamt vier Zusatzfragen stellen, weil Sie zwei Fragen
schriftlich eingereicht haben.


Sylvia Bonitz (CDU):
Rede ID: ID1412914500
Ich stelle also eine wei-
tere Zusatzfrage: Wie beurteilt der heutige Bundesaußen-
minister Joschka Fischer heute seine Kontakte zum Ex-
Terroristen Hans-Joachim Klein?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412914600
Das hat der heutige Bundesaußenminister in diver-
sen Büchern und Interviews mit aller Klarheit deutlich ge-
macht.


(Zurufe von der CDU/CSU: Wir kaufen die Bücher von Herrn Fischer nicht!)



Sylvia Bonitz (CDU):
Rede ID: ID1412914700
Ich möchte nicht über
Bücher unterrichtet werden. Ich habe hier im Parlament




Hartmut Koschyk

12419


(C)



(D)



(A)



(B)


eine Frage dazu gestellt und möchte, dass meine Frage
auch hier im Parlament beantwortet wird.

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412914800
Ich denke, dass ich die Antwort mit aller Klarheit
gegeben habe.


(Lachen bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Lächerlich!)



Sylvia Bonitz (CDU):
Rede ID: ID1412914900
Meine vierte und letzte
Zusatzfrage: Über welchen Zeitraum hinweg hatte Herr
Fischer Kontakt zu dem Ex-Terroristen Hans-Joachim
Klein?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412915000
Auch diese Frage habe ich Ihnen vorhin beantwor-
tet.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412915100
Sie können
keine weiteren Zusatzfragen mehr stellen.


(Sylvia Bonitz [CDU/CSU]: Ich finde es skandalös, wie hier geantwortet wird! – HansJoachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Das ist eine Missachtung des Parlaments!)


Jetzt hat der Abgeordnete Deß eine Zusatzfrage.


Albert Deß (CSU):
Rede ID: ID1412915200
Herr Staatsminister, da Sie
sich immer auf die Erkenntnisse von 1980 berufen,
möchte ich die Frage stellen: Hat die Bundesregierung in-
zwischen Erkenntnisse darüber, ob das Auto, das dem
heutigen Bundesaußenminister Fischer gehörte, von
Herrn Klein gelegentlich benutzt wurde?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412915300
Da dies damals Gegenstand von Ermittlungen war
und diese Ermittlungen mit dem bekannten Ergebnis ab-
geschlossen worden sind, gibt es für die Bundesregierung
gar keinen Anlass, von sich aus zu recherchieren.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412915400
Herr Kollege
Deß darf eine weitere Zusatzfrage stellen, weil zwei
schriftlich eingereichte Fragen im Zusammenhang beant-
wortet wurden. – Bitte.


Albert Deß (CSU):
Rede ID: ID1412915500
Herr Staatsminister, hat die
Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob im Rahmen
der damaligen Ermittlungen Fingerabdrücke auf den
Schusswaffen festgestellt wurden?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412915600
Die Bundesregierung sieht keinen Anlass, zu Er-
mittlungen, die 1980 stattgefunden haben, heute Stellung
zu nehmen.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Mich wundert dann, dass man sich für Finanzen von 1980 interessiert!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412915700
Jetzt hat der
Kollege van Essen eine Zusatzfrage.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1412915800
Herr Staatsminister, gibt es
in der Zwischenzeit neue, insbesondere nachrichten-
dienstliche Erkenntnisse über den damaligen Vorgang, die
der Bundesregierung bekannt sind?

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412915900
Ich wiederhole, dass wir nicht aus eigener Voll-
macht recherchieren. Sollten nachrichtendienstliche Er-
kenntnisse vorliegen, würde ich sie hier nicht öffentlich
ausbreiten.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412916000
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Schmidbauer.


Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1412916100
Herr Staatsminis-
ter, glauben Sie nicht, dass es besser wäre und im Interesse
des Bundesaußenministers, hier anständige Antworten auf
die Fragen zu geben, anstatt ausweichend zu antworten?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412916200
Herr Abgeord-
neter Schmidbauer, Sie müssen schon eine Zusatzfrage
zum Thema stellen. Sie dürfen sich nicht melden, um ei-
nen Kommentar zur Art und Weise einer Antwort zu ge-
ben. Das ist keine Frage im Sinne unserer Geschäftsord-
nung. Sie können nur zur Sache nachfragen.

Im Übrigen verweise ich auf die Praxis in diesem
Hause. Sie werden sich daran erinnern, dass Sie einmal
selbst in dieser Rolle waren.


Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1412916300
Frau Präsidentin!
Ich bin mir sehr bewusst, was in Fragestunden möglich ist
und was nicht.

Außenminister Fischer ist in diesem Verfahren eine der
Hauptpersonen. Danach wurde von einer Kollegin ge-
fragt. Meine Frage an den Staatsminister war, ob er nicht
glaube, dass im Zusammenhang mit dieser – ich gebe zu:
sensiblen – Fragestellung eine andere Auskunft besser
wäre, als sich die ganze Zeit vor dem Parlament um eine
entsprechende Aussage zu drücken. Er kann natürlich
Nein sagen. Wie Sie zu Recht betont haben, ist das seine
Angelegenheit. Das ist richtig.

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412916400
Herr Kollege, ich weise Ihre Unterstellung zurück,
dass Herr Fischer Gegenstand des Verfahrens gegen Herrn
Klein sei.


(Bernd Schmidbauer [CDU/CSU]: Frau Präsidentin, das ist jetzt eine Unterstellung!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412916500
Es ist beantragt
worden, die Sitzung zu unterbrechen, und zwar von
der Fraktion der Bündnisgrünen. Es gibt jetzt mehrere




Sylvia Bonitz
12420


(C)



(D)



(A)



(B)


Wortmeldungen zur Geschäftsordnung. Das Wort hat
zunächst Eckart von Klaeden.


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1412916600
Frau Präsidentin!
Ich möchte für meine Fraktion den Geschäftsordnungsan-
trag stellen, die Fragestunde abzubrechen, weil angesichts
dieser Auskunftsverweigerung der Bundesregierung eine
Fragestunde keinen Sinn macht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412916700
Es gibt eine wei-
tere Wortmeldung zur Geschäftsordnung. Herr Küster,
bitte.


Dr. Uwe Küster (SPD):
Rede ID: ID1412916800
Frau Präsidentin! Der Antrag
der Unionsfraktion ist mir sehr wohl zu Ohren gekom-
men. Da es sich um eine grundsätzliche Erwägung han-
delt, bitte ich, dass sich der Ältestenrat auf seiner morgi-
gen Sitzung damit befasst. Ich gebe im Hinblick auf den
Antrag der Unionsfraktion jetzt gerne nach. Brechen wir
die Fragestunde ab! Wegen grundsätzlicher Erwägungen
bitte ich, dass sich der Ältestenrat und der Geschäftsord-
nungsausschuss morgen damit befassen. Dann können
wir darüber weiterdiskutieren.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412916900
Eine Wortmel-
dung zur Geschäftsordnung des Kollegen Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412917000
Man kann sehr unter-
schiedlicher Auffassung sein, inwiefern der Herr Staats-
minister die Fragen überhaupt beantwortet hat oder nicht.
Den Stil, den die Regierung praktiziert, muss der Herr
Staatsminister selber verantworten. Ich halte es aber nicht
für angebracht, die Fragestunde jetzt abzubrechen, weil
andere Kollegen andere wichtige Fragen gestellt haben.
Ich möchte beantragen, dass die Sitzung fortgeführt wird.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Die werden alle nicht richtig beantwortet! Keine wird richtig beantwortet! Das ist alles Farce hier!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412917100
Zur Geschäfts-
ordnung hat die Parlamentarische Geschäftsführerin von
Bündnis 90/Die Grünen, Steffi Lemke, das Wort.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wir müssen jetzt abstimmen, Frau Präsidentin!)


– Sehr geehrter Herr von Klaeden, jede Fraktion hat das
Recht, sich zu Wort zu melden, wenn ein Geschäftsord-
nungsantrag gestellt worden ist.

Frau Lemke, bitte.


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412917200
Frau
Präsidentin! Herr von Klaeden hat für die CDU/CSU-
Fraktion den Abbruch der Fragestunde beantragt. Ich
möchte deshalb den Geschäftsordnungsantrag auf Sit-
zungsunterbrechung zurückziehen. Wir können die Fra-
gestunde jetzt abbrechen. Ich finde es unmöglich, wie

diese Fragestunde seitens der Opposition missbraucht
wird,


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


um irgendwelche Schuldvorwürfe zu konstruieren, die
auf keiner juristischen Grundlage basieren.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Unglaublich! Was habt ihr denn an Basisdemokratie immer gepredigt!)


Wir werden dieses Verfahren im Ältestenrat noch ein-
mal erörtern. Ich finde jedenfalls, dass es dem Parlament
nicht gerecht wird, wie hier aufgrund solcher Fragen ver-
sucht wird, irgendwelche theoretischen Vorwürfe in Rich-
tung des Außenministers zu konstruieren. Wir sollten die
Fragestunde an dieser Stelle abbrechen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412917300
Gibt es noch
weitere Meldungen zur Geschäftsordnung? – Das ist nicht
der Fall.

Als Präsidentin muss ich jetzt entscheiden, wie wir
weiter verfahren. Ich sehe – auch nach Rücksprache – fol-
gendes Problem und bitte auch die Kollegen Geschäfts-
führer, das zu bedenken: Wenn wir die Fragestunde jetzt
abbrechen, schränken wir das in der Geschäftsordnung
verankerte Recht der Abgeordneten ein, eine Antwort auf
ihre Fragen zu erhalten. Hierbei handelt es sich um ein
Minderheitenrecht. Minderheitenrechte dürfen meines
Erachtens nicht durch Mehrheitsentscheidungen aufgeho-
ben werden.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Das passiert bei dieser Regierung laufend!)


Vor diesem Hintergrund entscheide ich in diesem Falle,
dass ich Ihrem Antrag nicht stattgeben kann. Ich verweise
aber auf die morgige Ältestenratssitzung, wo wir darüber
noch einmal sprechen sollten. Nach meinem Verständnis
der Geschäftsordnung entscheide ich richtig, wenn ich
eine Abstimmung darüber jetzt nicht zulasse; ein solches
Vorgehen ist nämlich grundsätzlich ausgeschlossen. Wir
werden das sicherlich morgen noch behandeln. Ich bitte,
jetzt so zu verfahren, wie ich es gesagt habe.

Gibt es noch weitere Anträge zur Geschäftsord-
nung? – Bitte.


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1412917400
Frau Präsidentin,
ich beantrage im Namen meiner Fraktion, dass wir die
Fragestunde unterbrechen und zu einer Sondersitzung des
Ältestenrates zusammenkommen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412917500
Jetzt sofort? –

(Werner Siemann [CDU/CSU]: Da können Sie nicht Nein sagen!)

Dem Antrag wird üblicherweise entsprochen. Wir verfah-
ren so.

Ich unterbreche die Sitzung und bitte die Geschäfts-
führer, kurz zu mir zu kommen.


(Unterbrechung von 14.42 bis 15.31 Uhr)





Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

12421


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412917600
Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wie-
der eröffnet.

Der Vorgang, der zur Unterbrechung der Sitzung ge-
führt hat, wird morgen im Ältestenrat anhand der dann
vorliegenden Bundestagsprotokolle erörtert. Die Fraktio-
nen haben sich verständigt, die Fragestunde jetzt nicht
fortzusetzen, sondern mit der Aktuellen Stunde fortzufah-
ren.

Ich rufe also den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
PDS
Haltung der Bundesregierung zur Rückkehr zu
den Grundsätzen der Nettolohnanpassung im
Jahr 2001

Ich gebe als Erstem dem Antragssteller, dem Kollegen
Roland Claus, das Wort.


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412917700
Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Am Montagabend erreichte
uns die Neuigkeit, dass bei der beabsichtigten Rentenre-
form erhebliche Veränderungen vorgesehen seien. Das hat
unsere Fraktion veranlasst, zu diesem Thema von großem
öffentlichen Interesse eine Aktuelle Stunde zu beantragen.
Die Koalitionsvertreterinnen und -vertreter, die nach mir
sprechen, werden wahrscheinlich feststellen, dass sie der
PDS-Fraktion dafür dankbar sind, weil sie dadurch wie-
der in die Lage versetzt werden, dem Hause ihre erfolg-
reiche Politik vorzustellen. Ich darf Ihnen vorsichtshalber
versichern, dass das nicht unser Hauptmotiv war.

Wir wollten zuallererst – das sollte uns hier im Hause
einen – für Aufklärung in der Sache sorgen, dafür, dass die
Öffentlichkeit erfährt, was Sache ist. Diese gesellschaftli-
che Diskussion mit erheblicher Tragweite muss hier im
Plenum und nicht nur in so genannten Konsensrunden
stattfinden.


(Beifall bei der PDS)

Die eigentlich spannende Frage lautet: Wie wollen Sie

erreichen, dass die versprochene Rückkehr zur Netto-
lohnanpassung bei der Rente zum 1. Juli 2001 erreicht
wird? Ich weiß, Sie haben dieses Versprechen mit der Be-
merkung „im Grundsatz“ verbunden. Ich hoffe einmal,
dass es nicht so ist, wie wir es schon manchmal von der
Koalition erlebt haben, dass nämlich „im Grundsatz“ bei
Ihnen bedeutet, dass die Ausnahme zur Regel erklärt wird.

Wir haben es hier – das ist, glaube ich, unbestritten –
mit einer großen Verunsicherung der Öffentlichkeit zu
tun. Das Vertrauen in die Zukunft, in die Sicherheit der
Rente wächst mit solchen Schritten eben nicht. Man be-
gegnet heute einer ganzen Reihe junger Leute – ich hoffe
einmal, dass es nicht mehr werden –, die sagen: Über die
Rente lassen wir die Alten reden; wir werden von der ge-
setzlichen Rentenversicherung wohl ohnehin nicht mehr
profitieren.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: So ist es! Ich stimme der PDS selten zu, aber so ist es!)


Ich hoffe einmal, dass das nicht gewollt ist.

Ich will Ihnen noch einmal unsere Grundkritik an Ihrer
Rentenreform vortragen. Nicht die 4 Prozent der privaten
Vorsorge sind unser Problem – es ist kein quantitatives
Problem –, sondern es ist die Tatsache, dass eine sozialde-
mokratisch geführte Bundesregierung den Einstieg in den
Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung und
der paritätischen Rentenversicherungszahlung vornimmt
und damit einen Rückfall hinter Bismarck organisiert.


(Beifall bei der PDS – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die Zeit von Bismarck ist schon lange vorbei!)


– Aber es wäre möglich, Herr Kollege, Bismarck zu über-
holen. Sie jedoch fallen hinter ihn zurück. Das ist doch un-
ser Problem.


(Beifall bei der PDS)

Die Arbeitgeber werden aus dem Solidarprinzip ent-

lassen und selbst die Rentenreform von Blüm mit dem de-
mographischen Faktor wäre vor dem Hintergrund dessen,
was Sie vorschlagen, sozial gerechter; allerdings nach der
zweifelhaften Logik: gleiches Unrecht für alle.

Dennoch – ich bin an dieser Stelle, wie manche mei-
nen, ein hoffnungsloser Optimist – bietet diese vertrackte
Situation auch Chancen. Meine Damen und Herren von
der Regierungskoalition, Sie müssen sich eingestehen:
Der am 17. Dezember begonnene Weg, einen Rentenkon-
sens zu suchen, ist gescheitert. Die CDU/CSU-Fraktion
hat Ihnen ziemlich unmissverständlich erklärt, dass sie an
diesem Konsens nicht mitwirken wird. Deshalb wollten
wir Sie an dieser Stelle auffordern: Suchen Sie einen
neuen Konsens mit den Gewerkschaften, den Kirchen,
den Sozialverbänden und den Rentenversicherungsträ-
gern, meinethalben auch mit der PDS, aber wir wollen uns
selbst nicht so wichtig nehmen.


(Beifall bei der PDS)

Suchen Sie diesen Konsens mit dem Ziel einer exis-

tenzsichernden Rente für alle, bei der die Beiträge von
allen aufgebracht werden, ohne Absenkung des Rentenni-
veaus und unter Beibehaltung der paritätischen Finan-
zierung. Ich gebe zu: Das ist keine einfache, aber eine lös-
bare Aufgabe. Einen Rat erhalten wir aus der Schweiz, wo
es den interessanten Spruch gibt: Die Millionäre brauchen
die gesetzliche Rentenversicherung nicht, aber die ge-
setzliche Rentenversicherung braucht die Millionäre. Das
wäre auch für Deutschland ein Weg zur Finanzierung ei-
ner gerechten und für alle auf Dauer gesicherten Rente.


(Beifall bei der PDS)

Ich bemerke bei anderen Zweifel, die fragen, welche

Hoffnung man noch haben könne, dass sich überhaupt et-
was ändert. Ich sage Ihnen: Solange eine Sache in der par-
lamentarischen Behandlung ist – ich verweise darauf,
dass die Rentenreform im Bundestag noch nicht einge-
bracht ist –, sind wir Parlamentarierinnen und Parlamen-
tarier verpflichtet, die Hoffnung nicht aufzugeben, den
Entwurf im Parlament noch zu ändern. Also: nichts mit
„basta“ an dieser Stelle!


(Beifall bei der PDS)







(C)



(D)



(A)



(B)


Ich sage Ihnen zum Schluss: Wer heute von der Ren-
tenreform spricht, muss sich zwischen Ellenbogengesell-
schaft und Solidargemeinschaft entscheiden; er muss sich
entscheiden zwischen der Formel „Stärkere besiegen
Schwächere“ und der Formel „Einer trage des anderen
Last“. Es ist an der Zeit, dieser Bundesregierung und die-
ser Koalition zu sagen: Die sozialen Spannungen in die-
sem Land sind größer, als Sie es wahrhaben wollen. Es ist
unverantwortlich, diese sozialen Spannungen in die Zu-
kunft zu transportieren. Die Zukunft braucht soziale Ge-
rechtigkeit. Auf eine solche hinzuwirken wäre eine mo-
derne Politik.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412917800
Ich gebe das
Wort der Kollegin Katrin – – Ulrike Mascher für die SPD-
Fraktion. Katrin kommt anschließend.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Selbst die Namen kommen bei der SPD durcheinander!)



Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1412917900
Nein, das ist kein Problem.
Ich habe eine Schwester, die Katharina heißt.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412918000
Liebe Grüße.


Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1412918100
Herr Präsident! Ich finde es
sehr lobenswert, dass die PDS mit großer Geste im Bun-
destag klären will, was Sache ist. Wir werden in der
nächsten Woche bei der ersten Lesung unseres Gesetzent-
wurfes sehr ausführlich darüber diskutieren können, was
in der Rentenreform Sache ist.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sollte das nicht schon in dieser Woche passieren?)


Wir werden auch in den Ausschussberatungen klären kön-
nen, was Sache ist. Warum soll es aber nicht eine vorge-
zogene Erklärung geben?

Wie wir – Arbeitsminister Walter Riester hat es mehr-
mals getan – bereits mehrfach, auch im Deutschen Bun-
destag, erklärt haben, wird es am 1. Juli 2001 eine Ren-
tenerhöhung entsprechend den Grundsätzen der nettolohn-
bezogenen Anpassung geben. Herr Claus, ich erkläre Ih-
nen gerne die Grundsätze der nettolohnbezogenen Anpas-
sung. Die mathematische Berechnungsformel wird
entsprechend den Grundsätzen des europäischen Systems
volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung erfolgen, das heißt,
der geplante Kapitalvorsorgebeitrag wird für die Feststel-
lung des Nettoeinkommens berücksichtigt und das Net-
toeinkommen selbstverständlich erst dann mindern, wenn
tatsächlich eine Kapitalvorsorge vorgesehen ist.

Darüber hinaus werden auch die Beiträge bzw. die Ver-
änderungen der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversi-
cherung einbezogen, aber nicht mehr die Veränderungen
im Steuerrecht, weil die Veränderungen in der Steuerpoli-
tik, die zum Beispiel zur Entlastung der Familien geführt
haben, nicht die Rentenversicherung belasten sollten. Da-
rüber sollten wir uns im Bundestag auch verständigen
können.

Wir wollen, dass die Rentner und Rentnerinnen wei-
terhin an der Entwicklung der tatsächlich verfügbaren
Löhne und Einkommen teilhaben. Dieser Grundsatz, der
die gesetzliche Rentenversicherung seit 1957 prägt, soll
auch in Zukunft gelten, und zwar auch für die neuen Bun-
desländer; denn wenn Sie sich die Entwicklung der letz-
ten zehn Jahre ansehen, dann werden Sie erkennen, dass
sich die Renten dynamisch entwickelt haben, auch wenn
man berücksichtigt, dass die hohe Arbeitslosigkeit der
letzten zehn Jahre die Dynamik abgeschwächt hat. Man
kann wirklich nicht behaupten, dass künftigen Rentnerin-
nen und Rentnern massenhaft Armut und Sozialhilfebe-
zug drohen.

Herr Claus, Sie haben gesagt, es gebe in der Schweiz
ein wunderbares Rentenmodell, demgemäß Millionäre
entsprechend der Höhe ihrer Einkommen herangezogen
werden. Aber Sie haben dabei unterschlagen, dass
Einzelpersonen in der Schweiz nur eine Rente in Höhe
von maximal 2 000 Franken erhalten. Das Prinzip der
deutschen Rentenversicherung, eine leistungsbezogene
Rente zu gewähren, also eine Rente entsprechend der
Höhe der Beiträge, die geleistet worden sind, gibt es in der
schweizerischen Rentenversicherung nicht.

Die Schweizer haben sich 1948 in einem Volksent-
scheid für ihr jetziges Rentensystem entschieden. Ein sol-
ches System hat sicher erhebliche Umverteilungseffekte,
die man für wünschenswert halten kann. Aber nach unse-
rer verfassungsrechtlichen Ordnung sind die durch
Beiträge finanzierten Rentenleistungen wie Eigentum ge-
schützt. Deswegen ist die Methode Schweiz – hohe
Beiträge bei gleichzeitiger Kappung der Leistungen –
nicht auf die Bundesrepublik übertragbar. Ich halte des-
wegen den immer wieder gemachten Hinweis auf die
Schweiz nicht für sinnvoll, weil er uns bei der Lösung der
Probleme der deutschen Rentenversicherung nicht voran-
bringt.

Auch die immer wiederholte Behauptung, die zusätzli-
che private Kapitalvorsorge sei ein Einstieg in den Aus-
stieg aus der Parität, ist wirklich nicht zielführend. Es
bleibt bei der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen
Rentenversicherung. Nach wie vor zahlen Arbeitnehmer
und Arbeitgeber einen hälftigen Beitrag. Der Bund – die
Steuerzahler – beteiligt sich erheblich. Der Anteil an Bun-
desmitteln wird im nächsten Jahr bei gut 136Milliar-
den DM liegen.

In den Bereichen der betrieblichen Altersvorsorge und
der privaten Vorsorge wird es wie bisher unterschiedliche
Finanzierungssysteme geben. Die betriebliche Altersvor-
sorge wird von den Arbeitgebern teilweise voll finanziert.
Die Beiträge zu Pensionskassen werden hälftig von den
Arbeitgebern und den Arbeitnehmern finanziert. Die Ar-
beitnehmer werden ihre private Altersvorsorge vollstän-
dig allein finanzieren, wenn sie Geld in eine Direktversi-
cherung einzahlen. Das Märchen, hier werde der Weg der
paritätischen Finanzierung verlassen, wird auch durch
Wiederholung nicht wahr.

Ich bitte Sie, über realistische Perspektiven – wenn Sie
einen konstruktiven Beitrag zur Rentendiskussion leisten
wollen – zu diskutieren, sich nicht mit dem Hinweis auf
die Schweiz an einer Fata Morgana zu orientieren und




Roland Claus

12423


(C)



(D)



(A)



(B)


nicht immer wieder zu behaupten, der Weg der paritäti-
schen Finanzierung werde verlassen. Ich wünsche nicht,
dass das, was hier immer wieder beschworen wird, Rea-
lität wird; denn ich halte die paritätische Finanzierung für
ein wesentliches Element der gesetzlichen Rentenversi-
cherung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412918200
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Karl-Josef
Laumann.


Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1412918300
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
gut, dass wir heute auch im Deutschen Bundestag – das
geschieht in der gesamten deutschen Öffentlichkeit schon
seit langem – erneut darüber diskutieren, wie die Renten
demnächst angepasst werden sollen. Diese Diskussion ist
notwendig geworden, weil Sie, Herr Riester, der erste
Arbeitsminister seit 1957 sind, der die Rentenerhöhungen
von der Lohnentwicklung abgekoppelt hat. 2Millio-
nen Menschen, die in Deutschland dazu Einsprüche ein-
gelegt haben, sind der schlagende Beweis, dass Sie ganz
allein die Verantwortung dafür tragen, dass niemand mehr
Ihrer Rentenpolitik traut.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.])


Auch heute haben wir es gesehen: Sie mussten Ihre Par-
lamentarische Staatssekretärin ins Gefecht schicken, weil
keiner aus der Fraktion diese Pläne noch verteidigt.


(Lachen bei der SPD – Beifall bei der CDU/CSU)


Mit großem Interesse habe ich im „Focus“ der letzten Wo-
che von Ihrem Auftritt in Ennepetal und vom Verhalten
des damaligen sozialpolitischen Sprechers gelesen. Auch
das macht deutlich, dass Sie mit Ihrer Rentenpolitik iso-
liert sind.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Seit wann glauben Sie dem „Focus“?)


Um es ganz deutlich zu sagen: Sie sind mit Ihrer Ren-
tenpolitik bis jetzt auch deswegen gescheitert, weil Sie
unausgereifte Konzepte in die Diskussion eingebracht ha-
ben. Sie verlangen von uns, von der CDU/CSU, immer,
dass wir Ihrer Rentenpolitik zustimmen. Hätten wir das
getan, dann hätten wir schon viermal – so oft haben Sie
bis dato Ihr Rentenkonzept in wesentlichen Punkten geän-
dert – etwas Falschem zugestimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Riester, so kann man den Rentenkon-
sens in Deutschland nicht organisieren.

Bedenken Sie doch einfach einmal Folgendes:

(Gerd Andres [SPD]: Sag endlich die Wahr heit!)


Wenn Sie die blümsche Rentenreform auch im Bereich
der demographischen Formel wieder in Kraft setzten,
dann kämen wir zu Beitragssätzen von 22,3 Prozent.
Überlegen Sie sich allen Ernstes einmal, ob sich Ihr
ganzer Zauber, den Sie nur veranstalten, weil Sie die de-
mographische Formel nicht wollen – damit wollen Sie
auch keine verlässliche Größe für die Rentenanpassung
mehr –, für 0,3 Prozentpunkte Beitrag lohnt oder ob Sie
nicht durch Ihre Sturheit hier, die natürlich politisch mo-
tiviert ist, einen großen politischen und vor allen Dingen
rentenpolitischen Fehler machen.


(Gerd Andres [SPD]: Sie wollen doch auf 20 Prozent begrenzen!)


Die demographische Formel ist die einzig nachvoll-
ziehbare Lösung, einen Abschlag von der Nettolohnent-
wicklung vorzunehmen, den wir zur Konsolidierung der
Rentenversicherung brauchen; ich erinnere an die längere
Lebenserwartung. Kehren Sie schlicht und ergreifend zu
dieser Formel zurück! Wenn Sie das tun, haben Sie in der
Rentenpolitik wahrscheinlich einen Konsens. Ich wun-
dere mich, wer jetzt alles für die demographische Formel
ist: alle Rentenversicherungsträger, der VdK, der Reichs-
bund, große Teile der Gewerkschaften und die Union als
Erfinder dieser genialen Formel ohnehin.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Also: Übernehmen Sie die demographische Formel und
Sie stellen in einem wesentlichen Punkt den Rentenkon-
sens her.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie sich nicht von dem beeindrucken, was Sie und
andere im letzten Wahlkampf fälschlicherweise gesagt
haben.

Wenn ich an die Aufführungen des Arbeitsministeri-
ums in den letzten zwei Wochen in Sachen Rente denke,
lieber Herr Riester, dann kommt mir das vor, als wäre dort
eine Multikultitruppe lustig dabei, in Rente zu machen.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Was soll das nun wieder? Deutsche Leitkultur?)


Sie hat aber keine Leitfigur. Dies muss der Minister
sein.


(Renate Rennebach [SPD]: Glauben Sie nicht, Herr Laumann, dass Ihre Bemerkung völlig daneben war?)


Ich kann Sie nur bitten, dass Sie sich zu einer Leitfigur in
der Rentenpolitik entwickeln. Sollten Sie es nicht schaf-
fen, wird die schwere Aufgabe einer Rentenreform si-
cherlich von einem anderen Minister organisiert werden
müssen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412918400
Nun spricht
die Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.




Ulrike Mascher
12424


(C)



(D)



(A)



(B)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

zuletzt zu der „Multikultitruppe“ und zu der „Leitfigur“
gesagt haben, das finde ich in der Tat so unpassend, dass
ich Sie ganz ernsthaft bitte, darüber nachzudenken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was Ihr Fraktionsvorsitzender zum Thema Leitkultur
in Deutschland abgeliefert hat – es ist eine Ausgren-
zungsdebatte sondergleichen – –


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Nicht ablenken, Frau Kollegin! Ihre Kollegin Scheel zitiere ich auch gleich!)


– Ich lenke nicht ab. – Die Frage, wie wir in dieser Ge-
sellschaft zusammenleben, ist mir zu ernst. Dass Sie die-
ses Thema auf diese Weise benutzen und hier lächerlich
machen – es handelt sich um eine Ausgrenzungsdebatte –,
ist des Überdenkens in der Tat wert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Frau Kollegin Schwaetzer, zu dem Thema will ich
natürlich etwas sagen. Herr Kollege Claus, Herr Kollege
Laumann, Sie beide haben hier über einen Rentenkonsens
gesprochen. Bei diesem Anliegen ging es gerade um die
Frage, inwieweit man – auch langfristiges – Vertrauen in
eine Rentenreform, in die Altersvorsorge in Deutschland
schaffen kann. Genau aus diesem Grunde – nicht, weil es
bequemer oder so nett wäre, mit Ihnen zusammen am
Tisch zu sitzen – haben wir gesagt, wir streben einen Ren-
tenkonsens an.

Dass Sie selber für Verunsicherung sorgen und sie
nicht abbauen wollen, haben wir in den letzten Wochen
und Monaten in der Tat gemerkt. Wir finden es bedauer-
lich, dass Ihre Art, die Leute in Deutschland zu verunsi-
chern und ihnen Angst zu machen, dazu führt, dass das
Vertrauen in die Altersvorsorge künftig weiter sinken
wird. Genau aus diesem Grunde – das will ich an dieser
Stelle auch sagen – werden wir in dieser Legislaturperi-
ode eine Rentenreform verabschieden – mit Ihnen oder
ohne Sie –, die deutlich machen wird, dass wir für tatsäch-
liche und wahre Generationengerechtigkeit auf eine neue
Art und Weise sorgen.

Was bedeutet das?

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Jetzt kommt’s!)

Aus unserer Sicht bedeutet das: Jede Generation muss

einen Beitrag leisten.

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Schon nicht schlecht!)

Genau das haut nicht hin, wenn man auf einen demogra-
phischen Faktor zurückgreift. Jede Generation muss einen
Beitrag leisten und jede Generation muss auch wissen,
was auf sie zukommt. Das heißt erstens, dass sich gemäß
unserem Vorschlag die jetzige Rentnergeneration in Form
einer geringeren Rentenanpassung beteiligt. Deswegen

muss mit der Umsetzung dieser Reform in dieser Legisla-
turperiode begonnen werden. Zweitens heißt das, dass
sich die jüngere Generation auf der Basis eines Aus-
gleichsfaktors und im Übrigen auch dadurch, dass sie
zusätzlich privat vorsorgt, daran beteiligt. Durch das
Zusammenspiel dieser beiden Faktoren wird Generatio-
nengerechtigkeit auf intelligente Weise hergestellt; zu-
gleich ist dieser Ausgleich solidarisch.

Hinzu kommen noch – das haben Sie während Ihrer
Regierungszeit nie erreicht – Veränderungen innerhalb
des Systems, die dafür sorgen, dass diejenigen, die am we-
nigsten von der gesetzlichen Rentenversicherung profitie-
ren, nämlich Frauen mit unterbrochenen Erwerbsbiogra-
fien, so gestellt werden, dass deutlich wird, dass hier
Solidarität herrscht, also Solidarität zwischen Menschen,
die Kinder haben, und solchen, die keine Kinder haben.
Das ist ein wesentliches Ziel dieser Reform; deswegen
werden wir sie auch machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das nehmen Sie doch bei der Hinterbliebenenversorgung wieder weg!)


Herr Claus, Sie haben in diesem Zusammenhang ge-
sagt, es stünden sich Stärkere und Schwächere gegenüber.
Genau darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, so-
ziale Spannungen aufzulösen, die ja gerade in der Renten-
frage in den letzten Jahren zu Tage traten. Deswegen finde
ich es richtig, wenn Familien mit Kindern besser gestellt
werden, als es bisher der Fall war. Dieses Ziel verfolgt
diese Regierung in verschiedenen Bereichen und wird
sich auch in der Rentenfrage, bei der zusätzlichen Vor-
sorge und innerhalb dieses Rentenkonzeptes danach rich-
ten. Ich erinnere an die Anrechnung von Kindererzie-
hungszeiten und an die Zuschüsse, die gerade für
Familien mit Kindern gezahlt werden.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Wir tun etwas für Kinder! – Heinz Schemken [CDU/CSU]: Das mit den Kindererziehungszeiten haben wir gemacht!)


Man kann soziale Spannungen natürlich auch herbei-
beten. Es gibt einige in diesem Lande, die das tun, man-
che offensichtlich auch gern. Wir wollen Sicherheit für
alle, wir wollen, dass alle wissen, worauf sie sich einlas-
sen, und wir wollen Solidarität innerhalb der Gesellschaft
auch in Bezug auf die Altersvorsorge. Generationenge-
rechtigkeit ist nämlich nicht für die derzeit lebenden Ge-
nerationen von Bedeutung, sondern auch über die nächste
und übernächste Generation hinaus, für die Generation
unserer Kindeskinder und für die, die danach kommt. Das
ist der Sinn dieser Reform. Wir werden sie durchsetzen,
da können Sie ganz sicher sein.


(Heinz Schemken [CDU/CSU]: „Basta“!)

Sie haben nach wie vor die Chance, sich mit sachlichen

Beiträgen daran zu beteiligen.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Tun wir auch! Vor allen Dingen, weil ihr einiges zurückgenommen habt!)







(C)



(D)



(A)



(B)


Wir glauben, dass diese Reform dringend notwendig
ist, und ich hoffe, dass wir zu einer sachlichen politischen
Auseinandersetzung zurückkehren.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist so ungefähr das Einzige, was richtig ist!)


Ich appelliere noch einmal an Sie, mit dafür zu sorgen,
dass wieder Vertrauen in die gesetzliche Rentenversiche-
rung hergestellt werden kann.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412918500
Ich gebe das
Wort der Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer für die F.D.P.-
Fraktion.


Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1412918600
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Verunsicherung der
Rentner ist die Opposition in diesem Lande überhaupt
nicht nötig. Das machen Sie schon selber.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der CDU/CSU und der PDS)


Angesichts der Ausführungen von Frau Mascher und
Frau Göring-Eckardt frage ich mich, ob sie die Agentur-
meldungen, die heute den ganzen Tag über kamen, und die
Tagesordnung für diese Woche nicht gelesen haben, ob sie
heute Morgen nicht im Ausschuss gewesen sind und


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Was sagt Katharina dazu?)


nicht mitbekommen haben, was sie alles zu verantworten
haben, da sie ihre Versprechungen in diesem Zusammen-
hang nicht gehalten haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich rekapituliere: Bei der Konsensrunde im Juni hat

Herr Riester zugesagt, am 15. September – das ist nun
acht Wochen her – liege ein Gesetzentwurf auf dem Tisch.


(Zuruf von der F.D.P.: Welchen Jahres? – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Ein Rentenentwurf!)


Wir haben jetzt zur Kenntnis nehmen müssen, dass das
Bundeskabinett nach viermaligem Verschieben in der
nächsten Woche darüber beschließen will. Ich bin ge-
spannt, ob das tatsächlich der Fall sein wird.

Danach haben Herr Riester und die Koalition den
mehrstufigen ungeordneten Rückzug angetreten.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das war eine geniale Frontbegradigung!)


Es kam – das war ja auch so verabredet – ein Extra-Ge-
setzentwurf zur Erwerbsminderungsrente auf den Tisch.
Verabredet war aber zusätzlich, dass er zusammen mit
dem Gesetzentwurf zur großen Rentenreform auf den
Tisch kommen soll. Das ist nicht gehalten worden, weil
Sie sich nicht einigen konnten.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Machen wir ja nächste Woche! Was wollen Sie denn mehr! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Nein, nein, weil die Grünen verpennt haben, dass sie betroffen sind! Weil Frau Fischer das mit ihrem ganzen Ministerium verschlafen hat! – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das haben wir doch jetzt für nächste Woche extra Ihnen zuliebe umgestellt, damit wir hier zusammenarbeiten! Ich weiß gar nicht, was Sie wollen!)


– Du kannst mich ruhig weiterhin duzen, Ulla. Ich wäre ja
froh, wenn wir das in der nächsten Woche zusammen be-
handeln könnten.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das machen wir!)


Aber die Geschichte ist nun weiß Gott sehr viel ernster,
als Sie sie hier gerade zu nehmen versuchen. Die Er-
werbsminderungsrente wird ja nur deswegen in dieser
Woche nicht verabschiedet, weil die Grünen und die
grüne Gesundheitsministerin plötzlich gemerkt haben,
dass ihre Beamten gepennt haben


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Na, na, mäßigen Sie sich! und sie vom Arbeitsministerium über den Tisch gezogen wurden. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Es geht nämlich um Mehrausgaben in der Größenordnung
von 1 bis 1,5 Milliarden DM zulasten der gesetzlichen
Krankenversicherung.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Frau Schwaetzer, das haben Sie 1997 verabschiedet!)


Der zweite Rückzug, auch in dieser Woche: Die För-
derung der privaten Vorsorge sollte im nächsten Jahr be-
ginnen, und zwar – das hätte Sinn gemacht – zusammen
mit einer veränderten Nettolohnanpassung. Aber Sie sind
sich nun nicht einig,


(Zurufe von der SPD: Doch!)

ob Sie diese Veränderung vornehmen wollen oder nicht.
Die veränderte Nettolohnanpassung wird von den Grünen
kritisiert und von der SPD gewollt. Frau Kollegin Scheel
sagte in der „Wirtschaftswoche“, das alles mache gar kei-
nen Sinn, wenn die Nettolohnanpassung nicht gemeinsam
mit der privaten Vorsorge in Gang gesetzt werde.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – Dirk Niebel [F.D.P.]: Ausnahmsweise hat Frau Scheel mal Recht!)


Das ist also die zweite Stufe des Rückzugschaos in der
Koalition.

Aber warum gibt es denn diese Stufe des Rückzugs?
Auch das ist eigentlich sehr einsichtig: Die Zulage zur pri-
vaten Vorsorge ist natürlich ein Bonbon und soll im Jahre
2002 ausgezahlt werden. Dazu muss man wissen, dass im
Herbst 2002 Bundestagswahl ist.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ach nee, ganz neue Erkenntnis! – Peter Dreßen [SPD]: Katrin Göring-Eckardt 12426 Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! – KarlJosef Laumann [CDU/CSU]: Und die Renten werden 2003 gekürzt!)





(C)


(D)


(A)


(B)


Die konsequenterweise damit einhergehenden Abstriche
bei der Anpassung der Renten werden erst im Jahr 2003
sichtbar, also erst später. Dies war ja wohl der „Genie-
streich“ – so wurde es aus der SPD-Bundestagsfraktion
apostrophiert – von Herrn Eichel. Aber es ist des Rück-
zugs zweiter Teil.

Deswegen sollten Sie, meine Damen und Herren, in
dieser Debatte Antwort auf folgende Frage geben, die
auch nicht von mir kommt, sondern vom 1. Parlamentari-
schen Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion,
Wilhelm Schmidt.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Er sitzt ja sogar hier! Das wird jetzt spannend! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich höre mir das alles genau an!)


Er sagte nämlich laut „dpa“-Meldung von heute,
12.19 Uhr, auf die Frage, ob Arbeitsminister Walter
Riester bei der Rentendebatte noch Herr des Verfahrens
sei, wörtlich: „Wir wollen in der Sache Dinge lösen.“
Dann heißt es, Personen seien dabei „zweitrangig“.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja, richtig!)


Ich zitierte weiter: Der Ressortchef sei im Amt und werde
öffentlich gehalten.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was? Das steht da gar nicht! „Offensichtlich“! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Wer von beiden tritt denn jetzt zurück?)


Wer ein bisschen von politischer Sprache in der Ausei-
nandersetzung hier in Berlin versteht, der weiß, was das
bedeutet.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: „Basta“!)

Deswegen möchte ich in dieser Debatte nicht Auskunft
darüber haben, welche Hirngespinste Sie für das Jahr X
haben und was Sie hier schon 25-mal an Absichts- und
Willenserklärungen abgegeben haben, sondern ich
möchte wissen, worauf Sie sich in dieser Chaoskoalition
einigen können und ob Sie Herrn Riester halten oder ihn
für überfordert halten.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völlig dummes Zeug, dies so zu interpretieren!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412918700
Für die
SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Erika Lotz.


Erika Lotz (SPD):
Rede ID: ID1412918800
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen!


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Was sagt die Vertreterversammlung der IG Metall zur Rente?)


Frau Schwaetzer, ich muss mich schon sehr wundern: Ihr
Gedächtnis wird immer kürzer. Das merken wir bei jeder
Debatte.


(Zuruf von der SPD)

– 16 Jahre Regierung, genau das!


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das waren gute Jahre!)


Sie scheinen überhaupt nicht mehr zu wissen, was Sie
in den letzten Jahren alles angestellt haben.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Reden Sie einmal zur Gegenwart, Frau Kollegin! – KarlJosef Laumann [CDU/CSU]: Das waren nicht nur sieben, sondern 16 gute Jahre!)


Wir kassieren jetzt sozusagen die Urteile des Bundesver-
fassungsgerichts hinsichtlich des Kindergeldes, der
Kriegsopferrente Ost oder der Einmalzahlung. Wir müs-
sen einmal darüber reden, was Sie 1997 beschlossen ha-
ben: Die Regelungen in Bezug auf die Erwerbsminde-
rungsrente, die Sie jetzt beklagen, stimmen doch mit Ihrer
Beschlussfassung überein. Das scheinen Sie überhaupt
nicht mehr zu wissen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Karl-Josef Laumann [CDU/ CSU]: Wir waren uns damals doch einig! – Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Sie haben gar nicht zugehört!)


Sie tun jetzt so, als ob diese Regelungen vom Himmel ge-
fallen wären, aber sie waren Teil Ihres Gesetzes. Wir wol-
len jetzt Nachbesserungen erreichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Fragen Sie einmal Frau Fischer, was sie dazu sagt!)


Frau Schwaetzer sagt, sie wolle jetzt Auskünfte haben.
Die von der PDS beantragte Aktuelle Stunde hat die Ren-
tenanpassung zum Thema. Herr Kollege Claus sagt in die-
sem Zusammenhang, er wolle wissen, was Sache ist. Mit
dieser Aktuellen Stunde wird einmal mehr der Versuch ge-
macht, die Rentnerinnen und Rentner zu verunsichern.
Das ist einfach nicht in Ordnung.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Dem sind zwei Tage Pressemitteilungen vorausgegangen! Ich bitte Sie!)


Die Rentenanpassung – das weiß doch jeder; das wis-
sen auch Sie von der PDS – wird zum 1. Juli erfolgen. An-
fang März liegen die Zahlen des Statistischen Bundesam-
tes vor. Im März wird der Bundestag dann das Gesetz
verabschieden.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Was nützt es, wenn Sie sich nicht dran halten!)


Im April wird im Bundesrat darüber abgestimmt. Die
Menschen wissen, dass im nächsten Jahr eine Rentenan-
passung erfolgt.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Es ist nur die Frage, ob nach oben oder nach unten!)





Dr. Irmgard Schwaetzer

12427


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Rentnerinnen und Rentner wissen auch, dass sie wei-
terhin am Wachstum der Wirtschaft beteiligt werden. Auf
diesen Punkt hat die Kollegin Mascher schon hingewie-
sen.

Die Menschen wissen aber auch, dass die gestiegene
Lebenserwartung dazu führt, dass Rentner und Beitrags-
zahler ihr Scherflein zur Bewältigung der Aufgabe beitra-
gen müssen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Deswegen hatten wir einen demographischen Faktor eingeführt!)


Ein Beitrag der Rentner war, dass die Rente ab Juli 2000
um 0,6 Prozent in Höhe der Preissteigerung angehoben
wurde.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Der demographische Faktor wäre viel besser gewesen!)


Ich will noch einmal darin erinnern, wie die Rentener-
höhungen bei der Vorgängerregierung ausfielen: 1995
hatten wir eine Preissteigerungsrate von 1,9 Prozent und
eine Rentenanpassung von 0,61 Prozent;


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wie waren damals die Lohnerhöhungen? Da war Herr Riester noch für die Lohnerhöhungen zuständig!)


1996 gab es eine Preissteigerungsrate von 1,3 Prozent und
eine Rentenanpassung von 0,46 Prozent; 1997 betrug die
Preissteigerung 2,3 Prozent und die Rentenanpassung
1,65 Prozent; 1998 gab es eine Preissteigerung von
1,4 Prozent und eine Rentenanpassung von 0,33 Prozent.
In diesem Jahr betragen die Preissteigerungsrate und die
Rentenanpassung 0,6 Prozent. Die Kaufkraft bleibt also
unverändert.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Die Preissteigerungsrate lag bei ungefähr 1,8 Prozent! – Heinz Schemken [CDU/CSU]: 1,9 Prozent!)


– Sie wissen ganz genau, dass die Preissteigerung des vor-
herigen Jahres die Anpassung bestimmt.

Die Diskussion um die Rentenanpassung wird meiner
Meinung nach sehr widersprüchlich geführt. Herr
Laumann hat dazu einen Beitrag geleistet. Wenn Sie die
Einsprüche ansprechen, die bei den Rentenversicherungs-
trägern eingegangen sind, dann hätten Sie der Ehrlichkeit
halber auch sagen müssen, dass diesen Einsprüchen nicht
stattgegeben worden ist. Sie tun ja so, als ob wir etwas Un-
rechtes getan hätten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das warten wir mal ab!)


Ich will Ihnen aber auch ganz deutlich sagen: Es ist
nicht seriös, auf der einen Seite zu beklagen, dass die Jün-
geren durch den Aufbau einer zusätzlichen privaten Al-
tersversorgung zu stark belastet werden, aber auf der an-
deren Seite die Rentnerinnen und Rentner nicht an der
Stabilisierung der Rentenbeiträge zu beteiligen. Das ist
ein Widerspruch, der nicht hingenommen werden kann.
Die Menschen wissen, dass angesichts der demographi-

schen Entwicklung die Kosten letztendlich von allen ge-
tragen werden müssen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Warum haben Sie den demographischen Faktor außer Kraft gesetzt?)


Wir müssen auch darauf hinweisen, dass wir im Rah-
men der Rentenreform eine ganze Reihe von positiven
Regelungen auf den Weg bringen werden. Wir werden im
Rahmen der eigenständigen Altersversorgung der Frauen
die Kindererziehungszeiten in der Art der Rente nach
Mindesteinkommen berücksichtigen. Das wird auch bei
denjenigen Gültigkeit haben, die nicht mehr arbeiten kön-
nen, weil sie zwei oder drei Kinder haben.


(Heinz Schemken [CDU/CSU]: Alles Ankündigungen! – Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist die riestersche Märchenstunde!)


Auch für sie werden die Rentenbezüge höher ausfallen,
als es unter Ihrer Regierung der Fall gewesen wäre.


(Beifall bei der SPD)

Wir werden bei der Förderung der privaten Altersver-

sorgung den Eltern jährlich zusätzlich Zulagen in Höhe
von 360 DM pro Kind geben. Ich denke, Herr Laumann,
es lässt sich ganz einfach feststellen, dass der Weg, der
von uns eingeschlagen wird, der richtige ist.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Aber welcher Weg denn? Sagen Sie doch einmal, welcher Weg!)


Ihr Demographiefaktor war willkürlich

(Lachen bei der CDU/CSU)


und wird von uns nicht verfolgt werden. Unser Weg ist der
richtige.

Ich will Ihnen noch eines sagen, Herr Laumann: Die
CDU hat ein Problem mit der Leitkultur, aber wir haben
kein Problem mit der Leitfigur.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Es fragt sich nur, wer die ist!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412918900
Das Wort
hat der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU.


Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1412919000
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Frau Lotz, wenn Sie sagen, die
Aktuelle Stunde sei nur provoziert, um Rentnerinnen und
Rentner zu verunsichern – dass das eine Parlamentarierin
sagt, ist völlig unverständlich –, gestatten Sie mir, Ihnen
hier einmal deutlich zu machen, wo die Verunsicherung
tatsächlich liegt. Das können Sie in der Zeitung nachle-
sen. Dieser Aktuellen Stunde sind zwei Tage lang Presse-
berichte mit folgenden Überschriften vorausgegangen:
„Vorsorgeförderung wird verschoben“; „Keine Einigung
über Invalidenrente“; „Grüne gegen Rentenplan“; „Koali-
tion streitet über Basta-Rente“; „SPD und Grüne streiten
um Reform der Invalidenrente“. Ich könnte die Zitate
wahllos fortführen. Das ist die Verunsicherung, die von




Erika Lotz
12428


(C)



(D)



(A)



(B)


dieser Bundesregierung und diesem Arbeitsminister aus-
geht! Deshalb debattieren wir heute hier!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es tut mir fast Leid, dass wir das hier wochenweise dis-

kutieren müssen, Herr Minister.

(Widerspruch bei der SPD)


– Es ist wirklich so. Nehmen Sie einem das doch einmal
ab! Meinen Sie, es macht Freude, jede Woche im Obleu-
tegespräch nachzufragen, wann eigentlich die Reform-
schritte kommen, jede Woche nachzulesen, was diskutiert
wird, und hier immer Aktuelle Stunden zu haben und doch
keine Antworten zu bekommen?


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist das! – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch aus den Konsensgesprächen ausgestiegen!)


Ich bin einmal gespannt, ob das alles wirklich nächste
Woche passiert. Eigentlich sollte alles diese Woche pas-
sieren. Doch es ist verschoben worden, weil Sie nicht
klarkommen, weil Sie kein Konzept haben, weil Sie ein-
fach nichts auf den Tisch legen. Das ist der Grund der Ver-
unsicherung der Rentnerinnen und Rentner in Deutsch-
land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist doch schon fast peinlich, wenn man gebets-

mühlenartig wiederholen muss, was eigentlich in den
zwei Jahren passiert ist. Es war ein mutiger Schritt, im
Wahlkampf zu sagen: Wir machen nicht alles anders, aber
vieles besser. Heute wissen wir: Sie machen alles anders,
aber nichts besser! Das ist doch das Ergebnis nach zwei
Jahren, gerade in der Rentenpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Im Wahlkampf haben Sie den Eindruck verbreitet, Sie

könnten bei einer immer größer werdenden Zahl von
Rentnern und einer immer kleiner werdenden Zahl von
beitragszahlenden jungen Leuten eine höhere Rente und
niedrigere Beiträge erreichen. Nach dem Wahlsieg Funk-
stille, Blüms Reform ausgesetzt mit der Begründung: Wir
wollen darüber nachdenken. Das war das erste Erstaunli-
che. Dann haben Sie wirklich Woche für Woche, Monat
für Monat die Rentner verunsichert.


(Peter Dreßen [SPD]: Wer? Sie doch mit Ihrem Gebabbel!)


– Von Ihnen kam doch das Kanzlerversprechen: Wir blei-
ben bei der nettolohnbezogenen Rente. Ein paar Wochen
später galt das alles nicht mehr. Stattdessen haben Sie von
einem Inflationsausgleich gesprochen, sind also aus dem
bisherigen Rentensystem, aus der Sicherheit ausgestie-
gen. Kaum war das ausgesprochen, merkte man: Sie
meinten gar nicht Inflationsausgleich bezogen auf dieses
Jahr, sondern nur bezogen auf das zurückliegende Jahr.
Die Rentner erhalten in diesem Jahr nämlich nur einen
Ausgleich von 0,6 Prozentpunkten für 1,8 oder 1,9 Pro-
zent Preissteigerung.


(Zuruf von der CDU/CSU: Traurig! – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren acht Jahre unter der Inflationsrate!)


Das ist Ihre Rentenpolitik. Das war Verunsicherung der
Rentner und darüber müsste hier geredet werden.

Sie haben die zwei Jahre jetzt fast ausgenutzt; das ist
das Problem. Warum legen Sie nicht das Konzept auf den
Tisch? Herr Minister, Sie haben uns eine Diskussions-
grundlage auf den Tisch gelegt. Man war der Meinung,
das könnte möglicherweise der Gesetzentwurf sein. Diese
Woche erfahren wir, Sie sind weit davon entfernt; es be-
steht bis in die letzten Stunden hinein nach wie vor Bera-
tungsbedarf.

In dieser Woche, in zwei Tagen, sollte das Gesetz zur
Erwerbsminderungsrente verabschiedet werden; das war
Ihr Plan. Am selben Tag sollte das große Rentenreform-
paket eingebracht werden. Ich weiß noch, was wir in den
Obleutegesprächen hinsichtlich der Anhörungen unter-
einander ausgemacht haben. Da gab es aufseiten der SPD
und der Grünen das große Bedürfnis – –


(Zuruf des Abg. Gerd Andres [SPD])

– Das Bedürfnis, das Sie hatten, kenne ich wohl. Sie hat-
ten die übernächste Woche ins Auge gefasst. Glauben Sie,
dass wir da mitgemacht hätten, wenn Sie diese Woche ge-
sagt hätten, nächste Woche kommt erst die Einführung
und vier Tage später die Anhörung? Das ist eine Zumu-
tung für die beteiligten Kolleginnen und Kollegen, für die
Experten, die zur Anhörung eingeladen werden, sowie für
alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Denn nie-
mand weiß, was Sie wirklich wollen; das ist das Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

„Wir machen das, basta“, sagte der Bundeskanzler am

letzten Sonntag auf einem Gewerkschaftskongress. Das
ist erst ein paar Tage her. Was er machen wollte, ist in den
letzten zwei Tagen schon wieder infrage gestellt worden.
Es wäre schön gewesen, Herr Arbeitsminister, wenn der
Bundeskanzler Ihnen gesagt hätte: Nimm einmal einen
Tag frei, setze dich hin und bilanziere einmal, was wir im
Bereich Rente in den letzten zwei Jahren wirklich getan
haben und wo wir stehen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist für einen Gewerkschaftler Arbeitszeit!)


Das wäre für den Minister selber ein großer Erkenntnis-
tag und für uns alle ein Tag gewesen, an dem wir keine
weiteren Nachrichten über neue Vorschläge bekommen
hätten. Dieser eine Tag hätte uns allen sicherlich geholfen.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: 21,4 Prozent wäre der Beitrag bei Ihnen! Wir sind bei 19,1!)


Herr Minister, Sie haben auf die Kritik des Kollegen
Seehofer geantwortet – das ist nun mein wirklich letztes
Zitat; ich kann mir aber nicht verkneifen, es am Ende zu
erwähnen –, die Union habe sich nun selbst zuzuschrei-
ben, dass der Zug abfährt und sie nicht dabei ist. Glauben
Sie wirklich, Herr Arbeitsminister, dass – zumindest auf
der Seite der Union – ein einziger Kollege bzw. eine ein-
zige Kollegin sitzt, der bzw. die zurzeit in dem Rentenzug
sitzen möchte, den Sie aufgrund ständiger Rückwärts-
fahrten und der Tatsache, dass er immer wieder auf Ne-
bengleise gebracht und den Berg ein Stück hinauf- und
dann wieder hinuntergefahren wird, nicht voranbringen?
Das ist ein Zickzackkurs und kein klarer Kurs.




Wolfgang Meckelburg

12429


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich fordere Sie dringlich auf: Bringen Sie nächste Wo-
che in Bezug auf die anstehende Rentenreform einen Ge-
setzentwurf ein, auf dessen Grundlage man diskutieren
kann! Dann wären wir nach zweijähriger Verunsicherung
der Rentner ein großes Stück weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Zukunftsweisende Rede!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412919100
Das Wort
hat für das Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Thea
Dückert.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Jetzt kommt wieder Märchenstunde!)



Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412919200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Meckelburg hat sich wieder einmal über einen angebli-
chen Informationsmangel beklagt. Ich möchte an dieser
Stelle darauf hinweisen, dass es Ihre Fraktion, die
CDU/CSU, war, die die Konsensgespräche aufgekündigt
hat,


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Bitte?)

die das, was wir wollten, nämlich mit Ihnen gemeinsam in
einem sehr ruhigen und nach einem Konsens suchenden
Verfahren eine umfassende Rentenreform auf den Weg zu
bringen, nicht wollte.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Auf einer Basis, die Sie selber nicht wollen! – Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Am 15. September sollte ein Gesetzentwurf auf dem Tisch liegen! War aber nicht!)


Deswegen, so finde ich, sollten Sie etwas zurückhaltender
klagen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Dirk Niebel [F.D.P.]: Verstehe ich das richtig? Ohne CDU/CSU sind Sie nicht fertig geworden?)


Nun zum Thema der heutigen Aktuellen Stunde. Vie-
len Menschen in diesem Land, dem überwiegenden Teil
der Bevölkerung ist eines ganz klar: Wir brauchen eine
umfassende Rentenreform. Wir müssen die gesetzliche
Säule der Rente durch betriebliche und private Altersvor-
sorge stärken und wir müssen sehr viel tun, um beispiels-
weise die eigenständige Absicherung der Frauen zu ver-
bessern.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Davon müssen Sie uns nicht überzeugen!)


Mir scheint, wenn ich mir den Titel dieser Aktuellen
Stunde ansehe, dass zum Beispiel die PDS den wahren
und umfassenden Reformbedarf noch nicht erkannt hat.
Denn anders kann ich mir nicht erklären, warum hier al-
lein die Nettoanpassung, das heißt allein die Entwicklung
des Rentenniveaus, zum Thema gemacht wurde.

Das Problem ist viel komplexer. Es geht nicht nur um
das Rentenniveau, sondern auch um die Beiträge und, wie

gesagt, darum, wie wir die gesetzliche Rentenversiche-
rung stärken und ergänzen können. Handlungsbedarf er-
gibt sich – auch das liegt auf der Hand; die Bevölkerung
weiß das sehr genau – aus der demographischen Ent-
wicklung, der wir zurzeit ausgesetzt sind, zum Beispiel
aus der Tatsache, dass heute gemäß dem derzeit geltenden
Umlageverfahren 2,3 Beitragszahlerinnen bzw. Beitrags-
zahler für eine Rentnerin bzw. einen Rentner zahlen, im
Jahre 2030 aber nur noch 1,3 Personen für eine Rentnerin
bzw. einen Rentner zahlen werden. Gleichzeitig verlän-
gert sich die Rentenlaufzeit. Das ist zwar gut; denn dies
bedeutet, dass die Menschen älter werden. In den letzten
30 Jahren haben die Männer ungefähr vier Jahre und die
Frauen ungefähr 7,9 Jahre länger Rente erhalten.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Auch Sie haben heute nicht die Meldungen der Agenturen gelesen! Das heißt, Sie wissen nicht, worüber diskutiert wird!)


Das ist die Grundlage dafür, dass wir sehr viel mehr brau-
chen als nur eine Diskussion über das Rentenniveau bzw.
die Rentenanpassung, die Sie hier führen wollen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ihre Rede ist einfach nicht aktuell!)


Was wir tun müssen, ist, diese Lasten, die aufgrund der
demographischen Entwicklung auf uns zukommen, fair
auf die Generationen zu verteilen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Rede ist nicht aktuell!)


Was wir brauchen, ist nicht nur eine neue Anpassung der
Renten, sondern ein neuer Generationenvertrag. Ich
denke, dass die Jungen, die Beitragszahlerinnen und Bei-
tragszahler, sehr wohl dazu bereit sind, eine große Last zu
übernehmen, dass aber auch die ältere Generation bereit
ist, über die Entwicklung ihres Rentenniveaus ihren Bei-
trag zu leisten, weil eben diese Gesellschaft in eine andere
demographische Entwicklung gekommen ist.

Deswegen finde ich es unverantwortlich, wenn in einer
Debatte über diese Thematik suggeriert wird, dass wir in
dieser Gesellschaft weiterhin bis in die ferne Zukunft mit
diesem Rentenniveau leben könnten, ohne dass das Ren-
tensystem insgesamt gefährdet würde.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist doch gar nicht das Thema!)


– Die reine Nettolohnanpassung ist das Thema dieser Ak-
tuellen Stunde, Frau Schwaetzer.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Nicht die reine, sondern die Nettolohnanpassung! Das, was ihr wollt!)


Das wird von der PDS gefordert. Genau diese Forderung
bedeutet – das wurde hier auch vorgetragen – die Fort-
schreibung der Renten auf dem heutigen Niveau.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Wir möchten hören, was ihr wollt!)


Das ist der Bevölkerung Sand in die Augen streuen.
Wir wissen nämlich genau, dass das gesetzliche Renten-
system, die umlagefinanzierte Rente, dieses Rentenni-
veau nicht mehr sichern kann, ohne dass die Beiträge




Wolfgang Meckelburg
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(C)



(D)



(A)



(B)


explodieren. Genau das wollen wir nicht. Das heißt, wir
brauchen eine Rentenreform, die beides in Einklang mit-
einander bringt: die Entwicklung des Rentenniveaus und
die Beitragsentwicklung. Deswegen ist es falsch, hier eine
solche einseitige Diskussion zu führen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der F.D.P.: Gelächter bei den Grünen?)


Sicher haben die Rentnerinnen und Rentner ein Recht
auf einen wirklich fairen Anteil an der Wohlstandsent-
wicklung. Deswegen brauchen wir selbstverständlich die
Grundsätze der Nettolohnanpassung bei der Rentenfor-
mel. Das ist völlig klar. Aber wir brauchen sie mit Modi-
fikationen, um die Beitragsentwicklung tatsächlich im
Griff zu halten, um eine stabile Beitragsentwicklung zu
garantieren.

Genau darauf hat die junge Generation einen An-
spruch. Sie hat den Anspruch auf stabile Beiträge und auf
eine Garantie, auf eine Chance auf eine Altersversorgung
auf einem Niveau, die ihren Lebensstandard sichern kann,
und zwar durch die Ergänzung durch die private Alters-
vorsorge. Diesen Anspruch und dieses Recht hat die junge
Generation genauso wie die alte.

Die gesetzliche Rentenversicherung allein kann dies
nicht leisten. Deswegen brauchen wir die private Ergän-
zung, die umfassende Reform und eine modifizierte Ren-
tenanpassung.

Wir werden den Entwurf in der nächsten Woche haben.
Wir werden über die Details reden müssen. Es gibt eine
Reihe von guten Gründen beispielsweise für den Vor-
schlag, den Aufbau der privaten Vorsorge statt in acht
Schritten in vier zu machen. Es gibt auch Gründe, den
Zeitpunkt dafür um ein Jahr zu verschieben. Aber aus mei-
ner persönlichen und politischen Überzeugung gibt es ge-
nauso gute Gründe, mit der Senkung des Rentenniveaus
in dieser Legislaturperiode zu beginnen, wie wir das vor-
geschlagen haben.

Wir wollen die Beitragsstabilität und gleichzeitig den
Aufbau der privaten Vorsorge voranbringen. Wir werden
die Diskussion in dieser Woche noch engagiert führen.
Insgesamt aber muss klar sein, dass wir an der Strategie
der Senkung der Sozialversicherungsbeiträge festhalten
wollen.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie zeigen, dass Sie in dieser Frage in der Koalition Knatsch haben!)


Das ist der politische Kurs dieser Bundesregierung nicht
nur in der Rentenreform, sondern beispielsweise auch in
den anderen Sozialversicherungszweigen. Diesen Kurs
werden wir bis 2002 weiterhin verfolgen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412919300
Frau Kolle-
gin Dr. Heidi Knake-Werner spricht für die PDS-Fraktion.


Dr. Heidi Knake-Werner (PDS):
Rede ID: ID1412919400
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin
Dückert, ich hätte Ihnen ja zugetraut, dass Sie wenigstens
den Titel der von uns beantragten Aktuellen Stunde rich-
tig lesen können,


(Zuruf von der F.D.P.: Da haben Sie Recht!)

und ganz besonders hätte ich Ihnen zugetraut, dass Sie ihn
auch verstehen.


(Beifall bei der PDS – Zuruf von der PDS: Sie ist überfordert!)


Natürlich ist es so, dass die Menschen außerhalb die-
ses Hauses wissen, dass wir eine große Rentenreform
nötig haben, aber sie trauen es Ihnen bei dem Hickhack
und dem Hin und Her, das Sie hier Woche für Woche vor-
führen, eben einfach nicht mehr zu.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!)

Ich sage Ihnen auch sehr deutlich: Das Rentenniveau

ist in der Tat für uns eine zentrale Frage, weil es erstens
darüber entscheidet, wen Sie entlasten und wen Sie belas-
ten. Sie entlasten die Arbeitgeber und belasten einseitig
die abhängig Beschäftigten. Das Rentenniveau entschei-
det zweitens darüber, ob Sie Generationengerechtigkeit
schaffen und ob Sie Altersarmut verhindern. Ich sage Ih-
nen: Beides tun Sie mit dieser Rentenreform, die Sie vor-
haben, nicht. Wir aber wollen das.


(Beifall bei der PDS)

Ein Wort zu Frau Mascher, die nun leider schon gehen

musste: Das Märchen von der zusätzlichen privaten Vor-
sorge wird durch Wiederholung auch nicht spannender.


(Beifall bei der PDS)

Es geht hier nicht um eine private Vorsorge, die zusätzlich
geleistet wird, sondern die Menschen müssen sie leisten,
um die Kürzung der Rente auszugleichen.


(Beifall bei der PDS)

Das ist nicht Zusatz, sondern Ersatz. Deshalb wollen Sie
das auch steuerlich fördern und sozial abfedern; dafür ha-
ben Sie ja einen Grund gehabt.

Was war nun heute unsere Frage? – Ich will es Ihnen
noch einmal erklären, Frau Dückert. Sie haben gesagt, Sie
wollen die steuerliche Förderung der privaten Vorsorge
auf das Jahr 2002 verschieben. Dafür geben Sie eine
Reihe haushälterischer Gründe an, und man kommt leider
wieder in die Situation anzunehmen, dass hier Rentenre-
form nach Kassenlage stattfindet. Das will ich auch in
aller Deutlichkeit sagen.


(Zuruf von der SPD: Das wird auch nicht besser, wenn Sie es immer wiederholen!)


Sie sagen gleichzeitig, dass Sie, falls Sie das tun, die
Anwendung der neuen Rentenformel natürlich verschie-
ben müssen. Ja, was heißt das denn? Da stellen doch nicht
nur wir uns Fragen, sondern auch die Öffentlichkeit stellt
sich Fragen. Was bedeutet das denn eigentlich?


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Richtig!)





Dr. Thea Dückert

12431


(C)



(D)



(A)



(B)


Was machen Sie denn dann mit Ihrem Versprechen, wie-
der zur Nettolohnanbindung – meinetwegen nach den
Grundsätzen, die Sie neu formulieren – zurückzukehren?
Was wollen Sie denn tun? Wie wollen Sie das denn jetzt
bewerkstelligen? Wollen Sie das tun, was Ihr Koalitions-
partner vorschlägt, nämlich die Leute belasten, ohne
gleichzeitig den sozialen Ausgleich zu schaffen?


(Dirk Niebel [F.D.P.]: So sind die Grünen!)

Wollen Sie im nächsten Jahr wieder zum Inflationsaus-
gleich zurückkehren, oder was machen Sie im Jahr 2001?
Wollen Sie zu der ursprünglichen Nettolohnformel
zurückkehren? – Die Rentnerinnen und Rentner wären
Ihnen natürlich dankbar, denn dann würde ihre Rente
höher ausfallen, als sie es jetzt erwarten.

Was heißt das Ganze eigentlich, wenn Sie zu der ur-
sprünglichen Nettolohnanbindung zurückkehren, für die
Rentenkasse? Kann es auch sein, dass dann die Beiträge
zur Rentenversicherung doch nicht gesenkt werden, wie
Sie angekündigt haben? – Das sind doch Fragen, die die
Leute bewegen. Es tut mir Leid, ich habe auf diese Fragen
hier überhaupt noch keine Antworten gehört.

Ob Sie es wollen oder nicht: Die Verunsicherung ent-
steht daraus, dass bei dieser Rentenreform ein Finanz-
schacher im Vordergrund steht. Das schafft eben nicht das
Vertrauen darauf, dass die Probleme der Renten wirklich
im Interesse der Älteren und vor allen Dingen auch der
jungen Generation gelöst werden.

Ich sage Ihnen, was aus dem derzeit bestehenden De-
saster deutlich wird. Ich habe den Eindruck, dass das Re-
gierungsprojekt, die Rente wirklich zukunftsfähig zu re-
formieren, im Moment zu scheitern droht. Sie bekommen
den Kompromiss mit der rechten Opposition nicht hin;
mit der linken haben Sie es gar nicht versucht. Es gelingt
Ihnen nicht, die Widersprüche in der eigene Fraktion zu
klären, und Sie können die Kritik, den Protest und den Wi-
derstand in den Gewerkschaften, in den Sozialverbänden
und in den Kirchen nicht einfangen – im Gegenteil, die
Enttäuschung und der Frust sind dort vorherrschend, und
ich finde, zu Recht.


(Beifall bei der PDS – Gerd Andres [SPD]: Träumen Sie ruhig weiter!)


– Nein, Sie sind im Moment diejenigen, die den Unmut
und die Unzufriedenheit massiv schüren und auch die
tiefe Verunsicherung herbeiführen. Das Beispiel Invali-
denrente, das Sie uns jetzt vorführen, ist Ausdruck dafür,
wie wenig solide Sie bestimmte Dinge auch zwischen
Ihren Ressorts abstimmen.


(Beifall bei der PDS – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist kein Beispiel, das ist ein Trauerspiel!)


Wie kann es passieren, dass eine Gesundheitsministerin
erst zwei Tage vor der endgültigen Verabschiedung ent-
deckt, dass damit ihr Haushalt belastet wird?


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Normalerweise bespricht man so etwas im Kabinett!)


Das wäre übrigens auch schon nach der Regelung von
1997 so gewesen.

Ich finde, Sie müssen aufhören, Ihr Konzept in dieser
Form und unter Zeitdruck durchzuziehen. Denken Sie an
das, was Ihnen die Gewerkschaften empfehlen. Haben Sie
den Mut zum Umsteuern. Wir brauchen wirklich eine
Rentenreform, die solidarisch und armutsfest ist, die Jung
und Alt gerecht wird und die für die Zukunft tragfähig ist.
Wenn Sie sich dahin umlenken lassen, können Sie auch
auf die PDS zählen.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412919500
Nunmehr
gebe ich der Kollegin Angelika Krüger-Leißner für die
SPD-Fraktion das Wort.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1412919600
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund
meiner vielen Diskussionsrunden mit Bürgern in Bran-
denburg weiß ich sehr genau, dass die Menschen von der
Notwendigkeit einer umfassenden Rentenreform über-
zeugt sind und dass sie aufgrund ihrer Kenntnisse über die
demographische Entwicklung in den nächsten 30 Jahren
einen sehr ehrlichen und mutigen Schritt erwarten, der ih-
nen wieder eine langfristige, planbare Altersvorsorge er-
möglicht und dauerhaft Verlässlichkeit bringt.


(Beifall bei der SPD)

Sie wissen inzwischen auch, dass es mit kleinen Korrek-
turen nicht getan ist.

Unsere Rentenreform hat viele positive Kernelemente,
die Antworten auf die brennenden Fragen der Bürger ge-
ben. Die erste wichtige Aussage für mich ist, dass die ge-
setzliche Rentenversicherung das wichtigste Instrument
und die Hauptsäule in der Alterssicherung bleibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage das so deutlich, weil ich manchmal den Eindruck
habe, dass einige daran zweifeln. Dieses Vorhaben ent-
spricht auch dem Willen der Mehrheit der Bürger. Sie wis-
sen auch, dass die gesetzliche Rentenversicherung für die
Herausforderungen der Zukunft leistungsfähiger gestaltet
werden muss, und zwar für beide Seiten, für die Beitrags-
erbringer und die Leistungsempfänger. Beide müssen
ihren Teil dazu leisten.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Die Arbeitgeber lassen Sie raus!)


Deshalb haben wir auch Maßnahmen zur Stabilisie-
rung der gesetzlichen Rentenversicherung vorgesehen.
Dazu gehören die langfristige Stabilisierung der Beitrags-
sätze,


(Beifall der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])


die Festlegung der Entwicklung des Rentenniveaus für
die nächsten Jahre und auch die Einführung des Aus-
gleichsfaktors.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Die Rede hätte man vor fünf Monaten halten können, aber doch jetzt nicht mehr! – Zuruf von der CDU/CSU: Vor zwei Jahren!)





Dr. Heidi Knake-Werner
12432


(C)



(D)



(A)



(B)


Mit all diesen Maßnahmen muss es uns gelingen, das
Generationengleichgewicht zwischen den heutigen Rent-
nern, denjenigen, die bald in Rente gehen, und den Jun-
gen zu erhalten. Dabei müssen wir sehr ehrlich sein – mit
Geschwätz kommen wir hier nicht weiter – und sagen,
dass wir von allen einen Beitrag zur Stabilisierung dieses
gesetzlichen Rentensystems brauchen, damit es bezahlbar
bleibt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Jetzt aber Butter bei die Fische! Wie wird es gemacht?)


Die zweite wichtige Aussage unseres Konzepts ist,

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Welches, das von Sonntag oder das von Dienstag?)

dass wir zusätzlich zur gesetzlichen Rentenversicherung
die kapitalgedeckte private Altersvorsorge einführen. Ich
sage „zusätzlich“ gerade auch für Frau Knake-Werner, die
es immer noch nicht verstanden hat. Wir lassen dabei kei-
nen allein. Mit großer Unterstützung vonseiten des Staa-
tes kann sich jeder ein Vermögen aufbauen, das ihm im
Alter gemeinsam mit der gesetzlichen Rentenversiche-
rung einen angemessenen Lebensstandard sichern wird.
Das ist ein notwendiger Schritt. Die Gespräche mit dem
Bürger zeigen, dass sie diesen Schritt mehrheitlich mit-
tragen.


(Julius Louven [CDU/CSU]: Was sagen die Gewerkschaften?)


Damit verbindet sich für mich auch die Chance, die
Säule der betrieblichen Alterssicherung auszubauen. Das
wäre gerade für die Bürger in den neuen Bundesländern
eine ungeheure Chance, die wir ergreifen sollten.


(Beifall bei der SPD)

Mit dieser Rentenreform werden wir auch zu den

Grundsätzen der Nettolohnanpassung zurückkehren. Dies
begrüße ich als ostdeutsche Abgeordnete außerordentlich.
Ich will Ihnen das auch begründen. Der Solidaritätsbei-
trag, den wir unseren Seniorinnen und Senioren in diesem
Jahr abverlangt haben, war für mich kein leichter Schritt,
aber er war angesichts der finanziellen Lage der Renten-
versicherung unabwendbar, wissen wir doch alle, dass in
diesem Jahr aufgrund der gleichen Anpassung in Ost und
West in Höhe der Inflationsrate der Angleichungsprozess
zwischen Ost und West stillstand.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist eine gute Vokabel: Stillstand!)


Ab 1. Januar 2001 werden sich die Renten nun wieder
im Gleichklang mit den Arbeitnehmereinkommen ent-
wickeln. Dabei werden wir die Anpassungsformel verein-
fachen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Manipulieren!)

Das heißt, wir werden diese Formel besser auf das Alters-
sicherungssystem ausrichten. Auch das ist eine notwen-
dige Veränderung, die die Beitragsstabilität langfristig si-
chern hilft.

Wir werden, so wie bisher, die Lohn- und Gehaltsent-
wicklung für die neuen und die alten Bundesländer je-

weils getrennt ermitteln. Ich erinnere: Am 1. Juli 1999 be-
trug die Anpassung in den alten Bundesländern 1,34 Pro-
zent und in den neuen Ländern 2,79 Prozent. Das heißt im
Klartext: Der Prozess der Rentenangleichung zwischen
Ost und West, gebunden an die zukünftige Veränderung
der Bruttolöhne und -gehälter, wird kontinuierlich fortge-
setzt. Das ist eine wichtige Botschaft für die Bürger in den
neuen Bundesländern.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich weiß ich,
dass das Verhältnis der Standardrente Ost zur Standard-
rente West derzeit noch 86,7 Prozent beträgt. Es entspricht
dem Verhältnis bei den Erwerbseinkommen. Interessan-
terweise sehen aber die aktuellen Rentenniveaus wie folgt
aus: Das Rentenniveau West liegt bei 70,1 Prozent und
das Rentenniveau Ost bei 71,2 Prozent. Der Grund dafür
sind die erheblich längeren Arbeits- und Beitragszeiten
der Männer, vor allen Dingen aber auch der Frauen im
Osten


(Julius Louven [CDU/CSU]: Dafür müssen sie auch belohnt werden!)


und die Tatsache, dass im Osten meist beide Ehepartner
Altersrente beziehen. Im Westen ist das bei 40 Prozent
und im Osten bei 77 Prozent der Fall.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sagen Sie das nicht zu laut!)


Ich finde, wir sollten uns an dieser Stelle daran erin-
nern, dass dank einer gewaltigen gemeinsamen Anstren-
gung die Renteneinheit in Ost und West hergestellt wurde


(Glocke des Präsidenten)

und dass diese solidarische Leistung in einem relativ kur-
zen Zeitraum erreicht wurde und nur auf der Grundlage
eines umlagefinanzierten Rentensystems möglich war.
Dieses wollen wir auch für die zukünftigen Jahre stärken.

Seit der deutschen Vereinigung sind die Renten in
Westdeutschland um 20 Prozent und die in Ostdeutsch-
land um 159 Prozent gestiegen. Das hat wirtschaftliche
Sicherheit gebracht


(Glocke des Präsidenten)

und die Lebensbedingungen der Rentner deutlich verbes-
sert.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412919700
Bei unseren
Sozialpolitikern auf die Einhaltung der Redezeiten zu
drängen ist fast aussichtslos. Das gilt für alle Seiten. –
Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit lange überschrit-
ten. Kommen Sie bitte gleich zum Schluss.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1412919800
Gut. – Unsere
Rentenreform bringt also für die Menschen in Ost und
West keine Unterschiede und keine einseitigen Nachteile.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, dass das
Thema Rente es wert sein sollte, dass wir alle Emotionen
hintanstellen und dass wir in den zukünftigen Debatten




Angelika Krüger-Leißner

12433


(C)



(D)



(A)



(B)


vielleicht etwas mehr Sachverstand und solide Argumente
einbringen,


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Wir geben uns schon bisher Mühe!)


um gemeinsam vernünftige Entscheidungen treffen zu
können.

Es gab und gibt auch immer noch viele Möglichkeiten
der Opposition, unsere Rentenreform mitzugestalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, verpassen Sie nicht Ihre
Chancen!


(Beifall bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412919900
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Renate Diemers.


Renate Diemers (CDU):
Rede ID: ID1412920000
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr 2000 ist ein olympi-
sches Jahr und der Beitrag der rot-grünen Bundesregie-
rung dazu läuft unter dem Motto: Wir wollen unbedingt
auf den letzten Platz.

Die Verrenkungen, die Sie, Herr Minister, bei der Ren-
tenreform vorführen, um einer Tatsache nicht ins Auge se-
hen zu müssen, sind nicht nachvollziehbar. Ich spreche
vom demographischen Wandel. In den nächsten Jahren
wird der Anteil der über 60-Jährigen auf ein Drittel unse-
rer Bevölkerung steigen. Daraus sind Konsequenzen zu
ziehen. Das bedeutet, dass sich aufgrund der veränderten
Bevölkerungsstruktur die Grundlagen und auch die finan-
ziellen Belastungen verändern. Das ist ein Fakt und zu-
gleich eine Notwendigkeit und kann nicht ignoriert wer-
den.

Auf die Rente bezogen heißt das, dass sich der demo-
graphische Wandel in einem demographischen Faktor bei
der Rentenberechnung niederschlagen muss. Je eher Sie
zu dieser Erkenntnis kommen und diese in Ihrer Arbeit
umsetzen, desto ehrlicher sind Sie gegenüber den Rent-
nerinnen und Rentnern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich gestehe Ihnen zu, dass Sie schon seit Jahren ver-

zweifelt nach einem Ersatz für den demographischen Fak-
tor suchen. Aber Sie haben ihn bis zum heutigen Tage
nicht gefunden. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden auch
keinen finden. Das, was Sie den Rentnerinnen und Rent-
nern in diesem Jahr zugemutet haben, nämlich unter an-
derem die Abkopplung von der Nettolohnentwicklung,
trifft insbesondere Frauen, die nur oder vorwiegend von
der abgeleiteten Rente ihrer Männer leben müssen. Wir,
die CDU/CSU-Fraktion, schweigen nicht dazu. Wir wei-
sen die Menschen auf Ihre Verschaukelungen hin und
klären sie über die Konsequenzen auf.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist doch auch Ihnen bewusst, dass wir eine Renten-

reform brauchen, die bei steigender Lebenserwartung al-
len, Männern und Frauen – ich denke insbesondere an die
Frauen, die aufgrund von Kindererziehung nicht außer-
häuslich erwerbstätig waren –, einen finanziell gesicher-

ten Ruhestand garantiert und dabei vor allem die jüngere
Generation nicht durch zu hohe Beiträge belastet.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir hatten eine wirkungsvolle und faire Reform auf

den Weg gebracht, mit einem stabilen Beitragssatz und ei-
ner sehr langsamen, über Jahre verteilten Niveauabsen-
kung.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Ohne etwas für die Frauen zu tun, Frau Diemers! Für die Frauen gab es Kürzungen! Das haben Sie vergessen!)


Sie haben diese notwendigen Schritte im letzten Bundes-
tagswahlkampf als unsozial bezeichnet. Ich erinnere mich
noch an viele unappetitliche Podiumsdiskussionen zu die-
sem Thema.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das war auch unsozial!)


Sie haben die letzte Bundestagswahl deswegen ge-
wonnen, weil Sie den Menschen zum Beispiel bei der Al-
terssicherung Dinge versprochen haben, die nicht gehal-
ten werden können. Ich zitiere den Bundeskanzler vom
Februar 1998, auch wenn Sie an das Zitat nicht gerne er-
innert werden. Er sagte:

Ich stehe dafür, dass die Renten steigen wie die Net-
toeinkommen.

Sie haben vorgegaukelt, ein demographischer Faktor in
der Rente sei nicht notwendig. Die Menschen in unserem
Land haben danach von Ihnen erwartet, dass Sie eine Al-
ternative anbieten. Und was tun Sie? Sie kündigen nur
eine ungerechte, schnelle Niveauabsenkung an, die quasi
von heute auf morgen die Rentnerinnen und Rentner trifft,
und setzen andere, extrem falsche Schritte um, wie die
Abkopplung von der Nettolohnentwicklung.


(Peter Dreßen [SPD]: Das stimmt nicht ganz, Frau Diemers! Darauf werden wir noch eingehen!)


Was die anderen Punkte in der Diskussion angeht, so
wird von Ihnen immer nur alles vertagt, verschoben und
ausgesetzt. Die Aussetzung der Aussetzung wird von Ih-
nen sogar noch als Erfolg verkauft.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sie verlieren langsam den Überblick!)


Wir haben Sie von Anfang an unter anderem immer
wieder aufgefordert, zur Nettolohnentwicklung zurück-
zukehren. Allerdings fällt nicht nur uns auf, dass nun die
Rückkehr zur Nettolohnentwicklung gerade in dem Mo-
ment kommt, in dem davon ausgegangen wird, dass die
Inflationsrate höher als die Nettoanpassung sein wird.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Wann?)

Darüber hinaus ist es kaltschnäuzig und der nieder-

schmetternde Beweis für Ihre verfehlte Politik, dass Sie
die Verschiebung der Förderung der privaten Altersver-
sorgung als Erfolg für die jetzige Rentengeneration be-
zeichnen.


(Zuruf von der SPD: Ihr habt nur gekürzt und die Leute dann allein gelassen!)





Angelika Krüger-Leißner
12434


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie verschweigen, dass Sie durch Ihre Verschleppungs-
taktik das Rentensystem und den Generationenvertrag
aufs Spiel setzen und somit eine der Säulen unseres Sozi-
alsystems hochgradig gefährden. Die Pläne zur privaten
Vorsorge sind zwar bis jetzt unzureichend; aber die an-
gekündigte Verschiebung ist schlichtweg ein Offenba-
rungseid.


(Peter Dreßen [SPD]: Da wird doch nichts verschoben!)


Richten Sie nicht noch mehr Schaden an und gestehen
Sie wenigstens ein, dass Sie zu unserer Rentenreform
keine Alternative haben! Dass das so ist, wird durch den
von Ihnen gelieferten Anlass zu dieser heutigen Aktuellen
Stunde überdeutlich bewiesen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412920100
Nun spricht
der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter
Riester.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Jetzt muss der Herr Schmidt zurücktreten! – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Jetzt klärt es sich auf!)


Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Da hier der Zwischenruf kommt: „Jetzt klärt es sich auf!“,
ist es wichtig, bei der Debatte einmal darauf hinzuweisen,
welches Thema diese Aktuelle Stunde eigentlich hat,
nämlich „Haltung der Bundesregierung zur Rückkehr zu
den Grundsätzen der Nettolohnanpassung im Jahr 2001“.
Ich nehme das ernst.

Im Gesetzentwurf, der in der nächsten Woche einge-
bracht wird, wird stehen, dass zum 1. Juli 2001 eine lohn-
bezogene Anpassung der Renten erfolgen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dirk Niebel [F.D.P.]: „Basta“!)


Wir werden den Unterschied in der Lohnentwicklung von
2000 zu 1999 berücksichtigen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich kann Ihnen jetzt noch nicht auf das Zehntel genau sa-
gen, wie die Pro-Kopf-Entwicklung sein wird; das wird
sich bis zum Februar herausstellen. Aber eines kann ich
Ihnen mit Sicherheit schon sagen: Die Anhebung wird
etwa um ein halbes Prozent höher sein, als nach der Net-
toformel der alten Regierung vorgesehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich kann Ihnen für die Zeit, in der ich in der Regierung
für die Rentenanpassungen Verantwortung trage, noch
mehr sagen und werde es mit Zahlen belegen: Für das Jahr
1999 haben wir eine Rentenanpassung von 1,34 Prozent
vorgenommen;


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Was machen Sie denn 2003?)


nach der alten Formel wären es 0,84 Prozent gewesen. In
diesem Jahr waren es 0,6 Prozent; nach der alten Formel
wären es 0,82 Prozent gewesen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Also!)

Im nächsten Jahr werden es etwa 2 bis 2,1 Prozent sein;
nach der alten Formel wären es 1,59 Prozent gewesen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist doch logisch!)


Das heißt, im Zeitraum von drei Jahren werden wir ins-
gesamt höhere Anpassungen haben als nach der alten
Formel. Das ist der erste Teil der Wahrheit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nun komme ich zum zweiten Teil der Wahrheit: Es gibt
nicht nur die Frage der Rentenanpassung, sondern es gilt
auch aufzuzeigen, welchen Beitrag die Beschäftigten für
die Rentenanpassung zu zahlen haben.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Es kommt auf den Zahlenbetrag an und nicht auf die Prozentkünste!)


Der Rentenversicherungsbeitrag wird im nächsten Jahr
19,1 Prozent betragen; hätten wir nichts verändert, läge er
bei 20,4 Prozent. Das ist ein um 1,3 Prozent niedrigerer
Rentenversicherungsbeitrag.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ökosteuer!)

Um Ihnen das Ganze einmal plastisch zu verdeutli-

chen – denn die Leute leben nicht von Prozentwerten –,
möchte ich sagen: Die Beschäftigten und die Betriebe
müssen 20 Milliarden DM weniger für eine Rentenanhe-
bung zahlen, die bei uns höher ausfällt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Warum pumpen Sie dann so viel aus dem Bundeshaushalt in andere Versicherungen rein? – Dirk Niebel [F.D.P.]: 33,5 Milliarden DM nehmen Sie durch die Ökosteuer ein!)


Nun hat der Kollege Laumann, der sich schon zu einem
ganz anderen Thema zu Wort gemeldet hat, angekündigt,
er möchte wissen, wo es Verschiebungen gibt. Kollege
Laumann, ich freue mich bereits auf die Debatte zur EU-
Rente in der nächsten Woche. Dann werde ich Ihnen ein-
mal die Streitschriften zwischen Seehofer und Blüm
vorlegen und Ihnen aufzeigen, von welch einem Ver-
schiebebahnhof die Rede war.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wir haben uns aber geeinigt!)


– Auf wessen Kosten haben Sie sich geeinigt? Kollegin
Fischer und die Krankenkassen merken jetzt, dass Sie sich
auf Kosten der Krankenkassen geeinigt haben.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Die haben wir ja woanders entlastet!)


Nicht Kollegin Fischer hat gepennt und nicht ich habe
verschoben, sondern die Krankenkassen haben die abseh-
baren Kosten, die Sie durch Ihre Entscheidung verursacht




Renate Diemers

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(C)



(D)



(A)



(B)


haben, offensichtlich nicht in ihre Haushaltspläne einge-
stellt; sonst kann ich mir nicht vorstellen, dass sie jetzt mit
der Anmeldung dieser Kosten kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie haben doch die Kassen belastet!)


Sie brauchen gar nicht zu versuchen, einen Keil zwischen
die Kollegin Fischer und mich zu treiben.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Er ist schon da!)


– Da liegen Sie völlig falsch. Ich werde Ihnen anhand des
Briefwechsels von Blüm und Seehofer aufzeigen, wie
Ihre zwei Kollegen dieses Problem gelöst haben, und
zwar zulasten der Krankenversicherungen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist ja normal, dass sich zwei Minister schreiben!)


Nun hatten Sie ja noch ein anderes Anliegen, mein
Herr. Sie haben gesagt: Die Regierung bittet uns immer,
der Rentenreform zuzustimmen. Ja, wir werden den Ent-
wurf einbringen und bitten um Ihre Zustimmung. Aber
zunächst einmal möchte ich Sie darum bitten, dass Sie
endlich mal einen produktiven Vorschlag zur Lösung des
Problems machen. Darauf warte ich immer noch. Das ha-
ben wir uns eigentlich unter konstruktiver Mitarbeit an
der Rentenreform vorgestellt.


(Renate Diemers [CDU/CSU]: Wir haben das doch gemacht! Wir haben doch einen Gesetzentwurf! Gucken Sie doch rein!)


Das war ganz offensichtlich eine Fehlannahme.
Ich lade Sie weiterhin ein, konstruktiv mitzuarbeiten.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das tun wir doch auch!)


Aber ich habe im Moment das Gefühl, Sie merken, der
Zug fährt ab, die Entscheidung rollt. Wir werden sie
durchsetzen. Wir möchten sie durchaus mit Ihnen durch-
setzen; aber wenn Sie nicht bereit sind mitzumachen,
dann müssen wir leider auf Sie verzichten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412920200
Jetzt spricht
der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: So, jetzt klären wir auf!)



Dr. Hans-Peter Friedrich (CSU):
Rede ID: ID1412920300
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kol-
legen! Zunächst einmal, Herr Minister, wollen wir bei der
Wahrheit bleiben


(Lachen bei der SPD – Erika Lotz [SPD]: Sagen Sie mal was zu Bohl!)


und zugeben, dass wir jetzt eine Rentenreform brauchen,
weil Ihre Koalition unsere Rentenreform – eine tragfähige
und gute Reform – zurückgenommen hat. Das ist die
Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Minister, es ist gut, dass Sie einsehen, dass es ein

großer Fehler war, von der bisherigen Anpassungsformel
wegzugehen und sich auf dieses Spiel des Inflationsaus-
gleichs einzulassen. Es ist nett, dass Sie jetzt wieder auf
den rechten Weg zurückkehren. Es ist aber nicht redlich,
wenn Sie auf verschiedenen Bemessungsgrundlagen und
Ausgangspunkten basierende Prozentzahlen vergleichen.
Das ist nicht in Ordnung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])


Die Verunsicherung der Menschen, liebe Frau Kollegin
Lotz, kommt nicht daher, dass wir im Bundestag über die
Rentenreform debattieren, sondern sie kommt daher, dass
Rot-Grün jede Woche oder jeden Monat neue Vorschläge
auf den Tisch legt. Ich finde es ein bisschen witzig, dass
Frau Krüger-Leißner eine gerechte Rente fordert und an-
schließend Herrn Riester applaudiert, obwohl doch für je-
den sichtbar ist, dass die von Ihnen vorgelegte Rentenre-
form mit Gerechtigkeit überhaupt nichts zu tun hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Minister, wer sein Leben lang arbeitet, leistet ei-

nen Beitrag für die Gesellschaft und hat einen Anspruch
darauf, am Wohlstand angemessen beteiligt zu werden.


(Zuruf von der SPD: Das fällt Ihnen aber reichlich spät ein!)


Deswegen ist die Diskussion über die Höhe des Renten-
niveaus keine unsinnige Diskussion, sondern eine Dis-
kussion, die die Menschen bewegt, und darüber darf man
nicht mit einem „basta“ hinweggehen. Man muss viel-
mehr versuchen, mit Argumenten auf die Menschen ein-
zugehen


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Aber wenn man keine hat!)


und ihnen die Ängste zu nehmen.
Ich habe bisher noch keine Entschuldigung, insbeson-

dere nicht von der SPD, für die Rentenlüge von 1998
gehört.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben den Menschen vor der Wahl die Unwahrheit ge-
sagt: Sie haben ihnen steigende Renten bei gleich blei-
benden Beiträgen versprochen und Herr Schröder selbst
hat die Kopplung der Renten an die Nettoeinkommen
versprochen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das war in Vilshofen!)

Kurz nach der Wahl haben Sie mit seinem Einverständnis
dieses Versprechen gebrochen. Das vergessen die Men-
schen nicht.

Das Außerkrafttreten der Anpassungsmechanismen
und die offene Willkür von Rot-Grün bei der Renten-
erhöhung haben verheerende Auswirkungen und diese




Bundesminister Walter Riester
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(C)



(D)



(A)



(B)


Auswirkungen beruhen nicht nur auf Mark- oder Pfen-
nigbeträgen, sondern sind ein tiefer Vertrauensverlust,
den die Menschen erlitten haben.


(Peter Dreßen [SPD]: Das müssen ausgerechnet CDU-Leute sagen!)


Bei der Rente, Herr Minister, brauchen Sie das Vertrauen
der Menschen über Jahrzehnte, weil die heute Jungen wis-
sen müssen, was in zehn, 20 oder 30 Jahren aus ihren
Beiträgen wird.


(Erika Lotz [SPD]: Das machen wir doch!)

Die Unwahrhaftigkeit, mit der Sie diese Rentenreform

angehen, findet ihre Fortsetzung in dem, was Sie zum
Thema Bundeszuschuss gesagt haben. Sie wollen nun
plötzlich die Finanzierung der Renten von der Höhe der
Mineralölsteuer abhängig machen. In Wahrheit ist dies ein
ganz schäbiges Abkassieren, das insbesondere die heuti-
gen Rentner schwer trifft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])


Die heutigen Rentner sollen jetzt einen Teil ihrer Renten,
die sie sich hart erarbeitet haben, über die Mineralölsteuer
ein zweites Mal finanzieren.

Ich sage Ihnen noch eines: Diese Finanzierungstricks
und diese Verschiebebahnhöfe werden Sie auf Dauer nicht
durchhalten. Die Realitäten werden Sie wieder einholen;
denn allmählich begreifen die Menschen, dass Rot-Grün
das Vertrauen der Bürger kaltschnäuzig missbraucht. Herr
Minister, Sie haben die Höhe der Rente zum Lotteriespiel
gemacht. Eine objektiv vorhersehbare und nachrechen-
bare Rentenhöhe ist ein Stück Verlässlichkeit, das die
Menschen brauchen, Sie aber bieten anstelle dieser Ver-
lässlichkeit eine Rente nach Kassenlage.


(Susanne Kastner [SPD]: Was haben Sie denn gemacht?)


Aber nicht nur die heutigen Rentner fühlen sich von
Rot-Grün hinters Licht geführt und zum Spielball Ihrer
Willkür gemacht; auch die zukünftigen Rentner, die heute
noch im aktiven Arbeitsleben stehen, erkennen, dass sie
sich auf Rot-Grün nicht verlassen können. Ihnen droht
eine radikale Kürzung des Rentenniveaus, und zwar un-
abhängig davon, ob sie tatsächlich privat vorsorgen oder
nicht.

An die Stelle von Vertrauen und Verlässlichkeit tritt po-
litische Willkür. An die Stelle von Argumenten und Über-
zeugungskraft treten – das wurde bei der Rede von Herrn
Schröder auf der Tagung der ÖTV deutlich – Arroganz
und Kaltschnäuzigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Der Gipfel ist das, was Sie sich in dieser Woche ge-
leistet haben, nämlich eine offenkundige Manipulation
der Rentenreform im Hinblick auf einen bestimmten
Wahltermin. Durch die vorgestern beschlossene Ände-
rung des so genannten Riester-Konzepts wird das Durch-
einander ein weiteres Mal vergrößert. Wer die Durch-
führung einer Rentenreform so manipuliert, Herr
Minister, dass die positiven Effekte dieser Reform vor der

Wahl und die negativen Effekte erst nach der Wahl auf-
treten, täuscht und belügt die Menschen.


(Zuruf von der SPD: Das ist doch Unfug!)

Ich fordere Sie deswegen auf: Beenden Sie das Renten-
chaos! Geben Sie den Menschen das, was sie durch ihre
lebenslange Arbeitsleistung tatsächlich verdient haben!

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Erika Lotz [SPD]: Das machen wir!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412920400
Als letzter
Redner in dieser Aktuellen Stunde spricht nun der Kollege
Peter Dreßen für die SPD-Fraktion.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Der hat es jetzt schwer, der Herr Dreßen!)



Peter Dreßen (SPD):
Rede ID: ID1412920500
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich habe es nicht schwer. Ich möchte Ihnen,
Herr Friedrich, nur eines sagen, weil Sie gerade von Ge-
rechtigkeit gesprochen haben: Ihre Gerechtigkeit sah so
aus, dass den Menschen in den ihnen zugeschickten Ren-
tenauszügen zum Beispiel 623 DM als Rente zugesichert
wurden, dass sie aber, wenn sie zwei Jahre später in Rente
gegangen sind, nur 400 DM bekommen haben. So sah
Ihre Gerechtigkeit aus! Auf diese Gerechtigkeit pfeifen
wir gern.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Haben Sie das zurückgenommen?)


Kollege Laumann, man kann zwar über die Rentenre-
form unterschiedlicher Meinung sein. Aber man sollte bei
der Wahrheit bleiben.


(Beifall bei der SPD)

Verunsicherung und Halbwahrheiten helfen Ihnen von der
Opposition zwar kurzfristig. Aber sie helfen nicht den
Beitragszahlern und den Rentnerinnen und Rentnern.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Erinnern Sie sich doch einmal an 1998, Herr Dreßen! Sie waren doch der Oberhetzer in Sachen Rente!)


– Kollege Laumann, es ist bekannt, dass ich auf die eine
oder andere Verbesserung insbesondere bei der Ausge-
staltung der Betriebsrenten im Rahmen des Gesetzge-
bungsverfahrens setze.

Ich möchte auf zwei Gesetze, die im Vorfeld der Ren-
tenreform verabschiedet wurden, hinweisen, bei deren
Umsetzung Sie die rot-grüne Koalition hätten voll unter-
stützen sollen, erst recht Sie als Sozialpolitiker. Die jet-
zige Koalition hat im Gegensatz zur alten Regierung – das
war Ihr Manko; Sie haben uns doch ein Chaos auf dem Ar-
beitsmarkt hinterlassen – erst die Voraussetzungen für
eine Rentenreform geschaffen, und zwar durch das 630-
Mark-Gesetz und das Gesetz zur Bekämpfung der Schein-
selbstständigkeit. Das haben Sie alles bis heute bekämpft.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)


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(D)



(A)



(B)


Durch diese Gesetze sind Milliarden DM zusätzlich in die
Kassen der Sozialversicherungen geflossen. Herr
Laumann, wir haben Ihr Chaos beseitigt.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das Gesetz zur Förderung der Scheinselbstständigkeit haben Sie vergessen!)


– Jetzt rede ich! Sie können später reden, wenn Sie Lust
haben.

Ich möchte Ihnen nur eines sagen: Wir haben dafür ge-
sorgt – das haben wir den Menschen im Wahlkampf auch
versprochen –, dass die versicherungsfremden Leistungen
jetzt endlich aus Steuermitteln bezahlt werden.


(Beifall bei der SPD)

Sie haben den Leuten ungerechterweise in die Tasche ge-
griffen. Sie haben die Beitragszahler und die Rentner für
Leistungen bluten lassen, die sie eigentlich nichts angin-
gen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir haben das geändert. Trotzdem bekämpfen Sie unsere
Politik mit allen parlamentarischen und außerparlamenta-
rischen Mitteln. Das ist zwar Ihr gutes Recht. Aber ich
halte Ihnen entgegen: Wir haben durch die eben erwähn-
ten beiden Gesetze erst die Voraussetzungen für die jet-
zige Rentenreform geschaffen.


(Beifall bei der SPD – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Reden Sie doch mal mit den Rentnern und hören Sie sich an, was die zu sagen haben!)


– Durch unsere Gesetze haben wir für Gerechtigkeit ge-
sorgt, Kollege Laumann. Das muss man ehrlicherweise
sagen, bei aller Kritik, die Sie an der jetzigen Rentenre-
form üben.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Deshalb machen die Gewerkschaften dauernd Fackelzüge für Sie!)


Durch diese beiden Gesetze haben wir dafür gesorgt, dass
das Rentenniveau für diejenigen, die bis 2010 – hören Sie
gut zu! – in Rente gehen, auf dem heutigen Stand gehal-
ten werden kann.


(Beifall bei der SPD – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Jedes Jahr 0,5 Prozent minus!)


Der Demographiefaktor, den Sie einführen wollten, hätte
dazu geführt, dass die in Rente gehenden Menschen schon
ab 1999 Abschläge hätten in Kauf nehmen müssen. Wir
garantieren den Menschen, die bis 2010 in Rente gehen,
dagegen das heutige Rentenniveau.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: 0,5 Prozent pro Jahr ziehen Sie ab!)


Kollege Laumann, der zweite große Unterschied zu Ih-
rer Rentenreform ist: Sie wollten das Rentenniveau auf
64 Prozent – bei Bedarf wahrscheinlich noch weiter – sen-
ken; denn Sie wussten genauso gut wie wir, dass der De-
mographiefaktor, den Sie zu 50 Prozent angesetzt haben,

nie und nimmer ausgereicht hätte. Also hätten Sie an den
Stellschrauben weiterdrehen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich rufe es Ihnen, Kollege Laumann, noch einmal ins

Gedächtnis: Sie wollten das Rentenniveau bei 64 Prozent
belassen. Unsere rot-grüne Koalition macht sich Gedan-
ken über das Ziel – darin sind wir uns alle einig –, das
Rentenniveau von 70 Prozent aufrechtzuerhalten. Wir
streiten zwar über den Weg dahin; aber das Ziel von
70 Prozent – Ihr Ziel war das nie – steht außer Frage.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie hätten das Rentenniveau auf 64 Prozent gesenkt und
viele Menschen in die Sozialhilfe getrieben. Das war doch
Ihre Politik.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist doch völlig unrealistisch! – Karl-Josef Laumann [CDU/ CSU]: Wie soll denn die Verkäuferin 4 Prozent sparen? Erzählen Sie mir das mal!)


– Die Verkäuferin, die 4 Prozent ihres Einkommens für
die zusätzliche Altersvorsorge ausgibt, kann vom Staat bis
zu 90 Prozent steuerliche Zuschüsse bekommen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Warum bekommt die Verkäuferin 300 DM und der Spitzenverdiener 4 000 DM Steuererleichterung?)


– Kollege Laumann, wir haben gerade für die Bezieher
kleiner Einkommen ganz hohe Zuschüsse vorgesehen.
Das wissen Sie.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Leider auch im oberen Bereich!)


Wir wissen genau, wie schwer zusätzliche Abgaben im
unteren Einkommensbereich fallen. Sie sollten sich all
das, was Sie hier vorgetragen haben, reiflich überlegen.
Diese Rentenreform enthält einiges, was man wirklich of-
fensiv vertreten kann. Wenn uns im weiteren Gesetzge-
bungsverfahren einige Verbesserungen gelingen, dann
soll es mir recht sein.

Ich will noch etwas zur blümschen Glorifizierung der
Rentenreform – Herr Kollege Laumann, Sie haben davon
gesprochen – sagen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das war was!)


– Nein, ich habe Ihnen bewiesen, dass es nichts war. Sie
hätten die Menschen in die Sozialhilfe getrieben. Diese
Koalition macht sich Gedanken, wie wir um diesen Weg
herumkommen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wir haben noch nie so viel Zustimmung für unsere Rentenreform bekommen!)


Was Blüm uns vorgelegt hat, war also eine schlechte Lö-
sung.

Hinzu kommt, Kollege Laumann: Bei uns sind die
Beiträge auf 19,3 Prozent gesunken und demnächst sin-
ken sie auf 19,1 Prozent. Bei Ihnen wären die Beiträge zur




Peter Dreßen
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gesetzlichen Rentenversicherung im Endeffekt bis auf
24 Prozent gestiegen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dafür haben Sie die Ökosteuer eingeführt!)


Selbst Ihnen nahe stehende Arbeitgeberverbände geben
uns darin Recht, dass man so, wie Sie es wollten, nicht
verfahren kann.

Unsere Rentenreform – wir bringen den entsprechen-
den Gesetzentwurf demnächst in den Bundestag ein –
enthält einige Punkte mit Pfiff – wenn Sie ehrlich sind,
müssen Sie das zugeben – und sie trägt dazu bei, dass we-
niger Menschen Sozialhilfe beziehen müssen. Ihr Politik
hätte zu mehr Sozialhilfeempfängern geführt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Karl-Josef Laumann [CDU/ CSU]: „Basta“!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412920600
Die Aktuelle
Stunde ist beendet.

Wir kommen zu einer etwas ruhigeren Diskussion mit
sieben Rednerinnen und einem Redner.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: In einer Stunde kommen wir wieder!)


Herr Kollege Parr, ich darf Ihnen schon jetzt meine Aner-
kennung aussprechen.

Ich rufe also die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helga

Kühn-Mengel, Anni Brandt-Elsweier, Dr. Carola
Reimann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Monika Knoche,
Irmingard Schewe-Gerigk, Christa Nickels, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Frauenspezifische Gesundheitsversorgung
– Drucksache 14/3858 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Widmann-Mauz, Eva-Maria Kors, Dr. Sabine
Bergmann-Pohl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Konkrete Gesundheitspolitik für Frauen
– Drucksache 14/4381 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Das Haus ist damit
einverstanden. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst
der Kollegin Helga Kühn-Mengel für die SPD-Fraktion.


Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1412920700
Sehr geehrter Herr Prä-
sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob es bei die-
sem Thema ruhiger sein wird, wissen wir noch nicht so
genau.

Das Thema „Frauen, Gesundheit, medizinische For-
schung und Versorgung“ wird noch immer von vielen Ak-
teuren im Gesundheitswesen unterschätzt. Einige
belächeln es. Viele halten es allenfalls für ein Randthema
des gesundheitspolitischen Handelns. Dabei wird schon
seit einigen Jahren – ich zitiere Erika Zoike vom
BKK-Bundesverband – „verstärkt auf die Geschlechts-
blindheit unseres Gesundheitssystems hingewiesen“.


(Beifall der Abg. Regina Schmidt-Zadel [SPD])


Hierzu einige Beispiele: Vera John-Mikolajwski vom
Universitätsklinikum Essen betont, dass jahrelang das
Geschlecht von Teilnehmern an Arzneimittelstudien
nicht einmal erwähnt worden sei. Dies habe zu großen Da-
tendefiziten, etwa beim Bluthochdruck oder bei der
Primärprävention des Herzinfarkts, geführt. Kaum er-
forscht ist, ob Medikamente bei Frauen wegen des unter-
schiedlichen Hormonhaushaltes in gleicher Dosis wirken.
Eine groß angelegte Untersuchung über 1 081 internatio-
nale Publikationen im Arzneimittelbereich ergab, dass in
zwei Drittel der Fälle die an Männern gewonnenen Er-
gebnisse einfach auf Frauen übertragen worden sind.

Es muss uns doch zu denken geben, wenn deutlich
mehr Männer suchtkrank sind, aber rund 70 Prozent aller
Medikamentenabhängigen Frauen sind. Warum erhalten
doppelt so viele Frauen wie Männer regelmäßig Beruhi-
gungsmittel? Warum werden Frauen überhaupt über-
durchschnittlich häufig zu Arzneimittelpatienten? Sollten
nicht vielmehr die Ärzte gelegentlich vom Rezeptblock
hoch auf die Frau schauen und ihre Lebenssituation zur
Kenntnis nehmen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Bläss [PDS])


die häufig von Doppel- und Dreifachbelastungen – Be-
ruf, Familie und Pflege von Angehörigen – geprägt ist?

Nicht abschließend geklärt ist, warum Frauen deutlich
häufiger vom Schlaganfall als vom Herzinfarkt betroffen
sind, häufiger aber am ersten Herzinfarkt sterben. Ebenso
ungeklärt ist, warum in den neuen Bundesländern 18 Pro-
zent mehr Männer, aber 53 Prozent mehr Frauen als in
Westdeutschland einen Herzinfarkt erleiden. Es bedarf
dringend der Forschung, wenn für Frauen die Wahr-
scheinlichkeit um 87 Prozent höher ist, während der By-
passoperation zu sterben. Das ist eine Frage, mit der sich
der letzte große Kardiologenkongress beschäftigt hat.
Die immer wieder angeführte Tatsache, dass Frauen zu




Peter Dreßen

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diesem Zeitpunkt älter seien, ist richtig, erklärt das Ge-
schehen aber nur unzureichend; denn Männer – das be-
stätigen Kardiologinnen und Kardiologen immer wieder –
haben andere Vorschädigungen. Überhaupt wird die Häu-
figkeit koronarer Herzkrankheiten bei Frauen unter-
schätzt, und zwar nicht nur von den Patientinnen, die die
ersten Anzeichen in ihrer Lebenssituation vielleicht nicht
gut genug wahrnehmen, sondern auch von Ärzten. Eine
Hypothese ist auch, dass Ärzte nicht daran gewöhnt sind,
solche Managerkrankheiten der Frauenrolle zuzuschrei-
ben.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Frauen werden im Bereich ihrer Lebenszyklen und Re-

produktionsfunktionen systematisch zu Patientinnen ge-
macht. 70 bis 80 Prozent der Schwangerschaften werden
inzwischen zu Risikoschwangerschaften erklärt. Damit
hängt eine Ausweitung der gesamten Pränatalmedizin zu-
sammen, in einem Umfang, der uns veranlasst hat, uns da-
mit in der Enquete-Kommission „Recht und Ethik in der
Medizin“ zu befassen. Hier geht es wirklich um die
Selbstbestimmung der Frau, um gute Beratung und Infor-
mation.

Die SPD hat schon im Jahr 1998 einen Antrag zum
Thema gestellt und in den Bundestag eingebracht – schon
damals mit der Forderung, frauenspezifische Aspekte
stärker zu berücksichtigen, kontinuierliche Berichterstat-
tung zu gewährleisten und die Forschung zu verstärken.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und der F.D.P., haben damals unseren Antrag mit dem
Hinweis darauf abgelehnt,


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Hört! Hört!)

dass Frauen und Männer gleichen Zugang zum Gesund-
heitswesen haben – das ist sicherlich richtig – und Frauen
ohnehin älter würden – auch das ist richtig. Aber es geht
ja auch um die Qualität des Älterwerdens. Ich sage es
noch einmal: Das Thema wird überall diskutiert.

Heute legen Sie ebenfalls einen Antrag zu diesem
Thema vor. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Sie auf
einen anfahrenden Zug aufspringen wollen.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das stimmt!)

Der Zug ist aber abgefahren, das Thema wird bereits über-
all diskutiert. Im Übrigen, meine ich, schauen Sie ein we-
nig einseitig auf diesen Bereich. Es geht nicht nur um die
Eigenwahrnehmung der Frau. Sie vermeiden jeden kriti-
schen Blick auf ärztliches Verhalten und wiederholen
stattdessen die stereotype Forderung nach Aufhebung der
Budgetierung.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch richtig!)


– Dann beantworten Sie mir bitte die Frage, ob 35 000 Ei-
erstockentfernungen im Jahr etwas mit einem zu geringen
Budget zu tun haben. Ich würde sagen, sie haben etwas
mit Fehlversorgung zu tun. Die Studie des BMG ist keine
Erfindung der deutschen Sozialdemokratie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gibt weitere Beispiele in diesem Bereich; das wissen
Sie auch. Warum gibt es bei Arztfrauen 50 Prozent weni-
ger Totaloperationen? Das sind doch Fragen, die wir in
diesem Zusammenhang einmal klären müssen.

Wir nehmen uns heute, diesmal glücklicherweise als
Regierungskoalition – glücklicherweise auch für die
Frauen in diesem Lande –, noch einmal des Themas an,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


weil wir die Diskussion intensivieren und Forschungsan-
reize schaffen wollen. Wir müssen das auch tun, weil Sie
während Ihrer Regierungszeit das Thema negiert und
nicht aufgearbeitet haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Die alte Leier!)


Unser Antrag „Frauenspezifische Gesundheitsversor-
gung“ nennt beim Namen, was wir ändern wollen und was
auch schon geändert worden ist. Schauen Sie bitte auf die
vielen Ansätze, die in den drei genannten Ministerien in
unserer Regierungszeit schon angelaufen sind. Ich finde
sie recht beeindruckend.

Wir wollen, dass auch in Zukunft alle Entscheidungen
über die Bewilligung von Projektanträgen generell nach
dem Kriterium „Berücksichtigung frauenspezifischer
Belange“ bewertet werden, dass eine kontinuierliche Be-
richterstattung über die gesundheitliche Situation von
Mädchen und Frauen stattfindet, dass die Gesundheits-
versorgung von Frauen, deren Gesundheit besonderer Be-
lastung ausgesetzt ist, auch in besonderer Weise berück-
sichtigt wird. Wir denken an höhere Fördermittel etwa im
Bereich der Forschung und an Studien zu behinderten
Frauen, Migrantinnen, älteren Frauen. Diese Liste ließe
sich problemlos verlängern. Sie kennen die Studie aus
dem Frauenministerium zur Lebenssituation erwerbstäti-
ger Frauen. Sie gibt reichlich Hinweise auf Bereiche, um
die wir uns auch kümmern werden.

Wir wollen – das muss einmal deutlich gesagt werden –
die Benachteiligungen, die es beim Verlauf der Karrieren
von Frauen im Bereich der Medizin und der Gesund-
heitsforschung gibt, abbauen. Es ist ganz wichtig, dass wir
uns die Gremien und ihre Besetzung einmal anschauen.
Im Gesundheitswesen nehmen überwiegend Männer lei-
tende Funktionen ein. Sie leiten Krankenkassen, Kran-
kenhäuser, Fachkliniken, kassenärztliche Vereinigungen,
und – ich sage es bei jeder passenden Gelegenheit – unter
den 30 Mitgliedern im Bundesausschuss Ärzte und Kran-
kenkassen gibt es keine einzige Frau.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Hört! Hört!)

Laut Statistik sind nur etwa 2,3 Prozent aller Lehr-

stühle in der klinischen, Betten führenden Medizin von
Frauen besetzt. Frauen stellen die Hälfte der Erstsemester
im Bereich der Medizin. Mit jeder Stufe der Karrierelei-
ter nimmt der Frauenanteil ab: 45 Prozent der Absolven-
tinnen im Fach Medizin, 30 Prozent bei den Promotionen,
8 Prozent nur noch bei den Habilitationen und 2 Prozent
bei den C-4-Professuren. Auch das gehört zum Thema.
Das ist ein nicht zu akzeptierender Zustand. Wie soll hier




Helga Kühn-Mengel
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(B)


prägender Einfluss von Frauen auf Frauen in den Studien-
inhalten, bei Behandlungskriterien und für patientinnen-
orientierte Verhaltensweisen ausgeübt werden?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auf die Liste der vielen Projekte, die die drei Ministe-
rien, die für Frauen, Gesundheit und Forschung zuständig
sind, in Angriff genommen haben, will ich wegen der kur-
zen Redezeit nicht weiter eingehen.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Eine Viertelstunde! Das ist doch viel! – Zuruf von der CDU/CSU: 15 Minuten!)


Unseren Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU, verstaubt zu nennen


(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat das gesagt?)


– Sie tun das, wie ich glaube, auf Ihrer Homepage – ist
unklug, zeigt es doch, dass Sie offensichtlich die Diskus-
sionen unter den Gesundheitswissenschaftlerinnen und
Ärztinnen nicht kennen. Unser Antrag hat bereits dazu ge-
führt, dass einige Stiftungen, die ich vorher nicht kannte,
mir geschrieben oder gesagt haben, dass sie ihren Förder-
schwerpunkt verändern wollen. Ich halte es für ein gutes
Zeichen, wenn ein Antrag Bewegung in einen solchen Be-
reich bringt. Damit haben wir, wie ich denke, schon einen
Teil unserer Absichten erreicht.


(Beifall bei der SPD)

Mit der Gesundheitsreform haben wir die Weichen

für Veränderungen im System gestellt, von denen gerade
auch Frauen profitieren werden. Wir haben die Qualitäts-
sicherung als durchgreifendes und durchgehendes Prinzip
eingeführt und den Koordinationsausschuss etabliert, der
im Jahr mindestens für zehn Krankheiten Behandlungs-
leitlinien festlegen soll. Wir werden darauf drängen, dass
zum Beispiel auch Osteoporose, Gebärmutterhalskrebs
und andere geschlechtsspezifische Krankheiten dort the-
matisiert werden. Wir haben die Prävention, den vorbeu-
genden Gesundheitsschutz, wieder in das Gesetz aufge-
nommen – den haben Sie ja in Ihrer Regierungszeit
abgeschafft – und Selbsthilfe sowie Patientinnen- und Pa-
tientenrechte gestärkt. Auch dieses ist erwähnenswert.

Nun muss ich aber noch etwas zum Brustkrebs sagen.
Dieses Thema ist uns einige Anmerkungen und auch eine
Initiative wert. Auch Sie gehen ja in Ihrem Antrag darauf
ein. Vieles von dem, was Sie schreiben, könnten ich und
auch die SPD unterschreiben. Ihre Stellungnahme ist aber
dann, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt betrachtet,
was sie weglässt, populistisch. Hier haben wir es nämlich
mit Unter- und Fehlversorgung zu tun. An der Mammo-
graphie wird in Deutschland viel verdient und – das muss
man einmal sagen – nicht immer zum Nutzen der Frauen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Sie wird etwa 4 Millionen Mal im Jahr durchgeführt. Da-
bei fallen Kosten in Höhe von etwa 600Millionen DM an.
Sie wird nicht immer systematisch, nicht immer mit opti-

malen Geräten und teilweise mit falschen Befunden
durchgeführt. 30 Prozent falsch positive Befunde sind der
Haken, an dem weitere Untersuchungen aufgehangen
werden; damit verbunden ist eine erneute Strahlenbelas-
tung, andauernde psychische Belastung der Frauen und
ihrer Angehörigen. Während in Deutschland 30 Prozent
der Befunde falsch positiv ausfallen, sind es nur 1 Prozent
der Befunde in den Niederlanden. Hier müssen wir weni-
ger über eine Anhebung des Budgets als über die der Qua-
lität nachdenken und uns ernsthaft mit der Frage von Nut-
zen und Schaden der Mammographie beschäftigen. Von
Beliebigkeitsmedizin war bei Insidern des Systems die
Rede.

Heuchlerisch sind Ihre Forderungen, wenn Sie mit kei-
nem Wort erwähnen, dass die Mortalitätsrate bei Brust-
krebs seit Mitte der 80er-Jahre in Deutschland nicht nur
nicht gesunken, sondern über die gesamte Ära Kohl an-
gestiegen ist.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Was ist das für ein absurder Zusammenhang!)


Sie haben nichts für die Verbesserung der Qualität der
Früherkennung in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit
getan, während in den Nachbarländern – in den Nieder-
landen, in England und in den skandinavischen Ländern –


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Dann nehmen Sie die doch endlich mal zum Vorbild!)


die Mortalitätsrate nach einer Krebserkrankung, die Zahl
der Amputationen und die Verweildauer der Kranken im
Krankenhaus deutlich gesunken sind.


(Beifall der Abg. Regina Schmidt-Zadel [SPD])


Deshalb werden wir Screenings nicht einführen, bevor
nicht die Qualität gesichert ist, denn Frauen nehmen
Screenings nur an, wenn sie sich darauf verlassen können,
dass das System transparent ist und dass sie auf qualitativ
hohem Niveau versorgt werden.


(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Dass anschließend etwas passiert, ist auch wichtig! Nicht nur Diagnose, sondern auch Therapie!)


Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass wir hier für
konkrete Verbesserungen gesorgt haben. Frau Schaich-
Walch und ich haben mit Vertretern des Bundesausschus-
ses Ärzte und Krankenkassen sowie mit Vertretern von
AOK und VdAK über die schnelle Verbesserung im
Mammographiebereich gesprochen. Wir haben uns auf ei-
nige Maßnahmen verständigen können.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wo sind sie?)


Die beiden Organisationen der Selbstverwaltung werden
in dem Ausschuss nach § 136 a, dem Qualitätsausschuss
– den haben wir eingeführt; das nur einmal am Rande –,
darauf hinwirken, dass für die kurative Mammographie,
die jeden Tag zur Abklärung von Befunden angewandt
wird, nachhaltige Verbesserungen stattfinden werden.
Diese Verbesserungen werden unter anderem die Geräte-
sicherheit betreffen; denn sie spielt für die Qualität der




Helga Kühn-Mengel

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Bilder und damit für die Sicherheit der Befunde eine
große Rolle. Ich halte das für wichtig, weil es nicht nur um
Screenings geht. Vielmehr geht es um die umgehende
Verbesserung der Mammographie; denn es sind viele
Frauen betroffen. Sie sehen daran, dass wir die Verbünde-
ten im System auch ansprechen und zu einem Dialog ein-
laden.

Wir werden bei diesem Thema überhaupt mit allen Ver-
bündeten und Netzwerken, die es gibt, weiter im Kontakt
bleiben. Das kann nur im Sinne der Frauen sein. Ich werde
mich ferner dafür einsetzen, dass es zu diesem Thema
auch eine Anhörung geben wird.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412920800
Nun erteile ich der
Kollegin Annette Widmann-Mauz, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1412920900
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Kühn-
Mengel, es ist ja schön, Ihre Ausführungen zu hören.


(Susanne Kastner [SPD]: Ja, das finden wir auch!)


Ihre Analysen sind interessant, ebenso Ihre Hinweise und
Anregungen sowie die Aufzählung Ihrer Gesprächspart-
ner. Einzig und allein frage ich mich, warum Sie, wenn
Sie dann einen Antrag stellen, um Gottes willen nicht kon-
kret werden.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das sind wir doch!)


Das erwarten die Frauen in dieser Republik von Ihnen.
Hier aber wird von Ihnen nichts Konkretes geleistet.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Forderungen nach einer konkreten frauenspezifi-

schen Gesundheitspolitik werden immer lauter. Nicht zu-
letzt der Protestmarsch brustkrebskranker Frauen jüngst
hier in Berlin hat den politischen Handlungsbedarf deut-
lich aufgezeigt.


(Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unter Schirmherrschaft der Gesundheitsministerin!)


Fakt ist, die Bundesregierung tut gesundheitspolitisch für
Frauen in Deutschland zu wenig.

Grundsätzlich – das will ich an dieser Stelle auch sa-
gen – kommen Fortschritte der Medizin und der Medizin-
technik Frauen und Männern gleichermaßen zugute, und
zwar in ganz Deutschland. Dennoch gibt es zahlreiche
frauenspezifische Gesundheitsprobleme, die Anlass zur
Besorgnis geben. Hierzu zählen vor allem Essstörungen,
Depressionen, Osteoporose, also Knochenschwund, rheu-
matoide Arthritis, Herz- und Kreislaufkrankheiten,
Demenz sowie Brust- und Gebärmutterhalskrebs. Die
rot-grüne Budgetierungswut erschwert zudem die Eta-
blierung wichtiger neuer Versorgungsangebote sowie in-

novativer Behandlungsmethoden. Budgetierung heißt
Rationierung und Rationierung bedeutet Einschränkung
notwendiger Leistungen.

Das geht häufig zulasten der frauenspezifischen Ge-
sundheitsversorgung. Im Ergebnis bekommen wir eine
Zweiklassenmedizin. Frauen, die sich teure medizinische
Untersuchungen und Behandlungen leisten können, ste-
hen besser da. Wir kommen zusehends in eine soziale
Schieflage.

Der von der SPD und den Grünen vorgelegte Antrag
ist – das mögen Sie hier bestreiten – ein reines Alibipapier.


(Susanne Kastner [SPD]: Das bestreiten wir energisch!)


Auf der Basis überholter wissenschaftlicher Erkenntnisse
haben Sie einen drei bis vier Jahre alten und – ich
wiederhole dies – verstaubten Antrag aus der Schublade
geholt,


(Beifall bei der CDU/CSU)

der nicht in einem einzigen Punkt konkret auf die wich-
tigsten gegenwärtigen Herausforderungen frauenspezifi-
scher Gesundheitspolitik eingeht.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Fragen Sie doch mal die Wissenschaftler! Was sagen die?)


Am 2. Juli 1996, also vor über vier Jahren, haben Sie
aus der Opposition heraus eine Große Anfrage an die Bun-
desregierung gerichtet. Obwohl die medizinische For-
schung in Bezug auf die frauenspezifische Gesundheits-
vorsorge seitdem erhebliche Fortschritte gemacht hat,
obwohl die geschlechtsspezifischen Datenerhebungen,
Statistiken und Prognosen wesentlich präziser geworden
sind, obwohl es neue, Erfolg versprechende Behand-
lungsmethoden für frauenspezifische Krankheiten gibt,
obwohl so vieles in den letzten Jahren in Bewegung gera-
ten ist, legen Sie uns einen Antrag vor, der nichts von al-
ledem aufnimmt.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Genauso ist es! – Susanne Kastner [SPD]: Sagen Sie, was Sie in den letzten 16 Jahren gemacht haben!)


Im Ergebnis muten Sie uns einen Antrag zu, der veral-
tet ist und der nicht in einem einzigen Punkt konkret wird.
Sollten Sie ihn mit Ihrer Mehrheit im Bundestag be-
schließen, wird er nachhaltig nichts für die Gesundheit der
Frauen in Deutschland bewirken. Unwichtiges wird in
diesem Antrag von Ihnen überhöht; Wichtiges wird über-
haupt nicht berührt. Selbst bei den Punkten, die anzuspre-
chen ich gut finde – zum Beispiel Public Health, der
AIDS-Virus und HIV-Infektionen oder die Entwicklung
von Maßnahmen für Migrantinnen –, fordern Sie keine
konkreten Konzepte ein. Das ist für eine Regierungsfrak-
tion beim besten Willen zu wenig.

Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben deshalb einen ei-
genen Antrag „Konkrete Gesundheitspolitik für Frauen“
vorgelegt, der den drängendsten Problemen gerecht wird.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Vor vier Jahren haben Sie doch dagegen gestimmt!)


Was wir in Deutschland brauchen, sind konkrete Maß-
nahmen zumindest in den Kernbereichen frauenspezifi-
scher Gesundheitspolitik. Zu den Kernbereichen gehören:




Helga Kühn-Mengel
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(D)



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(B)


Essstörungen, Depressionen, Osteoporose, Rheuma,
Herz- und Kreislaufkrankheiten, Demenz sowie Brust-
und Gebärmutterhalskrebs. Ich will hier nicht auf alle Be-
reiche eingehen, sondern nur ein paar ansprechen.

Erstens. Beim Brustkrebs besteht ganz dringender
Handlungsbedarf. Die Brustkrebs-Demonstration vor
zwei Wochen, der einstimmige Beschluss der Gesund-
heitsministerkonferenz vom Juni dieses Jahres, die klaren
Aufforderungen der Women’s Health Coalition, die
Brustkrebs-Initiative oder die Arbeit der zahlreichen en-
gagierten Gruppen in unserem Land zeigen doch, dass die
Bundesregierung endlich aufwachen und handeln muss.
Es reicht nicht, wenn Sie weitere drei bis sechs Jahre war-
ten wollen, bis die laufenden Modellversuche ausgewer-
tet worden sind. Es ist wissenschaftlich unumstritten, dass
das Screening-Verfahren die derzeit beste Methode zur
Erkennung von Brustkrebs ist.


(Helga Kühn-Mengel [SPD]: Genau richtig!)

Bedenkt man, dass in Deutschland die Sterbequote nach
der Therapie deutlich höher ist als zum Beispiel in den
USA, dann liegt auf der Hand, dass sofortiger Hand-
lungsbedarf gegeben ist.

Brustkrebs gehört bei uns mit etwa 45 000 Neuerkran-
kungen und rund 19 000 Todesfällen jährlich zu den häu-
figsten und gefährlichsten Erkrankungen der Frauen. Ne-
ben den direkten Folgen der Tumorerkrankung kommen
zusätzlich frauenspezifische Beeinträchtigungen der Le-
bensqualität hinzu, die mit zunehmendem Alter – beson-
ders in der Phase nach der Menopause – immer größer
werden. Probleme der Brustkrebsfrüherkennung, der Dia-
gnose, der Behandlung und Nachsorge begleiten viele
Frauen über mehrere Lebensjahrzehnte hinweg. Jede
achte bis zehnte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens an
Brustkrebs. Mehr als bei jeder anderen Erkrankung bedarf
es einer allgemein verständlichen Information, um die
Frau in den Entscheidungsprozess über Diagnostik und
Therapie einzubinden.

Entstehung, Verlauf und Folgen einer Brustkrebser-
krankung erfordern eine langfristige, qualitätsgesicherte
ärztliche Begleitung. Dafür wird unsere politische Unter-
stützung gebraucht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir müssen ein flächendeckendes, qualitätsgesichertes
und fachübergreifendes Brustkrebsfrüherkennungskon-
zept fördern, und zwar auch ohne Vorliegen eines Ver-
dachts oder eines besonderen Risikos. Das Problem, das
wir in Deutschland haben, ist die Finanzierung der
Früherkennung. Heute wird die Brustkrebsfrüherken-
nung durch Mammographie nur erstattet, wenn ein Ver-
dacht oder ein besonderes Risiko vorliegt. Das ist wider-
sinnig; denn die Früherkennung hilft, nutzt und sie ist
wissenschaftlich gesichert. Die Bundesregierung muss
sich einfach mehr einfallen lassen, als nur immer wieder
neue Modellversuche aufzulegen. Deshalb gilt: Die Bun-
desregierung muss endlich konkret handeln.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Erforderlich ist dabei in erster Linie die rasche Umset-

zung der europäischen Leitlinie in eine bindende Richtli-

nie des Bundesausschusses für Ärzte und Krankenkassen.
Ich weiß gar nicht, worauf Gesundheitsministerin Fischer
eigentlich noch wartet. Wir dürfen nicht länger warten,
gerade weil es heute wissenschaftlicher Standard ist, dass
unter Beachtung der Qualitätsstandards der Leitlinien
die Brustkrebssterblichkeit deutlich zurückgeführt wer-
den kann.

Zu den Qualitätsstandards gehören insbesondere die
regelmäßige Doppelbefundung des Bildmaterials, eine
spezielle Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte und auch
des nicht ärztlichen Personals im Bereich der radiologi-
schen Diagnostik, ein hoher technischer Standard der
Geräte und eine laufende Kontrolle ihrer technischen
Qualität. Wir müssen die Qualitätssicherung der Brust-
krebsfrüherkennung durch gezielte Projekte fachüber-
greifend fördern, und zwar einschließlich radiologischer
Screening-Verfahren. Das heißt, wir müssen die Screening-
Mammographie einführen, und zwar eingebettet in ein in-
terdisziplinäres medizinisches Früherkennungskonzept.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Standardisierte Maßnahmen zur Früherkennung dürfen

nicht auf die Mammographie beschränkt sein, sondern
müssen um Maßnahmen zum Erlernen von Selbstunter-
suchungen der Brust und um Abklärung der familiären
Belastung ergänzt werden. Die Vorschläge zur medizini-
schen Therapie nach Befund und mögliche Nachsorgebe-
handlungen müssen grundsätzlich von den unterschiedli-
chen Fachdisziplinen gemeinsam erarbeitet werden. Das
heißt, wir müssen die sorgfältige Aufklärung fördern, da-
mit Früherkennungsuntersuchungen und Nachsorgebe-
handlungen nicht zu übermäßigen psychischen Belastun-
gen führen.

Ein zweiter Bereich. Rund 6 000 Frauen erkranken und
2 800 Frauen sterben jährlich in Deutschland an Gebär-
mutterhalskrebs. Damit nimmt Deutschland in Westeu-
ropa den drittschlechtesten Rang ein. Weltweit ist diese
Krebsart mit etwa 500 000 Fällen im Jahr die zweithäu-
figste Krebsart bei Frauen.

Neueste Forschungen zeigen: In fast 100 Prozent der
Fälle ist das so genannte Humane Papillomavirus Verur-
sacher von Gebärmutterhalskrebs. Wenn die Krebsursa-
che rechtzeitig entdeckt wird, gibt es sehr gute Hei-
lungschancen. Wie Studien der Universitäten Hannover
und Tübingen jetzt belegen, hat der herkömmliche Pap-
Abstrichtest eine Genauigkeit von nur etwa 50 Prozent.
Der neu entwickelte HPV-Test hingegen hat eine Genau-
igkeit von nahezu 100 Prozent. Zudem erkennt er die Prä-
disposition für Gebärmutterhalskrebs, während der Pap-
Abstrichtest erst die bestehende Krankheit bzw. deren
Vorstufe aufdeckt.

Wir müssen überlegen, ob der Test von den Kranken-
kassen im Rahmen der jährlichen Vorsorgeprogramme er-
stattet werden sollte. Wir müssen untersuchen, ob der
HPV-Test eine effiziente Vorsorge bieten kann. Ihre Bud-
getierungspolitik darf auch an dieser wichtigen Stelle
nicht zulasten der Frauen gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Drittens. Bei der Osteoporose blamiert sich die Bun-

desregierung bis auf die Knochen. In Deutschland sind




Annette Widmann-Mauz

12443


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(D)



(A)



(B)


über 6 MillionenMenschen an Osteoporose erkrankt. Das
Verhältnis Frauen zu Männern liegt bei drei zu eins. Wir
brauchen dringend ein konkretes Programm zur Früh-
erkennung, Prophylaxe und Therapie, um Osteoporose-
folgen frühzeitig zu vermeiden und nicht erst nach einer
Fraktur zu behandeln. Ich kann es überhaupt nicht verste-
hen, warum Sie, SPD und Grüne, in Ihrem Antrag mit
nicht einer Silbe auf dieses Problem eingehen. Wir jeden-
falls sehen hier großen Handlungsbedarf.

Ein vierter Bereich: die Demenz. In Deutschland sind
gut 1 Million Menschen an Demenz erkrankt, Tendenz
steigend. Frauen haben ein höheres Risiko, diese Erkran-
kung zu erleiden – nicht weil Demenz eine frauenspezifi-
sche Krankheit ist, sondern weil Frauen eine höhere Le-
benserwartung haben. Wir müssen deshalb endlich
Demenzkranke, die in einem bestimmten Umfang der all-
gemeinen Betreuung bedürfen, in die soziale Pflegeversi-
cherung einbeziehen.

Was Frau Fischer jetzt vorgeschlagen hat, hilft weder
den Betroffenen noch den Angehörigen. Das wissen Sie
auch. Ich will das an dieser Stelle gar nicht vertiefen. Über
das Thema Demenz in der Pflegeversicherung werden wir
noch an anderer Stelle debattieren müssen.

Das sind im Groben die wichtigsten Punkte. Wir wer-
den in der Gesundheitspolitik für Frauen nur vorankom-
men, wenn wir konkrete Maßnahmen beschließen. Ihr
Antrag verliert sich leider in Plattitüden. Sie verweigern
sich damit einer konstruktiven Gesundheitspolitik für
Frauen. Wir haben konkrete Vorschläge gemacht, an de-
nen wir uns orientieren sollten, wenn wir wirklich etwas
für Frauen in unserem Land tun wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412921000
Das Wort hat nun die
Kollegin Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412921100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Da-
men! Ich bin heute mit einem ganz guten Gefühl hierher
gekommen und hätte nicht erwartet, dass die CDU/CSU
auch dieses sehr wichtige Thema verhunzt, indem sie es
für ihre Oppositionsattacken nutzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Aribert Wolf [CDU/CSU]: Verhunzen tun Sie, weil Sie viel zu wenig bringen! Nur Blabla ist viel zu wenig!)


Frau Kollegin, es wäre gut gewesen, wenn Sie unseren
Antrag korrekt gewürdigt und darauf Ihre Rede aufgebaut
hätten oder wenn Sie auf Ihren Antrag verwiesen hätten,
den ich sehr wohlwollend gelesen habe.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Wohlwollen allein reicht halt nicht!)


Denn Sie erkennen an, dass ein über Jahrzehnte hinweg in
Deutschland aufgelaufenes Problem, das durch Defizite
entstanden ist, einer Behebung bedarf. Wenn Sie darauf
hingewiesen und in diesem Zusammenhang im Hinblick
auf die Bereiche der Demenz, der Osteoporose und der

neuesten Entwicklungen in der Mammographiefor-
schung, also im Hinblick auf das Mammographiescree-
ning und dessen Bewertung, einige wichtige Anregungen
gegeben hätten, dann hätte ich das nicht nur mit Großzü-
gigkeit, sondern auch mit Sachlichkeit und Fairness zur
Kenntnis genommen.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Mit Blabla kommen wir aber nicht weiter! Wir müssen etwas tun! Die Regierung muss handeln!)


Sie aber attackieren an diesen Stellen, sodass ich feststel-
len muss: Das passt nicht hierher.

Sie haben die Mammographie angesprochen. Wir ha-
ben uns zu Beginn dieser Legislatur und danach noch ein-
mal in einer Anhörung intensiv mit den Fragen des Brust-
krebses befasst. Ich kann allerdings angesichts Ihres
Redebeitrages nicht voraussetzen, dass Sie über den heu-
tigen Stand der Kenntnisse Bescheid wissen. Sie sollten
aber wissen, in welcher Weise man heute über die Frage
des Mammographiescreenings diskutiert.


(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Was soll diese komische Arroganz?)


In Deutschland gibt es – die Frau Staatssekretärin wird
dies gerne näher erläutern, wenn Sie noch entsprechenden
Fragebedarf haben sollten – im Bereich des Mammogra-
phiescreenings Modellprojekte. Als Gesundheitspolitike-
rin wissen Sie aber so gut wie ich, dass im Aachener Raum
ein entsprechendes Forschungsprojekt daran gescheitert
ist, dass sich die niedergelassene Ärzteschaft nicht daran
beteiligen wollte. Es gibt hier ein Geflecht, das wir bei ei-
ner Umsetzung dieses Vorhabens nicht außer Acht lassen
können.

Dass wir als Grüne dieses Thema aufgegriffen haben,
können Sie schon allein daran erkennen, dass es Gegen-
stand unseres Antrages ist und dass die Gesundheitsminis-
terin die Schirmherrin einer diesbezüglichen Veranstal-
tung war, die ich außerordentlich begrüßt habe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nichts ist wichtiger, als dass Frauen, die mit diesem Ge-
sundheitsproblem leben, darauf hinweisen, dass es einen
frauenspezifischen Krankheitsbereich gibt, der von den
niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, was die Qua-
litätssicherung der Maßnahmen angeht, noch zu wenig
beachtet wird. Sie haben einen Anspruch darauf, einzu-
fordern, dass eine gute Gesundheits- und Krankenversor-
gung sowie die wissenschaftliche Forschung nur dann
von allgemeiner Art sein können, wenn die Frauenspezi-
fik berücksichtigt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS – Aribert Wolf [CDU/CSU]: Dann tun Sie es halt!)


Das sollte die zentrale Aussage der gesamten Debatte
sein. Ich habe von Fachverbänden, Frauenorganisationen
und Frauengesundheitszentren sehr viele positive Rück-
meldungen auf diese Initiative erhalten.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Die wundern sich nur, warum Sie keine konkreten Vorschläge machen!)





Annette Widmann-Mauz
12444


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir als Parlamentarierinnen wollen das verstärken und
vertiefen, indem wir zu dieser Thematik eine öffentliche
Anhörung durchführen. Denn keine von uns erhebt den
Anspruch, hier über den letzten Stand des Wissens zu ver-
fügen. Ich möchte, dass diese Anregungen in den weite-
ren parlamentarischen Prozess aufgenommen werden und
dass wir das Antragsbegehren vervollständigen.

Sie haben hier Ihren Antrag vorgestellt und lautstark
Handlungsdefizite reklamiert. Ich hätte erwartet, dass Sie
zum Beispiel zur Kenntnis nehmen, dass wir in unserem
Antrag nicht nur schichten-, rollen- und geschlechtsspezi-
fische Sozialisationsfragen zum Gegenstand machen
– das muss einfach Stand der Wissenschaft sein –, sondern
dass wir uns auch der besonderen Problematik von Mi-
grantinnen in Bezug auf deren Gesundheitsversorgung in
Deutschland zuwenden.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das habe ich doch positiv erwähnt! Sie müssen zuhören!)


Was bedeutet das? Nichts ist wichtiger – dies ist vor dem
Hintergrund der in Ihrer Fraktion entstandenen unsägli-
chen Leitkulturdebatte zu sehen –, als dass wir in der Ge-
sundheitsversorgung anerkennen, dass die Nichtkenntnis
von kulturellen Zusammenhängen, die in der Sozialisa-
tion hier lebender Migrantinnen eine wesentliche Rolle
spielen, zu Unterversorgung im Gesundheitswesen führt.
Dass wir die Gesundheitsversorgung von Migrantin-
nen positiv benennen, ist ein sehr wichtiger Beitrag dafür,
frauengerecht und kulturell offen zu sein und dies im Ge-
sundheitssystem zu verankern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Wir haben in unserer Gesundheitspolitik beispiels-
weise die Drogenfrage, die Suchtprävention fest inte-
griert. Die Tatsache, dass das Suchtverhalten und das
Suchtproblem von Männern, Alkoholprobleme in Verbin-
dung mit Zivilisationskrankheiten im ärztlichen Bereich
weniger beachtet werden, ist Beweis für ein großes ge-
schlechtsspezifisches Defizit in der deutschen Gesund-
heitsversorgung.

Die Tatsache, dass Frauen oft psychopathologisiert
werden, ist auch ein Ausdruck geschlechtsspezifischer
Wahrnehmung von biografischen Problemen. Tatsäch-
lich gibt es aber auch die verstärkte Medikamentenabhän-
gigkeit bei Frauen.

Wir haben also ein Zusammenspiel von verschiedenen
biologisch bedingten, sozial und kulturell bedingten Fra-
gen und daraus sich ergebenden Defiziten in der For-
schung allgemein und in der Forschung der medizini-
schen Versorgung.

Das in einer gesundheitspolitischen Debatte zum Ge-
genstand zu machen, halte ich für ein sehr wichtiges Sig-
nal und für eine sehr selbstbewusste Geste. Wir sagen: Wir
kennen die frauenspezifischen Versorgungsdefizite in
der Gesundheitsversorgung und -politik.

Da, wo wir mit aktuellen Maßnahmen eine Gleichstel-
lung sofort herbeiführen konnten, haben wir es getan. Ich
nenne nur die Zuzahlung in der Psychotherapie, die die

Frauen nicht mehr leisten müssen. Ihnen einen versor-
gungsgerechten Zugang zu sichern und ihn für alle gleich
zu gestalten – das mussten wir tun, weil Sie gerade da,
ohne auf die Relevanz dieser Frage für Frauen zu achten,
Zuzahlungen eingeführt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das sind sehr wichtige Aussagen. Das sind sehr wich-
tige Punkte, die wir zu Anfang angegangen sind. Nir-
gendwo mehr als zum Beispiel in der Psychotherapie und
beim Zugang zur Versorgung in diesem Bereich spielt die
Geschlechtsspezifikation eine größere Rolle.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Zuzahlung ist sozial gerechter als ganz zu streichen!)


Wir wissen sehr wohl, dass das Gesundheitssystem als
solches von Frauen getragen wird, sie aber in der For-
schung und bei der Bewertung von Leistungen nach wie
vor vollkommen unterrepräsentiert sind.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das stimmt!)


Wenn Sie sagen, es sei nicht zukunftstauglich, dass wir
hier „gender mainstreaming“ in die Überschrift und in
jedes Unterkapitel setzen,


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Überschrift reicht halt nicht!)


dann haben Sie nicht begriffen, um was es geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Das war ja schwach!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412921200
Nun, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, erteile ich dem Herrn Kollegen Detlef
Parr, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


(Zuruf von der CDU/CSU: Der Parr ist eine Allzeitwaffe!)



Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1412921300
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich möchte zunächst dem Herrn Präsidenten
Seiters für den Zuspruch danken, dass ich zu diesem
Thema rede. Ich denke, es täte uns Männern vielleicht
ganz gut, häufiger einmal aus der Rolle zu fallen.


(Heiterkeit)

Im April 1989 haben wir über eine Große Anfrage der

SPD zum Thema frauenspezifische Gesundheitsversor-
gung debattiert, damals noch unter stark ideologisch ge-
prägten Aspekten. Daraus erklärt sich auch die Distanz zu
der damaligen Anfrage. In der Debatte haben wir dazu ja
sehr eindeutig Stellung genommen.

Heute liegen uns zwei Anträge vor, mit denen man sich
wesentlich sachlicher auseinander setzen kann. Ich be-
dauere, dass sich die Debatte in einer solchen Art und
Weise entwickelt hat. Ich meine, wir können sehr sachlich
darüber reden. Beide Anträge haben Gutes, dem man zu-
stimmen kann, beide Anträge haben auch Positionen, die
man kritisch beleuchten kann.




Monika Knoche

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(C)



(D)



(A)



(B)


Das damalige Postulat der SPD, dass es in Deutschland
eine ausschließlich an männlichen Patienten ausgerichtete
Medizin gebe, wird in Ihrem Antrag wiederholt.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das ist auch richtig! – Helga Kühn-Mengel [SPD]: Das ist auch so!)


Es gibt kostentreibende und im Ergebnis zweifelhafte
Vorschläge für Projekte und Programme, auf die man gut
und gern verzichten könnte. Darüber werden wir im Aus-
schuss zu diskutieren haben. Ich möchte nicht die Studien
wegdiskutieren, die belegen, dass die Geschlechter unter-
schiedliche Gesundheitsprobleme haben und auch unter-
schiedlich mit Erkrankungen umgehen.

Wir vergeben uns nichts, wenn wir diese Tatsachen in
der Gesundheitspolitik zukünftig stärker berücksichtigen.
Wir dürfen aber nicht der Gefahr erliegen, dass allein die
Kategorie „weiblich“ – Frau Kollegin Knoche hat das ja
an einem Beispiel deutlich gemacht – als ausschlagge-
bendes Kriterium für eine Differenzierung der Gesund-
heitsversorgung zugrunde gelegt wird. Damit würden wir
weitere Vorurteile gegen Frauenpolitik eher auf- als ab-
bauen. Das wird der Sache nicht gerecht, liebe Kollegin-
nen und Kollegen.

Für die F.D.P. wird die aktuelle Situation von drei Be-
reichen bestimmt, in denen dringend etwas verbessert
werden muss. Es sind das erstens die Forschung über ge-
schlechtsspezifische Krankheitsbilder, zweitens die
Prävention – Stichwort: Früherkennung – und drittens die
Krebsdiagnostik und -therapie.

Ich fange einmal mit dem letzten Punkt an. Wir teilen
die Auffassung, dass Früherkennungskonzepte ver-
stärkt ausgebaut werden müssen. Ich bin 1994 noch für
neun Monate im Bundestag gewesen. Ich habe mich be-
reits damals in diesen wenigen Monaten mit dem Problem
des Brustkrebses in Deutschland intensiv beschäftigt und
das vorbildliche Screening-Programm der Niederländer
kennen gelernt. Ich bin nach Nimwegen gefahren und
habe die Chancen, die Frauen in Nimwegen im Vergleich
zu den Frauen haben, die etwa in Kleve zu Hause sind, mit
großem Interesse wahrgenommen.

Ich war nach meiner Rückkehr in den Bundestag vor
knapp zwei Jahren über den Stand der Entwicklung er-
schüttert. Es hatte sich nämlich wirklich wenig getan.


(Widerspruch bei der SPD)

Das gilt für die zwei Jahre der neuen Bundesregierung wie
auch für die Zeit der alten Bundesregierung. Wir haben
darauf viel zu wenig geachtet.


(Susanne Kastner [SPD]: Das ist eure Verantwortung!)


Noch heute erliegen deutsche Frauen Brustkrebsleiden in
erheblich höherem Ausmaß als Frauen in unserem Nach-
barland.

Jetzt möchte ich aber ein besonderes Wort an Frau
Kühn-Mengel richten, die vorhin das Hohelied der neuen
Bundesregierung gesungen hat. Ich habe die NRW-Ge-
sundheitsministerin Birgit Fischer, SPD, vor kurzem auf-
gefordert, im größten Bundesland beim Ausbau des

Krebsregisters den Anschluss an andere Bundesländer zu
suchen. Ich habe nur den lapidaren Hinweis erhalten, der
Krebsregisterbereich Münster reiche für notwendige Er-
kenntnisse aus. Eine Ausdehnung des Registerbezirks
solle unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten irgendwann
einmal geprüft werden. Von einer flächendeckenden Re-
gistrierung war erst gar nicht die Rede. Und das im größ-
ten Bundesland dieses Landes!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist der Unterschied zwischen Reden und Handeln!)


Wir müssen die Länder auffordern, mehr Einsatz bei
der Erfassung von Brustkrebsfällen durch die Krebsre-
gister zu zeigen und eine vollständige Erfassung zu ga-
rantieren. Erst daraus können gezieltere Maßnahmen ent-
wickelt werden, die wir alle fordern. Die Datenlage ist
und bleibt unbefriedigend und es bleibt unbefriedigend,
dass die Forschung zu weiteren geschlechtsspezifischen
Krankheitsbildern, wie sie vorhin schon genannt worden
sind – Essstörungen, Osteoporose, Karzinome, Depres-
sionen –, deutliche Defizite aufweist.

Hierzu finden sich in beiden Anträgen Forderungen,
die auch wir unterstützen können. Es ist absehbar, dass be-
stimmte Erkrankungen in der Zukunft zunehmen werden.
Entsprechende Forschungsanstrengungen sind zwingend
erforderlich. Dazu ist es auch wichtig, nach Brüssel,
Straßburg und Luxemburg zu schauen. Annette
Widmann-Mauz hat darauf hingewiesen. Die Orientie-
rung an bestimmten EU-Programmen und -Richtlinien
kann uns auch hier weiterbringen.

In Bremen soll jetzt innerhalb von drei Jahren ein
flächendeckendes Screening für Brustkrebs aufgebaut
werden. Ich denke, das ist ein gutes Signal. In den Nie-
derlanden sank die Mortalitätsrate seit Einführung des
Screenings um 30 Prozent. Dort gibt es bereits seit vier
Jahren flächendeckende Reihenuntersuchungen.

Wodurch zeichnet sich das niederländische Modell
aus? – Es zeichnet sich durch sein striktes System der
Qualitätssicherung aus. Das ist der entscheidende Punkt.
Um die europäischen Richtlinien zu erfüllen, haben die
Niederländer 54 Mammographiezentren errichtet. Das
muss man sich einmal vorstellen. 80 Prozent der eingela-
denen Frauen nehmen an der Reihenuntersuchung teil.
Die Rate der Fehlbefunde liegt bei etwa 1 Prozent. Wir se-
hen, wohin die Entwicklung gehen kann.

Zum Thema Gebärmutterhalskrebs hat Annette
Widmann-Mauz einiges gesagt. Auch wir wollen die
Bundesregierung dringend auffordern zu prüfen, ob zum
Beispiel Tests zur Feststellung einer Infektion mit huma-
nen Papilloma-Viren in den Leistungskatalog der GKV
aufgenommen werden können.

Im Übrigen ist noch ein weiteres Beispiel zu nennen,
das die Schwierigkeiten der Bundesregierung mit einer
Gesundheitsförderung für die Frauen aufzeigt. Ich halte
das drohende Aus für den medikamentösen Schwanger-
schaftsabbruch für ein weiteres Beispiel mangelhafter
Frauenpolitik. Wir werden ja im Verlaufe des Abends da-
rüber noch diskutieren.


(Beifall der Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.])





Detlef Parr
12446


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich hoffe sehr, dass die Ausschussberatungen uns wei-
terführen. Beide Anträge sind eine gute Grundlage für die
Beratungen im Ausschuss. Ich hoffe, dass wir gemeinsam
Grundlagen schaffen können, die die Gesundheitsversor-
gung der Frauen da verbessern, wo es wirklich dringend
erforderlich ist.

Danke.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412921400
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich Kollegin Christa Nickels das Wort.


Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412921500
Vie-
len Dank, Frau Präsidentin. – Ich beziehe mich mit mei-
ner Kurzintervention auf die Äußerungen von Herrn Kol-
legen Parr, aber auch auf Frau Kollegin Widmann-Mauz,
und zwar hinsichtlich der Forderung nach einem EU-leit-
liniengestützten, qualitätsgesicherten Screening für
Mammographieverfahren. Das ist absolut notwendig.
Ich brauche hier nicht noch einmal an die Argumente zu
erinnern, die Frau Kühn-Mengel genannt hat.

Es gibt in großem Maßstab kurative Mammographien,
die aber nicht qualitätsgesichert sind und auch nicht nach
den EU-Leitlinien funktionieren. Wenn man mit dem, was
zum Teil zulasten der Gesundheit der Frauen geht, auf-
hören würde, Frau Widmann-Mauz, dann würden die
Budgets in großem Maße entlastet. Das ist keine Frage zu
geringer Budgets, es ist eine Frage der Methode.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind hier schon erheblich weiter. Sie müssen zur

Kenntnis nehmen, dass wir in der Bundesrepublik kein
staatliches Gesundheitswesen haben, sondern ein geglie-
dertes, vielfältiges Gesundheitswesen, in dem eben auch
die Selbstverwaltungsorgane eine große und wichtige
Rolle spielen.

Kollege Parr, Sie haben gerade von der Modellregion
Bremen gesprochen. Das ist eine von drei Modellregio-
nen, die die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die
Spitzenverbände der Krankenkassen seit langem planen.
Ich komme aus der Aachener Gegend, wo ich auch
wohne. Dort wurde viele Jahre lang in einem Verbund von
engagierten Frauen, der Krebshilfe und auch der Univer-
sitätsklinik Aachen solch ein Modellversuch vorbereitet.
Es gab auch eine Ausschreibung der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der Kran-
kenkassen dazu. Aachen hat dann zunächst neben Bremen
und einer weiteren Region den Zuschlag bekommen.

Frau Widmann-Mauz, allerdings haben die KBV und
die Spitzenverbände der Krankenkassen klar gesagt:
Wenn die niedergelassenen Radiologen nicht mitmachen,
können sie es nicht machen. – Aufgrund dieser Tatsache
hat unsere Region den Zuschlag dann doch nicht bekom-
men. Da sind 70 000 Frauen herausgefallen.

Diese Studie ist auch eine Implementierungsstudie.
Das, was Sie in Ihrem Antrag verlangen, ist auf dem Weg.
Es scheitert in bestimmten Regionen am Widerstand der
niedergelassenen Radiologen, die offensichtlich Befürch-

tungen hinsichtlich der Möglichkeiten in ihren eigenen
Praxen hegen. Wir brauchen aber bestimmte Vorgaben,
bestimmte Geräte, bestimmte Erfahrungen, bestimmte
Einladungsverfahren. Von daher ist hier überhaupt nicht
die Politik verantwortlich. Vielmehr ist es erforderlich,
auch mit den Ärzten – mit den Radiologen vor allem –
stärker ins Gespräch zu kommen, damit es auch wirklich
unverzüglich umgesetzt werden kann. In Bremen läuft es
Gott sei Dank. In einer anderen Region ist es auf dem
Weg. In Aachen ist es leider nicht möglich gewesen, son-
dern ist am Widerstand der niedergelassenen Ärzte – nicht
am Widerstand der Politik – gescheitert.

Unser Haus unterstützt das Vorhaben mit allen ihm zur
Verfügung stehenden Mitteln. Wir sind diesbezüglich
schon so weit, dass es gemacht werden kann.

Was den anderen Punkt angeht, der hier auch von Ih-
nen, Herr Kollege Parr, angesprochen worden ist – über
das Thema Mifegyne werden wir gleich noch reden –,
werden wir – Sie haben ja selbst darauf hingewiesen –,
glaube ich, auch feststellen, dass das keine Frage der Po-
litik ist, sondern eine Frage dessen, wie im unternehmeri-
schen Alltag bestimmte Prozesse gestaltet werden müs-
sen. Wir werden uns darüber zu unterhalten haben, wie
wir es vernünftig fördern können.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412921600
Frau Kollegin,
möchten Sie antworten? – Bitte sehr.


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1412921700
Frau Kolle-
gin Nickels, zunächst möchte ich darauf hinweisen: Die
Budgetierung habe ich nicht – wenn Sie meinen Aus-
führungen zugehört haben – auf den Bereich des Scree-
ning-Verfahrens bezogen, sondern vor allen Dingen auf
medikamentöse Behandlungsformen, zum Beispiel auch
was den Gebärmutterhalskrebs und neue, innovative Me-
thoden zur Früherkennung bzw. zur Behandlung anbe-
langt.

Zweitens: Ich habe in meinen Ausführungen – darauf
lege ich großen Wert – einen Schwerpunkt auf ein qua-
litätsgesichertes Screening-Verfahren gelegt. Mir ist sehr
wohl bekannt, worin die Schwierigkeiten an dieser Stelle
liegen. Sie haben einen Punkt angesprochen.

Aus unserer Sicht ist es unerlässlich, dass wir ein
flächendeckendes und damit unter Einschluss der nieder-
gelassenen Ärzte stattfindendes Screening-Verfahren be-
kommen. Deshalb muss ich schon fragen: Was tut denn
die Bundesregierung konkret, um die niedergelassenen
Radiologen dazu zu ermutigen, sie zu fördern und zu for-
dern,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

die Qualität in den Screening-Verfahren zu verbessern?
Ich muss Sie, da Sie am Schluss Ihrer Ausführungen ge-
rade gesagt haben: „Wir sind so weit, dass man es machen
kann“, fragen: Warum tun Sie es dann nicht? Es ist jetzt




Detlef Parr

12447


(C)



(D)



(A)



(B)


die Zeit, Entscheidungen zu treffen, und sie dürfen nicht
auf die lange Bank geschoben werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412921800
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Petra Bläss.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412921900
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Ich denke, diese Debatte zeigt sehr
deutlich, dass wir es bei der frauenspezifischen Ge-
sundheitspolitik mit einem wichtigen Thema zu tun ha-
ben, das sehr zu Unrecht jahrelang ein Schattendasein ge-
führt hat. Dem kontinuierlichen und professionellen
Engagement von Frauen aus Politik, Medizin, Wissen-
schaft und Gesellschaft ist es überhaupt zu verdanken,
dass wir hier und heute darüber sprechen.

Im Übrigen haben wir hier ein recht gutes, praktisches
Beispiel dafür, dass und wie ein geschlechtsspezifischer
Zugang eine wichtige und sehr notwendige Bereicherung
der fachpolitischen Debatte sein kann. Das ist für mich
„gender mainstreaming“ ganz konkret.

Die Frau hat das Recht, das für sie erreichbare Höchst-
maß an körperlicher und geistiger Gesundheit zu ge-
nießen, heißt es in der 1995 in Peking verabschiedeten
Aktionsplattform zur Vierten Weltfrauenkonferenz. Von
der Verwirklichung dieses Rechts sind wir auch in der
Bundesrepublik noch recht weit entfernt. Offensichtlich
dient der medizintechnische und pharmazeutische Fort-
schritt nicht automatisch der Erfüllung spezifischer Be-
dürfnisse von Frauen in der Gesundheitsvorsorge. Auf der
Peking-plus-Fünf-Nachfolgekonferenz in New York in
diesem Jahr wurde denn auch festgestellt, dass besagter
Fortschritt einen ganzheitlichen Ansatz bei der Gesund-
heitsversorgung von Frauen und Mädchen, der den ge-
samten Lebenszyklus umfasst, sogar behindert.

Es fehlt – das ist auch in dieser Debatte schon deutlich
geworden – an geschlechtsspezifischer Forschung und
Technologie, an benutzerinnenfreundlichen Indikatoren
sowie an Daten, die nach Alter und Geschlecht aufge-
schlüsselt sind. Die bloße Apparate- und Schulmedizin
wird den meisten Frauen nicht gerecht. Frauen wollen
nicht länger Objekt von medizinischer Behandlung, son-
dern handelndes und entscheidendes Subjekt eines um-
fassenden Präventions-, Diagnose- und Heilungsprozes-
ses sein.

In beiden heute vorliegenden Anträgen steht eine
Menge wichtiger und richtiger Details zur Frauengesund-
heitspolitik. Doch was wir brauchen, ist ein tatsächlicher
Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik und eine
neue medizinische Ethik. Frauen mit ihren Bedürfnissen
und ihren eigenen Entscheidungen müssen im Mittel-
punkt stehen. Ärztinnen und Ärzte und das gesamte
medizinische Personal sollten sich als Partnerinnen und
Partner der Frauen begreifen. Wir brauchen einen verant-
wortungsbewussten Umgang mit der Verschreibung von
Medikamenten und wir brauchen andere Abrechnungs-
methoden. Die so genannte sprechende und hörende
Medizinmuss Vorrang vor der eingreifenden Medizin ha-
ben.

Tausende Frauen könnten ihre Gebärmütter noch ha-
ben, wenn es in der Gynäkologieausbildung nicht so frau-
enfeindliche Regelungen gegeben hätte. Ich erinnere da-
ran, dass angehende Frauenärztinnen und Frauenärzte erst
einmal 40 Gebärmütter entfernt haben mussten, bevor sie
überhaupt ihren Facharzttitel bekamen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, „fordern statt dul-
den“ – mit diesem Slogan haben im September dieses Jah-
res mehrere Hundert Frauen für eine konzertierte Aktion
gegen Brustkrebs demonstriert. Ich war dabei und die
Entschlossenheit dieser Frauen hat mich sehr beeindruckt.
Sie haben eine ungeheure Kraft, Selbstbewusstsein und
Wut demonstriert, und das zu Recht: Wut zum Beispiel
über den Fall in Essen, bei dem 300 Frauen ihre Brüste
verloren haben, weil ein Arzt die Bilder der Mammogra-
phie nicht richtig deuten konnte. 300 Frauen wurden in
Todesangst versetzt und trugen schwere körperliche Ver-
letzungen davon.

Zu Recht fordern die Aktivistinnen der Brustkrebsbe-
wegung in der Bundesrepublik die Einführung qualitäts-
gesicherter Früherkennungsprogramme nach EU-
Richtlinien, wie es sie in den Niederlanden, in England
und in Schweden gibt. Wir unterstützen diese Forderung
ausdrücklich. Dazu gehört auch, dass die mit Mammo-
graphien befassten Ärztinnen und Ärzte besser ausgebil-
det werden, um Interpretationsfehler zu verhindern. Dazu
gehört, dass Frauen wie in den Niederlanden das Recht
haben, ihre Mammographien von einer zweiten Ärztin
bzw. von einem zweiten Arzt begutachten zu lassen. Si-
cher ist das erst einmal teurer. Aber gerettete Menschen-
leben und ersparte Operationen wiegen das mehrfach auf.

Wir sollten darüber diskutieren, ob wir wie in Holland
Reihenuntersuchungen einführen. Die bereits erwähnten
Modellversuche an drei Standorten sollten so schnell wie
möglich flächendeckend ausgeweitet werden.

Fest steht: Je besser die Ausbildung des ärztlichen Per-
sonals, je besser die Betreuung der Frauen und je besser
die technische Ausstattung sind, desto größer ist die
Wahrscheinlichkeit, dass Krebserkrankungen früh ent-
deckt werden. Natürlich muss die Teilnahme an solchen
Reihenuntersuchungen immer freiwillig bleiben.

Ich schlage vor, dass wir uns möglichst bald zu einer
interfraktionellen Initiative zusammenfinden, um umfas-
sende Früherkennungsprogramme zur Brustkrebs-
bekämpfung nach EU-Richtlinie einzurichten. Das wäre
meines Erachtens – um den Titel Ihres Antrags aufzuneh-
men – „konkrete Gesundheitspolitik für Frauen“ und wir
könnten jenseits von Partei- und Fraktionsgrenzen ein zu-
kunftsweisendes Signal setzen. Denn zu Recht schreibt
die Women’s Health Coalition, ein Zusammenschluss von
Frauen aus Medizin, Wissenschaft, Gesundheit und Jour-
nalismus zur Verbesserung der Gesundheit von Frauen:
„Um eine frauenspezifische Forschung, Aus- und Weiter-
bildung und Versorgung in Deutschland im Parlament
durchzusetzen, halten wir eine überparteiliche Initiative
für notwendig.“

Bei aller Schärfe der Auseinandersetzung ist heute in
der Debatte deutlich geworden, dass es viele fachliche
Übereinstimmungen gibt. Deshalb denke ich, ist es an der




Annette Widmann-Mauz
12448


(C)



(D)



(A)



(B)


Zeit, die Bekenntnisebene zu verlassen und im ganzen
Haus gemeinsam an einem Strang zu ziehen.

Ich danke.

(Beifall bei der PDS, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412922000
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Anni Brandt-Elsweier.


Anni Brandt-Elsweier (SPD):
Rede ID: ID1412922100
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Weibliche und männliche Lebenszusammenhänge
unterscheiden sich deutlich voneinander. Das spiegelt
sich nicht zuletzt auch im Erleben und Umgehen mit Ge-
sundheit und Krankheit wider. Bis heute finden jedoch ge-
schlechtsspezifische Aspekte hinsichtlich der Ursache,
Ausprägung und Empfindung von Gesundheit und
Krankheit in den medizinisch-naturwissenschaftlichen
Wissenschaftszweigen nicht die erforderliche Aufmerk-
samkeit.

Das ist eine Tatsache, die die SPD bereits in der letzten
Legislaturperiode erkannt hat. Frau Kollegin Kühn-
Mengel hat bereits auf den Entschließungsantrag der
SPD-Fraktion von 1998 hingewiesen, der seinerzeit mit
den Stimmen der damaligen Regierungskoalition abge-
lehnt wurde. Deswegen wundert es mich, dass jetzt ein
Antrag der CDU/CSU-Fraktion vorliegt. Sie hätten be-
reits 1998 die Gelegenheit gehabt, in diesem Bereich tätig
zu werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der jetzt vorliegende Antrag hat zwar den Titel „Konkrete
Gesundheitspolitik für Frauen“. Ihre Ausführungen sind
aber zum Beispiel im Bereich der Demenzkranken wenig
konkret.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die rot-grüne Regierung ist bereits tätig geworden und

hat in dieser kurzen Zeit – es sind immerhin nur zwei
Jahre – schon eine Vielzahl von Vorhaben im Gesund-
heitsbereich mit frauenspezifischer Ausrichtung auf den
Weg gebracht. Ich möchte an dieser Stelle als Beispiel ei-
nige Studien und Projekte nennen, die unter der Feder-
führung des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend laufen.

Wichtig ist die „Wissenschaftliche Untersuchung zur
gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland
unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Entwick-
lungen in West- und Ostdeutschland“, von der wir uns
aufschlussreiche Daten erhoffen. Auch erwähnen möchte
ich, dass wir eine Förderung von 8 Millionen DM für die
Modernisierung und Sanierung des Deutschen Mütter-
genesungswerkes sowie für die wissenschaftliche Beglei-
tung des Berliner Modellprojektes „Signal“ durchgesetzt
haben. Dieses Projekt soll durch Sensibilisierung des
medizinischen Sektors für das Gewaltproblem eine ver-

besserte gesundheitliche Versorgung misshandelter
Frauen erreichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Leider ist es immer noch so, dass sich Studien, Thera-
pien und Diagnosen in der Medizin vornehmlich an der
männlichen Lebenssituation orientieren. So wurden
zum Beispiel Frauen lange Zeit von klinischen Tests aus-
genommen, da sie aufgrund der Schwankungen ihres Zy-
klus als „unsichere Versuchskandidatinnen“ galten, ob-
wohl es gerade diesbezüglich sinnvoll gewesen wäre,
wissenschaftlich zu klären, ob Medikamente bei Frauen
wegen des unterschiedlichen Hormonhaushaltes bei glei-
cher Dosis ebenso wie bei Männern wirken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei der Diagnose und Therapie von kranken Frauen
werden die Lebensumstände häufig zu wenig beachtet.
Ungünstige soziale Lebensbedingungen – das ist bereits
erwähnt worden –, Mehrfachbelastungen durch Familie,
Beruf, Haushalt und Pflege von pflegebedürftigen An-
gehörigen werden als Einflussfaktoren in Bezug auf die
Gesundheit der Frau vernachlässigt. Durch diese Ver-
säumnisse ist es zu erklären, dass es bei Frauen in
Deutschland trotz hoch spezialisierter Medizin zu ver-
gleichsweise schlechten Behandlungsergebnissen kommt.
Ein Beispiel hierfür ist die Häufigkeit koronarer Herz-
krankheiten, die bei Frauen oft unterschätzt werden.

Es gibt zurzeit noch keine gesicherten Erkenntnisse da-
rüber, weshalb Frauen deutlich geringer vom Herzinfarkt,
hingegen aber deutlich höher vom Schlaganfall betroffen
sind. Andererseits sterben doppelt so viele Frauen wie
Männer schon am ersten Herzinfarkt. Ein möglicher
Grund ist, dass Frauen, bedingt durch mangelndes Pro-
blembewusstsein und Fehldiagnosen, eine sachgerechte
medizinische Betreuung zu spät erfahren. Herzuntersu-
chungen erfolgen in der Regel bei Frauen später als bei
Männern: eine der Ursachen für die höhere weibliche
Sterblichkeitsrate bei koronaren Herzerkrankungen.

Aus diesem Grunde unterstützen wir die zurzeit
laufenden frauenspezifischen Studien des Bundesministe-
riums für Bildung und Forschung zur Herzinfarktrehabi-
litation und auch die Förderung des Herzinfarktregisters
Augsburg, aus dessen Daten interessante frauenspezifische
Ergebnisse abgeleitet werden können.

Ein weiteres Themenfeld ist bereits mehrfach erwähnt
worden, nämlich die Verbesserung der Früherkennung im
Bereich der Krebsvorsorge. Mit jährlich rund 45 000
Neuerkrankungen ist Brustkrebs die häufigste Krebs-
erkrankung bei Frauen; die Tendenz ist steigend. Laut
offizieller Schätzung würden bei besserer Früherkennung
die Heilungschancen um 30 bis 40 Prozent höher liegen.

Die weltweit anerkannte Methode zur Früherkennung
ist die Mammographie, die allerdings – das ist auch gesagt
worden – qualitätsgesichert sein muss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)





Petra Bläss

12449


(C)



(D)



(A)



(B)


In Schweden gibt es seit über 20 Jahren ein systemati-
sches Früherkennungsprogramm, das so genannte Mam-
mographie-Screening – das ist bereits erwähnt worden,
am Beispiel der Niederlande –; dort ist es ebenfalls ge-
lungen, die Todesrate um circa 30 Prozent zu reduzieren.

Zu erwähnen sind noch drei Modellprojekte im Be-
reich Mammographie-Screening, die zurzeit in Wiesba-
den, im Rheingau-Taunus-Kreis sowie in Bremen und
Niedersachsen laufen. Im Juli dieses Jahres hat die Auf-
bauphase dieses gemeinsamen Projektes der Kassenärzt-
lichen Vereinigungen und der Krankenkassen begonnen.
Ab Januar 2001 werden alle Frauen zwischen 50 und
69 Jahren mit Wohnsitz in der Modellregion die Möglich-
keit einer kostenlosen Mammographie-Untersuchung er-
halten. Ich hoffe, diese Studie hat den gewünschten Erfolg
und wir können darauf aufbauen; die notwendigen Vo-
raussetzungen bei den Radiologen müssen aber vorliegen.

Genauso wichtig ist es in diesem Zusammenhang, die
Länder zu unterstützen, die Fälle von Brustkrebs in den
eingerichteten Krebsregistern vollständig zu erfassen. Ich
hoffe und wünsche mir, dass damit alle Länder beginnen
– auch Bayern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Detlef Parr [F.D.P.]: Dann sind wir uns ja wieder einig! – Helga Kühn-Mengel [SPD]: Nordrhein-Westfalen hat zwei!)


Wir befinden uns also auf dem richtigen Weg. Der vor-
liegende Antrag soll den weiteren Handlungsbedarf
aufzeigen. Lehre und Forschung müssen die nötigen wis-
senschaftlichen Grundlagen schaffen, um die Berücksich-
tigung frauenrelevanter Belange im Gesundheitssystem
durchsetzen zu können. Dieses Bewertungskriterium
muss zukünftig bei allen Fördervorhaben im Gesund-
heitsbereich eingeführt werden.

Genauso wichtig ist es, eine kontinuierliche Bericht-
erstattung über die gesundheitliche Situation von Frauen
vorzunehmen sowie die Prävention und den Gesundheits-
schutz zu stärken.

Ich hoffe, wir werden das entsprechende Anliegen im
Interesse der Frauen gemeinsam unterstützen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Bläss [PDS])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412922200
Nun spricht zu uns die
Kollegin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion.


Beatrix Philipp (CDU):
Rede ID: ID1412922300
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Parlamen-
tarische Staatssekretärin, im Zusammenhang mit dem,
was Sie und Frau Brandt-Elsweier vorhin zum Mammo-
graphie-Screening ausgeführt haben, würde mich einmal
interessieren, ob vielleicht auch schon einige Dinge im
Bereich der Osteoporose auf dem Weg sind; denn dieser
Bereich ist mindestens genauso wichtig und ebenfalls
frauenspezifisch. Vielleicht könnten Sie das gleich etwas
näher ausführen.

Zum Herrn Parr muss ich sagen: Männer, die aus der
Rolle fallen, hatten wir in der letzten Woche eine ganze
Menge.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Aber andere!)

Ich nenne nur einmal das Wort „basta“. Deswegen meine
ich: Es gibt keinen Nachholbedarf.


(Helga Kühn-Mengel [SPD]: Das ist die Leitkultur bei den Männern!)


Frau Kühn-Mengel, ich möchte auch an Sie eine Bitte
richten und hoffe, dass ich es nicht umsonst tue. Ich
glaube, es ist ein grundsätzliches Problem, dass wir viel
zu viel in die Diagnose investieren und viel zu wenig in
die Therapie. Von den Forschungsausgaben werden im-
mer wieder große Summen für den Bereich der Diagnose
verschiedenster Art aufgewandt, aber viel zu wenig für
den Bereich der Therapie. Das wird eine große Rolle spie-
len, wenn wir gleich über frauenspezifische Ansätze spre-
chen.

Ich gebe die Hoffnung ja nicht auf – das wissen einige,
die mich schon länger kennen –, dass es einzelne Berei-
che gibt, in denen es einfach notwendig ist, dass alle am
selben Strick ziehen und in dieselbe Richtung gehen.
Ganz sicher ist dieses ein solcher Bereich.

Ich habe gestern im Internet nachgeschaut und festge-
stellt: Wenn man dort die Stichworte „Frauen und Ge-
sundheit“ abfragt, erhält man Informationen zu Sportein-
richtungen, Fitnessstudios, Details zu Schlankheitskuren
und Wellness-Angebote; alles Angebote, die Frauen at-
traktiv oder fit machen oder fit halten sollen.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Auch für Männer!)

– Doch, Herr Parr, das ist so. Es entspricht dem alten von
Männern öfters geäußerten Spruch: Gott erhalte mir
meine Gesundheit und die Arbeitskraft meiner Frau.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Aber nun ganz ernsthaft: Die gesundheitliche Sorge
um Frauen kann nicht auf diesen Aspekt reduziert werden.
Es ist unbestritten, dass Frauen ein anderes Verhältnis zu
ihrem Körper haben, ihn anders wahrnehmen als Männer.
Allein daraus ergibt sich die Notwendigkeit, geschlech-
terspezifische Ansätze in der Gesundheitspolitik zu ent-
wickeln. Darauf haben mehrere der Vorrednerinnen be-
reits hingewiesen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein
wesentliches Ergebnis der Diskussion – und zwar der Dis-
kussion beider Anträge – eine Bewusstseinsschärfung
sein muss. Es muss das Bewusstsein dafür geschärft wer-
den, dass es einen enormen Nachholbedarf an gesund-
heitspolitischen Maßnahmen konkret für Frauen gibt.
Deshalb sollte man sich mit beiden Anträgen auseinander
setzen, denn – ich muss das ausdrücklich sagen – Ihr An-
trag allein hilft nicht weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich begrüße ihn zwar, muss aber ganz ehrlich sagen

– um Sie nicht zu sehr zu loben –, dass er sich liest, als sei
er zusammengestückelt. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, wo
ich Verständnisschwierigkeiten habe und an der Umsetz-
barkeit des Antrages zweifle:




Anni Brandt-Elsweier
12450


(C)



(D)



(A)



(B)


Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ...
die Karriereverläufe und Situationen von Frauen in
Medizin- und Gesundheitsforschung sowie die Be-
rücksichtigung der Ansätze und Ergebnisse der
Frauen- und Genderforschung in Lehre, Ausbildung,
Forschung und Pflegewissenschaft umfassend zu un-
tersuchen und Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet
sind, Benachteiligungen abzubauen und frauenspezi-
fische Krankheitsursachen und -verläufe stärker in
die Ausbildung einzubeziehen ...

Frau Nickels, herzlichen Glückwunsch, ich frage mich
nur, wann Sie das alles machen wollen, denn so viel Zeit
haben Sie in der Regierung nicht mehr.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist ein riesiges Arbeitsprogramm!)


Ich möchte nur einmal darauf aufmerksam machen. Aber
Spaß beiseite: Von der Wiege bis zur Bahre alles auf den
Prüfstand stellen zu wollen ist kaum leistbar und kaum
umsetzbar. Insofern ist Ihr Antrag an manchen Stellen
nicht nur positiv zu sehen.

Eine Grundvoraussetzung – auch das, Frau Kühn-
Mengel, muss ich hier loswerden – für ein qualifiziertes,
hochwertiges Gesundheitssystem, das Frauen und Män-
nern nutzt, ist zweifellos, dass gute Ansätze und Ideen
auch wirklich umgesetzt werden können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das setzt voraus – da können Sie reden, wie Sie wollen –,
dass die Budgetierung fällt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie uns nicht wie die Blinden von der Farbe reden:
Wenn die Budgetierung fiele, würden Sie es den Ärzten
wieder erlauben.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Mehr Geld zu verdienen!)


– Frau Schmidt-Zadel, Sie können krakeelen, wie Sie
wollen, an den Fakten kommen Sie nicht vorbei! –, den
Patienten das zukommen zu lassen, was sie für dringend
notwendig halten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist im Augenblick nicht der Fall. Frau Schmidt-Zadel,
das steht doch nicht nur in CDU-freundlichen Zeitungen;
das steht überall. Wir haben schon öfter darüber gespro-
chen: Auch wir haben den Fehler schon einmal gemacht –
nur haben wir daraus gelernt. Sie wollten die Erfahrung
selbst machen – aber lernen nicht daraus und ziehen da-
raus auch keine Konsequenzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Darüber hinaus gibt es in Ihrem Antrag auch Wider-

sprüche zwischen Forderungen und Ihrem tatsächlichen
Handeln. In Ihrem Antrag steht, dass Knochenerkran-
kungen stärker als bisher erforscht und behandelt werden
sollen. Dazu gehört natürlich auch die Osteoporose. Die
Entkalkung von Knochen ist ein normaler Vorgang und

sicher – so alt wie Sie und ich sind, Frau Schmidt-Zadel,
auch bei uns schon fortgeschritten. Bei der Osteoporose
aber handelt es sich um eine Beschleunigung dieses Pro-
zesses. Deswegen wäre es richtig und wichtig, recht früh-
zeitig, das heißt zwischen dem 45. und dem 50. Lebens-
jahr, diese Knochendichtemessung zu machen, um dann
sagen zu können, ob ein Eingreifen erforderlich ist.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Es ist nicht so!)


– Doch, es ist einfach so.
Wenn man dann eingreift, verhindert man, dass die

Knochen brechen. Auf diese Weise macht sich letztlich
eine Knochendichtemessung bezahlbar. Es kann doch
nicht stimmen: Jetzt muss ich mir erst die Knochen bre-
chen, damit die Kasse dann eine Knochendichtemessung
bezahlt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das hat der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen
so beschlossen. Ich muss in Richtung des Bundesgesund-
heitsministeriums sagen: Meiner Meinung nach wäre das
einer der wenigen Punkte gewesen, bei dem die Bun-
desgesundheitsministerin von ihrem Vetorecht hätte Ge-
brauch machen müssen. Denn diese Regelung ist einfach
nicht in Ordnung und verstößt ganz massiv gegen die Inte-
ressen der Betroffenen, hauptsächlich von Frauen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir alle wissen: Über 6 Millionen Menschen sind an

Osteoporose erkrankt; das sind mehr, als es in Deutsch-
land Diabetiker gibt. Experten sprechen bereits von einer
stummen Epidemie. 4,8 Millionen Frauen und 1,6 Mil-
lionen Männer sind betroffen. Von dieser Krankheit sind
also besonders Frauen, aber nicht nur Frauen betroffen.
Zudem wird nur bei der Hälfte aller Betroffenen das
Krankheitsbild der Osteoporose überhaupt erkannt, ob-
wohl es, wie ich eben gesagt habe, durch eine Knochen-
dichtemessung möglich wäre, die Krankheit frühzeitig zu
erkennen. Nur 20 Prozent der Betroffenen werden ent-
sprechend dem neuesten Stand der Wissenschaft behan-
delt, und das, obwohl die Krankheit, wenn sie nicht adä-
quat behandelt wird, fortschreitet.

Ich möchte auch darauf hinweisen: Es geht hier um
Menschen und nicht um ein statistisches Abhaken. Wenn
ich mir Frauen, die unter Osteoporose im fortgeschritte-
nen Stadium leiden, anschaue und weiß, dass denen mit
den heutigen wissenschaftlichen und medikamentösen
Möglichkeiten hätte geholfen werden können, wenn die
Krankheit rechtzeitig erkannt worden wäre, und dass dies
nicht geschieht, weil die Krankenkasse sich weigert, die
entsprechende Untersuchung zu bezahlen, dann halte ich
das für einen Skandal,


(Beifall bei der CDU/CSU)

der nach meiner Meinung dazu führen müsste, dass wir
uns alle gemeinsam auf die Forderung, die Knochendich-
temessung als verbindliche Untersuchung für den Be-
reich, den ich expressis verbis erwähnt habe, einzuführen,
verständigen sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Beatrix Philipp

12451


(C)



(D)



(A)



(B)


Die WHO hat die Osteoporose als eine der zehn be-
deutendsten Erkrankungen weltweit eingestuft. Das Jahr
2001 – man darf es eigentlich gar nicht laut sagen – ist von
der WHO zum „Jahr der Osteoporose“ erklärt worden. Ich
weiß nicht, was noch alles passieren muss, damit endlich
erkannt wird, dass es sich hier um eine Krankheit handelt,
die eine der zukünftigen bzw. schon existierenden
Geißeln der Menschheit, insbesondere der Frauen, sein
wird bzw. ist. Deswegen nutzt es gar nichts, sich hinter ir-
gendwelchen parteiprogrammatischen Forderungen wie
der nach mehr Selbstverwaltung zu verstecken. Hier ist
dringender Handlungsbedarf geboten. Deshalb fordern
wir, endlich zu handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich möchte noch zwei Probleme ansprechen, die mir
am Herzen liegen und die in den beiden vorliegenden An-
trägen nicht ausdrücklich erwähnt werden. Ich bin der
Meinung, dass die Gesundheitserziehung in der Schule
– damit meine ich nicht nur die gesundheitliche Auf-
klärung – viel früher beginnen sollte, als das heute der Fall
ist. Wir wissen, dass das eine sinnvolle Sache ist. Man
sieht am Beispiel der Kariesprophylaxe, dass gesundheit-
liche Aufklärung durchaus Erfolg haben kann.

Wir alle wissen, dass sich ein Großteil der Frauen lie-
ber von Frauen und dass sich Männer lieber von Männern
untersuchen und beraten lassen. Das ist eine bekannte Tat-
sache. Wir haben schon öfter in anderen Zusammenhän-
gen darüber gesprochen – das liegt mir schon lange am
Herzen –, ob es nicht überlegenswert wäre, eine Art
Mädchengynäkologie einzuführen. Ich halte zwar, wie
alle wissen, sehr viel von der Stärkung der Stellung der
Hausärztin und des Hausarztes. Aber ich bin der Meinung,
dass diesbezüglich Mädchen einer bestimmten Alters-
gruppe bei der Hausärztin bzw. beim Hausarzt nicht so gut
aufgehoben sind – das sollten wir inhaltlich einmal ver-
tiefen – wie bei einer speziellen Fachärztin für Mädchen-
gynäkologie.

Letzte Bemerkung: Wir sollten bei allen Auseinander-
setzungen, die sicherlich auch richtig und notwendig sind
– dafür gab es eben einige Beispiele; weitere werden noch
folgen –, unsere Gemeinsamkeiten, die es in einzelnen
Bereichen gibt, auch nach außen deutlich machen. Des-
wegen hoffe ich, dass im Ausschuss über beide Anträge
erfolgreich beraten wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412922400
Als Letzte in dieser
Debatte spricht die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,
Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Um die Situation der Frauen im Gesundheits-
wesen zu beschreiben, möchte ich gerne einen Chefarzt
zitieren, der in einem Bewerbungsgespräch gegenüber
einer Ärztin Folgendes äußerte:

Sie haben nur eine Chance, diese Stelle zu bekom-
men, wenn Sie Ihren Uterus im Einmachglas auf den
Tisch stellen.

Diese Einstellung ist leider kein Einzelfall. So wundert es
auch nicht, dass in leitenden Funktionen des Gesundheits-
wesens gerade einmal 1,2 Prozent Frauen vertreten sind.
Eine Frau zu sein zählt noch immer zu den Hindernissen
im Gesundheitswesen. Das gilt sowohl für die Karriere-
verläufe der Beschäftigten als auch für die Patientinnen.


(Lachen bei der CDU/CSU)

– Ich finde das überhaupt nicht lustig, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch nicht!)

Männer entscheiden über frauenspezifische Belange im
Gesundheitswesen. Darunter verstehen viele nur die Be-
reiche „gynäkologische Krankheiten“ oder „Schwanger-
schaft und Geburt“. Dies ist viel zu begrenzt.

Die medizinische Forschung berücksichtigt ge-
schlechtsspezifische Unterschiede nicht ausreichend. Sie
ist auf einem Auge blind. Dabei ist wissenschaftlich unbe-
stritten, dass Krankheiten von Frauen und Männern unter-
schiedliche Krankheitsbilder und -ursachen haben. Heute
gibt es zwar gewisse Erkenntnisse über geschlechtsspezi-
fische Unterschiede bei einzelnen Krankheiten, wie bei
Krebserkrankungen, Herz- und Kreislauferkrankungen
oder auch Depressionen. Der medizinische Fortschritt
kommt Frauen allerdings weniger zugute als Männern, weil
sich die Forschung an Männern, ihren Lebenssituationen
und ihrem Gesundheitsempfinden orientiert.

Deutlich wird das bei Herzerkrankungen. In weiten
Teilen der Gesellschaft, aber auch der Ärzteschaft, gilt
diese Erkrankung als typische Männerkrankheit; meist
wird sie sogar als Managerkrankheit benannt. Dabei ist es
für Frauen die zweithäufigste Todesursache. Statistiken
belegen, dass mehr Frauen als Männer unter 50 den ers-
ten Herzinfarkt nicht überleben. Es besteht der Verdacht,
dass sie an dieser Krankheit leichter sterben, weil die ent-
sprechenden Symptome eher in die Kategorie „Hysterie“
gepackt werden. Der Grund für die höhere Mortalitätsrate
für Frauen liegt oftmals in einer ärztlichen Fehlwahrneh-
mung und in der darauf folgenden Fehldiagnose. Für die
Frau, die den Herzinfarkt erlitten hat, kommt die Hilfe
dann womöglich zu spät; denn – Sie wissen das – manche
Behandlungsmethoden, wie die Erstbehandlung, machen
dann keinen Sinn mehr.

Außerdem wählen Ärzte für Frauen andere Therapien
als für Männer. Bei dem gleichen Krankheitsbild werden
Frauen beispielsweise doppelt so häufig Beruhigungsmit-
tel verordnet. Sie erhalten dementsprechend auch sehr
viel häufiger eine psychiatrische Diagnose. Psychophar-
maka werden verabreicht; Medikamentenabhängigkeit ist
nicht selten die Folge.

Ich komme nun zu einem Thema, das in Fachkreisen
seit Jahren diskutiert wird, ohne dass, zumindest in
Deutschland, Erfolge für die Betroffenen zu verzeichnen
wären. Ich rede vom Brustkrebs, der häufigsten Todes-
ursache bei Frauen zwischen dem 35. und dem 64. Le-




Beatrix Philipp
12452


(C)



(D)



(A)



(B)


bensjahr. Jährlich sterben inzwischen 18 000 Frauen in
Deutschland an dieser Krankheit. Circa 46 000 Frauen er-
kranken pro Jahr daran. Das ist jede zehnte Frau. Vor
zwanzig Jahren war es „nur“ jede 18. Frau. Diese Tendenz
ist in Deutschland leider steigend. Das müssen wir, liebe
Kolleginnen und Kollegen, stoppen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU und des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Bei uns werden 80 Prozent der Erkrankungen durch
Selbstuntersuchung festgestellt. Dabei ist der Tumor
meist schon in einem fortgeschrittenen Stadium, das
heißt, der Knoten ist meist 1 oder 2 Zentimeter groß und
häufig nicht mehr heilbar.

In den meisten Fällen wird erst danach eine Mammo-
graphie vorgenommen. Die Qualität dieser Untersuchung
hängt, wie wir schon vorhin häufiger gehört haben, ganz
von der Arztpraxis ab: Mal ist sie besser, meistens ist sie
schlechter. Die so genannten grauen Mammographien ha-
ben eine Fehlerquote von bis zu 80 Prozent. Für die
Frauen ist das eine Katastrophe. Sie werden unnötig in
Angst und Schrecken versetzt und vielfach unnötig ope-
riert. Das Gleiche gilt für Gebärmuttererkrankungen.
Neuere Studien zeigen eine alarmierende Entwicklung.
Demnach werden neun von zehn Gebärmutterentfernun-
gen wegen gutartiger Erkrankung vorgenommen. Frau
Kollegin, da mangelt es nicht am Budget. Da werden Ope-
rationen einfach vorgenommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Bei dem Umgang mit Brustkrebs werden immer wie-
der die Niederlande als positives Vorbild genannt. Frau
Kollegin Brandt-Elsweier ist schon darauf eingegangen:
Die Sterberate wurde dort durch ein qualitätsgesichertes
Screening um ein Drittel gesenkt. Würde man das auf
Deutschland übertragen, könnte in Deutschland jährlich
das Leben von 5 400 Frauen gerettet werden. Das muss
unser aller Ziel sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Das hat auch die Anti-Brustkrebs-Initiative gefordert,
deren Vorsitzende ich hier heute begrüßen kann. Ich freue
mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
dass auch Sie die Frauengesundheit entdeckt haben; zumal
Ihr damaliger Gesundheitsminister Seehofer viele Leis-
tungen zurückgeschraubt hat, die besonders Frauen be-
troffen haben. Ich stimme mit Ihnen überein: Wir brauchen
eine flächendeckende, eine qualitätsgesicherte Früher-
kennung, Diagnostik und Therapie. Leider können wir
das nicht sofort umsetzen, da wir die Ergebnisse der drei
Modellversuche abwarten müssen. So ist das halt mit der
Selbstverwaltung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, frauenspezifische
Gesundheitsversorgung war bis vor kurzem ein vernach-
lässigtes Thema. Die rot-grüne Koalition wird dafür sor-

gen, dass sie nicht länger ein Schattendasein fristen wird.
Ich habe von der Staatssekretärin im Gesundheitsministe-
rium gerade gehört, dass sie dem Informationsbedürfnis
der CDU-Kolleginnen sehr gerne nachkommen will und
Material zur Verfügung stellen möchte über Mammogra-
phie-Screening und auch über Osteoporose.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Unsere Gesellschaft darf es sich nicht länger leisten,
dass Frauen medizinisch schlechter versorgt werden als
Männer. 1997 haben 16 Prozent der deutschen Frauen auf
eine entsprechende Frage geantwortet, dass ihre Ge-
sundheitsprobleme ungenügende Aufmerksamkeit fän-
den. Ich finde, das sollte für uns ein Ansporn sein, mehr
für die Frauengesundheit zu tun. Lassen Sie uns diese bei-
den Anträge in diesem Sinne im Ausschuss behandeln!

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412922500
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3858 und 14/4381 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne-
ten Claudia Nolte, Birgit Schnieber-Jastram,
Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Reform des Behindertenrechts
– Drucksachen 14/2290, 14/3681 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Claudia Nolte für die CDU/CSU-Fraktion.


Claudia Nolte (CDU):
Rede ID: ID1412922600
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Vorbereitung zur
heutigen Debatte ist mir ehrlich gesagt nicht ganz leicht
gefallen. Das hat vor allen Dingen mit der Art und Weise
der Beantwortung der Großen Anfrage meiner Fraktion zu
tun; denn alles in allem ist diese Antwort ziemlich unprä-
zise und zum Teil nichts sagend. Es macht eine Debatte
immer wahnsinnig schwierig, wenn man über „nichts“ re-
den muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Für mich ist die Antwort enttäuschend, wobei schwer

auszumachen ist, ob das an den Ländern liegt, weil sie zu
wenige Zahlen geliefert haben, oder aber am Bundesar-
beitsministerium, das zurzeit so mit anderen Themen




Irmingard Schewe-Gerigk

12453


(C)



(D)



(A)



(B)


beschäftigt ist, dass man dort keine Zeit und vielleicht
auch nicht so viel Ehrgeiz zur Beantwortung dieser Frage
hatte.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Deswegen sind die heute auch nicht hier!)


– Der Vertreter des Bundesministeriums kommt bereits.
Das ist schon in Ordnung.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Wie gerufen!)


Es ist festzuhalten, dass – mangels Masse – entweder
keine Angaben gemacht wurden oder eben die Antworten
wenig informativ sind. Man kann der Bundesregierung in
den Fällen, in denen einfach zu viel Zeit über die Dinge
vergangen ist, keinen Vorwurf machen. Das ist besonders
im Bereich des Arbeitsmarkts der Fall. Da hat die Novelle
des Schwerbehindertengesetzes die Antworten auf viele
unserer Fragen ersetzt bzw. die Fragen erübrigt; dadurch
ist das nicht mehr sonderlich aktuell. Das gilt aber nicht
für alle Fragen.

Um meine Kritik einmal an einem Beispiel festzuma-
chen, gebe ich eine Kostprobe aus der Antwort auf die
Frage 4, in der wir ganz präzise nach den Qualifikations-
merkmalen fragen, die für integrative Kinderbetreuung
in Regelkindergärten und integrativen Unterricht in allge-
mein bildenden Schulen gelten sollen, und in der wir da-
nach fragen, wie dies in den einzelnen Ländern durchge-
führt werden soll; da geht es um die Größe der Gruppen
und Klassen und um die Zahlenverhältnisse zwischen be-
hinderten und nicht behinderten Kindern. In der Antwort
wird zuerst die Gesamtzahl der Plätze nach Ländern auf-
geschlüsselt. Dann heißt es:

Die Größe der Gruppen schwankt zwischen der re-
gulären Gruppengröße in manchen Fällen der Einzel-
integration, also bis zu etwa 25 Kindern, und etwa
15 Kindern in Integrationsgruppen mit mehreren be-
hinderten Kindern. Das Zahlenverhältnis zwischen
behinderten und nicht behinderten Kindern in ge-
meinsam besuchten Gruppen ist ebenfalls von der
Art der Integration abhängig. Bei Einzelintegration
beträgt es bis zu 1 zu 24, in Integrationsgruppen da-
gegen häufig 1 zu 2.

Das heißt, dazwischen sind alle Zahlenverhältnisse denk-
bar. Man weiß nicht, was „häufig“ heißt. Was ist eigent-
lich der Regelfall in den Ländern? Wie ist die Situation
vor Ort zu charakterisieren? Ich kann anhand dieser Ant-
wort nicht bewerten, wie und mit welcher Qualität die In-
tegration in den Ländern durchgeführt wird und in wel-
chem Betreuungsverhältnis die Kinder betreut bzw.
geschult werden. Man kann aus der Antwort vielleicht ei-
nen Trend ablesen: In den neuen Bundesländern besuchen
anscheinend mehr behinderte Kinder integrative Re-
gelkindergärten als in den alten Bundesländern. So wird
der Anteil der integrativ betreuten behinderten Kinder in
den neuen Bundesländern auf 62 Prozent und für das
frühere Bundesgebiet auf 36 Prozent beziffert. Ich muss
schon sagen, dass dies – wenn die Zahlen stimmen – al-
lerdings ein positives Zeichen wäre; denn es wäre ein Zei-
chen dafür, dass die Umstrukturierung des Betreuungs-
systems in den neuen Bundesländern im Hinblick auf die

Frühförderung und vor allen Dingen im Hinblick auf die
Integration von behinderten Kindern erfolgreich war.
Man hat also die Umstrukturierung genutzt, bewusst Inte-
grationsmöglichkeiten in den neuen Bundesländern zu
etablieren. Das heißt, wir in den neuen Ländern sind einen
Schritt weiter. Das hat, wie ich denke, in großem Maße
mit dem Engagement der dortigen Erzieherinnen zu tun,
die hier einen neuen Schwerpunkt setzen. Ich finde, dafür
verdienen diese Erzieherinnen Anerkennung und Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Bei dem Besuch von Regelschulen scheint das anders
zu sein. In diesem Punkt wird überhaupt nicht auf die
neuen Bundesländer eingegangen, wobei die Antwort of-
fen lässt, ob es daran liegt, dass die neuen Bundesländer
kein Zahlenmaterial geliefert haben, dort aber sehr wohl
integrative Beschulung in Regelschulen existiert, oder
daran, dass es in diesem Bereich überhaupt keine Ent-
wicklung gibt. Ich finde es arg bedenklich, dass hier kaum
Aufklärung stattfindet und der Informationsgehalt äußerst
gering ist, weil gerade dieser Aspekt für mich in der
Behindertenpolitik unendlich wichtig ist. Wenn wir wirk-
lich Integration wollen, müssen wir nämlich dafür Sorge
tragen, dass so früh wie möglich ein normaler Kontakt
zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern und
jungen Erwachsenen gepflegt und eingeübt wird, damit
das spätere Zusammensein, Zusammenleben und Zusam-
menarbeiten eine Selbstverständlichkeit wird. Wer Inte-
gration will, muss früh damit anfangen.

Kinder haben ja auch einen viel unkomplizierteren Zu-
gang zu allem, was mit Behinderungen zusammenhängt.
Sie müssen nur auch eine Chance bekommen, diesen Um-
gang zu pflegen. Deshalb lege ich auf diesen Aspekt sehr
viel Wert. Es wäre schön gewesen, wenn die Datenbasis
hier valider ausgefallen wäre, sodass es möglich gewesen
wäre, die Entwicklungen auf diesem Gebiet zu beobachten.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Und das darf nicht unterbrochen werden!)


Meine Damen und Herren, ich möchte einen anderen
Punkt nennen, bei dem die Antworten ebenfalls sehr un-
befriedigend ausfallen. Das betrifft den gesamten Bereich
der Sozial- und Eingliederungshilfe und die Frage des
Regresses. Aus Ihrer Darstellung, dass dazu keine Anga-
ben gemacht werden können, ergeben sich für mich zwei
Fragen: Zum einen frage ich mich, warum es Länder gibt,
die relativ detaillierte Angaben machen können – bei-
spielsweise kennen wir Zahlen aus Bayern und Hoch-
rechnungen für die Bundesrepublik Deutschland –, zum
anderen frage ich mich, auf welcher Datenbasis man ei-
gentlich Gesetze erarbeiten will.

Viele Praktiker vor Ort sagen ganz klar, dass der Re-
gress bei der Eingliederungshilfe eigentlich kaum eine
Rolle spielt, weil alle wissen, wie man ihn umgehen kann.
Das heißt also, dass sich mögliche Mehraufwendungen
bei einem Verzicht auf den Regress in überschaubaren
Grenzen halten und keine große Rolle spielen dürften.
Das kann man aber scheinbar nicht untermauern.




Claudia Nolte
12454


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich frage mich wirklich, wie man in den Verhand-
lungen mit den kommunalen Spitzenverbänden, mit den
Sozial- und Finanzministern der Länder und mit dem
eigenen Finanzminister in der Bundesregierung argumen-
tieren will, um zum Beispiel bessere Leistungen bei der
Eingliederungshilfe und der Rehabilitation oder andere
Strukturen für Behinderte zu erreichen, wenn man keine
valide Zahlenbasis hat. Ich will nun nicht einer Zunahme
der Bürokratie das Wort reden und glaube der Bundesre-
gierung, wenn sie sagt, dass die Sozialhilfestatistik diese
Dinge nicht erfasst und dass sie nicht aufgenommen wer-
den. Trotzdem, denke ich, ist es an der Zeit, hier die Da-
tenbasis zu verbessern, sodass man auf dieser Grundlage
auch Entscheidungen fällen und ordentliche Aussagen
machen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD)


– Die Richtigkeit dieser Aussage, Herr Kollege, hängt ja
wohl nicht von der Stärke des Beifalls ab.

Wir haben in der nächsten Zeit ein wichtiges Gesetzes-
vorhaben zu beraten. Das ist jedenfalls meine Hoffnung.
Es wurde angekündigt, dass hier demnächst die erste Le-
sung zum Sozialgesetzbuch IX stattfinden wird. Aber
auch dafür – viele Antworten auf unsere Große Anfrage
verweisen auf das zu schaffende SGB IX – braucht man
Daten. Deshalb besteht auch der Wunsch bzw. die Forde-
rung, hier entsprechend nachzuarbeiten und valide Zahlen
zu besorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Kollegen werden noch vertieft auf die Themen

„Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt“
und „Eingliederungshilfe“ zu sprechen kommen. Für
mich bleibt eigentlich nur festzuhalten, dass ich größere
Erwartungen an die Beantwortung unserer Fragen ge-
knüpft hatte und dass das, was wir hier vorliegen haben,
eine sehr schwache Datenbasis darstellt. Davon ausge-
hend können kaum politische Entscheidungen gefällt
werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412922700
Ich erteile nun das
Wort dem Beauftragten der Bundesregierung für die Be-
lange der Behinderten, dem Kollegen Karl-Hermann
Haack.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Der liefert jetzt die Daten nach)


Karl-Hermann Haack,Beauftragter der Bundesregie-
rung für die Belange der Behinderten: Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich
zunächst recht herzlich beim Bundesarbeitsministerium
für die ausführliche Beantwortung der Großen Anfrage
bedanken. Zugleich nehme ich die Kritik von Frau Nolte
auf und bestätige, dass es tatsächlich sehr schwierig ist,
valide Zahlen zu bekommen. Wir haben uns aber dafür
entschieden, im Rahmen der Neuordnung des gesamten

Behindertenrechts eine Berichtspflicht einzuführen. Da-
rüber, wie das organisiert werden kann, wird mit dem Sta-
tistischen Bundesamt und verschiedenen anderen Ein-
richtungen zu reden sein.

Wir haben heute Gelegenheit, meine sehr geehrten Da-
men und Herren, auf der Grundlage der Beantwortung der
Großen Anfrage auch darüber zu debattieren, wie sich die
Bundesregierung die Lebensentwürfe für Menschen
mit Behinderungen vorstellt. Wir begrüßen also die par-
lamentarische Anfrage der CDU/CSU-Fraktion sowie die
Antwort der Bundesregierung und wollen die Gelegenheit
nutzen, etwas tiefer in die Materie einzusteigen. In diesem
Zusammenhang möchte ich deutlich machen, wie ich die
notwendigen nächsten Reformschritte im Einzelnen sehe.
Für diese Reformschritte haben wir eine gemeinsame
Grundlage, nämlich die Entschließung vom 19. Mai die-
ses Jahres, in der wir uns einmütig auf eine bestimmte
Struktur der Reform des gesamten Behindertenrechts fest-
gelegt und festgeschrieben haben, wie wir den Menschen
mit Behinderungen Lebensperspektiven eröffnen wollen.

Die Anfrage der CDU/CSU-Fraktion besteht aus vier
Blöcken: erstens „Entwicklungsangebote für Kinder und
Jugendliche mit Behinderungen“, zweitens „Chancen für
Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Ar-
beitsmarkt“, drittens „Eingliederungshilfe und Nachrang
der Sozialhilfe“ und viertens „Menschen mit Behinderun-
gen und ihre Stellung in der Gesellschaft“. Im letzten
Block ist auch die Frage eines Gleichstellungsgesetzes
tangiert. Die Bundesregierung hat ausführlich geantwor-
tet, ich beschränke mich an dieser Stelle auf drei Perspek-
tiven der Behindertenpolitik.

Erstens erkennen wir den hohen Standard an, den die
Mittel und Einrichtungen der Behindertenhilfe in
Deutschland insgesamt erreicht haben. Dies ist nicht ein
Verdienst der Bundesregierung, die seit dem 28. Septem-
ber 1998 im Amt ist; das betone ich ausdrücklich. Es ist
eine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern und
Gemeinden, von den Wohlfahrtsverbänden und Kirchen,
die in den letzten 50 Jahren Enormes an Aufbauarbeit ge-
leistet haben.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Ein bisschen auch die alte Regierung!)


– Das war 16 Jahre lang die alte Regierung, die allerdings
auch einiges abgebaut hat. Das zu sagen wollte ich Ihnen
heute eigentlich ersparen.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Machen Sie aus Ihrem Herzen keine Mördergrube!)


Zweitens wird deutlich, dass dennoch die Notwendig-
keit besteht, neue Ansätze einzuflechten und Verbesse-
rungen mit den und für die betroffenen Menschen zu ge-
stalten, da sich in den letzten Jahren in der Betrachtung
der Lebensperspektiven von Menschen mit Behinderun-
gen ein Paradigmenwechsel angekündigt hat, der dem
Grundsatz gerecht zu werden versucht, vom Fürsorge-
prinzip weg und hin zu einer Form selbstbestimmten Le-
bens zu kommen, soweit dies in Rahmen eines Wunsch-
und Wahlrechtes sinnvoll und möglich ist.




Claudia Nolte

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(C)



(D)



(A)



(B)


Drittens können wir heute erläutern, in welcher Form
die Bundesregierung die notwendigen Reformen des Be-
hindertenrechtes vorantreibt.

Ich möchte mich vor allem dem zweiten und dem drit-
ten Punkt widmen.

Was ist mit neuen Ansätzen in der Behindertenpolitik
gemeint? Menschen mit Behinderungen definieren sich
selbst nicht mehr als Empfänger von sozialen Leistungen.
Das heißt, auch sozialpolitische Gesetzgebung findet vor
dem Hintergrund der Forderung statt, die Gleichstellung
von Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen. Alle
Maßnahmen fokussieren sich in Zukunft also auf dieses
gesellschaftspolitische Ziel. So heißt es dann auch in § 1
des Referentenentwurfs zum Sozialgesetzbuch IX, Ziel
dieses Gesetzes sei es, „ihre Selbstbestimmung und
gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
zu fördern“.

Die Forderung nach Teilhabe und Selbstbestimmung
heißt für uns aber auch, dass wir uns von der Vorstellung
verabschieden müssen, wir machten Gesetze für behin-
derte Menschen. Nein, wir brauchen den fortwährenden
Dialog mit den Betroffenen, den Austausch über ihre Er-
fahrungen und die Einbeziehung ihrer Kenntnisse in das
Gesetzgebungsverfahren. Dies ist eine wesentliche Vo-
raussetzung für eine erfolgreiche Reform des Behinder-
tenrechtes.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben
damit in vielfältiger Weise begonnen: Mit In-Kraft-
Treten des Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosig-
keit Schwerbehinderter hat die Bundesregierung einen
Kurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik für behin-
derte Menschen eingeleitet, der uns von einer Verwal-
tung des Mangels in eine Politik der aktiven Eingliede-
rung und Integration geführt hat. Eine grundlegende
Voraussetzung für dieses Gesetz war, dass die Vertreter
der Betroffenen, so der Deutsche Behindertenrat, aber
auch die Gewerkschaften und die Arbeitgeber, gemein-
sam die Kompromisslösungen entwickelt und getragen
haben, die als Teil des Gesetzes am 1. Oktober dieses Jah-
res in Kraft getreten sind. Auf der Ebene des Bündnisses
für Arbeit ist hier der Erfolg gesucht und auch erreicht
worden.

In diesen Tagen wird der Referentenentwurf für ein
Neuntes Buch des Sozialgesetzbuches diskutiert. Auch
hier haben wir aus zahlreichen Gesprächen Gewinn gezo-
gen, die wir mit Behindertenorganisationen, aber auch mit
behinderten Menschen geführt haben. Wir haben nicht
ausschließlich mit Vertretern der Verbandsebene geredet,
sondern insbesondere mit den Praktikern des selbstbe-
stimmten Lebens mit Behinderung, die beispielsweise an
Werkstattgesprächen der Koalitionsarbeitsgruppe „Behin-
dertenpolitik“ zum Sozialgesetzbuch IX teilgenommen
haben. Der Referentenentwurf füllt das aus, was Struktur-
vorgabe des gemeinsamen Antrages vom 19. Mai dieses
Jahres gewesen ist.

Das Sozialgesetzbuch IX wird auch durch die Veran-
kerung von Beteiligungsrechten dafür sorgen, dass an ent-
scheidenden Stellen, an denen es um die inhaltliche Ge-
staltung der Leistungen zur Teilhabe geht – etwa in der
Beratung und in der Sicherung der Qualität –, die Kom-
petenz der Behindertenorganisationen und der Selbsthil-
fegruppen eingebunden wird.

Auch durch den Kongress „Gleichstellungsgesetze
jetzt“, an dem auf Einladung des Deutschen Behinder-
tenrates und meiner Person etwa 700 Personen teilge-
nommen haben, konnte es gelingen, sich auf Wege zur Er-
arbeitung eines Entwurfes eines Gleichstellungsgesetzes
zu verständigen. Auch in diesem Punkt sind wir wieder
auf die Kenntnisse und die Kompetenz der selbst betrof-
fenen Menschen angewiesen. Die wesentliche inhaltliche
Grundlage des Kongresses war der Gesetzentwurf des Fo-
rums behinderter Juristinnen und Juristen. Als Experten in
eigener Sache haben sie ein Dokument zu einem Gleich-
stellungsgesetz erarbeitet, das auf diesem Kongress von
vielen Seiten große fachliche Anerkennung gefunden hat.


(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])

Die durchweg positive Resonanz der Teilnehmer des

Kongresses und die offensichtliche Bereitschaft von Ver-
tretern der Behindertenorganisationen und der Wirt-
schaftsverbände, die dort vertreten waren, miteinander
zielorientiert zu diskutieren, Gemeinsamkeiten zu finden
und nicht Trennendes zu betonen stellen wesentliche in-
haltliche Grundlagen für die weiteren Schritte zur Umset-
zung des Benachteiligungsverbotes des Grundgesetzes
dar.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


An dieser Stelle will ich bemerken, dass Vertreter aller
Bundestagsfraktionen teilgenommen haben und sich an
diesem Prozess beteiligt haben: Frau Nolte von der Frak-
tion der CDU/CSU, Herr Beck von der Fraktion der Grü-
nen, Frau Schwaetzer von der Fraktion der F.D.P., Herr
Seifert von der Fraktion der PDS und Frau Silvia Schmidt
von der Fraktion der SPD. Ihnen gebührt der Dank, dass
sie sich als Sprecher ihrer Fraktionen bereit erklärt haben,
an dieser Diskussion teilzunehmen. Darüber hinaus waren
Vertreter der Wirtschaft, der Verbände und anderer Orga-
nisationen anwesend. Es wird erwartet, dass Follow-up-
Konferenzen mit der Maßgabe stattfinden, Eckdaten für
ein Gleichstellungsgesetz zu entwickeln.

Wir werden unter meiner Führung in den nächsten
Wochen und Monaten die Ergebnisse des Kongresses aus-
werten. Mir liegt persönlich sehr viel daran, dabei wie-
derum die Kompetenz behinderter Menschen als Betrof-
fene von Barrieren und Diskriminierungen und auch als
juristische Experten einzubeziehen. Das Forum behin-
derter Juristinnen und Juristen hat sich angesichts der
Ergebnisse des Gleichstellungskongresses daran ge-
macht, seinen eigenen Entwurf zu überarbeiten, kritische
Einwände der Länder, des Deutschen Städte- und Ge-
meindebundes und der Wirtschaft zu berücksichtigen, um
eine weitere Plattform zu konstruieren, damit nächste
Schritte in Angriff genommen werden können. Das heißt,




Karl-Hermann Haack
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(C)



(D)



(A)



(B)


mit diesem Kongress sind die Gesprächsfäden weiter ge-
sponnen worden. Die Gespräche sind nicht abgeschlossen
worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich nenne drei strategisch wichtige Punkte, die wir in
den nächsten Monaten abarbeiten müssen.

Erstens geht es um den Begriff „Barrierefreiheit“.
Die 16 Landesbauordnungen in der Bundesrepublik
Deutschland zum Beispiel definieren die Begriffe
„Barrierefreiheit“ und „Zugänglichkeit“ unterschiedlich.
Der Punkt ist: Wir müssen uns auf Bundesebene mit den
Ländern, den Verbänden und den Organisationen auf ei-
nen inhaltlich juristisch tragenden Begriff von Barriere-
freiheit verständigen. Dieser Begriff muss politisch tragen
und in der konkreten Alltagsgestaltung umsetzbar sein
und er muss offen sein für Kompromisse.

Zweitens müssen wir im Zusammenhang mit dem
Gleichstellungsgesetz über eine plausible Stichtagsrege-
lung reden, wenn sich die Alltagssituation von Menschen
mit Behinderungen tatsächlich verändern soll. Die De-
batte mit der Wirtschaft wird sehr schwierig werden, aber
die Wirtschaft hat zugesagt, sich an dieser Debatte zu be-
teiligen und sich ihr nicht zu verschließen.

Drittens gehört zu einer mündigen Gesellschaft, dass
ein Gleichstellungsgesetz bei der Durchsetzung seiner
Ziele weniger auf Sanktionen setzt, sondern mehr darauf,
dass sowohl Betroffene als auch diejenigen, die über die
abstrakte und konkrete Infrastruktur im Alltag verfügen,
in unterschiedlichen Gebieten aufeinander zugehen und
Zielvereinbarungen treffen mit der Maßgabe, die Situa-
tion in konkreten Bereichen zu verändern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Ilja Seifert [PDS]: Und bei Nichteinhaltung?)


– Bei Nichteinhaltung, Herr Seifert, gibt es dann die
Stichtagsregelung. Aber ich bin der Meinung: In einer
Bürgergesellschaft, die sich im Prinzip der Aufklärung
verpflichtet, gehört es sich, zunächst einmal in einen ge-
meinsamen Dialog einzutreten. Sie sagen zu Recht, es
werde seit Jahren geredet; aber jetzt packen wir es wirk-
lich an. Wenn deutlich wird, dass ein solcher Dialog in be-
stimmten Bereichen unfruchtbar ist, soll die Stichtagsre-
gelung greifen mit der Maßgabe – wie das im elterlichen
Erziehungsrecht heißt –: Wer nicht hören will, muss
fühlen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Erika Lotz [SPD]: Das haben wir doch abgeschafft!)


– Nein, ich bin da anderer Meinung und wer mich kennt,
weiß, dass ich das ernst meine. – Sie können sich darauf
verlassen, dass das entsprechend in der Regelung stehen
wird.

Das am 1. Oktober in Kraft getretene Gesetz zur Be-
kämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter
habe ich bereits erwähnt. Wir werden vor dem Hinter-
grund der allgemeinen Verbesserungen auf dem Arbeits-
markt, die die Bundesregierung erreicht hat, auch das

ehrgeizige Ziel schaffen, 50 000 schwerbehinderte Men-
schen in Arbeit und Beruf einzugliedern.

Dies wird oft bezweifelt. Aber ich darf darauf hinwei-
sen, dass wir alle, egal in welchem politischen Lager wir
stehen, uns in unseren Wahlkreisen durch Dialog, Auf-
klärung und Gespräche an Kampagnen beteiligt haben,
die dazu dienen, dass Ausbildungsplätze bereitgestellt
werden. Diese Kampagnen waren jedes Jahr erfolgreich.
So glauben wir, dass eine solche Kampagne auch auf dem
Gebiet der Arbeitsbeschaffung für Menschen mit Behin-
derungen Erfolg haben wird, wenn wir als Abgeordnete
bereit sind, uns in unseren Wahlkreisen vor Ort entspre-
chend zu engagieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zu dem zweiten großen Reformvorhaben der Bundes-
regierung, dem SGB IX, ist in diesen Tagen der Referen-
tenentwurf vorgelegt worden. Wir werden also bald Gele-
genheit haben, uns in diesem Haus darüber auseinander zu
setzen. Dieser Entwurf steht im Zusammenhang mit der
Entschließung des Deutschen Bundestages vom 19. Mai
dieses Jahres. In dem entsprechenden Protokoll können
Sie das nachlesen, was Sie damals gemeinsam gewünscht
haben.

Im Sozialgesetzbuch IX geht es um den sozialpoliti-
schen Pfeiler unseres behindertenpolitischen Gesamtkon-
zeptes. Aus dem eingangs von mir dargestellten Zusam-
menhang von selbstbestimmter Integration und Teilhabe
wird klar, dass das Sozialgesetzbuch IX der sozialpoliti-
sche Instrumentenkasten sein muss, um Teilhabe tatsäch-
lich zu ermöglichen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412922800
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bun-
desregierung für die Belange der Behinderten: Nein, ich
habe nur noch 52 Sekunden.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412922900
Das wird doch nicht
angerechnet!

Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesre-
gierung für die Belange der Behinderten: Ach ja, dann
darf er.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412923000
Herr Kollege, bitte
schön, Ihre Zwischenfrage.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412923100
Vielen Dank, Frau Präsidentin,
dass Sie Herrn Haack aufgeklärt haben.

Herr Haack, Sie sprachen davon, dass das SGB IX der
„sozialpolitische Instrumentenkasten“ für die Teilhabesi-
cherung sein soll, und beriefen sich auf unsere gemein-
same Entschließung. Sagen Sie bitte: Warum ordnen Sie
das Bürgerrecht auf Anerkennung der deutschen Gebär-




Karl-Hermann Haack

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(C)



(D)



(A)



(B)


densprache in das Sozialgesetzbuch ein? Dafür gibt es
meines Erachtens keinen Grund. Das ist ein Bürgerrecht.
Sie können es in einem eigenen Gesetz regeln, das aus
zwei Sätzen besteht: Hiermit erkennt der Deutsche Bun-
destag die Gebärdensprache an. Die Kosten für das Dol-
metschen müssen übernommen werden.

Das hat nichts mit dem Sozialgesetzbuch zu tun.
Warum regeln Sie das auf die von Ihnen vorgesehene
Weise und nicht wie ein Bürgerrecht? Denn Sie sagten ge-
rade, Menschen mit Behinderungen empfänden sich nicht
mehr als Leistungsempfänger, sondern als mündige Bür-
ger, die entsprechende Leistungen in Anspruch nehmen
können.

Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundes-
regierung für die Belange der Behinderten: Ich möchte
Sie gerne aufklären: In einem Gleichstellungsgesetz wird
der Satz stehen: Die Gebärdensprache wird der Laut-
sprache gleichgestellt. – Der Satz, den Sie zitiert haben,
wird deswegen im SGB IX stehen, weil wir die rechtliche
Grundlage schaffen müssen, Leistungen, wie die Bereit-
stellung von Gebärdendolmetschern, zum Beispiel in be-
stimmten Alltagssituationen oder am Arbeitsplatz, so-
zialpolitisch zu ermöglichen. Wir wollen diese Stringenz
herstellen. Das ist der Grund, warum das dort stehen soll.
Dieses Problem wird also in beiden Gesetzen, im SGB IX
und in einem entsprechenden Gleichstellungsgesetz,
geregelt. Insofern ist das dann in Ordnung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Sozialgesetzbuch IX wird also, wie schon festge-
stellt, der sozialpolitische Instrumentenkasten sein, um in
unserer Gesellschaft eine Gleichstellung zu ermöglichen.
Das ist eine erneuerte und bürgernahe Sozialpolitik. Wir
lösen uns dadurch von dem reinen Fürsorgegedanken und
schaffen in Bezug auf entsprechende Leistungen statt ei-
ner Versorgungsstruktur eine Angebotsstruktur, mit der
Zielsetzung, sich in den Prozess der Emanzipation und der
gesellschaftlichen Teilhabe in unserer Gesellschaft einzu-
bringen. Das ist das Ziel des Sozialgesetzbuches IX.

Drei wichtige Komplexe will ich herausgreifen: Der
erste Punkt ist, dass die Träger der Sozial- und Jugend-
hilfe integriert werden sollen. Sie wissen, dass wir acht
Systeme kompatibel machen müssen und den Ver-
schiebebahnhof, der angesichts dieser acht verschiedenen
Systeme existiert, beenden müssen. Dies soll durch Koor-
dination und Kooperation der Leistungsträger im Bereich
der medizinischen, beruflichen und sozialen Integration
geschehen.

Der zweite Punkt ist, dass wir auf Landkreisebene Ser-
vicestellen, also Auskunfts- und Beratungsstellen, ein-
richten werden. Das ist etwas Neues. Wir wollen den
Grundsatz einführen: Die Dienstleistung folgt dem Men-
schen und nicht der Mensch der Dienstleistung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Bisher ist es so, dass alle diejenigen, die Leistungen in
Form von Teilhabe in der Gesellschaft in Anspruch neh-

men wollen, acht Versicherungssysteme abklappern müs-
sen, um zu erfahren, woher sie die entsprechende Leis-
tung bekommen. Das wird vereinfacht, indem wir auf
Landkreisebene die acht bestehenden sozialen Siche-
rungssysteme in Auskunfts- und Beratungsstellen zusam-
menfassen. Heute Morgen habe ich den Vertretern des
Hauptpersonalrates der BfA gesagt: Damit werden keine
neuen Bürokratien aufgebaut. Vielmehr können solche
Auskunfts- und Beratungsstellen von der Selbstverwal-
tung im Wege der Zusammenführung bestehender perso-
neller Kapazitäten eingerichtet werden.

Der dritte Punkt ist: Die Mitwirkungs- und Beteili-
gungsrechte der Betroffenen werden sichergestellt. Das
heißt, auch da lösen wir ein, was den Organisationen ver-
sprochen worden ist.

Ich lade Sie ein, auf der Grundlage des gemeinsam am
19. Mai dieses Jahres verabschiedeten Antrages den in
diesem Zusammenhang vorliegenden Gesetzentwurf ei-
ner kritischen Prüfung zu unterziehen. Der Beratungspro-
zess wird weiterhin offen gestaltet werden. Wir freuen uns
schon darauf, mit Ihnen über das SGB IX zu diskutieren.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412923200
Es ist in der Tat so,
dass gemäß der Geschäftsordnung die Antwort auf eine
Zwischenfrage nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
Ich will damit aber niemanden ermuntern, pausenlos
Zwischenfragen zu stellen. Ich selbst habe, als ich noch
aktiver war, dieses Instrument sehr häufig genutzt. Denn
man kann in einer solchen Zwischenfrage sehr viel unter-
bringen; aber bitte nicht heute Abend.

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Heinrich Kolb,
F.D.P.-Fraktion.


(Claudia Nolte [CDU/CSU]: Ich hätte mal eine Zwischenfrage!)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1412923300
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es hat mich verwundert, dass
Kollege Haack, der doch eine gewisse Erfahrung hat, an
dieser Stelle ermuntert werden musste, eine Zwischen-
frage zuzulassen. Aber ich finde es gut, dass er dem
gefolgt ist. Auch ich bin bereit, Zwischenfragen zuzu-
lassen – das sage ich schon einmal vorab –, und dies nicht
nur deswegen, weil ich eine Redezeit von nur sieben
Minuten habe.


(Heiterkeit)

Kollegin Nolte hat zu Recht darauf hingewiesen, dass

die heutige Debatte nicht einfach ist, wenn man die Ta-
gesordnung wörtlich nimmt. Denn es geht um die Bera-
tung der Antwort der Bundesregierung auf die Große An-
frage der CDU/CSU zur Reform des Behindertenrechts.
Die Antwort der Bundesregierung umfasst zwar 41 Seiten
bedrucktes Papier; aber deren Inhalt gibt für diese Debatte
nicht sehr viel her.




Dr. Ilja Seifert
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(C)



(D)



(A)



(B)


Eine Sache ist mir dann aber doch aufgefallen.

(Dirk Niebel [F.D.P.]: Wenigstens eine Sache ist ihm aufgefallen!)

Dazu gibt es, Herr Haack, konkrete Zahlen. Denn in Vor-
bereitung des Entwurfes eines Gesetzes zur Verbesserung
der Beschäftigung Schwerbehinderter wurde ein wenig
Recherche betrieben. Es geht um die Beschäftigung von
Schwerbehinderten auf dem ersten Arbeitsmarkt. Sie be-
richten uns, dass die Zahl der behinderten Beschäftigen
bei den beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern, also
denen, die mehr als 16 Beschäftigte haben, seit 1980
sinkt. Das waren 1980 noch 879 000, 1989 nur noch
739 000 und 1998 schließlich nur noch 666 000, wovon
586 000 im Westen arbeiten. Allerdings – das ist auch in-
teressant – ist ebenfalls die Arbeitslosenquote der Schwer-
behinderten im gleichen Zeitraum zurückgegangen, näm-
lich von 7,6 im Jahr 1980 auf nunmehr 5,7.

Im gleichen Zeitraum ist die Ausgleichsabgabe ge-
stiegen. Bei der Debatte im Rahmen des Gesetzes zur Ver-
besserung der Beschäftigung Schwerbehinderter haben
wir darüber ja diskutiert. Das heißt, dass sich die Unter-
nehmen offensichtlich eher freikaufen, als einen Schwer-
behinderten einstellen. Herr Haack, das ist die eine Seite,
die vielleicht nicht ganz überraschend ist.

Was ich mit Interesse zur Kenntnis genommen habe, ist
die andere Seite, dass in den Ausführungen der Bundesre-
gierung nämlich steht, dass der Beschäftigungsanteil
Schwerbehinderter bei den nicht beschäftigungspflichti-
gen Unternehmen im gleichen Zeitraum von 63 000 auf
109 000 angestiegen ist, sich also nahezu verdoppelt hat.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das muss man sich doch einmal – ich habe das getan –

auf der Zunge zergehen lassen und man muss sich fragen,
weshalb die Entwicklung, also auf der einen Seite Rück-
gang, wo Beschäftigung Pflicht ist, auf der anderen Seite
Beschäftigungsausbau, wo es keine Beschäftigungs-
pflicht gibt, so ist, also praktisch die Freiwilligkeit zum
Tragen kommt. Bedauerlicherweise sind die Zuwächse
bei den beschäftigungspflichtigen Unternehmen nicht
nach Größenklassen aufgeschlüsselt worden. Ich könnte
mir vorstellen, dass die Zuwächse gerade in den Berei-
chen stattfinden, in denen es den besonderen Kündi-
gungsschutz für Schwerbehinderte nicht gibt.

Hier sollten wir – dazu lade ich wirklich ein – noch ein-
mal offen miteinander nachdenken. In dem Gesetz zur Be-
schäftigung Schwerbehinderter haben Sie die Regelung
für Betriebe mit bis zu 50 Beschäftigten bewusst locker
gelassen. Es gibt auch ganz kleine Unternehmen, in denen
der besondere Kündigungsschutz nicht gilt. Wir sollten
überlegen, was wir in dem Zwischenbereich, also den
kleinen bis mittleren Unternehmen, tun können, um auch
sie mehr als bisher, möglichst auf der Basis der Freiwil-
ligkeit, in die Beschäftigung von Schwerbehinderten ein-
zubeziehen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Herr Haack, Sie haben ja selbst den Vorwurf der In-

haltslosigkeit, den auch ich mir zu Eigen mache, dadurch
unterstrichen, dass Sie in die Zukunft geschaut und ge-
fragt haben: Was wollen wir da jetzt machen?

Ich muss dazu eine Bemerkung machen. Sie haben ge-
sagt, das müsse man alles an dem gemeinsamen Beschluss
messen, den am 19. Mai dieses Jahres alle Fraktionen die-
ses Hauses gefasst haben. Dieser Beschluss ist wichtig.
Wir stehen dazu. Ich freue mich, dass er so zustande ge-
kommen ist. Er stellt so etwas wie einen gemeinsamen
Nenner der behindertenpolitischen Auffassungen in die-
sem Haus dar. Aber Sie müssen schon zulassen, dass wir
Sie nicht nur daran messen, Herr Haack, sondern natürlich
auch an dem, was Sie vor der letzten Bundestagswahl und
auch kurz danach gesagt haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Da fällt mir auf, dass es an der einen oder anderen

Stelle Wunden gibt, in die wir natürlich nicht zögern wer-
den den Finger zu legen und an ihnen vielleicht auch noch
ein bisschen zu rühren.

Ich will einige Aspekte nennen. Mir fällt dazu die
Frage der Nachrangigkeit der Sozialhilfe ein. Von Ihrer
Seite gab es dazu immer wieder sehr vollmundige Aussa-
gen,


(Claudia Nolte [CDU/CSU]: Ein Leistungsgesetz haben sie gefordert!)


dass das eigentlich ein Urübel der Versorgung behinderter
Menschen in unserem Land sei. Dazu ist – zumindest ge-
messen an dem, was wir bisher kennen – in Ihrem Ge-
setzentwurf nichts enthalten. Nun kann man sagen: Na
gut, er ist jetzt in der Evolution vom Diskussionsentwurf
über mehrere Vorreferentenentwürfe immerhin zum nicht
abgestimmten Referentenwurf mutiert;


(Adolf Ostertag [SPD]: Das ist in jedem Gesetzgebungsverfahren so üblich!)


da passiert vielleicht noch etwas, bis das Ganze im Ge-
setzgebungsverfahren in erster Lesung hier landet. – Ich
muss dazu sagen: Die Nachrangigkeit der Sozialhilfe ist
eine zentrale Forderung, an der wir Sie messen werden.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es ist sicherlich wichtig und richtig, dass jetzt Bera-

tungsstellen geschaffen werden und ein Behinderter nicht
mehr von Pontius zu Pilatus laufen muss, um am Schluss
zu wissen, in welcher Höhe und vor allen Dingen gegen
wen er einen Anspruch hat. Wir müssen – weil das meines
Erachtens mit Art. 3 Abs. 3 auf Dauer nicht vereinbar
ist – den unwürdigen Zustand der Nachrangigkeit der So-
zialhilfe beenden, weil er insbesondere in den Bereichen,
in denen behinderte Menschen den Schutz und die Be-
treuung einer Werkstatt für Behinderte suchen, zu unwür-
digen Zuständen führt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Jetzt wäre übrigens der richtige Zeitpunkt, mir eine

Zwischenfrage zu stellen. Meine Redezeit läuft nämlich
ab.


(Heiterkeit)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412923400
Die würde ich jetzt
nicht mehr zulassen, Herr Kollege.




Dr. Heinrich L. Kolb

12459


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1412923500
Wir sind in der Situa-
tion, dass erstmals nach dem Kriege in Deutschland eine
Generation behinderter Menschen in die Lage kommt,
Vermögen zu erben. Ich werde nicht müde, zu sagen – das
muss infolge Zeitablaufs mein letzter Punkt sein –: Eine
Neuregelung muss es auch leisten, dass behinderte Kinder
nicht mehr gegenüber ihren nicht behinderten Geschwis-
tern benachteiligt werden


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

und dass auf irgendwelche Stiftungskonstruktionen
zurückgegriffen wird. Es muss vielmehr möglich sein
– auch das verstehe ich unter gleichberechtigter Teil-
habe –, dass diese Menschen einen neuen Status bekom-
men und eben nicht mehr mit der Sozialhilfe abgefunden
werden und vor allen Dingen nicht mehr ihr Vermögen
einbringen müssen.

Ich hätte gern noch mehr zu anderen Fragen gesagt, die
in Ihrem Entwurf offen sind, aber Sie haben uns ja Hoff-
nungen gemacht, dass der abgestimmte Referentenent-
wurf jetzt bald vorliegen und die erste Lesung stattfinden
wird. Dann werde ich gern Gelegenheit nehmen, die wei-
teren Punkte vorzutragen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412923600
Das Wort hat nun Kol-
legin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Nolte, dass Ihnen die Vorbereitung auf diese Debatte
schwer gefallen ist, mag ja auch daran liegen, dass Sie die
Bewegung, die in die Behindertenpolitik gekommen ist,
anerkennen,


(Claudia Nolte [CDU/CSU]: Ich habe das anders begründet!)


dass wir eine ganze Reihe von sehr, sehr positiven Maß-
nahmen schon ergriffen haben und auch noch ergreifen
werden.

Auf einen Punkt, den Sie hier angesprochen haben,
würde ich gern eingehen, weil er mich mindestens ge-
nauso aufregt wie Sie: Das ist die Integration von behin-
derten Kindern gerade in Regelschulen. Ich bitte Sie ein-
fach, einen Blick in das von uns beiden geliebte Thüringen
zu werfen, weil gerade dort die Integration von behin-
derten Kindern an Regelschulen das wohl Hinterwäld-
lerischste ist, was wir in Deutschland haben. Dazu kann
ich nur sagen: Hier regiert die Union allein, hier könnte
man Integration verwirklichen. Schon bei Einzelfällen,
deren ich mich angenommen habe, war es katastrophal
schwierig, nur an der einen oder anderen Stelle dafür zu
sorgen, dass es solche Integration tatsächlich gibt. Hier ist
nicht der Ruf nach mehr Zahlen, sondern eindeutig das
Engagement im eigenen Bundesland der richtige Ansatz-
punkt.


(Beifall der Abg. Erika Lotz [SPD] – Zuruf von der CDU/CSU: Einsamer Beifall der Abgeordneten Lotz von der SPD!)


Trotzdem freut es mich, dass wir aufgrund dieser An-
frage hier diskutieren können.

Ich möchte keine weitere Rückschau auf das, was
während der Zeit der alten Bundesregierung passierte
oder auch nicht passierte, halten, sondern mich auf das,
was wir in der ersten Halbzeit dieser Legislaturperiode
geschafft haben, und auf das, was wir uns noch vorge-
nommen haben, konzentrieren. Über einiges davon ist
hier schon diskutiert und berichtet worden.

Neben den Verbesserungen, die wir bereits in der Ge-
sundheitsreform für Menschen mit Handicap durch-
setzen konnten – ich erinnere besonders an die Stärkung
der Selbsthilfe, die ja eine ganz zentrale Frage für Men-
schen mit Behinderung ist –, haben wir im Sommer das
Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwer-
behinderter verabschiedet. Wir können dazu heute natür-
lich noch keine Bilanz ziehen, denn es ist erst vor ein paar
Tagen in Kraft getreten. Dennoch sind wir der Meinung,
dass die spezifische Arbeitslosigkeit von Menschen mit
Behinderung in unserem Land immer noch viel zu hoch
ist. Sie zu senken, darauf zielen die entsprechenden Maß-
nahmen in unserem Gesetz, das zusammen mit Arbeitge-
bern, Arbeitnehmern, Gewerkschaften und Behinderten-
verbänden verabredet worden ist.

Wir wollen in den nächsten zwei Jahren
50 000 Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap zusätz-
lich schaffen. Die Bundesregierung beabsichtigt, die Mit-
tel aus der Ausgleichsabgabe zukünftig vorrangig für die
Integration von Behinderten am allgemeinen, also am ers-
ten Arbeitsmarkt einzusetzen. Dazu gehört die Förderung
und der Auf- und Ausbau von Integrationsfachdiensten,
dazu zählen Arbeitsmarktprogramme für besondere Grup-
pen von Schwerbehinderten, die Ausbildung von Jugend-
lichen und die berufliche Förderung und Integration von
schwerbehinderten Frauen.

Ich glaube, die Tatsache, dass wir am ersten Arbeits-
markt den deutlichen Schwerpunkt setzen, zeigt in der
Tat, dass wir es hier mit einem Paradigmenwechsel zu tun
haben. Gerade wir Grüne haben immer eingefordert, dass
Menschen mit Handicap – im Übrigen für jeden von uns
selbstverständlich – das Recht auf Selbstbestimmung und
gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
zugestanden wird. Auch dafür stehen die bisherigen ge-
setzlichen Initiativen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deswegen freut es mich besonders, dass wir im novel-
lierten Schwerbehindertengesetz endlich den Rechtsan-
spruch auf Arbeitsassistenz festschreiben konnten. Die
entsprechenden Verordnungen werden erstellt und damit
erhoffen wir uns ganz wesentliche Verbesserungen für die
Betroffenen. Statt wie vormals viel zu schnell in Sonder-
einrichtungen gefördert und „aufbewahrt“ zu werden, be-
kommt nun jede und jeder, die das möchten, individuelle
persönliche Hilfe. Das bedeutet: Keine Aussonderung
mehr von Menschen mit Behinderungen.

Dazu zählen auch die Integrationsfachdienste, die seit
Jahren eine gute Arbeit vor Ort leisten und eine wichtige






(C)



(D)



(A)



(B)


Lücke in der Vermittlung von schwerbehinderten Men-
schen gefüllt haben.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das haben wir gut gemacht damals!)


Und dazu zählen die Integrations- und Teilzeitfirmen, die
längst ihren Platz insbesondere im Dienstleistungsbereich
gefunden haben.

Die neue Politikausrichtung findet sich auch im ge-
planten Sozialgesetzbuch IX – Rehabilitation und Teil-
habe von Menschen mit Behinderungen. Nach zahlrei-
chen Beratungen mit den Behindertenorganisationen, den
Vertretern der Länder und der Sozialleistungsträger hat
das federführende Ministerium einen Referentenentwurf
vorgelegt. Wir werden darüber in den nächsten Wochen zu
diskutieren haben. Lassen Sie mich jedoch bereits auf ei-
nige Punkte eingehen, die uns in diesem Zusammenhang
besonders wichtig sind.

Grundsätzlich geht es darum: Rehabilitation soll früh
und umfassend geleistet werden. Dazu bedarf es einer
raschen Abklärung des Rehabilitationsbedarfs; Herr
Dr. Kolb hat es angesprochen. Hierzu werden Service-
stellen eingerichtet, die nicht nur beraten sollen, sondern
die den Rehabilitationsbedarf feststellen und den Rehabi-
litationsträger ausfindig machen sollen, die den Men-
schen während des gesamten Zeitraums der Antragstel-
lung zur Seite stehen und die Hilfe zwischen Trägern und
Beteiligten koordinieren, die von der Antragstellung bis
zum endgültigen Bescheid Unterstützung leisten und da-
rauf drängen, dass eine rasche Bearbeitung der jeweiligen
Anträge erfolgt. Wir können uns natürlich vorstellen, dass
solche Servicestellen einen noch viel weiter gefassten
Auftrag erhalten, denken aber, dass dies ein erster wichti-
ger Schritt ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der F.D.P.)


Außerdem geht es natürlich darum, den Fokus auf am-
bulante Maßnahmen zu richten. Dazu gehört die Ermög-
lichung – und auch das ist ein wirklich großer Schritt nach
vielen Jahren Behindertenbewegung – eines persönli-
chen Budgets, mit dem sich die Betroffenen ihre Hilfe
selbst organisieren können, mit dem sie endlich mehr
Wahlmöglichkeiten bekommen.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Aber nicht à la Rheinland-Pfalz!)


– Nicht à la Rheinland-Pfalz; da sind wir uns einig, Herr
Seifert. Trotzdem ist, glaube ich, das persönliche Budget
ein riesiger Schritt, den wir auch gemeinsam gehen soll-
ten.

Eine seit vielen Jahren erhobene Forderung setzen wir
nun um: Die Sozialhilfe und die Jugendhilfe werden in
den Kreis der Rehabilitationsträger aufgenommen. Was
uns wichtig ist: Die Verbände und die Selbsthilfegruppen,
einschließlich der Interessenvertretungen behinderter
Frauen, bekommen explizit festgeschriebene Beteili-
gungsrechte, und zwar nicht nur beim Erstellen und bei
der Diskussion der Gesetzentwürfe, wie wir das in der
Vergangenheit gehandhabt haben, sondern sie werden an
der Erarbeitung der Vereinbarungen mit dem Rehaträger,

an der Bereitstellung der erforderlichen Rehabilitations-
einrichtung und -dienste, an der Vorbereitung der Verein-
barungen eines gemeinsamen Qualitätssicherungssys-
tems der Rehaträger, an den gemeinsamen Servicestellen
und an der Beratung sowie der Erörterung des Berichts
der Rehaträger über die mit den gemeinsamen Service-
stellen gemachten Erfahrungen beteiligt


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– ein sehr umfassendes Beteiligungsrecht. Ich glaube,
dass das auch eine neue Qualität in die Bearbeitung bringt,
eine neue Qualität vor allem auch im Sinne von Selbstbe-
stimmung.

Dienstleistungen und Einrichtungen sollen Menschen
mit Handicap einen möglichst weiten Raum für eine ei-
genverantwortliche und selbstbestimmte Gestaltung des
Lebens belassen bzw. ermöglichen. Wir stärken das
Wunsch- und Wahlrecht.

Lassen Sie mich auch noch ein Wort zur Gebärden-
sprache sagen, Herr Dr. Kolb, dazu, weshalb die Gebär-
densprache – Herr Haack hat es schon erwähnt – bereits
im SGB IX eine Rolle spielt.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)

Das eine ist natürlich, dass wir die Maßnahmen des
SGB IX, die vermutlich vor den Bestimmungen des Anti-
diskriminierungsgesetzes in Kraft treten werden, darauf
abstimmen wollten, dass hörbehinderte Menschen diese
Maßnahmen auch tatsächlich in Anspruch nehmen kön-
nen und die entsprechenden Hilfen bekommen, und dafür
Sorge tragen wollten, dass die entsprechenden Kriterien
entwickelt werden. Zugleich ist es – da stimmen wir voll-
kommen überein – notwendig, das im Antidiskriminie-
rungsgesetz zu machen. Ich gebe zu, dass die Reihenfolge
ungewöhnlich ist. Aber ich glaube, es geht im Wesentli-
chen darum, dass diejenigen, die davon betroffen sind, das
tatsächlich in Anspruch nehmen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsge-
setz – ich habe es gerade erwähnt – wird das dritte große
Vorhaben sein.

Der Gleichstellungskongress ist hier bereits erwähnt
worden.

Wir können feststellen, dass Gleichstellung für Men-
schen mit Handicap inzwischen auf einen breiten gesell-
schaftlichen Konsens bis hinein in die Wirtschaft stößt.
Deshalb werden wir konsequent dafür eintreten, dass das
Versprechen der Koalition, ein Antidiskriminierungsge-
setz für Menschen mit Behinderungen in dieser Legisla-
turperiode auf den Tisch zu legen, eingehalten wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben als Fraktion ein Eckpunktepapier auf
Grundlage des Gesetzentwurfes der behinderten Juristin-
nen und Juristen verabschiedet und werden es schon in der
nächsten Woche in die Arbeitsgruppe der Koalition zu
diesem Thema einbringen. Wir setzen uns dabei für die
barrierefreie Gestaltung neuer öffentlicher Verkehrsmittel




Katrin Göring-Eckardt

12461


(C)



(D)



(A)



(B)


und Gebäude ein. Wir setzen uns dabei für eine bürger-
rechtsorientierte Definition von Behinderung ein. Wir set-
zen uns für wirksame Durchsetzungsinstrumente wie ein
Verbandsklagerecht ein – auch hier ein Wechsel im Para-
digma. Wir setzen uns für die Verbesserung der Gleich-
stellung behinderter Frauen und für den Abbau von Bar-
rieren im Bereich der Kommunikation – wir haben gerade
darüber gesprochen – für hör- und sehgeschädigte Men-
schen ein.

Auch dabei geht es um die Einbeziehung der Betrof-
fenen. Der Kongress war dafür, wie ich denke, ein wirk-
lich guter Beginn. Ich hoffe, dass der Wechsel in der He-
rangehensweise an solche Methoden nicht daran scheitert,
dass wir uns parteipolitisch auseinander dividieren. Viel-
mehr sollten wir das in der Tat gemeinsam diskutieren.

„Behindert ist man nicht, behindert wird man“, wie der
Slogan der Aktion Grundgesetz richtig sagt. Dem gilt es
weiter entgegenzutreten. Ich glaube, dass wir mit dem,
was wir getan haben, und mit dem, was wir in dieser Le-
gislaturperiode noch vorhaben, an dieser Stelle wirklich
auf dem richtigen Weg sind, und zwar nicht mit kleinen
Trippelschritten, sondern mit großen Schritten. Es gilt,
weiter Barrieren und Behinderungen durch die Gesell-
schaft abzubauen. Ich wünsche uns, dass wir das gemein-
sam in aller Konsequenz tun können.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412923700
Das Wort für die PDS-
Fraktion hat der Kollege Dr. Ilja Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412923800
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf
den Tribünen! Die erste Hälfte der Legislaturperiode kann
man als Zeit der Ankündigungen verbuchen. Die zweite
Hälfte der ersten Hälfte war die Zeit der Vorentwürfe,
Rohentwürfe, Vorrohentwürfe und Rohvorentwürfe. Ich
will darauf hinweisen: Inflation entwertet. Wenn man ir-
gendetwas zu oft ankündigt, zu oft vorlegt, immer wieder
verändert und meistens eher verschlimmbessert, wird es
immer wertloser.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das geht ja leider bis in die Gesetzgebung bei denen! Das ist das Problem!)


Jetzt sollen wir in die Phase der Taten eintreten, wenn
ich Herrn Haack richtig verstanden habe. Ich bin gerne be-
reit, diese Debatte dazu zu nutzen, darüber zu reden. Denn
die Antwort auf die Große Anfrage ist wirklich der Rede
nicht wert.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Leider wahr!)

Die Große Anfrage – das will ich gern konzedieren, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU – ist
schon okay. Aber die Antwort ist nicht der Rede wert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.] – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Wo er Recht hat, hat er Recht!)


Nun aber zur Sache. Jetzt geht es also in die Phase des
Umsetzens. Wir haben das Schwerbehindertengesetz no-
velliert. Wir wollen einmal abwarten, welche Wirkungen
es entfaltet. Fakt ist, dass dort zwar ein Rechtsanspruch
auf Arbeitsassistenz formuliert wurde, aber nicht drin
steht, was Arbeitsassistenz ist. Wenn ich jetzt von den
Hauptfürsorgestellen, den Integrationsfachdiensten und
sonstigen Leuten, die damit beschäftigt sind, erfahre, dass
es darauf hinausläuft, dass sich Assistenten einen Behin-
derten „halten“ und damit eine Beschäftigung für sich ha-
ben, dann kann das nicht der Zweck des Schwerbehinder-
tengesetzes sein.

Wir sollten in dieser Woche Ihr neu vorgelegtes Er-
werbsminderungsrentengesetz verabschieden. Es ist doch
symptomatisch, dass es nicht daran gescheitert ist, dass
die dort festgelegten Leistungen schlecht sind und Men-
schen mit Behinderungen daran hindert zu arbeiten,
sondern daran, dass der Verschiebebahnhof zwischen ge-
setzlicher Rentenversicherung und gesetzlicher Kran-
kenversicherung aufgeflogen ist. Wenn es weiterhin im-
mer nur auf das Monetäre hinausläuft und nicht die
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben der
Gemeinschaft im Mittelpunkt steht – das Projekt scheitert,
wenn dieser Teilhabeaspekt zu gering oder gar nicht vor-
handen ist –, dann sehe ich nicht den Paradigmenwechsel,
von dem Sie hier immer reden. Es nützt nichts, davon zu re-
den. Sie müssen handeln. Hier bin ich wieder bei meinem
einleitenden Satz, dass Inflation entwertet. Reden Sie nicht
so häufig von einer Sache, sondern tun Sie lieber etwas!

Erlauben Sie mir noch einmal darauf hinzuweisen:
Wenn wir Gleichstellung erreichen wollen, dann reicht es,
liebe Frau Kollegin Göring-Eckardt, nicht aus, ein Anti-
diskriminierungsgesetz zu machen, sondern dann brau-
chen wir neben dem Verbot der Diskriminierung auch
noch das Gebot der Gleichstellung. Das wiederum geht
nicht ohne einen realen Nachteilsausgleich. Es gibt nun
einmal bestimmte Benachteilungen, die in den Behinde-
rungen begründet sind. Dafür können die Menschen
nichts, die diese Handicaps haben, sondern die meisten
dieser Behinderungen werden von anderen verursacht:
durch Stufen, durch unbenutzbare Straßenbahnen und
Busse, durch unbedachtsames Verhalten und so weiter.
Diese Nachteile müssen konkret ausgeglichen werden.
Dann bringen ein Diskriminierungsverbot und ein Gleich-
stellungsgebot wirklich reale Verbesserungen im Leben.

Dazu brauchen wir das Leistungsgesetz. Sie haben
aber klipp und klar gesagt, dass Sie dies nicht machen
wollen. All das, was Sie sagen und tun, darf am Ende
nichts kosten. Wer in der Behindertenpolitik ehrlich ist,
der weiß, dass die echte Verbesserung der Teilhabe von
Menschen mit Behinderungen am Leben der Gemein-
schaft Geld kostet. Dass es am Ende in einer gesellschaft-
lichen Gesamtrechnung etwas bringt, will ich nicht groß
ausführen. Aber erst einmal muss vonseiten des Staates
und auf allen Ebenen – von der Kommune über den Land-
kreis, das Land und den Bund bis zur EU – etwas getan
werden. Das kostet Geld, Initiativen und Ideen. Es gilt,
nicht nur zu reden; denn das führt dazu, dass am Ende gute
Gedanken eher inflationär entwertet werden.




Katrin Göring-Eckardt
12462


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich danke Ihnen trotz des Dazwischenmurmelns für die
Aufmerksamkeit. Ich gehe davon aus, dass zumindest
draußen im Lande das gehört wird, was hier gesagt wird.
Vor allen Dingen wird darauf geachtet, was Sie wirklich
tun.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412923900
Der nächste Redner ist
der Kollege Matthäus Strebl für die Fraktion der
CDU/CSU.


Matthäus Strebl (CSU):
Rede ID: ID1412924000
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn
ich die gestrigen Arbeitsmarktzahlen aus Nürnberg be-
trachte, dann stelle ich fest, dass sie eine leichte Entspan-
nung zeigen. Dieser Arbeitsmarkttrend ist im Übrigen
nicht das Produkt dieser Bundesregierung. Die stärkste
Entspannung auf dem Arbeitsmarkt hatten wir bereits
– ich darf daran erinnern – 1998 mit über 400 000 Ar-
beitslosen weniger.

Die demographische Entwicklung – mehr Arbeitneh-
mer gehen in Rente, als junge Arbeitnehmer nachkom-
men –, aber auch die Neugestaltung der geringfügigen Be-
schäftigungsverhältnisse haben die Wirkungen in diesem
Jahr zumindest statistisch verstärkt. Bei aller Bescheiden-
heit: Diese Bundesregierung erntet die Früchte, die ihre
Vorgängerregierung gesät hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Die Arbeitslosigkeit von Behinderten verläuft parallel
zur allgemeinen Arbeitslosigkeit. Deshalb sind Wachstum
und die Bekämpfung der allgemeinen Arbeitslosigkeit
auch Schritte zur Integration von Behinderten auf dem Ar-
beitsmarkt. Erst wenn dieses Ziel umfassend erreicht ist,
haben wir das Diskriminierungsverbot, das die unionsge-
führte Bundesregierung am 27. Oktober 1994 im Grund-
gesetz verankerte, mit Leben erfüllt.

Heute geht es in der Behindertenpolitik weniger um
Fürsorge als vielmehr um Hilfe zur Selbsthilfe;


(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Das war schon vor zehn Jahren so! Schön, dass Sie das jetzt merken, Herr Strebl!)


es geht um die Selbstbestimmung von behinderten Men-
schen. Deshalb unterstützen wir das Vorhaben, in einem
Sozialgesetzbuch IX das Behindertenrecht zu straffen,
Überschaubarkeit zu schaffen und eine höhere Effizienz
zu erreichen. Das geht jedoch nicht zum Nulltarif, meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. Wir werden
auch zusätzliche Gelder – so möchte ich feststellen – mo-
bilisieren müssen. Darüber sollten wir ehrlich diskutieren.

Mittelpunkt all unserer Bemühungen muss jedoch die
Vermittelbarkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt sein. Von
daher sind die Bemühungen der Arbeitsämter zu verstär-
ken, um eine wirksame Hilfe zur Integration zu sein. Wie
dringend diese Aufgabe ist, zeigt die Zahl von über
800 000 Bewerbern für Ausbildungsstellen – davon

39 000 Behinderte –, die im letzten Jahr bei der Bundes-
anstalt für Arbeit gemeldet waren. Von diesen 39 000 ha-
ben 6 729 eine betriebliche Ausbildung begonnen.

Dass diese Integration nicht nur menschlich geboten,
sondern auch finanziell sinnvoller ist, versteht sich von
selbst. Ein wichtiges Instrument kann die persönliche Ar-
beitsassistenz sein. Sie entlastet das Unternehmen oder
auch die Dienststelle und schafft eine Vertrauensgrund-
lage für die Betroffenen. Grundsätzlich halte ich sehr viel
von der Idee, vorrangig den Menschen selbst zu fördern,
beispielsweise über ein persönliches Budget.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die skandinavischen Länder zeigen uns, wie aus Leis-

tungsempfängern auf dem Dienstleistungsmarkt Kunden
werden.


(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Das wissen wir! Das muss uns niemand erzählen!)


Dies stärkt das Selbstwertgefühl und fördert die Selbstbe-
stimmung des behinderten Menschen. Eine Verlagerung
von der Objektförderung zur Subjektförderung sollten wir
parteiübergreifend nicht nur bei diesem Thema, sondern
auch bei der Familienförderung prüfen und ebenfalls dis-
kutieren. Die 7 Millionen Behinderten fordern unsere So-
lidarität. Diese müssen wir auf allen Ebenen leisten.

Wie sieht es mit barrierefreiem Bauen aus – auch
wenn sich ein Unternehmen neu gründet?


(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Das werde ich gleich erzählen!)


Durch Neugründungen entstehen die meisten Arbeits-
plätze gerade in kleinen und mittleren Unternehmen. Des-
wegen sollten die Förderrichtlinien hier ebenfalls verein-
facht werden.

Wir könnten uns auch ein Kombilohnmodell vorstel-
len, das über die Sozialhilfe und über die Arbeitslosen-
hilfe behinderten Menschen, wenn sie eine Arbeit auf-
nehmen, einen höheren Hinzuverdienst ermöglicht.
Warum sollte es bei dieser Zielgruppe nicht möglich
sein – meinetwegen befristet auf fünf Jahre –, ein Er-
werbseinkommen mit einem 25-prozentigen Zuschuss
aus der Sozialhilfe oder der Arbeitslosenhilfe zu kombi-
nieren?


(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Das gibt es doch schon!)


Lohnkostenzuschüsse auf dem ersten Arbeitsmarkt helfen
den Unternehmen und den Arbeitnehmern, die dann eine
neue Perspektive finden. Sozialhilfe und Arbeitslosen-
hilfe könnten so als Brücke auf den Arbeitsmarkt genutzt
werden. Hierüber bieten wir eine vorurteilsfreie und er-
gebnisoffene Diskussion an.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die neuen Technologien – ein weiterer Schritt – und

die Stärkung des Dienstleistungssektors helfen auch den
Behinderten. Elektronische Heimarbeitsplätze, Nachbar-
schaftsbüros und mobile Kommunikation können die In-
tegrationskräfte ebenfalls stärken.




Dr. Ilja Seifert

12463


(C)



(D)



(A)



(B)


Es ist gut, dass der frühere Widerstand einiger Ge-
werkschafter und Sozialdemokraten gegen diese neuen
Formen der Arbeit einer realistischen Sichtweise gewi-
chen ist, sodass wir heute weniger eine Risikodebatte
führen müssen, sondern vielmehr eine Chancendebatte
führen können. Wir wollen bei diesem wichtigen Thema
einen parteiübergreifenden Konsens. Wir wollen eine Ver-
netzung von kommunaler, tariflicher, Landes- und Bun-
desebene mit den freien Trägern.

Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat haben hier
gute Zeichen gesetzt. Die Zusammenarbeit zwischen Op-
position, wichtigen gesellschaftlichen Gruppierungen
und Regierung funktioniert aber nur, wenn auf gleicher
Augenhöhe diskutiert wird. Auch ein Bundeskanzler
sollte zusammenführen und nicht als Sonnenkönig an-
dere, zum Beispiel den ÖTV-Vorsitzenden Herbert Mai,
brüskieren, wie dies am vergangenen Sonntag – ich kann
das sagen, weil ich dabei war – auf dem 14. Gewerk-
schaftstag der ÖTV in Leipzig geschehen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: So demontieren die ihre eigenen Leute!)


Äußerungen, wie sie auf dem ÖTV-Kongress gefallen
sind, vergiften das Klima; das war kein Machtwort, das
war eine verbale Rüpelei, ich möchte fast sagen: eine eis-
kalte Arroganz gegenüber den Kolleginnen und Kollegen
der ÖTV.

Ich möchte zum Schluss appellieren: Etwas mehr Ver-
lässlichkeit würde unserer Politik besser nützen. Seien Sie
zur Zusammenarbeit bereit! Das Ziel ist die vollständige
gesellschaftliche Integration der behinderten Mitbürge-
rinnen und Mitbürger. Über die Wege zu diesem Ziel wün-
sche ich mir eine tabufreie Diskussion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.] – Zuruf von der SPD: Was ist eine „tabufreie Diskussion“?)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412924100
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion.


Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1412924200
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss im
Vorfeld auf einige Punkte eingehen: Es ist nicht gerade
sehr angenehm, wenn die CDU von den Früchten der Vor-
gängerregierung spricht. In diesem Zusammenhang erin-
nere ich an die Drucksache 13/9514 vom 28. Juli 1998, in
der es heißt: Gleichstellungs- oder Antidiskriminierungs-
gesetze zugunsten behinderter Menschen, nach amerika-
nischem oder anderen Vorbildern gefordert, würden
nach Auffassung der Bundesregierung jedoch in der Sa-
che kaum weiterführen.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das ist auch so, schauen Sie sich vor Ort um!)


– Schauen Sie sich vor Ort um.

(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Wer so etwas sagt, muss wissen, was er redet!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412924300
Frau Kollegin
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kolb?


Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1412924400
Vielleicht nachher,
sehr geehrter Herr Kolb.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Warum bringt die Bundesregierung nicht selbst ein Gleichstellungsgesetz ein, sondern lässt es die Fraktionen machen?)


Es ging auch um Barrierefreiheit, es ging darum, wie
Arbeitsplätze geschaffen werden können. Wenn der Prä-
sident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitge-
berverbände, Herr Hundt, sagt, es genüge oftmals, einen
Arbeitsplatz zu modernisieren, um behinderungsbedingte
Leistungsdefizite auszugleichen und darüber hinaus eine
höhere Produktivität zu erreichen, sehe ich das als einen
Fortschritt. Daran sollte sich die CDU einmal orientieren.
Herr Kolb, das muss man einmal auf sich wirken lassen.
Frau Nolte, Sie sagen, die Antworten seien mangelhaft.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Wer keine Zwischenfrage zulässt, sollte nicht so scharf formulieren!)


Der Behindertenbeauftragte hat ganz deutlich gesagt,
wir wollen eine Berichtspflicht einführen und man hätte
dies bereits tun können. In dem Bericht wurden relativ
gute Aussagen nicht nur von Bayern und Hessen, sondern
auch von anderen – SPD-geführten – Ländern gemacht.
Wir werden diese Sache nunmehr vorantreiben.

Zunächst möchte ich mich bei der Opposition für die
heutige Debatte bedanken: Ihre Große Anfrage an die
Bundesregierung zeigt, dass Sie die Anliegen der behin-
derten Menschen durchaus ernst nehmen.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Vielen Dank für das Lob!)


Behindertenpolitik bedeutet für die Regierungskoalition
eine konsequente Reformpolitik zum Wohle unserer be-
hinderten Mitbürger und Mitbürgerinnen. Der Behinder-
tenbeauftragte der Bundesregierung hat hier sehr deutlich
zum Ausdruck gebracht, was wir in dieser Legislaturperi-
ode noch umsetzen wollen und weiter umsetzen werden,
um dem Gleichstellungsauftrag des Grundgesetzes ge-
recht zu werden. Aber wir wollen heute nicht nur über un-
sere Vorhaben und den Stand der Gesetzgebung beim
SGB IX sprechen. Vielmehr können wir auch beachtliche
Erfolge vorweisen.

Die CDU/CSU-Fraktion hat im Rahmen ihrer heutigen
Großen Anfrage an die Bundesregierung auch danach ge-
fragt, welche Chancen Menschen mit Behinderungen auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben. Darauf antworte
ich: Am 1. Oktober ist das Schwerbehindertengesetz in
Kraft getreten. Knapp einen Monat nach In-Kraft-Treten
dieses Gesetzes ist der erste Arbeitsmarkt für Schwer-
behinderte bereits nachhaltig in Bewegung gekommen.

Ich habe gestern und heute ausführliche Gespräche mit
den zuständigen Vertretern der örtlichen Arbeitsämter und




Matthäus Strebl
12464


(C)



(D)



(A)



(B)


der Landesarbeitsämter geführt. Die Informationen, die
ich erhielt, machen mich wirklich stolz. Alle unsere Er-
wartungen wurden übertroffen. So sind zum Beispiel in
Sachsen-Anhalt, Thüringen, Berlin und Brandenburg die
Verträge zwischen den einzelnen Arbeitsämtern, den
Hauptfürsorgestellen und den eingerichteten Integrations-
fachdiensten bereits ausgehandelt worden. Unterschiedli-
che Träger haben Verbundlösungen gefunden und sich in
Integrationsfachdiensten zusammengeschlossen. Diese
Kooperationsbereitschaft zeugt von einer Aufbruchstim-
mung und von einem festen Willen, die Chancen des
neuen Schwerbehindertengesetzes zu nutzen.

Auch die Arbeitgeberverbände haben sich dieser Ini-
tiative uneingeschränkt angeschlossen. Arbeitgeberpräsi-
dent Hundt unterstützt – nachzulesen in der Zeitschrift der
Arbeitgeberverbände – die Zielsetzung des Schwerbehin-
dertengesetzes mit Nachdruck. Wenn man das nachliest,
muss man feststellen: Unsere Arbeitgeber werden immer
flexibler. Hut ab! Hundt erwartet von der verbesserten Be-
ratung und Vermittlung durch professionelle Integrations-
fachdienste eine besondere Unterstützung für die Unter-
nehmen. Herr Hundt, ich kann Ihnen nur sagen: Ihre
Erwartungen werden schon jetzt erfüllt.

Beispiel: Nicht nur in Sachsen-Anhalt gibt es bereits
Schulungen und wöchentliche Lehrgänge für Mitarbeiter
von Integrationsfachdiensten. Nur hoch qualifizierte
Mitarbeiter dieser Fachdienste, vor allem die behinderten
Mitarbeiter, können optimale Ergebnisse bei der Vermitt-
lung erreichen.

Noch ein Beispiel: In Berlin und Brandenburg haben
Mitte Oktober 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Arbeitsämter in 2 800 Betrieben für die Einstellung von
qualifizierten Schwerbehinderten geworben. Das Ergeb-
nis macht Mut: In Berlin wurden so 157 und in Branden-
burg 220 Arbeits- und Ausbildungsplätze für Schwer-
behinderte gefunden. Angesichts dieses Erfolges in so
kurzer Zeit kann ich nur sagen: Machen wir so weiter!

Die groß angelegte Kampagne, die wir mit In-Kraft-
Treten des Schwerbehindertengesetzes in Gang gesetzt
haben, hat zu dieser erfreulichen Entwicklung beigetra-
gen. Damit meine ich nicht nur die Pressekampagne des
BMA, die öffentlichen Veranstaltungen, die Plakate und
die Broschüren, sondern auch die engagierte Öffentlich-
keitsarbeit der Schwerbehindertenverbände und nicht zu-
letzt auch die Unterstützung der Arbeitgeberverbände bis
hin zum Präsidenten des Arbeitgeberverbandes selbst.
Es hat sich etwas bei der Einstellung der Arbeitgeber
getan. Eine Veränderung fängt in den Köpfen an. Schwer-
behinderte Menschen haben oftmals eine bessere Ausbil-
dung, sind flexibler in unterschiedlichsten Lebenssitua-
tionen und zeigen mehr Engagement im Job. Grund: Sie
wollen gesellschaftliche Akzeptanz und keine Almosen.
Sie sind genau die richtigen Partner für jede Firma.

Wie Sie wissen, lässt sich bereits jetzt – das belegen die
neuesten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit – ein erfreu-
licher Rückgang auch der Arbeitslosigkeit Schwerbe-
hinderter verzeichnen. Natürlich, Herr Strebl, ist das noch
nicht die Folge des neuen Schwerbehindertengesetzes.

Aber die Tatsache, dass wir die Arbeitslosigkeit Schwer-
behinderter zum öffentlichen Thema gemacht haben,


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Nachdem wir unheimlich gedrückt haben! Ihr habt das nicht freiwillig gemacht!)


hat diese positive Entwicklung hervorgerufen.

(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Überschätzen Sie das jetzt nicht ein bisschen?)


– Das tue ich nicht.
Als besonders erfolgreich innerhalb unserer Kampa-

gne hat sich das Beratungstelefon „50 000 Jobs für
schwerbehinderte Menschen“ erwiesen. So haben bei-
spielsweise die Mitarbeiter des Beratungstelefons in Ros-
tock allein im Oktober 1 133 Beratungsgespräche geführt.
Erfreulich war dabei die große Resonanz der Arbeitgeber
auf diese Initiative: Ein Drittel der Beratungsgespräche
wurde mit Arbeitgebern geführt. Viele Arbeitgeber nutz-
ten das Beratungstelefon, um freie Stellen, die sie mit
schwerbehinderten Arbeitslosen besetzen möchten, anzu-
zeigen. Allein im Monat Oktober haben 41 Arbeitgeber
208 Arbeitsstellen beim Beratungstelefon in Rostock an-
geboten. In den Gesprächen brachten die Arbeitgeber ihre
Hoffnung zum Ausdruck, dass die Zusammenarbeit mit
den Arbeitsämtern flexibler gestaltet werde.

Aber auch die Resonanz der anrufenden schwerbehin-
derten Arbeitnehmer war nach Erläuterung der Ziele und
der Inhalte sehr positiv. Die schwerbehinderten Mitbürger
erwarten zukunftsorientierte Qualifizierung entsprechend
ihren Fähigkeiten, um den Anforderungen auf dem ersten
Arbeitsmarkt gerecht zu werden; denn nur so besteht eine
Chance, dass sie dort bleiben können.


(Beifall bei der SPD)

Dabei setzen sie große Hoffnungen auf die Integrations-
fachdienste. Ich glaube, das ist berechtigt. Sie sehen, dass
durch die Arbeit mit den Beratungstelefonen Erfahrungen
gesammelt wurden, die unserer Beschäftigungsinitiative
Recht geben.

Die schon eingangs angesprochene zügige flächen-
deckende Einrichtung von Integrationsfachdiensten fin-
det tatsächlich statt. Zum Beispiel Herr Stadler von FAF,
ein Vertreter der Integrationsprojekte „Firmen, Unterneh-
men, Abteilungen“, hat mir noch gestern gesagt, dass das
Schwerbehindertengesetz bei den Integrationsprojekten
große Resonanz gefunden hat. Viele Projekte stehen in
den Startlöchern. Bei den Hauptfürsorgestellen liegen
zahlreiche Konzepte und auch Anträge vor. Diese Unter-
nehmen können die Integration auf dem ersten Arbeits-
markt – ich sage das besonders deutlich – nur flankierend
unterstützen.

Ein Anliegen möchte ich besonders hervorheben:
Schwerbehinderte Frauen werden besonders diskrimi-
niert. Sie sind doppelt benachteiligt. Deshalb haben wir
bei den Beratungen zum Schwerbehindertengesetz aus-
drücklich gefordert, dass schwerbehinderte Frauen im be-
sonderen Maße die Unterstützung unserer Zivilgesell-
schaft erfahren müssen. Das Bundesministerium für
Arbeit und Sozialordnung hat daraufhin den Rechtsan-
spruch auf Teilzeitarbeit festgeschrieben. Danach hat




Silvia Schmidt (Eisleben)


12465


(C)



(D)



(A)



(B)


dieser Anspruch für behinderte Frauen eine sehr hohe Be-
deutung. Hierbei ist ihre persönliche Lebenssituation zu
berücksichtigen und dazu zählen jetzt auch Erziehungs-
pflichten. Darauf können wir stolz sein.


(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412924500
Frau Kollegin, der
Kollege Seifert möchte eine weitere Zwischenfrage stel-
len. Gestatten Sie die noch?


Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1412924600
Ja, mache ich.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412924700
Liebe Frau Kollegin Schmidt,
Sie sprachen im Zusammenhang mit der doppelten Be-
nachteiligung von behinderten Frauen von dem Rechts-
anspruch auf Teilzeitarbeit, der in Zukunft garantiert wer-
den soll. Ist Ihnen und der Koalition eigentlich bewusst,
dass damit die konkrete Betrachtungsweise in der von
Ihnen geplanten Erwerbsminderungsrente zum Nach-
teil von Menschen mit Behinderungen ausfällt, sodass alle
diejenigen, die eine Rente wegen verminderter Erwerbs-
fähigkeit – also weil sie nur zwischen drei und sechs Stun-
den arbeiten können – bekommen sollen, nicht mehr un-
ter die konkrete Betrachtungsweise fallen, weil es dann
auf dem Arbeitsmarkt theoretisch unbegrenzt viele Teil-
zeitarbeitsplätze geben könnte?


Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1412924800
Herr Seifert, schö-
nen Dank, dass Sie darauf hingewiesen haben. Ich sehe
das aber nicht so. Sie wissen ganz genau, dass sich sehr
viele Selbsthilfegruppen von Frauen mit Behinderungen
mit der Bitte an uns gewandt haben, dieses Problem zu
berücksichtigen. Sogar in der letzten Ausschusssitzung
haben wir noch mit festgeschrieben, dass auch die Erzie-
hungspflicht hineinkommt. Ich sehe hier eine sehr große
Chance. Ich empfehle Ihnen die Lektüre des Aufsatzes
„Arbeitsplätze für Schwerbehinderte“ von Dieter Hundt.
Dort wird dieses Anliegen im Grunde genommen begrüßt
und nicht abgelehnt.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Vergleichen Sie mit der Erwerbsminderungsrente? Das ist das Problem!)


– Darüber gibt es noch Diskussionsbedarf.
Herr Kolb, möchten Sie noch eine Zwischenfrage

stellen?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412924900
Herr Kollege Kolb hat
bereits eine Kurzintervention angemeldet.


Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1412925000
Noch ein Wort zu
Ihrer Kritik in der Debatte über das Schwerbehinderten-
gesetz. Sie monierten, dass die Einrichtung der Integrati-
onsfachdienste im Sinne des Gesetzes nicht funktionieren
könne. Sie sehen: Sie funktionieren bereits sehr gut.

Sie kritisierten, dass wir dieses Gesetz übers Knie bre-
chen wollten. Ich sage Ihnen: Die Behinderten brauchen
die Unterstützung der Zivilgesellschaft jetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie bekommen jetzt die Chance, die Sie ihnen über Jahre
hinweg nicht ermöglicht haben. Wie sagte eine Vertrete-
rin des Landesarbeitsamtes Sachsen-Anhalt und Thürin-
gen auf meine Frage, wann die Umsetzung des neuen
Gesetzes denn losgehe: „Es geht schon los. Wir sind mit-
tendrin.“

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412925100
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb
das Wort.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1412925200
Liebe Kollegin
Schmidt, Sie hatten eine Zwischenfrage von mir nicht zu-
gelassen, vermutlich weil ich sie direkt nach Beginn Ihrer
Rede stellen wollte. Es ist normalerweise auch unge-
wöhnlich, dass man erst einen Satz gesagt hat und gleich
etwas gefragt wird.


(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Nicht bei Ihnen, Herr Kollege!)


Ich hatte mich aber gemeldet – das möchte ich hier
doch noch klarstellen dürfen –, weil Sie die alte Bundes-
regierung zitiert haben. Sie haben gesagt, die alte Bun-
desregierung habe in einer Drucksache, deren Nummer
ich nicht mehr in Erinnerung habe, zum Ausdruck ge-
bracht, dass sie kein Gleichstellungsgesetz nach amerika-
nischem Vorbild wolle.


(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Oder nach anderem Vorbild!)


Nur soll man – deswegen melde ich mich – nicht mit Stei-
nen werfen, wenn man im Glashaus sitzt. Nach meinen In-
formationen lehnt es die derzeitige rot-grüne Bundesre-
gierung trotz Koalitionsvereinbarung ab, ein solches
Gleichstellungsgesetz selbst in das Gesetzgebungsverfah-
ren einzubringen.


(Beifall der Abg. Claudia Nolte [CDU/CSU])

Vielmehr – zumindest wurde das unlängst bei einer Dis-
kussionsveranstaltung hier in Berlin so bekannt gegeben –
wird die Fraktion ein entsprechendes Gesetz einbringen.
Wenn man also schon kritisiert, dann muss man bitte Glei-
ches auch gleich abhandeln. Das, was die Bundesregie-
rung damals getan hat, ist mindestens mit dem vergleich-
bar, was jetzt Ihre Bundesregierung tut.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Das sehe ich nicht so, Herr Kolb! Ist denn eigentlich die Legislaturperiode schon zu Ende, sodass Sie das sagen können?)


Das war der Grund meiner Kurzintervention.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412925300
Frau Kollegin
Schmidt zur Erwiderung.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sie können ja jetzt sagen, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf einbringt!)





Silvia Schmidt (Eisleben)

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(C)



(D)



(A)



(B)



Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1412925400
Herr Kollege Kolb,
da gebe ich Ihnen nicht Recht. Ich denke, es ist schon ein
Unterschied, ob man etwas ganz ablehnt, oder ob man
sich wirklich intensiv daransetzt, mitarbeitet und mit al-
len Verbänden und Vereinen zusammen noch einen Kon-
gress macht. Wir befinden uns in unserer eigenen Regie-
rung jetzt in der Abstimmungsphase darüber, wer was
macht.

Danke.

(Beifall bei der SPD – Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das ist keine Antwort! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie jetzt Ja oder Nein gesagt?)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412925500
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-
Fraktion.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1412925600
Frau Präsi-
dentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn schon
die Beantwortung der Großen Anfrage der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion durch die Bundesregierung nicht sehr
viel Ertrag gebracht hat und wenn es sich schon nicht
lohnt, nur über Ankündigungen zu diskutieren, dann
möchte ich den Abschluss dieser Debatte doch wenigstens
dazu nutzen, auf eine in diesen Tagen neu aufgeworfene
Frage grundsätzlicher Art zu sprechen zu kommen: Stim-
men eigentlich noch die ethischen Grundüberzeugun-
gen, auf denen unsere Hilfen und Angebote für Mit-
menschen mit Behinderungen aufbauen?

Neu aufgeflammt ist diese Debatte durch den Beitrag
des Molekularbiologen und Nobelpreisträgers James
Watson in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom
26. September 2000 über die Ethik des Genoms. In der
Tat hat er darin Recht, „dass der Erfolg der Entschlüsse-
lung des menschlichen Erbguts unsere Gesellschaft mit
völlig neuen ethischen Fragestellungen konfrontieren
wird.“ Wenn nämlich alles machbar und auch erklärbar
ist, haben wir dann nicht auch alle Mittel in der Hand, um
zum Beispiel die Geburt eines behinderten Menschen zu
verhindern? Watson schreibt, dass im Falle der Tötung ei-
nes genetisch behinderten Fötus „die Erleichterung darü-
ber im Vordergrund stehen“ müsse, „dass niemand ge-
zwungen wurde, ein Kind zu lieben und zu unterstützen,
dessen Leben niemals Anlass zur Hoffnung auf Erfolge
gegeben hätte.“ Und weiter: „Dass erbkranke Föten die
gleichen existenziellen Rechte haben wie jene, denen ein
gesundes und produktives Leben gegeben ist,“ sei seiner
Überzeugung nach „von hohlklingender moralischer Ver-
kündigung geprägt, die man angesichts des modernen
Fortschritts demnächst ignorieren werde.“

Die Konsequenzen eines solchen Denkens, das weit
verbreitet ist und auch in verschiedenen Publikationen
seinen Widerhall gefunden hat, liegen meines Erachtens
auf der Hand. Wer künftig angesichts der modernen
medizinischen Möglichkeiten noch ein behindertes Kind
zur Welt bringt, wird – aus der Sicht derjenigen, die so
denken – nicht selbstverständlich mit der Solidarität und
der Unterstützung der Gesellschaft zu rechnen haben,

sondern sich für sein Tun womöglich noch entschuldigen
müssen – eine schreckliche Vision.


(Claudia Nolte [CDU/CSU]: Wohl wahr!)

Es ist gut, dass der Bundespräsident in seiner kürzlich

gehaltenen Rede über „Glaube in der Wissensgesell-
schaft“ Watson klar und deutlich widersprochen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Je mehr nämlich technisch und medizinisch machbar ist,
umso größer ist die Verantwortung der Wissenschaft wie
der Politik, das Bewusstsein wach zu halten, dass jegli-
ches Leben lebens- und liebenswert ist. Gerade der Um-
gang mit Menschen mit Behinderungen ist der Prüfstein
dafür, wie es um Solidarität und Humanität in unserer
Gesellschaft generell bestellt ist. Oder anders gesagt: Die
Würde des Menschen zu achten und zu schützen – nach
unserer Verfassung die Verpflichtung aller staatlichen Ge-
walt – findet in der Achtung und dem Schutz der Würde
des behinderten Menschen ihren besonderen und nach-
drücklichsten Ausdruck.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deshalb glaube ich, dass in allen Debatten um die vielen
praktischen Aspekte der Behindertenpolitik immer auch
die Aufgabe im Vordergrund stehen muss, die ethischen
Grundüberzeugungen, die uns leiten, noch stärker zum
Ausdruck zu bringen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!)

Ich sehe vor allen Dingen zwei generelle Herausforde-

rungen, durch die unsere Gesellschaft auf den Prüfstand
gestellt wird und zwar in der Frage, ob uns diese ethischen
Grundüberzeugungen tatsächlich noch leiten und tragen.

Herausforderung Nummer eins ist: Die Zahl der
schwerst mehrfach behinderten Mitmenschen nimmt
deutlich zu. Dringend werden zusätzliche Förder- und Be-
treuungsgruppen benötigt. Für sie muss das Instrument
der Eingliederungshilfe gestärkt werden. Der Zielsetzung
der Eingliederungshilfe würde man meines Erachtens in
Zukunft am besten gerecht, wenn sie in eigenständiges
Leistungsgesetz überführt würde. Dieses Leistungsgesetz
müsste ganzheitliche Hilfe anbieten, statt die Hilfe in
pädagogische, rehabilitative und pflegerische Einzelleis-
tungen zu zerlegen und unterschiedlichen Leistungsträ-
gern zuzuordnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS] – Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das hat die heutige Regierung früher auch einmal gewollt!)


Herausforderung Nummer zwei ist: Es wird immer
mehr behinderte Menschen geben, die erfreulicherweise
ein hohes Lebensalter erreichen. Das ist nicht nur ein Er-
folg des medizinischen Fortschritts, sondern hat – in die-
sem Sinne: leider – auch mit traurigen Ereignissen der
Vergangenheit zu tun. Die Euthanasiepolitik des Dritten
Reiches hat es mit sich gebracht, dass Deutschland in den
kommenden Jahren erstmals Verantwortung für eine Ge-
neration geistig behinderter Menschen tragen muss, die






(C)



(D)



(A)



(B)


im Alter umfassend auf die Hilfe der Gemeinschaft an-
gewiesen sind. Menschen mit geistiger oder mehrfacher
Behinderung werden jedoch im Alter nicht automatisch
zu Pflegefällen. Ihre Behinderung macht es allerdings er-
forderlich, sie gezielt auf ein Leben im Alter vorzuberei-
ten und ihren Tagesablauf neu zu strukturieren. Notwendig
sind neue Tagesbetreuungsangebote und neue Pflege-
strukturen für ältere Menschen.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Sehr vernünftig!)

Mit einem eigenen Leistungsgesetz für Menschen

mit Behinderungen könnten diese wichtigen Aufgaben
der Zukunft erfolgreich gemeistert werden. Deshalb finde
ich es schade, dass in allen Ankündigungen zu einem SGB
IX die Regierungskoalition nicht den Mut aufbringt, das
früher auch von ihr geforderte Leistungsgesetz für Behin-
derte zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Adolf Ostertag [SPD]: Wo ist denn Ihr Leistungsgesetz 16 Jahre geblieben? Was war mit der alten Regierung und dem Leistungsgesetz?)


Meine Damen und Herren, ich würde mich freuen,
wenn der Diskussionsprozess der nächsten Wochen und
Monate Sie dazu bringen würde, Anstrengungen zu un-
ternehmen, um die Eingliederungshilfe aus dem BSHG
herauszulösen und in einem eigenen Leistungsgesetz mit
entsprechenden Rechtsansprüchen zu verankern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412925700
Ich schließe die Aus-
sprache.

Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Detlef
Parr, Ina Lenke, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse-
rung der Möglichkeiten des medikamentösen
Schwangerschaftsabbruchs
– Drucksache 14/4289 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion sieben Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zur
Einbringung des Antrages dem Kollegen Detlef Parr von
der F.D.P.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1412925800
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren!

Es geht nur noch um die Frage, wie wir den Frauen
die Präparate für diese Abbruchmethode verfügbar
machen.

Das sagte Kollegin Schmidt-Zadel am 24. Juni 1999 bei
der Verabschiedung des Gesetzes. Weiter sagte sie:

Deshalb stelle ich zunächst fest: Prinzipiell ist ein
Sondervertriebsweg sicher nicht notwendig.

Das große Aber kam danach. Von drohendem
Schwarzhandel und Missbrauch des Medikaments war
die Rede. Die Notwendigkeit strengster Kontrollen wurde
herausgestellt, als gäbe es kein Betäubungsmittelgesetz,
kein Transfusionsgesetz und keine strengen Dokumenta-
tionspflichten für die Apotheken. Wochenlang wurde die
Firma Femagen mit Auflagen malträtiert, bis das Mittel
über einen personal- und kostenintensiven Weg doch end-
lich im November 1999 auf den Markt kam. Inzwischen
war die Marge für das ärztliche Honorar zwar nicht allein,
aber auch durch die Verteuerung des Medikaments auf-
grund des Sondervertriebswegs gesunken. Dadurch er-
gaben sich für die Ärzte bei den zu erbringenden Bera-
tungs- und Betreuungsleistungen nur noch Nachteile.

Anfang des Jahres, nach nur drei Monaten, waren diese
Probleme der SPD bereits bekannt. Mitte des Jahres, am
5. Juli, räumte die Parlamentarische Staatssekretärin
Nickels auf eine F.D.P.-Frage in der Fragestunde Klärungs-
bedarf bei der Kostenregelung für medikamentöse Ab-
brüche ein. Im Frühherbst, am 27. September, verstieg
sich auf eine erneute Anfrage der F.D.P.-Fraktion die Par-

Dr. Edith Niehuis (SPD):
Rede ID: ID1412925900


Ich denke, dass wir so weitermachen sollten, wie wir
es im Moment tun.

Welch eine Fehleinschätzung, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der F.D.P.)


Bis dahin hätten bei Ihnen doch längst ebenso wie bei der
F.D.P. alle Alarmglocken schrillen müssen.

Aber Sie haben sich wohl auf die Beschwichtigungen
von Frau Schmidt-Zadel verlassen. Sie hat nämlich am
24. Juni 1999 auch gesagt:

Wir kommen Ihnen ja entgegen, indem wir zu die-
sem Gesetzentwurf eine Entschließung eingebracht
haben, die nach zwei Jahren – zwei Jahre sind eine
kurze Zeit – einen Bericht über die Erfahrungen mit
dem Sondervertriebsweg fordert.

Bereits nach einem Jahr waren die Konsequenzen klar, die
ich in der damaligen Debatte mit einem Satz des Schrift-
stellers Robert Musil kommentierte: „Sie irren vorwärts.“


( V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Kommen Sie jetzt aus der Sackgasse heraus, bauen Sie
die formalen Hürden ab. Ändern Sie erstens den Ver-
triebsweg und vertrauen Sie den Apotheken, wie Sie es
auch bei der Abgabe anderer hoch sensibler Medikamente
tun. Machen Sie zweitens einen Weg für eine Kostenre-
gelung frei, die den Ländern nach dem Vorbild von
Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg eine kos-
tendeckende Honorierung der ärztlichen Leistung mög-
lich macht.


(Beifall bei der F.D.P.)





PeterWeiß (Emmendingen)

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(C)



(D)



(A)



(B)


Die Vergütung für den Schwangerschaftsabbruch darf
nicht der Budgetierung unterliegen. Die Vertragspartner,
also die Krankenkassen und die Ärzteschaft, sollten ver-
pflichtet werden, eine angemessene Vergütung zu verein-
baren. Das Honorar muss die für die Abtreibung entstehen-
den Kosten und insbesondere die durch medikamentösen
Abbruch höheren Aufwendungen abdecken.


(Beifall bei der F.D.P.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nehmen

Sie den Satz Ihrer neuen gesundheitspolitischen Spreche-
rin vom 24. Juni 1999 ernst, den ich noch einmal zitiere:

Es geht nur noch um die Frage, wie wir den Frauen
die Präparate für diese Abbruchmethode verfügbar
machen.

Der bisherige Weg hat in die Irre geführt. Sie sind dabei,
viele Frauen im Stich zu lassen. Haben Sie jetzt den Mut
zur Korrektur!


(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412926000
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Hildegard Wester von
der SPD-Fraktion das Wort.


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1412926100
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Es ist schon mehr als bedrückend, dass
wir heute hier im Plenum des Deutschen Bundestages da-
rüber debattieren müssen, ob Frauen in Deutschland die
Möglichkeit behalten können, mit einem zugelassenen
Arzneimittel behandelt zu werden.

Nach jahrelangem Ringen um den straffreien Schwan-
gerschaftsabbruch haben wir seinerzeit alle gemeinsam
einen frauenpolitischen Kompromiss gefunden. Wir ha-
ben die Pflichtberatung im Schwangerschaftskonfliktge-
setz verankert und die Frage der finanziellen Hilfen geklärt.
Mit der Aussicht auf einen Schwangerschaftsabbruch mit
einem Mittel, das schon rund ein Jahrzehnt früher in an-
deren europäischen Ländern auf dem Markt war, begann
bei uns aber erneut eine Debatte mit dem Versuch unter-
schiedlicher Interessensbereiche, das Erreichte infrage zu
stellen.

Die ohne Zweifel schonendere Methode des Abbruchs
mit diesem Medikament wurde den Frauen in Deutsch-
land vorenthalten. Wir haben über zumindest einige Frak-
tionsgrenzen hinweg gemeinsam dafür gekämpft, den
Frauen den medikamentösen Abbruch mit Mifegyne zu
ermöglichen. Seit nunmehr fast einem Jahr ist Mifegyne
auf dem Markt und nun soll alles wieder infrage gestellt
werden, wofür die Frauen gekämpft haben. Der Vertrieb
des Arzneimittels Mifegyne soll voraussichtlich zum
Ende dieses Jahres eingestellt werden. Die Begründung
dafür lautet, das Geschäft sei unrentabel.

Unser Ziel muss es aber sein – in diesem Punkt sind wir
Frauen uns einig –, dass wir den Frauen die Möglichkeit
erhalten müssen, den medikamentösen Schwanger-
schaftsabbruch vornehmen zu lassen. Frauen, die sich für
einen Abbruch entschieden haben, müssen diese Wahl-

freiheit behalten und somit auch weiterhin diese Methode
wählen können.


(Beifall bei der SPD dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Es muss schon erlaubt sein, sich mit den Argumenten
dieser Firma, die eben schon vorgetragen wurden, kritisch
auseinander zu setzen. Ich kann nicht nachvollziehen,
dass dieser Sondervertriebsweg, den wir damals aus
guten Gründen vorgeschrieben haben, die Hauptursache
für die Unwirtschaftlichkeit der Geschäfte dieser Ver-
triebsfirma sein soll.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe erhebliche Zweifel an dieser Darstellung und
– das folgt daraus – an der Wirksamkeit der Lösung, die
von der F.D.P. vorgeschlagen wird.

Aus guten Gründen haben wir also damals diesen Son-
dervertriebsweg vorgeschrieben. Wir sollten gründlich
überprüfen, ob wir an diesem Weg etwas ändern können
und wollen. Wir müssen nämlich beachten, dass die Zeit
noch nicht reif dafür ist, zu einem endgültigen Urteil zu
kommen.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Fast schon zu spät! – Gegenruf der Abg. Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das hat doch nichts mit dem Vertriebsweg zu tun!)


Es scheint mir nicht gerechtfertigt zu sein, diesen Ver-
triebsweg als Hauptursache für die Unwirtschaftlichkeit
anzuführen. Wir sollten vielmehr einen anderen Punkt be-
denken: Die Zeitspanne seit Einführung des Präparates
ist, wie ich eben schon sagte, noch sehr kurz. Wir wissen
doch alle, dass es immer auch eine Frage der Zeit ist, bis
Neuerungen bei den Betroffenen akzeptiert werden. Das
ist bei Neuerungen auf dem Medikamentenmarkt genauso
wie bei Neuerungen in anderen Bereichen.

Als Indiz dafür möchte ich darauf hinweisen, dass nach
Auskunft des Statistischen Bundesamtes die Zahl der
medikamentösen Abbrüche im ersten Quartal 2000 bei
2 Prozent lag und im zweiten Quartal auf 3 Prozent ge-
stiegen ist. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass die
Zahl dieser Abbrüche von 764 im ersten Quartal auf 985
im zweiten Quartal angestiegen ist.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412926200
Frau Kol-
legin Wester, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Parr?


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1412926300
Bitte.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412926400
Bitte
schön, Herr Parr.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1412926500
Frau Kollegin, die Zahlen, die Sie
gerade genannt haben, unterscheiden sich von den Zah-
len, die mir vorliegen: Der Anteil der medikamentösen
Schwangerschaftsabbrüche ist von 6 über 4 auf 2 Prozent




Detlef Parr

12469


(C)



(D)



(A)



(B)


gesunken. Worauf basieren Ihre Zahlen? Uns hat der Ab-
wärtstrend bei der Nutzung dieser Methode alarmiert. Wir
sind deswegen aktiv geworden.


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1412926600
Ich habe schon gesagt, dass
es sich um Zahlen des Statistischen Bundesamts handelt.
Ich habe sie gesehen, kann sie an dieser Stelle aber nicht
verifizieren. Mehr kann ich im Moment dazu nicht sagen.

Die mir bekannten Zahlen führen mich zu der Frage, ob
es nicht eine sehr voreilige Entscheidung der Firma war,
schon jetzt von einer nicht gegebenen Rentabilität zu
sprechen. Es muss auch die Frage gestellt werden, ob
nicht mehr an Aufklärung hätte geleistet werden können
und müssen, wodurch dem Einsatz des neuen Präparates
eine bessere Grundlage verschafft worden wäre, anstatt
voreilig den Vertriebsweg zu kritisieren.

Die Abschaffung dieses Vertriebsweges dürfte dazu
führen, dass die zusätzlichen Kosten, die durch Apothe-
ken- und Großhandelszuschlag entstehen, das Medika-
ment teurer machen. Das würde letzten Endes weder den
Frauen noch den Ländern, die an den Kosten in erhebli-
chem Ausmaß beteiligt sind, zugute kommen.

Von größerer Bedeutung für den geringen Einsatz von
Mifegyne scheint mir ein weiterer Grund zu sein: Die Kos-
tenerstattung für den medikamentösen Abbruch liegt
unter der des instrumentellen Abbruchs. Die Bewertung
der einzelnen ärztlichen Leistungen hat aber der Bewer-
tungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen vorzuneh-
men. Der Ausschuss hat zwar grundsätzlich für beide Me-
thoden identische Sätze für die ärztlichen Leistungen
vorgesehen, doch nur beim instrumentellen Eingriff kann
darüber hinaus ein Zuschlag für das ambulante Operieren
sowie eine Vergütung für die Betreuungsleistungen abge-
rechnet werden. Damit bleibt der Aufwand der Betreuung
der Frauen während und nach der Medikamentenabgabe
unberücksichtigt.

Es bleibt ferner außer Acht, dass bei einem medika-
mentösen Abbruch ebenfalls eine bestimmte räumliche
und apparative Ausstattung vorhanden sein muss, die eine
qualitativ angemessene Versorgung der Frauen gewähr-
leistet. Aber diese Bewertung hat, wie gesagt, ein Selbst-
verwaltungsorgan vorgenommen, und hier haben wir
keine gesetzlichen Einflussmöglichkeiten. Es bleibt nur
der wiederholte Appell an den Bewertungsausschuss,
diese getroffene Entscheidung zu überdenken und gege-
benenfalls zu revidieren.


(Beifall bei der SPD)

Aber das führt uns auch zu einem Grundproblem, mit

dem wir uns heute hier eigentlich auseinander zu setzen
haben, nämlich der Vermutung, dass die Bezahlung einer
ärztlichen Leistung Einfluss darauf hat, ob diese Leistung
eingesetzt wird oder nicht. Bereits im Mai dieses Jahres
hat uns Pro Familia mitgeteilt, dass ihre Einrichtungen,
die nicht gewinnorientiert arbeiten, den medikamentösen
Abbruch mit den geltenden Sätzen nicht kostendeckend
bestreiten können. Von den 91 Prozent der ambulanten
Abbrüche werden 75 Prozent, also die Mehrzahl, in gynä-
kologischen Praxen vorgenommen. Das macht doch deut-
lich, dass Kostengesichtspunkte für die Ärzte eine ent-

scheidende Rolle spielen, ja vielleicht sogar spielen müs-
sen, wenn sie eine Methode empfehlen. Umso deutlicher
wird die Notwendigkeit, die Ärzteschaft aufzufordern, da-
rauf hinzuwirken, dass der Bewertungsausschuss eine
sachgerechte Bewertung des medikamentösen Schwan-
gerschaftsabbruchs vornimmt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Appell geht an die Länder, nämlich bei
den Kostenerstattungen höhere Kostenpauschalen zu zah-
len. Dafür bedarf es keiner Gesetzesänderung. Es gibt
nämlich schon heute Länder, die dies praktizieren. Ärz-
tinnen und Ärzte müssen unter rein medizinischen Ge-
sichtspunkten die individuell beste Methode des Ab-
bruchs für die Patientin auswählen, diese entsprechend
empfehlen und die Frau auch beraten. Es darf nicht sein,
dass Frauen aus materiellen Gründen eine für sie geeig-
nete schonendere Maßnahme vorenthalten wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU])


Eine Aufklärung nicht nur der Frauen, sondern auch
der Ärzteschaft über diese Möglichkeit scheint mir drin-
gend vonnöten zu sein. Unbefriedigende finanzielle Leis-
tungen dürfen nicht dazu führen, dass das schwächste
Glied in der Kette, die schwangere Frau, mit ihrem Pro-
blem allein gelassen wird.

Vorschnelle Gesetzesänderungen, die die Situation
nicht grundsätzlich ändern, sind hier aber genauso wenig
angebracht wie einseitige Schuldzuweisungen. Deswegen
wiederhole ich meine Appelle an die Vertreiberfirma, an
die Länder und an den Bewertungsausschuss, hier für Lö-
sungen zu sorgen.


(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.]: Das nützt nichts! – Detlef Parr [F.D.P.]: Wir müssen etwas tun!)


Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412926700
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annette Widmann-
Mauz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1412926800
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir vernehmen in
dieser Woche, die Gesundheitsministerin will erneut ei-
nen Vorstoß unternehmen, um das drohende Aus für das
Abtreibungspräparat Mifegyne in Deutschland zu ver-
hindern. Ihr Ministerium werde, so die Meldung in dieser
Woche, dem Bewertungsausschuss von Ärzten und Kran-
kenkassen einen neuen Vorschlag für eine bessere Vergü-
tung des medikamentösen Abbruchs unterbreiten. Ich zi-
tiere Ministerin Fischer: „Ich werde dafür kämpfen, dass
Mifegyne bleibt.“


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Detlef Parr
12470


(C)



(D)



(A)



(B)


Das sind starke Worte mit problematischem Gehalt.
Wenn ein Hersteller sein Produkt vom Markt nehmen
will, dann ist das eine rein wirtschaftliche Entscheidung.
Eine solche Entscheidung gehört auch zum legitimen
Geschäftsinteresse eines jeden Unternehmens. Auf jeden
Fall ist es keine Frage der Politik, zumal es sich bei dem
Präparat Mifegyne nicht um einen unwidersprochenen
Segen für die Menschheit handelt, den wir politisch un-
bedingt, wie Sie das immer nennen, fördern müssten.
Nein, hier geht es um ein Abtreibungspräparat eines flo-
rierenden Pharmakonzerns. Schon bei der Einführung
dieses Präparats hat sich die Bundesregierung, allen voran
Kanzler Schröder und seine Ministerin Bergmann, in ei-
ner bedenklichen Grauzone bewegt. Ich will hier nicht
von Lobbyismus sprechen und auch keinen solchen Vor-
wurf erheben.

Aber zur Sache. Fakt ist, dass sich dieses Präparat
schlecht verkauft. Der Pharmakonzern will den Vertrieb
in Deutschland einstellen. Punkt. Was sind die Gründe
dafür? Die F.D.P. meint, der Sondervertriebsweg für das
Präparat sei schuld, und will diese Sonderregelung än-
dern.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Ein Grund!)

Das ist der Kern des F.D.P.-Antrages, über den wir hier
debattieren.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Das haben Sie falsch gelesen!)


Im vergangenen Jahr, als es um die Einführung von Mi-
fegyne ging, standen zwei Vorschläge, zwei klare Alter-
nativen für den Vertriebsweg zur Diskussion. Die Regie-
rung hat vorgeschlagen, die Apotheken außen vor zu
lassen, wollte also einen Vertriebsweg ohne Apotheken.
Wir plädierten indes zusammen mit der F.D.P. für die di-
rekte Belieferung der Ärzte durch die Apotheken, also für
einen Vertriebsweg mit den Apotheken.

Dann hatten wir im Gesundheitsausschuss eine An-
hörung. Das Ergebnis der Anhörung war im Übrigen ein-
deutig: Alle Sachverständigen – ich betone: alle – haben
sich für einen Vertriebsweg über die Apotheken ausge-
sprochen. Selbst die auf Wunsch der SPD extra aus Frank-
reich angereiste Sachverständige Dr.Aubeny aus Paris hat
den deutschen Vertriebsweg über die Apotheken für vor-
bildlich erklärt.

Nur die Bundesregierung bzw. die Gesundheitsminis-
terin und die sie tragenden Fraktionen waren gegen die
Apothekenlösung. Sie wollten unbedingt eine Sonderre-
gelung und haben sie gegen jeglichen Sachverstand
durchgeboxt.


(Beifall der Abg. Ina Lenke [F.D.P.])

Jetzt haben wir ein Fiasko auf der ganzen Linie. Hätten

Sie nur damals wenn schon nicht auf uns, so zumindest
auf Ihre eigenen Experten gehört! Das Lamentieren über
diese permanenten Fehlentscheidungen aber hilft uns
heute leider nicht weiter. Gestehen Sie diesen Fehler ein
und nehmen Sie diese vermurkste Sonderregelung zu-
rück! Wir hätten zumindest ein Problem weniger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wenn ich aber Frau Fischer in ihren Meldungen richtig
verstehe, denkt sie nicht daran, die in Bezug auf den Ver-
triebsweg bestehende Sonderregelung zurückzunehmen.
Vielmehr erwägt sie, eine weitere Sonderregelung, näm-
lich bei der Vergütung der Ärzte, hinzuzufügen. Richtig
ist, dass die Ärzte derzeit für den chirurgischen Abbruch
rund doppelt so viel Geld bekommen wie für den medi-
kamentösen Schwangerschaftsabbruch. Grund ist die zu-
sätzliche Vergütung der Nutzung der Geräte. Der Vor-
schlag, jetzt den medikamentösen Schwangerschafts-
abbruch einfach höher zu vergüten, damit die Ärzte mehr
Pillen verschreiben, ist ein weiterer Systembruch. Sie
wollen eine Sonderregelung, die einen Präzedenzfall
schaffen würde, der den Druck auf die Vergütung anderer
Leistungen erhöht.

Zudem – das muss ich hier ganz deutlich sagen – be-
leidigen Sie mit diesem Vorstoß jeden Arzt und jede Ärz-
tin. Die Ärzte in unserem Land sind doch keine „Schläch-
ter“, die nur um des Geldes willen einen chirurgischen
Eingriff bevorzugen und vermeintlich sanftere Methoden
ausschließen. Nein, Ärzte und Frauen wollen Mifegyne
oftmals nicht einsetzen, weil Mifegyne in der Praxis eben
nicht so sanft ist, wie Sie das immer bezeichnen.


(Widerspruch bei der SPD)

Sie machen hier den Menschen etwas vor. Der Schwan-
gerschaftsabbruch mit Mifegyne ist eine enorme psychi-
sche und auch körperliche Belastung der Frauen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie führen eine Scheindebatte!)


Eine vermurkste Sonderregelung kann man nicht durch
weitere Sonderregelungen ausbessern – so geht es nicht –,


(Beifall des Abg. Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU] – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


zumal Sie den Bewertungsausschuss gar nicht zwingen
können, den Schwangerschaftsabbruch mit Mifegyne auf-
zuwerten.

Bevor Sie an das System der Vergütung herangehen,
sollten Sie einmal zum Beispiel nach Baden-Württemberg
schauen. In Baden-Württemberg – Frau Wester hat es an-
gedeutet – sind die Kassenärztlichen Vereinigungen, die
die Vergütung beim rechtmäßigen Abbruch festlegen, um
Mitteilung gebeten worden, welche Positionen des Ein-
heitlichen Bewertungsmaßstabes bei einem medika-
mentösen Schwangerschaftsabbruch in Ansatz gebracht
werden können. In Baden-Württemberg wird im Rahmen
des § 3 Abs. 3 HIG aufgrund einer Liste der abrech-
nungsfähigen Positionen verfahren. Auf dieser Liste fin-
den sich Positionen, die der Bewertungsausschuss bei der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung noch nicht als ab-
rechnungsfähig ansieht, vor allem was die Nachsorge an-
belangt. Diese Divergenz führt dazu, dass es in Ländern,
die sich nur auf die Beurteilung des Bundesausschusses
stützen, zu einer anderen Handhabung und damit auch zu
einer anderen Vergütung kommen kann als zum Beispiel
in Baden-Württemberg. Das heißt, in Baden-Württem-
berg ist über das Schwangerenhilfegesetz eine adäquate
Handhabung der Vergütung möglich.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Vorbildlich!)





Annette Widmann-Mauz

12471


(C)



(D)



(A)



(B)


Es ist also kein weiterer Systembruch notwendig. Per-
manente Sonderregelungen helfen hier nicht weiter. Des-
halb müssen wir zunächst im Gesundheitsausschuss die-
sen heute vorgelegten Gesetzentwurf intensiv beraten.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412926900
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Monika
Knoche vom Bündnis 90/Die Grünen.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412927000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Her-
ren und Damen! Dieses Thema war noch nie dazu geeig-
net, ideologische Debatten zu führen. Dies sollten wir
auch heute Abend nicht tun. Allen war klar: Wenn ein
Hersteller plant, in Deutschland ein Produkt auf den
Markt zu bringen, das Frauen in den engen Grenzen der
Arzneimittelzulassung und des § 218 des Strafgesetzbu-
ches einen hormonell eingeleiteten Schwangerschaftsab-
bruch ermöglicht, dann entscheidet darüber nicht die Po-
litik. Das war sehr wichtig zu vermitteln. Dies ist eine
Entscheidung, die an sich beim BfArM liegt.

Nicht die hier angesprochene Frage, ob eine Verände-
rung des Vertriebsweges zu einer höheren Indikationsstel-
lung in Bezug auf den hormonellen Schwangerschaftsab-
bruch führen wird, ist von Bedeutung. Vielmehr sollte
zusammen mit der betroffenen Frau in der ärztlichen Pra-
xis die Entscheidung getroffen werden, welcher Weg der
richtige ist.

Niemand von denen, die die Debatte kennen, hat ange-
nommen oder prognostiziert, dass die Einführung eines
solchen Präparats zum vollständigen Ersatz anderer Ver-
fahren führen würde. Dies liegt schon in der Natur der Sa-
che, denn Mifegyne stellt zwar in einem sehr frühen
Schwangerschaftsstadium das wirksamste Mittel dar, aber
viele Schwangerschaftsabbrüche finden auch aufgrund
der Zwangsberatung etwas später statt. Aber das soll hier
jetzt nicht weiter vertieft werden.

Die Schwierigkeiten, die die Ärztinnen und Ärzte, die
diesen Schwangerschaftsabbruch durchführen, haben, lie-
gen, objektiv betrachtet, wirklich in den Grundlagen der
Honorierung dieser Leistung. Zu dem Zeitpunkt, zu dem
das Schwangerenhilfegesetz gemacht wurde, war Mi-
fegyne noch nicht am Markt. Die besonderen Leistungen,
die zu einer korrekten Behandlung mit diesem Präparat
gehören, sind in dem Leistungsgeschehen nicht abgebil-
det. Deshalb kann das auch nicht honoriert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Das bedeutet also: Wir als Gesetzgeberinnen und Ge-
setzgeber haben hier überhaupt nicht über Defizite oder
falsche Vertriebswege zu reden, sondern es gibt schlicht
und einfach durch die Tatsache, dass dieses Präparat jetzt
eingesetzt werden kann, seitens des Bewertungsausschus-
ses einen Nachholbedarf, dies im Leistungsgeschehen
adäquat abzubilden.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Jetzt verkürzen Sie die Problematik!)


Es sind viele Diskussionen geführt worden, ob denn
nun die Gesetzgebung hier unterstützend begleiten kann.
Wir wissen, das SGB V ist der falsche Ort dafür. In den
§ 218 StGB zugehörigen Gesetzesregelungen sind in An-
erkennung der Besonderheit der nicht medizinisch be-
gründeten Abtreibung Regelungen vorgegeben worden,
welche sachgerechte Ausstattung eine solche Praxis ha-
ben soll.

Es bleibt hier also noch einmal der deutliche Appell:
Der Bewertungsausschuss muss nachvollziehen, was der
Gesetzgeber gewollt und was sich durch eine Verbreite-
rung der Maßnahmen, der medizinischen Möglichkeiten
ergeben hat. Wir als Gesetzgeberinnen und Gesetzgeber
werden genau beobachten, ob die Leistungserbringer hier
die notwendigen Nachregulierungen vornehmen. Ande-
renfalls müssen wir bei einer sehr zeitnahen Beobachtung
auf andere Weise darauf hinwirken, dass Frauen in der
ärztlichen Praxis tatsächlich eine Entscheidungsalterna-
tive haben und dass Frauen – wir haben vor eineinhalb
Stunden über eine frauengerechte Gesundheitsversorgung
gesprochen – nicht durch Hindernisse, die in ärztlicher
Honorierung oder falscher Bewertung begründet sind, da-
ran gehindert werden, den Schwangerschaftsabbruch in
der für sie richtigen Form durchführen zu lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412927100
Zu einer
Kurzintervention erteile ich nun der Kollegin Leutheusser-
Schnarrenberger von der F.D.P.-Fraktion das Wort.


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1412927200

Recht herzlichen Dank, Herr Präsident! – Ihr Wortbeitrag,
Frau Knoche, veranlasst mich zu einer Kurzintervention.
Ich habe den Eindruck, dass die Relationen und Gewichte
in dieser Debatte bisher nicht richtig gesehen oder ver-
schoben werden.

Natürlich ist es gut, wenn wir an die Firma appellieren,
das Präparat auf dem Markt zu lassen. Aber wenn die Be-
dingungen nicht stimmen, dann – das wissen wir alle doch
ganz genau – wird dieser Appell nicht einmal diesen
Raum verlassen


(Beifall bei der F.D.P.)

und wir werden draußen nicht ernst genommen werden,
wenn wir es allein dabei bewenden lassen.

Wenn Analysen und Untersuchungen ergeben, dass es
Hindernisse gibt, die mit dazu beitragen, dass dieses Me-
dikament, das nach Entscheidung des Arztes eben eine
schonendere Methode des Abbruchs sein kann, keine An-
wendung findet, müssen wir uns hier als Vertreterinnen
und Vertreter der Politik überlegen, womit wir – neben
den Appellen – unseren Beitrag leisten können.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich muss ganz ehrlich sagen, mir fehlt aufseiten der Re-

gierungskoalition ein bisschen die Aufgeschlossenheit ge-
genüber Überlegungen, wo wir gemeinsam ansetzen kön-
nen.




Annette Widmann-Mauz
12472


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir wissen: Allein der Vertriebsweg wird es nicht rich-
ten. Aber dass das bis zu 30 oder 40 DM zusätzliche Kos-
ten bedeutet, weiß jeder, der sich mit der Firma in Ver-
bindung setzt, sich nach Fakten erkundigt und sich einmal
wirklich über diesen Sachverhalt informiert.

Nur an diesem Punkt versuchen wir als F.D.P.-Fraktion
anzusetzen und zu sagen: Da, wo wir es in der Hand ha-
ben, durch Gesetzesänderungen die vorhandenen Hürden
zu beseitigen, sollten wir das auf alle Fälle tun.

Ich weiß, dass der Bewertungsausschuss selbstständig
ist und man ihm keine Weisungen geben kann, sondern
Appelle an ihn richten und Gespräche mit ihm führen
muss. Aber ich fände es unverantwortlich, wenn wir jetzt,
nachdem wir uns seit 25 Jahren mit dem Abtreibungsrecht
beschäftigen, nachdem wir uns viele Jahre lang – auch ge-
gen damalige Mehrheiten in der Regierungskoalition – als
Frauen über die Fraktionsgrenzen hinweg für diese Pille
eingesetzt haben, nicht einen gemeinsamen Weg fänden,
wenigstens das zu tun, was in unserer Macht steht.


(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412927300
Frau Kol-
legin Knoche, möchten Sie erwidern? – Bitte schön.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412927400

Man muss dies jetzt auch nicht übermäßig inszenieren.
Aber, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, weil
Sie mich darauf angesprochen haben: In Ihrem Antrag re-
duzieren Sie die Problematik in der Tat auf eine Verände-
rung des Vertriebsweges.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Das ist nicht der einzige Inhalt! Lesen Sie doch den Antrag!)


Sie erkennen an, dass der Politik ein Hineinregulieren
in den Bewertungsausschuss nicht möglich ist.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Das hat doch gar nichts damit zu tun!)


Ich habe doch in sehr deutlichen Worten gesagt, dass
wir damit nicht am Ende der Möglichkeiten sind. Wichtig
ist mir, deutlich zu machen, dass wir hier im Parlament
insgesamt ein sehr starkes Interesse daran haben, diese
Möglichkeiten in der Praxis auch zur Anwendung kom-
men zu lassen. Ich denke nicht, dass es nur in diesem
Raum bleibt oder verpufft, wenn wir von hier aus noch
einmal diese deutlichen Worte an die ärztliche Selbstver-
waltung richten, im Bewertungsausschuss die notwendi-
gen Korrekturen vorzunehmen.

Ich bin nicht der Überzeugung – davon war auch in der
Anhörung zur Einführung die Rede; wir haben gesagt, wir
beobachten das –, dass dieser Sondervertriebsweg ein
Hindernis zur Verordnung darstellt. Sie werden sich erin-
nern, dass wir damals auch gehört haben, das Präparat
werde sich, wenn wir den Weg über die Apotheken wähl-
ten, nicht verbilligen und dies werde auch die Zugäng-
lichkeit zu dem Präparat nicht verändern.

Es handelt sich also um eine Debatte, die zu dem Ziel
Ihres Antrags, das zugrunde liegende Problem im ge-
meinsamen Interesse zu lösen, keinen wirklichen Beitrag

zu leisten vermag, denn dieses jetzt aufgekommene Pro-
blem resultiert maßgeblich aus der nicht sachgerechten
Honorierung der Leistungen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Am 31.12.! Da ist es nämlich vom Markt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412927500
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Petra Bläss von der
PDS-Fraktion das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412927600
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Allein dass wir heute darüber disku-
tieren müssen, ob und wie Frauen mithilfe des Medika-
ments Mifegyne abtreiben können, ist schlimm genug.

Durch die offizielle Zulassung im vergangenen Jahr
haben Frauen in einer ohnehin schwierigen persönlichen
Situation nun die Möglichkeit, die sie am wenigsten be-
lastende Methode zum Schwangerschaftsabbruch zu
wählen – leider muss man sagen: vorausgesetzt, sie zah-
len selbst. Sind die Frauen auf finanzielle Unterstützung
angewiesen, haben sie diese Wahl nämlich derzeit nicht,
denn der Abbruch mit Mifegyne wird von den Ländern so
gering honoriert, dass die Ärztinnen und Ärzte de facto
das Medikament nicht bzw. kaum einsetzen. Dies führt
dazu, dass Mifegyne ganz vom Markt verschwinden wird,
wenn wir nicht eingreifen.

Ich will an dieser Stelle auch noch einmal sagen: Hier
geht es nicht darum, dieses Medikament ohne irgendwel-
che Einschränkungen hochzuloben. Bei den Debatten, die
wir anlässlich der Zulassung geführt haben, ging es wirk-
lich nur um eine gleichberechtigte Möglichkeit für den
Abbruch. Ich finde auch, dass es uns Parlamentarierinnen
und Parlamentariern überhaupt nicht zusteht, Debatten
über die medizinische Seite zu führen. Wir haben es hier
tatsächlich mit einem komplexen Problem zu tun und alle
vorgeschlagenen Lösungen, über die diskutiert wird, sind
in der Tat widersprüchlich.

Ich halte es für einen Skandal, dass die Durchführung
des medikamentösen Abbruchs an privatwirtschaftlichen
Kalkulationen scheitern könnte. Skandalös ist auch, dass
sich niemand wirklich für zuständig hält. Es kann doch
nicht sein, dass sich alle Beteiligten auf dem Rücken der
Frauen gegenseitig die Verantwortung zuschieben.


(Beifall bei der PDS und der F.D.P. – Detlef Parr [F.D.P.]: Sehr richtig!)


Deshalb ist jetzt das Parlament gefordert. Wir müssen eine
Lösung finden.

Wie bereits in der Debatte betont worden ist: Unser
Einfluss als Politikerinnen und Politiker auf den Bewer-
tungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen ist in der
Tat begrenzt. Dieser ist autonom und hat schon mehrfach
bekundet, dass er die Leistungskennziffern nicht ändern
wird. Also müssen wir den Weg über die Gesetzgebung
beschreiten.

Uns liegt jetzt der Gesetzentwurf der F.D.P.-Fraktion
vor, der sich vor allem gegen den Sondervertriebsweg von
Mifegyne wendet. Ich muss mich der Position der Kolle-
gin Wester und der anderen Kolleginnen anschließen; ich




Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

12473


(C)



(D)



(A)



(B)


sehe hierin tatsächlich nicht das Kernproblem. Es ist ein
Problem, aber nicht das Hauptproblem.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Richtig!)

Die Verluste der Firma Femagen werden sich auch

dann nicht wesentlich verringern, wenn sie die 30 Mark
pro Lieferung sparen kann. Der Verkauf in Deutschland
beträgt tatsächlich nur etwa ein Zehntel des französischen
Umsatzes. Das liegt eindeutig an der schlechteren Hono-
rierung der ärztlichen Leistungen.


(Dr. Hansjörg Schäfer [SPD]: Nur!)

Deshalb müssen wir hier ansetzen.

Über Ergänzungen im Schwangerschaftskonfliktge-
setz und im Schwangerenhilfegesetz können wir festle-
gen, dass bei medikamentösem Abbruch ein höherer Zeit-
aufwand für Beratung und Betreuung honoriert wird.

Und wir sollten eindeutig festlegen, dass die Länder
bei der Übernahme der Kosten für Schwangerschaftsab-
brüche nicht an den Bewertungsausschuss gebunden sind.
Dann – und nur dann – könnte eine bundeseinheitliche
Pauschalvergütung für alle ambulanten Abbrüche festge-
legt werden. Der medikamentöse Abbruch stünde gleich-
berechtigt neben dem operativen und die Frauen hätten
tatsächlich Wahlfreiheit.

Wenn wir uns darauf nicht verständigen können,
schlage ich vor, auf Bundesebene ein Budget einzurich-
ten, das die höheren Kosten von medikamentösen
Schwangerschaftsabbrüchen übernimmt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten nicht ver-
gessen, dass es sich bei Mifegyne nicht um ein normales
Medikament handelt. Eine ungewollte Schwangerschaft
ist keine Krankheit, die wie ein Gebrechen behandelt wer-
den kann. Es geht um nicht weniger als um das Selbstbe-
stimmungsrecht von Frauen und das ist bekanntlich
durch den § 218 StGB ohnehin unzumutbar einge-
schränkt. Solange er nicht ersatzlos gestrichen ist – ich
kann es nicht oft genug sagen –, werden wir hier immer
wieder solche Probleme wie das heute zur Debatte ste-
hende diskutieren müssen.

Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es in die-
sem Hause schon keine Mehrheit für die Festschreibung
des Selbstbestimmungsrechts von Frauen gibt, dann las-
sen Sie uns jetzt wenigstens eine Lösung finden, die den
betroffenen Frauen nicht noch weitere Steine in den Weg
legt, sondern die Möglichkeit des medikamentösen Ab-
bruchs rettet.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412927700
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Christa Nickels
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412927800
Schö-
nen Dank, Herr Präsident! Ich möchte kurz auf das einge-
hen, was die Kollegin Bläss gesagt hat. Frau Kollegin Bläss,
es ist ja so, dass der Gesetzgeber bestimmte Möglichkeiten

hat, Regelungen zur Durchführung eines Schwanger-
schaftsabbruchs zu treffen. Dies hat er im SGB V, im
Schwangerenhilfegesetz und im Schwangerschaftskonflikt-
gesetz – § 13 – gemacht.

Wir haben – Herr Kollege Parr, das haben wir in einer
anderen Debatte heute schon einmal gesagt –, angesichts
des gegliederten Krankenkassenwesens, in dem auch die
Selbstverwaltungsorgane weit reichende Rechte haben
– Stichwort Bewertungsausschuss –, und angesichts der
Tatsache, dass wir eben keine Staatsmedizin haben, son-
dern natürlich auch Unternehmer in gewisser Weise agie-
ren,


(Ina Lenke [F.D.P.]: Wo ist die Alternative?)

nicht die Möglichkeit, hier wie Rumpelstilzchen aufzu-
stampfen und zu sagen: So geht’s! Man kann das so nicht
einfach machen; man muss auch dann, wenn es Schwie-
rigkeiten gibt, wenn man bestimmte Sachen will, den
dafür vorgesehenen Weg gehen. Dieser Weg ist von den
beiden zuständigen Häusern in enger Absprache konse-
quent beschritten worden. Es ist so gewesen, Frau Bläss,
dass wir von Anfang an intensiv mit dem Bewertungsaus-
schuss gesprochen haben, und zwar in Ausschöpfung der
Möglichkeiten, die bestehen. Man darf nämlich keine
Präzedenzfälle schaffen, die unter Umständen in das ge-
samte Krankenkassenwesen eingreifen, die zum Beispiel
für den Bereich „Ambulantes Operieren“ unwirtschaftli-
che Strukturen vorantreiben. Das ist eine komplexe Mate-
rie. Ich kann mich gern noch einmal mit Ihnen hinsetzen
und das erläutern.

Wir haben das Problem ausgelotet. Eine Frage dabei
war: Schreibt § 13 Schwangerschaftskonfliktgesetz vor,
dass in allen entsprechenden Einrichtungen auch tatsäch-
lich die Möglichkeiten für operative Eingriffe vorzuhalten
sind? Wir haben das federführende Ministerium dazu be-
fragt. Es hat dies bestätigt. Das ist ein Punkt, der im Be-
wertungsausschuss immer noch strittig ist. Wenn es hier
einen Ansatzpunkt gibt, dann nur aufgrund der spezialge-
setzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, der
nicht medizinisch indiziert ist. Hierzu und auch bezogen
auf die Frage des Beratungsbedarfs, der noch nicht abge-
golten zu sein scheint, werden Gespräche geführt. Das ist
der eine Punkt.

Der andere Punkt betrifft das, was auch Sie, Frau Kol-
legin Bläss, hinsichtlich des Sondervertriebsweges an-
gesprochen haben: Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie gesagt
haben: Das ist nicht das eigentliche Problem. Ich möchte
das noch einmal erläutern. Hier wird nicht gesagt, dass
dieser Sondervertriebsweg sehr viele Vorteile hat: Die
Anonymität der Frauen ist sowohl in den Apotheken als
auch gegenüber dem Unternehmer absolut gewahrt.

Im Vorfeld ist von bestimmten Kreisen ganz massiv die
Gefahr des Missbrauchs und der Abzweigung gemutmaßt
worden. Diese ist mit dem Sondervertriebsweg absolut
ausgeschlossen. Die Verfügbarkeit in 20 000 Apotheken
wurde von vielen als zu breit angesehen. Das war ein
Punkt.

Der Sondervertriebsweg ist auch nicht teurer. Beim
Vertrieb über Apotheken fielen 16 Prozent Mehrwert-
steuer und 40 bis 50 Prozent Großhandels- und Apothe-
kenvertriebskosten an.




Petra Bläss
12474


(C)



(D)



(A)



(B)


Es stimmt nicht, dass das der Hauptpunkt ist. Das
möchte ich auch in Richtung F.D.P. noch einmal sagen.
Ich bin froh, Frau Bläss, dass Sie das noch einmal ange-
sprochen haben.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412927900
Frau Kol-
legin Nickels, bitte kommen Sie zum Schluss.


Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412928000

Ich komme zum Schluss. – Es ist natürlich ein Problem,
wenn sich ein Unternehmen am Anfang der Markteinfüh-
rung eines Medikaments mit der Tatsache konfrontiert
sieht, dass es erst langsam anläuft. Dazu muss man Lö-
sungen finden. Dazu gibt es auch marktwirtschaftliche
Möglichkeiten. Hier muss gesprochen werden. Aber das,
was hier vorgeschlagen wird, ist nicht hilfreich.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Ina Lenke [F.D.P.]: Ach ja? Und was hilft uns weiter?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412928100
Frau Kol-
legin Bläss, Sie haben Gelegenheit zu erwidern.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412928200
Frau Kollegin Nickels, so dank-
bar ich Ihnen für die fachlichen Erläuterungen bin, ver-
stehe ich doch Ihre Aufregung nicht. Wir sind in der guten
Situation, dass wir jetzt endlich eine parlamentarische
Vorlage haben, um in den Fachausschüssen diskutieren zu
können. Ich bin dafür, dass dort ganz präzise und transpa-
rent deutlich gemacht wird, wo es Möglichkeiten für An-
ordnungen welcher Stellen gibt.

Es ist einfach so, dass die Öffentlichkeit nicht adäquat
informiert worden ist. Das laste ich Ihnen nicht an. Das ist
einfach eine hochkomplizierte Materie.

Wir sollten gemeinsam gucken: Wo haben wir tatsäch-
lich gesetzgeberischen Handlungsbedarf? Das sehe ich
nicht als schon abgegolten. Ich sehe durchaus die Mög-
lichkeit und die Chance, dass wir hier wirksam handeln.
Denn die Praxis im letzten Jahr hat gezeigt, dass es allein
über Appelle nicht weitergeht.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412928300
Als
nächster Redner hat der Kollege Hansjörg Schäfer von der
SPD-Fraktion das Wort.


Dr. Hansjörg Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1412928400
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Nachdem jahrelang Schwanger-
schaftsabbrüche in Deutschland ausnahmslos chirurgisch
durchgeführt wurden, bietet sich seit mittlerweile einem
Jahr die Möglichkeit zum medikamentösen Abbruch. Die
Erfahrungen mit dieser Methode sind in der Bundesrepu-
blik genau wie in anderen Ländern, in denen diese Me-
thode angewandt wird, hervorragend. Der Abbruch mit
Mifegyne ist eine schonende, von den betroffenen Frauen
höchst akzeptierte Methode. Die Erfahrungen zeigen,
dass die physische, vor allem aber auch die psychische
Belastung deutlich geringer ist. Es kann festgestellt wer-

den: Der Schwangerschaftsabbruch mit Mifegyne ist eine
schonende, sichere und das Leid der betroffenen Frauen
begrenzende Methode.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Trotzdem stößt diese schonende Art des Schwanger-
schaftsabbruchs bei den durchführenden Ärzten vor allen
Dingen wegen der ungerechten Honorierung auf wenig
Gegenliebe. Die Folge ist, dass die Mehrzahl der Schwan-
gerschaftsabbrüche immer noch operativ geschieht. Das
dürfte nach wie vor in mehr als 95 Prozent der Fälle so
sein, wenn die statistischen Zahlen stimmen; Herr Parr,
das kann ich hier nicht untersuchen.

Mifegyne verstaubt in den Regalen der Vertreiber-
firma. Die Firma hat angekündigt, sich bis zum Ende des
Jahres aus dem Vertrieb zurückzuziehen, zum einen, weil
sich die Umsatzerwartungen nicht erfüllt haben, zum an-
deren, weil sich der Vertrieb nach ihren Angaben defizitär
gestaltet. Das ist eine innerbetriebliche Entscheidung der
Firma, die ich hier nicht kommentieren möchte.

Einen Gewinn zu erwirtschaften scheint für mich bei
einem adäquaten Umsatz durchaus realistisch. Denn es ist
festzuhalten: Der Verkaufspreis von Mifegyne schwankt
in Europa zwischen 130 und 170 DM. Man könnte des-
wegen von einem Firmenabgabepreis von etwa 100 DM
ausgehen. In Deutschland wird das Präparat zurzeit mit
154 DM vergütet. Ich persönlich gehe deswegen davon
aus, dass die französische Herstellerfirma Exelgyne wohl
keine Schwierigkeiten haben wird, einen neuen Vertreiber
für den deutschen Markt zu finden. Die Firma Exelgyne
hat bereits angekündigt, dass sie innerhalb der nächsten
Wochen einen neuen Vertreiber vorstellen wird. Wo liegt
also das Problem? Theoretisch könnte der Vertrieb auch
aus anderen Mitgliedstaaten erfolgen, wenn die entspre-
chenden deutschen Regelungen eingehalten würden. Das
würde zwar die Überwachung verkomplizieren, aber es
wäre durchaus legal und möglich.

Die im Entwurf der F.D.P. vorgesehene Alternative bie-
tet keine Vereinfachung und birgt die Gefahr einer neuer-
lichen Verteuerung des Medikaments. Vorgeschlagen
wird ein anderer Vertriebsweg. Ähnlich wie bei der An-
gabe von Medikamenten nach dem Betäubungsmittelge-
setz würde ein besonderes Rezept die Abgabe in Apothe-
ken erfordern. Wäre das eine Vereinfachung? – Ich glaube
nicht. Zumindest die Dokumentation des Vertriebs würde
sich nicht vereinfachen. Auch für die Wahrung der Ano-
nymität der Frau sehe ich zusätzliche Probleme. Sie haben
darauf hingewiesen.

Sicher ist: Es würden höhere Kosten entstehen. So
muss man auf jeden Fall mit Aufschlägen für die Mehr-
wertsteuer und für die Kosten des Großhandels und der
Apotheken rechnen. Dies würde den Abgabepreis, jedoch
nicht den Gewinn der Firma erhöhen. Hinzu kommt, dass
der jetzige Vertriebsweg durch die Direktabgabe sicherer
erscheint. Die Entstehung eines Schwarzmarktes ist bei
dem bisherigen Weg mit hoher Wahrscheinlichkeit ausge-
schlossen.

Was können wir stattdessen tun, um die existierenden
Probleme zu lösen? – Wir können dafür sorgen, dass die




Christa Nickels

12475


(C)



(D)



(A)



(B)


Hindernisse für den Einsatz von Mifegyne aus dem Weg
geräumt werden. Hindernisse sind zum einen Details des
Vertriebsweges und zum anderen die nicht angemessene
Bezahlung der ärztlichen Leistung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist angebracht, über eine Verfeinerung des Ver-
triebsweges nachzudenken. Bisher darf nur eine sehr be-
grenzte Packungszahl geliefert werden. Das können wir
ändern. Denkbar wäre, dass die prospektive Jahresmenge
an die zugelassenen Ärzte ausgeliefert und dann im ein-
zelnen Fall nachrezeptiert wird. Diese mögliche Praxis
setzt den logistischen Aufwand herab und senkt damit ent-
scheidend die Vertriebskosten, ohne zulasten der Sicher-
heit des Vertriebsweges zu gehen. Damit bliebe auch der
Preis des Präparates in vernünftigen Grenzen. Sie sehen,
dieses Problem ist recht einfach zu lösen und rechtfertigt
auf keinen Fall einen Gesetzentwurf, der nur komplizier-
ter macht, was einfach funktioniert.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Außer unserem Gesetzentwurf liegt nichts auf dem Tisch!)


– Genau zu diesem Gesetzentwurf spreche ich.
Das zweite und weitaus gravierendere Problem ist die

Honorierung der ärztlichen Leistung. Das darf man
nicht herabwürdigen; denn ich muss sagen: Die Leistung
der Ärzte, die bisher Abbrüche durchgeführt haben, ist
sehr positiv zu sehen. Die Vorleistungen, die gemacht
werden, um einen OP vorzuhalten, müssen ebenfalls ge-
sehen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die ausführenden Mediziner führen an, dass Leistung
und Entgelt nicht in einem korrekten Verhältnis zueinan-
der stünden. Der zeitliche, räumliche und personelle Auf-
wand werde nicht entsprechend honoriert. Der zeitliche
Aufwand ist in der Tat recht hoch, was in der notwendi-
gen und lang andauernden intensiven Überwachung der
Patientinnen sowohl nach Einnahme von Mifegyne selbst
als auch zwei Tage später nach der Einnahme von Pros-
taglandinen begründet ist. Die Ausstattung der Praxen
muss der besonderen Situation gerecht werden. Weiterhin
ergeben sich besondere Anforderungen an das notwen-
dige Fachpersonal. Sieht man von der Bereitstellung eines
Operationssaals und der Anästhesie ab, ist der Aufwand
für medikamentöse und chirurgische Abbrüche durchaus
vergleichbar. Gleichwohl werden sie unterschiedlich ho-
noriert.

Eine Lösung könnte in der verbesserten Vergütung der
Überwachungszeit liegen. Die empfohlene Dauer dieser
Überwachung von vier Stunden nach der Einnahme der
Prostaglandine wird derzeit überhaupt nicht vergütet.
Dies könnte ein Ansatz für die weitere Diskussion sein.

Der Ansatz der F.D.P. eignet sich nicht dazu, die ange-
sprochenen Probleme zu lösen. Er bietet keinen korrekten
Ansatz zur Verbesserung der Honorarsituation. Es ist
keine Lösung, dass – so wie es Ihr Antrag vorsieht – die
rechtlich geduldeten Abbrüche im Rahmen der Fristenlö-
sung durch die Bundesländer besser vergütet werden sol-

len als die medizinisch indizierten Abbrüche. Dies kann
nicht gewünscht sein und tritt als Lösung deutlich zu kurz.

Die bei der Verwendung von Mifegyne aufgetretenen
Probleme sind für meine Begriffe nicht dazu geeignet,
längst geschlagene Schlachten erneut zu schlagen; dazu
sind die Gemeinsamkeit in diesem Haus zu groß und die
Differenzen zu gering.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Detlef Parr [F.D.P.] – Albert Deß [CDU/CSU]: So groß sind sie auch wieder nicht! Es handelt sich um die Tötung menschlichen Lebens! Es ist makaber, was hier diskutiert wird!)


– Herr Kollege, die Diskussion haben wir vor Monaten
und Jahren geführt. Sie hier bei jedem Moment wieder an-
zuführen macht Ihre Meinung nicht bedeutend besser.

Es geht hier um den praxisnahen Einsatz einer guten
Methode und um deren Bezahlung im Interesse der be-
troffenen Frauen – um sonst nichts.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412928500
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Anke Eymer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Anke Eymer (CDU):
Rede ID: ID1412928600
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen
und Kolleginnen! Es kann heute nicht Sinn dieser Debatte
sein – das war es bisher auch nicht –, die Auseinanderset-
zungen über den Schwangerschaftsabbruch erneut hier im
Bundestag zu führen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Denn die Grundsatzentscheidung ist gefallen. Gemein-
sam haben wir festgestellt, dass es Aufgabe der Politik ist,
ungeborenes Leben zu schützen. Nicht eine scheinbare
Erleichterung des Schwangerschaftsabbruchs ist Inhalt
der politischen Auseinandersetzung. Vielmehr müssen die
Konzepte zum Schutz des entstehenden Lebens und zur
Förderung von Eltern und Kindern weiter ausgebaut wer-
den.

Wir dürfen uns durch diese Diskussion um ein Mittel
zum Schwangerschaftsabbruch nicht von unserem ge-
meinsamen Anliegen ablenken lassen, schwangeren
Frauen in Konfliktsituationen Hilfe anzubieten, um sie für
das ungeborene Leben zu gewinnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Hat die Frau jedoch nach gesetzlich vorgeschriebener
Beratung die Entscheidung getroffen, die Schwanger-
schaft abzubrechen, dann ist die Anwendung von Mi-
fegyne nicht die angeblich schonendere Methode. Denn
es muss darauf hingewiesen werden, dass seine Anwen-
dung nach bisherigen Erkenntnissen zu zahlreichen




Dr. Hansjörg Schäfer
12476


(C)



(D)



(A)



(B)


erheblichen gesundheitlichen Risiken und schweren psy-
chischen Folgen für die Frau führen kann.


(Dr. Hansjörg Schäfer [SPD]: Woher wissen Sie das? Wer sagt denn das? Sie haben keine Ahnung! Das ist eine falsche Behauptung!)


Ich halte den Versuch, zu suggerieren, dass diese Methode
ein sanfter Schwangerschaftsabbruch sei, für verantwor-
tungslos.


(Dr. Hansjörg Schäfer [SPD]: Haben Sie jemals mit einer betroffenen Frau darüber geredet?)


– Herr Kollege, warten Sie doch erst einmal ab, was ich
weiter zu sagen habe.

Das Hormonpräparat Mifegyne ist – soweit wir wis-
sen – keinesfalls unproblematisch. In Frankreich ist die
Anwendung von Mifegyne auf Frauen unter 35 Jahren
eingeschränkt. Sie müssen zusätzlich eine stabile Ge-
samtverfassung aufweisen und dürfen keine Raucherin-
nen sein. Nicht umsonst wird eine umfassende ärztliche
Betreuung bei einem Abbruch mittels Mifegyne für not-
wendig gehalten. Neben Mifegyne müssen Wehen auslö-
sende Mittel verabreicht werden; in manchen Fällen ist
zusätzlich ein chirurgischer Schwangerschaftsabbruch
notwendig.

Es können – ich habe nicht gesagt: müssen – auch Ne-
benwirkungen wie starke Blutverluste, Schmerzen und
Übelkeit auftreten. Keinesfalls darf unterschätzt werden,
dass ein Abbruch durch Mifegyne erhebliche psychische
Belastungen für die Frauen mit sich bringen kann, da die
Frauen nicht nur die Entscheidung über den Schwanger-
schaftsabbruch treffen, sondern den Abbruch selber vor-
nehmen.

Problematisch ist der Einsatz von Mifegyne insbeson-
dere vor dem Hintergrund der Pflichtberatung. Da das
Präparat nur bis zur siebten Woche eingesetzt werden
darf, entsteht hinsichtlich der Entscheidung in einem
Schwangerschaftskonfliktfall ein hoher zeitlicher Druck.
Die Zielsetzung der Pflichtberatung, nämlich zum Leben
zu beraten, gerät in ernsthafte Gefahr, da der Zeitdruck ei-
nen sorgfältigen und zeitintensiven Beratungsprozess ver-
hindern kann. Das bedeutet, dass die Anwendung von Mi-
fegyne besonders intensiver ärztlicher Beratung und
Unterstützung bedarf.

Es gibt auch Hinweise für die Vermutung, dass die
psychische Belastung bei einem Abbruch mit Mifegyne
für manche Frauen größer ist als bei einem chirurgischen
Eingriff, weil die Frau durch die Einnahme der Pillen den
Schwangerschaftsabbruch selbst auslöst und den Vorgang
über mehrere Tage hinweg bewusst an sich erlebt. Dabei
übernimmt die Frau eine aktive Rolle; stärkere Schuldge-
fühle könnten die Folge sein. Auch von daher ist eine hel-
fende Begleitung durch den Arzt notwendig und geboten.

Aus all diesen Gründen ist es nicht verständlich, dass
diese Methode des Schwangerschaftsabbruchs finanziell
anders abgegolten wird als der chirurgische Schwanger-
schaftsabbruch,


(Dr. Hansjörg Schäfer [SPD]: Wer schlägt denn das vor?)


zumal für eine Reihe von Frauen der Abbruch mittels Mi-
fegyne der schonendere sein kann. Von daher kann es
nicht Aufgabe des Bundesgesetzgebers sein, die Vergü-
tung der Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Kran-
kenversicherung an sich zu ziehen.


(Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch gar nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung geregelt! In der gesetzlichen Krankenversicherung ist geregelt, dass es nicht bezahlt wird!)


Aber die gesetzliche Krankenversicherung bleibt aufge-
fordert, die Anpassung vorzunehmen.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Wer hat Ihnen denn die Rede geschrieben?)


Auch die Länder haben im Rahmen ihrer Zuständigkeit
die Aufgabe, diesen Frauen die Möglichkeit zu geben, den
für sie schonendsten Weg eines von ihnen gewünschten
Schwangerschaftsabbruchs zu wählen und diesen dann
auch finanziell zu tragen.

Über den Vertriebsweg muss in den Ausschussbera-
tungen weiter diskutiert werden. Dabei muss es oberstes
Ziel sein, dass eine missbräuchliche Nutzung von Mi-
fegyne ausgeschlossen ist.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Wie bei jedem anderen Betäubungsmittel auch!)


Wir wollen den Frauen helfen, die sich nach ausführli-
cher Beratung für einen Schwangerschaftsabbruch ent-
scheiden.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412928700
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk vom
Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Ich möchte gerne wieder auf den Gesetzentwurf
zurückkommen, den wir hier beraten. Zunächst begrüße
ich es, dass sich die F.D.P. Gedanken darüber gemacht hat,
wie ein mögliches Aus für den medikamentösen Schwan-
gerschaftsabbruch verhindert werden kann. Immerhin
kämpfen Frauen in allen Parteien seit Jahren dafür, dass
die gesundheitsschonendere – das ist sie in vielen Fällen –
medikamentöse Abbruchmethode auch Frauen in
Deutschland zur Verfügung steht.

Frau Widmann-Mauz, Sie müssen sich in Ihrer Argu-
mentation schon entscheiden: Sie sagen, Sie seien gegen
Mifegyne, aber für einen anderen Vertriebsweg.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das habe ich so nicht gesagt!)


Man ist entweder für das eine oder das andere.
In nahezu allen europäischen Ländern ist die Pille er-

hältlich. In Schweden wird jeder zweite Abbruch und in
Frankreich jeder dritte Abbruch medikamentös vorge-
nommen.




Dr. Hansjörg Schäfer

12477


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412928800
Frau Kol-
legin Schewe-Gerigk, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Widmann-Mauz?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412928900
Frau Kol-
legin Widmann-Mauz, bitte schön.


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1412929000
Frau Kolle-
gin Schewe-Gerigk, wollen Sie zur Kenntnis nehmen,
dass ich mich nie gegen dieses Präparat ausgesprochen
habe, dass ich im Übrigen bei der Frage der Einführung
bzw. des Vertriebsweges im Parlament bereits zweimal
gesprochen habe und jedes Mal gesagt habe: „Wenn
dieses Präparat den gesetzlichen Bestimmungen des
BfArM für die Einführung eines Schwangerschaftsprä-
parates entspricht, habe ich diese Entscheidung nicht zu
kritisieren“, dass ich aber sehr wohl eine andere Auffas-
sung bezüglich des besten Vertriebsweges für dieses Prä-
parat habe, wie ich dies bereits in der Vergangenheit im
Parlament zum Ausdruck gebracht habe? Durch die
Diskussion über den Vertriebsweg sehe ich meine Haltung
und die Haltung meiner Fraktion auch bestätigt.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

werten, die Sie gerade gehalten haben. Darin ist für mich
zum Ausdruck gekommen, dass Sie gegen Mifegyne, aber
für einen anderen Vertriebsweg sind. Insofern habe ich
Ihre jetzigen Ausführungen zu bewerten und nicht das,
was Sie vorher einmal gesagt haben.


(Beifall bei der SPD)

Nach einem Jahr muss festgestellt werden, dass ledig-

lich 2 bis 3 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche in
Deutschland mit Mifegyne vorgenommen werden. Herr
Parr, die Zahl, die Sie genannt haben – 6 Prozent –, kann
nicht stimmen. Ich kann Ihnen gleich die Zahlen des Sta-
tistischen Bundesamtes geben.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Von 6 über 4 auf 2 Prozent gesenkt!)


– Nein, es waren noch nie 6 Prozent. Wir müssen das jetzt
nicht diskutieren. Wie gesagt, ich gebe Ihnen die Zahlen
des Statistischen Bundesamtes.

Diese niedrigen Prozentzahlen haben den Hersteller
dazu veranlasst, das Mittel Ende dieses Jahres aus ökono-
mischen Gründen vom Markt zu nehmen. Damit hätten
Frauen in Deutschland keine Möglichkeit mehr, die für sie
am besten geeignete Abbruchmethode zu wählen. Dies
möchte die rot-grüne Koalition verhindern. Insoweit stim-
men wir mit dem Ziel, das die F.D.P. mit ihrem Gesetz-
entwurf verfolgt, überein. Dieser Entwurf ist allerdings
nicht geeignet, eine Lösung für das heutige Problem an-
zubieten. Er bietet nur eine Teillösung an.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Ich denke, die Demokratie ist ein Wettbewerb der Ideen!)


Es ist mitnichten der Vertriebsweg, der den Einsatz von
Mifegyne erschwert. Der Sondervertriebsweg, der extra
wegen der gesetzlichen Regelungen des straffreien
Schwangerschaftsabbruchs gewählt wurde, erhöht zwar
die Kosten für das Medikament um 30 DM. Aber Han-
delsaufschläge für Großhändler und Apotheken in Höhe
von 40 Prozent fallen weg. Diese spart das Unternehmen
also ein. Insofern zählt auch das Preisargument nicht.
Die erheblichen Zusatzkosten, Frau Leutheusser-
Schnarrenberger, bestehen also nicht.

Dass die Ursache für die niedrige Verschreibungsrate
nicht der Vertriebsweg ist, kann sogar statistisch bewiesen
werden. Länder wie Baden-Württemberg und Schleswig-
Holstein verzeichnen im Vergleich zu anderen Bundes-
ländern einen höheren Einsatz von Mifegyne. Der Grund
liegt auf der Hand: Diese Länder zahlen den Ärzten ange-
messene Honorare. Genau da liegt auch das Problem.
Während für einen medikamentösen Abbruch 279 DM
inklusive 160 DM für die Pille gezahlt werden, ist die Er-
stattung für einen chirurgischen Eingriff mehr als doppelt
so hoch. Diese Sätze sind vom Bewertungsausschuss,
dem Selbstverwaltungsorgan der Ärzte und Krankenkas-
sen, festgelegt worden. Es hat sich jedoch herausgestellt,
dass der Satz für den medikamentösen Abbruch nicht aus-
reichend und angemessen ist; denn es wird ja nicht nur die
Pille verabreicht. Vielmehr sind umfangreiche Beratungs-
und Beobachtungszeiten notwendig. Herr Schäfer hat das
gerade sehr eindrucksvoll dargestellt.

Die Gesundheitsministerin hat nun angekündigt, dass
sie in den Ausschuss eine neue Vorlage einbringen
möchte, die eine bessere Vergütung vorsieht. Was daraus
wird, müssen wir abwarten. Es ist sicherlich richtig, wenn
erneut versucht wird, den medikamentösen Abbruch sach-
gerecht zu bewerten.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412929100
Frau Kol-
legin Schewe-Gerigk, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412929200
Bitte
schön, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1412929300

Frau Schewe-Gerigk, ich frage Sie, ob Sie sich noch erin-
nern, dass der Vorschlag vom 23. Oktober, die tatsächlich
anfallenden Kosten bei der Behandlung mit Mifegyne im
Gesetz festzuschreiben, damit gewährleistet wird, dass
Leistungen wie der Einsatz von medizinischen Apparaten
auch bezahlt werden können, von Ihrer Fraktion gemacht
worden ist. Wenn Sie dies jetzt im Rahmen eines eigenen
Gesetzentwurfes oder Änderungsantrages zu unserem
Gesetzentwurf einbringen würden, dann hätten wir eine
Grundlage, auf der wir über viele Ansätze beraten und uns
eine eigene Meinung bilden könnten.






(C)



(D)



(A)



(B)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

zen auf ein Stufenverfahren. Zunächst einmal versuchen
wir beim Bewertungsausschuss – hier liegt das eigent-
liche Problem – Verständnis dafür zu wecken,


(Detlef Parr [F.D.P.]: Das versuchen Sie schon seit Jahren ohne Ergebnis!)


dass der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch nicht
nur aus dem Verabreichen der Pille besteht,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


sondern dass er auch Beobachtungszeiten von vier Stun-
den und das Vorhalten von Apparaten für einen möglichen
chirurgischen Eingriff notwendig macht. Genau darüber
wird die Gesundheitsministerin mit den Mitgliedern des
Bewertungsausschusses sprechen. Das Ergebnis dieses
Gesprächs wollen wir abwarten.

In der nächsten Stufe werden wir mit den Ländern ver-
handeln. Auch Sie haben solche Verhandlungen mit den
Ländern in Ihrem Antrag gefordert, damit die Länder
aufgrund entsprechender gesetzlicher Änderungen mehr
für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch zah-
len können. Das können die Länder schon jetzt. Baden-
Württemberg und Schleswig-Holstein zahlen schon heute
mehr als die anderen Bundesländer. Das, was Sie fordern,
ist schon aufgrund der jetzigen gesetzlichen Grundlagen
möglich.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.]: Sie haben also nichts verändert! Ihr Vorschlag ist zurückgenommen!)


– Warten Sie ab!
Ich appelliere an dieser Stelle an den Bewertungsaus-

schuss, eine sachgerechte Bewertung des medikamentö-
sen Schwangerschaftsabbruchs vorzunehmen. Aufgrund
der jetzigen Diskussion sieht man, wie dringend notwen-
dig eine Neubewertung ist. Es wäre auch hilfreich, wenn
die Ärzte selbst ihre Kollegen im Bewertungsausschuss
davon überzeugen würden, dass die bisherige Honorie-
rung des medikamentösen Abbruchs nicht adäquat ist.
Den Weg, den Sie vorgeschlagen haben – die Länder ent-
sprechend aufzufordern –, habe ich gerade schon ange-
sprochen.

Allerdings muss ich Folgendes sagen: Ich möchte
nicht, dass es von einem einzelnen Bundesland abhängt,
ob eine Frau frei wählen kann, welche Abbruchmethode
für sie die richtige ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Wenn sich die Länder hinsichtlich der angebotenen
Schwangerschaftsabbruchmethoden unterschiedlich ent-
scheiden, dann sollte man die Frauen nicht dafür bestra-
fen, in welchem Bundesland sie leben. Daher bliebe für
meine Fraktion als letztes Mittel, wenn dies alles nicht
fruchtet – jetzt kommt das, worauf sie so lange gewartet
haben, Frau Leutheusser-Schnarrenberger –, eine gesetz-

liche Änderung und eine Klarstellung, welche Leistungen
honoriert werden müssen.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Wie lange wollen Sie denn noch warten?)


Eine mangelnde Finanzierung darf nicht verhindern, dass
Frauen eine gesundheitsschonendere Methode vorenthal-
ten wird. Dafür werden wir uns einsetzen. Ich hoffe, dass
Sie auf unserer Seite stehen werden.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412929400
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin
Ina Lenke von der F.D.P.-Fraktion das Wort.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1412929500
Herr Präsident! Liebe Kollegin,
ich platze fast vor Wut. Sie haben den Gesetzentwurf
überhaupt nicht richtig gelesen. Er besteht nämlich nicht
nur aus einem Teil, sondern aus drei Teilen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es geht darum, dass die Kosten für ärztliche Leis-

tungen nicht adäquat bezahlt werden.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das steht nicht in der Vorlage!)


Es geht aber auch um den Vertriebsweg. Sie haben Ihre
Argumentation sehr detailliert auf den Vertriebsweg ab-
gestellt. Ich zitiere gleich zu Anfang Frau Bergmann:

Wir sind in Deutschland offensichtlich die Oberide-
ologen.

(Detlef Parr [F.D.P.]: Sehr schöner Ausdruck!)

In anderen Ländern scheint es diese Probleme nicht
zu geben.

Diese ganze Diskussion zeigt: Appelle, Appelle, Appelle
und nichts Konkretes von Ihnen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir haben immer nur die Ablehnung unseres Entwurfes
vor die Nase gesetzt bekommen, während Sie nichts Kon-
kretes gemacht haben, nach dem Motto: Warten wir ein-
mal ab! Schauen wir einmal! Wir wollen appellieren; viel-
leicht kommt etwas. – Schon am vorletzten Freitag wollte
die Ministerin Fischer Ihnen etwas vorschlagen. Bis
heute, Viertel vor neun, liegt nichts auf dem Tisch, obwohl
Sie die Möglichkeit gehabt hätten, zu dieser Diskussion
etwas vorzulegen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Frau Fischer hat uns zu Anfang, bei der Einführung von

Mifegyne, im Stich gelassen. Da hat sie überhaupt nichts
gesagt. Schröder musste kommen und ein Machtwort
sprechen.


(Beifall bei der F.D.P.)







(C)



(D)



(A)



(B)


Was hier letztendlich abläuft, ist doch skurril.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja, Ihre Vorlage!)

Ich muss sagen, liebe Kollegen von der Regierung: Sie

haben bisher nichts Konkretes vorgelegt. Wir haben einen
Gesetzentwurf eingebracht.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie hören ja nicht einmal zu!)


Das, was ich in der Fragestunde von Frau Niehuis gehört
habe, war genau das Gleiche, was Sie hier heute gemacht
haben, Appelle nach dem Motto: Schauen wir einmal! Wir
müssen einwirken; aber eigentlich können wir nicht, weil
der Bewertungsausschuss unabhängig ist. – Was soll denn
das alles?

Wir haben bald den 31. Dezember. Ich fange an, Weih-
nachtsgeschenke einzukaufen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie müssen Ihre Arbeit machen und nicht Weihnachtsgeschenke einkaufen!)


Sie wissen, dass in der ersten Dezemberwoche die letzte
Möglichkeit besteht, im Parlament noch in diesem Jahr et-
was auf den Weg zu bringen. Was wollen Sie denn ei-
gentlich?

Unser Gesetzentwurf besteht aus drei Teilen; vieles ist
von Ihnen vergessen worden. Der erste Teil betrifft die
Änderung des Arzneimittelgesetzes. Der zweite Teil be-
trifft die Änderung des Gesetzes zur Hilfe für Frauen bei
Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen. Da-
rauf sind Sie gar nicht eingegangen. Der dritte Teil betrifft
das Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von
Schwangerschaftskonflikten. Wenn Sie sich ernsthaft mit
diesen drei Teilen unseres Gesetzentwurfs beschäftigt hät-
ten, dann wären wir heute zu einem besseren Ergebnis ge-
kommen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich stelle hier fest: Die Bundesregierung macht nichts.

Mifegyne wird am 31. Dezember vom Markt genommen
werden. Die F.D.P. wird die einzige Kraft gewesen sein,
die, zum Beispiel mit ihrem Antrag, dagegen gekämpft
hat. Die Leidtragenden werden die Frauen sein, die Mi-
fegyne in Deutschland nicht mehr bekommen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sind ziemlich selbstgerecht!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412929600
Frau Kol-
legin Lenke, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1412929700
Nein, ich lasse keine Zwischen-
frage zu. Frau Schewe-Gerigk würde nichts anderes als
Appelle oder sonst etwas von sich geben und das ist mir
politisch zu leichtgewichtig.

Wir von der F.D.P.-Fraktion, Herr Parr – da haben wir
einmal einen Mann, der für Fraueninteressen ein-
tritt –,


(Beifall bei der F.D.P.)


Frau Leutheusser-Schnarrenberger, andere Frauen und ich
werden jedenfalls bis zum 31. Dezember weiterkämpfen,
damit etwas geändert wird. Mit Ihren Appellen erreichen
Sie nichts, überhaupt nichts.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Was hat denn der Herr Dr. Schäfer gesagt? Sie haben nicht zugehört!)


Heute Abend haben wir gesehen, dass nichts Substanziel-
les in Ihren Reden vorhanden ist.

Wenn Sie noch etwas ändern wollen, dann bewegen Sie
sich in den Ausschusssitzungen inhaltlich auf unseren An-
trag zu. Wenn Sie Ihre politische Aussage wirklich in die
Realität umsetzen wollen,


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das machen wir!)


wenn Sie die Wahlmöglichkeiten für Frauen erhalten wol-
len, dann können Sie nicht so herumreden. Mit Appellen
geht im Bundestag schon gar nichts.


(Beifall bei der F.D.P. – Dr. Hansjörg Schäfer [SPD]: Das war nichts, nichts, nichts!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412929800
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/4289 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurBekämp-
fung gefährlicher Hunde
– Drucksache 14/4451 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Margot von Renesse, Hans-Joachim
Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck

(Köln), Hans-Christian Ströbele, Ulrike Höfken,

weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Obligatorische Haftpflichtversicherung für
Hunde
– Drucksache 14/3825 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Ulrich Heinrich, Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.




Ina Lenke
12480


(C)



(D)



(A)



(B)


Bevölkerung wirksam vor „Kampfhunden“
schützen
– Drucksache 14/3785 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

Es ist vereinbart worden, dass die Reden zu Protokoll
gegeben werden; sie liegen mir hier vor1). Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4451, 14/3825 und 14/3785 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4451 soll zusätzlich
an den Rechtssausschuss überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus
Brähmig, Otto Bernhardt, Friedrich Bohl, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine
einmalige Entschädigung an die Heimkehrer
aus dem Beitrittsgebiet
– Drucksache 14/4144 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Klaus Brähmig von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1412929900
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Heute, am Vorabend
des 9. Novembers, debattiert der Deutsche Bundestag
einen Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
über eine einmalige Entschädigung an die Heimkehrer
aus dem Beitrittsgebiet.

Sehr herzlich begrüße ich die Landesvorsitzenden des
Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Ver-
misstenangehörigen in Berlin und Brandenburg, Herrn
Engert und Herrn Altmeyer, die auf der Tribüne des Ple-
narsaals Platz genommen haben.


(Beifall)

Gleichzeitig möchte ich die Gelegenheit nutzen, um
Ihrem Verband und seinen Verantwortungsträgern im Na-
men der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Ihr jahrzehn-
telanges ehrenamtliches Engagement im Dienste unserer
Kriegsgeneration Dank zu sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit dem 9. November verbinde ich die schrecklichsten
Abgründe und die positivsten Erscheinungen der deut-
schen Geschichte im 20. Jahrhundert. Beide Termine sind
in historischer Hinsicht eng mit dem Thema der heutigen
Debatte verbunden.

Als in der so genannten Reichskristallnacht am
9. November 1938 organisierte Nazihorden durch deut-
sche Städte und Gemeinde zogen, um dabei jüdische Ge-
schäfte und Kultureinrichtungen zu zerstören bzw. in
Brand zu setzen, als am 9. November 1938 deutsche Mit-
bürger jüdischen Glaubens um ihres Glaubens willen
misshandelt, ermordet oder in Konzentrationslager einge-
liefert wurden, als am 9. November 1938 der offene Ter-
ror gegen Andersgläubige und Andersdenkende zur ober-
sten Maxime des Nationalsozialismus erhoben wurde,
hatte sich Deutschland dem eigenen Untergang geweiht.
Die Reichskristallnacht ist der Kristallisationspunkt der
nationalsozialistischen Ideologie, einer Ideologie, die nur
auf Hass, Terror, Größenwahn, Kampf und Mord basierte
und die sich letztendlich gegen das eigene Volk richtete.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges brach dann ein Sturm
über Deutschland hinweg, der bereits am 9. November
1938 in Deutschland gesät worden war und an dessen
Ende die totale Zerstörung Deutschlands, Millionen von
toten Soldaten und Zivilpersonen, Millionen von Kriegs-
gefangenen und Verschleppten, Millionen von Heimat-
vertriebenen und die deutsche Teilung standen.

Der 9. November 1989 dagegen zeigt uns, dass ein
Volk aus seiner Geschichte lernen kann. Die monatelan-
gen friedlichen Demonstrationen in der ehemaligen
DDR und die Fluchtwellen von verzweifelten DDR-Bür-
gern, die nicht länger auf Freiheit und Menschenrechte
verzichten wollten, veranlassten das totalitäre Regime der
SED zur Reformierung der Reisegesetze. Als am 9. No-
vember das Politbüromitglied Günter Schabowski um
18.57 Uhr in einer internationalen Pressekonferenz die
neuen Reisegesetze bekannt gab, brach sich der Ruf nach
Freiheit einen Weg durch die Berliner Mauer. Jenes Sym-
bol der Trennung und der Unfreiheit wurde durch die
Deutschen aus Ost und West förmlich überrannt. Am
Ende dieser Entwicklung stand die friedliche und glückli-
che Wiedervereinigung unseres deutschen Vaterlandes.

Ohne die zwölfjährige Schreckensherrschaft der Na-
tionalsozialisten, ohne den 9. November 1938, ohne den
Zweiten Weltkrieg hätte die deutsche Geschichte im
20. Jahrhundert einen anderen Verlauf genommen. Doch
Geschichte ist nun einmal unumkehrbar und unauslösch-
bar. Dieser Tatsache haben sich im westlichen Teil
Deutschlands die Nachkriegspolitiker aller Parteien ver-
pflichtet gefühlt und sich durch die umfangreichen
Kriegsfolgenbereinigungsgesetze zur politischen, morali-
schen und finanziellen Verantwortung gegenüber den aus-
ländischen und deutschen Opfern bekannt.

Als Beispiel ist hier das Kriegsgefangenenentschädi-
gungsgesetz zu nennen, das damals einstimmig von den
Mitgliedern des Deutschen Bundestages eingefordert und
am 2. Juli 1953 mit den Stimmen aller Fraktionen bei we-
nigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen ange-
nommen wurde. Nach diesem Gesetz hat jeder in die
Bundesrepublik Deutschland Heimgekehrte für jeden




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

12481


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 3

Kalendermonat in fremdem Gewahrsam ab 1. Januar
1947 30 DM, ab 1. Januar 1949 60 DM Entschädigung
und für längere Gefangenschaft weitere Nachzahlungen
erhalten. Die Heimkehrer, die in die Westzonen bzw. die
Bundesrepublik Deutschland entlassen wurden, hatten
damit einen verbürgten Rechtsanspruch auf eine einma-
lige Entschädigung. Während der Geltungszeit des
Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes wurden 1,4Milli-
arden DM an die Heimkehrer in Westdeutschland ausge-
zahlt. Später konnten weitere 500Millionen DM, die über
die Heimkehrerstiftung an bedürftige Heimkehrer gezahlt
wurden, dazu beitragen, das Leid dieser Gruppen zu lin-
dern.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Gegensatz
dazu haben die Machthaber der SED-Diktatur eine Ver-
antwortung für die Folgen des Zweiten Weltkriegs stets
geleugnet. Dies betraf nicht nur die Entschädigungsleis-
tungen an die jüdischen Opfer im In- und Ausland, son-
dern auch Entschädigungsleistungen gegenüber Heimat-
vertriebenen, Kriegsgefangenen und verschleppten
Mitbürgern. Die Heimkehrer, die aus der Gefangenschaft
in die sowjetische Besatzungszone bzw. DDR kamen, ha-
ben dort nach ihrer Rückkehr gerade einmal 50 Ostmark
als Reisegeld erhalten. Seit 1993 konnten Heimkehrer aus
dem Beitrittsgebiet auch Leistungen aus der Heimkehrer-
stiftung in Anspruch nehmen. Bei diesen Zahlungen han-
delt es sich allerdings um Zahlungen auf der Basis einer
Kann-Bestimmung, die individuell von der Bedürftigkeit
der Einzelperson abhängig ist.

Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
will 55 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges
sicherstellen, dass die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet
ihren westdeutschen Leidensgenossen gleichgestellt wer-
den und es keine Zweiklassengesellschaft bei den Opfern
des Krieges gibt. Die Forderung in unserem Antrag lautet
daher: Jeder Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet erhält
eine einmalige Entschädigung für die Reparationsleis-
tungen, die er durch die Zwangsarbeit während seiner
Kriegsgefangenschaft bzw. Geltungskriegsgefangen-
schaft für das deutsche Volk erbracht hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Höhe der einmaligen Entschädigung für jeden Be-
rechtigten beträgt, gestaffelt nach der Dauer des Gewahr-
sams, für die Entlassungsjahrgänge 1947 und 1948
1 000 DM, für die Entlassungsjahrgänge 1949 und 1950
2 000 DM und für die Entlassungsjahrgänge ab 1951
3 000 DM. Ich bin mir mit meinen Kollegen Erwin
Marschewski und Hartmut Büttner bewusst, dass diese
Pauschalbeträge lediglich als symbolische Geste für das
vor Jahrzehnten erlittene Unrecht verstanden werden kön-
nen.


(Gisela Schröter [SPD]: Könnte noch viel höher sein! Hätten Sie schon die ganze Zeit machen können!)


Bei einer Zahl von rund 30 000 Heimkehrern und
20 000 zur Zwangsarbeit verschleppten Deutschen erge-
ben sich für den Bund Kosten in Höhe von 90 Millionen
DM, die im Haushalt 2001 eingestellt werden müssen.


(Gisela Schröter [SPD]: Aha!)


Die genannten Zahlen beruhen auf Angaben des Statisti-
schen Bundesamtes. Bei den Berechnungen der Gesamt-
summe von 90 Millionen DM wurden die Erfahrungs-
werte der Heimkehrerstiftung zu Hilfe genommen. Von
den circa 50 000 Anspruchsberechtigten entfallen danach
jeweils 40 Prozent auf die Fallgruppen der Entlassungs-
jahrgänge 1947/48 und 1949/50, weitere 20 Prozent ent-
stammen den Entlassungsjahrgängen ab 1951.

Die Ausführung dieses Gesetzes obliegt der bundesun-
mittelbaren Stiftung des öffentlichen Rechts „Heimkeh-
rerstiftung – Stiftung für ehemalige Kriegsgefangene“,
die bereits seit 1993 Zahlungen an heute noch bedürftige
Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet leistet.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie bereits
erwähnt, war in den 50er-Jahren die Entschädigung der
deutschen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter allen
politischen Fraktionen des Deutschen Bundestages ein
besonderes Anliegen; dieses mündete damals in ein Ge-
setzeswerk, das von Vertretern aller Fraktionen getragen
wurde. Daher haben sich Kollege Friedrich Bohl als Vor-
sitzender des parlamentarischen Beirates des VdH und ich
mich darum bemüht, mit anderen Fraktionen einen ge-
meinsamen Antrag vor der Sommerpause vorzulegen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Vor welcher Sommerpause war das?)


Leider erhielt Herr Kollege Hacker von der Führung der
SPD-Fraktion keine Rückendeckung für einen gemeinsa-
men Antrag zu dieser Problematik. Als Begründung für
die Ablehnung eines gemeinsamen Antrags wurde mir die
angespannte Finanzlage des Bundes genannt.

Sie können sich sicher vorstellen, dass eine solche Ar-
gumentation angesichts von sprudelnden Steuereinnah-
men und zusätzlichen Milliardeneinnahmen aus den
UMTS-Erlösen auf die Betroffenen und ihre Angehörigen
wie Hohn wirkt. Weiterhin hat die anhaltende Debatte um
die Entschädigung für Zwangsarbeiter in Deutschland
eine zusätzliche Dynamik in diese Angelegenheit
gebracht. Dies wurde mir in einigen persönlichen Ge-
sprächen im Wahlkreis verdeutlicht. Deutsche Kriegsge-
fangene und deutsche Zwangsarbeiter machten mir un-
missverständlich klar, unter welchen Bedingungen sie
Reparationsleistungen für Deutschland unter anderem in
der ehemaligen Sowjetunion erbringen mussten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei diesen
Gesprächen wurde kein Unmut über die Stiftungsinitia-
tive „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ laut,
die der Bundestag in seiner Sitzung vom 6. Juli 2000 auf
den Weg gebracht hat. Vielmehr hörte ich in den Ge-
sprächen Verbitterung darüber, dass das Leid, das diese
Menschen in den Gefangenenlagern erlebt hatten, sowohl
in der DDR als auch in der Bundesrepublik Deutschland
fast völlig in Vergessenheit geraten ist. Einen Beweis für
diese Behauptung sehe ich in der Tatsache, dass nur die
Kollegen Otto Graf Lambsdorff, Wolfgang Bosbach und
Dr. Hans-Peter Uhl in der Debatte vom 6. Juli auf die Lei-
den unserer Landsleute hingewiesen haben.

Erfreulicherweise berichtet das Nachrichtenmagazin
„Focus“ in dieser Woche ausführlich über die Situation
der deutschen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen




Klaus Brähmig
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(C)



(D)



(A)



(B)


nach der Kapitulation Deutschlands. Ich kann die Lektüre
allen Kollegen nur empfehlen. Weiterhin sendet die ARD
am 16., 21. und 22. November 2000 jeweils um 20.15 Uhr,
also zur besten Fernsehzeit, ihren Dreiteiler „Soldaten
hinter Stacheldraht“. Spätestens dann wird eine breite Öf-
fentlichkeit noch einmal eindringlich über das wirkliche
Schicksal der circa 11 Millionen deutschen Kriegsgefan-
genen und Zwangsarbeiter informiert.

Ausgehend vom Grundsatz, dass es nicht zweierlei
Recht gibt, bitte ich daher die Mitglieder der anderen
Fraktionen, noch einmal genau darüber nachzudenken, ob
es gerecht ist, wenn wir am Ende dieses Jahrhunderts
50 000 Landsleuten diese symbolische Geste verweigern
und uns zugleich an anderer Stelle zu der Verantwortung
für die Kriegsfolgen bekennen.


(Detlev von Larcher [SPD]: 16 Jahre lang hätten Sie es machen können!)


Ich glaube, zehn Jahre nach der staatlichen Einheit
Deutschlands gehört zur Vollendung der inneren Einheit
Deutschlands eine Entschädigung der rund 50 000 heute
noch lebenden Heimkehrer und Geltungskriegsgefange-
nen aus der ehemaligen DDR.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

– Da können Sie ruhig klatschen, ja.

Ich bitte um zügige Beratung des Gesetzes in den Aus-
schüssen und den Beitritt der anderen Fraktionen zu dem
Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Zeit der Worte ist

55 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg vorbei.

(Gisela Schröter [SPD]: Das stimmt!)


Nun sind Taten gefragt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: Vor zehn Jahren war das auch schon so!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412930000
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Gisela Schröter von der
SPD-Fraktion das Wort.


Gisela Schröter (SPD):
Rede ID: ID1412930100
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Kollege Brähmig, gestatten Sie
mir zu Beginn den Hinweis, dass Sie von 1990 bis 1998
acht Jahre lang Zeit hatten, dafür zu sorgen, dass das
geschieht, was Sie jetzt einfordern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Lasst es uns gemeinsam machen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus nächster Nähe,
dem eigenen Verwandtenkreis, bin ich mit dem schweren
Schicksal der Menschen vertraut, die in der Nachkriegs-
zeit, oft belastet mit ganz schlimmen Erlebnissen, in die
DDR zurückgekehrt sind. Es handelt sich dabei um Men-
schen im hohen Lebensalter, die nach der Wende zum ers-
ten Mal überhaupt frei über diese schlimmen Erlebnisse

sprechen konnten. Bis dahin war dieses Thema ziemlich
tabu, mitunter sogar in den eigenen Familien. Für die Be-
troffenen war das eine zusätzliche Belastung. Ich emp-
finde tiefen Respekt vor dem Schicksal dieser Menschen
und ihrer Lebensleistung.

Für die Spätheimkehrer, die damals in den Westen, also
in die alte Bundesrepublik, kamen, wurde 1953 das
Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz beschlossen.
Ich möchte betonen: Sinn und Zweck dieses Leistungsge-
setzes – damit komme ich einmal zum Thema, Herr Kol-
lege Brähmig – war es, den oft für viele Jahre aus ihrer
Heimat und ihren Familien gerissenen Menschen zu hel-
fen, ihnen eine Chance in der Gesellschaft zu geben und
sie möglichst schnell wieder in die Gesellschaft zu inte-
grieren. Bis zu drei Jahre nach ihrer Rückkehr aus der Ge-
fangenschaft konnten sie entsprechende Anträge stellen.
Die wichtige Aufgabe der Eingliederung dieser Menschen
ist seit Ende 1967 erfüllt.

Die Heimkehrer, die heute in den neuen Ländern le-
ben, müssen nicht mehr integriert werden. Rund fünf
Jahrzehnte sind seit ihrer Rückkehr vergangen. Sicherlich
gibt es unter ihnen und ihren Angehören sowohl in den al-
ten als auch in den neuen Ländern Menschen, die auf eine
besondere Unterstützung angewiesen sind. Für diese
Menschen gibt es seit 1970 – für die neuen Länder seit
1993 – die Heimkehrerstiftung. Das hat zuletzt das
Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 – der Name ist
ein Wortungetüm – geregelt. Die SPD hat diesem Gesetz
damals ausdrücklich zugestimmt. Damit wurde das erste
Mal etwas für diese Menschen getan. In diesem Jahr gibt
der Bund 22 Millionen DM an diese Stiftung.

Ich wiederhole: Die Leistungen nach dem Kriegsge-
fangenenentschädigungsgesetz sollten keinesfalls einen
Ausgleich oder eine Wiedergutmachung für das erfahrene
Leid darstellen. Das kann man überhaupt nicht erreichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Häftlingshilfegesetz ist ausgeführt, dass es sich – ich
betone dies nachdrücklich – um Eingliederungshilfen
handelt. Mit Geld ist also kein Ausgleich möglich.

Was die Menschen heute vor allem erwarten – das weiß
ich aus meinen persönlichen Gesprächen –, ist der Res-
pekt der Gesellschaft für ihr erlittenes Schicksal und die
Anerkennung ihrer Lebensleistung.

Mit Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf, sehr verehrte
Kolleginnen und Kollegen von der Union, lassen Sie die-
sen Respekt vermissen. Ich will Ihnen sagen, weshalb. Sie
wecken damit bei den Betroffenen Hoffnungen. Lassen
Sie uns doch bitte aufrichtig diskutieren! Sie wollen ein
Gesetz schaffen, das einen Systembruch mit den bisheri-
gen Regelungen bedeutet.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das sieht Ihr Kollege aber anders!)


Das heißt, wenn wir hier über Entschädigungen für
Spätheimkehrer in die DDR diskutieren


(Zurufe von der CDU/CSU)

– hören Sie mir bitte zu! –, dann müssen wir zugleich zum
Beispiel über die Menschen sprechen, die Opfer des
DDR-Regimes geworden sind. Wir müssen über die An-




Klaus Brähmig

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(C)



(D)



(A)



(B)


sprüche der Menschen reden, die jenseits von Oder und
Neiße verschleppt wurden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber Sie dürfen uns keine Vorhaltungen machen!)


Im Einigungsvertrag ist die von Ihnen vorgeschlagene Lö-
sung nicht vorgesehen.

Das bereits angesprochene Kriegsfolgenbereinigungs-
gesetz von 1993 hat Klarheit darüber gebracht, wie es mit
dem Kriegsfolgenrecht im vereinigten Deutschland ge-
halten werden sollte. Die damalige Bundesregierung – sie
wurde von Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der Union, gestellt – hat in der Begründung des entspre-
chenden Gesetzentwurfes festgehalten – ich zitiere –:

Einer uneingeschränkten Übertragung des Kriegs-
gefangenenentschädigungsgesetzes steht entgegen,
dass auch dort inzwischen mehr als 45 Jahre vergan-
gen sind. Die Betroffenen sind eingegliedert.

Wenn wir jetzt erneut über dieses Thema sprechen, müs-
sen wir es mit großer Sensibilität und Aufrichtigkeit tun.
Wir dürfen auch keine falschen Erwartungen wecken.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das sah Ihr Kollege bis Juni ganz anders! Dann haben Sie ihn aus dem Verkehr gezogen! Das ist ja eine feine Gesellschaft!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412930200
Als
nächster Redner hat der Kollege Jürgen Türk von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1412930300
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Kollegin
Schröter, es kann kein Argument sein, dass wir die Dinge
weiterhin offen lassen, nur weil wir sie bisher noch nicht
gemeinsam in Ordnung bringen konnten. Das ist ein offe-
nes Problem und darüber muss man reden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich halte es auch für notwendig, dass gerade im Zuge

der Diskussion um die Entschädigung ausländischer
Zwangsarbeiter – es ist richtig, dass wir da etwas tun – die
deutschen Zwangsarbeiter nicht vergessen werden dür-
fen. Das ist ganz legitim und muss einmal gesagt werden.

Aus diesem Grunde begrüße ich ausdrücklich den vor-
liegenden Gesetzentwurf, der vorsieht, den in die ehema-
lige DDR entlassenen deutschen Kriegsgefangenen, zu
denen übrigens auch Zigtausende in den Osten entlassene
verschleppte Frauen zählen, eine Entschädigung zu zah-
len. Diese ist ihnen in der DDR, wie wir wissen, aus poli-
tischen Gründen verwehrt worden. Ich sage Ihnen ganz
klar: Wir sollten das in der Bundesrepublik nicht weiter-
hin genauso handhaben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das heißt, wir sollten keine Aufrechnung des an Deut-
schen begangenen Unrechts mit dem durch Nazideutsch-
land begangenen Unrecht an ausländischen Zwangsar-
beitern zulassen.

Gertrud Böttcher, die laut „Welt am Sonntag“ im März
1945 im Alter von 14 Jahren mit ihren Eltern in das Ar-
beitslager Swerdlowsk verschleppt wurde, sagt über die
Diskussion und die Entschädigung der ausländischen
Zwangsarbeiter:

Es kränkt mich ganz furchtbar.
Das ist doch zu verstehen.

Wir waren auch Zwangsarbeiter und teilen das
schwere Schicksal mit diesen Menschen,

– also den ausländischen Zwangsarbeitern –
aber von uns redet niemand. Es geht nach so vielen
Jahrzehnten vor allem um die Anerkennung.

(Gisela Schröter [SPD]: Da haben Sie Recht! – Dieter Grasedieck [SPD]: Das versagt ihnen auch niemand!)


Über die Art und Weise der Anerkennung können wir uns
ja vielleicht noch verständigen.

In der Tat kann man diesen damals jungen und miss-
brauchten Frauen und Männern nicht pauschal die Schuld
Nazideutschlands aufladen.


(Gisela Schröter [SPD]: Auch da haben Sie Recht! Das ist vollkommen in Ordnung!)


Das haben wir bisher unbewusst gemacht, und wenn es
nur durch Verdrängung war. Auch sie waren Opfer und
keine Täter.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nennen Sie doch Ross und Reiter! Das ist doch unsinnig!)


Auch wenn die Entschädigung nicht hoch ist und viele
sie nicht mehr erleben, schließt sie doch eine Gerechtig-
keitslücke,


(Gisela Schröter [SPD]: Das habe ich doch gesagt!)


die es heute mit Sicherheit gibt. Denn die Kriegsgefange-
nen, die das Glück hatten, in den Westen entlassen zu wer-
den, haben längst eine Abfindung erhalten, nicht nur als
Eingliederungshilfe, sondern auch als Anerkennung für
den Schaden, den sie erlitten haben, und für ihr schweres
Schicksal.


(Gisela Schröter [SPD]: Das kann man niemals anerkennen! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Genauso war das!)


Es gab mehr als 11 Millionen deutsche Kriegsgefan-
gene, die über die ganze Welt verstreut waren. Ich erin-
nere hier nur an die sowjetischen Gulags; sie waren aber
ebenso in anderen Ländern interniert. Auch in West-
deutschland hat man sich in den letzten Jahren mit diesem
Thema schwer getan. Aber es bringt uns nicht weiter, die
Geschichte zu verdrängen; wir müssen uns ihr stellen,
nach Möglichkeit gemeinsam. Zur Aufarbeitung unserer
Geschichte gehört, dass wir nach 50 Jahren nicht nur den
ausländischen Zwangsarbeitern Gerechtigkeit widerfah-
ren lassen, sondern auch den deutschen,


(Beifall bei der CDU/CSU)





Gisela Schröter
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(C)



(D)



(A)



(B)


die bislang nur deshalb leer ausgingen, weil sie in den
Osten, die DDR, entlassen worden sind.

Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, könnte ein
Stück weit dazu beitragen, die innere Einheit zu vollen-
den, die wir wollen und, so hoffe ich, gemeinsam an-
streben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412930400
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Cem Özdemir
vom Bündnis 90/Die Grünen.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412930500
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht hier um ein
besonders beschämendes Kapitel der Nachkriegsge-
schichte der DDR.Gerade die jüngeren Abgeordneten des
Hauses können sich nur sehr schwer vorstellen, was die
vielen Kriegsgefangenen zu erleiden hatten. Ich erinnere
ausdrücklich an das Schicksal der Kriegsgefangenen in
Deutschland, die zu Millionen zur Zwangsarbeit ver-
pflichtet und umgebracht wurden. Ich weiß aber auch,
was deutsche Kriegsgefangene an Misshandlungen, Hun-
ger und anderen schlimmsten Menschenrechtsverletzun-
gen erlitten haben. Ihr Schicksal kann und darf uns nicht
egal sein. Ich glaube, das kann man im Namen aller Frak-
tionen hier sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Für die Zurückkehrenden war die Wiedereingliederung
in das normale Leben oftmals von großen Problemen be-
gleitet: psychische und physische Bewältigung des Erleb-
ten, Orientierung in der Freiheit, die private und nicht zu-
letzt auch die finanzielle Situation. Gerade die Menschen,
die in die DDR entlassen worden sind, bekamen statt
Hilfe vom Staat die Weisung, über ihr Schicksal zu
schweigen. Das ist besonders schwer zu verstehen. Alles,
was sie an schlimmen Dingen erlebt hatten, war tabu. Der
große Bruder und Freund Sowjetunion durfte nicht in
dunklen Farben gezeichnet werden. Für die Wiederein-
gliederung in die Gesellschaft wurde materielle Unter-
stützung benötigt. All dies ist den heimkehrenden Men-
schen in der DDR verweigert worden.

Aber – auch darauf wurde bereits hingewiesen – es war
die Vorgängerregierung, die Regierung Kohl, die das
Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz aufgehoben hat,
dessen Regelungen Sie wieder einsetzen wollen. Mich ir-
ritiert auch, dass die Union das Thema Entschädigung der
NS-Zwangsarbeiter mit dem Schicksal der Kriegsgefan-
genen in der Sowjetunion verknüpft.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch merkwürdig! – Gegenruf des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]: Was ist daran merkwürdig! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das hat doch kein Mensch verknüpft! So was ist doch unverschämt!)


Ich möchte Sie dringend bitten, diesen gefährlichen Ver-
gleich schnell in den Akten verschwinden zu lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jürgen Türk [F.D.P.]: Dass diese Diskussion aufkommt, ist doch selbstverständlich!)


Ich will Ihnen den Grund dafür nennen, dass das gefähr-
lich ist.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Ich habe darauf hingewiesen! Lesen Sie bitte das Protokoll nach!)


– Lassen Sie mich das erklären. – Sie selber wissen, dass
hier große internationale Probleme auf uns zukommen
können. Wir in Deutschland können nicht damit begin-
nen, den Unterschied zwischen Kriegsgefangenen und Zi-
vilisten zu verwischen. Tun wir dies, so eröffnen wir auf
internationaler Ebene ohne Not eine neue Runde von Re-
parationszahlungen. Ich glaube, Graf Lambsdorff, der in
diesem Zusammenhang wichtige Verhandlungen geführt
hat, kann uns allen erklären, welche Begehrlichkeiten wir
in diesem Falle zu erwarten hätten.

Lassen Sie uns auch damit aufhören, die Betroffenen
zu verunsichern. Gerade im Interesse der hochbetagten
Betroffenen sollten wir im Gespräch bleiben. Ich kann Ih-
nen seitens meiner Fraktion bzw. – da bin ich sicher – sei-
tens beider Fraktionen und der Regierung anbieten, das
Gespräch mit Ihnen zu suchen. Solange noch Betroffene
leben, kann das Kapitel Entschädigung nicht abge-
schlossen werden. Wir sollten dabei aber falsche Verglei-
che vermeiden. Wenn Sie Ihre Aussage hier richtig stellen
oder sagen, dass Sie falsch verstanden worden sind, dann
wäre das umso besser. Dies alles nützt niemanden, am we-
nigsten den Menschen, um die es hier geht.

Doch zurück zum vorliegenden Gesetzentwurf. Sie
wollen mit diesem Gesetzentwurf den Zustand wieder
herstellen, den die unionsgeführte Regierung 1992 besei-
tigt hat. Damals wurde im Einvernehmen mit den Ver-
bänden davon Abstand genommen, weiter Zahlungen in
Form von Kriegsgefangenenentschädigung zu leisten.
Stattdessen wurde der Weg gefunden, bedürftigen ehema-
ligen Kriegsgefangenen über die Heimkehrerstiftung
Mittel zukommen zu lassen. Heute müsste erklärt werden,
was daran falsch gewesen sein soll. Gerade von den Be-
dürftigen aus den neuen Ländern ist diese über die Stif-
tung gewährte Hilfsmöglichkeit rege in Anspruch genom-
men worden.

Zum Schluss nochmals der Appell: Lassen Sie uns auf-
passen, dass wir die Betroffenen nicht verunsichern. Aber
lassen Sie uns auch ehrlich sein. Die derzeitige Haus-
haltslage ist allen bekannt. Sie wäre nicht anders, wenn
Sie regieren würden.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die wäre noch schlechter!)


Auch Sie hätten keine anderen Mittel zur Verfügung als
die, die wir haben. Wir sollten mit Blick auf das Schick-
sal der Menschen das Gespräch suchen. Die derzeitigen
Haushaltsberatungen bieten dazu Gelegenheit. Ich




Jürgen Türk

12485


(C)



(D)



(A)



(B)


wiederhole das Angebot: Lassen Sie uns zu einer ver-
nünftigen Lösung kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412930600
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Petra Pau von
der PDS-Fraktion.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412930700
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Damit kein Missverständnis entsteht: Das
Anliegen, das ich nicht nur aus dem vorliegenden Gesetz-
entwurf herausgelesen, sondern das ich auch heute Vor-
mittag im Innenausschuss, als wir dort die Haushaltsan-
träge behandelt haben, herausgehört habe, unterstützt
meine Fraktion. Über eine Einmalzahlung – wenn ich es
einmal so übersetzen darf – das Schicksal dieser betroffe-
nen Menschen anzuerkennen und ihnen damit so etwas
wie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – darüber sollten
wir in den Ausschussberatungen sprechen, auch darüber,
wie so etwas zu realisieren ist, wie man damit umgeht.

Als heute während der Haushaltsberatungen im Innen-
ausschuss sozusagen durch die Hintertür schon einmal ein
entsprechender Haushaltstitel eingeführt werden sollte,
habe ich mich deshalb enthalten, um meine Unterstützung
des Anliegens, die Tatsache, dass man darüber nachden-
ken muss, deutlich zu machen.

Wir sollten aber auch das aufnehmen, was die Kolle-
ginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen völlig
zu Recht festgestellt haben: Das Anliegen des damals be-
stehenden Gesetzes war tatsächlich, die dringend notwen-
dige Hilfe zur Eingliederung, zum Fußfassen und auch
zum Zusammenführen der versprengten Familien, zum
Wieder-Zusammenführen von Menschen, zu gewähren.
Im Jahr 2000 und darüber hinaus geht es um die Aner-
kennung des Schicksals und um das Klarmachen, dass
auch hier Unrecht geschehen ist, aber nicht um eine Wie-
dereingliederung.

Es stellen sich aber auch ein paar Fragen. Sie sind hier
schon genannt worden. Es ist nun das Schicksal der letz-
ten Rednerin im Reigen der Fraktionen, diese zu wieder-
holen. Es handelt sich zum Beispiel um die Frage, was sei-
tens der damaligen Regierungskoalition in den Debatten
der Jahre 1989/90 und im Einigungsvertrag zur Lösung
dieses Problems eigentlich unternommen worden ist.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Ist vergessen worden!)

Warum ist nicht wenigstens der Vorbehalt angebracht
worden, dass entsprechende Regelungen zu einem be-
stimmten Zeitpunkt geschaffen werden, wenn man aner-
kennt, dass das 1990 nicht möglich war?

Ein zweite Frage – diese bewegt mich sehr viel mehr
und deshalb habe ich über Intentionen, die ich aus dem
Gesetzentwurf herausgelesen und aus der Debatte heraus-
gehört habe, gesprochen – besteht bezüglich des Textes
des Gesetzentwurfes. Denn problematisch ist nicht nur
das, was Sie, Herr Brähmig und Herr Türk, hier soeben in
der Debatte gesagt haben. Der erste Satz unter der Über-
schrift „Problem“ hat mich angesichts der Debatten, die

wir hier im Zusammenhang mit der Entschädigung von
Zwangsarbeitern und der damit verbundenen Verant-
wortung der Bundesrepublik und auch der jungen Gene-
ration geführt haben, sehr betroffen gemacht.

Tun Sie uns, aber auch den Betroffenen, deren Vertre-
ter hier sitzen, folgenden Gefallen: Werfen Sie Zwangsar-
beiter und Kriegsgefangene nicht in einen Topf.


(Beifall bei der PDS)

Lassen Sie uns vielmehr auf der einen Seite endlich unse-
rer Verantwortung in Bezug auf die Entschädigung der
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in der Nazizeit
nachkommen und Druck auf diejenigen ausüben, die sich
immer noch verweigern,


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


und lassen Sie uns auf der anderen Seite die Verantwor-
tung dafür wahrnehmen, dass diese Menschen in unserem
Land Anerkennung für ihr Leid, für ihr Schicksal erfah-
ren, dass sie wissen: Sie sind nicht vergessen. – Aber wer-
fen Sie es nicht zusammen.

Wir tun uns keinen Gefallen, wir tun ihnen keinen Ge-
fallen und außerdem leisten wir dann einen Beitrag dazu,
dass Geschichte verharmlost wird. Deshalb fand ich es ein
bisschen unpassend, dieses Thema hier am Vorabend des
9. November in dieser Weise aufzurufen. Ich glaube, hier
werden Ursache und Wirkung zusammengeworfen oder
verwechselt.


(Beifall bei der PDS und der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412930800
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun für die
Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast das Wort.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412930900
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man nur das
spontane Empfinden und die menschliche Teilnahme
sprechen ließe, wäre die Sache leichter. Denn wer gönnt
es diesen Menschen nicht, um deren Schicksal wir sie nun
wirklich nicht beneiden können?

Tatsache ist, dass über die Frage nach einer anders ge-
arteten Zuwendung an Kriegsheimkehrer in den vergan-
genen Jahren wieder stärker und öfter diskutiert wird. Das
war so im Vorfeld von Landtagswahlen, vor allen Dingen
in den ostdeutschen Ländern. Das ist so im Zuge der öf-
fentlichen und intensiven Debatte um die Entschädigung
für Zwangsarbeiter.

Doch gilt es, die Unterschiede deutlich zu machen. Ich
muss es auch noch einmal betonen. Damit meine ich ins-
besondere, dass die Gruppe der Zwangsarbeiter nicht
mit der Gruppe gleichgesetzt werden kann, über die wir
uns heute Abend Gedanken machen. Man muss sich auch
die Geschichte der Gesetzgebung, Sinn und Konzept der
damaligen und der jetzigen Regelungen in dieser Frage
vor Augen führen.




Cem Özdemir
12486


(C)



(D)



(A)



(B)


Ihr Gesetzesvorschlag, Herr Brähmig, läuft darauf hi-
naus, das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz in ver-
änderter Form quasi wieder aufleben zu lassen.


(Gisela Schröter [SPD]: Richtig!)

Dieses Gesetz aber ist durch Art. 5 des Kriegsfolgenbe-
reinigungsgesetzes mit Wirkung vom Januar 1993 aufge-
hoben worden. Ich möchte Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen aus der CDU/CSU, ein Zitat der damaligen von
Ihnen geführten Bundesregierung in Erinnerung rufen.
Sie hat seinerzeit festgestellt:

Das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz zählt
zu den Gesetzen, die ihren Zweck heute weitgehend
erfüllt haben. Die ehemaligen Kriegsgefangenen in
der bisherigen Bundesrepublik Deutschland sind
entschädigt und eingegliedert.

Dann wird darauf hingewiesen, dass als so genannte
Geltungskriegsgefangene – das ist auch so ein Wortun-
getüm; das sind Menschen, die aus militärischen Gründen
interniert oder deportiert waren – hauptsächlich Aussied-
ler entschädigungsberechtigt waren – das waren 96 Pro-
zent – und dass deshalb Entschädigung und Eingliederung
für die betroffenen Russlanddeutschen fortgeführt werden
sollten.

Weiter heißt es, diese Überlegungen ließen sich aller-
dings nicht uneingeschränkt auf die ehemaligen Kriegs-
gefangenen in der einstigen DDR übertragen. Zwar hät-
ten diese noch keine Leistungen erhalten, die denen des
Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes vergleichbar
seien. Aber nun seien mehr als 45 Jahre vergangen, die
Betroffenen seien eingegliedert. Von Entschädigungszah-
lungen sollte abgesehen werden; jedoch sollten die Leis-
tungen der Heimkehrerstiftung, soweit noch zeitgerecht,
auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen werden.

Mit anderen Worten: Die Heimkehrerstiftung führt das
weiter, was sinnvoll und nach dem Gang der Entwicklung
über all die Jahre hin notwendig ist: Bedürftige ehemalige
Kriegsgefangene werden unterstützt, allerdings ohne ei-
nen Rechtsanspruch.

Die Aufhebung des Kriegsgefangenenentschädi-
gungsgesetzes stieß damals auf allgemeines Einverneh-
men. Ich habe die Begründung der damaligen Regierung
so ausführlich wiedergegeben, weil sie seinerzeit bereits
zu dem Schluss kam, dass der Grundgedanke dieser Ent-
schädigung, nämlich Hilfe bei der Wiedereingliederung,
nicht mehr zeitgemäß ist, also durch die Wirklichkeit
überholt ist. Sie ist auch heute, über acht Jahre später,
nicht mehr zeitgemäß. Jedenfalls sind keine neuen, zwin-
genden Argumente aufgetaucht, die die Angelegenheit in
einem anderen Licht erscheinen ließen.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Aber die Ungerechtigkeitslücke bleibt trotzdem!)


Auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der
Union, haben in Ihrer Regierungszeit eine entsprechende
Initiative eben nicht ergriffen.

Deshalb ist es nicht vorstellbar, nicht ratsam und viel-
leicht auch nicht redlich, ein für abgeschlossen erachtetes
und im Konsens aufgehobenes Gesetz – wenn auch in ab-
gewandelter Form – wieder zum Leben zu erwecken.

Eines will ich aber auch betonen: Mit einer umfangrei-
chen, sozialstaatlich geprägten Gesetzgebung ist zumin-
dest der Versuch gemacht worden, erlittene Lebens-
schicksale auszugleichen, aber einen vollen Ausgleich für
durchlebte Not und Entbehrung dieser Art wird es nicht
geben können.

Vielen Betroffenen geht es eigentlich auch nicht um
Mark und Pfennig, wie ich sehr wohl aus manchen Ge-
sprächen weiß, sondern wirklich in erster Linie um eine
Würdigung ihres Lebensschicksals. Deswegen begrüße
ich auch die vielfältigen Gespräche, die wir im Bundesin-
nenministerium, die ich selbst und die auch der Parla-
mentarische Beirat der Heimkehrerstiftung in dieser und
anderen Fragen führen. Es geht einfach auch um das Be-
wusstmachen einer Problematik, die – zumindest in Zei-
ten der ehemaligen DDR – verdrängt worden ist.


(Beifall bei der SPD)

Ich will eines zum Schluss noch sagen: Die bestehende

Regelung hat sich durchaus bewährt. Das darf man ruhig
auch einmal erwähnen. Bedürftige können ja weiterhin
– bis zum Jahr 2005 – durch die Heimkehrerstiftung un-
terstützt werden und davon haben die Betroffenen in den
neuen Ländern durchaus profitiert.

Von den Unterstützungs- und den Rentenzusatzleistun-
gen, die in den vergangenen 30 Jahren von der Stiftung
gewährt wurden, sind immerhin 20 bzw. 12 Prozent an
Antragsteller in den neuen Ländern geflossen, obwohl
diese ja erst seit Januar 1993 ihre Anträge einreichen kön-
nen. Ich meine, für diese Bilanz brauchen wir uns auch
nicht zu schämen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412931000
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/4144 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Peter Letzgus, Norbert Barthle, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Gemeinnützige Vereine von hohen Energiekos-
ten entlasten
– Drucksache 14/4386 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Sportausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss

Zu diesem Tagesordnungspunkt ist verabredet, die Re-
den zu Protokoll zu nehmen. Ich habe sie hier vorliegen.1)
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.




Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast

12487


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 4

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4386 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf:
9.a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.

Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, Dr. Uwe-Jens
Rössel, Roland Claus und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur
Änderung des Einkommensteuergesetzes

(Doppelte Haushaltsführung)

– Drucksache 14/4437 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, Dr. Uwe-
Jens Rössel, Roland Claus und der Fraktion der
PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes
zur Änderung des Einkommensteuergesetzes

(Freibeträge für Abfindungen)

– Drucksache 14/4438 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO

Zu diesem Tagesordnungspunkt ist vereinbart, dass
eine Reihe von Reden zu Protokoll genommen werden.1)
Sprechen werden nur die Kollegin Barbara Höll von der
PDS und Kollege Jörg-Otto Spiller von der SPD-Fraktion.
Sind Sie damit einverstanden? – Dann verfahren wir so.

Ich erteile Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412931100
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Die Regierung von CDU/CSU und
F.D.P. hat in ihrer Regierungszeit eine Reihe arbeitneh-
merfeindlicher Maßnahmen auf steuerpolitischem Gebiet
verwirklicht. Ein Beispiel dafür sind die Petersberger
Beschlüsse.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Das war das Beste, was man machen konnte!)


Dort wurde insbesondere die Senkung der Werbungskos-
tenpauschale und der Kilometerpauschale geprobt;
Nacht- und Überstundenzuschläge wollten Sie sogar ganz
besteuern. Zum Glück ist dies auf Druck der parlamenta-
rischen und außerparlamentarischen Opposition zum
großen Teil abgewendet worden.

Allerdings waren Sie in Ihrer Regierungszeit mit der
zweijährigen Befristung der Absetzbarkeit der Kosten
der doppelten Haushaltsführung erfolgreich. Jeder, der
sich mit diesem Thema schon einmal beschäftigt hat,

weiß, dass die Begrenzung auf zwei Jahre natürlich will-
kürlich ist und absolut nicht der realen Situation zahlrei-
cher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch
Selbstständiger entspricht.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Wir wären schon ein ganzes Stück weiter gewesen, wenn wir die Petersberger Beschlüsse umgesetzt hätten!)


Im Ergebnis dieser jahrelangen arbeitnehmerfeindli-
chen Steuerpolitik heißt die Lohnsteuer im Volksmund in-
zwischen „Dummensteuer“. Rot-Grün hat diesen Marsch
in den Lohnsteuerstaat leider nicht aufgehalten. Sie haben
zum Beispiel im Steuerentlastungsgesetz zu Beginn Ihrer
Regierungszeit die Besteuerung von Abfindungen dras-
tisch verschärft.

Ich meine, es ist endlich an der Zeit, die Fehlentschei-
dungen der Vorgängerregierung und eigene Fehlentschei-
dungen zu korrigieren, zumal man sich tatsächlich in Wi-
dersprüche verwickelt. Einerseits fordern Sie zum
Beispiel eine erhöhte Mobilität von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, wenn es um einen Arbeitsplatz und
die Sicherstellung des eigenen Lebensunterhaltes geht.
Dafür sollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ei-
nen Arbeitsplatz außerhalb ihres Wohnortes annehmen.

Rund 380 000 Menschen tun dies in der Bundesrepu-
blik. Ihnen entstehen damit natürlich zusätzliche Kosten
durch das Mieten einer Nebenwohnung. Diese Kosten
dürfen sie aber nach Ablauf der Frist von zwei Jahren
nicht mehr steuerlich absetzen. Nun könnte man natürlich
sagen: Sie können ja umziehen; dann haben sie die dop-
pelte Haushaltsführung aus beruflichen Gründen nicht
mehr. Aber wir alle wissen, dass sich viele Menschen ge-
rade angesichts der Unsicherheit des Arbeitsplatzes, den
man vielleicht schon nach zweieinhalb Jahren nicht mehr
hat, und im Interesse des Erhalts und der weiteren Pflege
von sozialen Beziehungen, im Interesse besserer Bedin-
gungen für die Kinder, die eingebunden sind in Schule,
Freizeitbereich und Freundschaften, eben dafür entschei-
den, neben ihrer Hauptwohnung am Arbeitsort noch eine
Nebenwohnung zu unterhalten.

Hier stellt sich dann die Frage, ob es richtig ist, nur die
Aufnahme der Arbeit am Hauptwohnsitz zu fördern bzw.
die Aufnahme von Arbeit woanders steuerlich zu sanktio-
nieren; denn letztendlich bestrafen Sie die Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer sowie die Selbstständigen, die
sich dafür entscheiden müssen, auch nach Ablauf von
zwei Jahren eine Nebenwohnung zu unterhalten.

Da die Regierung – auch die Regierungskoalition – bis-
her nicht initiativ geworden ist, haben wir Ihnen einen Ge-
setzentwurf vorgelegt, der kurz und knapp gehalten ist,
mit dem Sie diesen Missstand sofort beseitigen können.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Gleichzeitig beraten wir heute einen zweiten Gesetz-

entwurf, mit dem wir Ihnen ebenfalls ein kleines bisschen
auf die Sprünge helfen wollen. Wir haben heute im Fi-
nanzausschuss das Steuersenkungsergänzungsgesetz ver-
abschiedet. Es wird also am Freitag in der zweiten und
dritten Lesung hier im Hohen Hause vereinbart werden,
dass, nachdem schon im Sommer die Freibeträge bei der
Veräußerung von Personenunternehmen auf 100 000 DM
angehoben wurden, jetzt für Unternehmerinnen und




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
12488


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 5

Unternehmer, die aus dem Berufsleben ausscheiden, mit
dem Argument der Altersvorsorge – ihm können wir auch
folgen, auch wenn wir die Auffassung über das Instrument
nicht voll teilen – der halbe Steuersatz für Veräußerungs-
gewinne eingeführt werden soll.

Man mag zu dieser Maßnahme stehen, wie man will;
auf alle Fälle ist es dann notwendig, gleichermaßen Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer, die eine Abfindung erhal-
ten, zumindest einmal in ihrem Leben – ab dem 55. Lebens-
jahr – mit den Personenunternehmen gleichzustellen. Da-
rum geht es in unserem zweiten Antrag. Denn Sie wissen,
dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gerade wenn
sie älter sind, kaum noch Chancen haben, eine neue Ar-
beit zu finden, und Abfindungen, die sie erhalten, dann
natürlich auch ihrer Altersvorsorge dienen.

Wir meinen, dies ist ein substanzieller Beitrag zur ge-
zielten Entlastung einer breiteren Schicht von Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern und dient dazu, Löhne und
Gehälter einerseits und Vermögens- und Unternehmens-
einkünfte andererseits steuerlich tatsächlich gleichzustel-
len. Dies würde eine große Gerechtigkeitslücke schlie-
ßen. Gerade mit dieser Forderung sind Sie ja vor zwei
Jahren im Wahlkampf angetreten. Sie haben es ganz ein-
fach: Stimmen Sie unseren Gesetzentwürfen in den Aus-
schussberatungen und dann hier in der zweiten und drit-
ten Lesung zu und Sie sind ein Stück weiter in der
Verwirklichung Ihres Wahlprogramms.

Ich danke.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412931200
Das Wort
hat jetzt der Kollege Jörg Spiller von der SPD-Fraktion.


Jörg-Otto Spiller (SPD):
Rede ID: ID1412931300
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Dr. Höll, in
der Begründung des Gesetzentwurfs, zu dem Sie am
Schluss Ihrer Rede gesprochen haben, heißt es, dass die
Besteuerung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
den letzten Jahren verschärft worden sei. Ich weiß ja
nicht, was Sie mit den „letzten Jahren“ meinen.


(Heiterkeit bei der SPD)

Es kann auch sein, dass Sie einfach gern mit Stehsatz

arbeiten, weil Sie doch auch eine Partei der Traditions-
pflege sind.


(Heiterkeit bei der SPD – Rolf Kutzmutz [PDS]: Das geht Ihnen ja ab! Das stimmt!)


Aber eines möchte ich doch in aller Deutlichkeit sagen:
In den letzten beiden Jahren hat diese Koalition es erfolg-
reich geschafft,


(Beifall bei der SPD)

für mehr Steuergerechtigkeit zu sorgen und eine deutliche
Entlastung der breiten Arbeitnehmerschaft durchzuset-
zen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Die Ökosteuergerechtigkeit insbesondere!)


Ich nenne nur ein Beispiel: Ein verheirateter Arbeitneh-
mer mit zwei Kindern und einem Durchschnittseinkom-
men hat heute, im Jahr 2000, durch steuerliche Entlastung
und Kindergelderhöhung etwa 2 000 DM mehr in der Ta-
sche als 1998. Im nächsten Jahr werden es rund 3 000 DM
sein.

Frau Kollegin Höll, Sie haben sich nachher offenbar
von Ihrem Gesetzentwurf distanziert. In Ihrer Rede sag-
ten Sie, Sie wollten etwas für Altersvorsorge tun. In Ihrem
Gesetzentwurf steht etwas ganz anderes. Da steht undif-
ferenziert: Jeder Arbeitnehmer, der bei einer durch den
Arbeitgeber oder ein Gericht veranlassten Auflösung sei-
nes Arbeitsverhältnisses eine Abfindung bekommt, hat ei-
nen Freibetrag von 48 000 DM. Das ist etwas für das mitt-
lere Management. Denn da kommt es relativ häufig vor,
dass man mit einer Abfindung aufhört und nach einem
Monat in einem neuen Betrieb anfängt.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Nein! Nein! Was macht die Post jetzt?)


Dann haben Sie gesagt, die Altersgrenze solle bei
55 Jahren liegen. In Ihrem Gesetzentwurf haben Sie
50 Jahre geschrieben. Lesen Sie doch wenigstens Ihre ei-
genen Entwürfe!


(Beifall bei der SPD – Widerspruch der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS])


Mein Vorschlag ist: Wir sollten uns mit diesem Thema
sehr genau befassen, wenn es um Altersvorsorge geht. Da
werden Sie in uns immer einen Partner für eine sachliche
Diskussion finden.


(Detlev von Larcher [SPD]: Hoffentlich finden wir den auch!)


Wir werden im Hinblick darauf auch bei Arbeitnehmer-
abfindungen etwas tun, sofern ein bestimmtes Alter, bei-
spielsweise 55 oder 60 Jahre, erreicht worden ist.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Herr Spiller, Sie haben aber nicht richtig zugehört! Tut mir Leid!)


– Dass es Ihnen Leid tut, freut mich. – Ich hoffe, dass wir
eine fruchtbare Debatte haben, wenn wir unsere Vor-
schläge unterbreiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412931400
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/4437 und 14/4438 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos-
sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatz-
punkt 2 auf:
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten

Dr. Eberhard Brecht, Gert Weisskirchen, Brigitte
Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der




Dr. Barbara Höll

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(C)



(D)



(A)



(B)


SPD sowie der Abgeordneten Rita Grießhaber,
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Vereinten Nationen an der Schwelle zum
neuen Jahrtausend
– Drucksache 14/4439 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dietmar Bartsch, Petra Bläss, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Deutsche Beiträge zur Umsetzung der Millen-
niums-Erklärung der Vereinten Nationen
– Drucksache 14/4525 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)


Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung

Auch zu diesem Tagesordnungspunkt ist vereinbart,
dass die Reden zu Protokoll genommen werden.1) Ich
habe sie hier. Sind Sie mit dem Vorgehen einverstanden?
– Das ist der Fall.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4439 und 14/4525 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 9. November 2000,
9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.